Das Dorf: Landleben in Deutschland - gestern und heute 3806239843, 9783806239843

Zwischen Landflucht und Landliebe: Dorfleben in Deutschland Trotz Urbanisierung lebt im 21. Jahrhundert die Hälfte alle

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German Pages 365 [362] Year 2020

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Table of contents :
Cover
Titel
Inhalt
Vorwort
Das alte Dorf
Vom Leben in der »guten alten Zeit«
Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800
Auf dem Sprung in die Moderne
Das Dorf um 1800
Das moderne Dorf
Wirtschaft und Versorgung
Einführung
Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?
Der ökonomische Wandel des Landes von 1800 bis heute
Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt
Von der Selbstversorgung zum marktorientierten Unternehmen
Von schlechtem Wetter und guten Böden
Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft
Vollernter, Melkroboter und GPS
Die Fortschritte der Landtechnik
Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten
Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft
Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf
Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft
Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters«
Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft
Der Wald ist für alle da!?
Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes
Müller, Schneider, Schuster, Schmied
Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks
Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt
Handwerk und Gewerbe auf dem Land von 1950 bis heute
Die neue Lebensader vieler Dörfer
Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung
Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung
Der hohe Standard an technischer Infrastruktur
Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei
Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung
Der Kampf um den letzten Dorfladen
Probleme der privaten Grundversorgung
»Einer für alle – alle für einen!«
Dörfliche Genossenschaften
Der Trend zum Pendlerdorf
Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen
Bevölkerung – Soziales – Kultur
Einführung
Der fast ständige Aderlass des Dorfes
Ausmaß und Ursachen der Landflucht
Das Dorf als Zufluchtsort
Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern und Aussiedlern
Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?
Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land von 1800 bis heute
Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht
Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung
Macht das Landleben glücklich?
Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«
Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken?
Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und Nachbarschaftshilfe
Kein Dorf ohne Kirche!?
Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust
Immer mehr Dörfer ohne Schule!
Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land
Die Kraftquellen des Dorfes
Traditionelle und neue Vereine
Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten
Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land
Waidmannsheil und Halali!
Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens
Ist das Landleben »in«?
Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile
Ein fruchtbarer Austausch
Die Entwicklung der Stadt- Land- Beziehungen
Dorfbewohner als Globetrotter
Das Dorf im Austausch mit der Welt
EXKURS: Wie die Kunst das Landleben darstellt
Das Dorf in Literatur, Malerei und Film
Gestalt der Kulturlandschaft
Einführung
Vom Reiz der Dorflage
Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft
Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt
Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen
Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf
Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen
Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach
Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen
So kam die Farbe ins Dorf
Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien
Deutschland – ein Flickenteppich!
Von der Vielfalt der Flurformen
Von Nutzen und »paradiesisch«
Der dörfliche Garten
Ausbruch aus dem alten Kern
Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand
»Ein Kahlschlag geht durchs Land«
Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen
Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?
Die ländliche Kulturlandschaft
Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum
Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen
Der Beginn der Dorfauflösung?
Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen
Dorfpolitik
Einführung
»Wir geben keine Region auf!«
Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung steuert
Abstufungen des Ländlichen
Die drei ländlichen Raumtypen
Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft
Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Bodenreform und Kollektivierung
Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990
Modernisieren und »Wachsen oder Weichen«
Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis heute
Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert
Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung
Von der Dorf- und Landesverschönerung
Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert
Die erste Modernisierungswelle der Dörfer
Dorfsanierung von 1950 bis 1980
Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung
Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung von 1980 bis heute
Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität
Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«
Vom Schultheiß zum Bürgermeister
Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung auf dem Land
Freiwillig, verpflichtend oder übertragen
Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunalpolitik
Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung
Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes
Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes
Ein knappes Fazit
Mehr Licht als Schatten
Das deutsche Dorf heute und ein Blick nach vorn
Ein Blick nach vorn
Argumente dafür, dass das Dorf nicht sterben darf
Anhang
Literaturverzeichnis
Sachregister
Ortsregister
Anmerkungen
Bildnachweis
Impressum
Back Cover
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Das Dorf: Landleben in Deutschland - gestern und heute
 3806239843, 9783806239843

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Das Dorf

Gerhard Henkel

Das Dorf Landleben in Deutschland – gestern und heute

4. Auflage

Inhalt Vorwort

9

Das alte Dorf

13

Vom Leben in der »guten alten Zeit«

14

Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800

Auf dem Sprung in die Moderne

30

Das Dorf um 1800

Das moderne Dorf

Müller, Schneider, Schuster, Schmied

35

81

Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks

Wirtschaft und Versorgung Einführung

Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt

37

86

Handwerk und Gewerbe auf dem Land

38

von 1950 bis heute

Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?

Die neue Lebensader vieler Dörfer

39

Der ökonomische Wandel des Landes

Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung

Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung

von 1800 bis heute

Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt

97

Der hohe Standard an technischer Infrastruktur

43

Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei

Von der Selbstversorgung zum marktorientierten

102

Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung

Unternehmen

Von schlechtem Wetter und guten Böden

Der Kampf um den letzten Dorfladen

49

Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft

Vollernter, Melkroboter und GPS

»Einer für alle – alle für einen!«

Die Fortschritte der Landtechnik

111

Dörfliche Genossenschaften

Der Trend zum Pendlerdorf

59

Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft

Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft

Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters«

106

Probleme der privaten Grundversorgung

53

Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten

71

Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft

Der Wald ist für alle da!?

90

75

Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes

115

Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen 65

Bevölkerung – Soziales – Kultur Einführung

Die Kraftquellen des Dorfes

123

167

Traditionelle und neue Vereine

124

Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten Der fast ständige Aderlass des Dorfes

Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land

125

Waidmannsheil und Halali!

Ausmaß und Ursachen der Landflucht

Das Dorf als Zufluchtsort

177

Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens

130

Ist das Landleben »in«?

Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern

184

Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile

und Aussiedlern

Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?

Ein fruchtbarer Austausch

134

Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land

189

Die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen

Dorfbewohner als Globetrotter

von 1800 bis heute

Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht

194

Das Dorf im Austausch mit der Welt

138

Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung

Macht das Landleben glücklich?

143

Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«

Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken?

148

EXKUR S

Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und

Wie die Kunst das Landleben darstellt

Nachbarschaftshilfe

Das Dorf in Literatur, Malerei und Film

Kein Dorf ohne Kirche!?

153

Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust

Immer mehr Dörfer ohne Schule!

160

Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land

198

172

Gestalt der Kulturlandschaft Einführung

Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum

206

Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen

208

Der Beginn der Dorfauflösung? Vom Reiz der Dorflage

260

263

Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen

209

Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft

Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt

213

Dorfpolitik

Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen

Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf

Einführung

218

268

270

Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen

Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach

225

Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen

So kam die Farbe ins Dorf

Deutschland – ein Flickenteppich!

276

Die drei ländlichen Raumtypen

234

Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft

Von der Vielfalt der Flurformen

Bodenreform und Kollektivierung

285

Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990

245

Modernisieren und »Wachsen oder Weichen«

Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand

»Ein Kahlschlag geht durchs Land«

281

Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert

239

Der dörfliche Garten

Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?

289

Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

248

Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen Die ländliche Kulturlandschaft

Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung

Abstufungen des Ländlichen

Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien

Ausbruch aus dem alten Kern

271

steuert

230

Von Nutzen und »paradiesisch«

»Wir geben keine Region auf!«

252

von 1945 bis heute

Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung

294

Von der Dorf- und Landesverschönerung

Ein knappes Fazit

298

339

Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen

Mehr Licht als Schatten

20. Jahrhundert

Die erste Modernisierungswelle der Dörfer

303

Ein Blick nach vorn

Dorfsanierung von 1950 bis 1980

Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung

308

345

Argumente dafür, dass das Dorf nicht sterben darf

Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung von 1980 bis heute

Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität

312

Anhang

Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«

Vom Schultheiß zum Bürgermeister

347

316

Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung

Literaturverzeichnis

auf dem Land

Sachregister

355

Ortsregister

359

Freiwillig, verpflichtend oder übertragen

321

Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunal-

Anmerkungen

politik

Bildnachweis

Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung

327

Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes

Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung

333

Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes

340

Das deutsche Dorf heute und ein Blick nach vorn

Impressum

361 364

365

348

Vorwort

zur 4. Auflage

Nach acht Jahren kann dieses Buch über das deutsche Dorf

menfassende Auflistung von Argumenten, die die große

bereits in die 4. Auflage gehen. Die gute Resonanz erfreut

Bedeutung von Dorf und Land für Staat und Gesellschaft

natürlich Autor und Verlag. Mehr als 300 Buchbesprechun-

deutlich machen. Mit neuen aussagekräftigen Fotos und

gen sind bisher erschienen, weit überwiegend mit einer po-

Graphiken wurden die Texte unterstützt und bereichert.

sitiven und zum Teil begeisterten Bewertung. Einige Re-

Bei der Aktualisierung der Daten hat mich Dr. Astrid Herr-

zensionen haben das Prädikat Standardwerk zum deut-

mann tatkräftig unterstützt, dafür sage ich ihr herzlichen

schen Dorf vergeben. Der Autor hat seit dem Erscheinen im

Dank! Vereinzelt mussten wir wie bei jeder neuen Auflage

Herbst 2011 mehr als tausend Zuschriften und Anrufe er-

feststellen, dass aussagekräftige Statistiken sich nicht im-

halten, mit vielfachen Danksagungen und Vortragseinla-

mer zeitlich fortsetzen lassen, da andere Bewertungskrite-

dungen, aber auch wertvollen Vorschlägen für inhaltliche

rien eingeführt oder Spezialforschungen nicht weiterge-

Ergänzungen sowie Hinweisen auf regionale und lokale

führt wurden.

Besonderheiten. Hunderte von Lesern beklagen die von ih-

Am bewährten formalen Aufbau des Buches mit seinen

nen beobachteten Missstände wie die Verluste ihrer Schule,

60 kurzen Kapiteln, die alle für sich separat lesbar sind,

der eigenen Gemeinde und Kirche, des letzten Gasthofs

wurde festgehalten. Vor allem wurden auch die vielfach ge-

und Ladens. Sie machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer

lobten knappen Zusammenfassungen zu Beginn der Kapi-

Dörfer und Kleinstädte und berichten häufig auch von Re-

tel belassen. Ein Kommentar: Man kann das Buch zunächst

spektlosigkeit und fehlender Unterstützung der Entschei-

auch im Schnelldurchgang mit diesen Summaries lesen.

der in den urbanen Zentralen von Staat und Gesellschaft

Ein anderer: Die kurzen Einführungen sind wie Kurzkri-

gegenüber dem Land. Die vielen Stimmen aus den Dörfern

mis, die sich dann beim ruhigen Weiterlesen langsam auf-

haben meinen Erfahrungsschatz bereichert und nicht zu-

lösen.

letzt auch ihren Niederschlag in diesem Buch gefunden.

Herzlich danken möchte ich auch dem Theiss/WBG -

In die 4. Auflage sind mehrere inhaltliche und formal-

Verlag, der nicht nur die dargestellten Text- und Bilderwei-

gestalterische Erweiterungen und Verbesserungen einge-

terungen mit einem notwendigen neuen Umbruch ermög-

gangen. Inhaltlich wurden neue Textpassagen eingefügt

licht hat, sondern auch zum stattlichen Hardcover mit

zu Themen wie Agrarpolitik und Dorfwettbewerb, Dorf-

Schutzumschlag der 1. und 2. Auflage zurückgekehrt ist.

kultur und Heimatbewusstsein, neue Studien zu Gebiets-

Auch die beigefügte Deutschland-Karte mit den eingetra-

reformen und wachsenden Demokratieverlusten. Die Auf-

genen Orten und Landschaften der zahlreichen Text- und

lösung von Dorfpfarreien durch deutsche Bischöfe und die

Bildbeispiele wurde erneuert und wie bereits in der 1. und

damit ausgelösten Proteste der Gläubigen, die Regionale

2. Auflage getrennt in Nord- und Süddeutschland in den

Baukultur sowie moderne Dorfromane werden ebenso the-

Vorsatz des Buches aufgenommen. Der vom Leser sehr ge-

matisiert wie die zunehmende Liebe der Bevölkerung zum

schätzte Inhaltsreichtum hat nun wieder eine optimale

Landleben. Um die Kraft und Vielfalt der dörflichen Akti-

Entsprechung in der schönen Buchform gefunden.

vitäten aufzuzeigen, wurden zahlreiche konkrete Beispiele

Gerhard Henkel

neu eingefügt. Am Ende des Buches findet sich eine zusam-

Fürstenberg/Westfalen im März 2020

Das Dorf

9

Vorwort

zur 1. Auflage

Das Dorf wird geliebt – von Alt und Jung, von Städtern und

er in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende darstellt, die

Landbewohnern. Was fasziniert die Menschen am Dorf? Ist

allgemein als Übergang von der klassischen Agrargesell-

es die Naturnähe und das Leben mit den Jahreszeiten? Ist es

schaft zur modernen Industriegesellschaft bezeichnet wird.

die Schönheit der in Jahrhunderten gewachsenen Kultur-

Bei der historischen Betrachtung steht der von mir und vie-

landschaft? Die Überschaubarkeit, die Ruhe und das schein-

len Lesern noch erlebte Wandel des Dorfes von 1950 bis

bar einfache Leben? Ist es die Dichte der sozialen Beziehun-

heute im Mittelpunkt. Insgesamt soll die Vielfalt des Land-

gen oder das Festhalten an Traditionen und alten Werten?

lebens dargestellt werden: seine Wirtschaft und Bevölke-

Offenbar ist das Dorf für viele ein Gegenprogramm zur

10

rung, seine kulturellen, sozialen und ökologischen Werte –

immer schneller ablaufenden Modernisierung, Virtualisie-

und nicht zuletzt geht es um die politische Behandlung des

rung und Globalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und

Dorfes durch die große und kleine Politik. Als Einleitung

Kultur. Ein Lebensraum, der verstanden wird und der Si-

zu verstehen ist die stark geraffte Übersicht über das Dorf

cherheit gibt. Ein Traditionsspeicher für Kultur, Religion,

vom Frühen Mittelalter bis zur Zeitenwende um 1800, so-

Werte und »normales Leben«. Ein Rückzugsraum, der die

zusagen der »geschichtliche Vorlauf« des modernen Dorfes.

gewachsenen Strukturen wie Familie, Nachbarschaft, so-

Wer über das Dorf schreibt, versucht die Quadratur des

ziales Engagement und Gartenkultur bewahrt und an die

Kreises. Es gibt über 35 000 deutsche Dörfer: Keines ist

nächste Generation weitergibt.

dem anderen gleich. Erheblich sind die Unterschiede nach

Ist das Dorf also ein Garten Eden, das Paradies vor dem

Größe, topographischer und regionaler Lage, historischer

Sündenfall? Keineswegs! Das Dorf hatte und hat seine Stär-

Entwicklung, Wirtschaftsschwerpunkten, Urbanisierungs-

ken und seine Schwächen. Manches, was gut war, ist heute

grad oder aktuellen Dynamiken und Sorgen. Dennoch ha-

nicht mehr da. Manche Nachteile aus früheren Zeiten sind

ben die unterschiedlichen Dorf-Individuen viele Gemein-

verschwunden. Viele Neuerungen haben Fortschritte ge-

samkeiten. Diese typischen Eigenschaften des Dorfes stehen

bracht, manche jedoch gleichzeitig auch Nebenwirkungen.

hier im Vordergrund. Damit jedoch nicht nur das typische,

Dieses Buch will das Dorf nicht verklären, sondern zeigen,

sondern auch das individuelle Dorf zur Geltung kommt,

wie vielfältig das Landleben und die ländliche Kulturland-

sind mehrere Hundert konkrete Dorfbeispiele aus allen

schaft war und ist.

Teilen des Landes angeführt und beschrieben. In über hun-

Für viele Menschen – gerade in den großen Städten – ist

dert Originalzitaten kommen darüber hinaus Bauern, Bür-

das Dorf zunehmend ein unbekanntes Wesen. Im öffentli-

germeister, Vereinsvorsitzende, Minister, Schriftsteller,

chen Bewusstsein spielt der ländliche Raum generell eine

Dorfplaner, Wissenschaftler und zahlreiche Dorfbewohner

geringere Rolle, als ihm eigentlich zusteht. Politik, Wirt-

zu Wort. So entsteht ein Gesamtbild aus typischen und in-

schaft, Kultur und Medien haben ihre Zentralen in den

dividuellen Merkmalen des deutschen Dorfes.

großen Städten und dominieren die Meinungsbildung von

Angesichts seiner inhaltlichen Breite kann dieses Buch

dort aus. Somit ist die Perspektive auf das Dorf in der Regel

nicht alle Themen erschöpfend behandeln, es muss sich

eine Fernsicht, die politische, wissenschaftliche und medi-

stets auf wichtige Merkmale und Prozesse beschränken. So

ale Behandlung des Landes oft eine Fremdsteuerung.

war es während des Schreibens immer wieder schmerzhaft,

Dieses Buch beschreibt und erklärt das heutige Dorf. Um

Sätze wegzulassen, die noch genauer erklären oder andere

die Gegenwart besser zu verstehen, werden darüber hinaus

Facetten aufzeigen. Daher wird es Leser geben, denen die

in knapper Form die gravierenden Veränderungen seit etwa

Texte zu wenig ausführlich sind (tatsächlich könnte über

1800 skizziert. Der Zeitpunkt um 1800 wurde gewählt, weil

jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden).

Vorwort

Andere hingegen werden sich über die knappen Ausfüh-

der »subjektiven« des Dorfbewohners mischt. Bei wichtigen

rungen freuen, die verkürzen und das Wesentliche darzu-

Fragen der ökonomischen, politischen und gesellschaft-

stellen versuchen. Mein großes Anliegen ist es, dem Leser

lichen Dorfentwicklung habe ich mich deshalb nicht ge-

das Dorf auch optisch gut zu präsentieren. Über 300 aus-

scheut, Stellung zu beziehen.

sagekräftige Fotos, Grafiken und Karten veranschaulichen

Abschließend möchte ich allen danken, die zum Gelin-

den jeweiligen Text. Das Buch kann somit auch über diese

gen dieses Buches beigetragen haben. Dem Theiss Verlag

Abbildungen »gelesen« werden. Die hier versuchte Annä-

und seinen Mitarbeitern für die Annahme meines Konzep-

herung an das Dorf wird in 60 überschaubare »Kurzge-

tes und die gute Betreuung und Gestaltung. Meiner gan-

schichten« gefasst.

zen Familie für ihr Interesse und die ständige Unterstüt-

Mit dem Motiv, ein für jedermann verständliches und

zung während der dreijährigen Arbeit am Manuskript.

doch wissenschaftlich fundiertes Dorfbuch zu schrei-

Danken möchte ich auch allen Fachleuten und Engagier-

ben, verbindet sich ein zweites Anliegen dieses Buches. Es

ten des ländlichen Raumes, deren Kenntnisse und Erfah-

möchte die große und unterschätzte Bedeutung der Wirt-

rungen mir durch zahllose Briefe und Gespräche zugute-

schafts- und Lebensform Dorf für den Staat und die Gesell-

kamen. Nicht zuletzt danke ich den zahllosen Dorfbewoh-

schaft herausstellen und um Respekt und Anerkennung da-

nern aus allen Teilen Deutschlands, die mir begegnet sind,

für werben. Nicht nur die Stadt, auch das Dorf ist ein Er-

für unzählige Informationen und Antworten auf meine

folgsmodell der europäischen Kulturgeschichte.

Fragen. Viele dieser Gespräche haben ihren unmittelbaren

Grundlage dieses Buches ist die jahrzehntelange Be-

Niederschlag in diesem Buch gefunden.

schäftigung mit dem ländlichen Raum in Mitteleuropa

Ich hoffe, mit diesem Buch möglichst viele Leser zu er-

und einigen Nachbarländern. Forschungs- und Informati-

reichen und auch zu erfreuen. Naturgemäß sind in einem

onsreisen haben mich in alle Regionen Deutschlands und

thematisch so weit gefassten Buch wie diesem Unzuläng-

sicherlich mehrere Tausend Dörfer geführt. Eine Haupt-

lichkeiten kaum zu vermeiden. Wenn dem aufmerksamen

quelle meiner Kenntnisse ist jedoch mein eigenes Leben auf

Leser Mängel auffallen sollten, bin ich ihm für eine Mittei-

dem Land, das mir von Geburt an bis heute täglich neue Er-

lung sehr dankbar.

fahrungen bringt. So liegt es auf der Hand, dass sich in die-

Gerhard Henkel,

sem Buch die »objektive« Sichtweise der Wissenschaft mit

Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2011

Das Dorf

11

Das alte Dorf

Der Kupferstich von Johann Friedrich Henning präsentiert das Dorf Rixdorf bei Berlin um 1800. Dorf und Landleben erscheinen hier als eine Idylle. Das Bild des schönen alten Dorfes prägt bis heute unsere Vorstellungen.

Vom Leben in der »guten alten Zeit« Die Vorgeschichte des modernen Dorfes vom Mittelalter bis 1800

Die Entwicklung des deutschen Dorfes vom Frühen

Jäger, Sammler und Fischer meist nur von kurzer Dauer.

Mittelalter bis zum Beginn des Industriezeitalters im

Dies änderte sich aber an der Wende zur Jüngeren Steinzeit

frühen 19. Jahrhundert ist äußerst vielschichtig und

vor etwa 7000 Jahren: Die Menschen rodeten Wald und bau-

von starken regionalen und lokalen Unterschieden

ten Getreide an. Als Ackerbauern und Viehzüchter wurden

geprägt. Dennoch lassen sich einige »rote Fäden«,

sie nun sesshaft und legten dauerhafte Siedlungen an. Da-

epochale Brüche und langfristige Veränderungen

mit schlug in gewisser Weise eine zweite Geburtsstunde des

ausmachen. Diese werden hier in knapper Form darge-

Dorfes – in der Wissenschaft spricht man von der »Neoli-

stellt: Wie verlief die Siedlungsgeschichte mit ihren

thischen (d. h. jungsteinzeitlichen) Revolution«. Vor etwa

unterschiedlichen Landnahme-, Ausbau- und Wüstungs-

2000 Jahren, während der Römischen Kaiserzeit, gab es

phasen? Wie die Entwicklung von Landwirtschaft und

im heutigen Deutschland bereits mehrere Tausend kleine

dörflichem Handwerk? Hierbei wechselten ökonomi-

und mittelgroße Dörfer. Deren Bevölkerung hatte sich vor-

sche Konjunktur- und Krisenphasen einander ab. Gene-

wiegend in den fruchtbaren Börden- und Tallandschaften

rell war das Leben für die Masse der Dorfbewohner

angesiedelt und betrieb neben Ackerbau und Viehhaltung

von der Sorge um das tägliche Brot geprägt, die

auch bereits Handwerk und Handel.

soziale Schichtung blieb über Jahrhunderte fest. Von

Im Folgenden wird die knappe Darstellung der Dorfent-

der »guten alten Zeit« kann in weiten Phasen der Dorf-

wicklung von 500 bis 1800 n. Chr. in fünf Epochen geglie-

geschichte also nicht die Rede sein. Die Befreiung der

dert. Diese ergeben sich durch den fast regelmäßigen Wech-

Bauern aus der mehrfachen Abhängigkeit von der

sel von verschiedenartigen Ausbau- und Rückgangsphasen.

Grundherrschaft konnte trotz mancher Aufstände und

Inhaltlich geht es dabei vor allem jeweils um die Entwick-

Bauernkriege letztlich erst im 19. Jahrhundert erreicht

lung der Grundherrschaft, der Dorfgemeinde, der Gestalt

werden.

der Dörfer und nicht zuletzt der ökonomischen und sozialen Verhältnisse.

Natürlich beginnt die Geschichte des Dorfes nicht erst im Mittelalter – sie reicht bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte vor etwa 500 000 Jahren zurück. Zwar waren in der Älteren und Mittleren Steinzeit die Siedlungsplätze der

14

Das alte Dorf

Siedlungsbefestigungen spielten im Mittelalter eine wichtige Rolle. Vellberg im Hohenloher Land ist heute noch so ummauert, dass es abgeschlossen werden kann wie im 15. Jahrhundert.

500–1100 Frühmittelalterliche Landnahme und Entfaltung der Grundherrschaft

Westdeutschlands als auch nördlich der Mittelgebirge statt. Während sich im südlichen und westlichen Deutschland vor allem die Franken und Alemannen niederließen, wurden die norddeutschen Regionen vornehmlich von Sachsen

Das Frühe Mittelalter begann nach dem Zusammenbruch

und Friesen in Besitz genommen.1 Die Siedlungsgründun-

des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert mit einer

gen dieser frühen Zeit lassen sich bis heute vielfach an ih-

politischen, ökonomischen und wohl auch klimatischen

ren Ortsnamenendungen ablesen und damit auch datieren.

Krisenphase. Es war eine Zeit der Völkerwanderungen: Grö-

So werden die süddeutschen »-ingen«-Orte der alemanni-

ßere Bevölkerungsgruppen wanderten aus Mitteleuropa ab,

schen Landnahmezeit und die norddeutschen »-hausen«-

zahlreiche ländliche Siedlungen wurden aufgegeben und

Orte der sächsischen Landnahmezeit zugeordnet. Bei der

ehemalige Ackerflächen wieder vom Wald eingenommen.

Siedlungsgröße des Frühmittelalters um 750 können wir

Doch die Phase der Siedlungsleere und Wiederbewal-

überwiegend von locker bebauten Weilern ausgehen.

dung dauerte nicht allzu lange. Bereits ab dem 7. Jahrhun-

In der Karolingerzeit des 8. und 9. Jahrhunderts wurden

dert kam es nach und nach zu einer Wiederbesiedlung, die

vor allem die bestehenden Siedlungen ausgebaut: Durch ei-

man als »frühmittelalterliche Landnahme« bezeichnet. Der

nen Anstieg der Bevölkerung kam es zu einer allmählichen

Neuanfang fand sowohl im »römischen« Teil Süd- und

Verdichtung bzw. »Verdorfung« der ursprünglich aufgelo-

Nicht nur Burgen und Kirchen, sondern auch Bauernhöfe und Dörfer waren im Mittelalter befestigt. Man wählte hierzu Steinmauern, Erdwälle, Holzpalisaden oder Wassergräben. Hier die Modellzeichnung eines Dorfes um 1000 n. Chr.

Das alte Dorf

15

lungen massive Steinbauten, die kleinen Festungen glichen und häufig durch ihre Lage auf einer Anhöhe besonders exponiert waren. In Notzeiten hatten die Kirchen zugleich Wehr- und Schutzaufgaben zu erfüllen. Nach Beendigung des karolingischen Siedlungsausbaus im 11. Jahrhundert dürften bereits drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen in Deutschland bestanden haben. Ein Hauptkennzeichen des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Land im Mittelalter war die mehrfache Abhängigkeit der Bewohner von der Grundherrschaft. Basis hierfür war das Eigentumsrecht des Grundherren am Boden, den er in eigenen Gütern selbst bewirtschaftete oder an Bauern zu Lehen gab, d. h. zur Nutzung verlieh. Oberster Grundherr war der König, dem das Obereigentum an alKlöster waren Pioniere bei der Verbreitung der Glaubens-, Buch- und Agrarkultur auf dem Lande seit dem Frühen Mittelalter, hier das Kloster Eberbach im Rheingau.

lem Land zustand. Vom König gelangte das Land bereits im Frühmittelalter als Lehen in die Hände des Adels und der Kirche. Von der »Hohen Leihe« der Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte ging das Land nach und nach an die »Untere Leihe« der Ritter, Dienstmannen und Äbte. So bildete sich allmählich eine Lehenskette von oben nach unten heraus2 – für die Bauern blieb in der Regel nur das Nutzungsrecht am Boden. Zur Grundherrschaft über den Boden kam häufig die sog. »Leibherrschaft« hinzu. Die Bauern waren damit auch persönlich unfrei oder »hörig« bis hin zur »Leibeigenschaft«, hier gab es allerdings viele Abstufungen und große regionale Unterschiede. Zur weitesten Form der Leibeigenschaft gehörte es, dass der Bauer die Grundherrschaft nicht ohne die Erlaubnis des Grundherren verlassen durfte. Neben der Boden- und Leibherrschaft gab es in der Regel als Drittes die Gerichtsherrschaft. Der Grundherr hatte den Richter zu bestellen und zu unterhal-

Mit der Christianisierung im Frühen Mittelalter bekamen die meisten Dörfer eine Kirche. Meist waren es prächtige Bauten aus Stein, wie hier in Einhausen in Thüringen.

ten, wobei dieser häufig zugleich als Amtmann oder Schreiber der Grundherrschaft tätig war (woraus sich durchaus Interessenkonflikte ergeben konnten). Aufgrund ihrer Ab-

16

ckert bebauten Kleinsiedlungen. Die wichtigste Aufgabe

hängigkeit vom Lehen oder Lehnsgut bezeichnet man diese

der karolingischen Politik lag somit weniger in Siedlungs-

Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch als Feudalis-

neugründungen als vielmehr in der »inneren Organisation«

mus (abgeleitet vom lateinischen Wort feudum = Lehnsgut),

und Eingliederung der bestehenden Siedlungslandschaft

sie dominierte das Landleben über 1000 Jahre vom Frühen

in das Frankenreich. Das bedeutete vor allem den Bau von

Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Über Deutschland ver-

Kirchen und die Einrichtung von Pfarreien. Wichtige Pi-

teilt, entwickelten sich mindestens neun unterschiedliche

onierarbeit leisteten hierbei die Bischofssitze und Klöster,

Typen von Grundherrschaften.3

die nun in allen Regionen errichtet wurden. Die Dorfkir-

Die allmähliche Entfaltung des feudalen Agrarsystems

chen bekamen sofort einen hohen Stellenwert: Sie waren

im Frühen Mittelalter hatte verschiedene Gründe. Basis war

meist als einzige Gebäude der frühmittelalterlichen Sied-

die Einführung des fränkischen Rechts mit der Unterschei-

Das alte Dorf

Der auf einem Podium am Pult sitzende Grundherr empfängt eine Gruppe von abhängigen Bauern, um seine Ankündigungen mitzuteilen. Die Bauern haben ihr Arbeitsgerät dabei und heben als Zeichen der Ehrenbezeugung die rechte Hand (15. Jh.).

dung zwischen Obereigentum und Nutzungsrecht am Bo-

Simon Bening malte um 1540 dieses Monatsbild Juli: Es zeigt Bauern bei der Heuernte vor einem ansehnlichen Gehöft in einer harmonischen Landschaft.

Tatsächlich war das komplexe Dienst-Lehen-Verhältnis

den durch den Aufbau der Lehenskette. Durch die begin-

zwischen Grundherren und Bauern eine wechselseitige Be-

nende Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu ei-

ziehung des Gebens und Nehmens. Die Bauern leisteten für

ner allmählichen Trennung der wichtigsten Aufgaben

ihr Nutzungsrecht am Boden Dienste und Abgaben, wäh-

der Landbewohner, die ursprünglich zugleich Bauern und

rend der Grundherr seinen hörigen Bauern zu »Schutz

Krieger waren. Auf der einen Seite entstand nun die berit-

und Schirm« verpflichtet war, z. B. in Kriegs- und Notzei-

tene Berufskriegerschicht, die bald zum Adel aufrückte,

ten. So heißt es im Schwabenspiegel, dem wichtigsten süd-

und auf der anderen Seite der Ackermann, der sich jetzt

deutschen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts: »Wir sullen den

ganz seiner Hofstelle widmen konnte. Ein weiterer Grund

herrn darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschir-

für die Bildung der unterschiedlichen Stände waren die po-

men si uns nit, so sind wir inen nicht dienstes schuldig nach

litischen Wirren des Frühen Mittelalters – die weltlichen

rechte.«5 Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen

und geistlichen Grundherren hatten die wichtigsten mili-

Grundherren und Bauern nicht idealisieren – es war ein

tärischen und politischen Aufgaben an sich gezogen, sodass

Machtverhältnis und keine freiwillige Arbeitsteilung. »Die

viele Bauern sich ihrer Autorität fügten und freiwillig ih-

zahlreichen Konflikte, die immer wieder zwischen Grund-

ren Schutz suchten.4

herren und Bauern über Abgaben und Dienste ausbrechen,

Das alte Dorf

17

Mit Rittern besetzte Burgen entstanden während des gesamten Mittelalters zu Tausenden auf dem Lande. Sie waren strategische Festungen von Adel und Landesherren zur Ausbreitung ihrer Macht. Hier die imposante Burg Eltz an der Mosel.

und vor allem die blutigen Bauernaufstände des Hoch- und

und herrschaftlichem Zwang. Allgegenwärtiger noch als

Spätmittelalters sind unleugbare Beweise gegen eine allzu

der Krieg waren den mittelalterlichen Bauern die Natur-

harmonische Bewertung des grundherrlich-bäuerlichen

gewalten, denen sie im Sommer und Winter, in Hitze und

Verhältnisses.«

Kälte, in Regen- und Trockenperioden ausgesetzt waren«.7

6

Doch was bestimmte nun den Alltag der Landbewohner im Frühen Mittelalter? Er war geprägt von der ständigen Sorge um das tägliche Brot. Mangel, Hunger und Elend waren an der Tagesordnung. Harte Arbeit vom Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang bestimmte das Leben der Bauern und Bäuerinnen auf dem Feld, in Haus und Hof. Wer-

1100–1350 Hochmittelalterlicher Aufschwung – Blütezeit von Stadtgründungen und Landesausbau durch Binnenund Ostkolonisation

ner Rösener, einer der besten Kenner des mittelalterlichen Landlebens, zieht eine sehr nüchterne Bilanz, die in keiner

18

Das Hochmittelalter war eine relativ lange Phase des wirt-

Weise manchen Vorstellungen von der »guten alten Zeit«

schaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs, der das

entspricht: »Die Angst war eine Grunderfahrung des bäuer-

Land in mehrfacher Hinsicht stark verändert hat. Dies gilt

lichen Daseins; sie wirkte in die Alltagswelt hinein und

für Deutschland und weite Teile Europas. Wesentliche Ur-

prägte sie mit all ihren bedrohlichen Seiten. Das bäuer-

sachen der hochmittelalterlichen Blütezeit waren zahlrei-

liche Leben stand im Zeichen von Unsicherheit und Krank-

che Fortschritte in der Agrarwirtschaft und – wohl auch

heit, von Naturgewalten und Unglücksfällen, von Krieg

demzufolge – ein kräftiger Bevölkerungsanstieg.

Das alte Dorf

Mio. Einwohner Große Pest 1349

geschätzte Zahlen gesicherte Zahlen

75

Anfänge der Städtebildung

Ab 1000 und 1500 ändern sich die Abstände der Jahreszahlen.

Völkerwanderung

50

Pest

koloniale Wanderung

15 10 5

Jüngere Eisenzeit 2

3

200 v. Chr.

0

Römische Kaiserzeit 3,5

3,5

200 400 n. Chr.

600

3,25

3,5

Massenmigration

neue Anbaupflanzen

43

Kartoffeln, Mais

1100 –1350

1500 –1650

seit 1950

Hochmittelalterlicher Landesausbau: Binnen- und Ostkolonisation, Hochzeit der Städtegründungen

Frühneuzeitlicher Landesausbau: Bauernaufstände und 30jähriger Krieg

Dienstleistungsgesellschaft

9 3

82

70

Industrielles Städtewachstum

Dreifelderwirtschaft

20

79

Hochzeit und Stillstand der Städtebildung

Wanderung nach Osten

25

Rückzug der Pest

4

6

12 9

6,5

11

27 18 13

15 seit 1800

Agrarreformen, Industriezeitalter, Morderne

800 1000 1100 1200 1300 1400 1500

1550

1600

1650

1700

1750

1800

1850

1900

500 – 1100

1350 – 1500

1650 – 1800

Frühmittelalterliche Landnahme

Spätmittelalterliche Agrarkrise und Wüstungen

Wiederaufbau, Landesausbau und Endphase des feudalen Zeitalters

1950

2000

Phasen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in Deutschland von 400 v. Chr. bis heute

Die Fortschritte in der Agrarwirtschaft zeigen sich in der

für diese Zeit um 50–100 % höhere Ernteerträge angenom-

Agrartechnik und Agrarverfassung sowie bei den Boden-

men. Man konnte es sich nun erlauben, statt überwiegend

nutzungs- und Betriebsformen. Eine grundlegende Verbes-

Getreide auch Obst, Gemüse und Wein anzubauen. Damit

serung der Bodenbearbeitung brachte u. a. der schollenwen-

verbesserte die Landwirtschaft ihre allmählich entstehende

dende Beetpflug, mit dem man nun tiefer pflügen konnte

Marktorientierung, außerdem wurde die Ernährung der

und der den Hakenpflug ersetzte. Das Mahlen von Getreide

Bevölkerung vielfältiger und gesünder.

wurde zunehmend durch die Errichtung von Wassermüh-

Der kräftige Bevölkerungsaufschwung des Hochmittel-

len erleichtert. Hinsichtlich der Bodennutzung wurden die

alters lässt sich an Zahlen festmachen. Im ersten Jahrtau-

älteren extensiven Bewirtschaftungsformen wie Zweifel-

send war die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

derwirtschaft oder Feldgraswirtschaft im 12. und 13. Jahr-

zwischen 3,0 und 3,5 Mio. Einwohnern nahezu stagniert.

hundert durch die Dreifelderwirtschaft abgelöst: Mit der

In den folgenden 300 Jahren bis 1300 stieg die Einwoh-

Abfolge Wintergetreide – Sommergetreide – Brache konnte

nerzahl dann rapide von 3,5 auf 9,0 Mio. an (s. Abb. oben).9

nun der Bracheanteil auf ein Drittel der Ackerfläche zu-

Dieser Bevölkerungsanstieg führte zu mehreren kräftigen

rückgedrängt werden. Ein weiterer betriebswirtschaftli-

Impulsen in der Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung:

cher Fortschritt bestand darin, dass die vielfach noch im Ei-

Verdichtung der Dörfer und Entwicklung der Dorfgemein-

genbetrieb bewirtschafteten sog. »Fronhöfe« (Herrenhöfe)

schaft, Städtegründungen, Aufschwung von Handel und

der Grundherren im Hochmittelalter weitgehend aufgelöst

Verkehr, Binnenkolonisation, Deutsche Ostsiedlung. Diese

und zu Bauernstellen umgebildet wurden. Die vielschich-

sollen im Folgenden näher erläutert werden.

tigen Fortschritte in der Agrarwirtschaft führten zu einer

Im deutschen Altsiedelland westlich der Elbe führte der

Intensivierung der Produktion und damit zu einer Steige-

Wirtschafts- und Bevölkerungsaufschwung des Hochmit-

rung der Erträge.8 Gegenüber dem Frühmittelalter werden

telalters zunächst zu einer Verdichtung der bestehenden

Das alte Dorf

19

Siedlungen. Aus locker bebauten Weilern wurden zuneh-

Ostsiedlung, sondern auch zu einer Blütezeit von Stadt-

mend Haufendörfer; in der Wissenschaft spricht man auch

gründungen. Die wachsende Produktivität der Landwirt-

von »Verdorfung«. Daneben kam es im Altsiedelland zu ei-

schaft machte es möglich, dass eine zunehmende Zahl von

ner nahezu flächendeckenden Binnenkolonisation durch

Menschen nicht mehr in der agrarischen Produktion tä-

umfangreiche Waldrodungen und Neugründungen von

tig sein musste. »Auch wenn ca. 65 % des Bevölkerungszu-

Siedlungen. Für die Landwirtschaft erschlossen wurden

wachses auf dem Land blieben, so waren die aufstrebenden

nun sogar die Hochlagen der Mittelgebirge und darüber hi-

Städte die Gewinner dieser Zeit. Sie nahmen gut ein Vier-

naus viele Sumpf- und Moorlandschaften des Tieflandes.

tel des Bevölkerungswachstums auf, sodass der Anteil der

Die Entwässerung und Besiedlung von Mooren begann im

Stadtbevölkerung von etwa 1050 bis 1400 von unter 2 % auf

12. Jahrhundert in Nordwestdeutschland durch Holländer.

12 % stieg.«11 Mit der Entfaltung der Städte entwickelte sich

Die neuen Siedlungen wurden planmäßig angelegt und

allmählich eine Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land

hatten meist linienhafte Grundrisse. Entlang einer Straße,

heraus, wobei das Land die Stadt mit Nahrungsmitteln ver-

eines Kanals oder Deiches waren die Höfe einseitig oder

sorgte und im Gegenzug gewerbliche Waren erhielt.

beidseitig in regelmäßigen Abständen aufgereiht – mit je-

In Deutschland gab es um 1150 insgesamt 40 Städte,

weils anschließenden Hofparzellen. Je nach Geländesitua-

um 1400 war die Zahl bereits auf 3000 Städte angewach-

tion entstanden so Straßen-, Anger-, Wald-, Marsch- und

sen! Nie gab es nachher eine solche Boomphase von Städ-

Moorhufendörfer, die vielfach bis heute erhalten sind.

tegründungen in Deutschland und Europa. Die meist gut

Parallel zur hochmittelalterlichen Binnenkolonisation

20

befestigten Städte boten Sicherheit und neue Bürgerrechte

im deutschen Altsiedelland kam es auch östlich der Elbe

nach dem Motto »Stadtluft macht frei«. Gemeint war damit

vom 12. bis zum 14. Jahrhundert zu umfangreichen Sied-

vor allem die Freiheit von den Abhängigkeiten gegenüber

lungstätigkeiten. Man fasst sie heute unter dem Begriff der

der Grundherrschaft, dazu kam die Chance auf nicht ag-

deutschen Ostsiedlung zusammen. Deutsche Territorial-

rare Verdienstmöglichkeiten. Allerdings waren die meisten

herren und slawische Fürsten sowie einheimischer Adel

Stadtgründungen dieser Zeit nicht mit allen »städtischen«

und Klerus riefen deutsche, holländische und flämische

Funktionen wie Verwaltung, Kultur, Gewerbe und Han-

Bauern ins Land, um Gewinne aus ihren Ländereien zu zie-

del ausgestattet, sondern hatten ihre wirtschaftliche Basis

hen und ihre Herrschaft auszubauen. Nach Schätzungen

eindeutig in der Landwirtschaft. Die Mehrzahl gerade der

folgten diesem Ruf im Hochmittelalter zwischen 200 000

hoch- und spätmittelalterlichen Stadt- und Burggründun-

und 600 000 Kolonisten und wanderten von West nach Ost.

gen war von größeren und kleineren Fürsten aus politisch-

Die angeworbenen Bauern erhielten als Anreiz für ihre

strategischen Motiven zur Abgrenzung von Herrschafts-

harte Siedlungsarbeit ökonomische und soziale Privilegien:

und Territorialinteressen errichtet worden. Obwohl in der

Sie waren rechtlich freier als im Altsiedelland und hatten

Regel mit Mauern und Toren oder Wassergräben und Wäl-

weniger Feudalabgaben und Dienste für den Grundherren

len befestigt, blieben die meisten dieser spät gegründeten

zu leisten.

Kleinstädte bis in die Gegenwart von ihrer wirtschaftlichen

10

Am Ende der hochmittelalterlichen Rodungsperiode hat-

Ausrichtung her ländliche Siedlungen. Selbst mittelgroße

te das kultivierte Land in Deutschland und in vielen Län-

Städte wie Warburg oder Ochsenfurt bezeichnete man

dern Europas einen Umfang angenommen, der später nicht

bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als »Landstädte« oder

wieder erreicht wurde. Aus manchen gerodeten Flächen

»Ackerbürgerstädte«. Die große Masse der kleineren Städte,

der Mittelgebirge und der Alpen zog sich die Landwirt-

deren Einwohnerzahlen bis heute oftmals unter 2000 ge-

schaft später wieder zurück, weil die Erträge wechselhaft

blieben sind, werden in der Wissenschaft häufig als »Titu-

und niedrig blieben. Experten sprechen hierbei von »Gren-

lar-« oder »Zwergstädte« bezeichnet. Im Sprachgebrauch

zertragsböden«, die seitdem überwiegend wieder der Wald-

der Bewohner ist für sie meist die schlichte Selbstbezeich-

wirtschaft überlassen werden.

nung »Dorf« geblieben.

Das starke Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters

Und wie stellte sich genau die wirtschaftliche und politi-

führte nicht nur zur Binnenkolonisation und deutschen

sche Lage der Landbewohner dar? Manche Historiker spre-

Das alte Dorf

Das Hohe und Späte Mittelalter waren Blütezeiten von Städtegründungen. Wichtig waren die Stadtmauern und die Stadtrechte. Der Ruf »Stadtluft macht frei« lockte viele Landbewohner in die neuen Städte. Hier das Beispiel der Kleinstadt Büdingen in der Wetterau mit seinen mittelalterlichen Befestigungsanlagen.

chen für das Hochmittelalter von einer »Blütezeit des deut-

in der Feldflur und die Dorfbefestigung durch Zäune (Et-

schen Bauerntums«. Andere wiederum stellen dies jedoch

ter) und Tore.

infrage.12 Tatsächlich dürfte es durch die stark verbesserte

Die soziale Schichtung auf dem Land war vom Frühen

Agrarwirtschaft zu einem relativ höheren Wohlstand ge-

Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert von einer Dreiteilung ge-

kommen sein. Von großer Bedeutung für das Dorf war es,

prägt. Zur zahlenmäßig geringen Ober- bzw. Herrenschi-

dass sich im Hochmittelalter nach und nach eine selbstver-

cht gehörten Adel und Klerus. Die breite Mittelschicht

waltende Dorfgemeinschaft mit eigenem Dorfrat und ei-

wurde durch die landnutzenden Bauern ausgefüllt, wo-

nem Bürgermeister entfalten konnte. Diese trat zunehmend

bei je nach Betriebsgröße zwischen oberen, mittleren und

selbstbewusst der adligen oder klösterlichen Grundherren-

unteren bäuerlichen Schichten unterschieden wird. Rela-

schicht gegenüber. Troßbach und Zimmermann bezeich-

tiv stark ausgebildet war bereits seit dem Frühen Mittelalter

nen diese Selbstorganisation der Dörfer als Gemeinden als

die meist landlose Unterschicht, die in der Regel als Land-

»epochalen« Fortschritt. Geregelt wurden u. a. Allmende-

arbeiter auf den Höfen tätig war. Der soziale Status, der auf

angelegenheiten (Allmende = gemeinschaftliches Eigen-

Herkunft und Besitz basierte, blieb über Jahrhunderte fest-

13

tum innerhalb einer Gemarkung), der Ablauf der Ackerbe-

gelegt. Eine soziale Mobilität zwischen den Schichten war

stellung, Termine der Aussaat und der Ernte, die Aufsicht

kaum möglich.

Das alte Dorf

21

1350–1500 Spätmittelalterliche Agrarkrise und Wüstungen

rungsverluste über dem Durchschnitt, da viele Dorfbewoh-

Die hochmittelalterliche Blütezeit des Landlebens nahm in

Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten

der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein jähes Ende. Meh-

und damit zu einem Rückgang der Agrarpreise und -ein-

rere negative Ereignisse führten auf dem Land in Deutsch-

kommen. Der ökonomische Niedergang entfaltete sich

ner in die neu gegründeten Städte abwanderten. Der Bevölkerungsrückgang führte zu einer geringeren

land und europaweit zu einer Depressionsphase, die all-

ebenfalls zu einer Krise des Adels und des Feudalsystems:

gemein als »Agrarkrise« bezeichnet wird. Die wesentliche

Durch die Vermehrung gehobener Dienststellen (z. B. an

Konsequenz dieser Krise war die massenhafte Aufgabe von

den Fürstenhöfen) kam es zu einem starken Anwachsen

Dörfern und landwirtschaftlicher Nutzfläche.

der Adelsschicht und damit auch zu einer Aufsplitterung

Die spätmittelalterliche Agrarkrise hatte verschiedene

und Schwächung der Grundherrschaften.14 Die Folge war,

Ursachen – eine der wichtigsten war ein starker Bevölke-

dass viele Grundherren verarmten und ihre wirtschaftli-

rungsrückgang. Nach dem kräftigen Anstieg im Hoch-

che Basis verloren. Ein Teil des (niederen) Adels versuchte,

mittelalter ging die Bevölkerung nun um mindestens ein

sein Einkommen durch Raubzüge und Fehden zu verbes-

Drittel zurück. Hierfür verantwortlich waren Hungersnöte

sern: Es war die Zeit der Raubritter, die in allen Regionen

und Pestepidemien, die Deutschland wie Europa in mehre-

Deutschlands hordenweise die weitgehend ungeschützten

ren Wellen heimsuchten. Auf dem Land lagen die Bevölke-

Landsiedlungen und Klöster überfielen, mordeten, plünderten und in Brand setzten. Des Weiteren erhöhten die adligen Grundherren den Druck auf die Bauern, indem sie erhöhte Abgaben und vermehrte Dienstleistungen verlangten. Manche Bauern schlossen sich den Verlockungen der Raubritterzüge an (wie es im »Meier Helmbrecht« von Wernher dem Gärtner aus den späten 13. Jahrhundert eindrucksvoll beschrieben wird), viele andere entzogen sich dem steigenden Lehnsdruck durch Abwanderung in die Städte. Die ökonomische und soziale Lage der Bauern verschlechterte sich dramatisch – vor allem in dieser Zeitphase waren sie »das verachtetste Glied der Gesellschaft«.15 Äußerer und bleibender Ausdruck der spätmittelalterlichen Agrarkrise war schließlich das Massenphänomen der Wüstungen. Dieser Begriff für verlassene und aufgegebene Siedlungen findet sich bereits in den zeitgenössischen Quellen. Dort ist ebenfalls Genaues über den Zustand der damaligen Kulturlandschaft zu erfahren. Es wird berichtet von wüsten Gehöften, leer stehenden Siedlungen oder Siedlungsteilen, zerstörten und verlassenen Burgen, Kirchen und Klöstern. Auf ehemaligen Äckern wuchsen Gebüsch, Strauchwerk und schließlich Waldbäume; Gleiches galt für die aufgegebenen Ortsstellen. In der Beschreibung einer schon jahrzehntelang aufgegebenen Ortswüstung aus dem Jahr 1451 heißt es: »Locus iste K. jam desolatus est plenus arbustum habitaculum ursorum« – Nun ist auch jener Ort K. verödet, voll von Gebüsch und eine Lagerstätte für Bären.16 Die Wüstungsvorgänge trafen nicht nur die un-

Ein Dorf wird durch Raubritter geplündert und verwüstet. Die Federzeichnung um 1475–1490 vermittelt uns einen »Normalvorgang« des Spätmittelalters.

22

Das alte Dorf

delten Siedlungsplätzen. So startete das Dorf Fürstenberg auf der Paderborner Hochfläche im Jahr 1449 auf der Basis von sechs Wüstungsgemarkungen mit einer Gesamtfläche von 59 km2 und wurde schon bald zu einem Großdorf mit weit über 1000 Einwohnern. Generell ist die nach der Wüstungsperiode bis etwa 1500 gebildete neue Siedlungslandschaft bis heute weitgehend konstant erhalten geblieben. Eine weitere Folge der Wüstungsvorgänge und der Vergrößerung der Gemarkungen war eine Zunahme der Waldflächen. Viele Grenzertragsböden, die man noch im Hochmittelalter für die Landwirtschaft gerodet hatte, wurden nun wieder der extensiveren Waldwirtschaft überlassen. Die heutige Feld-Wald-Verteilung bildete sich weitgehend bereits im 15. und 16. Jahrhundert heraus. In Ostdeutschland begann im Spätmittelalter die Bildung von landwirtschaftlichen Großbetrieben: Bäuerliche Siedlerstellen wurden mehr und mehr von den Grundherren eingezogen oder nicht wieder besetzt und zu adligen Gutsbetrieben ausgebaut. Dieses Dreiständebild von 1492 zeigt die drei Stände des Mittelalters mit ihren vorrangigen Aufgaben: die Geistlichkeit (links: Gebet), Fürsten und Ritter (rechts: Schutzgewährung), Bauern (vorn: Arbeit).

1500–1650 Frühneuzeitlicher Landesausbau, Bauernaufstände und Dreißigjähriger Krieg

geschützten Agrarsiedlungen, sondern auch manche (oft gerade erst neu gegründete) Städte. Wissenschaftler schät-

Nach dem starken Bevölkerungs- und Siedlungsrück-

zen die Gesamtzahl der spätmittelalterlichen Wüstungen

gang des Spätmittelalters folgte in der Frühen Neuzeit er-

in Deutschland auf 40 000. Damit wäre knapp ein Viertel

neut eine Aufbruchphase, die aber immer wieder von Bau-

der insgesamt 170 000 Siedlungen des Hochmittelalters auf-

ernaufständen und Kriegen unterbrochen wurde. Man

gegeben worden. In manchen Regionen wie im Bereich der

spricht von Landesausbau, weil in verschiedenen Berei-

Schwäbischen Alb oder der Paderborner Hochfläche betru-

chen Erweiterungen und Verbesserungen für die Agrar-

gen die Siedlungsverluste sogar 75 %! Nur in wenigen Regi-

wirtschaft vorgenommen wurden. Zunächst ging es vie-

onen Deutschlands sind bisher keine Wüstungen bekannt.

lerorts darum, die wüstgefallenen Flächen (besonders der

Die meisten der aufgegebenen Orte haben sich im Flurna-

besseren Böden) zu rekultivieren. Darüber hinaus wurden

mengut niedergeschlagen, z. B. lebt das untergegangene

Sumpf- und Moorgebiete trockengelegt sowie Küstenland

Dorf Aspe im Flurnamen »Aspergrund« weiter.17 Von ver-

und Flussauen eingedeicht und für die Landwirtschaft ge-

lassenen Kirchdörfern sind vielfach Ruinen oder Grund-

wonnen. Im 16. Jahrhundert begann eine zweite Welle der

mauerreste bis heute erhalten geblieben.

Erschließung und Siedlungstätigkeit östlich der Oder. Der

Die spätmittelalterliche Wüstungsperiode hat die deut-

Landesausbau wurde getragen von einem starken Bevölke-

sche Kulturlandschaft in gravierender Weise verändert.

rungsanstieg. Die Einwohnerzahl in Deutschland verdop-

Die Aufgabe eines Viertels aller Siedlungen führte zu ei-

pelte sich nach dem Tiefstand um 1400 mit 6,5 Mio. Ein-

nem Konzentrationsprozess: Sie war die Basis für die Bil-

wohnern bis zum frühen 17. Jahrhundert auf 13 Mio. Ein-

dung von großen Dörfern mit großen Gemarkungen auf

wohner. Eine Intensivierung der Agrarwirtschaft wurde

den verbliebenen und in der Frühen Neuzeit wiederbesie-

u. a. auch durch den zunehmenden Verzicht auf die Dreifel-

Das alte Dorf

23

Dieses Bild Albrecht Dürers von 1494 zeigt eine Dorflandschaft in der Region Nürnberg. Im Vordergrund ist die Drahtziehermühle Großweidenmühle zu sehen. Sie kann als frühindustrieller Betrieb bezeichnet werden.

derwirtschaft zugunsten einer Fruchtwechselwirtschaft er-

linie hierfür stellte die Elbe dar.19 Westlich der Elbe – im

reicht, wobei das Brachejahr ganz wegfiel. Die Marktori-

deutschen Altsiedelland – blieb das Lehnssystem zwischen

entierung der Landwirtschaft nahm bereits im 16. Jahrhun-

Grundherrschaft und Bauern weitgehend erhalten. Östlich

18

dert deutlich zu, da die nun wieder wachsenden Städte mit

der Elbe hingegen wurden die Bauern nach und nach von

Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Dies kam nicht

den Grundherren aus ihren alten Nutzungsrechten heraus-

nur den Bauern zugute, sondern hatte in den Dörfern auch

gedrängt. So entstanden die in Eigenwirtschaft betriebe-

eine Zunahme des verarbeitenden Gewerbes (wie Müller

nen Rittergüter, während die ehemaligen Bauern zu Land-

oder Metzger) und des Handels zur Folge. Die Fortschritte

arbeitern wurden. Der mit dem Begriff »Bauernlegen« um-

in der Agrarwirtschaft wurden ab dem späten 16. Jahrhun-

schriebene Prozess begann im 16. Jahrhundert und endete

dert von einer zunehmenden Fachliteratur festgehalten und

erst im späten 18. Jahrhundert.

verbreitet.

24

Die innere Dorfentwicklung der Frühen Neuzeit ist ge-

In der Frühen Neuzeit kam es im Nordosten Deutsch-

kennzeichnet durch ein starkes Anwachsen der unterbäuer-

lands zu einer verstärkten Gutsbildung. Eine grobe Trenn-

lichen Schichten.20 Dazu gehörten einmal die sog. »Klein-

Das alte Dorf

stellenbesitzer«, deren Land meist am Dorfrand lag und

sem Anwachsen der dörflichen Unterschichten? In Realtei-

die nach heutigem Sprachgebrauch eine Nebenerwerbs-

lungsgebieten wurden die Betriebsgrößen durch die fort-

landwirtschaft betrieben. Danach kamen die Hausbesitzer

gesetzten Teilungen des Besitzes immer kleiner, sodass sie

ohne Land und zuletzt die Landbewohner ohne Haus- und

nicht mehr zur Ernährung eines Hausstandes ausreichten.

Landbesitz. Letztere Gruppe wohnte meist bei den Bauern

So war man zum Nebenerwerb gezwungen. In Anerben-

zur Miete. Hierzu ein Beispiel: Im Kirchspiel Belm bei Os-

gebieten mit geschlossener Hofübergabe blieben den nicht

nabrück besaßen im Jahr 1601 neben 173 groß- und klein-

erbenden Kindern meist nur geringe Einkommensmög-

bäuerlichen Betrieben 79 Haushaltungen weder Haus noch

lichkeiten. Sie verdingten sich meist als Tagelöhner in der

Land, das sind 32 % aller Haushalte!21 Wie kam es zu die-

Landwirtschaft oder im Transportgewerbe. Andere wich-

Eine der ältesten Dorfzeichnungen besitzen wir von Heudorf bei Konstanz aus dem Jahre 1576. Gut zu erkennen sind neben Kirche, Friedhof, Mühle, Backhaus und Bauernhäusern auch der das Dorf abschließende Dorfzaun.

Das alte Dorf

25

haus, Dorfplatz mit Linde und der Dorfzaun (Etter) mit Tor. Ab etwa 1500 kamen zunehmend Rathäuser hinzu – sie verkörperten den wirtschaftlichen Aufschwung und das wachsende Selbstbewusstsein der gemeindlichen Selbstverwaltung. Ein Dorf in Rheinhessen dürfte um 1550 etwa so ausgesehen haben: »Den Mittelpunkt bildete der Dorfplatz, über den die Durchgangsstraßen führten. Auf der einen Seite wurde er durch die Friedhofsmauer abgeschlossen. Inmitten dieses Friedhofes, der leicht erhöht lag, befand sich die Kirche. In unmittelbarer Nähe der Mauer, von allen Seiten zugänglich, stand das Rathaus mit einer besonders dekorativen Front zum Platz hin. Am Dorfbrunnen schöpfte man seinen Wasserbedarf und schliff seine Schneidewerkzeuge. Die alte Dorflinde beherrscht die Mitte des Platzes, unter ihr fanden vor der Erbauung des Rathauses die Gemeindeversammlungen und Gerichtssitzungen statt, und hier traf man sich zum geselligen Beisammensein. Um den Dorfplatz gruppierten sich ferner das Dorfwirtshaus, in dem Reisende übernachten konnten, die Dorfschmiede und das Gemeindebackhaus, etwas abseits war der Löschweiher angelegt. Am Ortsrand, am Bach, lag die Mühle und das Badhaus und außerhalb das Siechenhaus. Als Gegensatz stand am anderen Ortsende ein vornehmes Anwesen des Ortsherren.«23 Bauernaufstände und Unruhen gegen die adligen und kirchlichen Grundherren hatte es seit dem Frühmittelalter immer wieder gegeben. Im Spätmittelalter nahmen sie jedoch stark zu, auch in der Radikalität ihrer Forderungen. Zum Höhepunkt des bäuerlichen Widerstands gegen die Feudalherren wurde der Deutsche Bauernkrieg von Immer wieder kämpften Bauern um ihre Rechte gegen ihre Grundherren, hier eine Bauernkriegsszene von 1524: Bauern aus den Dörfern Rappertsweil, Weissenau, Obereschbach und Untereschbach rotten sich zu einem Heer zusammen.

1524/25. Angeregt durch die Schweizer Eidgenossenschaft und die deutsche Reformation mit dem zündenden Wort von der »Freiheit der Christenmenschen« begannen die Aufstände 1524 am Südostrand des Schwarzwaldes.24 Der

tige Arbeitsmöglichkeiten bestanden im Dorfhandwerk,

Aufruhr wurde zu einem Flächenbrand und verbreitete

das sich nun mehr und mehr auf dem Land entwickelte und

sich schnell in ganz Südwestdeutschland und von dort nach

schließlich zur zweiten ökonomischen Basis des Dorfes ent-

Franken, Thüringen, Tirol und ins Salzburger Land. Auch

faltete.

Adlige und Städter schlugen sich auf die Seite des bäuer-

Ab der Frühen Neuzeit haben wir auch genauere Vorstel-

lichen Widerstands. Die bekanntesten unter ihnen waren

lungen vom Aussehen des Dorfes, was wir u. a. zahlreichen

Götz von Berlichingen aus der Region Neckartal-Oden-

Diese enthalten

wald und Florian Geyer aus Franken. Insgesamt 300 000

sowohl konkrete als auch stilisierte Dorfansichten. Wich-

Bauern schlossen sich den regional gegliederten Heeren

überlieferten Zeichnungen verdanken.

26

22

tige, in den Bildern wiederkehrende Dorfbereiche sind Kir-

an. Die Forderungen der Bauern zielten vor allem auf eine

che mit Kirchhof, Wirtshaus, Backhaus, Schmiede, Bade-

Wiederherstellung des »guten alten Rechts« auf freie Wald-

Das alte Dorf

nutzung, Jagd und Fischfang, das ihnen nach und nach von

noch extremer – so soll die Bevölkerungszahl im Herzog-

den Grundherren entzogen worden war. 1525 wurde ein

tum Württemberg von 1618 bis 1648 von etwa 400 000 auf

Forderungskatalog von »Zwölf Artikeln« aufgestellt, der

nur noch 50 000 Einwohner abgesunken sein.26 Zahlrei-

zum Manifest des Bauernkrieges wurde. Darin heißt es u. a.:

che Städte und Dörfer waren durch den Krieg völlig zer-

Aufhebung der Leibeigenschaft und Mäßigung der Fron-

stört und menschenleer, die Felder verödet. Die Viehbe-

dienste. Der Widerstand der Bauernheere wurde in mehre-

stände auf dem Land waren durch den Krieg bis auf unter

ren großen Schlachten gebrochen und die Zahl der Opfer

10 % des Vorkriegsniveaus abgesunken. Der Dreißigjährige

wird auf 100 000 Personen geschätzt. Letztlich verloren die

Krieg hinterließ somit ein verwüstetes Land und eine völlig

aufbegehrenden Bauern. Gründe hierfür waren, dass die

heruntergekommene Wirtschaft. Er schob, gerade im Ver-

Bauernheere zu isoliert voneinander auftraten, außerdem

gleich zu England und Frankreich, die längst notwendige

blieb der breite gesellschaftliche Rückhalt für die Anliegen

wirtschaftliche und politische Modernisierung Deutsch-

der Bauern aus. Selbst Martin Luther distanzierte sich mit

lands und gerade auch des ländlichen Raumes um mehr als

seiner Schrift »Wider die mörderischen und räuberischen

ein Jahrhundert hinaus.

Rotten der Bauern« von der Bewegung. Im Ergebnis wurden durch den Ausgang des Bauernkrieges die Rechte der Feudalherrschaft gestärkt. Allerdings sind einige Historiker der Auffassung, dass die Aufstände in Westdeutschland die Durchsetzung einer intensiveren Leibeigenschaft wie in

1650–1800 Wiederaufbau, Landesausbau und Endphase des feudalen Zeitalters

Ostdeutschland verhindert haben. Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 unterbrach

Viel Zeit und Kraft brauchte das Land, um sich von den Ver-

die Epoche des frühneuzeitlichen Landesausbaus und führ-

lusten und Wunden des Dreißigjährigen Krieges zu erho-

te weite Teile Deutschlands erneut in eine schwere Krise,

len. Fast ein Jahrhundert dauerte allein die Phase des Wie-

die mit der spätmittelalterlichen Wüstungsphase zu verglei-

deraufbaus. Entvölkerte Gebiete mussten wiederbesiedelt,

chen ist. Nur wenige Regionen wie Schleswig-Holstein,

Häuser und ganze Dörfer wiederaufgebaut, ehemalige Fel-

größere Gebiete Niedersachsens und das Rheinland west-

der mühsam rekultiviert werden. Nur nach und nach konn-

lich der Linie Neuss – Köln – Trier wurden von den marodie-

ten die Viehbestände wieder aufgefüllt werden. Erst um

renden Kriegstruppen verschont. Die meisten Landstriche

das Jahr 1740 war die Zahl der Bauernhöfe wieder auf dem

hingegen sind von den Heereszügen mehrfach heimge-

Stand von 1618, dies gilt auch für die Einwohnerzahlen in

sucht worden. Die Gesamtzahl der damals durch Deutsch-

Deutschland.27 Bemerkenswert ist, dass der Dreißigjährige

land ziehenden Soldaten wird auf eine Million geschätzt,

Krieg – im Unterschied zur spätmittelalterlichen Agrar-

das waren 6–10 % der Bevölkerung. Städte und Dörfer wur-

krise – kaum dauerhafte Ortswüstungen hinterlassen hat.

den immer wieder Opfer von räuberischen Gewalttaten

Ab 1740 kann von einer neuen Phase des Landesausbaus

und Zerstörungen. Vor allem die Landbevölkerung in den

und einer Intensivierung der landwirtschaftlichen Produk-

wenig geschützten Dörfern und kleineren Städten waren

tion gesprochen werden. Damit setzte sich die Entwicklung

sämtlichen Soldatengruppen nahezu wehrlos ausgeliefert.

des 16. Jahrhunderts fort, die durch den Dreißigjährigen

Mittelbare Kriegsfolgen waren Hungersnöte durch Ern-

Krieg und die folgende Wiederaufbauphase unterbrochen

teausfälle und Plünderungen sowie Pestepidemien wie im

worden war. Im großen Stil wurden nun durch Adel und

Späten Mittelalter. Der lange Krieg bedeutete einen er-

Landesherren neue Flächen für den Landbau erschlossen

heblichen Rückschritt für das ganze Land. An erster Stelle

und besiedelt. Man spricht hier von »Peuplierungspolitik«

standen millionenfache Bevölkerungsverluste: Zu Beginn

(Ansiedlungspolitik), manchmal wurden dazu auch Glau-

des Krieges zählte das Deutsche Reich 16 Mio. Einwohner,

bensflüchtlinge aus dem Ausland wie die französischen

am Ende des Krieges nur noch 10 Mio. Es dauerte danach

Hugenotten angeworben. Allein in Preußen wurden etwa

ungefähr ein Jahrhundert, bis die Bevölkerungsverluste

250 000 ha Sumpf-, Moor- und Aueland kultiviert. Am

wieder ausgeglichen waren. Regional waren die Verluste

bekanntesten ist die Urbarmachung und Besiedlung des

25

Das alte Dorf

27

Oderbruchs mit 60 000 ha. In Norddeutschland und Bay-

das 18. Jahrhundert als die Endphase des feudalen Zeitalters,

ern wurden insgesamt 20 000–25 000 ha neu für die Land-

denn es mehrten sich die Anzeichen einer Beseitigung der

wirtschaft gewonnen. Die Landesherren förderten jedoch

mehrfachen Abhängigkeit der Bauern von weltlichen und

nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Entstehung

geistlichen Grundherren. Die Impulse zu grundlegenden

eines frühindustriellen Gewerbes. In vielen ländlichen Re-

Agrarreformen kamen nun von verschiedenen Seiten: Von

gionen – vor allem Mittel- und Süddeutschlands – entwi-

den Bauern, die ihre Dienste und Abgaben immer wider-

ckelten sich erste Schwerpunkte z. B. der Glas-, Eisen- und

williger verrichteten. Von den Grundherren, die erkannten,

Textilproduktion.29

dass ihre Einnahmen wegen der bestehenden Agrarverfas-

28

Neben der Ausdehnung der Flächen kam es zu einer In-

sung immer niedriger wurden. Vom Staat, der an einem ge-

tensivierung der landwirtschaftlichen Produktion. Die Bo-

sunden Bauernstand und höheren Staatseinnahmen interes-

denbearbeitung erhielt Impulse durch die Einführung

siert war.32 Rückenwind kam auch von der sich nun etablie-

neuer Früchte wie Kartoffeln, Klee oder Flachs für die Tex-

renden Agrarwissenschaft. So beschreibt Heinrich Gottlob

tilherstellung. Auch in der Viehhaltung gab es Verbesse-

von Justi in seiner Schrift »Von den Hindernissen einer blü-

rungen durch neue Rassen oder durch die Verpachtung von

henden Landwirtschaft« bereits 1760 die wichtigsten Miss-

»Kuhhaltereien« auf den preußischen Domänen (Staatsgü-

stände: enge Dorflage, zu schmale Ackerstreifen, Weide-

tern) an Holländer. Ein wichtiger Fortschritt für die Dörfer

rechte auf Brach- und Stoppelfeldern im Rahmen der Drei-

war es auch, dass sowohl der Obstanbau als auch der Garten-

felderwirtschaft, Frondienste, Besitzverhältnisse der Bauern.

bau von den Landesherren gefördert wurde, wobei hier vor

»Wenn nun ein Bauer nicht des vollkommenen Eigenthums

allem die Dorfschullehrer eingesetzt wurden. Dem Wirt-

versichert ist, wenn er befürchten muss, dass man ihm

schaftsaufschwung entsprach die Bevölkerungsentwick-

oder seinen Kindern dereinst das Guth unter allerley Vor-

lung: Vom Tiefpunkt im Jahr 1648 mit 10 Mio. Einwohnern

wänden nehmen möchte; so fehlet ihm der rechte Bewegs-

stieg die Bevölkerung in Deutschland bis 1800 auf 23 Mio.

grund, allen möglichen Fleiß auf die vollkommene Cul-

Einwohner an.

tur und Verbesserung seiner Grundstücke zu verwenden.«33

Die Bevölkerungszunahme auf dem Land führte im We-

Erste konkrete Maßnahmen zur Beseitigung dieser Miss-

sentlichen zu einer starken Zunahme der unterbäuerlichen

stände wurden bereits im 18. Jahrhundert unternommen:

Schichten. Die Anzahl der landlosen Haushalte machte

In Preußen wurde z. B. das sog. »Bauernlegen«, das Heraus-

nicht selten zwei Drittel aller Dorfhaushalte aus, wie z. B.

drängen der Bauern aus ihren Nutzungsrechten am Land,

in Belm bei Osnabrück.30 Ein anderes Beispiel ist das Dorf

verboten. Bemühungen zur Einführung der persönlichen

Großgressingen bei Bamberg, das zur Grundherrschaft des

Freiheit waren in ganz Deutschland zu beobachten. In frü-

Klosters Ebrach gehörte. Hier standen 1689 den zwölf Bau-

hen Flurbereinigungsverfahren konnten die Gemengelage

ernstellen mit durchschnittlich 7 ha Land 26 sog. »Söllen-

der schmalen Parzellen und der Flurzwang beseitigt wer-

häuser« gegenüber. Deren Bewohner besaßen kein Land

den. Auch im auf dem Land vernachlässigten Bildungs-

und waren auf den klösterlichen Eigenbetrieben beschäf-

bereich tat sich einiges: So wurde nach und nach die all-

tigt. Die soziale Zweiteilung des Dorfes von 1689 lässt sich

gemeine Schulpflicht eingeführt, was den Dörfern sehr

am Ortsbild bis heute ablesen. Generell profitierten auch

zugutekam – zuerst in Preußen im Jahr 1763 (auf den

die unterbäuerlichen Schichten vom wirtschaftlichen Auf-

staatseigenen Gütern bereits 1717), dann in Bayern 1770 und

schwung: Viele konnten sich neben der üblichen Tagelöh-

in Österreich 1774.34 Impulsgeber der neuen Bildungspoli-

nertätigkeit in der Landwirtschaft als Handwerker oder im

tik waren nicht zuletzt die Ideen der Aufklärung, die sich

Transport- und Handelsgewerbe neue Zuverdienste sichern.

im 18. Jahrhundert immer mehr durchsetzten.

31

28

Für Landesfürsten, Adel und Klöster war das 18. Jahrhun-

Trotz mancher Fortschritte ist festzuhalten, dass das feu-

dert ein (letzter) Höhepunkt ihrer Machtentfaltung. Dies

dale Agrarsystem in wirtschaftlicher und gesellschaft-

äußerte sich z. B. in der Errichtung prächtiger Schlösser,

licher Hinsicht um 1800 im Wesentlichen noch bestand.

Guts- und Parkanlagen sowie in der Ausübung einer heute

Aber zahlreiche Änderungen waren bereits in Gang gesetzt,

übertrieben anmutenden Jagdkultur. Doch gleichzeitig gilt

sodass im 19. Jahrhundert in nur wenigen Jahrzehnten eine

Das alte Dorf

völlige Umgestaltung der Agrarwirtschaft und damit des

ist der Landmann die armseligste unter den Kreaturen: die

Landlebens erreicht werden konnte.

Bauern sind Sklaven und ihre Knechte sind von dem Vieh,

35

Das Alltagsleben in den Dörfern verlief gegen Ende des

das sie hüten, kaum noch zu unterscheiden. Man kommt

18. Jahrhunderts – aus heutiger Sicht – immer noch sehr be-

auf Dörfer, wo die Kinder halb nackend laufen und die

scheiden und beschwerlich. So war die Säuglings- und Kin-

Durchreisenden um ein Almosen anschreien. Die Eltern

dersterblichkeit sehr hoch und die überlebenden Kinder

haben kaum noch einige Lumpen auf dem Leib, ihre Blöße

wurden schon früh in den Arbeitsprozess, z. B. beim Vieh-

zu decken. Ein paar magere Kühe müssen ihnen das Feld

hüten oder Garnspinnen, eingegliedert. Es gibt viele dras-

bauen und auch Milch geben. Ihre Scheunen sind leer, und

tische zeitgenössische Berichte über die dörfliche Armut.

ihre Hütten drohen alle Augenblicke über einen Haufen zu

Hier eine Beschreibung von Johann Michael von Loen, ei-

fallen. Sie selbst sehen verkahmt (kümmerlich) und elend

nem Großonkel Goethes, aus dem Jahr 1771: »Heute zu Tage

aus.«36

Das 18. Jh. war der Höhepunkt der Machtentfaltung von Adel und Landesfürsten, der sich in vielen Schlossbauten niederschlug. Hier das Jagdschloss Clemenswerth im Emsland, 1737–1747 für den Kölner Fürstbischof Clemens August von Wittelsbach errichtet.

Das alte Dorf

29

Auf dem Sprung in die Moderne Das Dorf um 1800

Auf den ersten Blick waren die Dörfer vor 200 Jahren

zum alten Dorf. Wir haben die Armut der großen Mehrheit

einfacher strukturiert als heute. Fast allen Dorfbewoh-

der Dorfbewohner vor Augen, die Missernten und Hun-

nern gemeinsam war die landwirtschaftliche Tätigkeit.

gersnöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die beson-

Die benötigten landwirtschaftlichen Geräte wurden von

ders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen. Das Dorf-

dörflichen Handwerkern wie Schmied und Stellmacher

leben erscheint uns dann als ein fast täglicher Kampf ums

hergestellt. Das Dorf war nicht nur autark, sondern

Überleben, ohne Chancen eines wirtschaftlichen oder so-

regelte auch das wirtschaftliche und soziale Leben

zialen Aufstiegs.

durch eigene Dorfordnungen. Allerdings waren die

Die holzschnittartigen »gefühlten« Bilder vom alten

Bauern und Landarbeiter nicht frei im heutigen Sinne:

Dorf haben natürlich ihre Wahrheitskerne. Sie speisen sich

Sie waren durch vielfache und komplizierte Besitz- und

aus Darstellungen der damaligen Literatur und Malerei so-

Rechtsverhältnisse an ihre Grundherren, Gutsherren,

wie aus Chroniken, Reiseberichten und mündlichen Über-

Gerichtsherren, Landesherren und an die Geistlichkeit

lieferungen. Sie sind zugleich aber auch der Sichtweise

gebunden.

des heutigen Menschen geschuldet mit seinen Vorstellungen von Armut, Sterblichkeit und Freiheit. Über die »ge-

Geht es um das Thema »Dorf«, haben wir alle meist auch

fühlte Wirklichkeit« eines Bauern, seiner Frau, seiner Kin-

Bilder des »alten Dorfes« im Kopf. Diese sind oft mit der

der, Knechte und Mägde um 1800 wissen wir relativ wenig.

Einschätzung einer »guten alten Zeit« verknüpft – es sind

Vielleicht lebten damals viele Dorfbewohner in dem (zu-

Vorstellungen einer romantischen Grundstimmung: Die

friedenen) Bewusstsein, dass es ihnen besser ging als noch

Dörfer liegen idyllisch inmitten der Natur mit Bach, Fel-

ihren Eltern und Großeltern.

dern und Wäldern. Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und

gional unterschiedliches Bild des Dorfes vor 200 Jahren. Es

große Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schüt-

war eine Umbruchzeit – die Ideen der Französischen Revo-

zenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozialen und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbewohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negativere Bilder und Bewertungen

30

Die Dorfforschung zeichnet ein facettenreiches und re-

Das alte Dorf

Abbildung oben: Auf früheren Gemälden wird das alte Dorf häufig geschönt dargestellt. Städtische Maler ergötzten sich am Landleben. Das Bild des Dorfes Tempelhof um 1800 stammt von Johann Friedrich Hennig.

lution gingen durch Europa und drangen auch in das poli-

arbeitenden und wohnenden Knechte und Mägde. Aufstie-

tisch kleingekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung

ge aus der Unterschicht waren kaum möglich. Durch das

der Landbevölkerung aus den diversen Zwängen der Feu-

festgefügte Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Bauern und

dalzeit durch Agrar- und Bildungsreformen deutete sich

Grundherren gab es aber auch für die Mittelschicht nur ge-

in manchen Regionen bereits an. Aus sozialer Sicht war

ringe Möglichkeiten des sozialen und wirtschaftlichen Auf-

das Dorf um 1800 noch eine recht festgefügte Klassenge-

stiegs. Die Starrheit der sozialen und ökonomischen Schich-

sellschaft in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze

tung hat sicherlich vielerorts zu ungerechter Machtaus-

standen unangefochten Klerus und Adel, die beide auch als

übung und Ausbeutung durch die ländliche Oberschicht

Grundherren – als Verpächter des Landes und häufig auch

geführt. In den historischen Quellen gibt es zahllose Be-

mit eigenen Gütern – in Erscheinung traten. Darunter kam

lege für die Unzufriedenheit und Wut der Dorfbewohner

die Schicht der großen, landbesitzenden Bauern. Danach

über Beschneidungen alter Rechte sowie die hohen Belas-

die der kleineren Bauern und der Handwerker, die meist

tungen durch Abgaben und Dienste gegenüber der Grund-

zur Existenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft be-

herrschaft und Geistlichkeit. Es saßen jedoch fast alle Dorf-

trieben. Man würde hier heute von oberer und unterer Mit-

bewohner im gleichen Boot, das sie auch nicht verlassen

telschicht sprechen. Zur zahlenmäßgig umfangreichen

konnten. Dies hat mit Sicherheit auch die Einsicht in das

Unterschicht gehörten damals die landlosen Landarbeiter

Aufeinander-angewiesen-Sein und den Zusammenhalt in-

und Tagelöhner, die in einem eigenen Haushalt lebten, so-

nerhalb der Familien und innerhalb der Dorfgemeinschaft

wie die unmittelbar auf den größeren Höfen und Gütern

weiter gefördert.

Das Ölgemälde »Rückkehr von der Kirchweih« von Ferdinand Georg Waldmüller um 1860 zeigt uns eine Sonntagsszene des Dorfes. Festlich gekleidete Erwachsene und Kinder werden in ausgelassener Stimmung präsentiert.

Das alte Dorf

31

In allen Jahreszeiten gab es im Dorf spezielle Arbeiten zu erledigen. Eine der bäuerlichen Arbeiten im Herbst und Winter war es, Mist aufs Feld zu fahren und dort zu verteilen. Auch Frauen und Kinder mußten mit anpacken.

32

Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft stand ein-

gaben. Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist in

deutig die Land- und Forstwirtschaft. Alle mittleren und

Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft betrieben,

größeren Höfe betrieben in der Regel den ganzen Umfang

um die eigene Nahrungsversorgung zu sichern. Die typisch

an Ackerbau und Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung.

dörflichen Handwerkszweige wie Schmiede, Stellmacher,

Natürlich gab es regionale Unterschiede. Die heute übliche

Maurer und Zimmerer versorgten vor allem die landwirt-

Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion war

schaftlichen Betriebe und dienten im Wesentlichen der

um 1800 noch weitgehend unbekannt. Das wichtigste Ziel

Versorgung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren war

der Hofhaltung stellte die Selbstversorgung der meist gro-

somit wirtschaftlich weitgehend selbstständig.

ßen Familie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung

Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in der Regel

dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundherren und

ganz auf das eigene Dorf bezogen. Praktisch alle arbei-

Kirche (Letztere bekam den sog. »Zehnten«) sowie durch die

tenden Dorfbewohner hatten ihren Arbeitsplatz im eige-

ebenfalls zu leistenden Hand- und Spanndienste für den

nen Dorf. Das Verbleiben im Dorf ermöglichte eine hohe

Hof des Grundherren waren die wirtschaftlichen Spiel-

lokale Arbeitsmobilität: So konnten viele Dorfbewoh-

räume der Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtspro-

ner mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben, z. B. als

tokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer wieder um

Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im Winter).

Aufschub und Erlass ihrer Abgaben baten und als Begrün-

Auch die älteren Kinder mussten bereits bei den vielfälti-

dung Hunger und Krankheit in ihren großen Familien an-

gen Arbeiten in Haus, Hof, Garten und Flur mitanpacken

Das alte Dorf

und wurden damit früh in das Erwerbsleben einbezogen.

Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800 aus

Das heute dorftypische berufliche Auspendeln war damals

heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größte Sorgfalt

nur in Ausnahmefällen bzw. bei regionalen Besonderhei-

diente einer regelmäßigen Wasserversorgung, an Flüssen

ten üblich, wie etwa bei der Hollandgängerei in Nordwest-

oder Bächen liegende Dörfer hatten hier ihre Vorteile. An-

deutschland (hierbei handelte es sich um saisonale Wande-

dernorts waren Brunnenbauten oder kleine Wasserleitun-

rungen in die Niederlande zur Heuernte und zum Torfste-

gen von den lokalen Quellen zu den sog. »Kümpen« inner-

chen). Von Wohlstand im heutigen Sinne kann um 1800

halb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste man sich

noch keine Rede sein. Eher prägten Armut und Angst vor

das Wasser mühsam in die Häuser holen. Hygiene und me-

Hungersnöten, Krankheiten und Bränden das dörfliche Le-

dizinische Versorgung hatten im Vergleich zu heute einen

ben. Die ständige Sorge und Vorsorge um die Nahrungssi-

niedrigen Stand. Entsprechend hoch war die Sterblichkeits-

cherung bis zur nächsten Ernte stand im Mittelpunkt. Ar-

quote vor allem bei den Kleinkindern und entsprechend

mut und Not führten zu häufigen Auswüchsen – so gehör-

niedrig die generelle Lebenserwartung der Menschen, die

ten Bettelei und Diebstahl zur Normalität des Dorfes. Vor

weniger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Energiever-

allem der Holzdiebstahl bzw. »Holzfrevel« in den grund-

sorgung dienten Wasser- und Windmühlen, zum Kochen

herrschaftlichen Wäldern war immer wieder Gegenstand

und Heizen wurden das Holz bzw. die Holzkohle der loka-

von Gerichtsprozessen.

len Wälder oder der getrocknete Torf aus den Moorgebieten

Größere Landgemeinden bauten ab dem 15. Jh. Rathäuser, die oft mehrere öffentliche Aufgaben wie Waage, Richterstube oder Markthalle erfüllten. Prächtige Bauten wie in Schwalenberg zeigen die Kraft und den Stolz der lokalen Selbstverwaltung.

Das alte Dorf

33

Die politische Selbstverwaltung ländlicher Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Region, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lokalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen Ordnungs- und Schutzaufgaben. So ging es vor allem um die noch sehr komplizierte Nutzung der Flur: Da es zu dieser Zeit kaum Feldwege gab, musste das Betreten der »eigenen« Felder geregelt werden, es bestand der sog. »Flurzwang«. Außerdem wurde der Gemeinbesitz der Allmende gemeinschaftlich genutzt. Dazu kamen gemeinsame Aufgaben wie Wegebau, Unterhaltung von Wegen und Wasserläufen sowie Feuer- und Hochwasserschutz. Feuerwehr und Schützenvereine hatten als älteste und wichtigste Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen öffentlichen Aufgaben waren in speziellen innerdörflichen »Ordnungen« festgehalten. So gab es z. B. für das jährliche Schützenfest konkrete Verhaltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen. Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde allerdings Der Dorfweiher hatte früher wichtige Aufgaben zu erfüllen. Er war vor allem Viehtränke und Feuerwehrteich, hier eine Aufnahme von Kniprode aus dem Jahre 1904.

nur die Grundbesitzer, was sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte. Wenn wir uns Darstellungen des Dorfes um 1800 in der

34

genutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Energiever-

Kunst anschauen, müssen wir auf der Hut sein: Sie ent-

sorgung war das alte Dorf weitestgehend auf seine lokalen

sprechen nicht unbedingt der Wirklichkeit, sondern wur-

Ressourcen angewiesen, die allerdings auch intensivst ge-

den von Städtern für ein städtisches Publikum geschrieben

nutzt wurden.

oder gemalt. Die gebildeten Kreise in den Städten interes-

Die dörfliche Schule war um 1800 ebenfalls eine Ange-

sierten sich zunehmend für das Land. In den Kunstwerken

legenheit der Dorfgemeinde, allerdings stand sie unter der

wird uns auf der einen Seite das »glückliche Dorf« vorge-

Aufsicht der Kirche. Als Lehrer waren der Küster oder an-

stellt (von Joseph Christoph Leo 1804), das »einfache Land-

dere Gehilfen des Pfarrers oder des Bürgermeisters tätig.

leben« gepriesen, das noch keine Zivilisationsschäden auf-

Eine höhere Schulbildung gab es in den Dörfern nicht –

weist. Auf der anderen Seite wird uns die Begrenztheit und

diese blieb weitgehend der Oberschicht vorbehalten, die

Grobheit der Landbevölkerung vermittelt, der es an Erzie-

ihre Kinder entweder mit Privatunterricht versorgte oder

hung und Bildung mangelt. Die Romantiker erfreuten sich

in städtische Lateinschulen schickte. Erst mit den Reformen

an der Urwüchsigkeit der ländlichen Landschaft, die dem

des frühen 19. Jahrhunderts gab es den flächendeckenden

Menschen Freiheit und Erfüllung bietet. Sozialkritische

Impuls zur staatlich geförderten und beaufsichtigten Dorf-

Darstellungen hingegen, die die schwierige Lage der Bau-

schule. Die meisten Dörfer ab etwa 300 Einwohnern hatten

ern als »Lastträger des Staates« beschreiben, nahmen zu.

eine eigene Kirche oder Kapelle und ihren eigenen Pfarrer.

Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit stand um

Allerdings gibt es zahlreiche zeitgenössische Berichte der

1800 noch bevor. Die Antriebskräfte der bald beginnenden

Bischöfe über die mangelhafte Einhaltung der Kirchen-

revolutionären Veränderungen auf dem Land, allen voran

pflichten und speziell der Zehn Gebote in den ländlichen

die Industrialisierung und die Agrarreformen, deuteten

Pfarreien.

sich erst vereinzelt an.

Das alte Dorf

Wirtschaft und Versorgung

Das moderne Dorf

Das heutige Dorf hat vielfach noch einen historischen Kern, daneben aber auch zahlreiche Neubauten der letzten Jahrzehnte. Das Landschaftsbild der dörflichen Gemarkungen bleibt durch agrarwirtschaftlich genutzte Feld- und Waldflächen geprägt. Hier ein Blick auf den Winzerort Mayschoß an der Ahr inmitten seiner Weinberge.

Einführung Das wirtschaftliche Handeln zur Nahrungsbeschaffung

in die Moderne geschafft und produzieren heute, z. B. in

und Nahrungsvorsorge ist ein Urmotiv des Landmenschen.

Maschinenbau und Elektroindustrie, für den Weltmarkt.

Das Säen, Hegen und Ernten, das Leben mit der Natur und

Trotz mancherlei Wandlungen und Krisen sind Land- und

den Jahreszeiten sind trotz aller technischen Fortschritte

Forstwirtschaft sowie Handwerk und mittelständisches Ge-

ein Merkmal des Landlebens geblieben. Die Landwirt-

werbe bis heute die ökonomische Basis des ländlichen Rau-

schaft, die heute für Milliarden Menschen Nahrungsmit-

mes. In manchen Regionen ist der moderne Tourismus

tel produziert, steht daher auch zu Beginn dieses Buches im

während der letzten 200 Jahre als wichtiger Wirtschafts-

Mittelpunkt. Ihre elementaren und vielschichtigen Wand-

faktor hinzugekommen.

lungsprozesse von etwa 1800 bis heute bieten den wichtigs-

Im Rückblick auf die letzten 60 Jahre hat das Dorf ei-

ten Schlüssel zum Verständnis des ländlichen Raumes in

nen Großteil seiner Arbeitsplätze verloren. Angesichts

der heutigen Zeit.

der Schrumpfungsprozesse in der Agrarwirtschaft und im

Aber auch die Wald- und Forstwirtschaft hat für das Land traditionell und bis heute eine große Bedeutung – als

mehr ehemals »städtischen« Berufen zugewandt. Sie sind

Nahrungsspeicher für Menschen und Tiere, als Energie-

heute als Arbeiter, Angestellte oder Beamte in Industriebe-

und Rohstofflieferant zum Kochen, Heizen, Bauen und

trieben oder diversen Dienstleistungsberufen tätig, die sie

für die chemische Industrie. In der Gegenwart haben Land-

meist in den benachbarten Klein-, Mittel- und Großstädten

und Forstwirtschaft weitere gesellschaftliche Aufgaben für

ausüben. Der moderne Dorfbewohner ist zum Pendler und

den Gesamtstaat übernommen (sog. »Wohlfahrts- und Um-

Globetrotter geworden.

weltfunktionen«), die weit über die primäre Nahrungsmit-

Das Wohlergehen in den Dörfern hängt jedoch nicht al-

tel- und Holzproduktion hinausgegen: beispielsweise in

lein von der Erwerbstätigkeit der Bewohner ab, sondern

den Bereichen Kultur- und Naturlandschaftspflege, Ener-

auch von seiner Infrastruktur: seiner Versorgung mit

gieversorgung sowie Freizeit und Erholung.

Wasser, Energie, Verkehrswegen, Datennetzen, Postämtern,

Die dritte Säule der ländlichen Wirtschaft ist – mit eben-

Schulen, Krankenhäusern, Sportplätzen, Turnhallen und

falls langer Geschichte – das Handwerk, das wesentlich zur

nicht zuletzt mit Läden und Gasthöfen. Auch im Bereich

wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Dorfes beigetragen

der Infrastruktur haben sich auf dem Land dramatische

hat. Auch das Dorfhandwerk hat sich stark gewandelt: Den

Veränderungen vollzogen – zum Positiven wie zum Negati-

Dorfschmied und den Dorfschneider gibt es praktisch nicht

ven. Es werden jeweils auch die neuesten Entwicklungen in

mehr. Andere ländliche Gewerbezweige haben den Sprung

den Dörfern angesprochen.

Abbildung Seite 36/37: Ein Traktor zieht eine Ringelwalze über ein Feld bei Rockhausen nahe Erfurt. Nach dem langen Winter können die Bauern jetzt mit der Frühjahrsbestellung beginnen.

38

Dorfhandwerk haben sich die Dorfbewohner mehr und

Das moderne Dorf

Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind? Der ökonomische Wandel des Landes von 1800 bis heute

Deutschland hat sich in den letzten 200 Jahren von

der Anteil der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirt-

einer Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesell-

schaft nur noch bei 35 %, um schließlich bis heute auf unter

schaft verändert. Dies bedeutet vor allem, dass die

3 % abzusinken. Auf Kosten der Land- und Forstwirtschaft

Land- und Forstwirtschaft ihre führende Wirtschafts-

vergrößerte sich zunächst der Anteil von Gewerbe und In-

rolle im Staat eingebüßt haben. Dieser Rückgang trifft

dustrie. Verstärkt seit dem 20. Jahrhundert entwickelte sich

natürlich in besonderer Weise das Land als den klassi-

dann auch der Anteil der Dienstleistungen, der heute bei

schen Agrarraum. Doch ist der ländliche Raum nun

etwa 60 % liegt und wohl noch weiter steigen wird. Die

das ökonomische Armenhaus der Nation geworden im

beiden anwachsenden Wirtschaftssektoren etablierten sich

Vergleich zu den Großstädten und Verdichtungsregi-

zunächst überwiegend in den Städten und Verdichtungsge-

onen? Keineswegs! Beim genauen Hinschauen zeigt er

bieten. Hier konzentrierten sich Arbeitsplätze, Kapital, Ver-

sich heute als ein stabiler und vielseitiger Wirtschafts-

waltungen, Sozial- und Bildungseinrichtungen, sodass die

raum innerhalb des Gesamtstaates.

gesamtwirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre überwiegend zulasten des ländlichen Raumes verlief.

Noch um 1800 war Deutschland eine lupenreine Agrarge-

Die Agrarwirtschaft ist heute selbst im ländlichen

sellschaft. Etwa 80 % der Erwerbspersonen arbeiteten in

Raum generell nur noch die dritte Kraft gegenüber dem se-

der Land- und Forstwirtschaft, lediglich jeweils 10 % im

kundären und tertiären Wirtschaftssektor. Sie dominiert

sekundären (Gewerbe) und im tertiären Wirtschaftssek-

lediglich noch in den kleineren Dörfern bis etwa 500 Ein-

tor (Dienstleistungen). Der ländliche Raum hatte eine do-

wohnern – bereits in den mittelgroßen Dörfern ab etwa 800

minierende wirtschaftliche Stellung innerhalb des Staa-

Einwohnern ist die Agrarwirtschaft bezüglich der lokalen

tes inne. Hier wohnte und arbeitete die große Mehrheit

Arbeitsplätze in der Regel in der Minderheit. Gewerbe, In-

der Menschen, hier wurden die meisten Güter produziert.

dustrie und Dienstleistungen sind auch in ländliche Regio-

Auch durch die Nutzung seiner großen Energiepotenziale

nen und Dörfer stark eingezogen bzw. haben sich dort aus

wie Wald bzw. Holz und Wasser lag das Land weit vorn.

den Anfängen im Handwerk und Handel entwickelt.

Mit der um 1820/1830 beginnenden Industrialisierung und der gleichzeitig einsetzenden Verstädterung verschoben sich allmählich die Gewichte. Bereits im Jahr 1900 lag

Abbildung oben: Die Wirtschaftsstruktur des Landes ist in den letzten 200 Jahren vielfältiger geworden. In vielen Dörfern, wie in Bestwig (NRW ), finden sich heute Industrie- und Dienstleistungsbetriebe.

Wirtschaft und Versorgung

39

Zwar ist heute längst nicht mehr die ganze Breite der

maschinenhersteller etabliert, die zu den Weltmarktfüh-

Handwerks- und Gewerbezweige – wie noch vor 50 Jah-

rern im Segment Kartoffelpflanz- und Kartoffelerntema-

ren – in den mittelgroßen Dörfern vertreten. So sind z. B.

schinen gehören. Ein Marktführer der deutschen Solar-

Schmied, Schneider oder Schuhmacher praktisch aus den

thermie-Industrie residiert im Rittergut »Zur Abgunst« im

Dörfern verschwunden. Gleichwohl konnten sich zahlrei-

nordhessischen Trendelburg.

che Handwerksbetriebe in den Dörfern halten und durch

Auch der Anteil und die Breite der Dienstleistungsbe-

exzellente Arbeiten einen überdörflichen und häufig so-

rufe wächst auf dem Land ständig: Architektur- und Ver-

gar überregionalen Markt aufbauen, der nicht selten bis in

sicherungsbüros, Steuerberater, Physiotherapie, Logopädie,

die benachbarten Großstädte und Ballungszentren hinein-

Büros für Soft- und Hardwareentwicklung, Consultingfir-

reicht. Zu nennen sind hier u. a. das Sanitär-, Heizungsbau-,

men aller Art, Altenpflegeeinrichtungen oder Taxi- und

Elektro-, Kraftfahrzeug-, Tischler- und Bauhandwerk.

Busunternehmen finden sich inzwischen wie selbstver-

Manchmal gelingt es hoch spezialisierten Handwerkszwei-

ständlich in den Dörfern und sitzen nicht selten in um-

gen auf dem Land, ihre Standorte bundesweit bekannt zu

genutzten älteren Bauernhäusern. Selbst überregional be-

machen. So gilt die südbadische Kleinstadt Waldkirch im-

kannte und ausstrahlende Hochschulstandorte, Berufs-

mer noch als Metropole des deutschen Orgelbaus und die

und Fortbildungsakademien sind in Dörfer, Klein- und

sächsische Kleinstadt Glashütte als Zentrum der deutschen

Mittelstädten angesiedelt, wie die Beispiele Hohenheim,

Uhrenindustrie. Traditionelle Schwerpunkte des Landhan-

Weihenstephan, Witzenhausen, Tharandt, Eberswalde oder

dels waren früher der Landmaschinen- und Baustoffhan-

Schloss Reichartshausen in Oestrich-Winkel zeigen. Nicht

37

del. Sie sind zwar nicht mehr in jedem größeren Dorf ver-

zuletzt ist der moderne Tourismus zu einer neuen Lebens-

treten, finden sich jedoch in ländlichen Regionen in ausrei-

ader für viele ländliche Regionen geworden. Dies gilt für

chender Dichte.

nahezu alle Küsten und Inseln der Nord- und Ostsee, für

Neben dem Handwerk hat sich in vielen ländlichen

die Mittel- und Hochgebirge, das Alpenvorland, die zahl-

Regionen Deutschlands eine starke mittelständische In-

reichen Binnenseegebiete, die Weinbauregionen, die regio-

dustrie entwickelt. So sind heute Schwerpunkte des deut-

nalen Freilichtmuseen sowie für die Rad- und Wanderstre-

schen Maschinenbaus und der Elektroindustrie in ländli-

cken kreuz und quer durch Deutschland.

chen Gebieten z. B. Baden-Württembergs, Westfalens und

Generell verlief die ökonomische Entwicklung des

Niedersachsens anzutreffen. Beispielsweise haben sich in

ländlichen Raumes in Deutschland nicht überall gleich.

der Kleinstadt Damme nördlich von Osnabrück zwei Land-

Manche Regionen haben sich bis heute kaum von ihrer traditionellen land- und forstwirtschaftlichen Basis entfernt.

% der Erwerbspersonen

Industriegesellschaft

Agrargesellschaft

100

100

Dienstleistungen

80

60

80

60

Industrie

40

40

20

Land- und Forstwirtschaft

20

0

0

1800

Durch fehlende außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze

Dienstleistungsgesellschaft

1820

1840

Anlaufperiode

1860

1880

1900

wirtschaftlicher Aufschwung

1920

1940

Entwicklung zum Reifestadium

1960

1980

2000 2017

Zeitalter des Massenkonsums

kam es hier vielfach zu Abwanderungen und Infrastrukturverlusten. Oft bildete sich eine negative Wirkungskette, die dann zu anhaltenden Strukturschwächen führte. Man spricht auch vom »regionalen Teufelskreis«, wobei mit jedem Umlauf eine Verschlechterung der Situation eintritt. Andere Regionen sind inzwischen bestens ausgestattet mit Gewerbe- und Industriebetrieben, wieder andere profitieren vom Bäder-, Erholungs- und Freizeittourismus. So stehen heute zahlreiche ökonomisch kraftvolle und strukturschwache, schrumpfende Regionen im ländlichen Raum nebeneinander. Vor allem für Letztere hat die Dorfpolitik

Erwerbsstruktur in Deutschland von 1800 bis heute

Sorge zu tragen.

Quelle: Deutsches Statistisches Bundesamt 2019 (destatis) https://www.destatis.de/DE /ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw013.html

ist der ländliche Raum auch heute noch eine beachtliche

40

Das moderne Dorf

Trotz Verstädterung und ökonomischer »Schrumpfung«

Die Landwirtschaft und das ihr vor- und nachgelagerte Gewerbe sind nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsbereich auf dem Lande, hier ein Blick auf den Betrieb eines Landmaschinenhändlers.

Größe im Staatsganzen. Nach den Kriterien der Raumord-

sen und Bottrop ermittelt, während die meisten Land-

nung umfasst der ländliche Raum immer noch etwa 90,5 %

kreise unter dem Landesdurchschnitt (von 20 km/Tag) lie-

der Gesamtfläche und etwa 56,4 % der Bevölkerung des

gen.39

Staates. Diesem Anteil der Bevölkerung dürfte auch etwa

Die Gewichtsverschiebungen von der Agrar- zur Indus-

der tatsächliche Umfang der Arbeitsplätze im ländlichen

trie- und Dienstleistungsgesellschaft haben nicht gene-

Raum entsprechen. Nimmt man jedoch alle Landkreise

rell dazu geführt, dass man den ländlichen Raum heute

zusammen, sind hier nach Angaben des Deutschen Land-

als deren Verlierer oder als ökonomischen Zwerg bezeich-

kreistages 58,6 % aller deutschen Arbeitsplätze angesie-

nen könnte. In vielen Regionen Deutschlands verfügt der

delt, werden hier 56,6 % der deutschen Wirtschaftsleistung

ländliche Raum über eine ausgewogene und robuste Wirt-

(Bruttowertschöpfung) erbracht.38 Die Großstädte und Ver-

schaftsstruktur, was auf die hier vorherrschenden flexi-

dichtungsgebiete besitzen allerdings gegenüber dem länd-

bel agierenden mittelständischen Betriebe zurückgeführt

lichen Raum ein höheres Angebot an hoch qualifizier-

wird. Zahlreiche Weltmarktführer residieren heute in Dör-

ten Dienstleistungsplätzen in Wirtschaft, Forschung, Bil-

fern und Kleinstädten. Auch die Arbeitslosenquote ist auf

dung, Medizin und Verwaltung. Dies führt dazu, dass starke

dem Land überwiegend deutlich niedriger als in den Groß-

Pendelwanderungen zwischen ländlichen Regionen und

städten. Ein Plus des ländlichen Raumes sind, so bemerkte

großstädtischen Ballungsregionen stattfinden, wobei die-

etwa der Leiter eines ländlichen Arbeitsamtes, seine zuver-

se durchaus in beide Richtungen gehen. Pendelbewegun-

lässigen, motivierten und nicht zuletzt auch bodenstän-

gen sind keineswegs auf ländliche Regionen beschränkt: So

digen Arbeitskräfte. Zu den positiven »weichen« Wirt-

wurden in Nordrhein-Westfalen die größten durchschnitt-

schaftsfaktoren des Landes gehören aber auch ein deutlich

lichen Pendelentfernungen (von 22,8 bis 24,2 km/Tag) bei

niedrigerer Krankenstand, eine niedrigere Kriminalität so-

den Bewohnern der Großstädte des Metropolraumes Rhein/

wie höhere Aufklärungsquoten bei Verbrechen. Ein Kenn-

Ruhr wie Hamm, Mönchengladbach, Dortmund, Oberhau-

zeichen der Wirtschaftsstruktur ländlicher Gemeinden ist

Wirtschaft und Versorgung

41

der höhere Anteil der Selbstständigen sowie der Familien-

tung« intensiv untersucht. Ihre Hauptfrage richtete sich auf

betriebe. Außerdem sind hier die Kleinbetriebe häufiger

den »gesellschaftlichen Reichtum« der Dörfer. Hier ihre Bi-

vertreten als im großstädtischen Raum. Dagegen sind die

lanz: »Den Menschen auf dem Land, zumindest in der War-

Anteile der Angestellten und Beamten im Dienstleistungs-

burger Börde, geht es besser als Menschen anderer Einkom-

bereich im ländlichen Raum geringer.

mensklassen in der Stadt. Man ist besser situiert. Hier hat je-

In den Dörfern und Kleinstädten des ländlichen Raumes

der sein Haus. Es ist entweder ererbt, oder genauso oft wird

herrscht heute ein relativ hoher ökonomischer Standard

neu gebaut, wenn sich eine Familie gründet. Grundstücke

bzw. Wohlstand, der allerdings nicht unbedingt aus allen

sind billig, häufig wird auf eigenem Familiengrund gebaut.

Statistiken (wie z. B. Kaufkraft und Einkommen) ablesbar

Das Ergebnis ist, dass man räumlich sehr großzügig wohnt.

ist. Wir haben auf dem Land beispielsweise eine sehr hohe

Jedes Haus hat seinen Garten, aus dem viel für den Haushalt

Eigenheimquote, die mit über 80 % mehr als doppelt so

geholt werden kann.«41

hoch wie in den Großstädten ist. Außerdem tragen infor-

Ein großes Plus des Landes ist die weit überdurchschnitt-

melles Wirtschaften und soziales Kapital zum Wohlstand

liche Zufriedenheit seiner Bewohner mit ihrem Wohn-

auf dem Land bei. Die Menschen helfen sich gegenseitig –

umfeld: Sie liegt zwischen 80 und 90 % und ist damit etwa

generell mehr als in der Stadt – mit Gütern und Dienstleis-

doppelt so hoch wie in den Großstädten. Eine Theorie aus

tungen. Dies gilt traditionell für Bau- und Gartenarbeiten,

den Wirtschaftswissenschaften besagt, dass Wirtschaftsbe-

für den Austausch von Gartenprodukten oder die Betreu-

triebe sich am günstigsten dort ansiedeln, wo Menschen

ung von Kindern und älteren Menschen. Drei Soziologin-

sich wohlfühlen und ein Umfeld vorfinden, das ihnen

nen der Universität Bielefeld haben zwei Jahre lang zwei

erlaubt, produktiv zu sein. Die zufriedenen Einwohner sind

Dörfer der Warburger Börde durch »teilnehmende Beobach-

also ein weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes.

40

In vielen Dörfern ist der Tourismus heute zu einem wirtschaftlichen Standbein geworden, vor allem an den Küsten und Binnenseen, am Alpenrand und in den Mittelgebirgen: hier der Dorfkern von Saalhausen im westfälischen Sauerland mit seinen gepflegten, für die Region typischen schiefergedeckten Fachwerkhäusern. Das im Lennetal gelegene Saalhausen hat sich als Bundesgolddorf und Kneippkurort mit dem 2015 am Dorfrand neu angelegten Kurpark »TalVITAL « qualifiziert.

42

Das moderne Dorf

Vom »kleinen« Bauern zum »großen« Landwirt Von der Selbstversorgung zum marktorientierten Unternehmen

Wer die Entwicklung der Landwirtschaft von 1800

Um 1800 diente die bäuerliche Landwirtschaft noch

bis heute betrachtet, erkennt deren extremen Wandel.

weitgehend der Selbstversorgung der (Groß-)Familie mit

Wie sah ein »normaler« Bauernhof vor 200 Jahren aus,

Nahrung, Kleidung, Baumaterialien usw. Die Betriebe wa-

was waren seine Ziele? Wie präsentiert sich dagegen

ren weitgehend wirtschaftlich unabhängig. Lediglich an

ein erfolgreicher landwirtschaftlicher Betrieb von

die Grundherrschaft und die Kirche waren festgelegte

heute? Im gesamten 19. Jahrhundert war Bauer der

Abgaben (meist in Form von Naturalien) und Hand- und

mit Abstand häufigste Beruf. Seitdem haben sich

Spanndienste (z. B. mit dem eigenen Pferdegespann auf dem

die Zahlen der Erwerbspersonen und Betriebe in der

Gutshof des Grundherren) zu leisten. Neben der Selbstver-

Landwirtschaft dezimiert. Ein Blick nach vorn zeigt:

sorgung stand im Mittelpunkt der landwirtschaftlichen

Die Vergrößerung und Spezialisierung der Betriebe

Produktion die sog. »Hofidee«: Die Erhaltung des Hofes und

sowie die Steigerung der Produktion werden weiter-

seine Weitergabe an die nächste Generation galt als obers-

gehen. Von manchem werden diese Veränderungen

tes Wirtschaftsziel. »Die Sach zamhaltn«, wie es in Bayern

als schmerzhafte Verluste beurteilt.

heißt. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse waren den Belangen des Betriebes untergeordnet. Aus der steten Verant-

Die Landwirtschaft hat in den zurückliegenden 200 Jahren

wortung gegenüber der Famlie hatte sich eine konservative

äußerst vielschichtige politische, technische, wirtschaftli-

Grundhaltung herausgebildet. Der Hof war Heimat und

che und soziale Veränderungen erfahren. Wenn man diese

Lebensgrundlage der Bauernfamilie, eventuelle Gewinne

kennt, versteht man den ländlichen Raum der Gegenwart

wurden zum größten Teil in den Betrieb zurückinvestiert.

und Zukunft besser. Die Landwirtschaft hat zwar im Ge-

Das fürsorgliche Haushalten mit dem eigenen Hof hatte

samtstaat wie auf dem Land selbst ihre ehemals führende

natürlich auch etwas mit den vergleichsweise sehr gerin-

ökonomische Position eingebüßt (was mit der Formulie-

gen Betriebsgrößen zu tun. Um 1800 lag die durchschnitt-

rung »Ablösung der Agrar- durch die Industriegesell-

liche Größe landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland

schaft« ausgedrückt wird). Sie ist jedoch immer noch der

bei etwa 3 ha, das entspricht der Fläche von etwa vier Sport-

spezifisch ländliche Wirtschaftszweig. Eine angemessene Beschreibung der Landwirtschaft und ihres Wandels ist daher ein wichtiges Thema zu Beginn dieses Buches.

Abbildung oben: Ein Bild der Landwirtschaft vor 200 Jahren erweckt heute nostalgische Gefühle.

Wirtschaft und Versorgung

43

samt 77 Privatanwesen lebten 33 % (als Bauern, Kleinbauern, Tagelöhner) allein von der Landwirtschaft, 18 % hingegen Ostpreußen

SchleswigHolstein

samt verfügten nur zehn Betriebe über mehr als 8 ha Land

Mecklenburg

Pommern

und konnten als Vollbauern bezeichnet werden. Zusammen mit der Gutsherrschaft, der Pfarrei und der Gemeinde be-

Hannover Kurmark

Westfalen

saßen diese zehn »Großen« etwa zwei Drittel der gesamten Gemarkungsfläche. Mehr als die Hälfte der Kunreuther

SachsenAnhalt KurHessen

Rheinland

von der Kombination Landwirtschaft/Handwerk. Insge-

Sachsen

Anwesen verfügte damals über weniger als 1 ha Land.42 Schlesien

Noch im Jahr 1882 besaßen im Deutschen Reich von den

Thüringen

über 5 Mio. landwirtschaftlichen Betrieben 58 % weniger

HessenNassau

als 2 ha, lediglich 0,5 % der Betriebe waren Großbetriebe über 100 ha. 1914 erreichte die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe mit 11 Mio. in Deutschland ihren Höchst-

Bayern Württemberg

Großbauern Mittelbauern Kleinbauern

Baden

Gutswirtschaft 25–40 % jeweils 40–60 % dominant über 60 %

Verbreitung der landwirtschaftlichen Betriebsgrößen in Deutschland um 1870

stand. Danach gingen die Zahlen ständig zurück, vor allem die der Klein- und Mittelbetriebe. Seit etwa 1955 verstärkten sich diese Schrumpfungsprozesse noch. Heute existieren in Deutschland noch etwa 300 000 landwirtschaftliche Betriebe, die durchschnittlich etwa 56 ha bewirtschaften.43 Bei den durchschnittlichen Betriebsgrößen gibt es in

plätzen. Entsprechend bescheiden war die Viehhaltung.

Deutschland allerdings große regionale Unterschiede, die

Längst nicht alle Klein- oder Kleinstbauern konnten sich

im Wesentlichen durch historische Erbsitten, unterschied-

eine Kuh leisten, sondern mussten sich auf Schafe und Zie-

liche Gutsbildungsprozesse sowie durch die Agrarpolitik

gen, ein bis zwei Schweine und ein paar Hühner beschrän-

in der DDR geprägt wurden. So dominieren – stark gene-

ken. Ein konkreter Blick in das fränkische Dorf Kunreuth

ralisiert – im deutschen Südwesten immer noch die Klein-

mit etwa 450 Einwohnern im Jahr 1848 zeigt: Von insge-

und Mittelbetriebe, im deutschen Norden und Nordosten die Großbetriebe. Gerade in den neuen Bundesländern herrschen heute die Großbetriebe mit über 500 ha vor. Ein Beispiel ist der Betrieb Schulte-Ebbert in Lelkendorf in Mecklenburg-Vorpommern, der 1992 von seinem Standort am Dortmunder Stadtrand (wo er keine Erweiterungsmöglichkeiten hatte) übergesiedelt war und heute etwa 1000 ha bewirtschaftet. In gewisser Weise setzt Schulte-Ebbert mit seinem jetzigen Großbetrieb die Tradition des früheren adligen Gutshofes (bis 1945) und des dann ab 1952 folgenden LPG -Betriebes (LPG = landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) fort. Die großen Flächen ermöglichen den Einsatz großer und moderner Maschinen, womit zugleich Arbeitskräfte eingespart werden. Damit können höhere Renditen als auf kleineren Feldern erwirtschaftet werden. Der junge Betriebsinhaber Klaus Schulte-Ebbert formuliert deshalb eine positive Einschätzung seines Großbetriebes, den er mit sechs festen Mitarbeitern bewirtschaftet (in der frühe-

Der Blick in ein hessisches Dorf um 1935 zeigt die Enge und Kleinteiligkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Das Wirtschaften und soziale Leben fand früher mehr als heute auf der Dorfstraße statt.

44

Das moderne Dorf

ren LPG waren es noch 60 Mitarbeiter): »Wir sind ein Ge-

und Erwerbspersonen sogar noch weiter zurückgehen. Die

mischtbetrieb. Wir haben Schweinemast, dann Mutterkuh-

Bauerngeneration, die vor etwa 50 Jahren auf quasi natür-

haltung und Ackerbau. Rein landwirtschaftlich ist das hier

liche Weise in die Landwirtschaft hineingewachsen ist, tritt

bestimmt keine Provinz, sondern das ist von den Betriebs-

allmählich ab und hat oft in der eigenen Familie keinen

strukturen her das Beste, was es in Deutschland oder auch

Nachfolger mehr. Es ist daher anzunehmen, dass es gerade

weltweit schon gibt. Das ist hier schon optimal.«

in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu verstärkten Betriebs-

44

Wie man an diesem Beispiel schon sieht, ist auch die Zahl

aufgaben kommen wird. Deren Flächen werden dann zu

der Erwerbspersonen in der Landwirtschaft drastisch zu-

weiteren Vergrößerungen der bestehenden Betriebe führen.

rückgegangen. 1914 waren im damaligen Deutschen Reich

Typisch für die deutsche Landwirtschaft ist seit Jahrhun-

rund 11 Mio. Personen in der Landwirtschaft tätig, wo-

derten der bäuerliche Familienbetrieb. Der Hof ist hier das

mit gleichzeitig auch der Höchststand erreicht war (um

Zentrum des wirtschaftlichen Handelns und zugleich der

1800 waren es etwa 7 Mio.). Im Jahr 1950 gab es in der Land-

Familie, die meist aus mehreren Generationen besteht. Alle

und Forstwirtschaft der BRD und DDR zusammen immer-

Familienmitglieder helfen in irgendeiner Weise am Hof

hin noch 7,1 Mio. Erwerbspersonen, heute sind es noch

mit, auch wenn sie in Berufen außerhalb des Hofes tätig

ca. 616 000. Der Anteil der land- und forstwirtschaftlichen

sind. Mit dem zunehmenden Wachstum und der Arbeits-

Erwerbstätigkeit an der Gesamterwerbstätigkeit lag in

überlastung der Betriebe, durch die Einstellung hoffrem-

Deutschland um 1800 bei 80 % und beträgt heute nur noch

der Mitarbeiter, aber auch durch nicht landwirtschaftliche

1,6 %! Vom gegenwärtigen Trend und von den Prognosen

Berufe der Ehefrauen und Kinder geht das früher gemein-

her werden die Zahlen der landwirtschaftlichen Betriebe

schaftliche »Für den Hof denken, handeln und fühlen« vor

Viele landwirtschaftliche Betriebe sind aus der engen Dorflage in die Feldflur gezogen. Hier haben sie Platz und liegen inmitten ihrer Felder, wie dieses moderne Gehöft bei Vahlbruch im Weserbergland.

Wirtschaft und Versorgung

45

allem in den nachwachsenden Generationen allmählich

ter Sirup bereitet, 1350 Kilogramm geschälte und 5000 un-

zurück. Gleichwohl ist der bäuerliche Familienbetrieb mit

geschälte Äpfel und 28 000 Kilogramm Bohnen getrock-

seinem Hofdenken über Generationen hinweg immer noch

net. 494 Frauen-, Männer- und 200 Kinderkleider genäht,

ein tragendes Leitbild der deutschen Landwirtschaft, das

224 Paar Socken gestrickt, 132 Herrenhemden angefertigt,

auch von der Agrarpolitik und von Agrarverbänden wie

43 680 Stunden geputzt, abgestaubt und gewaschen, fünf

dem Deutschen Bauernverband unterstützt wird.

Kinder großgezogen, die Buchhaltung besorgt und sich

Im bäuerlichen Familienbetrieb spielte die Mitarbeit der Frau eine tragende Rolle. Die Bäuerin war nicht nur für das

theoretisch und praktisch in die verschiedenen Fächer der Landwirtschaft eingearbeitet und weitergebildet.«45

Großziehen der Kinder und die Pflege der Alten zuständig.

Der fortschreitende Rückgang landwirtschaftlicher Be-

Sie versorgte nicht nur den meist großen Haushalt – mit

triebe hat nicht nur das Gesicht der Dörfer verändert, son-

der dazugehörigen Gartenarbeit – mit Einmachen, Ko-

dern auch das gesamte wirtschaftliche und soziale Le-

chen, Backen, Nähen und Stopfen. In der Regel war sie auch

ben auf dem Land. Viele sehen darin einen Fortschritt, war

für das Vieh im Stall mit zuständig, z. B. für das Füttern,

doch das frühere Arbeitsleben der Bauern und Landarbei-

Melken und »Buttern«. Und wie selbstverständlich war sie

ter hart und entbehrungsreich. Nicht wenige sprechen aber

auch bei bestimmten Feldarbeiten wie dem Heuwenden,

auch von schmerzhaften Verlusten – für die betroffenen

Ährenbinden und Kartoffelsammeln dabei. Sehr bemer-

Familien, das Dorf und die ganze Gesellschaft. Am größ-

kenswert und anschaulich ist die Auflistung der schwei-

ten sind die Verlusterfahrungen für die bäuerlichen Fa-

zerischen Bäuerin Augusta Gillabert-Randin (1869–1940)

milien selbst, die mit ihrem Betrieb auch die über Gene-

über ihre im Verlauf von 30 Jahren erbrachten Leistun-

rationen gepflegte und weitergegebene Hofidee aufgeben

gen: »23 400 Brote und 7890 Wähen gebacken, 2800 Hüh-

müssen. Die Verluste für das Dorf bestehen darin, dass die

ner aufgezogen und für 15 000 Franken Eier verkauft, 180

ehemals ökonomisch, sozial und kulturell dorftragende

Schweine gemästet und 131 000 Mahlzeiten mit Schweine-

Schicht binnen weniger Jahrzehnte ihre Position verliert,

fleisch bereitet, insgesamt 56 990 Essen gekocht und ser-

und außerdem die großen alten Hofgebäude in den Dorf-

viert (nicht einberechnet 90 Einladungen, 30 Familien-

kernen nicht immer neu genutzt werden können und leer

feste, 4 Hochzeits- und 9 Taufmahlzeiten), 9600 Stunden

stehen oder verfallen. Auch für die ganze Gesellschaft ist es

auf dem Markt gestanden und für 78 000 Franken Produkte

ein Verlust, wenn sich immer mehr Menschen von der äl-

verkauft, 5950 Kilogramm Früchte zu Konfitüre einge-

testen, natürlichsten, nachhaltigsten und vielleicht schöns-

kocht und 2400 Konserven, 1000 Liter Wein und 2000 Li-

ten Wirtschaftsform entfernen (müssen) – so resümierte unlängst Berthold Kohler über das anhaltende Höfesterben: »Mit jedem aufgegebenen Bauernhof, der meist über

Alte Bundesländer Betriebe gesamt

1 646 800 1 206 300

629 700

428 500

BRD 344 434

374 514

Generationen bewirtschaftet wurde, geht eine Geschichte

Neue Bundesländer 30 080

29 900

4751

713 300

454 600

Lohn des Fleißes und der Erfüllung verloren. Bauern sind

Kleinbetriebe < 10 ha

47%

41%

32%

32%

33%

bodenständige Leute. Auch den Gesellschaften und Volks-

38% 65%

54%

63% 77% 19% 30%

18%

29%

als weniger zu haben.«46 Mit dem Bauernsterben geht auch

100%

ein Stück deutscher und europäischer Kultur verloren.

30% 33%

Die landwirtschaftliche Produktion ist heute in 47%

32%

37%

38%

2007

2007

44%

27%

40%

20% 3%

5%

1949

1967

1990

2000

2007

2000

1989

8%

6%

den Verkauf der Produkte zum Ziel. Hierzulande dienen

1949

1939

nur noch höchstens 5 % der landwirtschaftlichen Erzeu-

Wegen neuer Klassifizierungen der Betriebsgrößen nach 2007 ist diese Grafik leider nicht zu aktualisieren.

Das moderne Dorf

Deutschland, wie in den meisten Industrieländern, auf den Markt ausgerichtet. Das heißt, sie hat den gewinnbringen-

29%

20%

Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland von 1939 bis heute

46

wirtschaften des 21. Jahrhunderts müsste, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, daran gelegen sein, davon eher mehr

Mittlere Betriebe 10 –30 ha

Größere Betriebe > 30 ha

der Mühsal, der Entbehrung und der Sorge, aber auch vom

gung der Selbstversorgung der Betriebe. In den Entwick-

lungsländern liegt der Anteil der Selbstversorgung dage-

sen Kauf durch den Lohn bei BMW , Daimler oder BASF

gen häufig noch bei 80–90 % (die Experten sprechen hier

bezahlt wird. In Baden-Württemberg erfolgt mehr als die

von Subsistenzwirtschaft). Der deutsche bzw. europäische

Hälfte der Weinproduktion durch Nebenerwerbsbetriebe.

Landwirt gehört einer arbeitsteiligen Gesellschaft an und

Gerade auch sie dienen der Pflege der überlieferten Kul-

steht in stetem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.

turlandschaft sowie der Erhaltung sozialer und kultureller

Während heute Schweinefleisch gefragt ist, können es

Traditionen auf dem Land. Typisch für die deutsche Land-

morgen Milchprodukte oder Energiepflanzen sein. Zwi-

wirtschaft ist insgesamt die Vielfalt seine Betriebe: »Da gibt

schen Erzeugung und Verbrauch hat sich eine immer grö-

es die vielen Nebenerwerbsbetriebe, kleine Höfe, die Teil-

ßere Trennung vollzogen: Transport, Verarbeitung, Verpa-

zeitlandwirte am Wochenende bewirtschaften, während sie

ckung und Handel haben an Bedeutung gegenüber dem

unter der Woche einem anderen Beruf nachgehen. Da gibt

Produzenten gewonnen. Die Ausweitung der Marktwirt-

es die großen Schweinezüchter, die in gewaltigen Hallen

schaft über die Staatsgrenzen hinaus hat zu weltweiten Ver-

auf industrielle Art und Weise Fleisch für den Weltmarkt

flechtungen der deutschen Landwirtschaft geführt. So ver-

produzieren. Es gibt Milchbauern im Hochgebirge, riesige

kaufen große Landwirte z. B. ihr Getreide über langfristige

Ackerbaubetriebe in Mecklenburg-Vorpommern, Bio-Bau-

Kontrakte mit der Nahrungsmittelindustrie oder online an

ern mit Hofladen und Gästezimmern, Spargelkönige und

der Warenbörse bis nach Übersee. Exportiert werden vor al-

Biogasanlagenbesitzer.«47

lem aber verarbeitete Güter wie Käse, Joghurt, Wurst, Bier

Insgesamt hat sich die Produktivität der Landwirtschaft

und Wein, importiert werden vor allem Futtermittel wie

seit Beginn des 20. Jahrhunderts vervielfacht – dies geschah

Soja und Mais oder Südfrüchte wie Bananen und Orangen.

durch diverse technische und biologische Fortschritte,

Insgesamt gehört Deutschland heute zu den führenden Na-

durch Spezialisierung und Rationalisierung. Sowohl in der

tionen im Weltagrarhandel – neben den USA, den Nieder-

Bodennutzung als auch in der Viehhaltung kam es zu einer

landen und Frankreich – sowohl im Import als auch im Ex-

drastischen Verkürzung des früheren Arbeitszeitaufwands:

port von Waren. Interessant ist ein Blick auf die sehr unterschiedliche Erwerbsstruktur der landwirtschaftlichen Betriebe: Haupterwerbsbetriebe werden hauptberuflich geführt, das überwiegende Familieneinkommen entstammt aus der Landwirtschaft. Nebenerwerbsbetriebe hingegen sind im Nebenberuf bewirtschaftete Betriebe, wobei der Betriebsleiter einem außerbetrieblichen Hauptberuf nachgeht. Mehr als die Hälfte des Familieneinkommens wird durch diesen anderen Hauptberuf bestritten. In Deutschland werden derzeit (2018) etwa 48 % der 266 690 landwirtschaftlichen Betriebe im Haupterwerb geführt, welche im Durchschnitt 66 ha bewirtschaften. Dass heute noch 52 % der Betriebe im Nebenerwerb geführt werden (sie bewirtschaften durchschnittlich 23 ha), kommt auch manchen Experten wie ein kleines Wunder vor.46a Immer wieder wurde die Nebenerwerbslandwirtschaft, die 1965 in Deutschland noch bei 33 % aller Betriebe lag, als eine Übergangserscheinung dargestellt. Offenbar bietet die Nebenerwerbslandwirtschaft, die vor allem in Süddeutschland verbreitet ist, ökonomische, soziale und psychologische Vorteile. Immer gern erzählt wird die Geschichte vom neuen Traktor, desDie Mitarbeit der Frau in der Landwirtschaft war früher selbstverständlich, zum Beispiel war das Melken der Kühe überwiegend Frauensache.

Wirtschaft und Versorgung

47

So sank z. B. der jährliche Arbeitszeitaufwand je Hektar Ge-

takuläre Proteste in allen Teilen Deutschlands, aber auch in

treidebau in Deutschland von 1950 bis heute von 150 auf

benachbarten Ländern wie Frankreich, die per Fernsehen

6 Stunden, der je zehn Mastschweine von 80 auf acht Stun-

durch die Welt gingen. Milchbauern verschütteten ihre

den. Insgesamt hat sich der pro Arbeitskraft in der Land-

kostenintensiv produzierte und wertvolle Milch in Gülle-

wirtschaft erwirtschaftete Produktionswert in Deutschland

fässern auf Grünland. Solche Aktionen zeigen die Abhän-

von 1900 bis heute teilweise verzwanzigfacht. Damit liegen

gigkeit und häufig die Ohnmacht der Bauern gegenüber

die Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft relativ

dem Markt und hier besonders den großen Handelsket-

höher als in der Industrie. Die Hektarerträge bei Getreide,

ten. Die oft kurzfristigen Preisschwankungen erschweren

Kartoffeln und Zuckerrüben haben sich in Deutschland

ein langfristiges Planen der Landwirte und beschleunigen

von 1900 bis heute durchschnittlich verdreifacht (Situa-

das Ausscheiden der kleinen und mittleren Betriebe. Aller-

tionsbericht des Bauernverbandes 2018/2019). Ein Landwirt

dings erzielen die Bauern derzeit mehr als die Hälfte ihres

ernährt heute durchschnittlich 140 Menschen, 1950 waren

Einkommens durch Subventionen der EU, die Direktzah-

es noch zehn Menschen.

lungen je Hektar Anbaufläche werden ab 2021 voraussicht-

Trotz ständiger Fortschritte in der Produktion beklagt die Landwirtschaft immer wieder den z. T. drastischen Rück-

lich an strengere Umwelt- und Sozialauflagen geknüpft werden.

gang der Erträge für ihre Erzeugnisse. Der Sommer 2009

Insgesamt hat sich die deutsche Landwirtschaft in den

brachte eine überdurchschnittlich reiche Getreideernte.

zurückliegenden Jahrzehnten positiv entwickelt. Die Land-

Dennoch ging im Herbst 2009 das einhellige Fazit der Bau-

und Forstwirtschaft ist mit den vor- und nachgelagerten

ern und ihrer Fachverbände »Gute Ernte – schlechte Preise«

Wirtschaftsbereichen – wie Landmaschinenherstellung und

durch die Medien. Der Präsident des Deutschen Bauernver-

Nahrungsmittelhandel – ein wichtiger Teil der deutschen

bandes, Gerd Sonnleitner, formulierte stellvertretend für

Volkswirtschaft. Im gesamten Agrarbusiness sind 4,7 Mio.

viele: »Die Getreidepreise aus der Ernte decken nicht die

Frauen und Männer beschäftigt. Damit ist jeder neunte Er-

Produktionskosten« und sprach von historischen Tiefstän-

werbstätige in Deutschland im Agrarbusiness tätig. Die-

den bei den Erlösen.47a Einen drastischen Preisverfall gab es

ses erwirtschaftet 8 % des Produktionswertes unserer Wirt-

im gleichen Jahr auch bei der Milch. Die Folge waren spek-

schaft.48

Kühe auf der Weide: dieses vertraute Bild ist vielerorts durch die Schrumpfung oder Spezialisierung der landwirtschaftlichen Betriebe immer seltener anzutreffen.

48

Das moderne Dorf

Von schlechtem Wetter und guten Böden Die natürlichen Voraussetzungen der Landwirtschaft

Kaum ein Wirtschaftszweig ist so stark von den Wech-

grenzt nutzbar. Und es macht schon einen Unterschied, ob

selfällen der Natur abhängig wie die Landwirtschaft.

ein Bauer in Börden- und Gäulandschaften auf den bes-

Was kann der Landwirt anbauen auf sandigen, stein-

ten Böden Deutschlands wirtschaftet oder auf den kar-

reichen, feuchten oder extrem trockenen Böden, was

gen, steinreichen Böden der Mittelgebirge. Gegen längere

an steilen Hängen? Wie reagiert er auf ungünstiges

Dürre- oder Nässeperioden ist auch der beste Landwirt oft

Klima und Wetter? Wann ist der ideale Zeitpunkt zum

machtlos. Immer wieder hat die Landwirtschaft daher ver-

Säen oder Ernten, wenn eine Schlechtwetterperiode

sucht, ihre Abhängigkeit von Boden und Klima bzw. vom

angesagt ist? Welche Möglichkeiten hat die Landwirt-

Wetter durch technischen Fortschritt zu verringern. Aller-

schaft heute, die vielfältigen Abhängigkeiten ihrer

dings stellt sich gerade in der hoch entwickelten Landwirt-

Produktion von natürlichen Widrigkeiten zu verringern?

schaft häufiger auch die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit der natürlichen Ressourcen. Der Mensch merkt, dass

Die Landwirtschaft ist generell von zahlreichen natürli-

er durch seine Wirtschaftsweise nicht selten z. B. die Böden

chen sowie sozialen, ökonomischen und politischen Be-

schädigt. Die zunehmenden Bemühungen um eine ökolo-

dingungen abhängig. Damit haben sich mehrere Wissen-

gische bzw. nachhaltige, d. h. vor allem bodenschonende,

schaftsdisziplinen schon seit über 200 Jahren ausführlich

Landbewirtschaftung sind daher zu einem neuen Arbeits-

beschäftigt und einige Regalmeter Lehrbücher verfasst.

schwerpunkt für Politik, Wissenschaft und Praxis geworden.

Viele Wissenschaftler fanden Interesse an der grundsätzli-

Zu den natürlichen Grundlagen der Landwirtschaft ge-

chen Frage, ob die Landnutzung mehr durch Naturfakto-

hören vor allem das Klima, der Boden und das Relief. Das

ren oder durch die politische, kulturelle und technische In-

großräumige Klima ist zunächst der wichtigste, weil kaum

wertsetzung des Menschen geprägt wird. Allgemein kann

veränderbare Naturfaktor der Agrarproduktion. Deutsch-

man heute feststellen, dass der Einfluss der Natur- gegen-

land liegt in den gemäßigten Breiten, d. h. extreme Hitze-

über den Kulturfaktoren in den modernen Industrielän-

oder Kälteperioden sind hier eher selten. Der konkrete jah-

dern wie Deutschland – vor allem durch den technischen

reszeitliche Rhythmus des Wettergeschehens, den man

Fortschritt – ständig abgenommen hat. Aber auch heute setzt die Natur der Landwirtschaft noch Grenzen. Ein steiler Gebirgs- oder Talhang bleibt nur be-

Abbildung oben: Die Magdeburger Börde bietet mit ihren fruchtbaren Böden beste Voraussetzungen für hochwertigen Ackerbau.

Wirtschaft und Versorgung

49

Witterung nennt, ist jedoch von großer Unbeständigkeit geprägt. Niederschläge, Wärme- und Kältephasen wechseln nicht nur von Region zu Region, sondern sind auch

Rostock

von Jahr zu Jahr erheblichen Schwankungen ausgesetzt. Sowohl Trocken- als auch Nässeperioden führen nicht selten

Schwerin

Hamburg

zu erheblichen Missernten gerade bei Sonderkulturen wie

Bremen

Wein- oder Obstbau, aber auch im Getreidebau. Die permanente Wetterbeobachtung gehört deshalb zu den wich-

Berlin Hannover

tigsten Voraussetzungen einer erfolgreichen Landnutzung.

Magdeburg

Trotzdem bleibt jedem Landwirt, Wein- und Obstbauern

Cottbus

das witterungsbedingte Risiko.

Dortmund

gung, Höhenunterschiede, geschützte oder offene Gelände-

Leipzig

Kassel

Neben Klima und Witterung prägt das Relief (HangneiKöln

Dresden

Chemnitz

Erfurt

lage, Lage zu Sonne und Wind) die Landnutzung. Grundsätzlich sind große, ebene Flächen am besten für die Land-

Frankfurt a. M.

nutzung geeignet. Sie finden sich in Deutschland einmal in den weiten, zusammenhängenden Ebenen oder Fastebe-

Nürnberg

Saarbrücken

nen des Norddeutschen Tieflands. Aber auch im reliefreicheren Süddeutschland sind größere regionale Ebenheiten

Stuttgart

in Beckenlandschaften oder auf Hochebenen anzutreffen.

München

Selbst auf den relativ ebenen Hochflächen der Schwäbi-

Freiburg i. Br.

schen und Fränkischen Alb ist in 700 m Höhe noch ackerbauliche Nutzung anzutreffen. Mit wachsender Hangneigung werden zunächst die Möglichkeiten des Ackerbaus eingeschränkt, der in der Regel bis etwa 18 % Neigung betrieben wird. Einen etwas größeren Spielraum bis etwa 30 % Hangneigung besitzt hingegen die Grünlandnutzung. Steillagen ab 30 % sind dem Waldbau sowie in warmen Regionen – bei guter Sonnenexposition – dem Weinbau vor-

Bodenklimazahl 0 30 40 50 60 100

Häufigkeit auf Kreisebene 0 47 160 179 78

50

100 km

81

Standortgüte der landwirtschaftlichen Produktion in Deutschland nach Bodenklimazahlen

behalten. Für die Agrarnutzung ungünstige Reliefverhältnisse finden sich vor allem in den deutschen Mittel- und

tierung aller Kulturböden. Die Bodengüte wurde mit Zah-

Hochgebirgen.

len von 1 bis 100 angegeben, wobei man sich an dem frucht-

Die Böden sind die unmittelbarste Produktionsgrund-

barsten Schwarzerdeboden der Magdeburger Börde orien-

lage der Landwirtschaft und stellen zugleich Standort und

tierte, der die Bodenzahl 100 bekam. Durch zusätzliche

Nährstoffträger der Vegetation dar. Für die Bodenquali-

Berücksichtigung der Faktoren Klima, Relief und Wasser-

tät entscheidend sind der Humusgehalt, der Mineralgehalt

verhältnisse erhielt man schließlich eine Bodenklima-

sowie die gute Durchlüftung und Durchwässerung. Um

zahl, die ebenfalls für jede landwirtschaftliche Nutzfläche

verschiedene Böden miteinander vergleichen zu können,

in Deutschland vorliegt und deren konkrete durchschnitt-

drückt man die eigentlich sehr komplexe Bodenfruchtbar-

liche Bodenfruchtbarkeit anzeigt. Ein paar Beispiele: Die

keit in Zahlen aus. Das erste brauchbare Klassifizierungs-

Lössböden der Börden haben im Durchschnitt die Boden-

system schuf der berühmte Agrarwissenschaftler Albrecht

klimazahl 60–90, Kalkverwitterungsböden etwa 30–60,

Auf dessen Basis ent-

Sandböden 10–40. Böden mit geringeren Bodenklimazah-

stand in Deutschland seit der Reichsbodenschätzung von

len als 30 werden als Grenzertragsböden bezeichnet. Dies

1935 flächendeckend eine amtliche Schätzung bzw. Boni-

soll ausdrücken, dass eine rationelle Bewirtschaftung die-

Daniel Thaer bereits im Jahr 1813.

50

Das moderne Dorf

49

ser Böden unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaum für

werden von der Land- und Forstwirtschaft bewirtschaftet.

sinnvoll gehalten wird.

Rund 30 % sind Wald, 52,5 % Landwirtschaftsfläche. Inner-

Die Naturfaktoren Klima, Relief und Boden zeigen ihre

halb der Landwirtschaft dominiert das Ackerland eindeu-

unmittelbarste Wirkung in der Vegetation. Die ursprüngli-

tig mit 70,5 % vor dem Dauergrünland mit 28,3 %. Dem Gar-

chen natürlichen Pflanzengesellschaften (wie Wälder oder

ten-, Obst- und Weinbau bleiben 1,1 % der landwirtschaft-

Grassteppen) sind auf der Erde durch die intensiven Land-

lich genutzten Fläche, die allerdings sehr intensiv und

nutzungen weitgehend beseitigt und in Kultur- bzw. Wirt-

produktiv bearbeitet wird. Durch den gewachsenen Be-

schaftslandschaften umgewandelt worden. Dennoch prägt

darf an Getreide für Futtermittel und Ernährungsindustrie

die jeweilige Naturausstattung immer noch in hohem

(Schwerpunkt Schweinemast und Bierherstellung) haben

Maße die Bodennutzung. So lassen sich die wichtigsten Bo-

die Ackerflächen in Deutschland zulasten des Grünlandes

dennutzungsarten in Deutschland (Ackerbau, Grünland-

zugenommen. Ebenfalls angewachsen sind die Anbauflä-

wirtschaft, Waldbau sowie Sonderkulturen) in ihrer regi-

chen für Gartenbau (Gemüse, Beeren, Blumen) und Son-

onalen Verbreitung »natürlich« erklären. Generell gilt: je

derkulturen (Wein, Obst, Hopfen, Gewürzpflanzen).

hochwertiger die Böden wie z. B. in den Börden, umso mehr

Zahlreiche

technische

und

wissenschaftliche

Fort-

dominiert der Ackerbau, während die Grünlandnutzung

schritte haben bewirkt, dass die Landwirtschaft in den zu-

im feuchten Tiefland und in Bergregionen vorherrscht.

rückliegenden 150 Jahren ihre Abhängigkeit von Klima,

Ein Blick auf die Flächennutzungen zeigt, wie sehr das

Wetter, Boden und Relief verringern konnte: Durch

»Industrieland« Deutschland noch immer durch seine Ag-

Pflanzenzüchtung wurden Sorten entwickelt, die kürzere

rarfunktionen geprägt wird. Etwa 83 % der Staatsfläche

Wachstumszeiten benötigen und damit auch in unseren

Der Weinbau wird in Deutschland traditionell vor allem in Steillagen an Flusstälern betrieben. Für die beschwerliche Arbeit in den Weinbergen wird heute zunehmend moderne Technik genutzt, wie hier in Kobern-Gondorf an der Mosel.

Wirtschaft und Versorgung

51

Klimaregionen zur Reife kommen. Durch immer besseren

und nicht zuletzt das richtige »Bauchgefühl«. Dennoch las-

Einsatz von Pflanzenschutzmitteln gegen Pflanzenkrank-

sen sich starke wetterbedingte Ertragsschwankungen bis

heiten und -schädlinge konnten die ackerbaulichen Erträge

hin zu Ertragsausfällen nicht ausschließen.

deutlich gesteigert und stabilisiert werden. Der Einsatz von

Manchmal beschäftigen sich Politiker und Wissenschaft-

Mineraldünger verbesserte das Wachstum der Pflanzen er-

ler mit der grundsätzlichen Frage der agraren Tragfähig-

heblich und machte auch »schlechte« Böden ackertauglich.

keit von Räumen, d. h. wie viele Menschen die Landwirt-

Moderne Sä- und Erntemaschinen beschleunigen die Land-

schaft in einer bestimmten Region ernähren kann. Die

nutzung, sodass der Bauer nicht mehr auf so lange Zeit-

Tragfähigkeit eines Raumes ist von einer Vielzahl natür-

fenster guten Wetters angewiesen ist wie früher. Dennoch

licher, ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren ab-

bleibt eine starke Abhängigkeit von extremen Wetterlagen

hängig. Generell ist sie in den zurückliegenden 200 Jah-

und Wetterumschwüngen bestehen. Soll man mit der Ge-

ren durch Düng ung, Mechanisierung, Züchtungen, Ener-

treideernte beginnen, auch wenn das Korn noch nicht ganz

gieeinsatz u. a. stark angestiegen. Eine Landschaft wie die

reif und trocken ist, aber eine längere Schlechtwetterperi-

Altmark oder die Wetterau kann heute eine viel größere

ode angesagt ist? Hier hilft dem Landwirt die jahrzehnte-

Menge an landwirtschaftlichen Produkten erzeugen als je-

lange Erfahrung mit dem Wetter und dem lokalen Boden

mals zuvor.

In den Mittelgebirgen, wie hier im Schwarzwald, betreibt die Landwirtschaft vor allem Grünlandnutzung und Viehhaltung. Schlechtere Böden, ungünstiges Klima und starke Hangneigung erschweren eine ackerbauliche Bewirtschaftung.

52

Das moderne Dorf

Vollernter, Melkroboter und GPS Die Fortschritte der Landtechnik

»Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt«. Als

gute kamen. Die Entwicklung begann in England und den

wir dieses Volkslied vor etwa 60 Jahren in der Schule

USA , ab etwa 1850 entfaltete sich die moderne Landtech-

lernten und sangen, entsprach der Text noch der Wirk-

nik auch in Deutschland und nahm hier bald eine impo-

lichkeit: Landwirtschaft wurde mit Pferdestärken (PS !)

nierende Entwicklung.50 Dies gilt sowohl für den Indust-

und Menschenkraft ausgeübt. Auch das Melken

riezweig Landtechnik als auch für deren Nutzung durch

der Kühe war Handsache. Ebenso das Buttermachen –

die Landwirtschaft. Die deutsche Landmaschinenindust-

mithilfe von Zentrifuge und Butterfass. Wie ein Wun-

rie gehört heute neben jener in den USA zu den Branchen-

derwerk kam uns damals die große Dreschmaschine

führern in der Welt. Dies gilt z. B. für Mähdrescher, Trakto-

vor, die in den Wintermonaten in die Höfe gezogen

ren, Feldhäcksler sowie Kartoffel- und Zuckerrüben-Voll-

wurde, um das Korn aus den zuvor sorgsam gelagerten

erntemaschinen. Dass moderne Landmaschinen und viele

Korngarben herauszudreschen. Die Erntearbeiten

andere agrartechnische Geräte hierzulande hergestellt wer-

mussten also bis Dezember und Januar fortgesetzt

den, kommt nicht nur der hiesigen Landwirtschaft, son-

werden! Dies sind Blicke in eine versunkene Welt.

dern auch dem Wirtschaftsstandort ländlicher Raum zu-

Heute ist »Precision Agriculture« angesagt, in der

gute. Landmaschinenbau und Landmaschinenhandel sind

Sensortechnik, GPS und Internet alle Betriebsabläufe

meist in ländlichen Regionen angesiedelt und bieten hier

unterstützen, steuern und kontrollieren.

nicht zuletzt auch eine große Anzahl von z. T. hoch qualifizierten Arbeitsplätzen.

Wenn ein Bauer von 1800 auf einen landwirtschaftlichen

Bei den Fortschritten in der Landtechnik unterschei-

Betrieb von heute käme, wäre er wahrscheinlich lange

den wir zwischen den mechanisch-technischen Erfindun-

sprachlos und würde an ein modernes Teufelswerk glau-

gen und den organisch-technischen Innovationen. Die

ben. Selbst ein Bauer von 1950 würde sich heute wie in ei-

mechanisch-technischen Erneuerungen zielen vor allem

nem technischen Wunderland vorkommen. Tatsächlich

auf eine Einsparung und Unterstützung der menschlichen

hat nichts die Landwirtschaft in den letzten 200 Jahren so

Arbeitskraft durch Maschinen und Fahrzeuge ab. Mit Be-

stark verändert wie die moderne Landtechnik. Den Impuls gab die einsetzende Industrialisierung mit ihren vielfältigen Maschinen, die sehr bald auch der Landwirtschaft zu-

Abbildung oben: Moderne Mähdrescher haben die Getreideernte gegenüber früher extrem erleichtert und beschleunigt.

Wirtschaft und Versorgung

53

ginn des 20. Jahrhunderts setzte in Deutschland die Motori-

Anschließend wurde das Korn auf Kornböden oder in Korn-

sierung und Elektrifizierung der landwirtschaftlichen Pro-

scheunen gelagert, an das Vieh verfüttert oder verkauft.

duktion ein. 1907 begann die Anwendung des Motorpflugs,

Der selbstfahrende Mähdrescher erlaubt heute den zeit-

und zwischen den beiden Weltkriegen erfolgte die weitge-

lich optimalen, schnellen, körperlich leichten Ernteeinsatz

hende Elektrifizierung des flachen Landes. Seit den 1920er

und vermindert damit auch die witterungsbedingten Ern-

Jahren wurde schließlich der Traktor zur wichtigsten tech-

teausfälle. Die modernen Mähdrescher sind mit leistungs-

nischen Einrichtung der Landwirtschaft.

starken Bordcomputern sowie hochsensibler Sensortech-

Die schnell fortschreitende Mechanisierung und Moto-

nik und GPS -Ortung (die wie Navigationsgeräte in Autos

risierung hat besonders die sog. »Getreidekette« revolutio-

funktionieren) ausgestattet.51 Mit ihrer Hilfe erfährt der

niert. Allein für die Ernte war früher vom Schnitt (Sichel,

Landwirt auf ein paar Zentimeter genau nicht nur den prä-

Sense, Mähmaschine, Binder) bis zum Dreschen monate-

zisen Ernteertrag und dessen diverse Qualitäten auf jedem

lange Arbeit nötig. Das Getreide wurde im Sommer ge-

Teilstück des Feldes, sondern auch exakte Angaben über die

mäht, auf dem Feld in »Garben« gebunden und in »Richten«

jeweiligen Pflanzen- und Bodeneigenschaften. Aus diesen

oder »Hocken« zum Trocknen aufgestellt, dann abgefahren

Daten wird dann die Dosierung der folgenden Bodendün-

und in Scheunen oder »auf dem Balken« gelagert. Das ei-

gung und Pflanzenbehandlung festgelegt. Der Dünger-

gentliche Dreschen (das Herausschlagen der Körner aus den

streuer ist mit dem entsprechend eingefügten Chip in der

Ähren) erfolgte bis in die 1960er Jahre durch große Dresch-

Lage, vollautomatisch die bedarfsgerechten Düngermengen

kästen oder Dreschmaschinen meist in den Wintermonaten.

auf den einzelnen Teilstücken des Feldes zu verteilen. Bei

Historische Dreschmaschinen aus den 1930er oder 50er Jahren stehen heute im Museum: Hier wird ein alter Dreschkasten in Funktion vorgeführt in Klein-Oschersleben (Bördekreis).

54

Das moderne Dorf

Auch die Kartoffelernte erfolgt heute weitgehend mit Vollerntemaschinen, nur die Steine müssen noch per Hand aussortiert werden. Auch in diesem Teilbereich gehört die deutsche Landmaschinenindustrie zu den Weltmarktführern.

der nächsten Ernte teilt der Bordcomputer dem Landwirt

läufe. Das frühere Melken mit der Hand ist inzwischen

mit, inwieweit die durchgeführten Maßnahmen der Bo-

durch den Melkroboter ersetzt worden. Auf den Betriebs-

den- und Pflanzenbehandlung erfolgreich waren. Für die

computern, die heute zum Standard zumindest der Haupt-

hier beschriebene und heute übliche moderne Landtech-

erwerbsbetriebe gehören, sind alle wichtigen Daten der

nik hat sich international und auch in Deutschland der Be-

Pflanzen- und Tierproduktion gespeichert und jederzeit

griff »Precision Agriculture« durchgesetzt, den man wohl

für Entscheidungen abrufbar. Dem Städter, der lange nicht

am besten mit »Präzisionslandwirtschaft« übersetzen kann.

mehr auf einem Bauernhof war, wird manches wie in ei-

Auch die Ernteabläufe anderer Feldfrüchte, wie z. B. von

nem technischen Labor erscheinen. »Wer heute einen mo-

Kartoffeln und Zuckerrüben, sind inzwischen in ähnlicher

dernen Kuhstall betritt, der sieht den Landwirt am Bild-

Weise mechanisiert und werden durch Vollerntemaschinen

schirm, wie er für Mina, Tina und Lina die Futtermengen

mit Sensortechnik durchgeführt. Die Abläufe des Säens

dosiert, die Milchmengen erfasst, die Medikamente no-

und Pflanzens sind heute ebenfalls weitgehend automati-

tiert.«52 Die Neuerungen auf den Höfen betreffen nicht al-

siert.

lein die Landtechnik im engeren Sinne. Auch die Hof- und

Die meisten Hofarbeiten wurden inzwischen ebenfalls

Wohngebäude selbst sind in den letzten Jahrzehnten meist

durch Maschinen ersetzt. So werden die modernen Fütte-

mehrfach modernisiert, vergrößert und in ihrer betriebs-

rungs-, Melk- oder Entmistungsanlagen heute weitestge-

und hauswirtschaftlichen Ausstattung rationalisiert wor-

hend elektronisch gesteuert und haben automatische Ab-

den.

Wirtschaft und Versorgung

55

Die organisch-technischen Fortschritte in der Land-

land, für eine höherwertige ackerbauliche Nutzung gewon-

wirtschaft werden auch als »bodensparende Innovationen«

nen werden. Neben der Bodendüngung ist der chemische

bezeichnet. Sie zielen auf Verbesserungen und Steigerun-

Pflanzenschutz seit Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil

gen der agraren Produktion durch biologische Wirkungen

der Pflanzenproduktion. Im Einzelnen wird dabei sowohl

ab. Ein Schwerpunkt liegt hierbei in der Züchtung hoch-

gegen Pflanzenkrankheiten (durch Fungizide) und Schäd-

wertiger und leistungsfähiger Kulturpflanzen und Nutz-

lingsbefall (durch Insektizide) als auch gegen konkurrie-

tiere. So konnten dem Getreideanbau durch Züchtung win-

rende Unkräuter (durch Herbizide) vorgegangen. Das an

terharter und kurzlebiger Sorten neue Klimaregionen –

strenge gesetzliche Auflagen geknüpfte Spritzen, Sprü-

vor allem in den nördlichen Breiten – erschlossen werden.

hen und Nebeln der jeweiligen Pflanzenschutzmittel kann

In der Schweinezüchtung wurden fettarme und langge-

heute durch die moderne Sensor- und GPS -Technik immer

streckte Arten (»Kotelettschwein«) entwickelt, die moder-

gezielter und damit pflanzen- und bodenschonender ein-

nen Verbraucherwünschen entsprechen. Generell sind in

gesetzt werden. Ohne Zweifel hat der chemische Pflanzen-

der Tierhaltung auch durch hochwertige Futtermittel die

schutz erheblich zu einer Ertragskonstanz und -steigerung

Mastzeiten verringert worden, was zu höherer Produktivi-

im Pflanzenbau beigetragen. Dies gilt sowohl für den Ge-

tät führte.

treidebau als auch für Sonderkulturen wie den Obst-, Wein-

Die höchsten Ertragszuwächse im Ackerbau gehen heute

und Hopfenbau.

auf das Konto des Mineraldüngers, dessen Einsatz in der

Auch die tierische Erzeugung ist seit dem 19. Jahrhun-

Landwirtschaft entscheidend vom deutschen Chemiepro-

dert erheblich intensiviert worden, wozu vor allem die ver-

fessor Justus von Liebig um 1850 angeregt wurde. Da die

änderten Essgewohnheiten in den Industrieländern und

Kulturpflanzen dem Boden ständig wichtige Nährstoffe

die Entwicklung eines riesigen Agrarmarktes beigetragen

wie Stickstoff, Phosphor, Kali und Kalk entziehen, müssen

haben. Durch Innovationen in der Züchtung und Fütte-

diese ersetzt werden. Mit dem Mineraldünger können diese

rung wurde erreicht, dass sich die Leistungen der Tiere, z. B.

nun dem Boden laufend neu zugeführt werden – der ge-

Milchleistungen, Legeleistungen, Wachstum der Schweine

zielte Düngemitteleinsatz gehört heute zu den wichtigsten

pro Jahr, nicht selten in wenigen Jahrzehnten verdop-

Produktionsfaktoren des Pflanzenbaus. Mithilfe des Mine-

pelt haben. Starke Veränderungen haben sich auch bezüg-

raldüngers konnten nun auch große Flächen mit schlech-

lich der Viehhaltung ergeben: So verlor das Pferd, frü-

teren Böden, z. B. die leichten Sandböden in Norddeutsch-

her wichtigster Helfer des Bauern, durch die Mechanisierung der Feldarbeit seine Funktion als Zugtier; durch den Reitsport hat der Pferdebestand in jüngerer Zeit jedoch wieder zugenommen. Der Schwerpunkt der tierischen Veredlungswirtschaft liegt heute in der Schweine- und Rindermast sowie in der Milchproduktion. Allein 75 % der Verkaufserlöse aus tierischen Erzeugnissen entfallen auf den Verkauf von Milch und Schweinefleisch. Generell haben tierische Erzeugnisse einen höheren Verkaufswert als pflanzliche. Ein besonderes Kennzeichen der modernen Viehwirtschaft ist die Spezialisierung der Betriebe. Wie in der übrigen Wirtschaft können auch in der modernen Landwirtschaft Spezialbetriebe besser und kostengünstiger produzieren als »Allrounder«. Viele Betriebe sahen

Moderne Feldhäcksler erleichtern und beschleunigen heute die Grünfutterernte.

56

Das moderne Dorf

Der Blick in einen modernen Melkstand zeigt, wie stark die Landtechnik auch die Viehhaltung verändert hat: die Kühe werden mit einer Absaugautomatik gemolken, wobei die Milch sofort kontrolliert und in einen Kühltank geleitet wird.

und sehen sich daher gezwungen, ihren Viehbestand auf

muß man Elektroniker sein, muß man Kaufmann sein,

Schweinemast, Ferkelerzeugung, Sauenhaltung, Milch-

muß man alles sein.« So formulierte es knapp und treffend

wirtschaft, Jungviehaufzucht, Rindermast, Hähnchenmast,

ein saarländischer Bauer.53

Legehennen usw. zu konzentrieren. Die hoch technisierte

Aus der Spezialisierung der Betriebe ergibt sich häufig

Landwirtschaft verlangt den hoch qualifizierten Landwirt,

zwangsläufig auch eine Vergrößerung hin zu einer Mas-

der ohne ständige Vernetzung mit dem Markt, den Berufs-

sentierhaltung. Nachbarländer wie Dänemark und die

verbänden, den Fachmedien und ohne regelmäßige Fortbil-

Niederlande spielten hier eine Vorreiterrolle. Aber auch in

dung nicht bestehen kann. Wer mit einem modernen Bau-

den norddeutschen Bundesländern gibt es bereits einzelne

ern spricht, in die einschlägige Fachpresse wie »Top Agrar«

Schweinemäster mit 5000 Plätzen und Milcherzeuger mit

oder »Landwirtschaftliches Wochenblatt« (in Westfalen)

200 Kühen. Diese Zahlen werden im süddeutschen Raum

schaut oder auf Agrar(technik)messen geht, sieht, was

vielfach mit Skepsis betrachtet, hält man hier doch am Leit-

Landwirt-Sein heute bedeutet: »Wenn man heute Landwirt

bild einer kleiner dimensionierten »bäuerlichen« Land-

ist, muß man Tierarzt sein, da muß man Mechaniker sein,

wirtschaft fest.

Wirtschaft und Versorgung

57

Der Weg zu immer größeren Betrieben, die bereits in der

Namen wie Roter Milan, Rebhuhn, Weißstorch, Kiebitz,

Schweine- und Geflügelhaltung bestehen, scheint vorge-

Feldlerche, Goldammer, Bluthänfling, Uferschnepfe und

zeichnet und ist auch für die übrigen Zweige der Viehwirt-

Sumpfohreule.«55a

schaft zu erwarten. Dennoch werden immer wieder Vor-

Die Agrartechnik wird sich weiterentwickeln. Jedoch ist

behalte und Proteste vorgetragen und diskutiert – selbst in

nicht alles wünschenswert, was technisch machbar ist. Mit

Bundesländern wie Niedersachsen, in denen Massentier-

den grundlegende Fragen zur Nachhaltigkeit in der Land-

haltung schon länger üblich ist. So erschien vor ein paar

wirtschaft, was Tieren, Pflanzen, Böden und dem Klima

Jahren der Ort Wietze in der Lüneburger Heide durch den

und letztlich auch den Menschen heute und in Zukunft

geplanten Bau einer Großschlachterei für Hähnchen in

guttut, werden Wissenschaft, Politik und Landwirte weiter

den Medien. Bis zu 100 000 Tiere sollen hier täglich ge-

ringen und sich in Zukunft vermehrt befassen müssen.

schlachtet werden, den Nachschub dafür 400 noch zu er-

Insgesamt haben die Fortschritte der modernen Land-

richtende Mastställe liefern. Von 1000 neuen Arbeitsplät-

technik zu einer gewaltigen Steigerung und Verbesserung

zen ist die Rede. Die Grünen und die Arbeitsgemeinschaft

der landwirtschaftlichen Produktion geführt. So konnten

bäuerliche Landwirtschaft (ABL ) in Niedersachsen warnen

die Hektarerträge im Pflanzenbau in wenigen Jahrzehn-

jedoch vor dem Trend zur gewerblichen Massentierhaltung,

ten auf ein Vielfaches gesteigert werden: Beispielsweise

in denen keine artgerechte Tierhaltung möglich sei. Regio-

vermehrten sich die durchschnittlichen Ernteerträge in

nal- und Kommunalpolitiker, der Landesbauernverband

Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bei Getreide etwa um

und das Landwirtschaftsministerium sehen hingegen eine

das Siebenfache, bei Kartoffeln und Zuckerrüben um mehr

Chance für die strukturschwache Region und begrüßen

als das Dreifache. Die noch im 19. Jahrhundert in Deutsch-

es, dass die Hähnchen aus Wietze und nicht aus dem be-

land und Europa verbreitete Landarmut und wiederholte

nachbarten Ausland kommen.54 Die Dioxinfunde, die An-

Hungersnöte durch schlechte Ernten sind heute so gut wie

fang Januar 2011 im Tierfutter, in Eiern, im Hühner- und

vergessen. Die landtechnischen Verbesserungen haben zu-

im Schweinefleisch entdeckt wurden, haben die Diskussi-

dem eine grundlegende Erleichterung der früher sehr zeit-

onen um das Für und Wider einer industrialisierten Land-

aufwendigen und körperlich schweren Arbeit bewirkt und

wirtschaft erneut angefacht. Sie zeigen auch, wie anfällig

damit für die Landbevölkerung große wirtschaftliche und

die lange und kaum noch überschaubare Produktionskette

soziale Vorteile erbracht. Dass der immer intensivere Ein-

55

der Landwirtschaft für tier- und menschenschädliche Ma-

satz der Landtechnik nicht nur große Chancen bietet, son-

nipulationen ist.

dern auch an Grenzen stößt und Probleme und Gefahren birgt, zeigen die zunehmenden Bemühungen um eine al-

Neben der Massentierhaltung steht die Landwirtschaft

58

ternative bzw. nachhaltige Landwirtschaft.

durch die moderne Landtechnik und neue Anbauweisen

In jüngerer Zeit stoßen manche Produktionsweisen, zum

vor weiteren großen Herausforderungen. Soll der Anbau

Beispiel in der Tierhaltung oder durch Mais-Monokulturen,

gentechnisch veränderter Pflanzen liberalisiert werden?

zunehmend auf Kritik. Hitzige Debatten um Themen wie

Geraten auf dem Markt der Pflanzen- und Saatgutzüchter

Tierwohl, Einsatz von Glyphosat in der Landbewirtschaf-

die Bauern und kleineren Unternehmen in allzu große Ab-

tung oder Deklarierung von Lebensmitteln bewegen nicht

hängigkeit von den Agrarchemie- und Saatgutkonzernen

nur Experten und Politiker sondern auch eine breite Öffent-

wie BASF , Bayer, Monsanto oder KWS ? Ein weiterer An-

lichkeit. Die Landwirtschaft reagiert häufig ungehalten

lass zum Nachdenken und Handeln ist der Rückgang der

und verweist auf ihre jahrhundertelangen Erfahrungen

Vögel in der Agrarlandschaft. Die Ursachen liegen u. a. in

mit behutsamer und nachhaltiger Wirtschaft. Die Bauern

der Entwässerung von Feuchtgebieten, dem Rückgang von

und ihre Berufsverbände sollten diese Vorbehalte und An-

Dauergrünland und der Zunahme des Mais- und Raps-

regungen jedoch ernst nehmen und durch konkrete Verbes-

anbaus. »Auf der Liste der Vogelarten, die einst jedermann

serungen und Informationen der Verbraucher und Umwelt-

auf dem Lande bekannt waren, heute jedoch in vielen Ge-

schützer dafür sorgen, dass ihre vielfältigen und wichtigen

genden auf der Roten Liste stehen, finden sich so geläufige

Leistungen für die Gesellschaft auch anerkannt werden.

Das moderne Dorf

Vom Nahrungsmittel- zum Energieproduzenten Neue Aufgaben einer multifunktionalen Landwirtschaft

Neben der Ernährungssicherung nimmt die Landwirt-

Bereichen Freizeit und Tourismus oder der Direktvermark-

schaft heute zusätzlich eine Reihe ökonomischer und

tung ihrer Produkte geöffnet. Durch neue Umwelt- und

gesellschaftlicher Aufgaben wahr. Landwirte treten

Kulturziele der Gesellschaft hat die Landwirtschaft zu-

immer häufiger als Energieproduzenten auf oder bauen

nehmend auch Aufgaben zu erfüllen, die nicht am Markt

Industriepflanzen an. Oder sie gewinnen mit dem

durch den Verkauf von Produkten honoriert werden. Sie

Tourismus oder der Hof-Direkt-Vermarktung ein zweites

erhält und pflegt beispielsweise verschiedenartige Kultur-

wirtschaftliches Standbein. Andere setzen auf den

und Naturlandschaften. Die Landwirtschaft (wie auch die

ökologischen Landbau oder eine »artgerechte« Tier-

Forstwirtschaft) erbringt damit öffentliche Güter und »Ge-

haltung. Nicht zuletzt betreibt die Landwirtschaft –

meinwohlleistungen«, die nicht nur der Vitalität des länd-

auch unterstützt durch staatliche Förderungen –

lichen Raumes, sondern der gesamten Gesellschaft dienen.

zunehmend Kulturlandschaftspflege und Naturschutz.

Seit dem Aufkommen von »Umwelt«-Themen in den frühen 1970er Jahren begannen auch verstärkte Bemühun-

Der modernen Landwirtschaft wachsen aus unterschiedli-

gen um eine ökologische bzw. alternative Landwirtschaft.

chen ökonomischen und gesellschaftlichen Gründen neue

Nun wurden die »Grenzen des Wachstums« und die Tücken

Aufgaben zu. Auch hat die durch den technischen Fort-

des Fortschritts diskutiert, die nicht nur Vorteile für Land-

schritt ausgelöste Überschussproduktion in fast allen Spar-

wirte und Verbraucher, sondern auch eine Reihe von Ge-

ten den Druck auf die Landwirtschaft erhöht, alternative

fahren und Nachteilen mit sich bringen, die heute zuneh-

Erwerbsmöglichkeiten zu finden. Die zunehmende Ver-

mend beachtet werden. Die übermäßige Verwendung von

knappung von fossilen Rohstoffen hat dazu beigetragen,

chemischen Pflanzenschutzmitteln hatte vielerorts zu einer

dass viele Landwirte heute bereits mit großem Erfolg Ener-

Verarmung der Pflanzen- und Tierwelt und zu einer Belas-

gie produzieren und Industriepflanzen anbauen. Durch

tung des Grund- und Oberflächenwassers geführt. Durch

Nachfrage der Verbraucher, wachsendes Umweltbewusstsein und Impulse der Agrarpolitik wachsen die Anteile der ökologischen bzw. umweltfreundlichen Landwirtschaft – sowohl im Pflanzenbau als auch in der Tierhaltung. Zahlreiche Bauern haben sich im Neben- oder Zuerwerb den

Abbildung oben: Neben einem Bio-Maisfeld ist ein Ackerrandstreifen für Feldblumen freigehalten worden, um hier einen neuen Lebensraum für Insekten zu schaffen. Die Agrarpolitik unterstützt heute zunehmend den Natur- und Umweltschutz.

Wirtschaft und Versorgung

59

staatliche Maßnahmen der Flurneuordnung war die frü-

von Energie sowie die Nutzung und Erschließung betriebs-

her meist kleinparzellierte Agrarlandschaft in vielfacher

eigener und lokaler Energieressourcen gehören dazu. Der

Hinsicht »bereinigt« worden: Topographische Unebenhei-

Agrarbetrieb wird als ökologisch-ökonomische Einheit ge-

ten, Feldgehölze, natürliche Bachläufe und Sümpfe waren

sehen, er verzichtet auf betriebsfremde Mittel (z. B. Futter-

beseitigt und manche Biotope zerstört worden. Es wurde

mittel oder Dünger) und Höchsterträge und strebt eine ge-

deutlich, dass großflächige Monokulturen den Bodenhaus-

sunde Nahrungskette Boden – Pflanze – Tier – Mensch an.

halt belasten und die Bodenerosion begünstigen können.

Zum Konzept einer ganzheitlichen alternativen Landwirt-

Da chemische Eingriffe auch in der (Massen-)Tierhaltung

schaft gehören auch die dörfliche bzw. dezentrale Weiter-

einen breiten Raum einnahmen, gelangten Chemikalien in

verarbeitung und Vermarktung der landwirtschaftlichen

die Futter- und Nahrungsmittel: Es konnte zu gesundheit-

Produkte, z. B. durch Biomärkte sowie regionale Zucker-

lichen Gefährdungen und Belastungen für Tiere und Men-

fabriken, Schlachthöfe, Molkereien und Käsereien. Damit

schen kommen. Als ein zusätzliches Problem wurde der

wird eine Lösung von den Zwängen und Mechanismen der

hohe Energieverbrauch in der modernen Landwirtschaft

Nahrungsmittel- und Vermarktungsindustrie angestrebt.

erkannt.

Ausgehend von diesen Grundsätzen stellte Dirk Althaus

Zu den Grundsätzen des ökologischen Landbaus gehö-

1984 das Konzept einer ganzheitlichen »Dorfökologie« für

ren die naturnahe Bodenbewirtschaftung, die artgerechte

den Natur-, Wirtschafts- und Lebensraum Dorf und seine

Tierhaltung, der weitgehende Verzicht auf Industriedünger

Gemarkung vor: Durch die intensive Nutzung all seiner

und chemische Pflanzenschutzmittel und die Nutzung des

lokalen Potenziale (z. B. für die Nahrungsmittel- und Ener-

innerbetrieblichen Stoffkreislaufs. Auch die Einsparung

gieproduktion und deren Vermarktung, vorhandene Rohstoffe und wertvolle Kulturlandschaft) würde das Dorf weitgehend ökonomisch selbstständig und unabhängig von Fremdmitteln und externen Kosten sein. Die Idee hat sicherlich für viele Anregungen gesorgt. Hier stellt sich allerdings die generelle Frage, ob das Dorf eher durch eine Beschränkung auf seine Gemarkung oder durch die Nutzung globaler Netzwerke profitieren kann. Als Nachteile des ökologischen Landbaus werden in der Regel genannt: steigender Arbeitsaufwand, sinkende Erträge (also geringere Arbeitsproduktivität) und damit notwendig höhere Erzeuger- und Marktpreise. Es wird argumentiert, dass die konventionelle Landwirtschaft der alternativen in ökonomischer Hinsicht noch überlegen sei. Allerdings gibt es eine zunehmende Anzahl von Betrieben, die sich mit ihren ökologisch erzeugten Produkten erfolgreich am Markt behaupten, weil auch die Nachfrage nach Bioprodukten steigt. Biobauern produzieren heute in allen Sparten der Landwirtschaft: im Ackerbau und in der Viehhaltung, im Wein-, Obst- und Gemüseanbau. Und es gibt immer neue Angebotsnischen: »Schon 20 Landwirte bauen Bio-Holunder in der Rhön an«, titelte kürzlich die Fuldaer Zeitung.57 Die Holunderbauern bewirtschaften damit bereits eine Fläche von 90 ha und beliefern vor allem den Limohersteller Bionade. Zahlenmäßig spielt der ökologische Landbau in Deutsch-

Immer mehr Landwirte vermarkten ihre Produkte selbst in eigenen Hofläden oder auf Märkten in der Stadt. Zusätzlich gibt es auch Bringdienste mit Obst- und Gemüsekisten.

60

Das moderne Dorf

Noch vor 100 Jahren nutzten alle Dörfer ihre lokalen Energien. Das Bioenergiedorf Jühnde gehört zu den Pionieren, wieder auf die eigenen Ressourcen zu setzen: Mit Biogas- und Solaranlagen versorgt das Dorf sich selbst mit Wärme und Strom.

land wie auch in anderen Industrieländern erst eine relativ

Längst unterstützt auch die Agrarpolitik die Ziele ei-

geringe, wenngleich wachsende Rolle. In Deutschland gibt

ner umweltschonenden, tiergerechten und nachhaltigen

es heute (2017) 29 395 ökologisch bewirtschaftete Betriebe.

Landwirtschaft. Wobei sie es bewusst vermeidet, die kon-

Das sind gut 11 % aller Betriebe, die rund 8,2 % der landwirt-

ventionelle und die ökologische Landwirtschaft gegenein-

schaftlichen Fläche bewirtschaften. Es gibt jedoch große

ander auszuspielen. Inzwischen sind sowohl im Pflanzenbau

regionale Unterschiede: Rund 67 % der ökologisch bewirt-

als auch in der Tierhaltung generell die Auflagen und Kon-

schafteten Fläche konzentrieren sich auf die Bundeslän-

trollen für eine umwelt- und klimafreundliche Landwirt-

der Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und

schaft verschärft worden. Zusätzlich werden in Deutsch-

Der durchschnittliche Betriebsge-

land besonders umweltfreundliche und nachhaltige Pro-

winn der Biobauern kann inzwischen mit den vergleich-

duktionsverfahren durch zahlreiche Umweltprogramme

baren, konventionell bewirtschafteten Höfen mithalten.

des Bundes und der Länder gefördert: beispielsweise exten-

Wichtiger als die zahlenmäßige und ökonomische Bedeu-

sive Produktionsweisen im Landbau, wobei weitgehend auf

Baden-Württemberg.

57a

tung sind gegenwärtig die Denkanstöße, die von der ökolo-

chemischen Pflanzenschutz und Mineraldünger verzichtet

gischen Landwirtschaft ausgehen.

wird. Oder auch die Umwandlung von Ackerflächen in ex-

Wirtschaft und Versorgung

61

in Deutschland, gefolgt von der Windkraft und der Wasserkraft.58a Die Biomasseenergie wird heute bereits von zahlreichen Dörfern in Deutschland, Österreich oder Dänemark für eine autarke Strom- und Wärmeversorgung genutzt. Zu den Pionieren in Deutschland gehört das niedersächsische Dorf Jühnde bei Göttingen: Jühnde zählt etwa 780 Einwohner und war deutschlandweit das erste Dorf, das seinen Strom- und Wärmebedarf komplett durch nachwachsende Rohstoffe abgedeckt hat. Die erforderliche Biomasse stammt von den lokalen Äckern (vor allem Mais und Triticale, eine Kreuzung aus Roggen und Weizen) und Stallungen (vor allem Gülle), im Mittelpunkt steht eine Biogasanlage mit Blockheizkraftwerk. Der erzeugte Strom wird in das öffentliche Stromnetz eingespeist, während die bei der Verbrennung des Gases entstehende Abwärme mithilfe eiDas Land bietet auch Raum, alternative Lebensformen zu erproben. Das Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt bemüht sich um einen nachhaltigen Lebensstil.

ner 4 km langen Leitung für die Wärme- und Warmwasserversorgung von bisher 142 Haushalten genutzt wird – das sind 75 % aller Haushalte des Ortes. Die Wärmeversorgung

tensiv zu nutzendes Grünland. Außerdem werden Maß-

in den Wintermonaten wird zusätzlich durch ein Holz-

nahmen des Biotop- und Naturschutzes gefördert, z. B. für

hackschnitzelheizwerk unterstützt. Träger der Bioenergie-

Feucht- und Trockenbiotope, oder Maßnahmen zum Erhalt

anlage in Jühnde ist eine 2004 gegründete dörfliche Genos-

bedrohter Nutztierrassen. Die Ziele und Maßnahmen einer

senschaft, in der nicht nur alle Landwirte und Wärmekun-

nachhaltigen Landwirtschaft werden heute auch in den ein-

den Mitglieder sind, sondern auch die Gemeinde und die

schlägigen Agrarfakultäten der Universitäten behandelt:

Kirche.

Die neu gegründete Hochschule Rhein-Waal im niederrheinischen Kleve startete zum Wintersemester 2010/2011

cherweise wieder eine größere »geopolitische Bedeutung«.

mit einem Bachelorstudiengang »Sustainable Agriculture«,

Hiervon ist jedenfalls Christian Schwägerl überzeugt:

der somit die »nachhaltige Landwirtschaft« zu seinem Kern-

»Mit dem Ruf nach Bioenergie wird es möglich, dem Land

thema macht. Einen fakultäts- und länderübergreifenden

seine Bedeutung zurückzugeben und seine Bewohner da-

Masterstudiengang »Sustainable International Agricul-

von zu befreien, auf subventionierte Einkommen angewie-

ture« bieten die Universitäten Göttingen und Kassel an.

sen zu sein. Wenn die zu Energiewirten verwandelten Bau-

Ein wichtiges wirtschaftliches Standbein besteht für die

ern für Mobilität, Heizwärme und Chemiegrundstoffe der

moderne Landwirtschaft im Anbau von nachwachsen-

Gesellschaft mitverantwortlich sind, wird nicht mehr nur

den Rohstoffen. Dieser erstreckt sich heute bereits auf

von den städtischen Wissenschaftszentren, sondern auch

knapp 2,35 Mio. ha, das sind 20 % der deutschen Ackerflä-

von Bauernhöfen, Kleinkraftwerken und Bioraffinerien

che. Der größte Anteil entfällt hierbei auf Energiepflan-

auf dem Lande eine Nachfrage nach Arbeitern und quali-

zen (wie Holz als Festbrennstoff oder Pflanzen für Biogas)

fizierten Fachkräften wie Bioingenieuren, Betriebswirten

58

62

Die Pflanzenenergie gibt dem ländlichen Raum mögli-

mit ca. 1,7 Mio. ha. Auf etwa 0,3 Mio. ha werden Industrie-

und Anlagentechnikern ausgehen. Es besteht die Aussicht

pflanzen angebaut. Dazu gehören z. B. Ölpflanzen wie Raps

auf eine wirtschaftliche Wiederbelebung des Landes.«59 Aus

zur Schmierstoffproduktion oder Faserpflanzen wie Flachs

dem Betrieb von Erneuerbare-Energien-Anlagen wurden

für die Herstellung von Dämmstoffen. Die Energiepflanzen

2017 insgesamt 16,2 Mrd. Euro an Umsätzen erzielt.59a Die

leisten gegenwärtig mit knapp zwei Dritteln den größten

Erlöse und wirtschaftlichen Impulse kamen überwiegend

Beitrag zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien

dem Land zugute.

Das moderne Dorf

Schüler aus der vierten Klasse aus Lehnin im Kreis Potsdam-Mittelmark lernen einen Bauernhof kennen.

Neben der Produktion von Nahrungsmitteln und nach-

baut. Andere haben Bauernhauscafés in ihren Hofgebäuden

wachsenden Rohstoffen erfüllt die Landwirtschaft eine

eingerichtet, die mit dem Charme alter Bauernhäuser und

Reihe von sehr unterschiedlichen, marktorientierten wie

-gärten und Angeboten wie selbstgebackenen Torten punk-

gesellschaftlich gewünschten Dienstleistungen. Eine zu-

ten und nicht selten zu regionalen Attraktivitäten gewor-

sätzliche Einnahmequelle bietet sich für viele landwirt-

den sind. Immer häufiger anzutreffen, aber in Deutschland

schaftliche Betriebe in den Bereichen Freizeit und Touris-

im Vergleich etwa zu Österreich durchaus noch ausbaufä-

mus. Schon seit Jahrzehnten erfolgreich ist die Urlaubs-

hig, sind Hofläden. Hier werden hofeigene Produkte wie

form »Ferien auf dem Bauernhof«, die in Deutschland von

Wurstwaren, Obst, Gemüse, Honig oder Eingemachtes vom

rund 10 000 landwirtschaftlichen Betrieben angeboten

Erzeuger direkt an den Markt gebracht. Der Verbraucher

wird. Etwa 4,5 Millionen Menschen machen jedes Jahr in

hat eine ideale Möglichkeit, mit dem Erzeuger unmittel-

Deutschland Urlaub auf dem Bauernhof und geben dafür

bar in Kontakt zu treten und Näheres über die Entstehung

knapp 900 Millionen Euro aus. Sie wird vor allem von Fa-

der Lebensmittel zu erfahren. Manchmal werden von die-

milien mit Kindern gern genutzt, weil hier unmittelbare

sen Hofläden aus auch regionale Märkte beschickt oder pri-

Kontakte zu den Bauernfamilien, den Tieren und den an-

vate Verbraucher durch Bringdienste regelmäßig versorgt.

fallenden Hof- und Feldarbeiten möglich sind. Viele Bau-

Etwa 40, meist »kleinere« Dörfer in Deutschland bezeich-

ernhöfe, vor allem im stadtnahen Bereich, haben sich dem

nen sich heute bereits als Ökodörfer – hierzu gibt es aller-

Reitsport geöffnet und damit ein zweites Standbein aufge-

dings keine allgemein verbindliche Definition. Beispiele

60

Wirtschaft und Versorgung

63

Projekt der UN -Dekade »Bildung für Nachhaltige Entwicklung«. Neben den vom Markt bezahlten Produkten und Dienstleistungen erbringt die Landwirtschaft vermehrt auch von der Gesellschaft gewünschte Leistungen, die der Verbraucher nicht unmittelbar honoriert. Meist geht es um traditionelle und wertvolle Kulturlandschaften oder naturnahe Landschaften wie z. B. die Lüneburger Heide, die als Weidegrünland genutzten Täler oder Hochplateaus der Mittelund Hochgebirge sowie des Alpenvorlandes. Diese Gebiete sind oft besonders feucht oder trocken und haben nicht selten schwierige Hanglagen. Aus ökonomischen Gründen würde sich die Landwirtschaft heute aus diesen Flächen zurückziehen und diese der Verbuschung und Verwaldung überlassen, was zu einer »Verdunkelung« bisher offener Landschaften führen würde. Damit würden nicht nur alte und »schöne« Kulturlandschaften verschwinden, auch der Tourismus würde seine »wertvollste Ware« und Basis Die Landwirtschaft pflegt auch Kulturlandschaften durch Schafhaltung, hier die Lüneburger Heide.

verlieren. Der Staat hat nun aus Gründen des Denkmal- und Naturschutzes sowie des Freizeit- und Erholungswertes ein großes Interesse daran, die überlieferten Kulturlandschaf-

sind Brodowin in Brandenburg und Sieben Linden in Sach-

64

ten zu erhalten und zu pflegen. Also unterstützt er die tra-

sen-Anhalt. Das noch im Aufbau befindliche Ökodorf Sie-

ditionelle Landbewirtschaftung in diesen gefährdeten Re-

ben Linden hat derzeit 150 Einwohner und will in den

gionen durch öffentliche Fördermittel. Die im Jahr 2006

nächsten Jahren auf 300 Einwohner wachsen. Die als Ge-

von der Bundesregierung herausgegebenen neuen »Leitbil-

nossenschaft organisierte Dorfgemeinschaft möchte vor

der und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in

Ort die hohen Ziele einer ökologischen, kulturellen, sozi-

Deutschland« erklären die Erhaltung und Gestaltung der

alen und ökonomischen Nachhaltigkeit verwirklichen. Das

Ressource »Kulturlandschaft« zu einem der Hauptziele der

Ökodorf Sieben Linden ist seit 2006 offiziell anerkanntes

Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum.

Das moderne Dorf

Ein Forsthaus steht im Wald, ein Sägewerk im Dorf Zum Wandel der Forst- und Holzwirtschaft

Neben den Feldern und Weiden gehört der Wald zu

Knapp ein Drittel der Gesamtfläche Deutschlands – näm-

den Urelementen des ländlichen Lebens- und Wirt-

lich 32 % bzw. 11,4 Mio. ha – ist heute bewaldet.60a Um 1800

schaftsraumes. Schon in früheren Jahrhunderten hat

lag die Bewaldung noch bei 24 %, seitdem hat die Waldfläche

der Wald in vielfältiger Weise die Menschen ernährt.

stetig leicht zugenommen – auch in den letzten Jahrzehn-

Waldarbeiter und Förster waren wichtige dörfliche

ten noch, trotz einer ständigen Ausweitung der Siedlungs-

Berufe, Forsthäuser und Sägewerke prägten die Dorf-

und Industrieflächen. Hier schlagen vor allem die Auffors-

bilder. Trotz starken Wandels ist der Wald auch heute

tungen von Grenzertragsböden in den Mittelgebirgen zu

noch eine wichtige »Sparkasse« des ländlichen

Buche. Generell beschränkt sich der Waldbestand überwie-

Raumes. Und was manche nicht wissen: Die Forst-

gend auf die für die Landwirtschaft ungünstigen Flächen,

und Holzwirtschaft beschäftigt in Deutschland mehr

besonders auf die steinigen und reliefreichen Standorte

Menschen als die Automobilindustrie.

der Berg- und Hügelländer und des Mittel- und Hochgebirges sowie auf die leichten Sandböden des Norddeutschen

Die Forst- und Holzwirtschaft war und ist – wie die Land-

Tieflands. So ist der Bewaldungsanteil in Deutschland re-

wirtschaft – ein ganz typischer Wirtschaftszweig des länd-

gional sehr unterschiedlich: Er bewegt sich zwischen 61 %

lichen Raumes. Bereits in früheren Jahrhunderten trug der

im Landkreis Regen im Bayerischen Wald und 3 % im Land-

Wald wesentlich zu Einkommen und Wohlstand des Dorfes

kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein.

und vieler ländlicher Regionen bei. In den deutschen Mit-

Hinsichtlich der Verbreitung der Baumarten dominiert

telgebirgen gab es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hin-

in Deutschland heute das Nadelholz (54,2 %) gegenüber

ein zahlreiche »Waldarbeiterdörfer«, in denen die Mehrzahl

dem Laubholz (43,4 %), 2 % sind Lücken oder Blößen.61 Bis

der örtlichen Erwerbspersonen als Förster oder Waldarbei-

zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschte eine völlig andere

ter ihren Arbeitsplatz hatte. Auch heute ist die Forst- und

Situation: Deutschland war, mit Ausnahme der höheren Ge-

Holzwirtschaft besonders in den waldreichen Regionen der

birgslagen, ein reines Laubwaldgebiet. Die danach folgen-

Mittelgebirge immer noch ein wichtiger, manchmal sogar

den starken Umschichtungen der Waldbestände sind vor

der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Sie sorgt dort nicht nur für stabile Erträge und Einkommen, sondern stellt oft auch die Mehrheit der dörflichen Arbeitsplätze.

Abbildung oben: Durch Aussiedlung aus der beengten Dorflage entstand dieses moderne Sägewerk Rötenbach im Südschwarzwald.

Wirtschaft und Versorgung

65

allem dem Siegeszug der schnell wachsenden Fichten (heute

4 % dem Bund. 19 % der gesamten Waldfläche sind Körper-

26 %) und Kiefern (23 %) zuzuschreiben. Allerdings ist in

schaftswald, d. h. im Besitz von Städten und Gemeinden,

den letzten 20 Jahren der Laubholzanteil wieder allmäh-

von Zweckverbänden und anderen Körperschaften öffent-

lich, aber kontinuierlich angestiegen (Buche heute 16 %, Ei-

lichen Rechts. Der weitaus größte Teil des Körperschafts-

che 10 %). Der gesamte Holzvorrat in den Wäldern beträgt

waldes gehört dabei den Städten und Gemeinden, weshalb

etwa 3,7 Mrd. m . Damit sind die Holzvorräte in Deutsch-

er meist auch als Kommunalwald bezeichnet wird. Ein sehr

3

land höher als in den klassischen Waldländern Schweden

kleiner Teil der deutschen Waldfläche ist derzeit noch im

und Finnland. Der jährliche Holzeinschlag, d. h. die Holz-

Besitz der Treuhand. Dieser war im Zuge der Bodenreform

entnahme, liegt im Durchschnitt der letzten fünf Jahre bei

1945 bis 1949 im Gebiet der ehemaligen DDR enteignet und

ca. 76 Mio. m , während der jährliche natürliche Holzzu-

in Volkseigentum überführt worden und wird nun nach

wachs (durch das Wachstum der Bäume) auf über 122 Mio.

und nach privatisiert.

3

m3 geschätzt wird. Der Holzzuwachs ist somit derzeit deutlich höher als der Holzeinschlag.

Wie in der Landwirtschaft ist auch in der Forstwirtschaft die Anzahl der Betriebe in den letzten Jahrzehnten konti-

62

Wem gehört eigentlich der Wald in Deutschland? Etwa

nuierlich zurückgegangen. Immerhin bestehen heute noch

48 % der Waldfläche sind Privatwald. 33 % bestehen aus

etwa 180 000 forstwirtschaftliche Betriebe, inklusive der

Staatswald, wovon 29 % den Bundesländern gehören und

Nebenerwerbsbetriebe.63 Ein Merkmal der Bewirtschaftung des Waldes in Deutschland ist die häufige betriebliche Verknüpfung von Land- und Forstwirtschaft. Etwa 81 % aller

Lücken und Blößen 2,4 %

Betriebe mit Wald haben zugleich Landwirtschaft. Reine Forstbetriebe, die somit nur 19 % aller Betriebe mit Wald ausmachen, bewirtschaften allerdings insgesamt 88 % der Waldfläche. Die durchschnittlichen Waldflächen je Betrieb betragen bei den Gemischtbetrieben 9 ha, bei den reinen

Nadelholz 54,2 %

Forstbetrieben hingegen 296 ha.63a Einer großen Zahl von »Waldbauern« mit kleinen Waldflächen steht somit eine Waldfläche 30,2 %

Laubholz 43,4 %

sonst. Fläche 17,6 %

Ackerland 71,0 %

geringe Zahl von reinen Forstbetrieben mit großen Besitzungen gegenüber. Dass so viele land- und forstwirtschaftliche Gemischtbetriebe ihre oft kleinen Waldflächen nicht

Landwirtschaftsfläche 52,2 %

aufgeben, hat vorsorgende ökonomische Gründe: Man betrachtet den Wald als Produktionsreserve für besondere Investitionen (z. B. einen Traktor für die Landwirtschaft), für

Gebäude und Freiflächen 39,5 %

Erbgänge oder unvorhergesehene Krisen, was traditionell als »Sparkasse« für Notzeiten bezeichnet wurde. Da viele

Erholung 3,9 % Industrie 6,6 %

Verkehr 28,8 %

Dauergrünland 27,8 %

Weinbau 0,5 % Gartenbau 0,6 %

der rund 2 Mio. Waldeigentümer in Deutschland nur ein sehr kleines Waldstück besitzen, verzichten sie auf eine eigene Bewirtschaftung und bilden forstwirtschaftliche Zu-

Wasser 13,8 % Sonstige 7,4 %

Flächennutzung in Deutschland durch Land- und Forstwirtschaft sowie Bebauung und Verkehr 2012/201363c Statistisches Jahrbuch 2014 des Bundesministeriums f. Ernährung u. Landwirtschaft http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070100-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070200-2012.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -3070400-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik.de/SJT -7010300-2012.pdf

66

Das moderne Dorf

sammenschlüsse. Die Zahl der Arbeitskräfte in der Forstwirtschaft ist seit 1955 durch Rationalisierung und Mechanisierung ständig zurückgegangen. Durch die seit etwa zehn Jahren eingesetzten Vollerntemaschinen, auch Harvester genannt, hat der Schrumpfungsprozess noch einmal einen deutlichen Schub bekommen. Diese modernen Maschinen sind mit ihren bis zu 15 m langen Greifarmen in der Lage, vom Baum-

Neben dem Feld ist der Wald der elementare Lebens- und Wirtschaftsraum des Dorfes.

Wirtschaft und Versorgung

67

ren kleinen Gruppen zusammengefasst. Manchmal gehörte sogar eine einklassige Volksschule zu diesen kleinen Waldsiedlungen. Neben den Forst- und Waldarbeiterhäusern gehörten die Sägewerke zum normalen Dorfbild. Hier wurde das in den Wäldern geschlagene Holz geschält und zu Brettern und Balken gesägt – nicht selten erfolgte die Weiterverarbeitung des zugeschnittenen Rohholzes direkt in eigenen Zimmereien. Die Sägewerke lagen meist an der dem Wald zugewandten Dorfseite und waren leicht erkennbar an den langen Sägehallen sowie den in Reihen zum Trocknen aufgeschichteten Bretterstapeln. Der rasante Rationalisierungs- und Konzentrationsprozess in der Forst- und Holzwirtschaft seit etwa 1960 hat nicht nur die Zahl der Betriebe und der Beschäftigten in Ehemalige Forsthäuser stehen noch an vielen Dorf- und Waldrändern. Sie werden heute meist als reine Wohngebäude genutzt, wie die Oberförsterei Wilflingen in Oberschwaben lange Jahre durch Ernst Jünger.

diesen dorftypischen Branchen drastisch schrumpfen lassen. Auch anhand des Dorfbildes lässt sich dieser Wandel ablesen: So sind die meisten der früheren Sägewerke inzwischen aus den Dörfern verschwunden. Nur wenige ha-

68

fällen, Entasten, Entrinden bis zum Auf-Länge-Schneiden

ben sich halten und vergrößern können oder sind zu Zim-

und Wegtransport der Stämme praktisch die gesamte Pro-

mereibetrieben geworden. Auch in den Forst- und Waldar-

duktionskette der klassischen Waldarbeit in kürzester Zeit

beiterhäusern wohnen heute in der Regel keine Förster oder

auszuführen. Sie enthalten Bordcomputer und GPS -Tech-

Waldarbeiter mehr, da die unmittelbare Nähe der Wohnung

nik – wie die modernen Mähdrescher –, die alle wichti-

zum Wald durch die Motorisierung der Waldarbeiter nicht

gen Produktionsdaten und zusätzlich die genaue Position

mehr notwendig ist. Die weit abgelegenen Forst- und Wald-

der einzelnen Lagerplätze erfassen und überwachen. Viele

arbeiterhäuser werden heute häufig nur noch als Wochen-

Forstbetriebe verzichten heute mehr und mehr auf fest-

endhäuser oder Freizeitwohnsitze genutzt.

angestellte Waldarbeiter. Sie lassen die anfallenden Arbei-

Das von der Forstwirtschaft bereitgestellte Holz wird von

ten zunehmend von forstlichen Dienstleistungsbetrieben

der sog. »nachgelagerten« Holzwirtschaft verarbeitet und

durchführen, die die ganze Palette der modernen Forst-

verbraucht. Durch ihre Abhängigkeit von der Rohstoff basis

technik anbieten.

Wald besitzt die Holzwirtschaft nach wie vor eine quasi na-

Um 1950 war das klassische (und oft gemalte) Bild, das

türliche Standortlage im ländlichen Raum. Vor allem in

viele bis heute im Kopf haben, noch Wirklichkeit: In den

den waldreichen Mittelgebirgsregionen hat sich die Holz-

waldreichen Regionen wimmelte es geradezu von Forst-

wirtschaft als traditionelles ländliches Gewerbe bis heute

häusern, die den zahlreichen Forstbeamten als Wohn- und

behaupten können. Das wichtigste Bindeglied zwischen der

Betriebsgebäude dienten. Sie lagen an den Dorf- und Wald-

Forst- und der Holzwirtschaft ist die Sägeindustrie. Ihre

rändern, aber auch weiter abgelegen innerhalb der Wälder

Betriebe bilden die erste Bearbeitungsstufe des im Wald ge-

auf Waldlichtungen oder in Wiesentälern. Die Forsthäu-

ernteten Rundholzes, das im Wesentlichen zu Schnittholz

ser waren meist leicht erkennbar an ihrer gediegenen Ar-

verarbeitet wird.

chitektur, an Fensterläden und Brettverschalungen der Gie-

Ein Beispiel ist das Holzwerk Rötenbach im waldreichen

bel, am obligatorischen Hirschgeweih über dem Eingang.

Südschwarzwald. Das ursprünglich am Dorfrand gelegene

Sie waren meist umgeben von Holzschuppen und kleine-

Sägewerk war 1981 durch einen Großbrand zerstört und da-

ren Nebengebäuden. Die zahlreichen Waldarbeiterhäuser

raufhin auf eine Waldinsel »ausgesiedelt« worden (S. 65).

lagen, oft in Sichtweite zu den Forsthäusern, meist in locke-

Dass dies eine gute Entscheidung war, bestätigt heute Be-

Das moderne Dorf

Immer weniger Waldarbeiter werden heute in den Wäldern gebraucht. Moderne Vollernter erledigen mit ihren langen Greifarmen das Fällen, Entasten, Auf-Länge-Schneiden und den Wegtransport der Stämme in kürzester Zeit.

triebsleiter Roth: »Hier konnten wir uns platzmäßig aus-

industrie und das holzverarbeitende Handwerk vorgenom-

breiten und vergrößern und haben nun betriebswirtschaft-

men. Der Holzhandel sorgt schließlich für den Güteraus-

lich und standortmäßig eine optimale Lage. Wir verarbeiten

tausch von Holz und Holzprodukten zwischen holzreichen

überwiegend Holz aus der unmittelbaren Nachbarschaft.

und holzarmen Regionen sowie zwischen den verschiede-

Unser Standort lässt Möglichkeiten der Erweiterung zu,

nen Stufen der Verarbeitung und des Verbrauchs.

die wir am alten Standort im Dorf nie gehabt hätten.« Das

Der Selbstversorgungsgrad mit Holz und Holzpro-

Holzwerk produziert heute Schnitthölzer aller Art aus den

dukten liegt in Deutschland heute bei über 100 %. Es wer-

gängigen, heimischen Nadelholzarten. Es beschäftigt der-

den zwar relativ viel Rohholz und Holzhalbwaren impor-

zeit etwa 35 Mitarbeiter und hat einen durchschnittlichen

tiert. Durch den hohen Standard der Veredlungswirtschaft,

Jahresdurchsatz von rund 100 000 Festmetern Holz.

z. B. in der Papier- und Möbelindustrie, gehört Deutsch-

Die wichtigsten Zweige der Holzwirtschaft sind die Holz-

land gleichwohl zu den bedeutendsten Holzexporteuren

bearbeitung, die Holzverarbeitung und der Holzhandel.

der Welt. Sowohl mengenmäßig als auch wertmäßig kann

Die Holzbearbeitung erfolgt vor allem durch Sperrholz-,

die deutsche Forst- und Holzindustrie einen Ausfuhrüber-

Furnier- und Spanplattenwerke, die weitere Holzverarbei-

schuss bilanzieren.

tung wird dann u. a. durch die Papierindustrie, die Möbel-

In jüngerer Zeit hat die Verwertungskette Forst und

Wirtschaft und Versorgung

69

In Baruth in Brandenburg steht das größte Kiefern-Sägewerk Europas, das vor allem Massivholz für die Bauindustrie und die Heimwerkermärkte, aber auch Dachstühle produziert.

Holz ein wachsendes Absatz- und damit auch Arbeitsfeld

Umsatz von etwa 180 Mrd. Euro.64 Damit hat die deutsche

entwickelt. Holzabfälle aller Art, die bei der Holzgewin-

Forst- und Holzwirtschaft mehr Beschäftigte als die Auto-

nung und Holzverarbeitung anfallen, werden als erneuer-

mobilindustrie und erzielt einen höheren Umsatz als die

bare Energien genutzt: als Holzschnitzel, Holzrinde, Holz-

Elektroindustrie oder der Maschinen- und Anlagenbau. Die

pellets oder Holzbriketts. In Deutschland entfallen derzeit

Forst- und Holzwirtschaft ist also ein unterschätzter Riese.

rund die Hälfte der Holzverwendung jeweils auf die stoff-

»Ein arbeitsmarktpolitischer Gigant, aber in der Wahr-

liche und die energetische Nutzung.

nehmung der Bevölkerung und Politik ein Zwerg«, so be-

Die Wertschöpfungskette (modern: Cluster) Forst und

schreibt Prof. Andreas Schulte, Professor für Waldökono-

Holz trägt mit 55 Euro pro Jahr erheblich zur Wertschöp-

mie, Forst- und Holzwirtschaft an der Universität Münster,

fung der deutschen Volkswirtschaft bei. Dies wird man-

diesen Wirtschaftszweig in Deutschland.65 Für den länd-

chen erstaunen, weil doch in den Medien und in der Wahr-

lichen Raum ist der »Wert« der Forst- und Holzwirtschaft

nehmung der Bevölkerung meist andere Branchen domi-

noch höher zu veranschlagen als für den Gesamtstaat, weil

nieren. Die deutsche Forst- und Holzwirtschaft zählt heute

dieser unterschätzte Wirtschaftsriese weitestgehend hier

etwa 1,1 Mio. Beschäftigte. Sie ist hierzulande überwie-

und häufig gerade in strukturschwachen ländlichen Regi-

gend mittelständig bzw. kleingewerblich strukturiert. In-

onen angesiedelt ist.

gesamt erzielt der Cluster Forst und Holz einen jährlichen

70

Das moderne Dorf

Die Überwindung des »hölzernen Zeitalters« Von der Übernutzung des Waldes zur nachhaltigen Forstwirtschaft

Die vorindustrielle und Vorkohlezeit wird auch das

war der Schiffbau – für die holländische, englische oder

»hölzerne Zeitalter« genannt – Holz wurde damals für

spanische Flotte wurden erhebliche Teile der deutschen

alles gebraucht. Auch die Landwirtschaft nutzte den

Mittelgebirge abgeholzt. Man spricht vom »hölzernen Zeit-

Wald, vor allem in der Viehhaltung. Durch Übernutzung

alter«, das schließlich vom Kohlezeitalter abgelöst wurde.66

waren aber schließlich um 1800 viele Wälder in einem

Auch die Landwirtschaft war noch stark auf die Nut-

jämmerlichen Zustand, worüber zahlreiche zeitgenössi-

zung des Waldes angewiesen: Im Vordergrund stand die

sche Beobachter berichten. Seit etwa 200 Jahren gilt

Schweinemast, aber auch Kühe, Schafe und Ziegen wur-

in Deutschland das Leitbild der nachhaltigen Forstwirt-

den von den Bauern zur Fütterung in den Wald geführt.

schaft. Es hat im Wesentlichen zum heutigen Zustand

Man spricht hier von »Waldhude«. Als Futter dienten vor

und Wert der Wälder hierzulande geführt. Eine Erfolgs-

allem Eicheln, Bucheckern, Nüsse, Kastanien, aber auch

geschichte, um die uns manche benachbarte Länder

Blätter, Wurzeln und Pilze. Die bäuerliche Waldnutzung

wie England oder Irland beneiden.

entsprach meist alten und genau festgelegten Rechten, die streng überwacht und nicht selten Anlass zu Streitigkeiten

Die Waldnutzung in Deutschland hat in den letzten 200

wurden. Die Einkünfte aus der bäuerlichen Viehweide wa-

Jahren gewaltige Veränderungen erfahren, die durchaus de-

ren für die Waldeigentümer manchmal höher als die Holz-

nen in der Landwirtschaft vergleichbar sind. Generell war

einnahmen. Neben der Viehhude diente der Wald den Bau-

die ökonomische Nutzung der Wälder um 1800 vielschich-

ern zur Plaggenentnahme (in Heiden und Wäldern abge-

tiger, komplizierter und z. T. auch problematischer als heu-

stochene Oberbodenstücke) für die Düngung der Felder, als

te. Die Nachfrage nach Holz und anderen Waldprodukten

Holz-, Laubfutter- und Streulieferant (für den Stall) und

war riesengroß. Holz war noch der alleinige Energieträger,

vielfach auch als periodisches Ackerland. So wurde im Rah-

ca. 80 % des Holzeinschlags wurden verheizt oder verkohlt,

men einer Feld-Wald-Wechselwirtschaft auf abgeholzten

das Stein- und Braunkohlezeitalter begann erst um 1830

Flächen für ein bis zwei Jahre Getreide angebaut. Die Gren-

bis 1850. Darüber hinaus war Holz ein unverzichtbarer Bau-

zen zwischen Wald(-wirtschaft) und Feld(-wirtschaft) wa-

und Werkstoff. Aus Holz war fast alles: Gebäude und Hausrat, landwirtschaftliche Geräte und Werkzeuge, Zäune sowie Transportmittel aller Art. Ein gewaltiger »Holzfresser«

Abbildung oben: Durch nachhaltige Forstwirtschaft entstand in Deutschland seit etwa 200 Jahren der heute dominierende Hochwald.

Wirtschaft und Versorgung

71

ren vielfach fließend. Die heute meist optisch sichtbaren

von Holzkohle weit verbreitet. Sehr viel Holz benötigten

und scharfen Grenzen zwischen Feld und Wald stellten da-

vor allem die Glashütten und Aschenbrennereien, die sich

mals eher eine Ausnahme dar.

als »holzfressendes Gewerbe« in den waldreichen deutschen

Die enge Verquickung von Wald- und Landwirtschaft

Mittelgebirgen in großer Dichte angesiedelt hatten. Ähnli-

hatte u. a. zwei wesentliche Nachteile. Intensive Plaggen-

ches gilt für die Eisenhütten. Auch die zahlreichen, an den

und Holzentnahme, Viehweide und Streuharken führten

Solequellen zur Gewinnung von Salz errichteten Salinen

zu Zerstörungen der Vegetationsdecke und der Waldböden

brauchten viel Holz. So soll die Lüneburger Heide ihre Ent-

selbst, sodass eine Wiederaufforstung ehemaliger Waldflä-

stehung dem »Holzhunger« der Lüneburger Saline verdan-

chen später oft kaum möglich war. Die bäuerliche Wald-

ken, in der im 17. Jahrhundert jährlich 150 000 m3 Holz ver-

mitnutzung stand also der modernen Forstwirtschaft im

feuert wurden.68

Wege, wie der Jahresbericht der Landeskulturgesellschaft

Der Zustand des Waldes war zu Beginn des 19. Jahrhun-

in Arnsberg von 1856 nüchtern feststellt: »Die Wald-Wirt-

derts in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern Euro-

schaft macht zwar in den sichtbar mehrenden Nadelholz-

pas, von Übernutzung und Verfall geprägt. Die Bestände

Culturen erhebliche Fortschritte, kann aber ihre Erbfeinde:

zeigten viele Blößen und schlechte Stammformen der

den Plaggenhieb, das Streu- und Laubsammeln und die

Bäume. Ein Teufelskreis von Waldzerstörung und gleich-

Hude nur nach und nach aus dem Felde schlagen.«67

zeitigem Holzmangel wird in zeitgenössischen Quellen

Neben der Landwirtschaft war auch das vorindustrielle

festgestellt. So beschreibt ein Gutachten von 1708 an den

Gewerbe bis etwa 1850 in starkem Maße an den Energieträ-

preußischen König die Wälder im Sauerland als »dergestalt

ger Holz bzw. Holzkohle und damit an die Waldnutzung

verhauen, dass überall Mangel an Bauholze und Brand-

geknüpft, weshalb für entsprechende Gründungen häu-

holze vorhanden« ist. Gut hundert Jahre später berich-

fig Waldstandorte (in den Mittelgebirgen) gewählt wur-

tet ein französischer Minister von einer Inspektionsreise

den. Bis etwa 1850 war die Waldköhlerei zur Herstellung

durch das Bergische Land 1810: »Der Boden ist trocken und

Bis ins frühe 20. Jahrhundert nutzte auch die Landwirtschaft den Wald in vielfältiger Weise. Im Vordergrund stand die Schweinemast, hier ein Beispiel der Waldhude aus Braunshausen im Sauerland um 1920.

72

Das moderne Dorf

unfruchtbar; hier und da sind die Berge mit Ginster und

sondern die langfristige Bestandssicherung. Keine Genera-

Buschwerk bewachsen, die auf einstmals abgeholzte Wäl-

tion darf sich auf Kosten der folgenden aus dem Wald be-

der verweisen, wo die Vegetation aber zu schwach ist, um

reichern. Das Prinzip der nachhaltigen Forstwirtschaft war

die ihr von den Landesbewohnern zugefügte Schmach wie-

zunächst rein ökonomisch gedacht, sowohl für den einzel-

der zu heilen.«

Der abgewirtschaftete Wald war offenbar

nen Betrieb als auch für die Volkswirtschaft. Heute versteht

dermaßen geschädigt, dass er sich aus eigener Kraft nicht

man es mehr und mehr auch im ökologischen Sinne. In

erholen konnte. Denn durch Bevölkerungswachstum und

Deutschland ist die Nachhaltigkeit der Forstwirtschaft im

die beginnende Industrialisierung war der Holzverbrauch

Bundeswaldgesetz von 1975 sowie in den Landeswaldgeset-

noch einmal sprunghaft angestiegen. Als Betriebsart do-

zen verankert. Inzwischen ist das Prinzip der Nachhaltig-

minierte seinerzeit der sog. »Niederwald« mit kurzen Um-

keit von der Forstwirtschaft auf fast alle Politik- und Wirt-

69

triebszeiten, sodass sich kaum starkes, ausgewachsenes

schaftsbereiche übertragen worden. So unterscheidet man

Nutzholz (wie im sog. »Hochwald«) entwickeln konnte. Ein

heute zwischen ökologischer, ökonomischer und sozialer

Beispiel: In Niedersachsen betrug der Holzvorrat in leben-

Nachhaltigkeit und spricht von nachhaltiger Landwirt-

den Bäumen um das Jahr 1800 nur 20 Mio. m , heute sind

schaft, Medizin, Architektur usw.

3

es 60 Mio. m . 3

Ein grundlegender Baustein für den Wiederaufbau der

Die Umgestaltung der herabgewirtschafteten Wälder,

Wälder im Sinne der modernen Forstwirtschaft waren die

mit der man in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert be-

Agrarreformen des 19. Jahrhunderts mit der Auflösung der

gann, hatte mehrere ökonomische und politische Antriebs-

grundherrschaftlichen Lehensverhältnisse und damit auch

kräfte. Die permanente Holznot, die in den Quellen immer

der komplexen Besitzstrukturen. Die zahlreichen Wald-

wieder genannt wird, wurde zum vorrangigen Gründungs-

rechte der Bauern, z. B. Holz-, Weide- und Sammelrechte,

motiv einer modernen Forstwirtschaft. Diese wollte und

wurden durch Grundabtretung oder Geldzahlungen »be-

musste sich zunächst aber von der Bürde der Landwirtschaft befreien, die Waldwirtschaft galt doch als »Filiale der Landwirtschaft«.70 Der Kampf um den Wald war aber auch ein politischer Konflikt: Die vielfachen älteren Nutzungsrechte am Wald standen der neuen Forstpolitik im Wege. Aber zuletzt konnte sich das neue ökonomische Leitbild einer nachhaltigen Forstwirtschaft immer stärker durchsetzen.

Wirtschaft, Dorfbevölkerung

Ackerbau, Viehhaltung

Viehhaltung

Nahrung Laub, Gras

Das Prinzip einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung ist erstmals im Jahr 1713 vom sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz formuliert worden. Es ent-

Viehhaltung

Streunutzung, Plaggenhieb

bis heute gültig ist: »Unter Nachhaltigkeit ist das Streben verstehen.« Die wesentlichen Zielsetzungen der nachhalti-

Nahrung, Kleidung

Wald Baugewerbe für Haus-, Industrie- und Eisenbahnbau

nach Dauer, Stetigkeit und Gleichmaß der Holzerträge zu 71

Beeren, Pilze Jagd: Wildbret, Felle

der nun enstehenden modernen Forstwirtschaft und ForstGeorg Ludwig Hartig, dessen zeitlose Definition von 1795

Bau-, Brennholz

Waldweide

wickelte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Leitbild wissenschaft in Deutschland. Einer ihrer Mitbegründer war

Haus und Hof

Bergbau

Bauholz

Lohrinde Gerbereien

Grubenholz

Holzkohle

Pottaschensiederei

gen Forstwirtschaft bestehen also darin, dem Zuwachs und

Brennholz Eisenindustrie, Schmelzhütten, Hammerwerke

der Nutzung des Holzaufkommens stets die Waage zu halten (»nur so viel Holz schlagen wie nachwächst«). Zugleich sollen die natürlichen Standortbedingungen gefördert so-

Industrielles Gewerbe

Glashütten, Garnbleichen, Seifensiedereien

(Kalk-)Brennereien, Brauereien, Salinen, Ziegeleien

wie die Flächengröße des Waldes gesichert werden. Nicht das kurzfristige Betriebsergebnis steht im Vordergrund,

Traditionelle Nutzungen des Waldes vom 17. bis 19. Jahrhundert in Deutschland

Wirtschaft und Versorgung

73

Ein schönes Kalenderblatt für den Monat Januar aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt, wie und wann Waldnutzung und Waldarbeit vor 200 Jahren ausgeübt wurden. Holz war sehr kostbar, und wie man sieht, nutzte man auch die Zweige.

reinigt« und durch klare Eigentumsregelungen ersetzt. Die

Hochwald wurden sicherlich dadurch erleichtert, dass mit

Folge war, dass sich die Zahl der Waldbesitzer stark redu-

dem beginnenden Kohlezeitalter die Wälder als Energie-

zierte und dass kleinere Waldstücke zu größeren Flächen

träger entlastet wurden.

arrondiert wurden. Außerdem wurde die sog. »Feld-Wald-

74

Den Wandel vom multifunktionalen Wald vor 200 Jah-

Wirtschaft«, die wechselnde Nutzung einer Fläche als Wald

ren zum heutigen Forstwald beschreibt Gerhard Mitscher-

oder Feld, mehr und mehr zurückgedrängt und schließlich

lich sehr anschaulich, wobei offensichtlich auch ein Stück

ganz beseitigt.

Wehmut oder Nostalgie mitschwingt: »Im Walde, in dem

In forstwirtschaftlicher Hinsicht begann seit etwa 1800

es Jahrhunderte hindurch vom Hundegebell und Hörner-

der Umbau der bis dahin vorherrschenden, überwiegend

klang der höfischen Jagden, von dem Geschrei der Viehhir-

kurz- bis mittelfristig genutzten Mittel- und Niederwälder

ten, dem Blöken, Wiehern, Muhen, Meckern und Grunzen

in sog. »Hochwälder«. Diese sind auf längere Produktions-

des Viehs, dem Axthieb der Felgen- und Bohlenhauer und

zeiträume (ca. 80–200 Jahre) ausgerichtet und verfolgen als

dem Pochen der Eisenhämmer geschallt hatte, wo allent-

Wirtschaftsziel die Erzeugung von starkem, ausgewachse-

halben die Kohlenmeiler, die Teer- und Aschengruben ge-

nem Nutzholz. Der Hochwald macht in Deutschland heute

raucht, die Schmelzöfen gequalmt hatten, wurde es nach

ca. 98 % der Bestände aus. In der ökonomischen Bilanz

und nach still. Er war nun nicht mehr Lebensraum, wie bis-

konnten Ertragsleistung und Produktionskraft des Wal-

her, sondern wurde Stätte einer planmäßigen, systemati-

des durch den Umbau zum Hochwald wesentlich gesteigert

schen Holzproduktion, die nur noch möglichst wertvolles

werden. Die Übergänge vom Nieder- und Mittelwald zum

Holz liefern sollte.«72

Das moderne Dorf

Der Wald ist für alle da!? Die heutigen gesellschaftlichen Aufgaben des Waldes

Der Wald ist der Deutschen liebstes Kind. Er präsen-

onen« und »Lebensraumfunktionen«. Lassen sich all diese

tiert sich heute als eine Art eierlegende Wollmilchsau.

unterschiedlichen Ziele ohne Konflikte erreichen? Die mo-

So zahlreich und unterschiedlich sind die Leistungen,

derne multifunktionale Forstwirtschaft soll es richten. Sie

die er für die Gesellschaft zu erbringen hat und die

soll eine dreifache Nachhaltigkeit anstreben und verwirk-

sich nicht alle leicht miteinander vereinbaren lassen.

lichen: die ökonomische Nachhaltigkeit für die Holzpro-

Er soll Holz und Biomasse produzieren. Er soll Arbeits-

duktion, die ökologische Nachhaltigkeit für Natur und

plätze sichern und die Wirtschaft des ländlichen

Klima, die soziale Nachhaltigkeit für Freizeit, Entspan-

Raumes stabilisieren. Er soll Boden, Wasser, Luft und

nung und Bildung der Menschen.

Klima schützen und die Vielfalt der Pflanzen- und Tier-

Die Schutzfunktionen des Waldes im Bereich Natur –

welt erhalten. Außerdem soll er der Erholung und dem

Umwelt zeigen sich an erster Stelle in seinen positiven Wir-

Tourismus dienen. Eine moderne multifunktionale

kungen auf Wasser, Luft, Klima und Boden. Zunächst ein-

Forstwirtschaft steht bereit, all dies zu gewährleisten.

mal gilt der Wald als Wasserfilter, der einen Teil der Schad-

Wird ihre Arbeit auch honoriert?

stoffe aufnimmt und damit der Reinhaltung von Grundund Oberflächenwasser dient. Außerdem ist der Wald ein

Der Wald ist eine unerschöpfliche Quelle für Wohlstand

vorzüglicher Wasserspeicher, der Niederschlagsschwan-

und Wohlergehen. Er kann sehr viel, aber auch die Ansprü-

kungen ausgleichen und damit die Stetigkeit der Wasser-

che an ihn sind sehr hoch. Er hat in erster Linie seine Nutz-

abgabe verbessern kann. Dem Klima dienen Wälder vor al-

funktion zu erfüllen, d. h. vor allem Holz zu produzieren,

lem durch die Aufnahme von CO2 aus der Atmosphäre und

das als Bau- und Werkstoff sowie als Brennstoff seine öko-

durch die Bindung von Kohlenstoff. So sind in 1 m3 Holz

nomische Verwertung findet. Darüber hinaus haben Staat

etwa 250 kg Kohlenstoff gebunden, der während des Baum-

und Bevölkerung eine Reihe von hohen Erwartungen und

wachstums als CO2 aus der Atmosphäre entfernt wurde.73

Forderungen an den Wald. Man spricht von »gesellschaft-

Wälder sind also permanente Kohlenstoffsenken und die-

lichen Aufgaben«, die der Wald bzw. die Waldeigentümer

nen daher dem Weltklima mit seiner hohen CO2-Belastung

und die Forstwirtschaft zu erbringen haben. Er soll die Natur und das Klima schützen und zugleich der Erholung und dem Tourismus dienen. Andere nennen es »Schutzfunkti-

Abbildung oben: Ein Waldweg wie im Bilderbuch: hier können Wanderer, Radfahrer oder Reiter sich bewegen und entspannen.

Wirtschaft und Versorgung

75

durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Auf lokaler

und Lebenstempo der Menschen immer wichtiger gewor-

Ebene bietet der Wald zunächst einmal Windschutz, er be-

den. Für die Bevölkerung, die überwiegend in naturfernen

wahrt Siedlungen, Erholungsanlagen und landwirtschaft-

Räumen lebt und arbeitet, bietet der Wald einen Ausgleich

liche Nutzflächen vor nachteiligen Windeinwirkungen

mit guter Luft, natürlichen Reizen und Ruhe. Das Wandern,

und vor Kaltluftschäden. Außerdem fördern Wälder den

Joggen und Radfahren im Wald zählt heute zu den belieb-

Luftaustausch und verbessern durch ihre Produktion von

testen Freizeitbeschäftigungen. Auch die Tourismusbran-

Sauerstoff das Kleinklima benachbarter Wohngebiete. Im

che weiß und profitiert davon, dass der Wald und speziell

Vergleich zu anderen Nutzungen bewirkt der Wald einen

die Waldränder zu den beliebtesten Landschaftselementen

optimalen Bodenschutz. Er bewahrt seinen Standort vor

zählen. Waldreiche Regionen wie Harz, Thüringer Wald

Wassererosion, Bodenabtrag und Austrocknung und sorgt

oder Schwarzwald gehören zu den bevorzugten Erholungs-

durch die ständige Humusbildung für eine Kultivierung

gebieten, die ganzjährig Menschen zu Freizeit- und Sport-

von ursprünglich waldfreien Rohböden. Speziell im Hoch-

aktivitäten anziehen. Zu den traditionellen Freizeitnutzun-

gebirge bieten Wälder einen natürlichen Schutz gegen La-

gen des Waldes kann nicht zuletzt auch die Jagd gerechnet

winen, Steinschlag und Erdrutsche.

werden.

Als zweite und nicht minder wichtige Natur-Schutz-

Der Wald bietet den Menschen nicht nur viele Möglich-

funktion bietet der Wald unendlich vielfältige Lebens-

keiten der Entspannung, sondern auch eine Fülle von Na-

räume für Pflanzen und Tiere. In der immer dichter besie-

turinformationen, die für Bildungszwecke genutzt wer-

delten und vom Menschen umgestalteten Landschaft gehört

den können. Unter dem Stichwort »Waldpädagogik« sind

der Wald zu den wenigen noch natürlichen bzw. natur-

in den letzten Jahrzehnten zahllose Angebote einer unmit-

nahen Biotopen. Besonders seltene oder gefährdete Pflan-

telbaren Natur- und Umwelterziehung entwickelt worden.

zen- und Tiergesellschaften werden deshalb unter Schutz

So gibt es Waldkindergärten und Waldschulen, Lern-, Lehr-

gestellt, Schutzgebiete werden ausgewiesen. Man unter-

und Erlebnispfade im Wald, Waldquiz-Veranstaltungen

scheidet in Deutschland sechs verschiedene Schutzgebiets-

und Waldjugendspiele sowie immer mehr geführte Wald-

kategorien, wobei Landschaftsschutzgebiete den extensivs-

begehungen durch Förster und spezielle Waldpädagogen

ten und Nationalparke den intensivsten Schutz beinhalten.

für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die Waldpäda-

41 % der Wälder in Deutschland gehören heute bereits zu ex-

gogik zielt darauf ab, den Wald nicht nur in seinen kom-

tensiven (niederrangigen) Schutzgebieten wie Landschafts-

plexen ökologischen und klimatischen Zusammenhängen

schutzgebieten und Naturparken, 26 % zu intensiven (hoch-

und seiner wirtschaftlichen Nutzung zu erklären, sondern

rangigen) Schutzgebieten wie Naturschutzgebieten und

auch mit allen Sinnen zu erfassen und z. B. den natürlichen

Nationalparken. Nationalparke umfassen gegenwärtig 1 %

Geräuschen und Klängen der Bäume, des Windes, der Vögel

der deutschen Waldfläche, sie weisen u. a. hinsichtlich der

und Wildtiere zu lauschen.

Baumartenzusammensetzung die größte Naturnähe auf.74

76

Der Wald ist tief in der Kultur unseres Landes verwur-

Im human-sozialen Bereich dient der Wald vor allem

zelt. Die Wörter »Wald« und »Baum« sind in manchen ge-

der Erholung. Das wunderbare Goethe-Wort »Ich ging im

läufigen Redensarten enthalten, z. B. »vor lauter Bäumen den

Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein

Wald nicht sehen« oder »auf dem Holzweg sein«. In zahl-

Sinn« ist wie ein Motto der Waldsehnsucht der Deutschen,

reichen Orts-, Flur- und Familiennamen sind alte Wald-,

die in ihrer Freizeit wohl kaum einen Ort so häufig aufsu-

Holz- und Baumbezeichnungen überliefert, Beispiele hier-

chen wie den Wald. 55 Mio. Waldbesucher im Jahr hat das

für sind Waldsachsen, Holzhausen/Holthausen und Köhler.

zuständige Bundesministerium geschätzt. Die Erholungs-

Auch im Brauchtum spielen Bäume eine wichtige Rolle wie

wirkungen des Waldes zielen zum einen auf die Erhaltung

der Weihnachtsbaum oder der Maibaum. Wald und Bäume

oder Wiederherstellung der physischen Gesundheit und

besitzen für die Menschen offenbar besonders starke ge-

zum anderen auf das psychische oder ästhetische Wohl-

fühls- und fantasieanregende Eigenschaften, sie sind in ge-

empfinden des Menschen. Beides ist parallel zur Urbanisie-

wisser Weise Teil der Volksseele. Dies zeigt auch ein Blick

rung der Bevölkerung, zum wachsenden Leistungsdruck

in die Kunst- und Kulturgeschichte Deutschlands und Eu-

Das moderne Dorf

Seit einigen Jahrzehnten betreibt die Waldpädagogik durch zahllose Angebote im Wald eine unmittelbare Natur- und Umwelterziehung, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet: hier ein Waldlehrpfad am Edersee in Nordhessen.

ropas – in unseren religiösen Traditionen haben Wald und

kann der Mensch die rohen Kräfte der Natur erfahren, aber

Bäume eine starke symbolische oder mystische Bedeutung:

auch Orientierung und innere Erfüllung und zu sich selbst

als Sitz von Gottheiten, Heiliger Hain oder Baum der Er-

finden. Hier können ihn »die Fratzen der Gesellschaft […]

kenntnis.

nicht bekriegen«, wie es Mörike in seinem schönen Gedicht

In zahllosen Volksliedern und Märchen, in der Dicht-

»Am Walde« vor 150 Jahren beschrieb (s. S. 199). Oder in

kunst, in der Malerei und Musik ist der Wald das beherr-

Eichendorffs »Abschied«, wo der berühmten Zeile »O schö-

schende Thema. Als Kinder haben wir alle in »Hänsel und

ner, grüner Wald« ein »Andächt’ger Aufenthalt« zur Seite

Gretel« den gefährlich tiefen Wald kennengelernt, als Ju-

gestellt wird, oder gegenüber der »geschäft’gen Welt […] da

gendliche das Lied »Waldeslust« gesungen oder die Wald-

draußen« der Wald als schützendes »grünes Zelt« erscheint.

bilder von Caspar David Friedrich interpretiert. In zahlrei-

Der Wald spielt nicht nur in der Kunst und Volkskultur

chen Opern (z. B. »Der Freischütz«), Symphonien und So-

eine große Rolle, sondern auch in den Gefühlen der Land-

naten spielt der Wald eine tragende Rolle: Er ist ein Ort des

bewohner. Und er prägt nicht zuletzt die Vorstellungen der

Geheimnisvollen, des Gefährlich-Bedrohlichen, aber auch

Städter vom Landleben.

der sinnlichen Freuden, der Geborgenheit, des Schutzes

Die vielfältigen Interessen und Nutzungswünsche der

und der Ruhe vor dem geschäftigen Treiben der Welt. Hier

Gesellschaft an den Wald können durchaus zu Nutzungs-

Wirtschaft und Versorgung

77

Das berühmte Gemälde von Caspar David Friedrich »Der Abend« entstand um 1820, Vorbild waren wohl die großen Wälder der Region Mecklenburg/Insel Rügen. Die hier vermittelte friedliche wie geheimnisvolle Waldstimmung prägt bis heute unsere Gefühle zum Wald.

konflikten führen. So stehen die Interessen der Waldeigen-

spiel ist der Bayerische Wald, seit 40 Jahren Nationalpark.

tümer an der Ertrag bringenden Holzproduktion in Kon-

Hier wird die Natur weitgehend sich selbst überlassen und

kurrenz zu den Interessen hinsichtlich Naturschutz sowie

z. B. der Borkenkäfer nicht bekämpft. Für die einen entsteht

Erholung und Freizeit der Bürger. Einen Kompromiss zwi-

dadurch ein hässliches Landschaftsbild mit toten Stangen-

schen den Belangen der Forstwirtschaft, des Naturschut-

wäldern, was andere als schöne, ursprüngliche Natur emp-

zes und der Erholungssuchenden versuchen die Naturparke

finden. Seit vier Jahrzehnten stehen sich zwei Waldkultu-

und Landschaftsschutzgebiete, die häufig große Waldge-

ren gegenüber, die alle den Wald lieben. Was die Ökologen

biete umfassen. Ihr Ziel ist es, die Schönheit und Eigenart

und Touristiker erfreut, erzürnt die Bewohner. Heinrich

ursprünglicher Landschaften vor Schädigung und Eingrif-

Geier von der Schutzbewegung Bayerischer Wald: »Es ist

fen zu bewahren und zugleich für die erholungssuchenden

eine Katastrophe. Kein Wunder, dass die Touristen wegblei-

Menschen zu erschließen. Die forstwirtschaftliche Nut-

ben. Wer will schon durch tote Wälder wandern.« Rainer

zung bleibt erlaubt. Zu den typischen Infrastruktureinrich-

Bomeisl, der oberste Touristiker der Region, vertritt hin-

tungen von Naturparken gehören Parkplätze, Wanderwege,

gegen die Seite der Ökologie und des Naturerlebens: »Die

Spielplätze, Waldlehrpfade und Schutzhütten.

meisten finden es interessant. Es gibt keinen anderen Ort in

Schon eher Nutzungskonflikte entstehen in Nationalparken mit ihren intensiveren Schutzvorschriften. Ein Bei-

78

Das moderne Dorf

Deutschland, wo Wildnis so erlebbar ist.«75 Ein wachsendes Aufgabenfeld der modernen Forstwirt-

schaft sind die modernen Waldschäden. Durch jahrzehnte-

daher zunehmend in Richtung eines ökologischen Wald-

lange Beobachtungen hat man gute Kenntnisse von »natür-

baus. Dessen oberstes Ziel ist in Deutschland die Erhaltung

lichen« Waldschäden, die durch Klima- und Wettereinflüsse,

bzw. Wiederbegründung naturnaher und standortgerech-

durch Pflanzen und Tiere ausgelöst werden. Gefürchtet

ter Laubmischwälder. Nicht weniger wichtig ist die Wie-

sind hier vor allem die schweren Orkane, wie zuletzt Kyrill

derbelebung der Strauch- und Nebenbaumarten wie Weide,

im Januar 2007, die immer wieder große Massen an Sturm-

Erle, Vogelbeere, Himbeere und Brombeere, die als Lebens-

holz verursachen. Seit Beginn der 1980er Jahre rücken zu-

räume der Insekten eine große Rolle spielen. Weiter von

nehmend die anthropogenen, d. h. vom Menschen verur-

Bedeutung ist die sog. »Naturverjüngung« der Bestände

sachten, Waldschäden ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.

(durch Selbstsaat) und die möglichst häufige Verzahnung

Bezeichnungen wie »Waldsterben« deuten an, dass es sich

verschiedener Altersstufen. Spezielle Biotope wie Tümpel,

hier um eine ernsthafte Bedrohung des Ökosystems Wald

Quellen, Bachläufe, Felsen, magere Hänge und andere sog.

handelt. Es bestehen heute kaum noch Meinungsverschie-

»Grenzertragsflächen« (ökonomisch unrentable Standorte)

denheiten darüber, dass die Gesamtheit der Luftverschmut-

werden mehr und mehr sich selbst überlassen und als »Na-

zung hier die Hauptverantwortung trägt.

turwaldzellen« aus der intensiven forstlichen Nutzung ge-

Neben den Schädigungen des Waldes von außen liegt die

nommen. Zu den Aufgaben der Walderhaltung und natur-

zweitwichtigste Ursache der Waldschäden im fehlerhaften

nahen Waldpflege gehört auch eine angemessene Reduzie-

Waldbau selbst. Als Schadensgründe gelten hier u. a. Mono-

rung des Wildbestands durch die Jagd.

kultur, Nadelholzdominanz und Kahlschlagwirtschaft. Die

Die vielfältigen Aufgaben des Waldes werden durch eine

Überlegungen und Maßnahmen zur »Waldheilung« gehen

aktive Forstpolitik gesichert. Traditioneller Schwerpunkt

Durch National- und Naturparke betreibt der Staat die Interessen des Natur- und Umweltschutzes. Dazu gehören auch ausreichende Parkplätze, Wanderwege und Beschilderungen für Waldliebhaber und Erholungsuchende, hier ein Wegweiser im Nationalpark Bayerischer Wald.

Wirtschaft und Versorgung

79

der Forstpolitik war bis vor etwa 40 Jahren die Unterstüt-

von der Gesellschaft gefordert und von der Forstwirtschaft

zung der Bewirtschaftung des Waldes. Dem Ziel einer ren-

erfüllt werden, auch hinreichend honoriert? Die Antwort

tablen und leistungsfähigen Forstwirtschaft dienten forst-

der Fachwissenschaftler und Fachbehörden lautet »Nein«.76

politische Maßnahmen wie Aufforstungen von Ödland

Die Einrichtung von Naturschutzgebieten und Naturwald-

und Grenzertragsböden, Waldflurbereinigungen, Bauten

zellen, die Öffnung des Waldes für Wander-, Rad-, Trimm-

von Forstwirtschaftswegen und Förderungen von klein-

dich- und Reitwege oder Kletterparcours, die vielfältigen

betrieblichen Zusammenschlüssen. Seit den 1970er Jahren

waldpädagogischen Maßnahmen verursachen Personal-

treten die Wohlfahrtsfunktionen des Waldes immer stärker

und Sachkosten, die von der Forstwirtschaft meist ohne Ge-

in den Vordergrund und wurden schließlich auch zum Be-

genleistung erbracht werden. Waldeigentümer, Forstwirt-

standteil der Forstpolitik. Die Schutz- und Erholungsaufga-

schaft und nicht zuletzt der ländliche Raum können jedoch

ben des Waldes werden nun als gleichberechtigt neben die

erwarten, dass ihre »gesellschaftlichen Leistungen« für den

traditionellen wirtschaftlichen Nutzfunktionen gestellt.

Wald auch angemessen bezahlt werden.

Man spricht heute vom Leitbild einer multifunktionalen

Für die konzentrierte Bearbeitung der vielfältigen The-

Forstwirtschaft bzw. Mehrzweck-Forstwirtschaft. Das mo-

men aus den Bereichen Wald und Holz ist vom Bundes-

derne Forstrecht hat in Deutschland die gesellschaftlichen

ministerium für Ernährung und Landwirtschaft zum

Aufgaben des Waldes bereits in der Forstgesetzgebung ver-

1. 1. 2019 das Kompetenz- und Informationszentrum Wald

ankert. So wurde z. B. das grundsätzliche Betretungsrecht

und Holz (KIWUH ) eingerichtet und bei der Fachagentur

des Waldes zum Zwecke der Erholung im Bundeswaldge-

Nachwachsende Rohstoffe (FNR ) in Gülzow in Mecklen-

setz von 1975 festgelegt. Die vorrangigen Ziele des Waldes,

burg-Vorpommern eingerichtet worden. (Wald und Holz

die Holzerzeugung auf der einen sowie die Erholungs- und

in Deutschland. Jan. 2019) Die Plazierung dieser neuen Be-

Schutzfunktionen auf der anderen Seite, gelten heute nach

hörde unterstreicht das doppelte Anliegen des Bundesmi-

dem Forstrecht prinzipiell als gleichwertig.

nisterium, Landthemen auch auf dem Land zu bearbeiten

An dieser Stelle steht jedoch eine wichtige Frage im Raum: Werden die vielfältigen Aufgaben der Wälder, die

und zugleich durch Dezentralisierung von Dienststellen dem Land auch Wirtschaftskraft zu geben.

Vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wurde 2019 das neue Kompetenz- und Informationszentrum Wald und Holz (KIWUH ) im Dorf Gülzow bei Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern errichtet.

80

Das moderne Dorf

Müller, Schneider, Schuster, Schmied Von der Blütezeit des traditionellen Dorfhandwerks

Im »alten« Dorf lebten nicht nur Bauern, Land- und

Holz und Wasserkraft) und Bodenschätzen begründet war:

Waldarbeiter, sondern auch schon eine beachtliche

Bergbau, Metall- und Holzindustrie, Glas- und Tuchindus-

Anzahl und Vielfalt an Handwerkern und Händlern.

trie hatten ihre Standorte vor allem in ländlichen Regio-

Quasi zur Grundausstattung gehörten der Schneider,

nen, vornehmlich in den Mittelgebirgen wie Schwarzwald,

Schuster, Schmied, Müller, Krämer und Wirt. Zunächst

Harz, Sauerland und Erzgebirge.78

war das dörfliche Gewerbe nicht durch Reichtum

Bis vor 200 Jahren war das Handwerk nach den gelten-

geprägt, daher betrieben viele Handwerker eine zu-

den Gewerbeordnungen zunächst einmal eine Domäne der

sätzliche kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung.

Städte. Vor allem die städtischen Zünfte waren bestrebt, die

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Blüte-

handwerkliche Produktion auf dem Land zu begrenzen

zeit des Dorfhandwerks, die gut 100 Jahre andauerte.

oder zumindest den Absatz von dörflichen Handwerksprodukten in der Stadt zu verhindern. Mit dem sog. »Städte-

Gerade das »alte« Dorf wird meistens mit der Land- und

zwang« versuchten auch viele Landesfürsten, das Handwerk

Forstwirtschaft identifiziert. Dieses Bild ist aber nicht voll-

zur Niederlassung in den Städten zu zwingen. Zunftwe-

ständig – denn auch die nicht agrare Wirtschaft hat im Dorf

sen und Städtezwang konnten jedoch die Entwicklung des

eine lange Tradition. Dörfliches Handwerk gab es bereits

Handwerks auf dem Land nicht aufhalten. Bereits zugelas-

im Mittelalter. Die immer wieder zitierte frühere Autar-

sen waren hier jene Handwerkszweige, die für den tägli-

kie des Dorfes, d. h. seine wirtschaftliche Unabhängigkeit,

chen Bedarf des Dorfes arbeiteten und häufig als klassische

gründete nicht zuletzt auf handwerklichen und gewerbli-

Dorfhandwerke bezeichnet werden: Schmied, Radmacher,

chen Tätigkeiten und Berufen. Einen regelrechten Boom

Zimmermann, Maurer, Tischler, Müller, Bäcker, Schneider,

von Handwerksgründungen können wir im 18. Jahrhun-

Leineweber und Schuhmacher. Neben den Handwerkern

dert feststellen: Im württembergischen Nehren vervier-

gab es auch schon einzelne Händler in den Dörfern, so z. B.

fachte sich die Zahl der Handwerker zwischen 1714 und

den Kaufmann und den Wirt. So schreibt ein Kenner des

1799 von 25 auf 103, während die Einwohnerzahl zwischen

Westerwaldes im Jahr 1783: »Auf ihren Dörfern nisten sich

1730 und 1800 lediglich von 751 auf 1056 anstieg. Auch das 77

frühindustrielle Gewerbe siedelte sich meist im ländlichen Raum an, was in dessen Reichtum an Energie (besonders

Abbildung oben: In der Dorfschmiede gab es Vieles zu arbeiten, auch das Pferdebeschlagen gehörte dazu: hier eine Szene um 1900.

Wirtschaft und Versorgung

81

Danzig

Lübeck Bremen

Hamburg Stettin

Berlin

Osnabrück Te ut

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Eisenach

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Frankfurt/M.

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Linz

Gebiete des Textilgewerbes

er

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Gebiete der Eisenproduktion und -verarbeitung

Wien

Steyr

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vorwiegend landwirtschaftliche Nutzung

Kaufbeuren

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Malapane

Ober-

Pilsen

München

Ravensburg

Breslau

Goldberg

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50

100

150

200

250 km

Steiermark

Die vorindustriellen Gewerberegionen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts überwiegend in den rohstoff- und energiereichen Mittelgebirgen Mittel- und Süddeutschlands angesiedelt. Dies gilt besonders für die Eisen- und Glasproduktion.

82

Krämer ein«, die den Bewohnern »Zucker, Gewürze, Taback

um 1800 bereits eine erhebliche Bedeutung, die jener des

und Halstücher, Sacktücher, Stoffe, Schnallen und derglei-

Stadthandwerks kaum nachstand. Trotz ihrer großen Prä-

chen verkaufen«.79

senz in den Dörfern war die wirtschaftliche Lage des Land-

Die Durchdringung des ländlichen Raumes mit Hand-

handwerks zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs gut.

werkern und Händlern verlief keineswegs gleichmäßig. So

Die meisten Handwerker waren gezwungen, ihre Existenz

konnte sich das Handwerk in den wohlhabenden Bauern-

durch eine gleichzeitig betriebene Klein- bzw. Kleinstland-

dörfern der Börden eher entwickeln als in kleinbäuerlichen

wirtschaft oder durch zeitweilige Arbeiten als Tagelöhner

Mittelgebirgsdörfern. Außerdem hat offenbar das vorherr-

abzusichern. Somit war die Masse des ländlichen Hand-

schende Erbrecht der Realteilung Handwerksgründungen

werks durch ständige Armut geprägt. Gleichwohl stieg die

begünstigt, wie eine hohe Handwerkerdichte in südwest-

Anzahl und die Vielfalt der Handwerks- und Handelsbe-

deutschen Dörfern zeigt. Generell hatte das Landhandwerk

triebe in den Dörfern.

Das moderne Dorf

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte in Deutsch-

komplizierten Dienst-Lehen-Verhältnis mit seinem Grund-

land ein stetiges Vordringen liberaler Grundsätze, die sich

herren befreite Bauer wurde nun unternehmerisch freier

schließlich auch in Reformen und Gesetzen niederschlu-

und motiviert, seine landwirtschaftliche Produktion zu

gen. Das ländliche Handwerk konnte davon ganz wesent-

steigern. Er konzentrierte sich auf die Erzeugung von Nah-

lich profitieren. Als erster deutscher Staat führte Preußen

rungsmitteln und überließ alle übrigen Arbeiten mehr und

im Jahr 1810 die Gewerbefreiheit ein und hob damit den

mehr dem Handwerker. Die aufblühende Landwirtschaft

Städtezwang auf. Jeder Gewerbetreibende erhielt damit das

brauchte außerdem neue Geräte und vor allem größere und

Recht der Betriebsgründung und Niederlassung im ganzen

solidere Hof- und Wirtschaftsgebäude, wovon besonders

Land. Das dörfliche Handwerk konnte sich nun ohne städ-

das ländliche Bauhandwerk profitierte.

tische Vorbehalte entwickeln. Weitere Impulse brachten die

Einen wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fort-

Agrarreformen des frühen 19. Jahrhunderts. Der aus dem

schritt erfuhren die Dorfhandwerker mit der Einführung

Mühlen waren die Energiezentren des alten Dorfes, meist durch Wasser oder Wind angetrieben. Hier wurden vielerlei Nahrungs- und Gebrauchsgüter wie Mehl, Öl, Papier oder Bretter hergestellt, im Bild die Grander Mühle bei Mölln.

Wirtschaft und Versorgung

83

wirtschaft. Insgesamt sind damals also etwa zwei Drittel aller dörflichen Haushalte im Handwerk oder Handel tätig! Auch die Breite der in diesem relativ kleinen Dorf bereits vertretenen nicht agraren Berufe ist beachtlich: An der Spitze standen die Leineweber (6), Schneider (5) und Krämer bzw. Spezereihändler (5), gefolgt von Schuhmachern (4), Viehhändlern (4), Metzgern (3), Bäckern (2), Büttnern (2) und Maurern (2). Jeweils einmal vertreten war ein Bierbrauer/Gastwirt, Wagner, Müller, Schmied, Zimmermann, Wundarzt, Seiler, Fuhrmann, Schreiner, Sattler, Seifensieder, Bader und eine Stickerin.80 Mit der Industrialisierung, die sich in Deutschland seit etwa 1850 rasant durchsetzte, veränderte sich auch das ländliche Handwerk. Durch Technik, Mechanisierung und Motorisierung entstanden ständig neue Möglichkeiten der Das »Schlachten« gehörte bis in die 1970er Jahre zu den Selbstverständlichkeiten des Dorfes. Hier posiert um 1930 der Dorfschlachter mit der Bauernfamilie stolz vor dem geschlachteten Schwein.

Serien- und Massenproduktion, sodass sich die traditionell vom Handwerk geleistete Güterherstellung mehr und mehr in die Industriebetriebe verlagerte. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes förderte den Markt und den Austausch von

der politischen Gemeinde. In der früheren Dorfmarkge-

Massengütern. Die Existenz des (dörflichen) Handwerks

meinde waren nur die Bauern vollberechtigte Dorfmarkge-

schien durch die Fabrik bedroht – vom unausweichlichen

nossen. In der neuen Dorfgemeinde erhielten alle Dorfbe-

Niedergang des traditionellen Handwerks war die Rede.

wohner – und nicht zuletzt auch die meist landlosen oder

Die »Reaktionen« des Handwerks auf Industrialisie-

landarmen Handwerker – die gleichen Rechte. Der Dorf-

rung und Massenproduktion waren sehr unterschiedlich.

handwerker wurde somit zum gleichberechtigten und so-

Einige Zweige wurden von der Konkurrenz der Fabriken

zial geachteten Dorfbürger. Dies kam bald darin zum Aus-

beiseite gedrängt, andere wiederum konnten sich die mo-

druck, dass er im Gemeinderat neben dem Bauern eine füh-

derne Technik und Mechanisierung zunutze machen. Zu

rende Rolle spielte.

den schrumpfenden Handwerkszweigen auf dem Land

Die Reformen seit Beginn des 19. Jahrhunderts brachten

gehörte recht bald der Leineweber, da die industrielle Ferti-

dem Dorfhandwerk einen großen Aufschwung. So kam

gung zuerst den Textilsektor erfasste. Vom Niedergang be-

es zu einer Gründungswelle von Handwerksbetrieben. Zu-

troffen waren ebenfalls das Schmiede-, Wagner-, Stellma-

nehmende Bedeutung gewannen die Bauhandwerker wie

cher- und Sattlerhandwerk sowie durch beginnende Kon-

Maurer, Zimmerleute und Tischler, aber auch die der Land-

zentrationen das dörfliche Müller- und Molkereigewerbe.

wirtschaft unmittelbar zugewandten Schlosser. Dazu ka-

Zu den stagnierenden Handwerkszweigen auf dem Land

men Bäcker und Metzger, die einen allmählichen Rück-

zählten hingegen die Schneider, Schuster, Schlosser und

gang der traditionellen Selbstversorgung der Bauern und

Klempner. Das Schwergewicht ihrer Arbeiten verlagerte

Handwerker mit Nahrungsmitteln anzeigen.

sich allerdings mehr und mehr von der Neuproduktion auf

Einen schönen Beleg für die große Dichte und Breite an Handwerks- und Handelsbetrieben bietet uns das fränki-

84

Reparaturen, Änderungen, Wartung und Installation von Industrieprodukten.

sche Dorf Kunreuth mit seinen etwa 450 Einwohnern im

Wachsende ländliche Handwerkszweige waren das Bau-

Jahr 1848: Von den insgesamt 77 privaten Anwesen sind

gewerbe und das Nahrungsmittelhandwerk – vor allem

nur 33 % reine Landwirtschaftsbetriebe, 43 % dagegen reine

Bäcker und Metzger. Des Weiteren brachte die Technisie-

Handwerks- oder Handelsbetriebe, 24 % betreiben neben

rung und Motorisierung der Landwirtschaft einen neuen

dem Handwerk oder Handel zusätzlich eine kleine Land-

Handwerkszweig hervor: den Landmaschinenmechani-

Das moderne Dorf

Das erzgebirgische Seiffen zeigt sich hier in vorweihnachtlicher Stimmung. Das weit über die Region hinaus bekannte Holzschnitzdorf mit seinen zahlreichen Drechsler-Werkstätten gilt als die Wiege der Nussknacker, Räuchermänner und Lichtpyramiden und zieht besonders im Winter zahlreiche Besucher aus dem In- und Ausland an. Die sehr detaillierte wie beliebte Schnitzkunst hatte sich nach dem Ende des Erzbergbaus entwickelt.

ker, der sich durch Spezialisierung aus dem Schmiedehand-

Deutschlands, so in Bayern und Baden-Württemberg, wird

werk entwickelt hatte. Aber auch ehemals typische Stadt-

sogar von einer Blütezeit des dörflichen Handwerks ge-

handwerke wie Uhrmacher, Friseure, Optiker und Installa-

sprochen. Dies gilt auch für das Aufbaujahrzehnt nach

teure fanden nun ihren Eingang ins Dorf. Das Einkommen

dem Zweiten Weltkrieg, die 1950er Jahre, die als bislang

der Landhandwerker war um 1900 bis in die 1930er Jahre

letzte »Hochphase« des traditionellen Dorfhandwerks gel-

hinein überwiegend zufriedenstellend. In vielen Teilen

ten können.

Wirtschaft und Versorgung

85

Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt Handwerk und Gewerbe auf dem Land von 1950 bis heute

Noch 1950 war es für jedes mittelgroße Dorf eine

Gewerbezweige waren im Ort mindestens einmal vertreten.

Selbstverständlichkeit, einen Schneider, einen Schuh-

So gab es im Dorf u. a. sieben Schneider, sieben Schuhma-

macher, einen Schreiner, einen Schmied, einen Bäcker,

cher, sechs Schreinereien, vier Schmieden, zwei Bauge-

einen Metzger und ein Baugeschäft zu haben.

schäfte, zwei Klempner, zwei Bäckereien, einen Landma-

Sie alle arbeiteten ausschließlich für das eigene Dorf.

schinenbetrieb, eine Raiffeisengenossenschaft, einen Zim-

Das ist Geschichte – viele Handwerksbetriebe sind

mereibetrieb, einen Malerbetrieb, einen Fotografen, einen

ganz verschwunden, andere haben sich behauptet und

Sattler, einen Uhrmacher, einen Friseur und einen Hut-

modernisiert. Sie haben nur noch selten dörfliche,

macher. Dazu kamen sechs Gasthöfe (drei davon mit Hotel-

sondern überwiegend regionale Kundenkreise.

betrieb), vier Lebensmittelläden, zwei Textilgeschäfte, ein

Dafür sind ganz neue Branchen ins Dorf eingezogen:

Buch- und Papiergeschäft, eine Apotheke, eine Drogerie,

Spezialfirmen für regenerative Energien oder für Soft-

eine Tankstelle, zwei Banken, eine Landwirtschaftsschule,

und Hardwareentwicklung residieren heute nicht selten

eine Realschule, eine katholische und eine evangelische

in ehemaligen Bauernhöfen.

Volksschule, ein Kindergarten, eine Post, ein Polizeiposten und ein Krankenhaus.

Die frühen 1950er Jahre: ein Blick in mein westfälisches

Das knapp skizzierte Dorf der 1950er Jahre war vor al-

Heimatdorf Fürstenberg, das damals etwa 2000 Einwohner

lem durch sein breites Angebot an handwerklichen und

hatte. Das Dorf war voller Arbeitsplätze, praktisch alle hier

gewerblichen Betrieben wirtschaftlich unabhängig. Es

lebenden Erwerbstätigen arbeiteten im Ort. Es gab so gut

konnte sich weitgehend mit Gütern und Dienstleistun-

wie keine Auspendler. Deutlich führender Wirtschafts-

gen selbst versorgen und war somit autark wie die meisten

zweig war seinerzeit, wie in den meisten deutschen Dörfern,

Dörfer ab etwa 500 Einwohnern in Deutschland. Ein kur-

die Land- und Forstwirtschaft. Aber immerhin existierte

zer Blick in die Gegenwart meines Heimatdorfes lässt die

damals in jedem dritten Haus ein Handwerks- oder Gewer-

dramatischen Verluste der zurückliegenden Jahrzehnte er-

bebetrieb. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich noch eine kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln. Gut ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitete in einem der lokalen Handwerksbetriebe. Alle wichtigen

86

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Auch der Dorfschuhmacher oder Schuster war ein Allrounder. In seiner Werkstatt war er zugleich Hersteller und Reparateur von Schuhen, Taschen und Gürteln.

kennen. So sind heute gerade die traditionellen Dorfhandwerke wie Schneider, Schuster, Schmied und Sattler längst ganz aus dem Dorf verschwunden. Die Zahl der übrigen Gewerbezweige und -betriebe hat sich drastisch reduziert. Vergleichbare Beobachtungen kann man in den meisten Dörfern in Deutschland machen. Was ist passiert seit der letzten »Blütezeit« des Dorfhandwerks in den frühen 1950er Jahren bis heute? In den Jahrzehnten ab etwa 1955 erfolgte in Deutschland der zweite und endgültige Industrialisierungsschub, der durch die beiden Weltkriege eine Verzögerung erfahren hatte. Technisierung und Motorisierung erfassten bald auch das Land und zwangen das dörfliche Handwerk zu einem radikalen Strukturenwandel. Es kam einerseits zu gravierenden Schrumpfungsprozessen, andererseits aber auch zu expandierenden und neuen Handwerks- und Gewerbezweigen auf dem Land. Weitgehend verschwunden aus den Dörfern sind neben

Aus dem traditionellen Dorfhandwerk haben sich manchmal moderne Folgebetriebe entwickelt, so wurden aus Schmieden Kfz-Werkstätten mit Tankstellen, wie hier im Landkreis Vechta.

dem klassischen Dorfhandwerk auch randliche Berufssparten wie Bierbrauer, Seiler, Korbflechter oder Haus-

Treppen, Kleinmöbeln oder auch Wintergärten konzent-

schlachter. Stark rückläufig ist – durch den Einzug der

riert. Verstärkt in die Dörfer eingezogen sind gewerbliche

Großmärkte auf das Land – auch das Bäcker- und Metzger-

Angebote im Gesundheits-, Wellness- und Freizeitbereich:

handwerk. Ebenfalls abnehmend sind die Zahlen der Be-

Physiotherapeutische und logopädische Praxen, Altenpfle-

triebe und Beschäftigten im Bauhandwerk, nachdem die

geeinrichtungen, Sonnenstudios, Schönheitsfarmen und

Baubooms der 50er, 70er und 90er Jahre vorbei sind. Die

Fitnesscenter gehören in den größeren Dörfern und Klein-

Abgänge der genannten handwerklichen Betriebe und Be-

städten des ländlichen Raumes heute bereits zum Standard.

schäftigten sind, bei vorsichtiger Schätzung, bei 60–80 %

Einen nicht zu unterschätzenden Impuls hat der länd-

anzusetzen. Derartige Verluste sind nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auch in unseren Nachbarländern zu beobachten. Zu den auch auf dem Land expandierenden Gewerbezweigen gehören die durch die moderne Technik geprägten »industriellen Folgehandwerke«: das Elektrohandwerk, die Radio-, Fernseh- und Computertechnik, die Sanitärund Heizungstechnik, das Kraftfahrzeughandwerk. Häufig sind derartige Handwerkszweige aus Betrieben des traditionellen Handwerks hervorgegangen. Inzwischen sind sie mit modernsten Maschinen ausgestattet und nicht selten auf bestimmte Produkte oder Dienstleistungen spezialisiert. So wurden alte Schmieden häufig zu modernen Kfz-Werkstätten mit Tankstellen umfunktioniert, andere spezialisierten sich auf Kunstschmiedearbeiten oder die Restaurierung von Oldtimern. Traditionelle Schreinerbetriebe haben sich dagegen auf die Herstellung von Fenstern, Türen, Das Elektro- und Sanitärhandwerk ist auf dem Land gut vertreten. Häufig werden ehemalige Bauernhöfe genutzt, wie dieses Beispiel in Grafenberg bei Metzingen zeigt.

Wirtschaft und Versorgung

87

In vielen deutschen Dörfern gibt es den einen mittelständischen Betrieb, in dem ein Großteil der lokalen Bevölkerung beschäftigt ist. Wie hier im oberfränkischen Treppendorf, wo Europas größter Musikhändler angesiedelt ist.

88

liche Raum seit den 1960er Jahren durch Industriansied-

Eine neuere Entwicklung hingegen ist die Ansiedlung

lungen erfahren, die häufig mit staatlichen Programmen

von kleinen Dienstleistungsfirmen in den Dörfern nach

gefördert worden sind. Außerdem haben großräumige

dem Motto »Kühe raus – Computer rein«. Die oft nur klei-

Verkehrsprojekte, wie neue Autobahnen oder Regional-

nen Büros sind medien- und kommunikationstechnisch

flughäfen, der wirtschaftlichen Entwicklung vieler länd-

bestens ausgestattet und in ihrem räumlichen Aktionsra-

licher Regionen genutzt. Diese Förder- und Infrastruktur-

dius überregional, manchmal sogar europa- und weltweit

programme entsprechen einem Grundanliegen der Raum-

ausgerichtet. Die »Neuen Dienstleister« sind z. B. in den Be-

ordnungspolitik, gleichwertige Lebensbedingungen in

reichen Handel (Agrartechnik, Energieprodukte, Compu-

allen Teilgebieten des Staates zu schaffen. Insgesamt haben

tertechnik, Kosmetik/Körperpflege, Metallverarbeitung

die staatlichen Investitionen dazu beigetragen, auch abge-

u. a.) oder fachspezifische Dienstleistungen und Beratungen

legene ländliche Regionen zu stabilisieren und Abwande-

(Bildung/Forschung, Versicherungen, Ingenieursdienst-

rungsverluste der Bevölkerung zu begrenzen.

leistungen, Redaktionstätigkeit, Jobvermittlung u. a.) tätig.

Das moderne Dorf

Dass manchmal auch große und überregional bedeu-

len Massenproduktion gefunden und eine wirtschaftlich

tende Gewerbebetriebe in Dörfern residieren, ist keine Sel-

gestärkte Position eingenommen. Unter den Wirtschafts-

tenheit. So berichtete die FAZ am 20. 3. 2010 unter der Über-

sektoren im ländlichen Raum besitzt die gewerbliche

schrift »Klangvoll und bodenständig«81 von Europas größ-

Wirtschaft heute bereits eine führende Position – gegen-

tem Musikhändler, der sein Geschäft im oberfränkischen

über der Land- und Forstwirtschaft! Zur Stabilisierung von

150-Seelen-Dorf Treppendorf 20 km westlich von Bam-

Handwerk und Handel hat sicherlich auch deren Selbst-

berg betreibt. 55 000 Artikel (Musikinstrumente, Musik-

verwaltung beigetragen. So ist das deutsche Handwerk seit

und Bühnentechnik) werden hier vorgehalten. Allein 6000

1897 durch die Handwerkskammern organisiert, die u. a.

Gitarren und Bässe sind am Lager, von denen 1400 in ei-

die Lehrlings- und Meisterausbildung durchführen und

ner der Spezialabteilungen präsentiert werden. Das Dorf-

darüber hinaus zahlreiche Bildungsprogramme anbie-

geschäft begann 1954 mit der Ausstattung einer dörflichen

ten. Dies trägt dazu bei, dass das (ländliche) Handwerk in

Blaskapelle und beschäftigt heute 600 Mitarbeiter. Der Fir-

Deutschland einen weltweit beachteten hohen Standard be-

mengründer war ein leidenschaftlicher Trompeter, die fünf

sitzt.

Kinder, die heute in der Firma arbeiten, haben alle ein Blas-

Insgesamt haben viele ländliche Regionen in Deutsch-

instrument gelernt. Man kann die FAZ -Überschrift fort-

land in jüngerer Zeit eine über dem Bundes- und Landes-

setzen: Klangvoll, bodenständig und erfolgreich – und gut

durchschnitt liegende Entwicklung genommen. Schwer-

für das Land!

punkte des deutschen Maschinenbaus oder der Elektro-

Im Rückblick der vergangenen 50 Jahre sind die Verän-

industrie befinden sich z. B. in ländlichen Regionen

derungen des dörflichen Gewerbes gewaltig. Einige tradi-

Baden-Württembergs, Westfalens oder Niedersachsens. So

tionelle Zweige wurden von der Industrieproduktion zu-

sitzen in zahlreichen Dörfern des abgelegenen Sauerlan-

rückgedrängt und z. T. ganz beseitigt. Andere konnten sich

des oder Emslandes hoch spezialisierte Firmen, die sich mit

durch Nutzung des technischen Fortschritts, durch Motoren

ihren Hightechprodukten auf dem Weltmarkt behaupten

und Maschinen völlig neue Aufgaben und Schwerpunkte

(»Hidden Champions«). Der ländliche Raum verfügt viel-

erschließen. Grundsätzlich hat sich das ländliche Gewerbe

fach über eine robustere Wirtschaftstruktur als manche

von seiner früheren Verquickung mit landwirtschaftli-

Verdichtungsgebiete, was vor allem auf die hier vorherr-

cher Tätigkeit gelöst und als eigenständiger Berufsstand

schenden flexibel agierenden mittelständischen Betriebe

emanzipiert. Sein Kundenkreis ist über das eigene Dorf hi-

sowie seine zuverlässigen und bodenständigen Mitarbeiter

nausgewachsen. Es hat seine Nische neben der industriel-

zurückgeführt wird.

Wirtschaft und Versorgung

89

Die neue Lebensader vieler Dörfer Tourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung

Die Schönheit und Natürlichkeit des ländlichen

immer größere Landstriche und stieß auch in die Mittel-

Raumes hat immer schon die Menschen angezogen.

gebirge wie Harz oder Schwarzwald vor. Nach dem Zwei-

Zu den ersten Touristen in Deutschland gehörten eng-

ten Weltkrieg entwickelte sich der Tourismus nahezu flä-

lische Adlige und Künstler, die bereits im 18. Jahr-

chendeckend im ländlichen Raum. Es gibt heute kaum eine

hundert das romantische Mittelrheintal entdeckten.

ländliche Region in Deutschland, die sich nicht als loh-

Heute präsentieren sich fast alle ländlichen Regionen

nenswertes Fremdenverkehrsgebiet darstellt und um Gäste

als touristische Ziele. Doch schöne Dörfer und Land-

wirbt.

schaften allein sind nicht genug – sie müssen auch

Viele Bürgermeister und Regionalpolitiker befassen sich

zugänglich gemacht werden und besondere Attraktio-

regelmäßig mit der Frage, wie sie ihre Gemeinde oder Re-

nen bieten: durch Hotels, Rad- und Wanderwege,

gion touristisch entwickeln können. Im Vordergrund steht

Uferpromenaden, Seebrücken, Kurparke, Bäder, Eislauf-

dabei zunächst der Blick auf das natürliche und kultur-

hallen oder Skilifte. Nur so können Dörfer und Klein-

räumliche Erholungspotenzial einer Landschaft. Hier

städte vom Tourismus heute profitieren.

kann der ländliche Raum mit seinen typischen Standortvorteilen besonders punkten. Für eine hohe natürliche Er-

Die Entwicklung der modernen Gesellschaft zu immer

holungseignung sorgen vor allem Gewässer- und Wald-

mehr Freizeit, Erholung und Reisen kommt in erster Linie

ränder. Außerdem steigern die Vielfalt und der Kontrast

dem ländlichen Raum zugute. In manchen ländlichen Re-

der Landnutzung (z. B. Grünland, Ackerland, Moor, Heide)

gionen ist der Tourismus heute bereits der führende Wirt-

und der Topographie (z. B. Tal- und Bergzüge) den Erho-

schaftszweig. Er gilt als neue Lebensader, nachdem Land-

lungswert einer Landschaft. Nicht zuletzt zählt ein gesun-

und Forstwirtschaft, Fischerei oder Bergbau vielerorts ihre

des Klima. Das höchste natürliche Erholungspotenzial ha-

frühere Bedeutung verloren haben. Die Entwicklung be-

ben in Deutschland neben den Küstenlandschaften und

gann punkthaft im 18. Jahrhundert in Badeorten mit Heil-

dem Hochgebirge vor allem die seereichen Landschaften,

quellen wie Driburg oder Kissingen, im Mittelrheintal, auf

Mittelgebirge, Flusstäler und besonders auch die Weinbau-

Bauernhöfen am Alpenrand sowie in Fischerdörfern an der Küste und auf den Inseln der Nord- und Ostsee. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste der Fremdenverkehr

90

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Der moderne Tourismus begann im späten 18. Jahrhundert, hier das Badehaus Goor von 1811 in Lauterbach auf Rügen.

regionen. Relativ gering hingegen ist die natürliche Erho-

nen ganzjährigen Kurverkehr eingerichtet. Heilbäder und

lungseignung z. B. bei den monoton genutzten Ackerbau-

Kurorte sind heute in allen ländlichen Regionen Deutsch-

landschaften der Börden. Neben dem natürlichen hat auch

lands – z. T. in erstaunlicher Dichte – anzutreffen. Die Ent-

das kulturräumliche Erholungspotenzial für die Entwick-

wicklung des Kur- und Badetourismus begann vielerorts

lung des Tourismus eine hohe Bedeutung. Hierzu gehören

bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so z. B. in

vor allem schöne Orts-, Flur- und Waldbilder, aber auch

Pyrmont, Meinberg, Driburg, Lauchstädt, Hofgeismar oder

einzelne Bau- und Naturdenkmäler wie Burgen, Schlösser,

Kissingen. In diesen neuen »Sommerfrischen« kamen vor-

Mühlen, Ruinen, Parkanlagen und Quellteiche sowie nicht

nehmlich der Adel und das gehobene Bürgertum zusam-

zuletzt Brauchtum und historische Feste.

men, um sich in gleichgesinnten Kreisen und in unge-

Um das vorhandene natürliche und kulturräumliche Po-

zwungenem Rahmen austauschen zu können. Sie brachten

tenzial einer Landschaft für den Tourismus zu nutzen, sind eine Reihe von öffentlichen und privaten Einrichtungen und Leistungen erforderlich. An erster Stelle steht hier das Übernachtungs- und Gastronomiegewerbe: Hotels, Pensionen, Gaststätten, Restaurants, Cafés. Dazu kommt die Verkehrserschließung in Form von Zufahrten, Parkplätzen, Wanderwegen usw. Besonders wichtig sind nicht zuletzt die spezifischen Angebote eines Ortes oder einer Region – z. B. für Sport und Spiel: Frei- und Hallenbad, Tennis- und Golfplätze, Reithalle, Eissporthalle und Skilifte; für Unterhaltung und Kultur: Bücherei, Museum, Vorträge, organisierte Führungen und Wanderungen; für medizinische und gesundheitsfördernde Behandlungen: Kurmittelhaus, Trinkhalle, Wellness- und Kneippanlagen. Die immer weitere Erschließung natürlicher Landschaften kann zu einer Beeinträchtigung des Erholungswertes einer Landschaft führen und damit dem Tourismus selbst schaden. Darauf hat bereits 1975 Jost Krippendorf mit seinem Buch »Die Landschaftsfresser« aufmerksam gemacht. Heute gilt daher die Zielvorgabe des sanften bzw. nachhaltigen Tourismus. Dieser wendet sich gegen allzu rigide Erschließungs- und Baumaßnahmen und versucht, die Erhaltung der Natur mit den Ansprüchen der Bewohner und der Gäste in Einklang zu bringen. Die große Masse der deutschen Freizeit- und Erholungsorte liegt im ländlichen Raum, d. h. in Dörfern und Kleinstädten. Nach den jeweils in einem Ort vorherrschenden natürlichen und »entwickelten« Angeboten unterscheidet man Kurorte, Seebäder, Sommererholungsorte und Wintersportorte. Die Kurorte basieren in der Regel auf Heil- oder Thermalquellen. Sie haben sich mit ihren hoch qualifizierten Angeboten wie Spezialkliniken, Sanatorien, Kurheimen, Wandelhallen, Bade- und Kurmittelhäusern meist auf eiAn nahezu allen deutschen Flüssen, wie hier im Altmühltal, finden sich heute Radwanderwege. Sie sind gut ausgebaut, beschildert und sehr beliebt bei Jung und Alt.

Wirtschaft und Versorgung

91

Die touristisch geprägten Küsten- und Inseldörfer haben ihr Flair häufig durch die historische Bäderarchitektur, die vorwiegend im 19. und frühen 20. Jahrhundert enstanden ist. Hier ein Blick in die Strandpromenade von Binz auf Rügen.

92

Das moderne Dorf

Nach den Küsten und Inseln gehören die Mittel- und Hochgebirge zu den beliebtesten Tourismusgebieten, vor allem im Winter. Hier ein Blick vom Berggasthof Seeweg bei Oberstdorf auf das Skigebiet Söllereck in den Deutsche Alpen.

eine Prise Urbanität auf das Land, von der die aufgesuchten

sucht nach urwüchsigen Landschaften und fernen Zeiten

Dörfer und Kleinstädte mittel- und langfristig profitieren

(z. B. die »Loreley«), das bis heute für viele Reisen Gültig-

konnten. In manchen dieser frühen Kur- und Badeorte ha-

keit hat.82

ben sich bezaubernde architektonische Ensembles mit his-

Seebäder sind in Deutschland an den Küsten sowie auf

torischen Brunnen-, Bade- und Logierhäusern sowie Wan-

den Inseln der Nord- und Ostsee fast linienhaft anzutreffen.

delhallen und Theaterbauten bis heute erhalten.

Ihre Entwicklung begann 1793 in Heiligendamm an der

Wichtige Impulsgeber für das moderne Reisen in

Ostseeküste, breitete sich aber schnell auf nahezu alle Küs-

Deutschland waren im 18. Jahrhundert auch englische Ad-

ten und Inseln der Nord- und Ostsee aus (Norderney 1797,

lige und Künstler, die auf ihrer Grand Tour (Bildungs- und

Travemünde 1799, Lauterbach auf Rügen 1816). Ehemalige

Erlebnisreise) zu den Alpen und nach Italien das Mittel-

Fischer- und Bauerndörfer wie Nebel auf Amrum, Nie-

rheintal zwischen Godesberg und Rüdesheim bereisten und

blum auf Föhr oder Keitum auf Sylt gehören heute zu den

begeistert davon berichteten: Der Fluss in seinem felsigen

beliebtesten Touristenzielen und zugleich begehrtesten Im-

Tal, romantische Orte und burgenbewehrte Höhen, Wein-

mobilienstandorten in Deutschland. Die Saison der deut-

berge an steilen Hängen. Dichter und Maler schufen aus

schen Seebäder waren zunächst weitgehend auf die Som-

diesen Bildern die »Rheinromantik«, ein Motiv der Sehn-

mermonate beschränkt, was die Auslastung der Gästebetten

Wirtschaft und Versorgung

93

Ostseeküste zwischen Ahrenshoop und Prerow im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Maßvoller Tourismus und strenger Naturschutz sind hier nebeneinander möglich.

94

und touristischen Angebote erheblich reduzierte. Gleich-

zen, lesen, speisen oder einfach nur auf das Meer schauen

wohl haben auch die Seebäder ihre Ausstattung ständig ver-

und die Zeit genießen.

bessert und erweitert und damit auch die Saisonzeiten aus-

Die Sommererholungsorte haben ihre Standortquali-

gedehnt. So wurden Uferpromenaden errichtet, ausgebaut

täten schlicht in der »schönen Kulturlandschaft« und »ge-

oder modernisiert, Rad- und Wanderwege sowie Camping-

sunden Luft«. Sie sind flächenhaft im ländlichen Raum ver-

plätze angelegt, Bahnstrecken reaktiviert oder erneuert, die

breitet. Bevorzugte Gebiete sind allerdings die meist dünn

alten Seebrücken auf den Inseln Rügen und Usedom re-

besiedelten Mittel- und Hochgebirge, größere Wald- und

noviert oder wiederhergestellt. Eine besondere Attraktion

Heidelandschaften sowie Binnenseen wie der Bodensee oder

der Küsten- und Inselorte ist die sog. »Bäderarchitektur« im

die ausgedehnte Mecklenburgische Seenplatte. Wie bei den

verspielten Historismus oder Jugendstil mit ihren Loggien,

Seebädern ist die Saison meist relativ kurz und auf die wär-

Balkonen und Veranden sowie Erkern, Türmchen und Säu-

mere Jahreszeit konzentriert. Eine seit Jahrzehnten beste-

len. In den typischen Wintergartenvorbauten, die zunächst

hende Angebotsnische sind die »Ferien auf dem Bauern-

aus Holz und später aus Eisen mit feinsten Schmuckele-

hof«, die besonders bei Familien mit Kindern beliebt sind.

menten errichtet wurden, konnten und können die Ferien-

Touristische Magnete auf dem Land sind auch die zahlrei-

gäste bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit geschützt sit-

chen regionalen Freilichtmuseen sowie die modernen Er-

Das moderne Dorf

Das Dorf Oberhof im Thüringer Wald ist ein traditionsreicher Wintersportort im Deutschen Mittelgebirge. Seit 2009 ist hier Deutschlands größte Skisporthalle für Spitzensportler und Hobbyskifahrer in Betrieb und ermöglicht ein ganzjähriges Skilaufen.

lebnisparks wie z. B. der Erlebnispark »Schloss Thurn« in

der verbinden. So werden heute alle größeren und mittle-

Heroldsbach/Franken. Auch die Sommererholungsorte ha-

ren Flüsse in Deutschland nahezu komplett von der Quelle

ben in den letzten Jahrzehnten vielerlei Anstrengungen

bis zur Mündung mit Rad- und Wanderwegen begleitet.

zur Steigerung ihrer Attraktivität unternommen. Ein

Auch Gebirgszüge wie der Thüringer Wald, das Rothaarge-

Trend ist die Koordinierung und Vermarktung der loka-

birge oder die Alpen sind von überregionalen Kamm- oder

len und kommunalen Sehenswürdigkeiten und Angebote

Gebirgsrandwegen für den Fernwanderer erschlossen wor-

durch überkommunale Tourismusverbände, die dann ihre

den. Nicht zuletzt bleiben die zahllosen Fahrgastschiffe auf

regionalen »Marken« wie »Sächsische Schweiz«, »Wein-

Rhein, Main, Donau, Mosel, Weser und Elbe zu nennen, die

franken« oder »Pfälzer Wald« gebündelt bewerben können.

in den Sommermonaten immer wieder gern zu Ausflugs-

In ähnlicher Weise sorgen »Themenwege« wie »Straße der

fahrten genutzt werden. Ein neuer Trend sind Flusskreuz-

Romanik«, »Deutsche Mühlenstraße« oder »Deutsche Bur-

fahrten, die vor allem bei ihren Wegen durch die Mittelge-

genstraße« für eine touristische Durchdringung des Landes.

birge an die Erlebnisse, Gesänge und Bilder der reisenden

Ebenfalls profitieren die Sommererholungsorte von den in-

Romantiker um 1800 anknüpfen.

zwischen dichten Netzen von Fahrrad- und Wanderwegen,

Die Wintersportorte sind in der Regel an Höhenlagen

die die ländlichen Regionen durchziehen und miteinan-

ab 800 m gebunden. Sie finden sich deshalb neben den Al-

Wirtschaft und Versorgung

95

pen nur in den höheren Mittelgebirgen wie Schwarzwald,

sportler, ob Langläufer, Kombinierer oder Biathleten, ist

Thüringer Wald, Erzgebirge, Rothaargebirge, Bayerischer

die neue Skihalle ein enormer Standortvorteil. Oft sind sie

Wald und Harz. Die meisten Wintersportorte haben neben

auf der Suche nach Schnee Tausende von Kilometern un-

ihrer Hauptsaison auch im Sommer »geöffnet«. Gerade im

terwegs. Außerdem lassen sich hier die Trainingseinheiten

Wintersport zeigt sich die große Bedeutung neu geschaffe-

optimal kontrollieren: 32 Kameras leuchten jeden Winkel

ner Angebote. Zahlreiche ländliche Orte in den Mittelge-

aus, die technische Detailarbeit auf Skiern lässt sich sofort

birgen und Alpen wie Oberhof, Willingen oder Oberstdorf

per Videoanalyse überwachen. Am großen Monitor an der

haben sich mit ihren Wintersportangeboten zu Zentren für

Wand im Konferenzraum kann jeder Schritt in der Halle

Sport und Tourismus entwickelt, was vor Jahrzehnten noch

genau verfolgt werden. Die Tourismusmanager von Ober-

kaum jemand für möglich gehalten hätte. Moderne Anla-

hof setzen aber nicht nur auf die Spitzensportler, sondern

gen für Skispringen, Eislauf, Biathlon, Rennschlitten- oder

auch auf Hobbylangläufer und Besucher. Die DKB Ski-

Bobsport, Abfahrts- oder Langlauf (oft beleuchtet bis spät

halle in Oberhof wird heute etwa zu gleichen Teilen von

in den Abend) gehören vielfach bereits zum Standard. Dazu

Leistungs- und Freizeitsportlern genutzt. Bisher ist man

kommen Rodel- und Wanderstrecken, die maschinelle Be-

mit deren Nachfrage sehr zufrieden.83

schneiung und nicht zuletzt die diversen Liftanlagen.

96

Im Ganzen hat der moderne Tourismus zur ökonomi-

Ein Beispiel ist das gut 1500 Einwohner zählende Dorf

schen, baulichen und sozialen Stabilisierung des ländlichen

Oberhof im Thüringer Wald: Hier wurde im Juli 2009 ne-

Raumes beigetragen. Viele ehemalige Bauern-, Waldarbei-

ben einer bereits bestehenden Sprungschanze, einer Renn-

ter-, Fischer- und Bergbaudörfer, die mit der Schrumpfung

schlitten- und Bobbahn, einer Biathlonanlage und beleuch-

ihrer früheren Hauptwirtschaftszweige in eine Existenz-

teten Skipisten eine neue, 400 m lange und 14,4 Mio. Euro

krise geraten waren, haben durch den Tourismus ihre ver-

teure Skisporthalle eröffnet (die erste in Mitteleuropa,

loren gegangenen Erwerbsmöglichkeiten ersetzen können.

nach Vorbildern in Schweden und Finnland). Mehr als

In manchen ländlichen Regionen – so im Harz, im Alpen-

50 Spitzen- oder Freizeitsportler können hier gleichzei-

raum oder auf den Nord- und Ostseeinseln – ist der Touris-

tig 365 Tage im Jahr auf 30 cm Schnee bei minus vier Grad

mus heute häufig die einzige Alternative zur wirtschaftli-

und 70–90 % Luftfeuchtigkeit Ski laufen. Für die Winter-

chen Verarmung und Entsiedlung.

Das moderne Dorf

Wasser, Energie, Verkehr, Datenübertragung Der hohe Standard an technischer Infrastruktur

Woher bekommen die Dorfbewohner heute ihr Trink-

Als Grundausstattung im engeren Sinne gilt die tech-

wasser? Wie war das vor 80 oder 200 Jahren? Womit

nische Infrastruktur. Sie umfasst die Wasser- und Abwas-

bestritt das Dorf seine Energieversorgung um 1900

serversorgung, die Energieversorgung sowie die Verkehrs-

oder 1800, wie ist es heute? Wie ist der ländliche

wege. Die technische Grundversorgung von Siedlungen

Raum in das moderne Verkehrsnetz der Straßen, Auto-

und Gewerbe hat in Deutschland einen relativ hohen Stand.

bahnen, Bahnstrecken und Flughäfen eingebunden?

Dies gilt grundsätzlich auch für den ländlichen Raum. Die

Und wie weit ist die heutige Informationstechnologie

meisten Einrichtungen der elementaren Grundversorgung

aufs Land vorgedrungen, bringt sie ihm eher Vorteile

befinden sich im Eigentum oder in der Kontrolle der öf-

oder Nachteile? Ein Dorfbewohner von 1800 würde

fentlichen Hand. Im Unterschied zur Privatwirtschaft ha-

sich bei einem Besuch in einem modernen Dorf wohl

ben Staat und Kommunen ein Interesse daran, auch unöko-

wie auf einem anderen Stern vorkommen! Doch es gibt

nomische, aber für das Gemeinwohl notwendige Einrich-

nicht nur Fortschritte.

tungen vorzuhalten, z. B. die Telefon- und Bahnversorgung des ländlichen Raumes.

Dank Land- und Forstwirtschaft sowie Handwerk war das

In Bezug auf die Wasserversorgung zeigten sich unsere

Dorf um 1800 weitgehend durch eine ökonomische Selbst-

Vorfahren besonders vorsorgend und erfinderisch. Da man

versorgung geprägt. Aber auch in Bezug auf seine Infra-

nahezu täglich auf das Wasser angewiesen war, bauten sie

struktur, die für das Funktionieren von Wohnen und Ar-

ihre ersten Siedlungen möglichst in der unmittelbaren

beiten notwendig ist – versorgte das Dorf sich in der Re-

Nähe von Flüssen, Bächen oder Quellen. War dies nicht

gel selbst durch Nutzung lokaler Kräfte und Ressourcen.

möglich, grub man Brunnenschächte in die Tiefe, um so

Ob Wasser- oder Energieversorgung, Feuerschutz oder Po-

das Grundwasser anzuzapfen. Oder man zweigte von Flüs-

lizeiwesen, die wichtigsten Einrichtungen der Grundver-

sen und Bächen Kanäle oder Wassergräben ab, um ganze

sorgung wurden lokal vorgehalten und geregelt. Wenn

Dörfer oder einzelne Bauten wie Mühlen mit stetig fließen-

man sich dies vor Augen führt, erkennt man den Kontrast zur Gegenwart. Bis auf die Feuerwehr wird das Dorf heute überwiegend von externen Institutionen versorgt und ist damit meist von großen Konzernen abhängig.

Abbildung oben: Mit erneuerbaren Energien gewinnt das Land seine frühere Rolle als Energieproduzent zurück, hier der Solarenergiepark Finowtower in Schorfheide-Finow (Brandenburg).

Wirtschaft und Versorgung

97

in den Großstädten, da sie weitmaschiger angelegt und z. B. auch die Aussiedlerhöfe angeschlossen sind. Bis zu Beginn der Industrialisierung um 1850 war der ländliche Raum auch Energieselbstversorger. Darüber hinaus war er der dominante Energiespeicher und -produzent für das ganze Land. Neben der Wind- und Wasserkraft wurde vor allem das nachwachsende Holz der Wälder als Energieträger genutzt. Zahlreiche frühindustrielle Gewerbe wie Erzverarbeitung und Glasherstellung waren deshalb in den wald- und gewässerreichen ländlichen Regionen angesiedelt worden. Die generelle Stagnation des ländlichen Raumes gegenüber den Städten und neuen Industrieregionen ab etwa 1850 wurde im Wesentlichen durch den Wechsel der Energieträger – von Wasserkraft und Holz zu den fossilen Brennstoffen Kohle und Öl – ausgelöst. Damit wurden die traditionellen, spezifisch ländlichen Energieträger immer unwichtiger und schließlich Früher nahm jedes Dorf sein eigenes Wasser aus den Quellen, Bächen oder Brunnen der Gemarkung. Heute werden Dörfer meist durch regionale Wasserverbände versorgt, wie hier durch die neue Talsperre in Leibis-Lichte in Thüringen.

kaum noch genutzt. Die frühindustriellen Energietechnologien, z. B. in der Wasserkraft-, Windkraft- und Holznutzung, wurden nicht weiterentwickelt und schließlich aufgegeben. Ab dem frühen 20. Jahrhundert koppelte man

98

dem Wasser zu versorgen. Auch baute man Wasserleitungen

schließlich den ländlichen Raum nach und nach mit weit-

von ständig fließenden Quellen bis zu den sog. »Kümpen« in

verzweigten Überlandleitungen an zentrale Kraftwerke

den Orten, wo sich die Dorfbewohner ihre Wasseranteile ab-

(auf Kohle-, Atom-, Erdöl- und Erdgasbasis) an. Die Versor-

holen durften. Wasserleitungen bis in die einzelnen Haus-

gung mit Strom ist heute für alle ländlichen Siedlungen,

halte, wie es für uns alle heute selbstverständlich ist, gab es

auch die kleinen und abgelegenen, sichergestellt. Auch die

flächendeckend auf dem Land bis ins frühe 20. Jahrhundert

Wärmeversorgung des ländlichen Raumes erfolgt inzwi-

nur in Einzelfällen. Heute sind nahezu 100 % der Bevölke-

schen überwiegend durch »importierte« fossile Brennstoffe

rung in Deutschland an die öffentliche Wasserversorgung

wie Erdgas, Erdöl und Kohle. Zwar ist das Erdgasnetz unter-

angeschlossen. Kaum niedriger liegen die Zahlen bei der

schiedlich weit in die Fläche vorgedrungen, aber es hat in

Abwasserversorgung. Allerdings beziehen die meisten Dör-

vielen Regionen bereits die meisten größeren und mittle-

fer ihr Wasser heute nicht mehr aus den lokalen Quellen

ren Dörfer erreicht.

wie noch vor Jahrzehnten. Üblich ist, dass regionale oder

Seit etwa 25 Jahren erfolgt ein allgemeines Umdenken

überregionale Wasserwerke die Versorgung übernommen

zugunsten umweltfreundlicher und dezentraler Energie-

haben, wobei diese wiederum ihr Wasser aus dem ländli-

quellen. Die dem Land eigenen Energiepotenziale wie

chen Raum beziehen. Generell kann das Land als der große

Wind- und Solarkraft, Biomasse und Wasserkraft erle-

Wasserspeicher und Wasserversorger des Staates bezeichnet

ben seitdem einen kräftigen Aufschwung. In allen Regio-

werden. So versorgt z. B. der Harz den Raum Bremen, die

nen Deutschlands sind große und kleinere Windparks ent-

sauerländischen Talsperren das Ruhrgebiet und der Boden-

standen. Einige Dörfer wie Jühnde in Südniedersachsen

see den Raum Stuttgart mit Trinkwasser. Der Wasserreich-

sind inzwischen in der Lage, ihren Strom- und Wärmebe-

tum des ländlichen Raumes macht die Wasser- und Abwas-

darf durch ein Blockheizkraftwerk auf Biomassebasis vor

serversorgung in den Dörfern selbst aber nicht grundsätz-

Ort selbst herzustellen. Andere setzen auf Solarenergie wie

lich billiger. Die Ver- und Entsorgungsnetze sind auf dem

die nordhessische Landgemeinde Alheim, die damit 73 %

Land vergleichsweise (pro Kopf der Bevölkerung) teurer als

ihres Energiebedarfs für ihre 5280 Einwohner in zehn Dör-

Das moderne Dorf

Die Windenergie ist seit den 1990er Jahren stark ausgebaut worden. Die Anlagen werden immer höher und ergiebiger, hier ein Blick auf den Windenergiepark Küstrow bei Barth (Mecklenburg-Vorpommern).

fern selbst produziert. Mit zunehmender Nutzung der loka-

Auch der ländliche Raum war durch das enge Strecken-

len und regionalen »Ökoenergie« kann der ländliche Raum

netz gut erschlossen. In Tausenden von Dörfern wurde der

einen wesentlichen Teil seiner früheren Rolle als Energie-

Bahnhof neben Kirche, Schule und Gasthof eine wich-

produzent zurückgewinnen und damit auch unabhängiger

tige Adresse. Entlang der Strecken entstanden in den neuen

von externen Kosten und Steuerungen werden.

»Bahndörfern« zahlreiche bahnzugehörige Arbeitsplätze

Die Verkehrserschließung des ländlichen Raumes er-

der Zugführer, Schaffner, Techniker, Bahnhofsvorsteher

folgt in erster Linie durch ein Netz von Straßen verschie-

und Schrankenwärter, die vielerorts bereits im 19. Jahr-

dener Ordnungen: Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis-

hundert die bis dato agrar geprägte Berufsskala »urbaner«

und Gemeindestraßen. Die Dichte und der Ausbauzustand

machten. Ab 1835 erbrachten einige wenige Generationen

des Straßennetzes müssen in Deutschland als gut bezeich-

für den Bahnverkehr eine gewaltige Infrastrukturleistung,

net werden – und dies gilt generell auch für das Land. Der

von der wir bis heute profitieren können. Massive Berg-

Nachholbedarf, der nach der Wiedervereinigung in den öst-

durchbrüche, großartige Talbrücken, Tunnel- oder Bahn-

lichen Ländern offenbar wurde, konnte inzwischen weit-

hofsbauten zeugen von Ingenieurs- und Architektenküns-

gehend abgebaut werden.

ten, die vielfach Bestand haben und zu bewundern sind.

Die Verkehrserschließung durch Eisenbahnstrecken war

Ein Beispiel ist die von 1846 bis 1851 errichtete Göltzsch-

in Deutschland bis vor Jahrzehnten ebenfalls sehr dicht.

talbrücke zwischen Reichenbach und Netzschkau im nörd-

Wirtschaft und Versorgung

99

lichen Vogtland. Sie hat eine Länge von 574 m und eine

den »Rückzug aus der Fläche« angetreten. Durch zahlreiche

maximale Höhe von 78 m und gilt als größte Ziegelbrü-

Stilllegungen von Linien und Bahnhöfen ist die Verkehrs-

cke der Welt. Das auch optisch imposante Bauwerk erfüllt

infrastruktur vieler ländlicher Orte und Regionen ver-

bis heute seinen Zweck. Sie ist zweigleisig gebaut und wird,

schlechtert worden. Leer stehende Bahnhofsgebäude sind-

wie vor 160 Jahren, in beide Richtungen gleichzeitig befah-

das äußere Zeichen dieser Verluste.

ren. Im Gegensatz zu den Straßen ist die Flächenerschlie-

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) des länd-

ßung des ländlichen Raumes durch die Eisenbahn in den

lichen Raumes wird heute überwiegend durch Omnibus-

zurückliegenden Jahrzehnten jedoch ausgedünnt worden.

linien verschiedener regionaler Verkehrsverbände geleis-

Die Deutsche Bahn hat zugunsten überregionaler Strecken

tet. Doch steht der Omnibusverkehr auf dem Land häufig in der Diskussion: Er wird belastet durch Probleme wie hoher Kostenaufwand, geringe Nachfrage und Ausdünnung der Strecken und Fahrpläne. In manchen ländlichen Regionen bieten sog. »Bürgerbusse« eine Alternative – sie können gezielt bedarfsorientiert »abgerufen« werden. Träger sind Kommunen oder gemeinnützige Vereine, durch den Einsatz ehrenamtlicher Kräfte können die Kosten erheblich reduziert werden. Die Hauptrolle im Verkehrsablauf des Landes spielt allerdings der Individualverkehr. Die meisten erwachsenen Dorfbewohner sind schon wegen des täglichen beruflichen Pendelns auf das eigene Auto angewiesen. Manche größeren Haushalte haben nicht selten zwei oder drei Fahrzeuge – diesbezüglich hat die ländliche Bevölkerung den hohen Motorisierungsgrad der Gesamtbevölkerung erreicht. Die private Motorisierung ist für sie unentbehrlich geworden. Um Kosten einzusparen, wird auch auf dem Land das Auto-Teilen (Carsharing) immer beliebter. Zu den kleineren Carsharing-Gemeinden gehören die Dörfer Göhrde in Niedersachsen und Tonndorf in Thüringen. Ohne Zweifel profitiert der ländliche Raum heute auch von der relativen Flughafendichte in Deutschland. Vor allem durch die Einrichtung zahlreicher »Regionalflughäfen« sind viele ländliche Regionen inzwischen gut an die große Welt angebunden. Auch das Netz an schiffbaren Gewässern ist in Deutschland relativ eng. Zusätzlich zu den meist schiffbaren großen Flüssen wie Rhein, Main, Donau, Oder, Elbe, Weser, Ems und Mosel ist im 19. und 20. Jahrhundert ein dichtes Kanalnetz aufgebaut worden. Hiervon profitiert nicht nur der heutige Güterverkehr, sondern in zunehmendem Maße auch der moderne Tourismus. Zunehmend von großer Bedeutung für den ländlichen Raum ist seine Erschließung mit den Netzen der modernen Informationstechnologie. Am Anfang stand die flä-

Autobahnen erschließen fast alle ländlichen Regionen und verknüpfen diese mit den Großstädten. Doch manche Landkreise wünschen sich noch eine »nähere« Autobahn.

100

Das moderne Dorf

Die Göltzschtalbrücke bei Netzschkau in Sachsen, ein Ziegelbau von 1851 und einer der größten in Deutschland, liegt an der Bahnstrecke Leipzig–Nürnberg. Die Bahnerschließung des ländlichen Raumes war eine große Infrastrukturleistung des Staates im 19. Jahrhundert.

chenhafte Ausbreitung des Telefonnetzes auf dem Land,

zum Arbeitsplatz überflüssig machen. Grundsätzlich kön-

die vor etwa 100 Jahren begann. Heute befinden sich die

nen so auch in abgelegenen strukturschwachen Regionen

schnellen DSL -Breitband-Internetanschlüsse im Blick-

hochwertige Arbeitsplätze gehalten oder angesiedelt wer-

punkt, die in Kürze jedem Dorf zur Verfügung stehen sol-

den. Die meisten Experten sind der Meinung, dass mithilfe

len. Auch Telearbeit ist im Kommen – die Arbeit am Bild-

der modernen Telekommunikationsnetze und Informa-

schirm, die über das »Netz« Distanzen überwindet. Sie kann

tionsmedien zunehmend wesentliche Standortnachteile des

von zu Hause aus geleistet werden und lange Anfahrtswege

ländlichen Raumes behoben werden können.

Wirtschaft und Versorgung

101

Turnhalle und Tennisplatz statt Postamt und Polizei Verluste und Gewinne der öffentlichen Grundversorgung

Wer schützt das Dorf vor Feuer oder vor Dieben?

Der flächenhafte Aufbau der Post im ganzen Land ge-

Wie war es früher, wie ist es heute? Wie war, wie ist

hört zu den großen Infrastruktur- und Kulturleistungen

die Versorgung mit Poststellen oder Krankenhäusern?

des Staates im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Nahezu je-

Was tun Staat und Gemeinden gegenwärtig noch für

des Dorf, manchmal sogar der größere Weiler, hatte seine

die »öffentliche Grundversorgung« auf dem Land?

eigene Poststelle. In größeren Dörfern entstanden oft mar-

Manches ist schlechter geworden oder verschwunden.

kante Postgebäude im Stil der Gründerzeit oder des Jugend-

Viele Wege sind nun länger geworden, z. B. zu Kliniken

stils. Der gesamte ländliche Raum hat der dichten postali-

oder Amtsgerichten. Doch es sind auch gewaltige

schen Versorgung wesentliche wirtschaftliche und kultu-

Fortschritte in den Dörfern festzustellen: so die mo-

relle Impulse zu verdanken. Der Blick in die Gegenwart und

dernen Feuerwehren oder die vielfältigen Sport- und

Zukunft ist weniger rosig. Die Deutsche Post baut seit etwa

Freizeiteinrichtungen.

40 Jahren ihr sorgsam aufgebautes staatliches Versorgungsnetz ab und zieht sich mehr und mehr aus der sog. »Flä-

Das Dorf lebt nicht nur von der Wasser- und Energiever-

che« zurück. Die große Masse der deutschen Dörfer hat in-

sorgung und den Verkehrsanbindungen, also der zuvor be-

zwischen keine eigene Poststelle mehr. Eine Angebotsvari-

schriebenen technischen Infrastruktur. Seine Lebensquali-

ante sind die »Postagenturen«, die nach Auflösung der alten

tät hängt wesentlich ab von weiteren wichtigen Einrich-

Poststellen in den größeren Dörfern eingerichtet wurden.

tungen der »öffentlichen« und »privaten« Grundversor-

Hierbei handelt es sich um kleine Dienstleistungsboxen der

gung. Die öffentliche Infrastruktur wird in der Regel vom

Post, die in Läden, Tankstellen oder Gasthöfen von deren

Staat vorgehalten und geregelt, während die private Grund-

Inhabern im Nebenerwerb betrieben werden. Der Rück-

versorgung – wie Gasthöfe und Läden – kommerziell be-

zugstrend der Post hat sich in den letzten Jahren dadurch

trieben wird. Zu den traditionellen Angeboten der öffent-

verschärft, dass zahlreichen kleineren und mittelgroßen

lichen Grundversorgung in den Dörfern gehören: Post,

Dörfern selbst die Einrichtung einer Postagentur verwei-

Polizei, Feuerwehr, Gemeindeverwaltung, Schule, Kinder-

gert wird. Der Trend von eigenen Postämtern der staatli-

garten,

Volkshochschule,

Kirche,

Krankenversorgung,

Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie diverse Sport- und Freizeiteinrichtungen und Kulturangebote.

102

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Kein Dorf ohne Feuerwehr! Selbst kleine Dörfer wie Bärweiler können auf die Aktiven der Freiwilligen Feuerwehr bauen.

chen Post zu Postagenturen ist auch in Nachbarländern wie in Skandinavien oder England zu beobachten. Die österreichische Post plant gerade die Schließung von 400 Poststellen im Land, nun denkt die dortige Kirche darüber nach, diese Postdienste in ihren Pfarrämtern zu übernehmen.84 Polizei und Schützenvereine erfüllten elementare Schutzaufgaben für das Dorf und sind dort seit dem Mittelalter tätig. Sie wurden zunächst von der Dorfgemeinschaft selbst bzw. der jeweiligen Grundherrschaft getragen und organisiert. Das Dorf schützte sich vor Dieben, Verbrechern und Bettlern durch Zäune (die sog. »Etter«), Hecken und Dorftore. Zusätzlich gab es dorfeigene Kräfte wie bewaffnete Nachtwachen und Schützenvereine, die meist mit den Gerichten der unteren Gerichtsbarkeit zusammenarbeiteten. Um den Schutz des Dorfes sicherzustellen, gab es strenge Regeln, die oft in Dorfordnungen gefasst waren: Zum Beispiel musste jeder Schütze sein Gewehr stets in gepflegtem Zustand halten und eine bestimmte Menge Pulver und Blei vorrätig – und natürlich trocken – haben. Die Polizei wurde dann mit dem Aufkommen des modernen Staates im frühen 19. Jahrhundert als staatliche Behörde eingerichtet und löste somit die alten Selbsthilfeeinrichtungen des Dorfes ab. Jede deutsche Gemeinde, d. h. im Prinzip auch jedes Dorf, bekam seinen eigenen Gendarmen bzw. Polizeiposten. Diese Präsenz blieb bis in die 1970er Jahre bestehen. Im Rahmen einer Konzentration der Polizeibehörden wurden die dörflichen Polizeiposten dann abgeschafft und

Ein Dorfpolizist – um 1930 – ist gerade im Einsatz gegen einen Gaukler, dessen Äffchen getanzt hat.

durch mobile Einsatzkräfte der Kreispolizei abgelöst. Das Gerichtswesen auf dem Land war bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts an die Grundherrschaft geknüpft (daher

Infrastrukturentwicklung in mittelgroßen Dörfern von 1950 bis heute

auch der Name »Patrimonialgericht«): Der meist adlige

Verluste

Gewinne

Grundherr hatte einen Richter zu bestellen und zu unter-

• Volksschule, Hauptschule, z. T. auch Grundschule • Gemeindeverwaltung, Bürgermeisteramt • Post • Polizeiposten • Bahnanschluss, Bahnstation • Krankenhaus, Hebamme, Arzt • Handwerksbetriebe, vor allem Schuhmacher, Schneider, Schmied, Stellmacher, Bäcker, Sägewerk • Gasthöfe • Dorfläden, vor allem für Lebensmittel, aber z. T. auch für Haushaltswaren, Textilien, Schuhe • Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft • Geldinstitute

• Wasserver- und Abwasserentsorgung

halten und auch für entsprechende Räume wie Richterstube und Verliese zu sorgen. Im 19. Jahrhundert wurden die ländlichen Patrimonialgerichte in staatliche Amtsgerichte überführt. Diese bestanden zumeist bis in die 1970er Jahre und wurden erst dann durch die damals um sich greifenden »zentralörtlichen Reformen« aus den großen Dörfern und Kleinstädten in die Mittel- und Großstädte verlagert. Wer sich ein gut erhaltenes ländliches Patrimonialgericht mit Richterstube und Kerkerzellen anschauen möchte, kann z. B. das restaurierte und als Museum eingerichtete Alte Gericht von 1736 im westfälischen Fürstenberg besuchen. Die Feuerwehr ist die traditionsreichste und bis heute

• Energieversorgung • Sport- und Freizeiteinrichtungen, z. B. Sport- und Spielplätze, Sporthalle, Tennisplätze, Sportheime • Kultureinrichtungen, z. B. Dorfgemeinschaftshaus, Kulturhaus, Begegnungsstätte, Pfarrheim, Heimatstube, Bücherei, Feste und Brauchtumspflege • Handwerksbetriebe, vor allem Holzverarbeitung, Bau-, Kfz- und Elektrohandwerk • Private Dienstleistungen, z. B. Versicherungen, Steuerberatung, Architektur, Unternehmensberatung, Soft- und Hardwareentwicklung, Bus- und Taxiunternehmen, Kosmetikstudio, Fußpflege

Wirtschaft und Versorgung

103

aktive und unverzichtbare Schutz- und Hilfseinrichtung

nachgerückt sind. Das jetzige Feuerwehrhaus entstand

des Dorfes. Ihre Aufgabenschwerpunkte haben sich aller-

1982/83 und wurde überwiegend in Eigenleistung erstellt.

dings verändert und sind vielfältiger geworden. Die Brand-

Seit 1992 gibt es in Bärweiler einen Förderverein der Frei-

bekämpfung spielte in den früheren Jahrhunderten die

willigen Feuerwehr, der die Arbeit der ehrenamtlichen Ak-

Hauptrolle, als die meisten Dorfgebäude noch aus den leicht

tiven unterstützt. Dieser Förderverein hat heute 133 Mit-

brennbaren Materialien Holz, Stroh und Lehm bestanden.

glieder – das sind 50 % der Einwohnerschaft des Dorfes! Die

Heute stehen andere Aufgaben im Vordergrund: Verkehrs-

Einsätze der Feuerwehr erfolgen schwerpunktmäßig bei

unfälle, Überschwemmungen, Brände und Unfälle in Ge-

Sturmschäden und Überflutungen, bei Bränden und Un-

werbebetrieben, Rettungseinsätze aller Art, Beseitigung

fällen sowie zur Verkehrsregelung bei Großveranstaltun-

von Umweltschäden, Brandvorsorge. Die Feuerwehren auf

gen. An die letzten großen Brände im Dorf kann man sich

dem Land sind nach wie vor ehrenamtlich organisiert und

gut erinnern, obwohl sie schon einige Jahre zurückliegen.

tätig – daher die übliche Bezeichnung »Freiwillige Feuer-

Sie sind Teil der Dorfgeschichte. Über die Rolle der Frei-

wehr«. Die öffentliche Hand unterstützt diese gemeinnüt-

willigen Feuerwehr sagt Bürgermeister Hans Gehm: »Die

zige Arbeit mit der Bereitstellung von Feuerwehrhäusern

Feuerwehr trägt wesentlich zur Lebensqualität in unse-

sowie modernsten Fahrzeugen und Geräten. Jedes noch so

rem Dorf bei. Sie bietet Schutz und gibt Sicherheit durch

kleine Dorf in Deutschland hat in der Regel »seine« Freiwil-

ihre gute Ausrüstung und ihren hohen Ausbildungsstand,

lige Feuerwehr. Die Mitgliedschaft ist für die meisten im-

der in regelmäßigen Übungen erprobt wird. So war es uns

mer noch eine Ehrensache.

wichtig, im Jahr 2009 ein wasserführendes Einsatzfahrzeug

Die 252 Einwohner zählende Dorfgemeinde Bärweiler in

zu beschaffen, was eigentlich für kleine Gemeinden unse-

Rheinland-Pfalz ist stolz auf ihre Freiwillige Feuerwehr.

rer Größenordnung nicht vorgesehen ist. Nur durch einen

Diese besteht derzeit aus 14 Aktiven, darunter sind drei

erheblichen Zuschuss unseres Feuerwehr-Fördervereins

junge Frauen, die vor zwei Jahren aus der Jugendfeuerwehr

war diese Anschaffung für uns möglich.«85 Die Einrichtung einer modernen Krankenversorgung und -pflege begann auf dem Land erst im 19. Jahrhundert. In Kleinstädten und größeren Dörfern wurden um 1850 die ersten Krankenhäuser errichtet, Träger waren meist kirchliche Frauenorden. Die meisten dieser ländlichen Krankenhäuser sind in den 1960er und 1970er Jahren geschlossen worden zugunsten wachsender und modernisierter Kliniken in den Mittel- und Oberzentren. Viele ehemalige Krankenhausbauten auf dem Land haben eine sinnvolle Nachfolgenutzung als Altenpflegeheime gefunden. Ein Fortschritt der letzten Jahrzehnte ist der Aufbau eines flächendeckenden, dezentralen Krankentransportwesens. Dies hat wesentlich zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten beigetragen. Praktische Ärzte bzw. Allgemeinärzte sind heute in der Regel in größeren Dörfern ab 1500 bis 2000 Einwohnern vertreten. Gleiches gilt inzwischen auch für Zahnärzte und Apotheken. Die früher sehr dominante Position des »Landarztes« oder »Doktors« innerhalb des Dorfes ist durch die Mobilität der Bevölkerung und die Möglichkeiten der freien Arztwahl stark gemindert worden. Der seit vielen Jahren in Deutschland bestehende und wachsende Ärztemangel macht sich inzwi-

Die Post ist auf dem Land nur noch in größeren Dörfern präsent: wie hier als Postagentur in einem Laden.

104

Das moderne Dorf

schen auch auf dem Land bemerkbar. Vor allem in dünn besiedelten Gebieten der östlichen und nördlichen Bundesländer stehen viele Hausarztpraxen leer. Seit etwa 10 Jahren versuchen diverse Bundes- und Länderministerien die »Landarztquote« zu verbessern und Anreize für Medizinstudenten zu schaffen, später als Landarst zu arbeiten. Wer verspricht, nach dem Examen aufs Land zu gehen, soll schneller einen Studienplatz bekommen. In Sachsen können Medizinstudenten bereits jetzt eine monatliche Unterstützung bekommen, wenn sie sich verpflichten, später als Hausarzt in unterversorgten Landgemeinden zu arbeiten. Mit einem neuen »Versorgungsgesetz« will die Bundesregierung ab 2012 Anreize setzen, um Ärzte aufs Land zu locken.86 Zu den bedeutenden öffentlich-rechtlichen Dienstleistern auf dem Land zählen heute die Sparkassen und Genossenschaftsbanken (Raiffeisenbanken, Spar- und Darlehnskassen, Volksbanken). Ihre Tradition reicht bis ins

Das Gerichtswesen war früher an den Grundherrn geknüpft und daher in vielen großen Dörfern und Kleinstädten »verortet«. Das Patrimonialgericht von 1736 in Fürstenberg/Westfalen bietet als Museum mit Richterstube und Zellentrakt einen guten Blick in die alte Zeit.

19. Jahrhundert zurück. Die Sparkassen sind dem Gemeinwohl verpflichtete kommunale Einrichtungen. Die Genossenschaftsbanken waren ursprünglich Selbsthilfeorganisationen, die aus dem landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaftswesen hervorgegangen sind. Sie haben sich zu allgemein zugänglichen »Volks«banken entwickelt. Generell konnten die Sparkassen und Genossenschaftsbanken ihr Standortnetz in Dörfern seit 1950 ausweiten. In jüngster Zeit sind allerdings Sparkassen- und Volksbankschließungen in vielen Dörfern zu beobachten. Die Wandlungen von einer Arbeits- zur Freizeitgesellschaft zeigen im ländlichen Raum Wirkung. So gibt es immer mehr Einrichtungen und Aktivitäten für Sport und Freizeit. Zur kommunalen Ausstattung zählen heute ein bis zwei Sportplätze, die in der Regel in Dörfern ab 500 Einwohnern anzutreffen sind. Gleiches gilt für öffentliche

Volksbanken und Sparkassen zeigen (noch) in den Dörfern Präsenz, hier in einem ehemaligen Bauernhaus in Bendingbostel bei Kirchlinteln im Landkreis Verden (Aller).

Spielplätze, die z. T. mit aufwendigen Schaukel- und Klettergerüsten sowie Turn- und Trimmgeräten ausgestattet

Die meisten Sportangebote auf dem Land werden von

sind. Sporthallen haben eine geringere Verbreitung (meist

den Vereinen mit ehrenamtlicher Arbeit vorgehalten und

in Dörfern ab etwa 1000 Einwohnern) und sind oft an eine

betrieben. Die öffentliche Hand unterstützt diese Vereins-

lokale Schule gekoppelt. Frei- und Hallenbäder sind in der

arbeit oft durch Sachzuwendungen, z. B. im Sportplatz- und

Regel in den Grundzentren angesiedelt. Des Weiteren sind

Hallenbau. Bezüglich seiner Sport- und Freizeiteinrichtun-

in den zurückliegenden 40 Jahren spezielle Sportanlagen

gen und -angebote hat der ländliche Raum in den zurück-

wie Tennis- und Golfplätze, Tennis- und Squashhallen,

liegenden Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung er-

Reit- und Schießsportanlagen boomartig aufs Land vorge-

fahren (was vielen Städtern nicht bewusst ist). Dies ist so-

rückt. So dürften heute z. B. in den meisten Dörfern ab etwa

wohl den Anstrengungen der Kommunen als auch der

1500 Einwohnern Tennisplätze bestehen.

vielfältigen Dorfvereine zu verdanken.

Wirtschaft und Versorgung

105

Der Kampf um den letzten Dorfladen Probleme der privaten Grundversorgung

Wer an Dörfer denkt, hat als erstes den gemütlichen

1000 Einwohnern, die bereits häufig ohne die eigene Schule

Dorfgasthof vor Augen, möglichst noch in der baye-

oder den eigenen Pfarrer auskommen müssen, die bange

rischen Ausführung mit Biergarten. Doch diese Idylle

Frage: Wann wird der nächste oder gar letzte Gasthof oder

ist in Gefahr, sie ist aus manchen deutschen Dörfern

Dorfladen schließen?

bereits ganz verschwunden. Wie der kleine Tante-

Einzelhandelsgeschäfte mit Lebensmitteln waren ein

Emma-Laden, der alles hatte und bei dem man auch

traditioneller und wesentlicher Bestandteil der dörflichen

noch gut beraten wurde. Aber zahlreiche Dörfer

Grundversorgung, oft kombiniert mit einer Bäckerei so-

kämpfen inzwischen erfolgreich um ihren letzten Dorf-

wie einem bedarfsgerechten Sortiment an Haushaltswaren

gasthof oder Dorfladen, wie die Beispiele Ollarzried

(Teller, Töpfe, Besteck u. ä.). Neben Kirche, Schule, Bürger-

in Bayern und Barmen in Nordrhein-Westfalen zeigen.

meister und Gasthof galt das »Geschäft« geradezu als klassische Institution des Dorfes. Hier konnte man in fußläufi-

Gasthof und Laden sind eigentlich für das Dorf so selbst-

ger Entfernung einkaufen, notfalls auch nach Ladenschluss.

verständlich wie das »Amen in der Kirche«. Sie sind wich-

Man konnte »anschreiben« lassen, Waren vorbestellen, zu-

tige Pfeiler der privaten Grundversorgung, die wesentlich

rücklegen oder auch bringen lassen. Der kleine Dorfladen

auch zum Wohlbefinden eines Dorfes beitragen. Damit

war und ist aber mehr als nur eine Versorgungseinrichtung:

wird deutlich, dass zur Lebensqualität des Dorfes nicht al-

Er ist zugleich sozialer Treffpunkt und Umschlagplatz für

lein die öffentliche Hand, sondern auch die »private« Wirt-

lokale Nachrichten, der wesentlich zur dörflichen Lebens-

schaft beiträgt. Dazu gehören z. B. Geschäfte aller Art, gas-

qualität beiträgt. Gerade für wenig mobile Gruppen wie

tronomische Betriebe, Arztpraxen, Versicherungsbüros,

Frauen mit kleinen Kindern oder ältere Menschen bot und

Architekten und Rechtsanwälte. Sie spielen für das Alltags-

bietet der Laden ein quasi natürliches Forum für Kontakte,

leben der Dorfbevölkerung eine wichtige Rolle. Die An-

Gespräche und Verabredungen.

gebote solcher Einrichtungen folgen jedoch auch auf dem

Die Anzahl der dörflichen Lebensmittelläden hat sich in

Land den Gesetzen des Marktes und werden von der öffent-

den zurückliegenden Jahrzehnten mehr als halbiert. Den

lichen Hand nur indirekt beeinflusst. Daher sind sie heute besonders vom »Aussterben« bedroht. Beispielsweise stellt sich heute für viele mittelgroße Dörfer von etwa 500 bis

106

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Abmontierte Ladenschilder stehen symbolträchtig für den Verlust der Dorfläden wie hier in Walle, Landkreis Celle.

Läden droht meist die Schließung, wenn die Besitzer aus

mindest in den größeren Dörfern eine beachtliche Palette

Altersgründen aufhören und die nachfolgende Generation

an sonstigen Einzelhandelsgeschäften. Zu nennen sind

nicht weitermachen will. Doch die Ursachen der Laden-

hier vor allem Textil-, Haushaltswaren-, Elektro-, Schreib-

schließungen sind vielfältig. Die Marktmacht der Super-

waren- und Schuhgeschäfte. Obwohl in diesen Branchen

märkte am Rande der Städte hat die Existenzchancen der

ebenfalls starke Schrumpfungsprozesse abgelaufen sind,

kleinen Dorfgeschäfte vermindert. Aber auch das Kaufver-

gibt es auch Betriebe, die expandieren. Gerade der gute Ser-

halten der Dorfbewohner wie Wochenendeinkäufe, steigen-

vice vieler ländlicher Handwerksbetriebe hat dazu geführt,

des Preisbewusstsein und nachlassende Kundentreue haben

dass in manchen Dörfern Geschäfte im Elektro-, Sanitär-,

zur Vernachlässigung des lokalen Ladens geführt. Die noch

Landmaschinen-, Garten- oder Haushaltswarenbereich an-

bestehenden Lebensmittelgeschäfte in den Dörfern haben

zutreffen sind, deren Kundenkreise weit über den lokalen

häufig ihre Verkaufsflächen erweitert und das Sortiment

Rahmen hinausgehen und häufig in benachbarte Städte hi-

vergrößert. Oft sind bereits auch die überregionalen Ket-

neinreichen.

ten in den größeren Dörfern angesiedelt. In manchen länd-

Gasthöfe, Wirtshäuser, Kneipen, Schenken, Dorfkrüge

lichen Regionen, wie im hessischen Vogelsbergkreis, wer-

o. ä. spielen im dörflichen Gemeinschaftsleben von alters

den die »ladenlosen« Dörfer von mobilen Dorfläden mit

her eine wichtige Rolle. Oft verfügen die Gaststätten zusätz-

frischen Lebensmitteln versorgt. Die Kaufleute fahren re-

lich über einen Veranstaltungssaal, der von den Vereinen

gelmäßig zu ihren dörflichen Kunden und versorgen diese

oder auch für Familienfeiern genutzt wird. Der Dorfgast-

in ähnlicherWeise wie die früheren Tante-Emma-Läden.

hof ist traditionell ein Treffpunkt für jung und alt, für alle

Neben dem üblichen Lebensmittelladen existierte zu-

Sozialschichten und Berufsstände des Dorfes. Hier werden

In größeren Dörfern gab es in den 50er Jahren neben den Lebensmittelläden noch diverse Spezialgeschäfte für Haushaltswaren, Schreibwaren oder Schuhe. Hier ein Textilgeschäft im schwäbischen Dorf Hildrizhausen um 1950.

Wirtschaft und Versorgung

107

spitzung meist dann, wenn z. B. der letzte Dorfladen oder Gasthof vor der Schließung steht. Der drohende Totalverlust hat in vielen Dörfern Deutschlands zu bemerkenswerten, konkreten Reaktionen geführt. Mit Aufrufen wie »Rettet den letzten Laden!« oder »Wir erhalten den letzten Gasthof!« kam es vielerorts zu erfolgreichen Rettungsaktivitäten. So wurde in zahlreichen Dörfern der letzte Dorfladen von einem privaten Trägerverein, einer Bürgergenossenschaft oder Dorfstiftung übernommen und weitergeführt. Aufgegebene Wirtshäuser sind in die Trägerschaft von Dorfvereinen oder sogar von Kommunen übergegangen und als dörfliche Treffpunkte wiederbelebt worden. Manche Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg haben einschlägige Förderprogramme zur baulichen Sanierung, Modernisierung und Erweiterung der gefährdeten einzigen oder letzten Gasthöfe in Dörfern aufgelegt. Ein Dorf ohne Tante-Emma-Laden war noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar. Hier gab es vor allem Lebensmittel, aber auch Schreibwaren, Kochtöpfe, Nähzeug und im Winter Schlitten. Und kostenlos den freundlichen Kaufmann!

Als besonders nachhaltig und erfolgreich hat sich das seit 1999 in Schleswig-Holstein bestehende Konzept »MarktTreff« erwiesen, das Nahversorgung, öffentliche Dienstleistungen und Bürgertreffpunkt zusammenbringt und damit

Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen und Beerdigungen ge-

die dörfliche Mitte wiederbeleben will. Die Landesregie-

feiert, der sonntägliche Frühschoppen oder die abendliche

rung fördert diese Dienstleistungszentren in kleinen Ge-

Skatrunde abgehalten. Ursprünglich war der Wirtshausbe-

meinden zwischen 700 und 1900 Einwohnern mit fehlen-

such auf dem Land der männlichen Bevölkerung vorbehal-

der oder gefährdeter Grundversorgung. Die MarktTreffs

ten. Doch im Zuge der allgemeinen Liberalisierung der Rol-

bestehen in der Regel im Kern aus einem Lebensmittelge-

lenzuordnungen werden die Dorfgasthäuser inzwischen

schäft, das privat betrieben wird. Dazu kommen öffentliche

gleichberechtigt von Frauen geschätzt und besucht. Gerade in kleinen Dörfern ist die Gaststätte oft der ein-

und private Dienstleistungen wie Gemeindebüro, Postagentur, Bankservice, Versicherungen oder Gesundheitsdienste.

zige gesellschaftliche Mittelpunkt. Dies ist vielfach erst durch die Verlusterfahrung deutlich geworden, nachdem zahllose alte Dorfgasthäuser, die früher in der Regel im Nebenerwerb betrieben worden waren, aufgegeben wurden. Es zeigte sich, dass in Dörfern ohne Gaststätte das Vereinsleben und das kommunalpolitische Engagement erlahmte. Gründe für die Gasthofschließungen auf dem Land waren und sind Arbeitsüberlastungen der Betreiber, steigende Personalkosten und anstehender hoher Renovierungsaufwand. Nur vereinzelt gelang es dörflichen Gasthöfen (vor allem in Tourismusgebieten), sich durch attraktive gastronomische Erweiterungen wie Restaurantbetrieb, Festsäle, Hotelbetrieb oder Kegelbahnen eine breitere ökonomische Basis zu schaffen. Generell halten die Verluste an privater Infrastruktur in den Dörfern weiter an. Sie erfahren ihre dramatische ZuIm »Markttreff« Witzwort werden Laden, öffentliche Dienstleistungen und Bürgertreffpunkt kombiniert und so die dörfliche Mitte neu belebt.

108

Das moderne Dorf

Eine Aktiengesellschaft brachte neues Leben in das Dorfwirtshaus in Feldwies am Chiemsee.

Die dritte Säule sind Treffpunkte für Kurse, Klönabende

IN besteht in Baden-Württemberg seit 1999, ausgehend von

oder Fortbildungen, die ehrenamtlich getragen werden.

der Gemeinde Sternenfels. Auch hierbei handelt es sich um

Bisher existieren MarktTreffs bereits in 25 Gemeinden, und

ein dörfliches Dienstleistungszentrum, das öffentliche, ge-

es sollen noch weitere hinzukommen. Nicht nur die Bür-

werbliche und ehrenamtliche Dienste unter einem Dach

ger sind zufrieden, auch die betreffenden Bürgermeister

bündelt, wobei die Kommune die Trägerschaft übernimmt.

sind voll des Lobes und stolz auf ihre MarktTreffs. So der

Eine private Initiative, die ohne staatlich-kommunale

Bürgermeister Jörg Smolla der Gemeinde Koberg: »Die Ge-

Hilfe auskommt, ist das DORV-Zentrum im 1400 Einwoh-

meinde hat einen regelrechten Sprung nach vorn gemacht.

ner zählenden Dorf Barmen, das zur Stadt Jülich in Nord-

Einkaufen im Ort und sich dabei treffen ist wieder selbst-

rhein-Westfalen gehört. Das »Zentrum für Dienstleistung

verständlich. Dazu kommen ein Mittagstisch, der besonders

und Ortsnahe Rundum Versorgung« wurde im Jahr 2004

von Schülern und ›Kochfaulen‹ genutzt wird, und ein ab-

nach dreijähriger Vorbereitung eröffnet. Es wird geführt

wechslungsreiches Kultur- und Veranstaltungsangebot mit

von einem privaten Trägerverein, seine Finanzierung er-

Livemusik, Kunstausstellungen, Theater- und Spieleaben-

folgte durch Bürgeraktien für je 250 Euro und Privatkre-

den für alle Generationen. Gerade sind wir beim landes-

dite. Im Mittelpunkt steht ein Dorfladen, der sein Ange-

weiten Wettbewerb ›Unser Dorf hat Zukunft‹ die Nummer

bot passgenau an den Bedürfnissen der Bevölkerung aus-

zwei geworden.«

87�

Eine vergleichbare Initiative mit dem Namen KOMM-

richtet und bewusst auch regionale Anbieter einbindet. Des Weiteren werden im Barmener DORV -Zentrum öf-

Wirtschaft und Versorgung

109

Vereine die Bürgerinnen und Bürger zu einer Diskussion über die weitere Zukunft des dörflichen Gemeinschaftslebens ein. Ergebnis: Gründung des Vereins »Ollarzried aktiv e. V.«, ein Dachverein für das Gemeinschafts- und Vereinsleben im Dorf. Bereits am Gründungstag traten 160 Ollarzrieder bei. Heute umfasst er 190 Mitglieder, jeder Haushalt ist mit mindestens einer Person vertreten. Bei der Gründung war es das wichtigste Anliegen, ein Gasthaus mit Räumen für die Vereine zu schaffen. Das zentral im Ort stehende ehemalige Bank- und Lagerhaus der örtlichen Waldgenossenschaft war ungenutzt und bot sich förmlich für das gewünschte neue Gast- und Vereinshaus an. Auf der Basis eines langfristigen Mietvertrags zwischen Waldgenossenschaft und »Ollarzried aktiv e. V.« konnte es losgehen. Alle packten an – über 4000 freiwillige und ehrenamtliche Arbeitstunden wurden geleistet. Auch ein großer Teil der Finanzierung konnte durch private Geld- und Sachspenden aufgebracht werden. Von der staatlichen DorferneuerungsIm Dorfladen von Pinnow bei Angermünde in der Uckermark nimmt man sich die Zeit für einen Plausch, was vor allem die älteren Dorfbewohner sehr schätzen.

förderung und der Gemeinde Ottobeuren kamen insgesamt Zuschüsse in Höhe von 80 000 Euro. Bereits nach einer Umbauzeit von sechs Monaten feierten die Ollarzrieder die Einweihung ihres selbst umgebauten Dorfzentrums. Das neue

fentliche, soziale und private Dienstleistungen angeboten

»Gasthaus zum Hoigata« wird von einem Pächter betrieben,

wie z. B. Kfz-Zulassung, Sparkassenservice, AWO -Beratung

der gemeinschaftliche Saal steht Vereinen, Jugendlichen

und ein DORV -Arzt. Die Initiatoren des Barmener Dorfla-

und Einzelpersonen zur Verfügung. Seit mehr als fünf Jah-

dens, Heinz Frey und Jürgen Spelthann, sind derzeit in vie-

ren hat sich das Gasthaus als Mittelpunkt des Dorflebens

len Regionen Deutschlands unterwegs, um ihre Konzepte

bewährt, die Initiative von 2002 hat den Zusammenhalt

und Strategien in Dörfern vorzustellen, die ihren verlore-

und das Selbstbewusstsein des Dorfes gesteigert. Der Dach-

nen Laden wiederhaben möchten.

verein »Ollarzried aktiv e. V.« hat inzwischen weitere Pro-

Ein positives Beispiel für die Erhaltung des letzten Gasthauses ist das Dorf Ollarzried im schwäbischen Bayern.

88

jekte durchgeführt wie die Neugestaltung des Dorfangers und die Renovierung der alten Dorfschule.

2002 war der absolute Tiefpunkt für den 340 Einwohner

Im nordwestfälischen Dorf Brochterbeck ging 2009 die

zählenden Ort: Das Dorfgasthaus mit Saal brannte nieder –

Traditionsgaststätte »Franz« in die Insolvenz und stand län-

der Eigentümer wollte die Gaststätte nicht wieder aufbauen.

gere Zeit leer. Auch hier konnten sich engagierte Dorfbe-

Bereits in den Jahren zuvor – etwa ab 1960 – waren viele an-

wohner nicht mit dem Verlust abfinden und gründeten die

dere dörfliche Einrichtungen, Geschäfte und Betriebe ver-

Genossenschaft »Historische Gaststätte Franz«. Unterstüt-

loren gegangen. Und nun das Zentrum für das aktive Ol-

zung fanden sie dabei auch vom Rheinisch-Westfälischen

larzrieder Gemeinschafts- und Vereinsleben! Der drohende

Genossenschaftsverband. Innerhalb weniger Wochen kauf-

Verlust führte zu einer außergewöhnlichen Initiative. Im

ten 350 Bürger aus Brochterbeck 883 Anteile, wodurch

Oktober 2002 luden die Vorsitzenden der 14 Ollarzrieder

mehr als 200 000 Euro zusammenkamen. Die anfallenden Sanierungskosten sanken durch viele freiwillige Helfer, so dass schon Rücklagen für zukünftige Reparaturen gebildet werden konnten. Im Mai 2013 konnte der historische Gasthof wieder eröffnet werden.

110

Das moderne Dorf

»Einer für alle – alle für einen!« Dörfliche Genossenschaften

Genossenschaften gehörten zu jedem mittelgroßen

schaften, denen man durch seinen Besitz oder Wohnort an-

Dorf wie die Kirche oder Schule. Hier kauften die

gehörte. So wurde insbesondere das allen Dorfbewohnern

Bauern Futter-, Düngemittel und Saatgut oder lieferten

zustehende Weideland (Allmende, Brachen und Wald) ge-

ihre Getreideernte ab. Im Angebot gab es aber auch

meinschaftlich und nach festen Regeln genutzt, die Ge-

Hühnerfutter und Grassamen oder Kleingeräte und

meinschaftsherden von dorfeigenen Hirten betreut. Ähnli-

Gummistiefel für den Land- und Gartenbau. Inzwischen

ches galt für die in Parzellen aufgeteilte Feldflur: Deren Be-

sind die meisten dieser klassischen Bezugs- und

wirtschaftung war ebenfalls fest geregelt (es gab noch keine

Absatzgenossenschaften aus den Dörfern verschwun-

Feldwege), was in Begriffen wie »Flurzwang« oder »Feld-

den, andere wie die Volksbanken haben Bestand.

aufseher« zum Ausdruck kommt. Weitere Zwangsgenos-

Und neue Genossenschaften mit höchst unterschied-

senschaften waren Wald- und Jagdgenossenschaften. Letz-

lichen dörflichen Zielen werden gegründet!

tere haben bis heute Bestand und regeln die Bedingungen der Jagd zwischen den Grundeigentümern und Jagdpäch-

Genossenschaften sind typisch ländliche Einrichtungen

tern auf der gesamten Flurfläche. Die meisten Zwangsge-

der wirtschaftlichen Selbsthilfe. Sie reichen weit in die

nossenschaften haben allerdings mit den Agrarreformen

Dorfgeschichte zurück. Vom alt- und mittelhochdeutschen

des 19. Jahrhunderts, mit der Überführung der Gemein-

Wortsinn her heißt Genosse: »der seinen Besitz mit ande-

rechte in Privatrechte, ihre Basis verloren.

ren gemeinsam hat« und der einen »Nutzen davon« hat, was

Das moderne, auf Freiwilligkeit basierende Genossen-

noch in unserem Wort »genießen« steckt.89 Genossenschaf-

schaftswesen entwickelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhun-

ten sind also Zusammenschlüsse mehrerer Personen zu ei-

derts – wir unterscheiden Waren-, Kredit- und Betriebs-

nem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb, wobei für den

genossenschaften. Sie hatten die Wirtschaftsförderung der

Einzelnen Vorteile entstehen. Jeder Genosse bringt in die

Einzelmitglieder zum Ziel und arbeiteten in lokaler Selbst-

Gemeinschaft etwas ein: in der Regel Land, Geld oder seine

verantwortung und nach dem Kostendeckungsprinzip. Ge-

Arbeitskraft. Man unterscheidet Zwangsgenossenschaften

nerell sollten die Genossenschaften den Bauern, die durch

und freiwillige Zusammenschlüsse. Die älteren, bis ins Mittelalter reichenden ländlichen Genossenschaften waren überwiegend Zwangsgenossen-

Abbildung oben: Im genossenschaftlichen Dorfladen von Harthausen in Bayern sind die Verkäuferinnen trotz sechs Euro Stundenlohn freundlich.

Wirtschaft und Versorgung

111

die Agrarreformen juristisch und ökonomisch frei gewor-

Molkereigenossenschaften, 2909 Bezugs- und Absatzgenos-

den waren, dabei helfen, ihren Start in die Markt- und Ka-

senschaften, 1123 Elektrizitätsgenossenschaften, 287 Vieh-

pitalwirtschaft zu bestehen. Als Begründer der bäuerlichen

verwertungsgenossenschaften, 206 Winzergenossenschaf-

Genossenschaftsbewegung gilt Friedrich Wilhelm Raiff-

ten, 152 Eierverkaufsgenossenschaften und 2732 sonstige

eisen (1818–1888). Sein Grundsatz entsprach der christli-

Genossenschaften.91 1930 existierten im Deutschen Reich

chen Nächstenliebe und lautete »Einer für alle – alle für ei-

etwa 40 000 ländliche Genossenschaften. Das heißt, zu-

nen« , was nicht nur ökonomische Vorteile, sondern auch

mindest jedes mittelgroße deutsche Dorf hatte eine eigene

Gemeinsinn hervorbrachte. Die Genossenschaften waren

Spar- und Darlehenskasse und eine Warengenossenschaft,

nach Raiffeisen ein Mittel zur Steigerung des Wohlstandes

die man meist nur »die Genossenschaft« nannte.

90

und der geistig-sittlichen Kultur der Landbevölkerung. Als

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Genossen-

Pionier neben Raiffeisen ist Hermann Schulze-Delitzsch

schaftswesen in Deutschland zunächst eine höchst unter-

(1808–1883) zu nennen, der als Begründer des handwerk-

schiedliche Entwicklung. In der DDR wurden die bestehen-

lich-gewerblichen Genossenschaftswesens gilt. Dies war

den Genossenschaften auf freiwilliger Basis bald aufgelöst,

wichtig, weil sich das Landgewerbe ebenso wie die Land-

die Bauern ab 1952 in die unfreiwilligen landwirtschaft-

wirtschaft im späten 19. Jahrhundert kräftig entwickelte

lichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) genötigt. In

und zum Aufschwung des Dorfes beitrug.

Westdeutschland erlebten die Kredit- und Warengenossen-

Die Genossenschaftsgründungen in der zweiten Hälfte

schaften zunächst einen Aufschwung. Die Spar- und Dar-

des 19. Jahrhunderts hatten sehr unterschiedliche Schwer-

lehenskassen blühten in der Wirtschaftswunder-Phase der

punkte. Vor allem in der Anfangsphase hatten die Genossen-

1950er und 1960er Jahre auf und entwickelten sich zu mo-

schaften die Aufgabe, Bauern und Handwerker mit güns-

dernen Banken. Auch die ländlichen Bezugs- und Absatz-

tigen Krediten zu versorgen und vor Ausbeutung durch

genossenschaften entwickelten sich positiv und errichteten

Zinswucherei zu schützen. Die Warengenossenschaften

bald neue und größere Gebäude sowie erweiterten nach

dienten einerseits dem Bezug von Betriebsmitteln wie Saat-

und nach ihre Aufgabenfelder. Neben dem Bezug von

gut, Dünger, Pflanzenschutzmittel und Maschinen, ande-

Betriebsmitteln und dem Absatz landwirtschaftlicher Pro-

rerseits dem Absatz landwirtschaftlicher Produkte wie Ge-

dukte hatte »die Bäuerliche«, wie die lokale Genossen-

treide, Raps oder auch Vieh. Dazu kamen Betriebsgenos-

schaft im Volksmund oft hieß, vielerorts auch Brennstoffe

senschaften wie Molkerei- oder Winzergenossenschaften.

wie Kohlen, Heizöl und Diesel im Angebot. Später kamen

Die Ideen und Pioniergründungen von Raiffeisen und

Baustoffe hinzu und seit einigen Jahren deutlich zuneh-

Schulze-Delitzsch haben wesentlich zur

mend ein immer breiterer Garten- und

wirtschaftlichen Entwicklung der Land-

Hobbymarkt.

wirtschaft und des ländlichen Hand-

Seit den 1970er Jahren schrumpft das

werks beigetragen. Sie fanden schnell in

ländliche Genossenschaftswesen jedoch

ganz Deutschland Verbreitung und dar-

zunehmend. Vor allem die dörflichen

über hinaus in der ganzen Welt Nachah-

Warengenossenschaften mussten nun

mung. Im Rückblick gehören die Genos-

auch nach modernen Leistungs- und

senschaftsgründungen des 19. Jahrhun-

Kostenkriterien bewirtschaftet werden.

derts zu den bedeutenden Innovationen

Die meisten ließen sich aus ökonomi-

der modernen Dorfgeschichte.

schen Gründen nicht halten und wur-

Im Jahr 1917 bestanden in Deutsch-

den aufgegeben bzw. »zentralisiert«; der

land 28 967 ländliche Genossenschaften

Rückzug aus der Fläche vollzog sich aus

mit etwa 2 Mio. Mitgliedern. Deren Viel-

ähnlichen Kriterien wie bei Post, Bahn,

falt lässt sich an ihren Untergruppen

Kommunen und Polizei. An den ver-

erkennen: 97 Zentralgenossenschaften,

bliebenen oder konzentrierten Standor-

17 866 Spar- und Darlehenskassen, 3595

ten präsentieren die ländlichen WarenDer Landbewohner wird zum Sparen angehalten: Werbeschild des Deutschen Raiffeisenverbandes aus den 1930er Jahren.

112

Das moderne Dorf

genossenschaften heute ein breites und hochwertiges Angebot nicht nur für die Landwirte, sondern für die gesamte Landbevölkerung. Wie in ihrer Gründungsphase vor über 100 Jahren sind sie immer noch als freiwilliger Zusammenschluss von Genossen organisiert. Sie tragen heute in ganz Deutschland den Namen »Raiffeisenmärkte« und zeigen sich damit ihrem Gründer und seinen Idealen verpflichtet. Auch die Spar- und Darlehenskassen haben bis in die Gegenwart Bestand. Viele firmieren heute als Volksbanken, sie sind aber immer ein Zusammenschluss von »Genossen«, die aber längst nicht mehr allein aus dem Bauern- und Handwerkerstand kommen. Die Innovationen von Raiffeisen und Schulte-Delitzsch vor 150 Jahren hatten somit für den ländlichen Raum eine nachhaltige Wirkung. Sie sind – trotz aller Konzentrationsprozesse – bis heute wirksam und erfolgreich. Neben den konkret betriebswirtschaftlich orientierten Genossenschaften gibt es eine Reihe von Agrarorganisatio-

Moderne Raiffeisenmärkte wie hier in Kreuzau im Kreis Düren bieten heute ein breites Angebot für Landwirtschaft und Gartenbau.

nen, die vor allem wirtschaftspolitische Ziele verfolgen und meist auch überregional wirken. Als Dachorganisation für

Dorfläden, die zunehmend von lokalen Genossenschaf-

viele bereits bestehende lokale und regionale Vereinigun-

ten getragen werden. Diese arbeiten nach dem Kostende-

gen wurde 1885 die Deutsche Landwirtschafts-Gesell-

ckungsprinzip und müssen keinen Gewinn machen. Der

schaft (DLG) gegründet, wobei man sich an einem eng-

Verlust des letzten Ladens im Ort hat viele Bürger und Poli-

lischen Vorbild orientierte. Neben der DLG gibt es drei

tiker auf dem Land wachgerüttelt: Ist kein Laden mehr im

weitere Spitzenverbände der deutschen Agrar- und Ernäh-

Dorf, ist kein Leben mehr im Dorf. Allein in Bayern gab

rungswirtschaft. Um Überschneidungen zu vermeiden, hat

es in den letzten fünf Jahren über 200 Neugründungen

man deren Aufgabenschwerpunkte festgelegt: Der Deut-

von Dorfläden im Besitz einer Bürgergenossenschaft.92 Bei-

sche Bauernverband ist die wirtschaftspolitische Vertre-

spiele hierfür sind Gelting, Harthausen, Hurlach oder Si-

tung der Landwirtschaft, während sich die Landwirt-

monshofen. Alle Dörfer hätten ohne die genossenschaft-

schaftskammern um die Ausbildung und Beratung der

lichen Gründungen keinen Laden mehr. In Harthausen, ei-

Landwirte kümmern und die Raiffeisengenossenschaften

nem Ort östlich von München mit 870 Einwohnern, gab es

um die gegenseitige Wirtschaftshilfe; die DLG hingegen

zuletzt nur noch einen Kaugummi- und einen Zigaretten-

ist für den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft

automaten. Die letzte Metzgerei hatte vor vier Jahren ge-

zuständig. Spitzenverbände der deutschen Waldwirtschaft

schlossen, als der Metzger in den Ruhestand ging. Dann

sind die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzer-

wurde der neue Dorfladen mit 80 m2 Verkaufsfläche im al-

verbände (AGDW) und der Deutsche Forstwirtschaftsrat

ten Feuerwehrhaus untergebracht. Rund 200 Dorfbewoh-

(DFWR). Ihre großen Auftritte in der Öffentlichkeit haben

ner traten der Ladengenossenschaft bei und erwarben einen

die agrarpolitischen Spitzenverbände regelmäßig auf pub-

Anteil von je 200 Euro. Das Startkapital von 40 000 Euro

likumswirksamen Messen wie der »Grünen Woche« in Ber-

reichte für Regale, Kühltheken, Geräte und Lebensmit-

lin oder der »Agritechnika« in Hannover.

tel. »Trotzdem gäbe es ohne die ehrenamtliche Mithilfe der

Dass das Genossenschaftswesen auf dem Land nicht nur

Bürger kein Dorfgeschäft. Harthauser Handwerker bauten

eine lange Tradition hat, sondern auch bis heute lebendig

die Regale, Maurer mauerten, Maler malten, der SeilSepp

ist, zeigen zahlreiche Neugründungen zu verschiedenen

leiht dem Laden seinen Anhänger zum Transport der Ge-

Zwecken in jüngerer Zeit. Ein Schwerpunkt hierbei sind

tränkekisten. Die Angestellten der Dorfläden bekommen

Wirtschaft und Versorgung

113

umgerechnet rund 6 Euro in der Stunde, ein allgemeiner Mindestlohn wäre das Aus für die neuen Tante-Emma-Läden.«93 Trotzdem sind die Verkäuferinnen zufrieden. Sie arbeiten im eigenen Dorf, bieten viele regionale Produkte an, deren Erzeuger sie kennen, und schätzen die lokalen Kontakte. So die Verkäuferin und Geschäftsführerin des Dorfladens Gelting, Andrea Pichler: »Für einen Discounter würde ich nicht arbeiten, weil ich gern auch mit den Kunden sprechen mag.«94 Der bayerische Staat unterstützt die dörflichen Anstrengungen um den eigenen Laden mit Seminaren zum Thema »Tante Emma ist wieder da« in seinen »Schulen der Dorferneuerung« – durchaus ein Vorbild für andere Bundesländer. Neben Dorfläden werden Genossenschaften auch für andere dorfeigene Zwecke gegründet. In Bollschweil im Schwarzwald wurde beispielsweise im leer stehenden Dorfschreiberhaus ein genossenschaftlich organisiertes Dorfgasthaus eröffnet. Zur Rettung ihres Gasthauses mit Biergarten gründeten die Dorfbewohner in Feldwies im Chiemgau eine Aktiengesellschaft, die »Dorfwirtshaus AG «; der Gasthof wurde inzwischen in renommierte Restaurantführer aufgenommen. Im nur 170 Einwohner zählenden Dorf Dalwigksthal im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg war der letzte Treffpunkt des Dorfes in großer Gefahr. Daher besannen sich die Dalwigksthaler auf ihre eigenen Kräfte und gründeten 2012 die neue »Bürgergenossenschaft Schule Dalwigksthal«. Gut ein Jahr nach dieser Gründung ging das vom Dorf selbst sanierte und getragene Dorfgemeinschaftshaus in der ehemaligen Dorfschule als Dorftreff und Kneipe in Betrieb. Manchmal sind die neuen ländlichen Genossenschaften mit ihren jeweiligen Kommunen zu Partnerschaften verknüpft. Im niedersächsischen Dorf Luthe wurde im Jahr 2005 die Genossenschaft »Naturerlebnisbad Luthe« gegründet, nachdem die Stadt Wunstorf das Bad aus Kostengründen geschlossen hatte. Ziel war die Errichtung eines naturnahen Freibades mit Schwimmbecken ohne Chlor. Das Naturbad wird nun ehrenamtlich geführt, die Gemeinde leistet einen jährlichen Kostenzuschuss. Nach dem Verlust ihres letzten Tante-Emma-Ladens gründeten die Dorfbewohner von Harthausen in Bayern eine Ladengenossenschaft, packten selbst an und bauten ein altes Feuerwehrhaus zum neuen Dorfladen um.

114

Das moderne Dorf

Der Trend zum Pendlerdorf Traditionelle und moderne ökonomische Dorftypen

Dorf ist nicht gleich Dorf. Die ökonomischen Schwer-

den landwirtschaftlich geprägten Siedlungen können wir

punkte der ländlichen Siedlungen waren schon früher

nach den Besitzverhältnissen drei Dorftypen unterschei-

sehr unterschiedlich: So gab es Bauern-, Guts-,

den: Bauerndörfer, Gutsdörfer sowie kombinierte Bauern-/

Kloster-, Handwerker-, Händler-, Weinbau-, Fischer-,

Gutsdörfer.

Waldarbeiter-, Bergbau-, Eisenbahn- oder Industrie-

In Bauerndörfern dominiert das bäuerliche Eigentum

arbeiterdörfer. Heute sind die ökonomischen Dorftypen

bzw. Nutzungsrecht. Neben der Landwirtschaft entwickelte

weniger eindeutig erkennbar, Mischtypen herrschen vor.

sich lediglich das dörfliche Handwerk, meist mit einem

Außerdem sind durch die starken Verluste an Arbeits-

kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Nebenerwerb.

plätzen Pendlerdörfer entstanden. Aber die frühere

Durch verschiedene historische Vorgaben wie dem Erbrecht

ökonomische Basis bleibt im Dorfbild meist erhalten

oder Verträge mit der Grundherrschaft kam es früher viel-

und erkennbar. Eine neue Hoffnung für das Land ist

fach zu einer »Sortierung« der Bauerndörfer nach der vor-

die moderne Telearbeit.

herrschenden Betriebsgröße. So unterscheiden wir zwischen Klein-, Mittel- und Großbauerndörfern. Kleinbau-

Mit welchen Arbeitsplätzen haben die Dorfbewohner frü-

erndörfer finden sich z. B. häufig im deutschen Südwesten,

her ihren Lebensunterhalt verdient? Wir haben die Viel-

Großbauerndörfer in der Magdeburger Börde und Mittel-

falt der land- und forstwirtschaftlichen sowie gewerbli-

bauerndörfer in Hessen sowie Thüringen. Die Gebäudesub-

chen Berufe in den Dörfern kennengelernt. Welcher Kon-

stanz in Bauerndörfern und -weilern ist relativ einheitlich

trast besteht z. B. zwischen Gutsdörfern und Bauerndör-

und zeigt lediglich Größenabstufungen zwischen den Be-

fern! Die Wissenschaft hat deshalb ökonomische Dorf-

trieben. Das überlieferte Ortsbild weist außer einer Kirche

typen formuliert, um Dörfer nach ihren jeweiligen wirt-

oder Kapelle keinen weiteren Mittelpunkt auf. Derartige

schaftlichen Schwerpunkten zu unterscheiden: z. B. Win-

Bauerndörfer bilden in Deutschland traditionell die große

zerdorf, Waldarbeiterdorf oder Fischerdorf. Generell

Mehrheit der ländlichen Siedlungen. Es ist interessant, dass

trennen wir zunächst zwischen agraren und nicht agraren

auch für moderne Dorfdefinitionen immer noch das bäu-

ländlichen Siedlungen. Für die Entstehung und Entwicklung der meisten Dörfer war die Landwirtschaft die wirtschaftliche Basis. Unter

Abbildung oben: Durch verlorene Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Handwerk sind die meisten Dörfer zu Auspendlerdörfern geworden.

Wirtschaft und Versorgung

115

erliche Siedlungsbild herangezogen wird, obwohl ja die

Residenzorte erhielten im 18./19. Jahrhundert um die Guts-

Landwirtschaft inzwischen aus den meisten Dorfgebäuden

höfe und Schlösser herum häufig aufwendige Parkanlagen

verschwunden ist.

nach französischen oder englischen Vorbildern.

In reinen Gutsdörfern hingegen fehlt das bäuerliche

Begründer und Träger der Gutssiedlungen waren in der

Element, da die landwirtschaftlichen Flächen von einem

Regel der lokale und regionale Adel sowie kirchliche Män-

einzigen Großbetrieb aus bewirtschaftet werden. Die klas-

ner- und Frauenorden. Häufig wetteiferten Adel und Klös-

sische Gutssiedlung, die besonders im östlichen und nörd-

ter um die lokale und regionale Grundherrschaft, sodass

lichen Deutschland verbreitet war, besteht aus dem zentral

wir in Deutschland eine hohe Dichte adliger und klöster-

gelegenen Herrenhaus als dem Wohnsitz des Gutsherren

licher Gutssiedlungen vorfinden. Sowohl die Kloster- als

oder Verwalters und aus den benachbarten Wirtschafts-

auch die Adelssiedlungen waren in gewisser Weise kleine

gebäuden, die in der Regel einen Hof umschließen. Dazu

urbane Zentren, wo sich Reichtum und Wissen miteinan-

kommen die Landarbeiterhäuser, die sich meist in ei-

der verbanden. Sie sorgten oft für ökonomische, kulturelle

ner kleinen Straßenzeile unmittelbar an die Wirtschafts-

und soziale Innovationen in ihrem ländlichen Umfeld. Be-

gebäude anschließen. Wenn der adlige Grundeigentümer

sonders die meist reich ausgestatteten Klöster sind dafür be-

selbst im Ort lebte, sprechen wir von einer Residenzsied-

kannt, dass sie diverse land- und forstwirtschaftliche Son-

lung, die neben einem Schloss und dem Gutshof auch noch

derkulturen, das Handwerk und die Künste pflegten und

Gebäude für Hofbeamte und Handwerker enthielt. Adlige

durch ihre weit verzweigten überregionalen Kontakte auch

Das Gutsdorf ist im Norden Deutschlands weit verbreitet. Gut erhalten ist das Beispiel Tellow bei Teterow: Das alte Gutshaus – mit anschließendem Park – liegt rechts am Ende einer Wegeachse, die von den Wirtschaftsgebäuden flankiert wird.

116

Das moderne Dorf

Winzer- oder Weinbauerndörfer finden sich vor allem in Süddeutschland. Sie bieten durch reizvolle Ortsbilder, die Weinschänken und Winzerfeste eine hohe Anziehungskraft für Touristen, aber auch Ostdeutschland bietet Weinbaugebiete, wie Freyburg (Unstrut) im Burgenlandkreis hier zeigt.

zu ökonomischen und kulturellen Fortschritten des länd-

oder Mittelpunktsiedlungen, in denen sich z. B. Schulen,

lichen Raumes beitrugen.

Krankenhäuser, Amtsgerichte und Molkereien konzent-

Sehr häufig sind adlige oder klösterliche Gutssiedlungen

rierten. Eine Sonderform einer agraren Gutssiedlung wa-

mit einem Bauerndorf unmittelbar verknüpft, wir sprechen

ren für knapp 40 Jahre in der DDR die LPG -Dörfer. Diese

dann von kombinierten Bauern-/Gutsdörfern. Durch diese

landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften waren

Mischung war in solchen Dörfern die ökonomische und so-

ab 1952 durch eine Kollektivierung der Privatbetriebe ge-

ziale Differenzierung breit ausgebildet und z. B. der Hand-

bildet worden.

werkerstand gut entwickelt. Solche Bauern-/Gutsdörfer

Auch die meisten Kleinstädte des ländlichen Raumes,

übten häufig zentrale Funktionen für die (meist kleine-

die überwiegend in der Blütezeit der Städtegründungen

ren) Nachbardörfer aus. Sie entwickelten sich oft zu Markt-

im Hohen und Späten Mittelalter begründet wurden, wa-

Wirtschaft und Versorgung

117

Die meisten Fischerdörfer an den Küsten und auf den Inseln haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und haben sich dem Tourismus zugewandt. Im ostfriesischen Greetsiel wird aber bis heute Krabbenfischerei betrieben.

ren bis vor wenigen Jahrzehnten ebenfalls eindeutig Ag-

Weinbauerndorf. Winzerorte sind meist eng bebaut und

rarsiedlungen mit vorherrschenden land- und forstwirt-

haben eine Tal-, Hang- oder Spornlage in unmittelbarer

schaftlichen Funktionen. Man spricht deshalb bei diesen

Nähe zu den Rebflächen. Durch ihre reizvollen Ortsbilder,

Klein- und Mittelstädten bis weit in das 20. Jahrhundert hi-

die lokale Weinverarbeitung und -vermarktung, die Wein-

nein von Ackerbürgerstädten. Viele dieser Ackerbürger-

schänken und Winzerfeste bieten die Weinbaudörfer heute

städte haben sich in der Gegenwart zu Grund- und Mittel-

eine hohe Anziehungskraft für Touristen.

zentren des ländlichen Raumes mit entsprechenden zent-

Als forstwirtschaftliche Siedlungen im engeren Sinne

ralörtlichen Dienstleistungen (wie Schulen, Verwaltungen,

sind die Waldarbeiterdörfer zu nennen, die besonders in

Geschäften) entwickelt. Zahlreiche andere jedoch sind bis

den waldreichen Mittelgebirgen anzutreffen sind. Sie wa-

heute aus ihren agraren Strukturen kaum herausgewach-

ren bis in die 1960er Jahre hinein nicht selten mit eigener

sen, manche sind in ihrer Einwohnerentwicklung von 1850

Kirche, Schule und Post ausgestattet. Nach den Schrump-

bis heute sogar geschrumpft.

fungsprozessen in der Forstwirtschaft wurden die meist

Eine spezielle Form der Agrarsiedlung, die sich hauptsächlich in Süddeutschland befindet, ist das Winzer- oder

118

Das moderne Dorf

abgelegenen Waldarbeitersiedlungen oft zu Urlaubs- und Freizeitorten mit Ferienwohnungen entwickelt.

Reine Bauerndörfer gibt es heute kaum noch. Vor allem in größeren Dörfern verliert sich das bäuerliche Element. Das Beispiel Haidenkofen bei Regensburg/Landau an der Isar erscheint als ein Bauerndorf mit großen Höfen und guter Landwirtschaft.

Neben den durch die Land- und Forstwirtschaft geprägten

etwa 1850 mischten sich in vielen ländlichen Regionen die

Dörfern gibt es eine Reihe nicht agrarer ländlicher Siedlun-

alten bäuerlichen mit den neuen industriellen Erwerbstä-

gen. Hierzu gehören die Fischersiedlungen an den Küsten

tigkeiten: So entstanden z. B. im deutschen Südwesten oder

und auf den Inseln der Nord- und Ostsee, die zahlreichen

im Ruhrgebiet zahlreiche Arbeiterbauerndörfer.

Bergbau- und Glashüttensiedlungen der Mittelgebirge,

Zahlreiche deutsche Dörfer haben in ihrer historischen

die Handwerker- und Händlerdörfer und nicht zuletzt

Entwicklung gleich mehrere ökonomische Dorftypen

die zahlreichen ländlichen Kur- und Badeorte des 18. bis

»durchlaufen«. Ein Beispiel hierfür ist Trinwillershagen in

20. Jahrhunderts. Mit dem Beginn der Industrialisierung ab

Mecklenburg-Vorpommern: Das ursprüngliche Bauerndorf

Wirtschaft und Versorgung

119

Ein solches Bild sieht man auf dem Land immer seltener: die Grünfutterernte in traditioneller Form mit Handarbeit.

120

mit 13 Hofstellen wurde vor gut 200 Jahren (im Rahmen

aber eine oder mehrere neue hinzugewonnen. So konnten

des sog. »Bauernlegens«) in ein Gutsdorf mit einer Tagelöh-

sich zahlreiche Fischerdörfer an den Küsten (z. B. Greetsiel

nersiedlung umgewandelt. Im Zuge der »Bodenreform« von

an der Nordsee) sowie Bergbau- oder Glashüttensiedlungen

1945 bis 1949 und der ab 1952 folgenden Zwangskollektivie-

der Mittelgebirge zu attraktiven Tourismusorten oder welt-

rung landwirtschaftlicher Betriebe wurde Trinwillersha-

bekannten Manufakturdörfern (wie z. B. Glashütte oder

gen für knapp vier Jahrzehnte zum LPG -Dorf und sogar

Seiffen in Sachsen) entwickeln. Aus ehemaligen Bauern-

zum sozialistischen Vorzeigedorf. Nach der Wiedervereini-

dörfern werden neuerdings Energiedörfer (Beispiel Bio-

gung 1990 entwickelte sich Trinwillershagen wieder zu ei-

energiedorf Jühnde).96 Der schnelle wirtschaftliche Wandel

nem (Groß-)Bauerndorf und sucht jetzt neue ökonomische

vieler Dörfer gerade in den letzten Jahrzehnten hat dazu ge-

Standbeine durch Gewerbeansiedlungen und den Touris-

führt, dass immer seltener eindeutige ökonomische Dorf-

mus.

typen erkennbar sind. Überall sind nun Mischtypen anzu-

95

In vielen Dörfern hat der traditionelle ökonomische

treffen. In den meisten Dörfern dominieren heute Gewerbe

Schwerpunkt bis heute Bestand. So gibt es natürlich noch

und Dienstleistungen – man kann diese Großgruppe mit

zahlreiche Bauerndörfer und auch Gutsdörfer. Die große

der Beschreibung »Gewerbe- und Dienstleistungsdorf« zu-

Mehrheit der deutschen Dörfer hat jedoch ihre ursprüng-

sammenfassen. Trotz mannigfacher Änderungen bleibt die

lich dominante wirtschaftliche Basis verloren, in der Regel

frühere ökonomische Basis im Dorfbild meist erhalten und

Das moderne Dorf

erkennbar. So prägen besonders Gutshöfe und Bauernhäuser bis heute das Aussehen der meisten deutschen Dörfer.

Das berufliche Auspendeln gehört seit etwa 50 Jahren zu einem wesentlichen Merkmal des modernen Dorfes. Des-

Das Dorf war vor 200 und auch noch vor 60 Jahren öko-

sen ökonomische Basis liegt somit heute zu einem großen

nomisch relativ klar strukturiert, alle erwachsenen Dorf-

Teil außerhalb des eigenen Ortes. Dies macht es für die Ge-

bewohner arbeiteten im eigenen Ort. Dieser Totalbezug der

genwart schwer, klare ökonomische Dorftypen festzustel-

Erwerbstätigkeit auf Betriebe des eigenen Dorfes existiert

len. Die frühere Einheit von Wohnen und Arbeiten ist im

heute längst nicht mehr. Die Dörfer haben einen Großteil

modernen Dorf nicht mehr gegeben, auch definiert es sich

ihrer lokalen Arbeitsplätze verloren. Durch den drasti-

nicht mehr allein durch die lokalen Arbeitsplätze. Durch

schen Rückgang dörflicher Arbeitsplätze sind viele Dorf-

die hohe Auspendlerquote ist das Dorf für viele Bewoh-

bewohner zum Auspendler geworden, meist in die be-

ner zum Pendlerdorf und damit zum Wohndorf geworden.

nachbarten Klein- und Mittelstädte, manchmal aber auch

Manche sprechen auch abwertend vom Schlafdorf.

in andere Dörfer. Motorisierung und Verkehrsausbau ha-

Eine moderne Variante bzw. Alternative des Auspendelns

ben zunehmend weite Pendlerwege zum Arbeitsplatz er-

stellt die Telearbeit dar, die überwiegend zu Hause vom

möglicht unter Beibehaltung des dörflichen Wohnsitzes. In

PC aus gemacht werden kann. Diese »Arbeit über Distanz«

den meisten Dörfern Deutschlands beträgt die Auspendler-

nimmt in den Dörfern zu und bietet generelle Chancen für

quote heute mehr als 50 % (der Erwerbstätigen des Wohnor-

hochwertige Arbeitsplätze in ländlichen Regionen. Nicht

tes). In kleineren Orten (mit nur wenigen lokalen Arbeits-

nur Land- und Forstwirte vermarkten heute ihre Produkte

plätzen) ist der Anteil der Auspendler häufig auf mehr als

online an den nationalen und internationalen Warenbör-

zwei Drittel der Erwerbstätigen angestiegen. Die Auswei-

sen. Auch zahlreiche nicht agrare Berufe können nun, dank

tung des Pendlerverkehrs zu einer Massenerscheinung hat

der schnellen Netzverbindungen mit den großstädtischen

wesentlich dazu beigetragen, dass ein großer Teil der Bevöl-

Zentralen, auf dem Land ausgeübt werden. Viele Ingeni-

kerung in den Dörfern geblieben ist. Der Abwanderungs-

eure, Wirtschaftsberater, Kaufleute, Wissenschaftler und

prozess aus dem ländlichen Raum wurde dadurch gene-

Künstler wohnen und arbeiten dort bereits (oft im Wechsel

rell abgeschwächt. Aus sozialer und kultureller Sicht sind

mit einem Büro in der Stadt). Sie haben sich z. B. in ehema-

Pendler oft Träger dörflicher Innovationen: Sie übertra-

ligen Bauernhöfen, Gasthäusern oder Schulgebäuden nie-

gen städtische Verhaltensweisen und Normen in den länd-

dergelassen.

lichen Wohnort.

Wirtschaft und Versorgung

121

Bevölkerung – Soziales – Kultur

Einführung Die Landbevölkerung ist einem Mosaik aus vielen farbigen

chen Lebensader des Dorfes geworden sind. Besonders die

Steinen vergleichbar – sie ist äußerst bunt und kleinteilig

größeren Vereine wie Sport- oder Musikvereine betreiben

zusammengesetzt. Dies gilt nicht nur für die heutige mo-

nahezu tägliche Trainingsangebote und in der Regel auch

derne Zeit. Auch die Bevölkerung des »alten« Dorfes war

eine intensive Jugendarbeit. Die traditionellen Kulturträ-

keineswegs homogen. Neben einer dünnen Oberschicht

ger des Dorfes Kirche und Schule haben auf dem Land im-

des Landadels und der Geistlichkeit gab es die Mittelschicht

mer noch ein großes Gewicht, das aber allmählich zurück-

der »großen« Bauern, einiger vermögender Handwerker,

geht. Durch Schließungen oder Zusammenlegungen gehö-

Händler und Beamten, darunter aber eine breite Unter-

ren vielerorts die lokale Schule oder der »eigene« Dorfpastor

schicht der Klein- und Kleinstbauern, kleinen Handwerker,

der Vergangenheit an.

Landlosen, Tagelöhner, Knechte, Mägde, Bedürftigen und Behinderten. Wiederholt wurde die Landbevölkerung »aufgefrischt«

mehr und mehr angeglichen. Dennoch gibt es immer noch typisch ländliche Lebensstile. Diese sind natur-, tradi-

durch Zuwanderungen, vor allem in und nach Kriegen

tions- und handlungsorientiert. Landbewohner sind es ge-

und anderen Notzeiten. Aber es gab immer wieder auch –

wohnt, konkret anzupacken. In ihrer Freizeit tummeln sie

aus unterschiedlichen Motiven – Abwanderungen vom

sich bei Arbeiten am eigenen Haus, im Garten, beim Holz-

Land in die Städte, wobei häufig gerade die Tatkräftigs-

machen im Wald, bei der Nachbarschaftshilfe oder bei ge-

ten und Mutigsten die ländlichen Gebiete verließen. Heute

meinschaftlichen Arbeiten und Feiern in Vereinen und

sind es vor allem die gut ausgebildeten 18- bis 27-Jährigen,

Kirchengemeinden. Man spricht daher auch von dörflicher

die aus den Dörfern in die Städte ziehen. Man spricht hier-

»Aktivkultur«. Ein großes Plus des Landlebens ist die Zu-

bei von »Bildungsabwanderung«.

friedenheit der Landbewohner mit ihrem Wohnum-

Das soziale Leben in den Dörfern ist durch enge Kon-

feld. Sie ist doppelt so hoch wie die der Großstadtbewoh-

takte und Netzwerke geprägt. Verwandtschaften, Nach-

ner. Selbst unter jungen Leuten steht das Landleben in der

barschaften, Mitgliedschaften in Vereinen und Kirchen-

Beliebtheitsskala weit vor dem Stadtleben. Allerdings ist

gemeinden sowie diverse Freundeskreise werden gepflegt.

der Dorfbewohner heute nicht nur bodenständig, er ist zu-

Groß ist darüber hinaus die Bereitschaft, sich mit dem ei-

gleich mobil und weltoffen. Im Urlaub, aber auch zur Aus-

genen Dorf zu identifizieren, sich ehrenamtlich für die

bildung und im Beruf ist er häufig im Ausland unterwegs.

Dorfgemeinschaft einzusetzen. Dies kommt vor allem den

Der moderne Dorfbewohner ist zum Globetrotter gewor-

meist zahlreichen Vereinen zugute, die zu einer wesentli-

den.

Abbildung Seite 122/123: Kinder eines Trachtenvereins tanzen in der sogenannten »Miesbacher Tracht« bei einem Dorffest, am 3. Mai 2009 im oberbayerischen Baierbrunn.

124

Die Lebensverhältnisse von Stadt und Land haben sich

Das moderne Dorf

Der fast ständige Aderlass des Dorfes Ausmaß und Ursachen der Landflucht

Es gab Zeiten, da war das Dorf ein fast geschlossener

durch gewaltige Abwanderungsverluste. Dies gilt für

Kosmos, den man nicht verließ. Landbewohner hatten

Deutschland wie für ganz Europa. Die massenhaften Land-

kaum hoffnungsvolle Ziele und Motive, um abzuwan-

abwanderungen haben weltweit zur Verstädterung bei-

dern. Seit etwa 200 Jahren ist dies anders: Die neuen,

getragen. Bei der Landflucht unterscheiden wir zwischen

wachsenden Industriestädte brauchten Menschen

Auswanderungen ins Ausland und Binnenwanderungen,

vom Land, und Amerika lockte mit vielen Chancen.

die innerhalb der Staatsgrenzen stattfinden.

Die permanente Landflucht wurde zu einem Phänomen, das bis heute anhält und sich in Zukunft vielleicht

Die Auswanderungen aus Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten haben besonders im 19. Jahrhun-

noch verstärken wird. Für das Dorf bringt dieser Trend

dert zum Aufbau der Bevölkerungen in Übersee, vor allem

jedoch Nachteile. Leerstände von Gebäuden sind in

in Nord- und Südamerika, beigetragen. Allein im Zeitraum

nahezu allen Dörfern zu beobachten. Sind dies die

von 1816 bis 1914 sind etwa 5,5 Mio. Deutsche ausgewandert,

Vorzeichen für eine Phase moderner Dorfwüstungen?

davon zwischen 80 und 90 % in die USA , wo ihr Anteil an den gesamten Einwanderern ca. 30 % beträgt.97 Deutschland

Die große Frage ist: Hat der ländliche Raum in den zurück-

gehörte im 19. Jahrhundert zu den großen europäischen

liegenden 200 Jahren an Bevölkerung gewonnen oder ver-

Emigrantenstaaten. Die Masse der deutschen Auswanderer

loren? Er hat sowohl kräftig gewonnen als auch verloren!

entstammte dem ländlichen Raum. Gründe der Auswande-

Diese zunächst paradox erscheinende Antwort hängt mit

rungen waren vor allem Armut, Hungersnöte und die ge-

den höchst unterschiedlichen Bilanzen der Ab- und Zu-

ringen wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegschancen der

wanderungen sowie der Geburten und Sterbefälle zusam-

Landbevölkerung vor den agraren und politischen Refor-

men. In späteren Kapiteln werden die Zuwanderungen von

men des späten 19. Jahrhunderts.

der Stadt aufs Land und die »natürliche« Bevölkerungsent-

Zahlenmäßig noch bedeutender als die Auswanderun-

wicklung dargestellt. Zunächst wollen wir aber einen Blick

gen waren jedoch die Binnenwanderungen aus ländlichen

auf die einschneidendste Art der Bevölkerungsentwicklung

Räumen in die neu entstehenden Industrie- und Ballungs-

werfen: die Abwanderungen vom Land in die Stadt. Die Bevölkerungsentwicklung des ländlichen Raumes vom frühen 19. Jahrhundert bis heute ist wesentlich geprägt

Abbildung oben: Die Abwanderung vom Land hinterlässt in den Dörfern Lücken, die immer mehr ins Auge fallen und an die Substanz gehen.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

125

gebiete. In Deutschland haben zwischen 1860 und 1925 ins-

Am meisten betroffen sind heute abgelegene Regionen in

16 Stunden am Tag. Einer von ihnen war Friedrich Wienke

Vergleichbar mit der saisonalen Abwanderung ist die mo-

gesamt 22 bis 24 Mio. Menschen ihre ländlichen Heimat-

Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, aber auch

aus Brakelsiek in Lippe (1863–1930). Ab seinem 14. Lebens-

derne Pendelwanderung, die im täglichen, wöchentlichen

98

Um

in Nordhessen, der Eifel oder der Oberpfalz. Typische Ab-

jahr ging er wie sein Vater »auf Ziegelei« in die Fremde und

oder mehrwöchigen Rhythmus erfolgt. Nicht selten sind

1900 stammte in Deutschland ein Großteil der industriel-

wanderungsgebiete sind die wenig industrialisierten sowie

verdiente im Winter zu Hause als Schneider sein Geld. Wi-

Saison- und Pendelwanderungen Vorstufen zu vollständi-

len Arbeiterschaft in den Städten aus dem Bevölkerungs-

natur- und verkehrsgeographisch benachteiligten Agrar-

enke schrieb zahlreiche Gedichte über die Wanderziegler

gen Abwanderungen vom Land in die Stadt.

überschuss des ländlichen Raumes – und gleichzeitig

räume abseits der Ballungsgebiete.

und ist bis heute als »Zieglerdichter« bekannt. Hier ein Ge-

orte im Zuge von Binnenwanderungen aufgegeben.

Die Ursachen der Land-Stadt-Wanderungen in den zurückliegenden 200 Jahren sind vielfältig und wechselnd.

dicht von ihm aus dem Jahr 1908:

wuchs die ländliche Bevölkerung weiter. Die beiden Welt-

Neben den kompletten Aus- und Abwanderungen waren

kriege und Nachkriegszeiten haben die Abwanderungen

auch die Saisonwanderungen mit jahreszeitlichem Rhyth-

aus ländlichen Regionen zwar unterbrochen. Seit den spä-

mus weit verbreitet. Ein Beispiel sind die sog. »Ziegler«

Was taten die Männer im lippischen Land?

Zum einen setzte der andauernde Strukturwandel der ag-

ten 1950er Jahren hat der ländliche Raum aber wieder ge-

(Ziegelarbeiter), die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum

Sie gingen auf Ziegelei.

raren Wirtschaft auf dem Land ständig Arbeitskräfte frei.

nerelle Abwanderungsverluste zu verzeichnen. Dann wur-

Aufbau der nun kräftig wachsenden Städte massenhaft ge-

Sie zogen als Ziegler hinaus in die Welt

Zum anderen boten die schnell wachsenden Städte und In-

den die Abwanderungskurven in den 1970er Jahren wie-

braucht wurden. Sie verließen (von Agenturen angewor-

Und scheuten nicht Mühe und Plag,

dustriereviere alternative Arbeitsplätze. Ein ständiger Mo-

der flacher und bestehen auf diesem Niveau bis heute. Nach

ben) im Frühjahr ihre Familien, um in Ziegeleien in Lü-

Erwarben sich Gunst, verdienten schön Geld.

tor der Landflucht war zudem das Lohngefälle zwischen

der Wiedervereinigung hat der ländliche Raum besonders

beck, Hildesheim oder Berlin ihr Geld zu verdienen. Dort

in den neuen Ländern einen Abwanderungsboom erfahren.

blieben sie bis zum Beginn des Winters und arbeiteten bis zu

Im Vordergrund stehen meist ökonomische Gesichtspunkte.

So geht’s bis zum heutigen Tag.

99

Stadt und Land. In den städtischen Berufen konnte einfach deutlich mehr Geld verdient werden als in der Land- und

Die Industrialisierung führte ab 1850 zur Abwanderung von Millionen Arbeitskräften vom Land in die Stadt. Einer der Anziehungspunkte in Deutschland war das Ruhrgebiet, hier das Gelände der Firma Krupp in Essen um 1912.

126

Das moderne Dorf

Bevölkerung – Soziales – Kultur

127

Auch Saisonabwanderungen waren verbreitet. So zogen Ziegelarbeiter von April bis November aus westfälischen Dörfern nach Berlin oder Lübeck, um dort in Ziegeleien für den Aufbau der Städte zu arbeiten.

128

Forstwirtschaft oder im dörflichen Handwerk. Neben den

sind nun einmal früher wie heute weitgehend den größe-

ökonomischen gibt es auch sozial-psychologische Motive

ren Städten vorbehalten.

der Landflucht. Gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Die Wanderungsverluste hatten bzw. haben für den

war die Befreiung aus den engen sozialen, rechtlichen und

ländlichen Raum generell verschiedenartige negative Fol-

ökonomischen Bindungen an das Dorf, an die Grundherr-

gen. Zu den bedeutendsten Nachteilen gehört, dass vor al-

schaft, an den »Stand«, in den man geboren wurde, die oft

lem die jüngere, gut ausgebildete Bevölkerung – schwer-

wichtigste Schubkraft der Abwanderung in die Städte. Au-

punktmäßig die Gruppe der 18- bis 27-Jährigen – aus länd-

ßerdem lockten und locken die Städte mit vielfältigen An-

lichen Gemeinden wegzieht. Man spricht hier auch von

geboten und Reizen: Höhere und höchste Dienstleistungen

»Bildungsabwanderung«. Der Wegzug dieser Jugendlichen

im Bildungs- und Kulturbereich, in der Verwaltung, in der

schmerzt die Politiker des ländlichen Raumes besonders,

ärztlichen Betreuung sowie im Freizeitbereich und nicht

weil hier ein wertvolles Humankapital fortzieht, das auf

zuletzt die besseren Einkaufsmöglichkeiten waren und

dem Land hohe Erziehungs- und Ausbildungskosten ver-

Das moderne Dorf

ursacht hat, wovon dann aber andere, meist städtische Regionen profitieren können. Nicht selten kommt es auch zu einer Störung des Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern. So zeigt sich derzeit in manchen Gebieten Ostdeutschlands, dass mehr junge Frauen als junge Männer den ländlichen Raum verlassen und in Großstädte abwandern. Im Durchschnitt sind die Angehörigen der Ober- und Unterschichten zahlreicher unter den Abwanderern vertreten als die Angehörigen der offenbar bodenständigeren Mittelschichten. In der soziologischen Forschung werden die Landflüchter manchmal als die besonders tüchtigen und ideenreichen Dorfbewohner dargestellt, die in den Dörfern Zurückbleibenden erscheinen dagegen als negative Auslese. Doch es gibt dazu auch eine gegensätzliche These: Nur die erfolglosen, ungesicherten Existenzen, die über keine traditionellen Besitztümer und Beziehungen verfügen, der »Flugsand« also, würden das Land verlassen. Neben den leicht erkennbaren Nachteilen für das Dorf wie Überalterung und Frauenmangel sind in ländlichen Abwanderungsgebieten auch die schwieriger greifbaren Folgen für die ländliche Arbeits- und Lebensweise zu beobachten. Besonderheiten der Landbewirtschaftung, der lokalen Energieversorgung, der Sprache, des Brauchtums und der Bauweise werden vernachlässigt und schließlich aufgegeben. Zu den augenfälligsten Folgeerscheinungen der

Heute wandert hauptsächlich die Altersgruppe der 18- bis 27-Jährigen vom Lande ab, obwohl das Herz noch am Dorf hängt. Man spricht auch von Bildungsabwanderung aus dem Dorf.

Entvölkerung ländlicher Räume gehört der Verlust der überlieferten Kulturlandschaft, d. h. vor allem der traditionellen Bau- und Flurformen. In den meisten deutschen Dör-

Die Abwanderungen aus ländlichen Regionen werden

fern können wir heute leer stehende Gebäude in den Orts-

sich in Deutschland, wie darüber hinaus in Europa und

kernen beobachten. Häufig sind es die alten Bauernhäuser,

weltweit, vor allem aus wirtschaftlichen Motiven weiter

aber auch frühere Schulen, Schmieden, Gasthöfe und Dorf-

fortsetzen. Großstädte und Verdichtungsräume bieten nun

läden. Die ehemals lebendige Mitte mit ihren das Ortsbild

einmal in der Regel den besser dotierten, differenzierteren

prägenden Bauten ist vielfach von Verödung bedroht. Da-

und qualifizierteren Arbeitsmarkt.

rüber hinaus sind heute in nahezu allen Regionen Euro-

Allzu starke Abwanderungen vom Land in die Stadt wer-

pas sog. »Orts- und Flurwüstungen«, d. h. gänzlich auf-

den von der staatlichen Raumordnung als großes Problem

gegebene Siedlungen und Wirtschaftsflächen des 19. und

betrachtet. So sind bereits seit den 1960er Jahren in vielen

20. Jahrhunderts, anzutreffen. Ein Vergleich mit anderen

Staaten Europas zahlreiche Gesetze und Programme mit

europäischen Staaten wie Frankreich, Spanien, Italien oder

dem Ziel erarbeitet worden, die Entsiedlung ländlicher Ge-

Schweden macht allerdings deutlich, dass in den meisten

biete zu beenden, zu hemmen oder wenigstens zu ordnen.

Ländern größere Probleme in entsiedelten Regionen auf-

Auch in Deutschland stemmen sich Raumordnung und di-

treten als in Deutschland. Hierzulande sind bislang nur we-

verse Fachpolitiken sowie die ländliche Kommunalpolitik

nige, sehr kleine Orte von totalen Wüstungserscheinungen

gegen die durch Abwanderungen verursachten Infrastruk-

betroffen.

turverluste und Leerstände in den Dörfern.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

129

Das Dorf als Zufluchtsort Zuwanderungen von Städtern, Gastarbeitern und Aussiedlern

Zuzüge ins Dorf hat es zu allen Zeiten gegeben, aller-

schen aus den bereits zerstörten oder von Bomben bedroh-

dings erfolgten sie aus sehr unterschiedlichen Mo-

ten Großstädten und Industriegebieten in ländliche Regio-

tiven. Massenhafte Zuwanderungen aufs Land gab es

nen. In den letzten Monaten des Krieges und in den ersten

nach politischen und wirtschaftlichen Krisen: Zum

Nachkriegsjahren kamen etwa 12,5 Mio. deutsche Vertrie-

Beispiel im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder nach

bene bzw. Flüchtlinge in die vier Besatzungszonen: die

dem Fall des Eisernen Vorhangs in Deutschland und

große Mehrheit von ihnen in ländliche Gemeinden. So leb-

Europa. Aber auch heute ziehen gar nicht so selten

ten 1946 in Bayern drei Viertel aller Flüchtlinge auf dem

Stadtbewohner aufs Land, um hier bewusst ein an-

Land. Hier waren sowohl der verfügbare Wohnraum als

deres Leben zu führen. Das Dorf profitiert meist von

auch die Ernährungslage günstiger als in den zerstörten

diesen Zuzügen. Die vollkommene Integration in die

Städten. Jede einzelne Dorfstatistik in Deutschland kann

Dorfgemeinschaft kann jedoch Generationen dauern.

diesen markanten Bevölkerungssprung von 1939 bis 1950 nachweisen! Allerdings blieben die neuen Dorfbewohner

Im Vergleich zu den globalen Massenbewegungen der

nicht alle auf Dauer. Für einen Großteil dieser zugewan-

Landflucht ab dem frühen 19. Jahrhundert ist die gegenläu-

derten Bevölkerung war der ländliche Raum nur ein vorü-

fige Zuwanderung aufs Land weltweit von erheblich gerin-

bergehender Aufenthalt. Gerade die folgenden 1950er und

gerer Bedeutung. Größere Wanderungsströme in den länd-

1960er Jahre waren wieder von erheblichen Abwanderun-

lichen Raum wurden in der Regel durch wirtschaftliche

gen vom Dorf in die Städte und Industriegebiete geprägt.

und politische Krisen der modernen Industriegesellschaf-

Die ab den 1960er Jahren nach Deutschland zugewander-

ten ausgelöst. So zogen während der Weltwirtschaftskrise

ten Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Portugal, der Türkei

von 1929 bis 1934 in den USA etwa 10 Mio. Städter wieder

und dem Balkan ließen sich vor allem in der Nähe der in-

Der ländliche Raum hält offenbar bestän-

dustriellen Arbeitsplätze in den Großstädten und Ballungs-

auf das Land.

100

dige Qualitäten vor, die in Notzeiten geschätzt und genutzt werden. In Deutschland hatten die Dörfer in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ihren größten Zuwanderungsboom. Während des Krieges zogen mehrere Millionen Men-

130

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Massenhafte Zuwanderungen aufs Land erfolgen meist in Krisenzeiten wie am Ende und nach dem 2. Weltkrieg. Hier ein Flüchtlingstreck aus den deutschen Ostgebieten in einer zerstörten Ortschaft in Ostpreußen im Frühjahr 1945.

gebieten nieder. Doch vereinzelt zogen sie auch aufs Dorf,

Konfliktpotenzial waren seinerzeit Liebschaften zwischen

wobei sie meist die Altbauten in den Dorfkernen übernah-

einheimischen und zugezogenen Jugendlichen. Peinlichst

men, die durch den Wegzug von Dorfbewohnern freige-

achtete man darauf, dass es nicht zu ehelichen Verbindun-

worden waren und oft sogar leer standen.

gen kam. Die Integration der Heimatvertriebenen und

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann in Deutsch-

Flüchtlinge in die Dörfer wurde schließlich durch mehrere

land ein neuer Strom von Zuwanderungen aus den neuen

Ereignisse beschleunigt: den Hausbau (der die Wohnungs-

in die alten Bundesländer. Parallel dazu kamen Hundert-

not beseitigte und zu Selbstbewusstsein führte), die »Misch-

tausende deutschstämmige Aussiedler aus Russland, Rumä-

ehen« mit Einheimischen, die Mitarbeit in den dörflichen

nien und anderen osteuropäischen Staaten nach Deutsch-

Vereinen und nicht zuletzt die sprachliche Anpassung der

land. Ein Großteil dieses anhaltenden, aber geringer wer-

zweiten Generation an die lokal übliche Mundart oder

denden Zustroms hat sich auf Dauer im ländlichen Raum

Hochsprache.

niedergelassen. In vielen dörflichen Neubaugebieten kann

Generell und langfristig haben die Zuwanderer dem

man inzwischen beobachten, dass die Aussiedler sesshaft

Dorf gutgetan. Sie haben nicht nur seine Bevölkerungs-

geworden sind. So haben manche Dörfer vor allem in West-

entwicklung und die Infrastrukturauslastung stabilisiert –

deutschland ihre Bevölkerungszahl in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten um 10, 20 oder sogar 30 % erhöht. Seit etwa 2010 ist Deutschland das Ziel einer zuletzt (2015) stark ansteigenden internationalen Flüchtlingswelle – vor allem vom Balkan, aus vorderasiatischen und nordafrikanischen Ländern –, die längst auch den ländlichen Raum erreicht hat. Die Integration der Zuwanderer in die Dorfgemeinschaft verläuft heute wie früher nicht ganz reibungslos. Besonders im Gefolge der großen Zuwanderungsschübe nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Mauerfall 1989 gab es vielerlei Irritationen, Ängste, Grobheiten und Blockaden auf beiden Seiten, die erst allmählich abgebaut werden konnten. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1950 mussten sich viele Zuwanderer als ungebetene Gäste fühlen. Durch den raschen Zuzug waren die meisten Dörfer übervoll, es herrschte große Wohnungsnot, Armut und für viele Flüchtlinge wie Einheimische eine psychologische Schocksituation. Unfreiwillige Wohn- und Hausgemeinschaften waren an der Tagesordnung. Oft mussten sich von einem Tag auf den anderen fremde Familien Küche und Herd, Waschraum und Abort teilen. Die Heimatvertriebenen, die aus ihren ökonomischen und sozialen Bezügen gerissen und entwurzelt waren, wurden in der neuen Heimat vielfach diffamiert und in ihrer Ehre gekränkt: Sie wurden als »Habenichtse«, als »unerwünschte Eindringlinge« oder »lästige Ausländer« bezeichnet und mit Sprüchen wie »Geht doch wieder nach Polen!« traktiert.101 Starre Konfessionsbarrieren und sprachliche Fremdheiten erschwerten das Zusammenwachsen der Bevölkerung. Ein besonderes Die Dörfer im Umfeld der Großstädte haben in den letzten Jahrzehnten starke Zuwanderungen mit entsprechenden Neubaugebieten aufgenommen – hier Schönfließ im nördlichen Speckgürtel von Berlin.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

131

Die Neubausiedlung Neubösekendorf am Ortsrand von Angerstein in Niedersachsen entstand mit 35 Häusern für 70 Familien, die 1961 und 1963 aus dem thüringischen Grenzdorf Bösekendorf im Eichsfeld über die Grenze nach Westen geflüchtet waren (Foto von 1965).

sie haben dem Dorf und damit dem Landleben vielfältige

siefen mit 80 Einwohnern gezogen ist: »Die Familie glaubt,

kulturelle, soziale und wirtschaftliche Impulse gegeben.

in der Abgeschiedenheit von Locksiefen weniger einsam zu

Manch einer der neuen Dorfbewohner, der aus Ostpreußen

sein als in Bonn. ›In der Stadt ist man als Kleinfamilie ziem-

in ein bayerisches oder westfälisches Dorf kam, übernahm

lich isoliert‹, sagt Jan (der junge Familienvater). Nun wer-

gleich das Orgelspiel in der Dorfkirche, ein anderer wurde

den Eltern und Kinder bald die obere Etage des Fachwerk-

Trainer und Schiedsrichter im Sportverein. Die Kinder und

hauses beziehen. Oma Susanne wird unten wohnen. Das ei-

Enkel der Vertriebenengeneration gestalten heute längst in

gene Leben bestimmen, sich ausprobieren, Platz haben, das

Führungspositionen die Dorf- und Vereinspolitik mit oder

ist für Maggie und Jan wichtig. Ihre Kinder, so glauben sie,

leiten dörfliche Handwerks- und Gewerbebetriebe.

sind hier besser aufgehoben als in der Stadt. Sie träumen

Etwa seit der Mitte der 1970er Jahre ist im ländlichen

132

davon, sich selbst zu versorgen, unabhängig zu sein.«102

Raum – zunächst vor allem in Westdeutschland, nun aber

Seit etwa zehn Jahren gibt es einen Trend, dass vor allem

auch in Ostdeutschland – ein neuer leichter Trend von Zu-

Künstler und Intellektuelle aufs Land ziehen. Die FAZ reibt

wanderungen aus städtischen Regionen zu beobachten,

sich verwundert die Augen: »Was ist nur los im Kulturbe-

während die Abwanderungen geringer werden. In diesen

trieb? Deutsche Charakterdarsteller wie Corinna Harfouch,

»freiwilligen« Zuwanderungen aufs Land spiegelt sich ei-

Matthias Schweighöfer und Nadeshda Brennicke ziehen

ne populäre Zeitströmung, die geprägt ist von einer gewis-

samt Familie auf verlassene Höfe in der Mark Brandenburg

sen Großstadtmüdigkeit der Bevölkerung und einer neuen

und geben Interviews über ihr neues Leben. Der Fernseh-

Wertschätzung der Natur und des »überschaubaren« Dor-

mann Dieter Moor betreibt mit seiner Frau einen Biobau-

fes. Gerade junge Familien mit kleinen Kindern entschei-

ernhof und lädt regelmäßig Elke Heidenreich, Berlins Bil-

den sich oft für das Landleben, obwohl der städtische Ar-

dungssenator Jürgen Zöllner und Ulla Kock am Brink zum

beitsplatz zum täglichen Pendeln zwingt. Annette Zinkant

Anpacken ein.«103 Nicht selten beschreiben die neuen Groß-

berichtet von einer Familie mit zwei kleinen Kindern und

stadtflüchter ihre Landsehnsucht in Büchern wie z. B. Die-

einer Oma, die von Bonn in den abgelegenen Weiler Lock-

ter Moor in »Geschichten aus der arschlochfreien Zone«

Das moderne Dorf

oder die Publizistin Hilal Sezgin104 in »Landleben. Von ei-

den Zeitraum der letzten 3–5 Jahre den Zuzug junger Fa-

ner, die raus zog«.

milien mit kleinen Kindern, die selbst kleine Dörfer auf-

Bei den Zuwanderern im ländlichen Raum handelt es

suchen und teilweise sogar aus den alten Bundesländern

sich häufig auch um Rückwanderer, die nach der Hauptar-

stammen (Gespräch am 30. 3. 2019). Offenbar spielen hier

beitsphase in der Stadt in den ländlichen Heimatort als Al-

die zuletzt stark ansteigenden Miet- und Immobilienpreise

tersruhesitz zurückkehren. Es gibt aber auch ökonomisch

in den Ballungsgebieten sowie die noch guten Chancen auf

orientierte Stadt-Land-Wanderungen. Durch die Entwick-

dem Land, ein preiswertes Eigenheim mit größerem Gar-

lung der modernen Kommunikationsmedien ist es zuneh-

ten zu erwerben, eine treibende Rolle.

mend für kleine Unternehmen, besonders aus dem Dienst-

Ein Problem mit zu viel Zuwanderung hat der ländliche

leistungsbereich, möglich und interessant, ihre Firmensitze

Raum im Umfeld der Großstädte und Ballungsgebiete.

aufs Land zu verlagern, wo schöne Gebäude und Grundstü-

Seit dem 19. Jahrhundert ist der ursprünglich ländlich ge-

cke preiswert zur Verfügung stehen.

prägte Raum in der Umgebung der neu entstehenden Groß-

Seit etwa fünf Jahren ist in vielen Landregionen Deutsch-

und Industriestädte einem starken und immer noch wach-

lands offenbar ein leichter Trend der Zuwanderung, insbe-

senden Wanderungsdruck ausgesetzt. Kleine Dörfer, z. B.

sondere durch junge Familien, zu beobachten. Dies betrifft

im Ruhrgebiet, um Berlin, Köln, Stuttgart oder München

nicht nur die bekannten »Speckgürtel« um die beliebten

herum, entwickelten sich in wenigen Jahrzehnten zu Mit-

Großstädte wie München, Stuttgart, Frankfurt oder Berlin.

tel- und Großstädten. Zahllose ländliche Siedlungen wur-

Auch in eher abgelegenen Regionen wie dem Kreis Greifs-

den von der rapiden Großstadtentwicklung förmlich auf-

wald-Vorpommern konstatiert Landrat Michael Sack für

gesaugt und überformt, sodass selbst die alten dörflichen Kerne heute kaum noch erkennbar sind. Auf den Gemarkungsflächen der ehemaligen Dörfer wurden immer neue Siedlungsgebiete ausgewiesen, die man dann »Trabanten-«, »Satelliten-« oder »Neue Städte« nannte. Außerdem entstanden hier neue Autobahnen, Krankenhäuser, Sportanlagen und Mülldeponien sowie die immer weiter in das Umland verlagerten Industrie- und Gewerbegebiete. Der ehemals ländliche Raum im Umfeld der Großstädte und Ballungsgebiete ist zu einem städtisch-ländlichen Mischraum geworden. Er besitzt weder die Vorteile des Dorfes noch die der Großstadt. Die sich zwischen Stadt und Land ausbreitenden Siedlungen besitzen häufig keine eigene Identität. Raum- und Stadtplaner sprechen von »Grauzonen« der Stadtentwicklung, die heute eher kritisch beurteilt werden. Man sieht überwiegend Verluste: auf der einen Seite die sich auflösende Stadt, auf der anderen die verstädterte Dorflandschaft. Der Stadtplaner Thomas Sieverts hat für diese städtisch-ländliche Mischzone den Begriff »Zwischenstadt« vorgeschlagen und damit lebhafte Diskussionen ausgelöst.105 Von der Raumordnung wird das stark überformte, ehemals ländliche Umland der Großstädte und Ballungsgebiete heute überwiegend dem verstädterten Raum zugeordnet. Die hier lebenden Menschen verstehen sich jedoch vielfach bis heute als Dorfbewohner und pflegen z. B. ihr »dörfliches« Brauchtum.106

Die Zuwanderungsstele in Veringenstadt erinnert an die großen Zuwanderungsphasen: im Mittelalter, im 30-jährigen Krieg und nach 1945.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

133

Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung? Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Land von 1800 bis heute

Ist die natürliche oder »biologische« Bevölkerungs-

rungen ab, sie bleiben aber bis heute ein Merkmal der länd-

entwicklung nach Geburten und Sterbefällen auf dem

lichen Bevölkerungsentwicklung.

Land positiv oder negativ? Wie ist das Verhältnis der Zu- und Abwanderungen? Hat der ländliche Raum

Doch die Wanderungsbilanz bestimmt nur einen Teil der Bevölkerungsentwicklung auf dem Land. Auch auf die

in den letzten 150 Jahren generell an Bevölkerung

natürliche oder »biologische« Bevölkerungsentwicklung

gewonnen oder verloren? Wie wird die aktuelle

kommt es an. Diese ergibt sich aus der Differenz von Ge-

Schrumpfung der Bevölkerung das Land treffen?

burten und Sterbefällen in einem Jahr. Überwiegen die Ge-

Manche Besonderheiten bezüglich Altersaufbau,

burten, sprechen wir von Geburtenüberschuss oder natürli-

Geschlechterverteilung, Haushaltsgröße und Familien-

chem Bevölkerungswachstum. Dominieren die Sterbefälle,

stand prägen die Landbevölkerung im Vergleich zur

sprechen wir von Geburtendefizit oder natürlichem Bevöl-

Großstadtbevölkerung.

kerungsrückgang. Die gravierenden Veränderungen der natürlichen Be-

Die Bevölkerungsentwicklung des ländlichen Raumes

völkerungsentwicklung in Europa von 1800 bis heute wer-

oder eines einzelnen Dorfes setzt sich aus zwei verschiede-

den mit dem »Modell des demographischen Übergangs« be-

nen »Bewegungen« zusammen: Aus den Abwanderungen

schrieben (s. Abb. S. 135). Die Phase der Agrargesellschaft,

und Zuwanderungen innerhalb eines Zeitraums, meist ei-

die in Deutschland bis ins frühe 19. Jahrhundert dauerte,

nes Jahres, ergibt sich die Wanderungsbilanz, die positiv

war geprägt durch hohe Geburten- und Sterberaten und

oder negativ sein kann. Man spricht von Wanderungsge-

eine nahezu gleichbleibende Bevölkerungsentwicklung.

winnen oder -verlusten. Die Bilanz der Zu- und Abwande-

Danach hatten wir im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine

rungen ist für den ländlichen Raum generell – ebenso wie

lange (frühindustrielle) Phase mit starkem natürlichem

für die meisten Dörfer – extrem negativ. Allein in Deutsch-

Bevölkerungswachstum. Die Geburtenrate war und blieb

land dürfte das Land seit dem frühen 19. Jahrhundert etwa

hoch, die Sterberate sank rapide durch den medizinischen,

50 Mio. Menschen durch Wanderungen verloren haben. Die Hauptverlustphasen waren die Jahrzehnte von etwa 1850 bis zum Ersten Weltkrieg sowie die 1950er bis 1970er Jahre. Danach schwächten sich die Verluste durch Wande-

134

Das moderne Dorf

In Dörfern wie Reuden/Anhalt sind die Einwohnerzahlen seit 150 Jahren gleich geblieben. Sie haben oft eine homogene bauliche und soziale Struktur.

hygienischen,

wirtschaftlichen

und

politisch-sozialen

zahl von 3,4 pro Familie ermittelt, während zeitgleich die

Fortschritt. Erst im 20. Jahrhundert ging in Industriestaa-

deutsche Gesellschaft einen Wert von 1,3 aufwies.107 Insge-

ten wie Deutschland auch die Geburtenhäufigkeit zurück,

samt ist die relativ hohe Geburtenquote eine große Haben-

die Bevölkerung wuchs immer langsamer. In den zurück-

Seite des ländlichen Raumes. Sie trägt (noch) dazu bei, die

liegenden hundert Jahren ging die durchschnittliche Ge-

natürlichen Bevölkerungsverluste des Gesamtstaates abzu-

burtenzahl in Deutschland von rund 5,0 auf 1,59 (2016) je

schwächen.

. Seit 1972 überwiegen in Deutschland die

Aus den Bilanzen der Zu- und Abwanderungen sowie der

Sterbefälle die Geburten, man spricht von der postindustri-

Geburten und Sterbefälle ergeben sich in der Summe die

ellen Phase der Bevölkerungsentwicklung. Der Gesamtstaat

Gesamtveränderungen der Bevölkerungsentwicklung,

weist seitdem einen allmählich zunehmenden, natürlichen

die positiv oder negativ sein können. Weltweit ist die Be-

Bevölkerungsrückgang auf.

völkerung des ländlichen Raumes in den letzten 200 Jah-

Frau zurück

106a

Innerhalb des Staates zeigt die biologische Bevölke-

ren leicht angewachsen. Dies gilt auch für Deutschland. Die

rungsentwicklung allerdings erhebliche Unterschiede. Das

Geburtenüberschüsse waren also generell bisher in der Ge-

für die modernen Industriestaaten typische Absinken der

samtbilanz höher als die permanenten Wanderungsver-

Geburtenquote setzte in Deutschland in den Großstädten

luste. Das heißt, die meisten Dörfer weisen zwar erhebli-

bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, auf

che Wanderungsverluste, aber ebenso deutliche Geburten-

dem Land erst 50 bis 80 Jahre später, also ab der Mitte des

überschüsse auf, sodass sie in der Gesamtbilanz seit Beginn

20. Jahrhunderts. Bis heute ist die Geburtenquote in länd-

des 19. Jahrhunderts oder seit 1950 gewachsen sind. Ein typi-

lichen Gebieten höher als in den Großstädten. Fast alle

sches Beispiel: Das Dorf Hausen hatte im Jahr 1950 640 Ein-

Großstädte haben schon seit Jahrzehnten durch niedrige

wohner. Durch Wanderungen hat es in den letzten 60 Jah-

und sinkende Geburtenquoten einen natürlichen Bevölke-

ren insgesamt 410 Menschen verloren, aber 520 durch den

rungsrückgang, während die meisten ländlichen Regionen

Geburten-Sterbefall-Überschuss gewonnen. In seiner Ge-

immer noch Geburtenüberschüsse aufwiesen. Erst in jün-

samtbilanz ist das Dorf bis heute auf 750 Einwohner ange-

gerer Zeit verläuft auch auf dem Land die biologische Be-

wachsen. Wir können also zwei wesentliche Konstanten der

völkerungsentwicklung vielerorts negativ. Dennoch gibt es

ländlichen Bevölkerungsentwicklung seit etwa 200 Jah-

noch zahlreiche Dörfer und ländliche Regionen mit Gebur-

ren feststellen: Die Verluste durch Wanderungen sowie die

tenüberschüssen. Die höchste Geburtenquote in Deutschland hat derzeit der Landkreis Cloppenburg mit 2,01 Kindern je Frau (2016). Die Frage nach den Ursachen der relativ hohen Geburtenrate dort wie generell auf dem Land ist

Geburten und Todesfälle (pro 1000 EW/Jahr)

40 Geburtenrate

komplex und daher nicht einfach zu beantworten. Meist werden die traditionell größeren Familien (die als Vorbild dienen) und die engen Sozialkontakte genannt, die das

30

Aufziehen der Kinder erleichtern. Aber auch Werte wie Bodenständigkeit, naturnahes Leben, Traditionsdenken, Heimatbewusstsein und Solidarität zwischen den Generatio-

20

nen werden angeführt. Außerdem dürfte auch der relative Wohlstand auf dem Land, der vor allem in der hohen Eigentumsquote (Haus- und Grundbesitz) besteht, eine Rolle spielen. Dazu kommt in vielen ländlichen Regionen eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit. Die höchste Kinderzahl je Familie ist in Bauernfamilien anzutreffen. In einer Umfrage unter 154 landwirtschaftlichen Familien 2009 im Regierungsbezirk Stuttgart wurde eine Kinder-

Sterberate

Gesamtbevölkerung

Zeit

10 Phase 1 Agrarischer Bevölkerungsprozess

Phase 2 Frühindustrieller Bevölkerungsprozess

Phase 3 Bevölkerungsprozess des Industriezeitalters

Phase 4 Bevölkerungsprozess der fortgeschrittenen Industrieländer

Modell des demographischer Übergangs von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft

Bevölkerung – Soziales – Kultur

135

4000

4000

Anzahl der Einwohner

3500

3500

3000

3000

Typ A (Bad Wünnenberg)

bis heute durch Konstanz geprägt, nur unterbrochen durch den Flüchtlingsstrom nach 1945. Neben der Land- und Forstwirtschaft gibt es im Ort kaum Arbeitsplätze. Verallgemeinernd kann man feststellen, dass im Rück-

2500

2500

blick der letzten 200 Jahre vor allem die kleinen Dörfer

2000

2000

mit bis zu 500 Einwohnern – und mehr noch die Weiler

1500

1500

1000

1000

Typ B (Scharmede)

Typ C (Asseln) 500

500 0

0

1818

1850

1900

1950

2000

Bevölkerungsentwicklung ausgewählter Dörfer des Kreises Paderborn von 1818 bis 2020 Einwohnerzahlen – Asseln: 441 per 31. 12. 2019, Stadtverwaltung Lichtenau am 1. 2. 2020 – Bad Wünnenberg: 3788 per 1. 1. 2020, Stadtverwaltung Bad Wünnenberg am 1. 2. 2020 – Scharmede: 2612 per 1. 1. 2020, Stadtverwaltung Salzkotten am 1. 2. 2020

mit bis zu 200 Einwohnern – von Stagnation oder leichten Schrumpfungsprozessen betroffen sind. Dagegen haben die größeren Dörfer ab 500 oder 1000 Einwohnern überwiegend ein leichtes bis kräftiges Bevölkerungswachstum erfahren. Gegenwärtig dürfte nur noch ein kleiner Teil der deutschen Dörfer wachsen, der größte Teil befindet sich in einer Stagnationsphase, während ein erheblicher Teil schrumpft. Durch Einwohnerverluste leiden vor allem die abgelegenen Regionen in Ostdeutschland, aber auch in der Oberpfalz, in Nordhessen oder der Eifel. Für die Zukunft verweisen Bevölkerungsprognosen auf erhebliche räumliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland: Während im alten Bundesgebiet ländliche Regionen teil-

Zuwächse durch die natürliche Bevölkerungsentwick-

weise noch wachsen oder stagnieren, könnte die Entwick-

lung.

lung des ländlichen Raumes in den neuen Ländern von wei-

Im Detail zeigen sich allerdings innerhalb Deutschlands

136

teren Bevölkerungsverlusten geprägt sein.

erhebliche Unterschiede zwischen wachsenden, stagnie-

Der Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevöl-

renden und rückläufigen Dörfern und ländlichen Regio-

kerung ist seit etwa 200 Jahren ständig gesunken. Dies ist

nen. Die meisten Dörfer in Deutschland haben ihren Bevöl-

eine global einheitliche Tendenz, die auch für Deutsch-

kerungsstand seit dem 19. Jahrhundert gehalten oder leicht

land gilt. Die Bevölkerung der Städte wächst also – durch

steigern können – trotz der hohen Abwanderungsraten und

die ständigen Wanderungsgewinne – schneller als die des

mancher Schwankungen. Aber selbst innerhalb ländlicher

ländlichen Raumes. Um 1800 lebten in Deutschland etwa

Regionen können die Entwicklungslinien der einzelnen

90 % der Bevölkerung im ländlichen Raum, heute sind es

Dörfer aus zahllosen Gründen sehr unterschiedlich verlau-

noch etwa 50 %. In Großstädten über 100 000 Einwohnern

fen. Schauen wir uns drei Beispiele mit ganz verschiedenen

lebten 1871 nur 4,8 % aller Einwohner Deutschlands, heute

Entwicklungen an, obwohl sie innerhalb eines Kreises lie-

sind es bereits 30,9 %.

gen (s. Abb. S. 136): Der Typ A (Bad Wünnenberg, Entfer-

Die schrumpfende Bevölkerung ist seit etwa 20 Jah-

nung zum Oberzentrum Paderborn 25 km) zeigt bis 1955

ren ein großes politisches Thema in Deutschland. Dies gilt

die fast typische Entwicklungskurve von abseits der Städte

auch für das Land. Gebäudeleerstände und Infrastruktur-

liegenden Agrarsiedlungen; seit 1960 erfolgt ein deutlicher

verluste (z. B. Schulschließungen) in Dörfern und Klein-

Bevölkerungsanstieg durch Tourismus und die gute Lage

städten sind überall zu beobachten oder stehen bevor. Un-

zum Autobahnkreuz A44/A33. Typ B (Scharmede, Entfer-

ter dem etwas irreführenden Stichwort »demographischer

nung zu Paderborn 8 km) kann schon in der zweiten Hälfte

Wandel« (den gibt es praktisch immer) werden die verschie-

des 19. Jahrhunderts durch die Lage an einer Eisenbahnlinie

denen Szenarien der Schrumpfung diskutiert, ein weiteres

mit Bahnhof eine stete Aufwärtsentwicklung aufweisen;

»Ausbluten« des ländlichen Raumes wollen Bundes-, Lan-

seit den 1950er Jahren entwickelt sich das Dorf zum Wohn-

des- und Kommunalpolitik verhindern. In vielen ländli-

vorort von Paderborn. Typ C (Asseln, Entfernung zu Pader-

chen Gemeinden und Kreisen finden angesichts des beste-

born 18 km) ist seit dem Bevölkerungshöchststand von 1850

henden oder bevorstehenden Bevölkerungsrückgangs »Zu-

Das moderne Dorf

kunftskonferenzen« statt. Manche Kommunen schreiten

vom Land zur Stadt. Landhaushalte sind größer als Stadt-

zu spektakulären Aktionen. So hat die schrumpfende Ge-

haushalte. Die durchschnittliche Haushaltsgröße lag in

meinde Hiddenhausen im nördlichen Westfalen 2007 das

Deutschland 2015 in kleineren ländlichen Gemeinden (bis

Förderprogramm »Jung kauft alt« aufgelegt (vgl. ausführ-

20 000 Einwohnern) bei 2,25 Personen, in Großstädten (über

licher im Kapitel »Leerstand« S. 263 ff.). Damit wurden bis-

500 000 Einwohner) dagegen bei 1,79 Personen.

her schon 150 junge Familien angelockt, alte Häuser in den

sonenhaushalte finden sich auf dem Lande deutlich weni-

110 a

Einper-

Dorfkernen zu übernehmen, anstatt auf der grünen Wiese

ger als in den Großstädten, sie machen in den kleineren

ein Eigenheim zu bauen. Seitdem gibt es mehr Zu- als Weg-

Gemeinden 34 % aus, in den Großstädten etwa 53 % aller

züge in Hiddenhausen.108 Der Bürgermeister von Poseritz

Haushalte. Mehrpersonenhaushalte (mit drei und mehr Per-

auf Rügen, Michael Burmeister, fördert jeden Nachwuchs

sonen) umfassen in den kleineren Gemeinden rund 30 %, in

in seiner Gemeinde mit einem »Babygeld« von 500 Euro aus

den Großstädten nur noch 18,5 % aller Haushalte.

der eigenen Tasche. Sein Motiv: »Wer sich in dieser schwie-

Auch im Familienstand spiegeln sich die sozialen und

rigen Zeit für ein Kind entscheidet, dem soll die Kommune

wirtschaftlichen Wertvorstellungen der Bevölkerung. Die

auch mal die Wertschätzung ausdrücken.« Der Bürgermeis-

ländliche Bevölkerung hat neben der höheren Kinderzahl

ter möchte vor allem erreichen, dass die Kindertagesstätte

auch eine geringere Scheidungshäufigkeit, die Berufsgrup-

im Ort bleibt. Derzeit sind dort knapp 20 Kinder, und so

pe mit der geringsten Scheidungshäufigkeit ist die Land-

viel sollten es möglichst auch in Zukunft sein.109

wirtsfamilie. Zur Stabilisierung ländlicher bzw. landwirt-

Wichtige Aussagen zur Landbevölkerung geben uns die

schaftlicher Ehen tragen u. a. gemeinsame Besitz- und Er-

demographischen Merkmale Altersaufbau, Geschlechter-

werbsinteressen, die engen sozialen Netzwerke der Ver-

verhältnis, Haushaltsstruktur und Familienstand:

wandt- und Nachbarschaften, der noch vorhandene Einfluss

Im Altersaufbau der Bevölkerung sind weltweit Un-

der Kirchen sowie ein konservatives Wertebewusstsein bei.

terschiede zwischen Stadt und Land festzustellen. Ein wesentliches Merkmal sind die höheren Geburtenquoten auf dem Land, obwohl auch sie stärker zurückgehen. Die Altersgruppen bis zu 15 Jahren sind auf dem Land überdurchschnittlich stark, die ab 25 Jahren deutlich schwächer als in den Großstädten vertreten.110 Hier schlagen die Land-StadtWanderungen der jungen Generation zu Buche. Diese »demographische Schere« im Altersaufbau von Stadt- und Landbevölkerungen – zwischen den jungen und mittleren Jahrgängen – führt bisweilen zum Nachdenken über die Verteilung der sozialpolitischen »Kosten« auf Stadt und Land. Das Land als demographischer Produzent, die Stadt als dessen Nutznießer. Dies wäre die verkürzte Kosten-Nutzen-Formel, über deren Ausgleich Wissenschaftler und Politiker bisweilen nachdenken. Im Verhältnis der Geschlechter gibt es ebenfalls Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerungen. In deutschen Städten ist der Frauenüberschuss permanent höher als in den Landgemeinden. Der Hauptgrund für dieses Ungleichgewicht sind die größeren Abwanderungsverluste von jungen Frauen, die auf dem Land geringere Alternativen an Arbeitsplätzen vorfinden als Männer. Auch die Haushaltsstruktur offenbart Unterschiede Die große Mehrheit der deutschen Dörfer ist seit 1850 gewachsen. Nicht wenige haben ihre Einwohnerzahlen vervielfacht, das Dorf Scharmede sogar verachtfacht!

Bevölkerung – Soziales – Kultur

137

Alt- und Neudörfler, Ober- und Unterschicht Zur sozialen Gliederung der ländlichen Bevölkerung

Welche sozialen Gruppen und Schichten finden sich

Mittelbauern, Großbauern und Gutsbesitzer. Im Kern ste-

im Dorf? Wer ist ein typischer Dorfbewohner und wie

hen die bäuerlichen Familienwirtschaften, die ihren Be-

ist er sozial »eingeordnet« – sei es im Jahr 1800 oder

trieb allein oder doch überwiegend mit Familienarbeits-

heute? Der Großbauer oder der Handwerksgeselle,

kräften bewirtschaften. Die landverbundene Bevölkerung

der Pastor oder die Kindergärtnerin, der Gastwirt oder

besteht aus Neben- und Zuerwerbslandwirten sowie Land-

die Hausfrau, die eine Großfamilie versorgt, der Lehrer

arbeitern. Wir finden hier alle Schattierungen vom soli-

oder der Knecht bzw. Landarbeiter, der Rentner oder

den mittelbäuerlichen Zuerwerbsbetrieb bis zum kleins-

die Schülerin, der adlige Gutsherr, dessen Vorfahren

ten Nebenerwerbslandwirt und schließlich zum landlo-

das Dorf vor 600 Jahren begründeten, oder der gerade

sen Landarbeiter, der in der Land- oder Forstwirtschaft tätig

zugezogene Finanzbeamte, der ein schmuckes Ein-

ist. Häufig hat die landverbundene Bevölkerung ihren zu-

familienhaus am Dorfrand bewohnt?

sätzlichen Arbeitsplatz außerhalb des dörflichen Wohnortes. Zur Gruppe der landbewohnenden Bevölkerung gehö-

Die Eingangsfragen zur sozialen Gliederung der Landbe-

ren alle Personen, die kein Land (oder lediglich bis 0,5 ha)

völkerung sind nicht leicht zu beantworten. Das Dorf war

besitzen und bewirtschaften und auch beruflich nicht in

und ist ein überaus komplexes Gebilde, vielfältig gegliedert

der Land- und Forstwirtschaft tätig sind. Auch dieser Be-

und geschichtet. Gute Einblicke in die innere Gliederung

wohnerkreis ist sozial und wirtschaftlich sehr vielfältig. Zu

des Dorfes ergeben sich durch drei Fragen: nach dem Ver-

ihm zählen sowohl die Eigenheimbesitzer, die ihren klei-

hältnis der Wohnbevölkerung zur Landwirtschaft, nach der

nen Bodenbesitz z. T. sehr intensiv gartenbaulich nutzen, als

Wohndauer im Dorf sowie nach der sozialen Schichtung.

auch Personen wie Rentner oder Mieter, die keine unmit-

Die traditionelle Methode zur Gliederung der ländlichen Bevölkerung orientiert sich an ihrem Verhältnis zur

telbare Beziehung zum Boden besitzen und sich vielleicht auch geistig nicht als Landbewohner fühlen.

Landwirtschaft. Sie unterscheidet drei Gruppen: die land-

Für das Jahr 1850 dürfen wir auf dem Land deutsch-

wirtschaftliche, die landverbundene und die landbewoh-

landweit einen Anteil der landwirtschaftlichen und land-

nende Bevölkerung. Die landwirtschaftliche Bevölkerung betreibt Landwirtschaft hauptberuflich und selbstständig. Zu dieser Gruppe gehören die Vollerwerbsbetriebe der

138

Das moderne Dorf

Abbildung oben: In den modernen Neubausiedlungen am Dorfrand finden sich alt eingesessene und zugezogene Familien.

verbundenen Bevölkerung von etwa 90 % annehmen, le-

von Albert Ilien über das katholische schwäbische Acker-

diglich 10 % der Landbewohner gehörten damals also zur

bauerndorf Hausen aus den späten 1970er Jahren anschaut.

nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung. Im Jahr 1960 er-

Damals entschieden noch die traditionellen Kriterien wie

gab sich für die Landbevölkerung in Deutschland bereits

Ortsansässigkeit, Konfession und Familienstand über die

ein völlig anderes Bild: 12 % landwirtschaftliche Bevölke-

sozialen Rangplätze im Dorf. An der Spitze der sozialen

rung, 20 % landverbundene Bevölkerung und 68 % landbe-

Rangordnung standen neben den zugezogenen dörflichen

wohnende Bevölkerung. Mehr als zwei Drittel der Landbe-

Autoritätspersonen wie Lehrer oder Pfarrer die älteren ein-

völkerung hatte somit bereits vor 50 Jahren mit der Land-

heimischen katholischen Ehepaare. Es folgten die jüngeren

wirtschaft nichts mehr zu tun. Seitdem hat der Anteil der

einheimischen katholischen Ehepaare und dann die zuge-

landbewohnenden Bevölkerung noch einmal kräftig zu-

zogenen katholischen Ehepaare. Erst danach kamen jün-

genommen und liegt heute bei gut 90 %. In den zurücklie-

gere Ehepaare mit zugezogenem evangelischem Partner

genden 160 Jahren hat sich damit das Verhältnis von land-

und schließlich zugezogene evangelische Ehepaare und äl-

bewirtschaftender zu landbewohnender Bevölkerung auf

tere Ledige des Ortes. Noch ohne Rangplatz waren die frisch

dem Land genau umgekehrt.

zugezogenen Akademiker und Gastarbeiter.

Die soziale Gliederung der Bevölkerung nach der Wohn-

In nahezu allen Gesellschaften sind soziale Schichtun-

dauer im Dorf zielt auf die Unterschiede zwischen den Ein-

gen, d. h. ein »Übereinander« sozialer Gruppierungen, zu

heimischen und den Zugezogenen ab. In der Soziologie

beobachten. Dies gilt auch für das Dorf. Im Rückblick auf

spricht man auch von »Altdörflern« und »Neudörflern«,

die letzten zwei Jahrhunderte lassen sich die gravierenden

wobei selten definiert wird, wo genau die Übergänge zwi-

Unterschiede zwischen den Sozialschichtungen der frü-

schen diesen Gruppen liegen. Altdörfler sind ortsansäs-

heren Agrar- und der heutigen Industrie- und Dienstleis-

sig seit Geburt, meist Bauern oder Handwerker und ha-

tungsgesellschaft gegenüberstellen. Die ländliche Sozial-

ben häufig (noch) ihren Arbeitsplatz im Dorf. Sie bilden

ordnung der Agrargesellschaft hatte im Wesentlichen bis

die konservative Lokalmacht und sind vielfach in der Kom-

zu den Agrarreformen im mittleren und späten 19. Jahr-

munal- und Vereinspolitik aktiv. Neudörfler hingegen

hundert Bestand. Sie unterschied allgemein drei Schich-

sind Zugezogene, nicht selten Akademiker, die sehr unter-

ten: die Oberschicht der Herren, die Mittelschicht der

schiedlich sozial integriert sind. Einige schaffen dies rela-

Bauern und die Unterschicht der Dienenden. Es herrschte

tiv schnell durch Teilnahme am Vereins- oder Kirchenle-

eine Ständegesellschaft mit klarer Hierarchie. Die ökono-

ben, andere über die Freundeskreise der Kinder. Ein Rest hat

mische und soziale Herkunft bestimmte die Zuordnung in

nur wenig sichtbare dörfliche Kontakte. Mit der Länge der

den jeweiligen Stand, Aufstiege in höhere Schichten waren

Ansässigkeit nehmen erfahrungsgemäß die ländlichen und

kaum möglich.

ortstypischen Verhaltensweisen zu. Die alteingesessenen Dorfbewohner, d. h. sowohl die Ortsgebürtigen als auch Alteingesessene Bevölkerung: Handwerker und/oder Industriearbeiter und ihr Umfeld (ab etwa Mitte des 19. Jh.)

die Zugezogenen aus anderen ländlichen Regionen, weisen übereinstimmende traditionelle Verhaltensmerkmale z. B. bei der Eheschließung, Familienstruktur, Kinderzahl und religiösen Bindung oder im Freizeitverhalten auf. Dagegen zeigen die aus Städten Zugezogenen oft ein stärkeres Maß an urbaner Lebensart. Vom Zahlen- und Kräfteverhältnis dieser beiden Gruppen hängt es ab, ob die Bevölkerung eines Dorfes eher ländlich oder eher städtisch geprägt ist. Die früher strengen sozialen Abgrenzungen zwischen Alt- und Neudörflern haben in den letzten Jahrzehnten zu-

Bäuerliche Bevölkerung und ihr Umfeld

Nach 1944/45 Zugezogene: Heimatvertriebene und Flüchtlinge; heute weitgehend mit den Alteingesessenen integriert Nach 1970 zugezogene Bevölkerung, seit etwa 1985 Aus- und Übersiedler, Migranten; z. T. stark, z. T. wenig um Integration zu den Alteingesessenen bemüht

nehmend an Gewicht verloren. So ist man heute geneigt zu schmunzeln, wenn man sich die klassische Dorfstudie

Modell einer historisch gewachsenen Dorfgemeinschaft

Bevölkerung – Soziales – Kultur

139

Die soziale Schichtung der Dorfbevölkerung in Ober-, Mittel- und Unterschichten war früher stärker ausgeprägt als heute. Zur dörflichen Mittel- und Oberschicht gehörte wohl diese historische Jagdgesellschaft von 1913.

Zur ländlichen Oberschicht bzw. Herrenschicht gehör-

140

Lebensunterhalt aber hauptsächlich durch Tagelöhnertä-

ten vor allem der Adel und der Klerus. Sie ließen ihr Land

tigkeit bestritten. Zur Unterschicht zählten außerdem die

weitgehend durch andere bewirtschaften. Als Grundherren

besitzlosen Hausgenossen, die bei Bauern oder Häuslern

besaßen sie dreifache Rechte gegenüber den Bauern: das

zur Miete wohnten, und das sog. »Gesinde« der Knechte

Obereigentum am Boden, in der Regel die »Leibherrschaft«

und Mägde, die stets im Haushalt der Bauern lebten und

über die Personen sowie die Gerichtsherrschaft zur Bewah-

arbeiteten. Zur ländlichen Unterschicht gehörte auch die

rung der bestehenden Rechtsordnung.

gar nicht so kleine Gruppe der Landstreicher, Armen und

Die ländliche Mittelschicht wurde hauptsächlich durch

Bettler. Die meist in größter Abhängigkeit lebende länd-

den Stand der – hörigen, aber landbesitzenden und -nut-

liche Unterschicht suchte den wirtschaftlichen und sozia-

zenden – Bauern ausgefüllt. Je nach Größenordnung der

len Aufstieg häufig durch nicht landwirtschaftliche Tätig-

Betriebe wird zwischen oberen, mittleren und unteren

keiten im Handwerk und Handel. Zahlenmäßig waren die

bäuerlichen Schichten unterschieden.

ländlichen Unterschichten den bäuerlichen Mittelschich-

Unterhalb der bäuerlichen Schicht entwickelte sich be-

ten überlegen. Noch im Jahr 1907 gab es in Deutschland

reits seit dem Mittelalter – durch Realteilung und Bevöl-

7,3 Mio. Landarbeiter, das waren immerhin 74 % aller land-

kerungswachstum – die ländliche Unterschicht. Ihre An-

wirtschaftlichen Erwerbspersonen.

gehörigen waren einmal die Häusler, Kötter oder Brinksit-

Insgesamt zeigte die Sozialschichtung der ländlichen

zer (verschiedene regionale Bezeichnungen für dörfliche

Bevölkerung das Bild einer Pyramide mit einem erhebli-

Hausbesitzer ohne eigenes Ackerland), die ein kleines Haus

chen Ungleichgewicht zwischen der Oberschicht und der

und etwas Gartenland zur Bewirtschaftung besaßen, ihren

Mittel- und Unterschicht: Einer schmalen Spitze der Ober-

Das moderne Dorf

schicht (ca. 10 %) stand als breiter Sockel die Mittel- und

rung, war zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-

Unterschicht (ca. 90 %) gegenüber. Ein Vergleich der länd-

derts überwiegend sehr schwierig. Die meisten bäuerlichen

lichen mit der städtischen Gesellschaft im frühen 19. Jahr-

Höfe standen unter der ständigen Belastung der drücken-

hundert macht deutlich, dass im städtischen Bereich die

den Abgaben sowie Hand- und Spanndienste oder deren

Mittelschicht der Bürger gegenüber der Oberschicht erheb-

Ablösung. Nach starken Ernteschwankungen bei Kartof-

lich stärker ausgeprägt war als auf dem Land.

feln, Getreide oder Kohl kam es besonders in den 1840er

Unterschiede in der Sozialschichtung der Bevölkerung

Jahren mehrfach zu Hungerkrisen. Diese waren nicht zu-

gab es zwischen Gutsdörfern und Bauerndörfern. In den

letzt Auslöser von Bauernrevolten gegen die Grundherr-

Gutsdörfern fehlte zwischen den Gutsherren und den

schaften und verstärkten die Abwanderungswellen. Das

Landarbeitern die Mittelschicht. In Bauerndörfern herrsch-

Phänomen der Landarmut war im 19. Jahrhundert, das in

ten grundlegende Unterschiede nach dem jeweils vorherr-

der Kunst und Literatur vielfach auch verklärt dargestellt

schenden Erbrecht zwischen den Anerben- und den Real-

wird, noch weit verbreitet.

teilungsgebieten. In Anerbendörfern, wo landwirtschaft-

Die starren traditionellen Sozialschichtungen der Ag-

licher Besitz ungeteilt vererbt wurde, spricht man vom

rargesellschaft, die auf Besitz und Herkunft basierten, ha-

»organischen« Schichtenaufbau, sofern klein- und mittel-

ben sich bis heute weitgehend aufgelöst. Die Entwicklung

bäuerliche Betriebe dominierten. In Dörfern mit Realtei-

begann langsam um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Indus-

lung war die Sozialschichtung durch die ständigen Besitz-

trialisierung, Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und all-

teilungen eher nivelliert, außerdem gab es hier durch häu-

gemeine politische Liberalisierung und Demokratisie-

fige Besitzveränderungen eine höhere soziale Mobilität.

111

rung waren die wichtigsten Antriebskräfte. Aus der gro-

Die soziale und wirtschaftliche Lage der Mittel- und

ßen Masse abhängiger Bauern entwickelte sich ein freier

Unterschichten, d. h. der großen Masse der Landbevölke-

und selbstbewusster Berufsstand. Aber auch die klein- und

Das Gemälde »Das kärgliche Mahl« von Jozef Israels aus dem Jahre 1876 zeigt uns einen Ausschnitt aus dem Leben einer Bauernfamilie. Die Atmosphäre des Bildes will offenbar die Armut und Dumpfheit des Landlebens vermitteln.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

141

dann in wenigen Jahrzehnten vor allem durch die wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesse in der Landwirtschaft, wobei die Bauern ihre dominierende Rolle in der Mittelschicht des Dorfes allmählich verloren. Die alten Eliten in Landwirtschaft und Handwerk, die traditionell in der Kommunalpolitik und im Kirchenvorstand eine führende Rolle spielten, brachen vielfach weg. Auch die frühere Oberschicht hat auf dem Land stark an Gewicht eingebüßt. Gerade die ehemaligen Unterschichten haben durch ihre Mobilität das Schichtengefüge der Landbevölkerung verändert. Sie konnten über die Ausbildung zum Facharbeiter und Angestellten oder als Beamte in die Mittelschicht aufsteigen. Im Vergleich zur Agrargesellschaft hat sich also gerade die Mittelschicht stark verändert und ist erheblich angewachsen. Sie prägt nun, z. B. in Form der sehr hohen Eigenheimquote sowie der ausgeprägten Nachbarschaftsund Verwandtschaftshilfe, das Sozialgefüge des Dorfes. Heute dienen auch auf dem Land vor allem die Merkmale Einkommen, Beruf, Bildung und Freizeitverhalten als Maßstäbe der Schichtenzuordnung. Als wichtigste Träger sozialer Veränderungen erweisen sich seit den 1960er Jahren die Auspendler, die städtische Verhaltensnormen in den ländlichen Wohnort übertragen. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen stadtnahen und abgelegeneren Dörfern. Während in ersteren eher die neuen Schichtungskriterien dominieren, sind es in letzteren vielfach noch die überlieferten Merkmale. In den meisten ländlichen Siedlungen existieren heute sogar zwei Schichtungsprinzipien nebeneinander: das am Grundbesitz orientierte Schichtengefüge, in dem den Zugezogenen vielfach (zunächst) gar kein Status zugebilligt wird, sowie das am

In den Dorfkernen – wie hier in Zainingen auf der Schwäbischen Alb – wohnten traditionell die alteingesessenen Familien in ihren großen Bauern-, Handwerker- und Geschäftshäusern. Inzwischen ist die Sozialstruktur auch hier durch Zuzug gemischter geworden.

Beruf, Einkommen und Freizeitverhalten ausgerichtete

unterbäuerliche Schicht erhielt starken Auftrieb. Manche

ges hat sich heute auf dem Land eine breite, beruflich und

Kleinstbauern oder Tagelöhner konnten sich als Dorfhand-

sozial stark differenzierte Mittelstandsgesellschaft heraus-

werker oder Händler selbstständig machen.

gebildet. Ober- und Unterschichten spielen gegenwärtig in

Schichtengefüge der Moderne, das gerade auch die neuen Dorfbewohner sofort respektiert und einordnet. Anstelle des früher starren dreistufigen Schichtengefü-

Dennoch hatte die traditionelle Dorfhierarchie vielerorts noch bis in die 1950er Jahre Bestand. Sie zerbröckelte

142

Das moderne Dorf

den Dörfern – im Gegensatz zu früher – generell eine eher untergeordnete Rolle.

Macht das Landleben glücklich? Die Kerneigenschaften »Ortsbezogenheit« und »Zufriedenheit«

Dorfbewohner »hängen« an ihrem Ort – auch wenn sie

einstecken mussten. Ich habe es in den 1950er Jahren noch

zum Arbeiten oder Einkaufen regelmäßig in die Stadt

selbst erfahren. In anderen Regionen mussten junge Män-

fahren. Außerdem sind sie in der Regel hochgradig mit

ner, die in einem fremden Dorf mit einem Mädchen an-

ihrem ländlich-lokalen Lebensumfeld zufrieden. Wie

bändeln wollten, an die dortigen Altersgenossen ein sog.

ist das zu erklären? Ortsbezogenheit und Zufriedenheit

»Jagdgeld« entrichten, quasi als Gebühr für das Eindringen

sind emotionale Kraftquellen für viele Dorfbewohner.

in ein fremdes Hoheitsgebiet. Diese Zeiten sind heute wei-

Und darüber hinaus ein weicher Wirtschaftsfaktor,

testgehend Geschichte. Der kritisch beobachtende Blick auf

weswegen sich Unternehmen gern im ländlichen Raum

das Nachbardorf ist jedoch geblieben. »Duelle« von Nach-

ansiedeln.

bardörfern spielen heute allenfalls noch beim Zusammentreffen der Fußball-, Handball- oder Tischtennismann-

Kein soziales System kann existieren ohne räumlichen Be-

schaften in der Kreisliga eine Rolle. Die Hochschätzung

zug. Dies gilt in besonderem Maße für die bodenabhängi-

und Bewahrung des lokalen Territoriums wird manchmal

gen und bodennahen ländlichen Gesellschaften. Die Bezie-

als »Kirchturmspolitik« negativ bewertet. Doch man sollte

hung der Bevölkerung zu ihrem Wohnumfeld oder Wohn-

diesen Begriff auch positiv sehen. Die lokale Identifika-

ort bezeichnet man als »Ortsbezogenheit« oder »lokale

tion ist wahrscheinlich eine der wesentlichen Kraftquellen

Identifikation«. Dies bedeutet vertraut zu sein, sich hei-

für die vielfältigen Engagements der Dorfbewohner in der

misch zu fühlen, Bescheid zu wissen, sich sicher zu fühlen,

Kommunalpolitik sowie in den traditionellen Dorfverei-

zufrieden zu sein. Die Identifikation mit einem Dorf zeigt

nen oder neuen Bürgervereinen.

also an, dass der Bewohner ein inneres Verhältnis dazu hat, dass es »sein« Ort ist.

Die emotionale Ortsbezogenheit, man nennt es auch Heimatgefühl, entwickelt sich aus den persönlichen und

Die Ortsbezogenheit hat sowohl abgrenzende als auch

gemeinsamen Erlebnissen im eigenen Dorf. Hier spie-

positiv emotionale Aspekte. Die Abgrenzung und Riva-

len Erinnerungen an Orte und Begebenheiten eine große

lität gegenüber Nachbardörfern (analog dem Revier im

Rolle: an Elternhaus, Schule, Kirche, Friedhof, Spielplätze,

Tierleben) hat auf dem Land eine lange Tradition. Sie war in manchen ländlichen Gebieten so stark, dass junge Burschen, die sich in ein benachbartes Dorf wagten, Prügel

Abbildung oben: Beim Dorfjubiläum 800 Jahre Gesseln zeigen vier Kinder mit Freude und Stolz ihr Herz für den Heimatort.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

143

In Veringenstadt wurden mehrfach bedeutende Ereignisse aus der Ortsgeschichte in Historienspielen öffentlich dargestellt: hier das Spiel »Malkunst um 1500«, das die Erinnerung an die berühmte lokale Malerfamilie Strüb lebendig hält.

144

Tanzsaal, an Feste und Freundschaften oder auch Unfälle

zur Ortsbezogenheit durchgeführt. Auf die Frage nach ih-

und Krankheiten. Man erinnert sich an die Zeiten als Mess-

rem Wohnort nach Wunsch bezeichneten jeweils zwischen

diener, den ersten Auftritt im Jugendorchester des Musik-

85 und 90 % der Befragten das Dorf als den bevorzugten

vereins, an die Kreismeisterschaft im Fußball oder das erste

Wohnorttyp, der Rest favorisierte die Kleinstadt.112 In ei-

Schützenfest. Man kennt wichtige Ereignisse aus der Dorf-

ner kürzlichen 1Live-Umfrage unter jungen Leuten wurde

geschichte: Dorfbrände oder Überschwemmungen, den

die Frage gestellt: »Was findet Ihr besser: Leben in der Stadt

Bau der Dorfkirche, des Bahnhofs oder des Wasserturms.

oder Leben auf dem Dorf?« Gut zwei Drittel der antworten-

Man weiß, welche Dorfvereine im Moment besonders aktiv

den jungen Leute bevorzugten das Leben auf dem Land!

oder erfolgreich sind, und ist stolz darauf. Die starke emo-

Was sind die Gründe für eine derart starke emotionale

tionale Bindung an das Dorf fördert die Bereitschaft vie-

Ortsbezogenheit? Bei unseren Umfragen in Elsoff wurde

ler Dorfbewohner, jetzt oder später etwas für den eigenen

jeweils die Frage gestellt, welche ortstypischen Merkmale

Ort zu tun.

oder Umstände bei einem eventuellen Wegzug aus Elsoff

Doch kann man den Grad der lokalen Identifikation

wohl am meisten vermisst würden. Eindeutig an erster

messen? So wurden in dem etwas abgelegenen Dorf Elsoff

Stelle stand die lokale Landschaft. Diese Einschätzung

(Kreis Siegen in Nordrhein-Westfalen, etwa 850 Einwoh-

überrascht, da man diese Hochschätzung eher bei städti-

ner) in den letzten 30 Jahren mehrfach Untersuchungen

schen Besuchern erwartet hätte. Den Dorfbewohnern ist

Das moderne Dorf

also der Wert ihrer landschaftlichen Umgebung durchaus

Die lokale Identität wird in vielen Dörfern gepflegt.

bewusst. Auf den nächsten Rangstufen folgten jeweils die

Zahlreiche Vereine und Aktivgruppen befassen sich mit der

sozial-kommunikativen »Werte« wie Nachbarn, Verwandte

Geschichte, Kultur und Natur ihres Ortes. Sie dokumentie-

und Vereine, deren Vorteile man ebenso einzuschätzen

ren historische Begebenheiten, erklären den geologischen

weiß. Die starke Ortsbezogenheit der Dorfbewohner wurde

Untergrund oder die frühere und heutige Bedeutung des

zusammenfassend bestätigt mit der Frage, wie man sich

Dorfbaches. Wie kaum ein Zweiter hat Erwin Zillenbiller

selbst bezeichnen würde. 81 % bezeichneten sich als »Elsof-

die Geschichte und Natur seines Heimatortes Veringen-

fer« (obwohl man ja längst in einer Großgemeinde aufge-

stadt für die Dorfbevölkerung konkret aufgearbeitet und

gangen ist). 71 % fühlten sich zusätzlich als »Wittgenstei-

dokumentiert.113 Sein Hauptanliegen ist die Wertschätzung

ner«, obwohl der alte Kreis Wittgenstein bereits 1975 dem

der Bewohner für ihr Dorf: »Je anschaulicher wir die Be-

Kreis Siegen zugeschlagen wurde. Man identifiziert sich

wohner in die Tiefen ihrer Herkunft, der Entstehung ihrer

also mit dem Heimatdorf, auch wenn dieses durch Gebiets-

Kulturlandschaft als Lebensraum und ihres Dorfes als Sozi-

reformen kommunalpolitisch »abgeschafft« wurde, und

alraum blicken lassen, umso mehr gedeiht Mitverantwor-

der nahen, altgewohnten Region, auch wenn diese durch

tung für Wertschätzung, Erhalt und Pflege des Heimator-

ihre Mittelgebirgs- und Verkehrslage vielfach benachteiligt

tes. Unverwechselbare Orte der Erinnerung, der Begegnung,

ist. Alle Maßnahmen, die zur Störung dieser Identifikation

des Verweilens sowie heimelige Atmosphäre im Raumge-

beitragen können, werden von der Bevölkerung mit größ-

füge von Plätzen und Straßen sind Marksteine der Identi-

ter Skepsis betrachtet. So wird die Eingemeindung Elsoffs

tätsfindung.«114

im Zuge der kommunalen Gebietsreform 1975 bis heute weitgehend abgelehnt.

In enger Beziehung zur Ortsbezogenheit steht die Zufriedenheit der Bewohner mit ihrem Wohnort bzw. Wohn-

In Ströbeck in Sachsen-Anhalt kann man auf eine jahrhundertelange Schachgeschichte zurückblicken. Das »Schachdorf Ströbeck« pflegt diese Tradition, wie hier durch lebende Schachensembles auf dem gepflasterten Schachfeld in der Dorfmitte.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

145

»Wo leben die Menschen glücklicher: auf dem Land oder in der Stadt?« besteht in der Gesamtbevölkerung eine recht große Einigkeit: Von den Großstadtbewohnern votierten 23 % für das Land und 13 für das Land, bei den Klein- und Mittelstadtbewohnern gaben 38 % dem Land ihren Vorzug und nur 6 % der Stadt, von den Landbewohnern entschieden sich 54 % für das Land und nur 3 % für die Stadt. 114a Das Leben auf dem Land steht an der Spitze der Wohnwünsche der Bundesbürger. Auf die Frage, wo sie – unabhängig von ihrer finanziellen Situation oder anderen Rahmenbedingungen – am liebsten wohnen würden, sagen 45 % der Bürger, dass sie eine ländliche Gemeinde wählen würden. Jeder Dritte (33 %) würde sich für eine Klein- oder Mittelstadt entscheiden, und nur jeder Fünfte (21 %) für eine Großstadt. Besonders attraktiv ist das Wohnen auf dem Lande für Personen ab 30 Jahren.114b Auch in Holland ergaben Umfragen ein ähnliches Bild: Die Mehrheit der niederländischen Großstadtbewohner möchte, wenn möglich, in einem Dorf wohnen. Dagegen sind drei Viertel der Befragten auf dem Land sehr zufrieden und wollen nicht weg aus ihren Dörfern.115 Die Gründe für die Zufriedenheit der Landbewohner sind nicht leicht zu ermitteln und zu benennen. (Obwohl schon zahllose Philosophen und Poeten seit der Antike immer wieder darüber nachgedacht und geschrieben haben.) Vielleicht ist es schlicht das überschaubare, »einfache«, ruhige, naturnahe, sozial engere Leben in einer immer komNach der Olympiade in Vancouver 2010 wird Olympiasiegerin Magdalena Neuner in ihrem Heimatdorf Wallgau in Oberbayern empfangen.

plizierteren, anonymeren und schnelleren Welt. Das lokale Verortetsein im Kleinen, das Halt gibt. Das Dorf bietet offenbar die Chance einer archaischen menschlichen Lebens-

umfeld. Seit Jahrzehnten wird in repräsentativen Umfra-

146

form.

gen immer wieder bestätigt: In der Gunst der Menschen hat

Eine interessante Facette der Zufriedenheit ist kürzlich

das Land seit vielen Jahren und sogar zunehmend ein gu-

in einer Studie der Universität Münster herausgearbeitet

tes Image. Auch die konkrete Zufriedenheit der Bewohner

worden: die Sicherheit im Wohnumfeld, die von der Be-

mit ihrer räumlichen Umgebung ist auf dem Land deutlich

völkerung als ein wichtiger Vorteil des Landlebens ange-

größer als in der Stadt. Auf die Frage des Allensbacher Insti-

sehen wird. Laut Polizeistatistik haben wir auf dem Land

tutes »Wo haben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz all-

eine geringere Kriminalitätsdichte und eine höhere Auf-

gemein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?«

klärungsquote bei Verbrechen. Außerdem weiß man heute,

entschieden sich im Jahre 1956 noch 59 % für die Stadt und

dass die zufriedenen Einwohner ein weicher Wirtschafts-

nur 19 % für das Land. Als die Frage 1977 wiederholt wurde,

faktor des ländlichen Raumes sind.

hatten sich die Antworten deutlich verändert. Nun spra-

Die emotionale Ortsbezogenheit und die Zufriedenheit

chen sich bereits 43 % für das Land aus und 39 % für die

der Landbevölkerung besitzen also eine überwiegend posi-

Stadt, 2014 waren es 40 % für das Land und nur noch 21 %

tive Qualität. Dies wird manche erstaunen, zumal der länd-

für die Stadt. Bei der Beantwortung einer weiteren Frage

liche Raum nicht selten mit Schlagworten wie »sterben-

Das moderne Dorf

der Raum« oder »Armenhaus der Nation« tituliert wird. Es

Heimat ist auch ein politischer Begriff. Beim Streit um

zeigt sich auch hier die häufig zu beobachtende Diskrepanz

die Heimat geht es um die Bewertung unterschiedlicher

zwischen der Binnensicht des Dorfes durch die eigene Be-

Lebensformen. Die Deutungshoheit darüber haben in der

völkerung und der Außensicht des Dorfes durch dorfferne

heutigen Moderne die urbanen Eliten in Staat und Gesell-

Wissenschaftler, Politiker, Planer und Redakteure. Erst in

schaft, die sog. »Globalisierungsgewinner«, übernommen.

jüngerer Zeit scheint in Politik und Gesellschaft das Inter-

Der »Kosmopolit mit hochbeweglicher Identität« bzw. die

esse und der Respekt gegenüber den Kräften des Dorfes zu-

»neue hyperkulturelle Boheme« (Iris Radisch, Leitfaden

zunehmen, die aus der emotionalen Ortsbezogenheit und

zum Heimatgefühl, Westfalenblatt v. 3. 5. 2018) betrach-

Zufriedenheit der Bewohner erwachsen.

tet die offenkundig beharrliche lokale und regionale Hei-

Ein schönes Beispiel für den Wert von Ortsbezogenheit

matliebe vor allem der Landbewohner mit Argwohn. Diese

und Zufriedenheit mit dem Landleben gab vor ein paar Jah-

wird gern als spießig, naiv und rückständig bezeichnet und

ren die zweifache Goldmedaillengewinnerin Magdalena

zu einer »politischen Krankheit« erklärt (FAZ v. 10. 11. 2018,

Neuner nach ihrer Rückkehr von den Olympischen Spielen

S. 1). Mit Begriffen wie »Heimattümelei« und »Kirchturm-

in Vancouver/Kanada im Aktuellen Sportstudio des ZDF am

denken« wird die ländliche Lebensform der lokalen Selbst-

6. 3. 2010. Auf Fragen des Moderators, woher sie ihre Ruhe

verantwortung, der Natur- und Menschennähe, des vor-

und ihre Kraft hole, antwortete sie: »Aus meinem Dorf

und fürsorgenden Denken und Handelns diskreditiert und

Wallgau.« Das ist ein 1400 Einwohner zählendes bayerisches

zum Auslaufmodell abgestempelt. Dabei gibt Heimatliebe

Gebirgsdorf, wo sie ihre Familie und Freunde hat, wo sie

den Menschen Halt und ist die Basis für bürgerschaftliches

»dahoam« ist. Offenherzig und selbstbewusst formulierte

Engagement und demokratisches Mitwirken – was Staat

die durch ihren Sport schon weit gereiste und weltge-

und Gesellschaft doch sehr zugutekommt.

wandte junge Frau ihre abschließende Begründung: »Ich bin nun mal ein totales Landei.«

Die auf dem Land noch stark ausgeprägte lokale Identifikation und die daraus folgende Mitmach-, Anpack- und

Die enge Ortsbezogenheit und hohe Zufriedenheit der

Selbstverantwortungskultur, die auf Heimatliebe basieren,

Landbewohner wird oft mit dem Begriff Heimat um-

wurden und werden durch Beschneidung von Befugnis-

schrieben, der jedoch immer wieder – auch im Wandel der

sen und fehlendem Respekt durch Bund und Länder immer

Zeiten – sehr unterschiedlich gebraucht und bewertet wird.

mehr geschwächt und beseitigt. Die Folgen dieser fortge-

Das Wort Heimat drückt ein Gefühl der Verbundenheit mit

setzten Entmündigung des Landes sind eine wachsende Po-

einem Ort, einer Region oder Landschaft aus, das oft mit

litik-, Staats- und Demokratieverdrossenheit in der ländli-

der Zeit der Kindheit und Jugend verknüpft ist. Auf dem

chen Bevölkerung und Kommunalpolitik. Mit »Heimatmi-

Land ist die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld gegen-

nisterien« versuchen Bund und Länder derzeit, den Dörfern,

wärtig deutlich größer als in der Großstadt, auch die »Hei-

Kleinstädten und Landgemeinden staatliche Zuwendung

matliebe« scheint in Landregionen besonders intensiv zu

»von oben« zu signalisieren. Skepsis ist jedoch angebracht,

sein. Beides hängt wahrscheinlich mit den Vorzügen des

ob damit tatsächlich eine Kehrtwende in der Behandlung

Landes wie Naturnähe und Freiräumen (in Feld, Wald und

des Landes beginnt oder der systemische Bevormundungs-

Garten) und überschaubaren engen sozialen Netzen zusam-

und Entdemokratisierungsprozess von oben nach unten

men.

doch wie bisher weiterläuft (vgl. dazu das Kapitel Dorfpolitik ab S. 268).

Bevölkerung – Soziales – Kultur

147

Dörfliches Sozialleben – Idylle ganz ohne Tücken? Die Entwicklung von Dorfgemeinschaft und Nachbarschaftshilfe

Der Begriff »Dorfgemeinschaft« wird oft gebraucht –

gewiesen, man muss sich arrangieren. Die Familien ken-

selbst für moderne Dorfdefinitionen wird er genutzt.

nen sich – oft seit Generationen. Ein altes Sprichwort auf

Aber schon das Wort ist eigentlich eine Utopie. Kann

dem Land besagt: »Einen guten Nachbarn zu haben, ist

ein ganzes Dorf aus höchst unterschiedlichen Indivi-

mehr wert als zehn Morgen Land.« Die oft zitierte Nachbar-

duen und Interessengruppen wirklich eine echte Soli-

schaftshilfe war und ist sehr vielfältig, sie hat sowohl ma-

dargemeinschaft bilden? Städter bewundern immer

terielle als auch sozial-kommunikative Facetten: Hilfen in

wieder dörfliche Feste, wo alle miteinander feiern, je-

Not- und Katastrophenfällen (z. B. nach Bränden oder Un-

der mit jedem spricht und Gemeinschaftsgefühle sicht-

fällen), bei jahreszeitlich bedingter Arbeitshäufung (z. B.

bar werden. Oder sie staunen über die Kraft einer Dorf-

der Ernte), bei bestimmten arbeitskräfteintensiven Unter-

gemeinschaft, die den letzten Gasthof im Dorf rettet.

nehmungen (z. B. Dacheindeckung), in gegenseitiger Ar-

Aber die »Idylle« war und ist nicht ganz ohne Tücken.

beitsteilung (z. B. Schlosser hilft Bauer und umgekehrt), bei der Betreuung und Pflege von Kindern und Alten. Dazu

Wenn man vom Dorf spricht, kommt die Rede sicherlich

kommen die gemeinsame Anteilnahme an den vielfälti-

bald auf die dichten sozialen Kontakte und Netzwerke der

gen Familienereignissen (z. B. Geburt, Hochzeit, Tod) sowie

Dorfbewohner. Tatsächlich gelten Dorfgemeinschaft und

dörflichen Begebenheiten (z. B. Kommunal- und Vereins-

Nachbarschaftshilfe als Schlüsselbegriffe zum Verständ-

politik, Klatsch), Austausch von Geräten oder Werkzeugen

nis des Dorfes. Auch die Wissenschaft sieht hierin ein We-

(z. B. Leitern oder Sägen), Überwachung und Kontrolle der

sensmerkmal des Landlebens. Allerdings sollte man das

Haus- und Hofanlage (z. B. vor Dieben), gemeinsames Ge-

Bild einer stets »idealen« Dorfgemeinschaft mit Vorbehal-

stalten der arbeitsfreien Zeit mit Spielen, Erzählen, Feiern

ten betrachten. Außerdem haben Nachbarschaft und Dorf-

usw.

gemeinschaft einen starken Wandel erfahren. Was verbirgt

Im früheren Dorf bestanden genau festgelegte Nach-

sich nun ganz konkret hinter diesen sehr komplexen, aber

barschaftsrechte und -pflichten wie Grußpflicht oder Bei-

für das Dorf so wichtigen sozialen Begriffen?

standspflicht. In der Gegenwart wächst jedoch auch auf dem

Die Kontakte der Nachbarschaft ergeben sich aus der gemeinsamen Wohnlage. Häufig stehen die Gebäude eng aneinander. Man sieht sich ständig, man ist aufeinander an-

148

Das moderne Dorf

Abbildung oben: An Hochzeiten nahm das ganze Dorf teil: hier ein Hochzeitszug auf dem Weg zur Kirche in den 1950er Jahren.

Land die Freizügigkeit und Bereitschaft, die Nachbarschaft nach individuellen Vorstellungen zu gestalten. Da viele der früheren nachbarlichen Hilfen an Bedeutung verloren haben (z. B. Hilfen bei der Ernte), rücken die Nachbarschaften heute in die Nähe frei gewählter Bekanntenkreise. Wissenschaftler bezeichnen den Wandel der dörflichen Nachbarschaft als Übergang von der geschlossenen zur offenen Nachbarschaft. Noch vor 50 Jahren gab es in den Dörfern neben der (begrenzten) Nachbarschaft und der (gesamten) Dorfgemeinschaft im Wesentlichen zwei weitere soziale »Netzwerke«: die meist sehr großen Verwandtschaften und die besonders angesehenen dörflichen Honoratioren – in der Regel

Auch Beerdigungen fanden meist unter großer Beteiligung des Dorfes statt, wie hier in Grimmelfingen auf der Schwäbischen Alb um 1950.

die größten Bauern und die Dorfakademiker wie Geistliche, Lehrer, Ärzte und die höheren Forst- und Gutsbeam-

eines harmonischen, friedlich in sich ruhenden Sozialsys-

ten. Heute sind die sozialen Gruppierungen in den Dörfern

tems aus gleichrangigen Partnern, einer ländlichen Idylle.

offener und vielfältiger geworden. So bestehen zahlreiche

Heute ist die Forschung sich darin sicher, dass es die oft be-

Bekannten- und Freundeskreise, »Kegelclubs« oder Cliquen

schworene und besungene ideale Dorfgemeinschaft nie ge-

nebeneinander, die durchschnittlich zehn bis 30 Personen

geben hat. Dass der dörfliche Alltag vielmehr von ständi-

umfassen und sich regelmäßig zu Geburtstagen oder Aus-

gen Interessengegensätzen der Besitzenden und Besitzlo-

flügen treffen oder auch bei Dorffesten zusammensitzen.

sen, der Mächtigen und Machtlosen bestimmt war. Einige

Die Bedeutung der großen Verwandtschaften und der Ho-

Soziologen benutzen den Begriff einer »Terrorgemein-

noratioren-Zirkel hat dagegen in den letzten Jahrzehnten

schaft«, das mag übertrieben sein. Machtkämpfe, Ränke-

allmählich abgenommen.

spiele, kleine Gemeinheiten und grobe Ungerechtigkeiten

Die Dorfgemeinschaft ist ein sehr komplexer Begriff (interessanterweise gibt es den parallelen Begriff »Stadtge-

gehörten aber ebenso zum ländlichen Alltag wie Nachbarschaftshilfe und Dorfsolidarität.

meinschaft« nicht). Der Duden übersetzt ihn schlicht als die Gesamtheit der Bewohner eines Dorfes. Doch Dorfgemeinschaft ist mehr: Sie umfasst die Gesamtheit der sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen der Dorfbewohner, zugleich steckt in dem Begriff auch die Vorstellung einer Solidargemeinschaft, eines »Wir-Gefühls«. Die frühere Dorfgemeinschaft war zunächst dadurch geprägt, dass die Bevölkerung geistig, ökonomisch und sozial auf die lokale Siedlung bezogen war. Ein weiteres Kennzeichen war, dass es kaum ein privates Leben gab, alles spielte sich öffentlich ab; man konnte sich nicht verstecken und man kannte sich. Mit festen Normen und Sitten waren enge soziale Vorgaben und Kontrollen verbunden. Ein starkes Wir-Bewusstsein trug sowohl zur Abschirmung nach außen als auch zur inneren Integration bei. Von der Landsoziologie sind Inhalt und Bewertung der Dorfgemeinschaft jahrzehntelang sehr gegensätzlich diskutiert worden. Weit verbreitet war zunächst die Vorstellung einer »idealen Gemeinschaft«, Die Aktivitäten der Dorfgemeinschaft sind vielfältig: hier läuft gerade eine Dorfputzaktion in Wrexen in Nordhessen.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

149

schaft. Eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft waren ständige soziale Kontrollen. Jede Handlung, Äußerung und Gefühlsregung war der unmittelbaren Beobachtung der Mitmenschen ausgesetzt. Abweichungen zu den lokal geltenden Verhaltensmustern wurden sofort registriert und in soziale Sanktionen umgesetzt, um die »Abweichler« zu normgerechtem Handeln zu »erziehen«. »Das macht man nicht« oder »Das gehört sich nicht« sind bis heute typische dörfliche Redewendungen. Die frühere Dorfgemeinschaft hat sich mit den Wandlungsprozessen von der Agrar- zur Industriegesellschaft wesentlich verändert. Aus der engen und geschlossenen Interessen- und Solidargemeinschaft hat sich ein weitgehend Die Jugendlichen erlernen das Ehrenamt meist in den Vereinen, hier helfen sie beim Bau eines Jugendtreffs in Aiging (Bayern).

offener und liberaler Sozialverbund entwickelt. Man ist aufgeschlossener gegenüber Neuerungen, man ist offener gegenüber Neubürgern, Abweichlern oder benachbarten

150

Die frühere Dorfgemeinschaft hatte somit zumindest

Dörfern, man übernimmt städtische Gewohnheiten. Den-

zwei Gesichter: Durch das enge wirtschaftliche und soziale

noch wird auch heute die Existenz und spezifische Eigen-

Aufeinander-angewiesen-Sein entstand auf der einen Seite

art der Dorfgemeinschaft nicht bestritten. Dies entspricht

ein ausgeprägtes lokales Wir-Bewusstsein sowie auf der an-

sowohl den Vorstellungen der Dorfexperten als auch dem

deren Seite Misstrauen, Spannungen und persönliche Kon-

Selbstverständnis der ländlichen Bevölkerung. In wieder-

flikte. Die Allgegenwart des »Dorfes« führte zu einem stets

holten Umfragen betonen Landbewohner immer wieder

vorsichtigen und angepassten Verhalten. Eventuelle Risi-

den hohen Wert der Dorfgemeinschaft, in der sie sich sub-

ken und Blößen, z. B. diejenige des schlechten Rufes, wur-

jektiv wohlfühlen.116

den möglichst gemieden. Zu den besonderen sprachlichen

Die Dorfgemeinschaft ist jedoch mehr als nur ein Wohl-

Vorsichtsmaßnahmen gehörten u. a. die oft benutzten For-

gefühl. Sie zeigt sich durch den überdurchschnittlich ho-

meln, »nichts gesehen zu haben«, »nichts gehört zu haben«,

hen ehrenamtlichen Einsatz der Dorfbewohner, der vor

»nichts gesagt zu haben« oder »nichts damit zu tun zu ha-

allem dem reichen Vereinsleben zugutekommt. Sie kann

ben«. In den letzten Jahrzehnten ist der soziale Druck des

sich darüber hinaus aber auch in außergewöhnlichen Ak-

festgefügten Lebens, des immer Gleichen allmählich aus

tivitäten äußern, wenn besondere Anlässe dies erfordern.

den Dörfern gewichen. Sie sind im wahrsten Sinne des

Hier ein paar gar nicht so seltene Beispiele: Die Dorfge-

Wortes freier, offener und lebendiger geworden.

meinschaft übernimmt und revitalisiert den letzten Gast-

Die Dorfgemeinschaft erfuhr ihren wesentlichen Zusam-

hof oder Laden des Dorfes oder sogar das von der Kommune

menhalt durch die Grundherrschaft, die gemeindliche

aufgegebene Freibad. »Das müssen wir dem Dorf zuliebe

Selbstverwaltung sowie kommunale und religiöse Ein-

tun!« ist ein Satz, den man häufiger hört und der auch posi-

richtungen wie Schule, Feuerwehr und Kirche. Deren Re-

tiv anpackend gemeint ist. Die Kraft der Dorfgemeinschaft

präsentanten – Grundherr oder dessen Verwalter, Bürger-

ist in jedem Dorf vorhanden, auch wenn sie bisweilen zu

meister, Pastor, Lehrer und Brandmeister – waren wichtige

schlummern scheint. Die Schwächung des dörflichen Zu-

Identifikationsfiguren des Dorfes. Daneben wirkten die oft

sammenhalts bzw. »Dorfgefühls« nimmt erkennbar dann

zahlreichen Vereine gemeinschaftsfördernd und trugen

zu, wenn Dörfer durch zu raschen Zuzug zu schnell wach-

zum Ausgleich persönlicher Spannungen bei. Gesellige

sen. Das spüren besonders die ländlichen Wachstumsorte

Veranstaltungen wie Schützenfest, Kirchweihfest und Ern-

im Umfeld der Großstädte und Verdichtungsräume.

tedankfest, aber auch Begräbnisse und Hochzeiten dien-

Die enge Dorfgemeinschaft prägt naturgemäß die Ent-

ten ebenfalls der Einbindung des Einzelnen in die Gemein-

wicklung der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen.

Das moderne Dorf

Es gibt kein Dorf ohne Traditionspflege, hier feiert Premslin in Brandenburg das Erntedankfest mit einem Festumzug.

Das oft zitierte afrikanische Sprichwort »Ein ganzes Dorf

Postbeamte oder Ingenieure hervorgegangen, die aber dem

wird gebraucht, um ein Kind zu erziehen« ist auch als ein

Wohnort Dorf treu geblieben sind. Sie gehören heute oft

Kompliment an die Dorfgemeinschaft als breite Bildungs-

zu den Trägern der Dorfgemeinschaft. Auch die nach dem

einrichtung zu verstehen. In ähnlicher Weise äußerte sich

Zweiten Weltkrieg zugezogenen Heimatvertriebenen und

der Philosoph und Universitätsprofessor Peter Wust, aufge-

Flüchtlinge sind inzwischen – ebenfalls durch die folgen-

wachsen im saarländischen Dorf Rissenthal bei Losheim:

den Generationen – weitestgehend in die Dorfgemeinschaft

»Das Dorf war meine erste Universität, und zwar eine solche,

integriert und gehören zu deren Stützen. Die seit etwa

die bis jetzt durch keine bessere ersetzt werden konnte.«

20 Jahren in vielen Dörfern, vor allem in Westdeutschland,

117

Für Klaus Brill ist das Dorf heute jedoch bedauerlicher-

stark angewachsene Gruppe der Aus- und Übersiedler ist

weise dabei, »diese urtümliche Erziehungskraft zu verlie-

bislang jedoch eher schwach in das Dorfleben einbezogen.

ren, weil seine Vielfalt, sein Gemeinschaftsgeist und seine

Sie besitzt in der Dorfgemeinschaft in der Regel noch kein

Familienstrukturen verblassen«.

größeres Gewicht.

Den Kern der Dorfgemeinschaft bildeten in der Regel

Eine wesentliche Beeinträchtigung der Dorfgemein-

die Familien der Alteingesessenen (vgl. Grafik S. 139). Das

schaft kam durch die zurückliegenden kommunalen Ge-

waren zunächst die Gruppen der Bauern und Handwerker.

bietsreformen mit ihren Eingemeindungen für die große

Aus deren Familien sind in den letzten Jahrzehnten häufig

Mehrheit der deutschen Dörfer. Sie verloren mit ihrer po-

durch den ökonomischen Wandel in der zweiten oder drit-

litischen Selbstständigkeit ihren Bürgermeister und Ge-

ten Generation moderne Dienstleistungsberufe wie Lehrer,

meinderat, zugleich ihren amtlichen Dorfnamen und in

Bevölkerung – Soziales – Kultur

151

Die Dorfgemeinschaft der 800-Einwohner-Gemeinde Bitzen in der Verbandsgemeinde Hamm/Sieg am Rande des Westerwalds in Rheinland-Pfalz betreibt seit Jahren eine außergewöhnliche »Verwurzelungs-Initiative«. Auf einer Gemeindewiese werden für jedes neugeborene Kind jeweils im November Obstbäume gepflanzt, die den Namen des Kindes erhalten. In einer Nutzungsurkunde wird jedem Kind ein lebenslanges Ernterecht zugesichert. Für Bürgermeister Armin Weigel und den lokalen Gemeinderat ist diese Obstwiese am Dorfrand eine schöne und sinnvolle Investition in die Zukunft seines Dorfes.

der Folge auch ihren statistischen und postalischen Bestand.

den sei. Seit wenigen Jahren ist in Deutschlands Dörfern ein

Sozusagen als Ausgleich sind in jüngerer Zeit zahlreiche

Gründungsboom von neuen »Bürgervereinen« zu beobach-

und zunehmende Aktivitäten in Vereinen und Bürgerini-

ten, die integrativ zwischen oder über den traditionellen

tiativen sowie in der Brauchtums- und Traditionspflege zu

Dorfvereinen angesiedelt sind und gesamtdörfliche Inter-

beobachten, die auf ein Wiedererstarken der dorfeigenen

essen vertreten (vgl. S. 171). Sie geben der – häufig »unsicht-

Kräfte hinweisen. In seiner Beschreibung der friesischen

baren« – Dorfgemeinschaft möglicherweise in Zukunft ein

Dörfer berichtet der niederländische Autor Geert Mak118 da-

neues Gesicht und Gewicht.

von, dass in den 1990er Jahren ein neuer Dorfstolz entstan-

152

Das moderne Dorf

Kein Dorf ohne Kirche!? Einst Dorfmittelpunkt, heute zunehmender Bedeutungsverlust

Die Kirchen sind seit der Christianisierung im Frühen

der »gute Hirte« = Pastor). Der Kirchhof war vielerorts ur-

Mittelalter das geistliche und kulturelle Zentrum

sprünglich auch Gerichtsort und kommunaler Versamm-

des Dorfes. Hier wurde man getauft, hier »lernte«

lungsplatz. In den Pfarrämtern wurde jahrhundertelang

man die Zehn Gebote und alles über Sitte und Moral,

die Bevölkerungsstatistik der Gemeinde geführt. Die Kir-

hier heiratete man, hier fand das letzte Requiem statt.

chengemeinde besaß früher und stärker als die politische

In der Kirche wurde der Rhythmus der jahreszeitlichen

Gemeinde eine Integrationskraft für die Dorfbewohner.

Feste vorgegeben. Der Pfarrer war die erste Autorität

Die Kirche war bei fröhlichen wie traurigen Anlässen der

des Dorfes. Doch heute sieht vieles nach Götter-

Mittelpunkt der Ortsbezogenheit. Ohne eigenes Kirchenge-

dämmerung aus. Gähnende Leere in den sonntäg-

bäude war ein Dorf daher im Selbstverständnis der Bewoh-

lichen Gottesdiensten, die vor 50 bis 60 Jahren selbst

ner kein vollständiges, ernst zu nehmendes Dorf. Insgesamt

an den Werktagen noch brechend voll waren. Die

spielt die Kirche somit eine der Hauptrollen in der Zivili-

meisten Dörfer haben keinen eigenen Pfarrer mehr.

sationsgeschichte des Dorfes.

Erste Kirchenschließungen auf dem Land haben bereits stattgefunden.

Die ländlichen Pfarrgemeinden können meist auf eine lange Geschichte zurückblicken, die nicht selten bis in die Anfänge der Christianisierung im Frühen Mittelalter

Ein Dorf ohne Kirche kann man sich kaum vorstellen.

reicht. In Dorfgebieten hat jeder größere Ort ab etwa 300

Diese enge Verknüpfung ist weit verbreitet und auch be-

Einwohnern in der Regel mit seiner Kirche auch eine ei-

gründet. Seit Menschengedenken prägt die Kirche nicht

gene Pfarrei. Kleinere Dörfer und Weiler besitzen häu-

nur das Dorfbild, sondern auch das Dorfleben. Jedes Dorf

fig den Status einer nicht selbstständigen Filiale. Sie haben

war in der Regel von Beginn an auch eine religiöse Gemein-

aber oft auch eine kleine Kirche oder Kapelle, man spricht

schaft. Generell sind ja ländliche Gesellschaften dadurch

daher von »Kapellengemeinde«. In den norddeutschen Ein-

gekennzeichnet, dass die Religion in hohem Maße das poli-

zelhof- bzw. Streusiedlungsregionen bildeten sich die sog.

tische, wirtschaftliche und kulturelle Denken und Handeln

»Kirchspiele«: Hier sind einem zentralen Kirchenstandort

der Menschen bestimmt.

119

Viele Religionen sind in länd-

licher Umgebung entstanden und benutzen bis heute Bilder aus der Landwirtschaft (z. B. das »Lamm Gottes« oder

Prozessionen in die Feldflur sind ein Höhepunkt des katholischen Kirchenjahres: hier die Fronleichnamsprozession in Berg bei Jachenau.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

153

Wenn man sich einem Dorf nähert, erscheint zuerst fast immer der Kirchturm. Er bietet den Menschen Orientierung und Identifikation und ziert das Dorfbild, mit Zwiebelturm oder hoher Spitze wie hier in Fischen im Allgäu.

im sog. »Kirchdorf« mehrere Einzelhofgruppen oder Wei-

tum der Ausgestaltung und der Kunstschätze. Man fragt

ler (in Nordwestdeutschland oft »Bauerschaften«, in den

sich dann bisweilen, woher diese Dörfer in früheren (wirt-

Alpen »Talschaften« genannt) zugeordnet.

schaftlich »schlechteren«) Zeiten die Kraft genommen ha-

Kirchen und Kapellen sind oft die ältesten Gebäude und

154

ben, diese großen und schönen Gotteshäuser zu bauen.

manchmal die einzigen Kulturdenkmäler in den Dörfern.

In früheren Phasen der Geschichte hatten die Kirchen

Häufig sind es stattliche Bauten mit einer kunstvollen Aus-

häufig auch Wehrfunktionen zu erfüllen. Dies gilt beson-

stattung durch Malereien, Glasfenster, Altäre, Säulen, Stein-

ders für die sog. »Kirchenburgen«, mit hohen Mauern und

und Holzplastiken im Inneren. Manchmal kommt man in

Türmen befestigte Fluchtburgen zum Schutz der Dorfbe-

eine fremde Dorfkirche und wird überrascht vom Reich-

wohner in Notzeiten. Neben der zentralen Kirche und häu-

Das moderne Dorf

fig auch einem Schulgebäude beherbergten die Kirchenburgen die sog. »Gaden«. Jede Bauernfamilie bekam seine eigene Gade, ein kleines Gebäude, in dem sie bei einer Belagerung mit dem Vieh und Erntevorräten längere Zeit ausharren und überleben konnte. Die Pfarrer und Lehrer wohnten ständig in der Kirchenburg. Die meisten Gaden schmiegten sich an die innere Wehrmauer und gaben der Anlage das Bild eines kleinen Dorfes. In Deutschland finden sich derartige Kirchenburgen mit Gadenanlagen vor allem im nördlichen Franken und südlichen Thüringen. Zu den größten und besterhaltenen Beispielen gehören Ostheim, Mönchsondheim und Aschfeld im nördlichen Franken sowie Walldorf, Herpf und Rohr in Thüringen im Umfeld von Meiningen.120 Die kirchlichen Amtsträger wie Pfarrer, Priester, Ka-

Die Kirche ist seit altersher der bauliche und geistlich-soziale Mittelpunkt des Dorfes, hier das Beispiel Schwenda.

plan oder Diakon sind im ländlichen Gemeindeleben meist eine unbestrittene Autorität in religiösen und sittlichen

in ihrem Programm haben. Häufig beteiligen sich ländli-

Fragen. Sie haben sich außerhalb des Dorfes durch eine

che Kirchengemeinden an Dritte-Welt-Aktionen und pfle-

spezialisierte Ausbildung (Studium) und religiöse Wei-

gen Kontakte und Partnerschaften mit Pfarreien in Afrika,

hen qualifiziert. Oft ist der Pfarrer Präses, d. h. Vorstand, im

Asien und Südamerika. Nachdem in den meisten Dörfern

Schützenverein oder Vergleichbares in anderen dorfprä-

keine Schulen mehr existieren, sind die Pfarrheime oft die

genden Vereinen. Vielerorts gehört der Pfarrer oder Pas-

einzigen lokalen Bildungs- und Sozialeinrichtungen.

tor – wenn auch mit abnehmender Tendenz – zu den letz-

Die Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie der bei-

ten traditionellen, noch im Dorf verbliebenen Autoritäts-

den großen Kirchen, die in Deutschland insgesamt knapp

personen, nachdem Bürgermeister und Dorflehrer durch

eine Million Menschen beschäftigen, erfüllen auch auf

einschlägige »Reformen« abgezogen worden sind. Die un-

dem Land einen Großteil der sozial- und bildungspoliti-

tergeordneten kirchlichen Ämter des Küsters, Kirchenpfle-

schen Dienstleistungen. Sie unterhalten Schulen, Kinder-

gers und Organisten waren auf dem Land meist begehrt. Sie

gärten, Altenheime, Krankenhäuser und Sozialstationen

boten auch den sozial schwächeren Gemeindemitgliedern die Möglichkeit, Ansehen zu erhalten und etwas Geld zu verdienen. Das kirchliche Gemeindeleben zeigt sich anhand vielfältiger Aktivitäten. Die Pfarrgemeinden nehmen zusätzlich zu ihrem religiösen Auftrag traditionell auch wesentliche kulturelle und soziale Aufgaben in den Dörfern wahr. Die sonn- und feiertäglichen Gottesdienste sind in vielen ländlichen – zumal katholischen – Regionen immer noch Fix- und Höhepunkte im Alltagsleben der Dorfgemeinde. Vielerorts leistet die Kirche heute eine vorzügliche und aktive Jugendarbeit. Daneben bestehen oft andere Gruppen der Kirchengemeinde wie Frauenverbände, Kolpingvereine, Chöre oder Altenclubs, die nicht nur religiöse Veranstaltungen, sondern auch allgemeine Sozialund Freizeitangebote wie Ausflüge oder Skatnachmittage Die Kirchenburg in Ostheim vor der Rhön war ursprünglich eine Fluchtburg zum Schutz der Dorfbewohner, des Viehs und der Erntevorräte in Notzeiten.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

155

Das religiöse Leben auf dem Land wird oft als »Volksfrömmigkeit« bezeichnet. Das Heilige wird herabgeholt in den Bereich des Menschlichen und oft allzu Menschlichen: Petrus, der alle unsere Sünden kennt, wird schon ein Auge zudrücken, wenn wir an der Himmelspforte vor ihm stehen. Die Gottesverehrung ist konkret und sinnlich. Vor allem in katholischen Regionen liebt man die großen Prozessionen mit den festlich geschmückten Straßen und prächtigen Hausaltären. Früher errichtete man Kreuze und Bildstöcke auf den Hofstellen oder im Felde, größere Bauernhäuser oder Gutshöfe hatten ihre eigene Kapelle. Die Gläubigkeit gilt insgesamt als ein Merkmal ländlicher Religiosität. Das »bäuerliche Gottvertrauen« ist zu einem geflügelten Wort geworden. Religiöse Riten und Bräuche, die sich vielfach mit weltlichem Brauchtum verbinden, spielen im ländlichen Leben auch heute noch eine wichtige Rolle. So ist der jahreszeitliche Ablauf in vielen Regionen Deutschlands durch die folgenden, meist mit großem Aufwand betriebenen kirchlichen Feiern gegliedert und geprägt: Advents- und Weihnachtsfestkreis, Fastnacht, Osterfestkreis, Pfingsten, sommerliche Prozessionen in Dorf und Flur, Wallfahrten, Kirchweihfest, Erntedankfest, Martinsumzüge. Auch zu den wichtigsten Stationen im Lebenslauf – Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Firmung, Hochzeit und Begräbnis – ist auf dem Land noch mancherlei kirchliches Brauchtum erhalten geblieben. Ein Beispiel zur gelebten Volksfrömmigkeit auf dem Land sind meine starken Kindheitserinnerungen an die Fronleichnamsprozession. Es muss um das Jahr 1950 gewesen sein – schon eine Woche vor der Prozession begannen die intensiven Vorbereitungen, das ganze Dorf fing regelrecht an zu brummen. Mit großen Wagen wurde FichtenDorfkirchen zeigen im Innern nicht selten eine außergewöhnliche Pracht und bisweilen auch kunstgeschichtliche Schätze, hier die Barockkirche St. Jakobus in Zimmernsupra.

grün aus dem Wald geholt, das dann zu Torbögen und Girlanden gewickelt und geflochten wurde. Im alten Dorfkern, wo wir damals wohnten, errichteten die Nachbarschaften aus zwei bis vier Häusern jeweils einen eigenen Bogen und

156

vielfältiger Art. Die meisten dieser Einrichtungen haben in

schmückten ihn festlich, durch den dann die Prozession

der Bevölkerung einen guten Ruf. Der Bildung und Weiter-

feierlich hindurchziehen konnte (im gesamten Dorf wa-

bildung der Landbevölkerung dienen die zahlreichen ka-

ren etwa zehn solcher Bögen aufgestellt). In den letzten Ta-

tholischen und evangelischen Landvolkshochschulen, die

gen kam dann das Farnkraut und die Blumen – vor allem

häufig sehr abgelegen in ehemaligen Klostergebäuden un-

die duftenden Lupinen – hinzu. Damit wurden am Abend

tergebracht sind und durch ihre breit gefächerten Ange-

vor der Prozession auf den Straßen und vor den Häusern

bote eine große und bisweilen überregionale Resonanz be-

große Teppiche ausgelegt und mit religiösen Mustern und

sitzen.

Schriftzeichen (z. B. IHS ) verziert. Zuletzt wurden dann vor

Das moderne Dorf

jedem Haus festliche Altäre aufgestellt und mit religiösen Statuen, großen Heiligenbildern, kostbaren Decken, Blumenschmuck und Kerzen zu kleinen Kunstwerken drapiert. Alle Häuser waren mit großen Fahnen beflaggt. Am gesamten Prozessionsweg waren in regelmäßigen Abständen am Straßenrand kleine Fahnen und dazwischen Birken- oder Buchenzweige mit frischem Grün aufgesteckt (aus diesen »Büschen« bauten wir uns am Nachmittag nach der Prozession gerne Laubhütten). Bei der Fronleichnamsprozession war dann die ganze Gemeinde auf den Beinen. Vier ältere Männer (des Kirchenvorstands) in schwarzen Anzügen trugen den »Himmel«, unter dem die Geistlichen (das Dorf hatte neben dem Pastor noch einen Vikar) mit der emporgehobenen Monstranz schritten. Alle kirchlichen Vereine waren mit Fahnenabordnungen vertreten. Die festlich gekleideten Kommunionkinder trugen Körbchen mit Blumen, die sie unterwegs streuten, und Kerzen. Alle Messdiener waren dabei und mit Schellen, Kerzen und Weihrauchfässern ausgestattet. An vier aufwendig geschmückten »Stationen« machte die Prozession Halt, wobei jeweils Fürbitten in lateinischer Sprache gesungen und der Segen gespendet wurde und der Gesangverein ein Lied vortrug. Während der Prozession durch und um das Dorf spielte die dörfliche Blasmusik Lieder wie »Großer Gott wir loben dich« und »Ein Haus voll Glorie schauet«, wobei im Wechsel dann Strophe für Strophe von allen nachgesungen wurde. Nach

Schöne Feldkreuze bereichern die Flur und bezeugen die Volksfrömmigkeit auf dem Lande, wie hier in Binswangen bei Wertingen in Schwaben.

gut zwei Stunden ging es dann zurück in die Kirche, wo mit dem »Tantum ergo« und kräftigem Orgelspiel ein feier-

deutlich: Von 98,5 % im Jahre 1871 über 93,1 % im Jahre 1939

licher Schlusspunkt gesetzt wurde.

haben sich die Anteile bis heute (2017) auf 54,2 % fast hal-

In den letzten Jahrzehnten geht der Einfluss der Kir-

biert. (Quelle: Forschungsgruppe Weltanschauungen in

che auf das dörfliche Leben aber stark zurück. Auch in

Deutschland 2019) Die Verluste betreffen ganz besonders

der Landbevölkerung ist ein Schwinden von Kirchentreue,

Ostdeutschland, wo nur noch 24 % der Bevölkerung einer

Gläubigkeit und Frömmigkeit zu beobachten. Der früher

christlichen Kirche angehören, gegenüber 71 % in West-

selbstverständliche sonntägliche Kirchgang wird beson-

deutschland. Gegenwärtig verringern sich diese Anteile der

ders von den nachwachsenden Generationen immer weni-

gläubigen Christen jährlich fast um einen Prozentpunkt.

ger wahrgenommen. Neben dem akuten Priestermangel

Der Blick in die Zukunft sieht nicht rosig aus.

haben allgemein Liberalisierung, Individualisierung und

Die Kirchen sind dabei, ihre Angebote in ländlichen Ge-

aufgeklärtes Denken, aber auch die zahllosen Missbrauchs-

bieten immer mehr zurückzunehmen: weniger Seelsorger,

skandale und deren Vertuschungen und fehlenden Einge-

weniger Gottesdienste, weniger religiöse Heranführung

ständnisse zum Autoritätsverlust der Kirchen beigetragen.

der Kinder und Jugendlichen. Vielerorts ist heute gerade

Bei einer Rückschau auf den Wandel der Religionszu-

die Jugendarbeit in den größeren Dorfvereinen intensiver

gehörigkeit der Menschen zu den beiden großen christ-

als in der Kirche. Vereinzelt sind bereits auch auf dem Land

lichen Kirchen (Röm.-katholische und Evangelische) in

einige Kirchen geschlossen und für nicht sakrale Zwecke

Deutschland seit 150 Jahren werden die großen Verluste

umgewidmet worden.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

157

Mit einer großen Demo der Initiative »Kirchengemeinde vor Ort« protestierten 1500 Gläubige am 20. 10. 2018 auf dem Domplatz in Trier gegen die Auflösung von 887 Pfarreien und Schaffung von 35 Großpfarreien durch die Bischöfe des Bistums Trier. – Im Dezember 2019 hat die Bistumsleitung von Trier auf Einwirken des Papstes seine »Reform« (vorerst) gestoppt. Die Gläubigen bleiben skeptisch!

158

Was passiert aktuell mit der Kirche auf dem Land? Ob-

kirchen lautet: »Wir brauchen euer lokales Denken, Füh-

wohl es ihr kaum noch schlechter gehen kann, macht die

len und Handeln nicht mehr!« Die Kirche schafft neue bü-

Amtskirche vielfach das Schlimmste, was man sich vorstel-

rokratische Monster und kappt gleichzeitig die Mitmach-

len kann: Katholische Bistümer und Evangelische Landes-

kirche in den Dörfern. Eine perfekte wie perfide Strategie

kirchen lösen die die oft seit Jahrhunderten bestehenden

des Durchsteuerns von oben nach unten mit dem Ziel ei-

Dorfpfarreien auf und zwingen sie zu Gemeindefusionen.

ner menschenfernen Kirche? Wie soll man es anders deu-

Aus bisher 5, 10 oder 30 Ortspfarreien, die nicht selten 20

ten? Die Kirche stößt mit ihrer »Reform« besonders die im-

oder 30 km auseinanderliegen, werden riesige Großpfar-

mer weniger werdenden Menschen vor den Kopf, die sich

reien gebildet, die man bisweilen wohlklingend aber ne-

überhaupt noch engagieren und im Selbstverantworten

bulös als »Pastorale Räume« bezeichnet. Die Amtskirche ist

eine lange Erfahrung und hohe Kompetenz besitzen. Das

dabei, dem Dorf und der Kleinstadt das Herz zu brechen.

Mitmachen in den Dörfern würde nach der Beseitigung der

Ein aktuelles Beispiel bietet das Bistum Trier. Dort plant

Ortsgemeinden gegen Null sinken. Pfarreifusionen dienen

die Bischofskirche derzeit, die bestehenden 887 Pfarreien

in keiner Weise der Seelsorge vor Ort oder gar einem aktive-

weitestgehend gegen deren Willen aufzulösen und zu 35

ren Gemeindeleben. Ein Landpfarrer drückte es kürzlich so

Großpfarreien zusammenzufügen. Die Amtskirche besei-

aus: »Wir würden als Kirche das größte Eigentor schießen,

tigt damit in allen in allen Dörfern und Kleinstädten die

das denkbar ist.« Die immer wieder vorgetragenen Warnun-

bestehenden Pfarrgemeinderäte und Verwaltungsräte und

gen, Proteste und Ängste von Landpfarrern und Gläubigen

damit die lokalen und demokratischen Gremien des Mitge-

werden arrogant und kalt abgewimmelt. Warum überlässt

staltens und Mitverantwortens. Das heißt: Die Bistumslei-

man den Ortskirchen nicht die echte Wahlfreiheit zwi-

tung verzichtet mit diesem Entscheid per Diktat von oben

schen Großpfarreien (mit Auflösung der Ortspfarreien)

auf weit mehr als 10 000 Engagierte auf dem Land. Ihre

und Pfarrverbänden, in denen die Ortspfarreien mit ihren

Botschaft an die bisherigen Träger und Gestalter der Orts-

Gremien der Selbstverantwortung und Mitgestaltung wei-

Das moderne Dorf

ter Bestand haben. In mehreren Bistümern wird den Orts-

folge dieser Kirchenpolitik: Das Bistum hat die geringste

pfarreien diese Freiheit angeboten und auch praktiziert.

Austrittsquote an Gläubigen und die besten Quoten an Tau-

Die kirchlichen Gemeindefusionen wiederholen die

fen, Kommunion und Firmung in Deutschland.

gravierenden Fehler der kommunalen Gebietsreformen

Die hier nur knapp skizzierten Argumente für den Er-

der zurückliegenden Jahrzehnte in mehreren Bundeslän-

halt der dörflichen Pfarreien sind allen deutschen Bischö-

dern, die mehr als 20 000 deutsche Dörfer entmündigt und

fen in einer ausführlichen Fassung seit 2014 bekannt.120a In-

mehr als 300 000 ehrenamtlich tätige Bürger in Deutsch-

zwischen wurde durch zahlreiche neue Studien belegt, dass

land aus den Gemeindeparlamenten wegrationalisiert ha-

Gemeindeauflösungen durch Großgemeinden bzw. Groß-

ben (Anm. Ausführlicher dazu auf S. 271 ff. und 327 ff.). Si-

pfarreien keine finanziellen Einsparungen bringen, aber

gnalwirkung: Wir brauchen eure Mitarbeit nicht mehr.

verheerende demokratische, soziale und kulturelle Verluste

Ergebnis: lokalpolitische Ohnmacht und Desinteresse der

verursachen. Man weiß, dass die Mitmachbereitschaft der

Bürger an Kommunalpolitik. Die gleichen Konsequenzen

Dorfbewohner in den neuen anonymen Großpfarreien

würden auch der Kirche bevorstehen.

(zum Beispiel in den Bistümern Münster und Hildesheim)

Gottseidank bestehen durchaus erprobte und bewährte

bereits rapide gesunken ist. Trotz all dieser Erkenntnisse

Alternativen zu Pfarreiauflösungen und Großpfarreien.

planen neben Mainz noch andere Bistümer ihre Pfarreiauf-

Es ist angesichts des Priestermangels und des Rückganges

lösungen: in Augsburg will man aus bisher rund 1000 Pfar-

der Gläubigen durchaus sinnvoll, die bestehenden Kirchen-

reien 203 Großpfarreien, in Freiburg aus derzeit 1057 Pfar-

gemeinden organisatorisch miteinander zu vernetzen und

reinen etwa 40 Großpfarreien machen!

die Seelsorger von Verwaltungsarbeiten zu entlasten. Pfarr-

Die Dorfbewohner und häufig auch Landpfarrer und

verbände, Pfarreiengemeinschaften oder Verbandsgemein-

Kommunalpolitiker wehren sich gegen die Auflösungen

den sind die optimale Alternative zu Großpfarreien. Sie

ihrer Pfarreien. Sie formieren sich in Gruppen (»Wir sind

ermöglichen eine starke zentrale Organisation und Ver-

Kirche«), sie benennen ihre Sorgen und die drohenden Ver-

waltung und belassen den miteinander vernetzten Orts-

luste. Sie protestieren zu Tausenden auf zentralen Plätzen

pfarreien ihre Autonomie, ihr lokales Sich-Engagieren,

der Bischofskirche und verteidigen dort ihre »Volkskirche«

Verantworten und Handeln. Die Verbandsgemeinden ha-

gegen die »Amtskirche«. Sie verweisen auf ihr jahrhunder-

ben sich im kommunalen Bereich auch als Verwaltungs-

telanges Sorgen und Handeln für »ihre Kirche«, sie spre-

gemeinden, Amtsgemeinden oder Samtgemeinden 10 000-

chen von Diebstahl an den bestehenden Kirchengemeinden

fach – unter anderem in den Ländern Rheinland-Pfalz, Ba-

durch stillschweigende Vermögensübertragungen an die

den-Württemberg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und

Bistümer.

Mecklenburg-Vorpommern – bestens bewährt und kommen den dortigen Dörfern sehr zugute.

Mit der Auflösung der Ortspfarreien schadet die Kirche nicht nur sich selbst, sondern auch dem Land und sei-

Mehrere Bistümer – zum Beispiel Osnabrück, Mainz und

nen Menschen. Das Dorf würde damit einen tiefen, an die

München – orientieren sich an diesen Vorbildern und stär-

Existenz gehenden Verlust erfahren: Es verliert seine äl-

ken ihre dörflichen Pfarreien im Rahmen von Pfarrver-

teste und über Jahrhunderte intensivst mit Leben gefüllte

bänden statt sie aufzulösen. Das Bistum Osnabrück verfolgt

Institution. Es verliert seine geistliche, kulturelle und so-

seit vielen Jahren konsequent das Leitbild der Stärkung von

ziale Mitte und damit den Kern seiner lokalen Identifika-

Dorfpfarreien, unter anderem mit Gemeindereferentinnen

tion. Es verliert vielerorts die letzte Bastion seiner lokalen

und ehrenamtlichen Verwaltungsleitern von Pfarreien, um

Selbstverantwortung. Es verliert das Innigste, was ihm die

die Priester zum Beispiel von der Immobilienbetreuung zu

Zentralen bisher noch nicht weggenommen haben – nach

entlasten zugunsten ihrer eigentlichen Aufgabe, der Seel-

Schule, Post und Bürgermeister. Es verliert sein Herz. Kann

sorge an den Menschen. Erste Bilanzen zeigen deutliche Er-

dies der Kirche gleichgültig sein?120b

Bevölkerung – Soziales – Kultur

159

Immer mehr Dörfer ohne Schule! Die Entwicklung der staatlichen Bildung auf dem Land

Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden in Deutsch-

Schulen bestanden haben. Die flächendeckende Einrich-

land flächenhaft staatliche Schulen eingerichtet: Je-

tung der Schule gehörte neben der kommunalen Selbst-

des Dorf und jeder Weiler bekam seine eigene Schule.

verwaltung, der Post und der Polizei zu den großen Infra-

Es war ein Modernitätsschub ohnegleichen. Ab den

strukturleistungen des modernen Staates im 19. Jahrhun-

1960er Jahren waren dann Schulschließungen auf dem

dert, die dem ländlichen Raum zugutekamen. Bis in die

Land an der Tagesordnung – moderne Mittelpunkt-

50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gehörte praktisch

schulen entstanden. Über die Hälfte der deutschen

zu jedem Dorf und größerem Weiler Deutschlands eine

Dörfer hat heute keine Schule mehr. Aber es gibt auch

Schule. Bei einer geringeren Anzahl der Schulkinder wur-

Neugründungen gegen den Trend, wie das Beispiel

den mehrere oder sogar alle Jahrgänge in einem Klassenver-

Lüchow in Mecklenburg-Vorpommern zeigt.

band zusammengefasst und von jeweils einem Lehrer unterrichtet. Die Finanzierung der Schulgebäude und Lehrer

Schulen gibt es auf dem Land seit der Frühen Neuzeit.

gehörte zu den Pflichtaufgaben der ländlichen Gemeinden.

Sie standen zunächst unter der Aufsicht des Pfarrers. Der

Neben den Volksschulen war das Angebot an weiterführen-

Schulmeister hatte meist mehrere Aufgaben zugleich für

den Schulen auf dem Land bis weit ins 20. Jahrhundert hi-

die Gemeinde und die Kirche zu erfüllen. Er war u. a. als

nein sehr begrenzt. Dies hat sicherlich zur Konservierung

Schreiber, Organist und Küster tätig, weshalb häufig auch

der sozialen Klassenunterschiede sowie der Barrieren zwi-

von »Küsterschulen« gesprochen wird. Mit der flächenhaf-

schen Stadt und Land beigetragen.

ten Einführung staatlicher Schulen auf dem Land wurden

Die Dorflehrer konnten sich mit der Entwicklung von

seit dem frühen 19. Jahrhundert nach und nach die frühe-

der kirchlich-kommunalen zur staatlich-kommunalen

ren Küsterschulen abgelöst. Selbst in kleinen und abgele-

Schule emanzipieren. Sie mussten nun nicht mehr mit ver-

genen Dörfern und Weilern von etwa 60 bis 100 Einwoh-

schiedenen Nebentätigkeiten ihren Lebensunterhalt ver-

nern wurden nun Volksschulen gegründet. Überall errich-

dienen, sondern konnten sich mehr und mehr ganz auf

tete man neue, stattliche Schulgebäude. Auch die Frauen

die Schulmeisterei konzentrieren. Allerdings war die Be-

erhielten nun Zugang zum Lehrerberuf, sie unterrichteten zunächst in den Mädchenschulen. Im Gebiet des heutigen Deutschland dürften um 1900 weit über 30 000 dörfliche

160

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Erwartungsfroh und respektvoll schauen die Schüler auf ihren Lehrer in einer Dorfschulklasse im Bayerischen Wald 1946.

soldung anfänglich recht dürftig. Nach und nach rück-

ter ausgemacht. Es begann also eine »Reform« des ländlichen

ten die Lehrer neben dem Pfarrer und Bürgermeister auf

Bildungswesens. In deren Mittelpunkt stand die Diskrimi-

zu den dörflichen Autoritäten ersten Ranges. Die Dorfleh-

nierung der ein- oder zweiklassigen sog. »Zwergschule« und

rer prägten nun das dörfliche Kulturleben mit. Sie führten

generell der kleinen Dorfschule, der man den Rückstand

häufig die Ortschronik und befassten sich mit der Brauch-

der Landkinder an (höherer) Schulbildung anlastete. Eben-

tumspflege oder der Aufarbeitung der lokalen Geschichte.

falls in den späten 1960er Jahren hatte das raumordnungs-

Nicht selten waren sie als Organist oder Dirigent des Kir-

politische Reformkonzept der zentralen Orte seine Blüte-

chenchores tätig, oft waren sie Mitbegründer von Musik-,

zeit. Im Zentralisieren von Gemeinden, Post, Polizei und

Gesang- oder Sportvereinen. Ein Rest an alter »Kirchenver-

auch Schulen sah man nun das große Heil, den Schlüssel

bundenheit« blieb lange bestehen. So »gehörte es sich« für

für jedweden Fortschritt. Man legte aus heutiger Sicht will-

den Dorflehrer bis in die 1960er Jahre hinein, die »Auf-

kürliche Mindestgrenzen (damals »wissenschaftlich« be-

sicht« der Kinder und Jugendlichen in der Sonntagsmesse

legte) für Schulen fest, die häufig bei 120 Schülern lagen.

zu übernehmen.

Es kam in der Folge also zu einer massiven Zentralisierung

Durch zwei Reformbewegungen bekam die Dorfschule

der schulischen Bildungseinrichtungen, d. h. konkret zu

in den 1960er Jahren einen schlechten Ruf. 1964 richtete

flächenhaften Schulschließungen auf dem Land. Neben

Georg Picht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die

den Volksschulen waren hiervon auch die gewerblichen

deutsche »Bildungskatastrophe« und hatte dabei vor allem

Schulen wie z. B. die Landwirtschaftsschulen betroffen.

die Landbevölkerung im Blick. Vom »Bildungsnotstand

Profitiert vom politisch gewollten Bildungsaufschwung

auf dem Land« war die Rede. Als besonders benachteiligt

haben vor allem die weiterführenden Schulen wie Real-

und förderungswürdig wurde die katholische Bauerntoch-

schulen und Gymnasien. Sie nahmen an Zahl und Größe in

Das schöne alte Schulhaus in Ollarzried in Bayern wird heute durch Ferienwohnungen genutzt.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

161

Der Blick in diese Dorfschulklasse von 1925 zeigt schon manche Fortschritte und Annehmlichkeiten der modernen Zeit: elektrisches Licht, Kachelofen, Wandkarten. Der Lehrer erscheint als Respektsperson.

den letzten 60 Jahren auf dem Land deutlich zu. Vor allem

duziert!121 Anstelle der geschlossenen Dorfschulen entstan-

in ländlichen Kleinstädten wurden zahlreiche Realschulen

den nun – oft auf der grünen Wiese – neue, große, moderne

gegründet. Gymnasien und Realschulen, die um 1960 noch

Schulzentren in den festgelegten zentralen Orten. Mit der

einzügig waren, sind heute meist drei- oder vierzügig.

Konzentration auf diese sog. »Mittelpunktschulen« stiegen

Zurück zur schulischen Grundversorgung in den Dörfern: Allein in Baden-Württemberg wurden während der

162

die von den Schülern zu überwindenden Wegdistanzen zur Schule um ein Vielfaches.

1960er bis 1980er Jahre rund 1500 Landschulen geschlossen.

Die Nachteile der Schulschließungen wurden erst spä-

Im gesamten Bundesgebiet dürfte die Zahl der Schulschlie-

ter wahrgenommen. Man erkannte vor allem die physische

ßungen dieser Zeit bei etwa 10 000 liegen. Regionale Unter-

und psychische Belastung der kleinen Kinder durch den

suchungen belegen die drastische schulische Ausdünnung

Bustransport. Manche Kritiker der Schulreform der 1960er

ganzer Landstriche. So ging in der ländlichen Region Ro-

und 1970er Jahre bezeichnen heute das ländliche Schulwe-

thenburg in Westmittelfranken von 1960 bis 1980 die Zahl

sen als »Transportgewerbe wider Willen« und resümieren

der dörflichen Grundschulen von 98 auf 22 zurück, die

ironisch-bissig, dass die vielfach überzogenen Schulkon-

Zahl der Hauptschulen sogar von 98 auf 12. Im Landkreis

zentrationen allein dem ländlichen Busgewerbe genutzt

Lüchow-Danneberg wurde in den 1970er Jahren die Anzahl

haben. Auch aus pädagogischer Sicht wird inzwischen die

der Schulstandorte binnen sieben Jahren von 80 auf 18 re-

kleine und wohnortnahe Schule wieder positiver beurteilt.

Das moderne Dorf

Stirbt diese pädagogische Idylle aus? Eine kleine moderne Klasse in einer kleinen Dorfschule im südhessischen Hesseneck-Hesselbach.

Nachdem alle Beteiligten – Eltern, Kinder, Erziehungswis-

Hier ein Teil seines Fazits: »Heute, nachdem wir ein Jahr-

senschaftler und Bildungspolitiker – ihre Erfahrung mit

zehnt gewaltiger pädagogischer Reformen hinter uns ha-

den großen Schulzentren gemacht haben, sehen Pädago-

ben, in dieser Atempause, die uns geschenkt wird, bevor

gen heute die Schule nicht mehr allein unter dem Aspekt

wir die Reform vollenden, sollten wir uns an die ›Tante-

von Leistung und Noten, sondern auch als Erziehungsraum

Emma-Schule‹ erinnern. So wie man in den Städten längst

zu Werthaltungen wie Kooperation und Kommunikation.

erkannt hat, dass der Kahlschlag urbaner Wohnviertel zu-

Und hier erweist sich die kleine Dorfschule durchaus als

gunsten von Wohnmaschinen seelische Verelendung nach

konkurrenzfähig. Die Bilanz der übertriebenen Zentrali-

sich zieht, so wie es einen Umweltschutz gibt, der einen

sierung der Landschulen ist inzwischen wenig umstritten:

Rest erhaltenswerter Qualitäten bewahrt, so sollte auch in

Der Verlust der Dorfschule brachte nicht nur für die betrof-

der Schule ein Bewusstsein wirksam werden, das der Ver-

fenen Kinder und Eltern Nachteile – mit der Schule ha-

massung entgegenwirkt. Meine Forderungen: Zurück mit

ben die betroffenen Dörfer auch ihre kulturelle und sozi-

den ersten und zweiten Schuljahren in die Heimatdörfer

ale Mitte verloren.

(und wenn das schon nicht möglich ist, was ich verstehen

Der Schriftsteller und Lehrer Walter Kempowski hat jahrelang an einer kleinen Landschule in Niedersachsen un-

kann, sollte man wenigstens die Schulen, die heute noch auf dem Lande existieren, dort belassen).«122

terrichtet und dessen Vorzüge (gegenüber der Mittelpunkt-

Die Gefahr weiterer Schulschließungen besteht auch

schule) in einem kleinen Essay eindrucksvoll dargestellt.

heute noch, vor allem durch den demographisch beding-

Bevölkerung – Soziales – Kultur

163

In Weyarn in Oberbayern errichtete die Gemeinde vor wenigen Jahren diese moderne Dorfschule. Die Gebäude- und Schulplatzgestaltung erzeugen für Schüler und Lehrer eine wohltuende Atmosphäre.

164

ten Rückgang der Schülerzahlen. Gerade die neuen Bun-

Schulen auf dem Land und verzichtet auf Mindestschüler-

desländer sind betroffen, hier sind in den zurückliegenden

zahlen. In Bayern und anderen Ländern gilt heute das sog.

20 Jahren bereits über 2000 Schulen geschlossen worden.

»Vorhalteprinzip«. Dessen Ziel ist es, Schulen oder Kinder-

Es gibt jedoch inzwischen bundesweit vielerlei Bemühun-

gärten zunächst zu erhalten, auch wenn diese nicht mehr

gen um den Erhalt der noch vorhandenen dörflichen Schu-

voll ausgelastet sind. Ein anderer Weg sind organisatorische

len. Einen ersten Anstoß zu einer Wende in der Schulpoli-

Zusammenschlüsse mehrerer Schulen zu Schulverbünden,

tik gab das Schulministerium in Baden-Württemberg, das

um die lokalen Standorte zu sichern.

seit 1986 die (Wieder-)Eröffnung dörflicher Grundschulen

Die heute auf dem Land bestehenden Grund- und wei-

ab 40 Kindern erlaubte: In den meisten der infrage kom-

terführenden Schulen sind in der Regel sehr gut ausgestat-

menden Gemeinden kam es zu sofortigen Wiedereinrich-

tet. So gehören z. B. Sportplätze und -hallen ebenso zum

tungen von Schulen. In Bayern dürfen Grundschulen be-

Standard wie Internetanschlüsse oder die Einrichtung von

stehen bleiben, wenn sie in allen vier Klassen zusammen 26

speziell geförderten Sport- oder Musikklassen. Ein generel-

Schüler haben. In Schopfloch im Landkreis Esslingen hat

ler Schwerpunkt der Schulpolitik auch in ländlichen Regi-

sogar eine »Zwergschule« mit 20 Kindern Bestand, wobei

onen besteht derzeit darin, offene Ganztagsschulen einzu-

die Kinder der Klassen eins bis vier gemeinsam unterrich-

richten. Das auf dem Land heute bestehende relativ dichte

tet werden. In Thüringen bekennt sich die Politik zu den

Netz an Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien hat

Das moderne Dorf

Im Wald- und Bauernhofkindergarten in Thüle in Westfalen sind die Kinder bei Wind und Wetter in der Natur unterwegs. Sie sind dadurch ausgeglichener und abgehärteter geworden. Ein Vorbild.

dazu beigetragen, dass von einem Bildungsnotstand schon

einander verzahnt, die Kinder sollen die Natur und ihre

lange nicht mehr die Rede sein kann. Im Gegenteil: Bil-

Kreisläufe unmittelbar erfahren. Dazu dient das Mithelfen

dungsexperten sprechen bisweilen von einer »Bildungsre-

im eigenen Schulgarten und in der Schulküche. An jedem

volution« auf dem Land.

Schultag gibt es handwerklich-künstlerische und musische

Gegen den immer noch anhaltenden Trend der Schul-

Betätigungsphasen. Die Schule startete 2006 mit vier Kin-

schließungen gibt es auch vereinzelte Beispiele von Dorf-

dern, die jahrgangsübergreifend in kleinen Gruppen un-

schul-Neugründungen. Der abgelegene Weiler Lüchow in

terrichtet wurden. Bis zum Jahr 2010 sind die Schülerzah-

Mecklenburg-Vorpommern hatte 2005 noch vier Einwoh-

len bereits auf 40 angewachsen, da aus den Nachbardörfern

ner, alle jenseits der 60, die in drei Häusern lebten. Die übri-

viele Kinder kommen. Dörte Fuchs, die Klassenlehrerin der

gen Gebäude standen leer oder waren teilweise bereits ver-

ersten und zweiten Klasse, spricht vom »Bullerbü-Faktor«:

fallen. Dies vor Augen, fassten mehrere junge Ehepaare den

Alle kennen sich, alle helfen sich, für die Kinder ist es das

Entschluss, sich hier anzusiedeln. Die Vision war jedoch fest

Paradies.123 In der Mittagspause bekommen die Schüler das

an eine eigene Schule geknüpft. Die Elterninitiative grün-

Essen aus der Schulküche. Der Schulverein beschäftigt in-

dete also 2006 die Landschule Lüchow, eine öffentliche

zwischen sechs Voll- und sechs Teilzeitangestellte. Initia-

Schule in freier Trägerschaft, orientiert an den Grundsät-

tor und Motor der Landschule Lüchow ist Johannes Liess,

zen der Waldorfpädagogik. Dorf und Schule sind eng mit-

seine erste Bilanz nach fünf Jahren lautet: »Wir werden

Bevölkerung – Soziales – Kultur

165

nun ernst genommen«. Anfangs waren die Schulplaner be-

zige Institutionen, darunter vor allem die Kirchen. Kin-

lächelt worden. Doch als die Schule da war und sich präch-

dergärten sind in Deutschland flächenhaft im ländlichen

tig entwickelte und zudem noch Arbeitsplätze im Dorf ent-

Raum verbreitet. Im Gefolge der genannten zentralörtli-

standen, wandelte sich die Stimmung. Liess hat noch wei-

chen Leitbilder wurden gerade in den 1960er und 1970er

tere Visionen: »100 Menschen sollen einmal in unserem

Jahren vielerorts auch kleinere Kindergärten geschlossen

Dorf leben, es wird Arbeit für alle bieten. Neben der Schule

und Mittelpunktkindergärten geschaffen, die häufig auf

planen wir ein Altenheim und einen Dorfladen. Wir den-

der grünen Wiese zwischen den betroffenen Dörfern lie-

ken an eine Windkraftanlage und ein Blockheizkraftwerk.

gen. Inzwischen sind auch hier neue Erkenntnisse gereift.

Wir träumen von umgekehrter Globalisierung. Von einem

Man hält es inzwischen aus gesundheitlichen, sozialen und

Ist Lüchow ein übertrag-

pädagogischen Gründen für besser, auch kleinere Kinder-

bares Modell für andere Dörfer und Regionen? Eine Anre-

gärten in den Dörfern selbst zu belassen. Die meisten deut-

gung zum Nachdenken über Visionen und deren Verwirk-

schen Dörfer ab etwa 500 Einwohnern haben heute ihren

lichung bietet das Beispiel allemal. Durch vielfache Hür-

eigenen Kindergarten. Zunehmend sind diese auch durch-

den seitens des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft

gehend und ganztägig geöffnet und bieten Hortplätze für

und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern musste die Lü-

Kinder unter drei Jahren an.

Dorf, das sich selbst genug ist.«

124

chower Schule zwischenzeitlich geschlossen werden. Der

Seit 1970 wurden die Volkshochschulen zum Zweck der

Trägerverein der Schule hat sich davon nicht beirren las-

Erwachsenenbildung gesetzlich eingeführt. Träger sind

sen. Seit 2018 ist die beliebte Schule in Lüchow als Mittel-

meist Gemeinden, Gemeindeverbände oder Kreise. Die

punkt des Dorflebens wieder in Betrieb und unterrichtet

Volkshochschulen haben sich im ländlichen Raum zu ei-

derzeit (2020) 21 Kinder in den Klassen 1–4. Für die Klas-

ner breit gefächerten und allgemein gut nachgefragten

sen 5–8 wird eine Genehmigung zum Sommer 2020 ange-

Bildungseinrichtung entwickelt. Dies hat seine Ursache

strebt. Mittelfristig sind die Klassen 1–8 mit insgesamt 60

auch darin, dass viele Veranstaltungen bewusst dezentral

Kindern geplant (Auskunft des Trägervereins »Das leben-

durchgeführt, d. h. auch in kleineren, nicht zentralen Dör-

dige Dorf e. V.« in Lüchow im Febr. 2020).125

fern angeboten werden. Die starke Nachfrage des Weiterbil-

Auch Kindergärten und Kindertagesstätten nehmen ei-

dungsprogramms durch Frauen (70 %) zeigt an, dass mit der

nen staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag wahr. Sie

Volkshochschule auch ein gewisser Ausgleich geschaffen

sollen die Kinder vor der Schulpflicht – d. h. in der Regel

wurde zu den herkömmlichen dörflichen Vereinsangebo-

von drei bis sechs bzw. null bis drei Jahren – betreuen, för-

ten, die traditionell überwiegend auf die männliche Bevöl-

dern und allmählich auf die Schule vorbereiten. Träger von

kerung ausgerichtet waren.

Kindergärten sind die Gemeinden oder andere gemeinnüt-

Das kleine Dorf Lüchow, Gemeinde Altkalen, in Mecklenburg-Vorpommern hat sich eine Vision verwirklicht und eine neue Schule gebaut, die zum Mittelpunkt des Dorflebens geworden ist. Im benachbarten Dorfhaus befindet sich die Schulküche, wo täglich Schüler und Dorfbewohner mittags essen können, und ein Dorfladen.

166

Das moderne Dorf

Die Kraftquellen des Dorfes Traditionelle und neue Vereine

Vereine prägen das kulturelle und soziale Leben des

höheren Stellenwert als in den Städten – nach Vereins-

Dorfes. Ummendorf in Sachsen-Anhalt beispielsweise

dichte und Mitgliederzahlen schlägt das Dorf eindeutig

hat 1100 Einwohner und 30 Vereine, Bürgermeister

die Großstadt. Im Durchschnitt kommt auf je 100 ländli-

Reinhard Falke ist in allen Mitglied und nimmt auch

che Einwohner mindestens ein Verein. Große Dorfvereine

regelmäßig an deren Veranstaltungen teil. Das Dorf

wie Sportverein oder Schützenverein haben in mittelgro-

floriert und wächst an Einwohnern. Atteln in Westfalen

ßen Dörfern nicht selten zwischen 600 und 1000 Mitglie-

hat 1500 Einwohner und etwa 35 Vereine. Vor wenigen

dern! (Manche Profi-Sportvereine in Großstädten werden

Jahren ist noch ein neuer Verein hinzugekommen:

vor Neid erblassen.) In den meisten Dörfern ist es zumin-

Er hat das vor der Schließung stehende kommunale

dest für die männliche Bevölkerung selbstverständlich, ei-

Freibad übernommen und in Eigenregie zu einem

nem der großen Vereine, z. B. Schützen-, Sport-, Musikver-

beliebten Naturbad ausgebaut. Zwei Beispiele aus

ein oder Feuerwehr, anzugehören. Die Regel sind Mehr-

über 35 000 Dörfern in Deutschland, die ihre Lebendig-

fachmitgliedschaften.

keit und Lebensqualität zum großen Teil den Vereinen verdanken.

Auch bei der Jugend ist die Vereinstätigkeit sehr beliebt, sie steht in der Rangfolge verschiedener nicht materieller Werte an erster Stelle. Vielfach ist die Vereinsarbeit für die

Die ältesten Dorfvereine sind die Feuerwehr und die Schüt-

Jugendlichen eine soziale Pflicht, z. B. in der Freiwilligen

zenvereine (vgl. S. 102 ff.), die teilweise bereits im Mittelal-

(!) Feuerwehr. Fast alle Vereine betreiben zur Nachwuchs-

ter bestanden. In Deutschland bildeten sich die ländlichen

förderung und Zukunftssicherung des Vereinslebens eine

Vereine verstärkt seit dem späten 19. Jahrhundert, nachdem

regelmäßige und häufig sehr anspruchsvolle Jugendar-

die Rede- und Versammlungsfreiheit zum allgemeinen

beit, um eine möglichst feste Vereinsbindung zu erreichen.

Bürgerrecht geworden war. Zu nennen sind hier die Ge-

Zwischen den einzelnen Dorfvereinen besteht eine ständig

sang-, Musik-, Krieger- und Veteranen-, Turn- und Sport-

belebende Konkurrenz, die durch überörtliche Vergleiche

vereine. Später entstanden die geselligen Vereine und in

häufig noch verstärkt wird.

jüngerer Zeit die immer weiter spezialisierten Kultur- und Freizeitvereine. Das Vereinsleben besitzt auf dem Land einen deutlich

Die Aktiven des Musikvereins Ummendorf bei Biberach präsentieren sich stolz mit ihren Instrumenten auf einer Wiese am Dorfrand.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

167

von etwa 1500 bis 2500 Einwohnern kann pro Woche etwa 50 bis 100 Vereinsveranstaltungen vorweisen. Hauptträger des ländlichen Vereinslebens waren traditionell die alteingesessenen Familien. Dies galt vor allem für die »führenden« Dorfvereine wie Schützenverein und Feuerwehr. Je höher ein Dorfbewohner in der lokalen Prestigehierarchie stand, desto aktiver pflegte er das Vereinsleben, was sich oft in Vorstandstätigkeiten niederschlug. Nicht selten wurden Vorstandsposten in den Familien weitergegeben. Mädchen und Frauen nahmen traditionell meist nur über ihre männlichen Familienangehörigen am Vereinsleben teil. Mittlerweile hat die moderne Liberalisierung des ländlichen Soziallebens längst auch die dörflichen Vereinsstrukturen verändert. So sind heute Frauen und Mädchen in die meisten ländlichen Musik-, Sport-, Kultur- und FreiDer auf 90 Vereinsjahre zurückblickende BSV Fürstenberg hat für seine gut 1000 Mitglieder neben dem Fußball ein breites Angebot: von Badminton über Volleyball bis Leichtathletik, hier die aktuelle 1. Damenmannschaft des BSV .

zeitvereine voll integriert. Zu den größten und aktivsten Dorfvereinen zählen heute die Sportvereine. Sie sind in der Regel in jedem Dorf ab etwa 500 Einwohnern vertreten. Fast alle Sportvereine ha-

Die diversen Vereinsaktivitäten sind täglich an verschie-

ben sich längst von einer Grundsportart ausgehend – meist

denen Plätzen des Dorfes zu beobachten, in Sporthallen und

Fußball, aber auch Turnen oder Handball – dem Breiten-

anderen Übungsräumen (z. B. in Gaststätten oder ehemali-

und Freizeitsport zugewandt. In mittelgroßen Dörfern ge-

gen Schulgebäuden) oder im Freien. Während in der Wo-

hören heute neben dem obligatorischen Fußball (inzwi-

che überwiegend trainiert bzw. geprobt wird, stehen am

schen fast überall auch für Mädchen und Frauen) auch

Wochenende häufig Auftritte in der Öffentlichkeit oder

Tischtennis, Tennis, Volleyball, Badminton, Schwimmen

Punktspiele gegen Nachbardörfer an. Ein größeres Dorf

und Leichtathletik zum fast normalen Programm. Dazu kommen oft noch exotischere Sportarten wie Judo, Ballett oder Karate. In der Regel sind alle sportlichen Angebote in einem Großverein mit diversen Abteilungen gebündelt, aber es gibt auch davon unabhängige Tennis-, Reit-, Schwimm- oder Skiclubs. Die regelmäßigen und umfangreichen Spiel- und Übungsprogramme der Sportvereine richten sich inzwischen an alle Altersgruppen von den Vorschulkindern bis zu den Senioren. Sie laufen im wöchentlichen Rhythmus das ganze Jahr hindurch. All dies wird mit ehrenamtlichen Trainern, Übungsleitern und Betreuern koordiniert und durchgeführt. Dieses Engagement lässt den hohen Wert der Vereinsarbeit erahnen, die nur mit viel Idealismus geleistet werden kann. Auch die aktive Kulturpflege wird im ländlichen Raum traditionell von verschiedenen Vereinen betrieben. Zu nennen sind hier vor allem die Gesang-, Musik-, Schützen-, Karnevals-, Frauen- und Heimatvereine. Daneben bestehen vielerorts Theaterspiel- und Volkstanzgruppen, Förderver-

Kinder turnen während des Sommerfestes eines Sportclubs in Baierbrunn in Oberbayern.

168

Das moderne Dorf

2004 wurde in Atteln der neue Verein »Naturbad Altenautal« gegründet, um das vor der Schließung stehende ehemalige kommunale Freibad umzubauen und als Träger zu übernehmen.

eine für die lokale Geschichte, für regionale Dialekte und

dervereinen. Neben ihrer überwiegend ganzheitlichen

niederdeutsche Sprachen und manchmal auch spezielle

Ausrichtung (»Das Dorf mit Gemarkung in seiner Ge-

Kulturvereine. Zum Bildungsangebot der Heimatvereine

schichte«) haben diese ländlichen Museen manchmal auch

gehören z. B. Exkursionen, Vorträge und Filme über histo-

lokaltypische Schwerpunkte mit überregionaler Ausstrah-

rische und aktuelle Themen, die Pflege des lokalen und re-

lung, z. B. Kloster-, Ackerbürger-, Mühlen-, Glas-, Berg-

gionalen Brauchtums wie Schnadgänge (Begehung der Ge-

bau-, Tuchmacher-, Brauerei-, Fischerei-, Jagd-, Flößer-

markungsgrenzen), die Pflege alter Trachten und Volks-

oder Köhlermuseen.

tänze, die Konservierung alter Handwerksstätten und

Im Vergleich zu diesen »privaten«, d. h. ehrenamtlich

-traditionen, Kulturmärkte, die Anlage von Lehrpfaden, die

getragenen Angeboten der Vereine treten die öffentlich-

Pflege und Dokumentation von Natur- und Kulturdenk-

rechtlichen Kultureinrichtungen auf dem Land deutlich

mälern, heimatkundliche Kalender, Flurnamensammlun-

zurück. Traditionelle staatliche Kultureinrichtungen auch

gen, Friedhofspflege, Anleitungen zur dörflichen Garten-

der kleineren Kommunen sind die Volkshochschulen und

kultur usw. Von Dorf zu Dorf gibt es andere Schwerpunkte.

die Bibliotheken. Die in (meist größeren) Dörfern vorhan-

In zahlreichen Dörfern und Kleinstädten sind vor allem

denen öffentlichen Büchereien befinden sich häufig in der

in den letzten drei Jahrzehnten kleine Heimatmuseen ent-

Trägerschaft der großen Kirchen. In manchen Landkrei-

standen, meist getragen von lokalen oder regionalen För-

sen gibt es »Fahrbüchereien«, die mit großen Bücherbussen

Bevölkerung – Soziales – Kultur

169

Ein Bürgerverein hat in Freienseen in Mittelhessen ein leerstehendes und denkmalgeschütztes Fachwerkensemble »gerettet« und zu einem lebendigen »Haus der Begegnung« ausgebaut. Ein vorbildliches Beispiel für die Vision und Kraft einer Dorfgemeinschaft.

regelmäßig auch die kleinen Dörfer anfahren und bedienen.

sönlichkeitsentfaltung durch Teilnahme und Mitwirkung.

Die kulturellen und sportlichen Aktivitäten tragen

So wie im Jugendclub Ummendorf in Sachsen-Anhalt, der

heute wesentlich zur Identifikation der Bevölkerung mit

Räumlichkeiten für seine Aktivitäten vom Bürgermeis-

ihrem Dorf bei. Dies ist besonders wichtig, nachdem vie-

ter in einem alten Bauernhof kostenfrei zur Verfügung ge-

lerorts durch die kommunale Gebietsreform das lokalpoli-

stellt bekommt. Außerdem unterstützt die Gemeinde die

tische Selbstwertgefühl beseitigt worden ist. So ist Dorf A

Jugendlichen bei der Planung und Durchführung von Ver-

stolz und überregional bekannt wegen seiner guten Fuß-

anstaltungen wie der eines jährlichen Rockfestivals. Da-

ballmannschaft, Dorf B aufgrund seiner alljährlichen The-

für halten die Jugendlichen drei Bushaltestellen und drei

ateraufführungen, Dorf C durch seine Karnevalsaktivitä-

Kinderspielplätze in Ordnung. Ein gutes Beispiel für das

ten, Dorf D wegen seines interessanten Heimatmuseums

gegenseitige Geben und Nehmen zwischen Bürgern und

und Dorf E infolge seiner guten Musikkapelle mit Jugend-

»Staat« in einer kleinen Dorfgemeinde.

orchester. Die Kultur- und Sportaktivitäten sind objek-

170

jungen Dorfbewohnern, mannigfache Chancen der Per-

Seit etwa 15 Jahren ist in Deutschland der Gründungs-

tiv zwar schwer zu messen, subjektiv für das Dorfleben je-

boom eines neuartigen Dorfverein-Typs zu beobachten:

doch hoch einzuschätzen. Sie bieten vielen, vor allem auch

Es handelt sich quasi um Dachvereine oberhalb der bisher

Das moderne Dorf

bestehenden Vereine. Sie vertreten als »Bürgervereine« be-

lie mehr haben. So entstand die Vision der Nachbarschafts-

wusst übergreifende gesamtdörfliche Interessen und befas-

familie, wo man sich begegnen, sich helfen und gegenseitig

sen sich mit Fragen und Problemen, die bisher zwischen

informieren kann. Das erste große Projekt dieses Bürger-

den Spezialinteressen der bestehenden Vereine liegenge-

vereins war die »Dorfschmiede Freienseen«. In der Dorf-

blieben waren. Zum Beispiel: Wer richtet die 800-Jahr-

mitte würde ab 2013 ein schon länger leerstehendes, denk-

Feier des Dorfes aus? Wer kümmert sich um den vernach-

malgeschütztes Fachwerkensemble revitalisiert und zu ei-

lässigten Bachlauf, wer um ein leer stehendes Baudenkmal,

nem »Haus der Begegnung« ausgebaut. Dieses enthält seit

wer um einen fehlenden Spielplatz? Wer treibt die Integra-

der Eröffnung 2016 ein komplexes altersgerechtes Ange-

tion der Zugezogenen voran? Wer beschäftigt sich mit der

bot: einen Tagespflegebereich mit 12 Plätzen, einen Dorf-

zukünftigen Entwicklung des Dorfes? Die neuen Dorfver-

laden (es gab keinen mehr im Ort), betreutes Wohnen, Be-

eine tragen unterschiedliche, aber meist schon aussagekräf-

gegnungsstätte mit Cafe, Demenzbetreuung zum physi-

tige Namen: »Förderverein Unser Westheim«, »Interessen-

schen und mentalen Fithalten älterer Menschen. Zentraler

gemeinschaft Golzheim aktiv«, »Bürgerverein Upsprunge«,

Ort der Dorfschmiede ist eine Küche, in der gemeinsam ge-

»Dorfrat Wewelsburg«, »Verein zur Förderung der Dorfge-

kocht und gegessen werden kann. »Dann schmeckt`s auch

meinschaft Leiberg« oder schlicht »Arbeitsgruppe Weiberg

wieder« sagt Ulf Häbel, der als pensionierter Pfarrer und

2020«, »Pro Fürstenberg« und »Ollarzried aktiv«. Die neuen

Hobbylandwirt das Projekt Nachbarschaftsfamilie initiiert

Bürgervereine reagieren offenbar auf die Verluste an kom-

und als Motor begleitet hat. Oft hat er die Klagen gehört

munaler Selbstbestimmung und übernehmen in gewisser

von den Alten, die jeden Tag allein und appetitlos am Tisch

Weise die Aufgaben der früheren Gemeinderäte.

sitzen, vor sich eine eingeschweißte Mahlzeit die das »Essen

Beispiel Atteln: Im Jahr 2004 haben sich in diesem Dorf

auf Rädern« auf die Treppe gestellt hat. Sein Motto lautet:

500 Bürger zu dem neuen Verein »Naturbad Altenautal« zu-

Wir buchstabieren A–L–T nicht: Arm, Lahm und Teuer, son-

sammengeschlossen. Sein Vorsitzender Ralf Zumbrock er-

dern »Am Leben Teilhaben – bis zum Schluss!« Die »Dorf-

zählt: »Atteln hat ein Naturbad wie aus dem Bilderbuch,

schmiede Freienseen« ist ein nachahmenswertes Beispiel

und das schönste daran ist: Die Bürger haben es selbst ge-

für die innovative Vision und Kraft einer Dorfgemeinschaft

baut.«126 Dafür sind über 13 000 ehrenamtliche Stunden ge-

und einer klugen und charismatischen Führungspersön-

leistet worden. Der Verein wurde quasi aus der Not heraus

lichkeit, auf die Dörfer immer wieder angewiesen sind.

geboren: Das ehemalige kommunale Freibad sollte aus fi-

Die Beispiele Atteln und Freienseen sind keine Einzel-

nanziellen Gründen geschlossen werden. Die Bürger von

fälle, in Tausenden von Dörfern haben neue Bürgerver-

Atteln wollten sich damit nicht abfinden und suchten in-

eine ähnliches geleistet. Mehrere andere Beispiele wie Ol-

tensiv nach Möglichkeiten, das Bad zu erhalten – und zu-

larzried127, Veringenstadt oder Dalwigksthal sind in diesem

gleich attraktiver zu machen, für das Dorf und die Um-

Buch beschrieben. Vielleicht werden diese neuen Bürger-

gebung. Man entwickelte ein Konzept, gründete den Ver-

vereine demnächst die wichtigsten in den Dörfern sein, als

ein und packte an. Es wurden drei Becken gebaut: eines mit

Herz und Sprachrohr der gesamten Dorfgemeinschaft.

Sprungturm und 25-m-Bahn für sportliche Ansprüche, ei-

Die meisten Bürgermeister von Landgemeinden wissen

nes für Nichtschwimmer und eines für Mütter/Väter mit

die ehrenamtliche Mitarbeit der Bürger in den Dörfern zu

Kleinkindern. Alle drei sind chlorfrei und werden aus-

schätzen. Altbürgermeister Günter Germann, der mit sei-

schließlich von der Sonne beheizt. Das Dorf ist heute stolz

nem kleinen Dorf Bärweiler viel bewegt hat, fasst seine

auf sein Naturbad, das ein Verein trägt.

langjährigen Erfahrungen in einem Satz zusammen: »Das

Im 850-Einwohner-Dorf Freienseen, Gemeinde Laubach in Hessen, wurde 2012 der Bürgerverein »Vogelsberger

wichtigste Kapital der Gemeinde steht in keinem Haushaltsplan: es sind die Bürgerinnen und Bürger.«128

Generationennetzwerk / Nachbarschaftsfamilie« gegründet. Dieser Verein befasst sich mit den Kernwünschen vieler älterer Dorfbewohner, die auch im Alter im vertrauten Ort wohnen bleiben möchten, hier aber oft keine eigene Fami-

Bevölkerung – Soziales – Kultur

171

Von Schützenfesten, Rock- und Deelenkonzerten Feste und Kulturveranstaltungen auf dem Land

Feste sind seit altersher ein wesentlicher Teil des

(im Fränkischen »Kerwa«) hat vor allem in vielen Regionen

Landlebens. Die traditionellen Kirchen- und Dorffeste

Süddeutschlands seine Spitzenstellung unter den dörfli-

wie Weihnachten, Ostern, Kirchweih-, Schützen- und

chen Festen bis heute erhalten. Sie wird hier meist an meh-

Erntedankfest waren und sind Fixpunkte im Jahres-

reren Tagen gefeiert und ist vielerorts auch mit Umzügen

ablauf. Auch an den eher privaten Feiern wie Hochzeit

verbunden, die dörfliche Begebenheiten aufs Korn nehmen

und Beerdigung nimmt die Dorfbevölkerung meist

und an Karneval erinnern.

regen Anteil. Seit etwa 25 Jahren gibt es auf dem Land

Zu den traditionellen dörflichen Festen gehören auch

eine erstaunliche Fülle und Vielfalt an neuen Festen

die jährlichen Schützen-, Feuerwehr- und Erntedank-

und Kulturangeboten, die man vor Jahrzehnten kaum

feste, die bis heute im dörflichen Festkalender eine beson-

für möglich gehalten hätte: In Bauernhausdeelen und

dere Rolle spielen. Das wichtigste Dorffest in vielen Regio-

ehemaligen Schafställen werden Konzerte mit klassi-

nen (vor allem im Westen und Norden) Deutschlands sind

scher Musik oder Goethes Faust aufgeführt. In zahl-

die Schützenfeste, die in der Regel an drei aufeinanderfol-

reichen Dörfern wie Ralswiek, Wacken oder Giebelstadt

genden Tagen gefeiert werden. Erster Höhepunkt ist das

finden alljährlich Musik- und Theaterfestspiele oder

Vogel- bzw. Königsschießen auf einen hölzernen Adler, der

Rockkonzerte mit bundesweiter Ausstrahlung statt.

auch noch mit den Ehrenzeichen Krone, Zepter und Apfel geschmückt ist. Der durch das Schießen ermittelte König

Feste bereichern das Landleben. Schon früher wurde der

»regiert« seine Schützen für ein Jahr und erwählt eine Kö-

Alltag der Dorfbewohner durch eine Vielzahl von Festen

nigin und einen Hofstaat, die ihm zur Seite stehen. Zwei-

unterbrochen. Allein die Anzahl der Feste und Feiertage im

ter Höhepunkt des Schützenfestes ist ein Festumzug durch

Kirchenjahr war deutlich höher als heute. Die kirchlichen

das Dorf, in dem sich das Königspaar und der Hofstaat dem

»Hochfeste« wie Weihnachten und Ostern wurden über

Volk in festlichen Kleidern präsentieren. Hunderte von

mehrere Tage hinweg gefeiert. Prozessionen und Wallfahr-

Schützen in Uniformen, Fahnenabordnungen, mehrere

ten sowie Buß- und Bettage nahmen einen breiten Raum

Musikkapellen, Ehrengäste und Honoratioren wie Bür-

ein. Das Kirchweihfest, das an die Gründung und Einweihung der lokalen Kirche erinnert, gehört wohl zu den ältesten Festen auf dem Land. Die »Kirmes« oder »Kirchweih«

172

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Beim Kreisschützenfest in Thüle nehmen die beteiligten Vereine Aufstellung zum Festumzug.

germeister, Ortsvorsteher, Pfarrer, Landrat, Landtags- und Bundestagsabgeordnete begleiten den königlichen Hofstaat. Der erste Abend des Festes beginnt mit dem großen Zapfenstreich, danach – wie auch an den folgenden Tagen – finden große Festbälle statt. Neben dem Schützenverein haben auch die anderen Dorfvereine ihre Jahresfeste mit entsprechenden musikalischen, sportlichen und anderen Programmen. Außer ihren Jahresfesten bestreiten gerade die Musik- und Sportvereine noch zusätzlich im Jahr verstreute Konzerte, Feste und Sportveranstaltungen wie Advents- und Frühlingskonzerte, einen Tanz in den Mai oder einen Sommernachtslauf. Die sich seit Jahren auf dem Land immer weiter ausbreitenden Karnevalsvereine besetzen mit mehreren Veranstaltungen die fünfte Jahreszeit vom 11. 11. bis zum Aschermittwoch.

Nicht nur im Rheinland wird Karneval gefeiert, hier die Schellenrührer mit Holzmasken beim traditionellen Faschingsumzug in Mittenwald in Oberbayern.

Neben den oft sehr aufwendigen Rosenmontagsumzügen gehört vielerorts die Kappensitzung oder der Galaabend zu den aufwendigsten, spritzigsten und stimmungsvollsten Dorffesten, wobei das Programm weitgehend von der eigenen Bevölkerung gestaltet wird. In den deutschen Weinbaulandschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten die Wein- und Winzerfeste, die sich meist auch über mehrere Tage erstrecken, zu den wichtigsten Dorffesten entwickelt. Auch private Feste werden auf dem Land häufig öffentlich gefeiert. An Hochzeiten und Beerdigungen nimmt nicht selten »das halbe Dorf« teil, zuerst am Gottesdienst in der Kirche und danach an den Feiern im größten Saal des Gasthofs oder der Gemeindehalle. Dies gilt auch für runde Geburtstage und Feste wie die Silberne oder Goldene Hochzeit. Es ist üblich, dass auf diesen Festen auch einiges vorgetragen wird: selbstverfasste Gedichte und Lieder

Auf der Naturbühne von Ralswiek am Jasmunder Bodden wurden das von Windmühlen eingerahmte Rathaus von Emden und die Kathedrale der verfeindeten Stadt Marienhafe aufgebaut und so die richtige Kulisse der Störtebeker-Festspiele geschaffen.

zum Lebenslauf, zu den Stärken und kleinen Schwächen der Geehrten, oft mit Akkordeon, Gitarre oder einer kleinen »Kapelle« begleitet. Neben diesen größeren Festen gibt es natürlich die vielen kleinen Feste der Nachbarschaften, Verwandtschaften und Cliquen zu den unterschiedlichsten Anlässen. Insgesamt hat sich die Feierkultur des Dorfes in den letzten Jahrzehnten kräftig ausgeweitet. Vor allem die Jugendlichen haben sich neue Treffpunkte in Grillhütten oder umgestalteten Scheunen am Dorfrand geschaffen oder sie verlassen das Dorf, um Diskos, Clubs, Bowlingbahnen oder Kinos in der Region aufzusuchen. Neben den traditionellen Dorffesten hat sich in den letzten 25 Jahren eine Fülle und Vielfalt von neuen Festen Im Goethetheater und den historischen Kuranlagen von Bad Lauchstädt in SachsenAnhalt werden jeden Sommer Opern, Konzerte und Schauspiele aufgeführt.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

173

Im schleswig-holsteinischen Dorf Wacken findet seit 1990 alljährlich im August das europaweit bekannte Open Air Heavy-Metal-Festival statt.

174

und Kulturveranstaltungen entwickelt, die man den länd-

sehr anschauliche und unterhaltende Sonderveranstaltun-

lichen Gebieten vor Jahrzehnten kaum zugetraut hätte.

gen: z. B. zur Glas- und Tuchmacherei, zur Abwanderung

Man darf von einer »neuen ländlichen Festkultur« spre-

vom Land, zur alten Dorfschule, zum Mühlengewerbe, zur

chen. Die Impulse kamen z. T. aus den Dörfern selbst, z. T.

früheren Flößerei, zur Fischnutzung und Jagd.

aus der umgebenden Region. Darüber hinaus entstanden

Auch die entlegensten Winkel unseres Landes sind

viele Anregungen durch »städtische« Künstler und Mäzene,

zur Konzert- und Theaterbühne geworden. Was mit dem

die ihr Herz für das Land entdeckten.

Schleswig-Holstein Musik Festival 1986 begann, hat in

Man sollte sich an einem beliebigen Sommerwochenende

fast allen Regionen der Republik Nachahmung gefunden.

in einer beliebigen ländlichen Region einmal gezielt das

Von April bis Oktober ist Festivalzeit in Deutschland. Wer

Angebot an Festen und Kulturveranstaltungen anschauen.

sich im Internet unter den Suchbegriffen »Gartenfestival«

Man dürfte in einem Umkreis von 30 km ohne große Mü-

oder »Dorffestival« informiert, findet dort über das Jahr

hen auf 20 bis 40 solcher Angebote stoßen. Hier findet ein

verteilt jeweils mehrere Hundert Veranstaltungen in allen

mehrtägiges Rockkonzert statt, dort ein Gartenfestival, an-

Teilen Deutschlands. Hier in Kurzform ein paar Beispiele:

derswo ein Freilichttheater, ein Klostermarkt, ein Klassik-

Seit 1990 findet in dem Dörfchen Wust bei Tangermünde

konzert in einem alten Bauernhaus, Goethes Faust in einem

in Sachsen-Anhalt jährlich in den Sommerferien die Som-

ehemaligen Schafstall, ein Köhlerfest im Walde, eine Dich-

merschule Wust mit einem sehr anspruchsvollen, von der

terlesung im alten Kurhaus, ein Bahnfest auf einer stillge-

Dorfgemeinschaft getragenen Sprachförderungs- und Kul-

legten Trasse, eine Kunstausstellung in einem ehemaligen

turprogramm statt. Im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt

Gutshof, ein Orgelkonzert in einer alten Dorfkirche. Die

werden jährlich im Sommer Opern und Konzerte aufge-

vielfältigen regionalen Museen haben ihre Tore geöffnet

führt sowie ein »Festspiel der deutschen Sprache« veranstal-

und präsentieren neben ihrem normalen Programm häufig

tet. In der 70-Einwohner-Gemeinde Klein Leppin in Bran-

Das moderne Dorf

denburg werden von der Dorfbevölkerung im ehemaligen Schweinestall einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft (LPG ) Opern wie »Der Freischütz« oder »Die Zauberflöte« aufgeführt. Im westfälischen Dalheim findet seit über 20 Jahren der »Dalheimer Sommer« mit anspruchsvollen Musik- und Theateraufführungen statt, im Jahr 2010 u. a. das Lustspiel »Horribilicribrifax« von Gryphius. In Giebelstadt bei Würzburg wird alljährlich das hier lokal verwurzelte Bauernkriegsdrama von 1525 um den Ritter Florian Geyer in einer monumentalen Ruine des Geyer Stammschlosses gespielt. Einige Musik- und Theateraufführungen auf dem Land haben sogar eine bundesweite und internationale Ausstrahlung: Beispiele sind Ralswiek in Mecklenburg-Vorpommern, Wacken in Schleswig-Holstein und Oberammergau in Bayern. Das kleine Dorf Ralswiek liegt malerisch in einer Bucht des Großen Jasmunder Boddens auf der Insel Rügen. Unterhalb eines Schlosses werden hier auf einer zum Bodden abfallenden Naturbühne seit 1993, anknüpfend an eine ältere Tradition, alljährlich die Störtebeker-Festspiele durchgeführt. Die Spielzeit ist jeweils von Ende Juni

Klassische Musikaufführungen und Schauspiele finden immer häufiger – vornehmlich im Sommer, zunehmend auch ganzjährig – im reizvollen ländlichen Ambiente historischer Guts- und Parkanlagen sowie Bauerngehöften statt und begeistern überall in Deutschland das Publikum. Hier die Einstimmung zu einem sommerlichen FestivalAbend auf Gut Stockseehof im Dorf Stocksee in Schleswig-Holstein.

bis Anfang September. Im Jahr 2018 hat das Schauspiel zu Wasser und zu Lande, an dem rund 150 Darsteller, 30 Pferde

führt. Spielberechtigt sind nur Bürger aus Oberammergau.

und vier Piratenschiffe teilnehmen, über 310 000 Besucher

Im Jahr 2010 nahmen rund 2000 Erwachsene und 450 Kin-

angezogen. Das beliebteste Open-Air-Spektakel Deutsch-

der an dem Passionsspiel teil, das sind knapp die Hälfte der

lands ist natürlich für Ralswiek und die Insel Rügen auch

5000 Einwohner. Das Passionstheater umfasst 4700 über-

ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

dachte Sitzplätze. Zu den insgesamt 102 jeweils achtstün-

Zu den besten Adressen für Rockmusikfans in Deutsch-

digen Aufführungen von Mai bis Oktober kamen rund

land gehört das 1800-Einwohner-Dorf Wacken in Schles-

500 000 Besucher. Sie reisen alle zehn Jahre aus allen Teilen

wig-Holstein. Seit 1990 findet hier jährlich im August das

Deutschlands und der Welt an und machen das oberbayeri-

inzwischen weltgrößte Heavy-Metal-Festival statt. Auf

sche Dorf für ein halbes Jahr zu einem Wallfahrtsort in die

mehreren Bühnen spielten hier 2018 200 Bands. Weltbe-

Geschichte des Christentums. Für Oberammergau sind die

kannte Metal-Bands wie Slayer und Iron Maiden traten

Festspiele »der Identitätskern der Gemeinde«.129

hier schon auf. Rund 75 000 Besucher kamen zu dem drei-

Neben den musischen Künsten sind auch die bildenden

tägigen Festival, das sich auf riesigen, vorher landwirt-

Künste wie Malerei und Bildhauerkunst inzwischen auf

schaftlich genutzten Flächen ausbreitet. Das Erfolgsge-

dem Land weit verbreitet. Im schönen Ambiente alter Müh-

heimnis von Wacken ist das ländliche Flair und die Tatsa-

len, Gutshöfe, Speicher und Kirchen sind zahlreiche Gale-

che, dass praktisch das ganze Dorf mitmacht und nebenbei

rien begründet worden. Immer mehr Kunstprojekte werden

viele Dorfbewohner in irgendeiner Weise von dem Festival

in Dörfern verwirklicht. Ein Beispiel ist das Projekt »Kunst

profitieren.

fürs Dorf – Dörfer für Kunst« der Deutschen Stiftung Kul-

Durch seine Passionsfestspiele weltbekannt ist das ober-

turlandschaft für das Land Mecklenburg-Vorpommern im

bayerische Dorf Oberammergau. Nach einem Gelübde im

Jahr 2009. Die Künstler suchen das Land aus zwei Gründen

Pestjahr 1633 wird hier seit 1634 alle zehn Jahre das Schau-

auf: um Impulse zu geben – aber auch, um selbst vom Land

spiel vom Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth aufge-

zu profitieren. Prof. Michael Soltau, Jurymitglied des Pro-

Bevölkerung – Soziales – Kultur

175

Freiwillige Feuerwehr Lelkendorf rückte selbstverständlich pflichtbewusst an, auch zahlreiche Dorfbewohner schauten sich das Spektakel an, diskutierten mit den Künstlern und feierten ein kleines Dorffest. Das Projekt »Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst« wurde 2011 für Niedersachsen und 2013 auch auf Bundesebene durchgeführt, wobei letzteres in einer mehrteiligen Fernsehreihe vom Kulturkanal ARTE dokumentiert worden ist. Die neuen Feste und Kulturangebote haben das Landleben bereichert. In gewisser Weise ist die Hoch- und Popkultur der Großstädte nach und nach in die ländlichen Regionen vorgedrungen. Gerade in den Sommer- und Herbstmonaten ist das Land beschwingter und heiterer geworden. Und wer in der Adventszeit das Land besucht, findet dort immer mehr Weihnachts- und Adventsmärkte in Dörfern um die alten Kirchen herum oder auf Gutshöfen und Schlössern, die vielfach von der Atmosphäre her mit jenen in Großstädten mithalten können. Nicht nur die Dorfbewohner profitieren von dieser neuen Landkultur, auch die Auch moderne Kunstprojekte wie »Temporäre Kunst« haben ihren Platz auf dem Lande, wie hier in Lelkendorf bei Teterow die Installation »Blitzeinschlag« am 12. September 2009 von Jan Philip Scheibe.

Städter fahren gern zu den Festen und Kulturereignissen

jekts, beschreibt die Motive der Künstler: »Metropolen bers-

tät der Künste in Essen, führt seit über 20 Jahren zusammen

ten vor einem Überangebot an Kunst in Theatern, Galerien,

mit seiner Frau Heide im westfälischen Atteln zweimal im

Konzertsälen und Clubs. Auf dem Land setzen Sportverein

Jahr an jeweils zwei Tagen Kammermusikkonzerte in der

auf dem Land und genießen zweifach: das ländliche Ambiente und ein Stück Hochkultur. Musik-Professor Ekkehard Schoeps, Folkwang-Universi-

und Wirtshaus, Kino und Fernsehen den Rahmen für das

Deele einer alten Schäferei (mit 60 Plätzen) durch. Er be-

gesellschaftliche und kulturelle Leben. Vereinsleben und

schreibt seine bisherigen Erfahrungen mit der Akzeptanz

unberührte Natur bringen oft menschlichere Verhaltens-

in der Landbevölkerung: »Wir sind vorher gewarnt worden,

weisen hervor, als die stundenlange Parkplatzsuche im Bal-

dass das in dem Dorf mit klassischer Musik wohl schwie-

lungsgebiet. Künstlerkolonien haben immer wieder von

rig wird. Aber wir waren überzeugt, dass höchste Quali-

diesem für die Kunst wertvollen Fluchtmechanismus pro-

tät auch auf dem Land angenommen wird. Unsere Künst-

fitiert.«

ler haben jeweils mit einfachen Worten in ihre Stücke ein-

130

Im Rahmen des Projekts »Kunst fürs Dorf« wurde das

geführt. Über die Jahre hin ist so ein tieferes Verständnis

12 m große ehemalige Pförtnerhäuschen am Wege zum al-

der Besucher für die Musik gewachsen. Natürlich hat uns

ten Schloss in Lelkendorf zur »Temporären Kunsthalle Lel-

das Ambiente dieser schönen Fachwerkdeele aus dem Jahr

kendorf« für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst umge-

1724 mit hervorragender Akustik und das hautnahe Erle-

nutzt. Das Ende des Projekts wurde mit einer präzisen Wet-

ben der Interpreten geholfen. Klassische Musik in wohl-

2

176

tervorhersage, einem Blitzschlag, für den 12. September

tuender Atmosphäre kommt also auch auf dem Lande an,

2009, 18:00 Uhr festgelegt. Der Künstler Jan Scheibe hatte

wenn die Qualität stimmt. Unsere ehrenamtliche Tätig-

dazu auf der Temporären Kunsthalle eine 6 m hohe Blitz-

keit wird ständig belohnt durch ein dankbares Publikum

konstruktion mit dem Titel »Einschlag« installiert. Diese

und immer ausverkaufte Konzerte.«131 Bis heute (Mai 2019)

löste per Bewegungsmelder Blitz und Donner aus, als sich

haben insgesamt 101 stets ausgebuchte Deelenkonzerte mit

am 12. September pünktlich die Besucher näherten. Die

über 6000 Besuchern stattgefunden.

Das moderne Dorf

Waidmannsheil und Halali! Die Jagd als traditionsreicher Teil des Landlebens

Zur Kulturgeschichte des Landes gehört die Jagd ganz

gleich immer Inhaber des Jagdrechtes, weshalb die Jagd für

wesentlich und von Anfang an dazu. Das Jagen von

Dorfbewohner etwas Normales ist. Sie kennen in der Regel

Wildtieren und das Sammeln von Wildfrüchten diente

das Wild der Gemarkung und haben immer wieder auch an

während 99 % der Menschheitsgeschichte zur Siche-

Jagden teilgenommen. Jagdgeschichten sind somit ein Teil

rung der Existenz. Manche Wissenschaftler und Philo-

der Dorfgeschichten.

sophen bezeichnen die Jagd deshalb als ein mensch-

Die Prägung unserer Kultur durch die Jagd zeigt sich

liches Urmotiv. Nur das letzte Prozent seit etwa

in der Sprache, der Kunst, Musik, Literatur, Architektur,

7000 Jahren befassten sich die Landbewohner als

im Volkslied und Brauchtum. Die ältesten Malereien aus

Bauern mit Ackerbau und Viehzucht. Die Jagd hat ihre

der Altsteinzeit vor 30 000 Jahren zeigen Jagdbilder. Zu den

ursprüngliche Bedeutung und auch ihren späteren

schönsten und bekanntesten Volksliedern gehören Jagdlie-

»Herren«-Charakter längst verloren. Sie ist jedoch für

der wie »Ein Jäger aus Kurpfalz« und »Ich schieß’ den Hirsch

viele bis heute ein wichtiger Teil des Landlebens

im wilden Forst«. In einer der interessantesten und belieb-

geblieben. Andere hingegen stehen der Jagd kritisch

testen deutschen Opern, in »Der Freischütz«, stehen Jäger

gegenüber. Die heutige Jagd hat inzwischen sehr unter-

und Jagdrituale im Mittelpunkt. Immer wieder haben sich

schiedliche gesellschaftliche Interessen zu erfüllen.

Philosophen und Dichter mit der Jagd beschäftigt. So stellt der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem Buch

»Die Jagd war für die Evolution des Menschen von zentra-

»Meditationen über die Jagd« die These auf, dass »die Jagd in

ler Bedeutung. Um zu überleben und sich gegen Konkur-

dem Glücksrepertorium des Menschen stets den höchsten

renten aus dem Tierreich erfolgreich durchzusetzen, ent-

Rang eingenommen« habe133. Zahlreiche Jagdschlösser und

wickelte der Mensch eigene Waffen und Jagdstrategien. Die

Tiergärten, die vor allem in der Blütezeit der höfischen Jagd

Notwendigkeit, gemeinsam zu jagen, förderte seine sozia-

angelegt wurden, prägen bis heute unsere Kulturlandschaft.

len und kommunikativen Fähigkeiten. So bildet die Jagd

In der Sprache haben sich viele Redewendungen der Jäger-

eine der Grundlagen der menschlichen Kultur. In Europa ist die Jagd fest in regionalen Lebensweisen und Kulturen verwurzelt.«132 Die Jagd ist naturgemäß auf dem Land stärker verwurzelt als in den Städten. Jeder Landbesitzer ist zu-

Abbildung oben: An die Blütezeit der höfischen Jagd im 18. Jahrhundert erinnern bis heute vor allem die prächtigen Jagdschlösser, hier das Jagdschloss Hubertusburg in Wermsdorf (Landkreis Nordsachsen).

Bevölkerung – Soziales – Kultur

177

sprache bis in die heutige Zeit gehalten. So steht das »durch

bereits weniger der Nahrungsmittelversorgung als dem

die Lappen gehen« für »entwischen« und erinnert an das

Ertragsschutz: Im Vordergrund stand der Schutz des

Ausbrechen des Wildes aus den mit Lappen und Netzen um-

Weideviehs vor Wolf, Bär und Luchs und der Äcker vor

zäunten Waldstücken bei früheren herrschaftlichen Jag-

Schwarzwild, Wisent und Auerochse. Ein wichtiger Ne-

den. Weitere Sprichwörter und Redewendungen jagdlicher

beneffekt war außerdem der Erwerb von Pelzen und

Herkunft sind: »Wissen, wie der Hase läuft«, »Viele Hunde

Häuten, Waffen und Werkzeugen.

sind des Hasen Tod«, »Da liegt der Hase im Pfeffer«, »Den

800 bis 1200

Das Jagdrecht wird nach und nach zum

Letzten beißen die Hunde«, »Den Hund zum Jagen tragen«,

Königsrecht. Die bäuerliche Bevölkerung wird recht

»Ins Netz gehen/im Netz zappeln«, »Fallstricke legen«, »In

bald von der Jagd ausgeschlossen. Fanden keine Feldzüge

die Falle gehen/in der Falle sitzen«, »Lunte riechen«, »Wind

statt, begab sich der König mit seinen adligen Gefolgs-

bekommen von etwas«, »Auf die Schliche kommen«, »Die

leuten auf die Jagd, was der Erholung wie der kriege-

Fährte aufnehmen«, »Beute machen«, »Angsthase, Hasen-

rischen Übung diente.135 Im Laufe des Mittelalters gin-

fuß, alter Hase, Hasenherz«, »Schlauer Fuchs/alter Fuchs«,

gen die königlichen Jagdrechte allmählich in die Hände

»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, »Auf den

der Landesherren und des Rittertums über. Die Jagd wird

Busch klopfen«, »Schürzenjäger«.

134

Die Geschichte der Jagd vom Frühen Mittelalter bis heute lässt sich grob in vier Phasen einteilen:

zum »Herrenrecht«. 1200 bis 1803 bzw. 1848

Vom Hohen Mittelalter bis

zum 19. Jahrhundert war die Jagd ein Privileg der Landes-

Die bäuerliche Bevölkerung hat weitgehend

herren und des Adels, die Landbevölkerung blieb außen

freie Jagdmöglichkeiten. In dieser Zeit diente die Jagd

vor. Versuche der Bauern wie im Bauernaufstand von

400 bis 800

Um der feudalen Gesellschaft ein gesteigertes Jagdvergnügen zu verschaffen, wurden Jagden kunstvoll inszeniert und teils wie auf diesem Gemälde von H. W. Döbel aus dem 18. Jahrhundert in einem gewässerten Schlosshof durchgeführt.

178

Das moderne Dorf

Herzog Ludwig von Württemberg mit seiner Gemahlin inmitten einer großen Jagdgesellschaft – auf einem Gemälde des Hofmalers Hans Steiner von 1580. Vom 16.–18. Jahrhundert gehörte das fürstliche Jagen zu den zentralen Aktivitäten der adeligen Gesellschaften.

1525, ihren Ausschluss von der Jagd zu beenden und ihre

sorgung der fürstlichen und herrschaftlichen Haushalte

alten Jagdrechte wiederzubekommen, blieben erfolglos.

ausgeübt, wurde die Jagd im Spätbarock und Rokoko

Sie konnten sich damit nicht gegen die Landesherren

zur Bühne prunkvoller Selbstdarstellung einer entarte-

durchsetzen. Vor allem die zwei Jahrhunderte von 1650

ten Absolutie.«136 Auch in zeitgenössischen Darstellun-

bis 1850 gelten als die Blütezeit der sog. »höfischen« Jagd.

gen finden sich kritische Äußerungen zum übertriebe-

Man begann nun, Wildtiere zu hegen, um sie immer

nen Jagdspektakel. So schreibt der Ökonom und Dichter

in großer Zahl zur Verfügung zu haben. Die Jagd selbst

Jung-Stilling um 1780: »Die Jagd war von jeher eine ad-

wurde immer pompöser und zu einer wichtigen Form der

lige Leibes- und Waffenübung der Fürsten. Nebenher hat

Selbstdarstellung der Landesfürsten und des Adels. In al-

sie auch den Zweck, die Länder von schädlichen Tieren

len Teilen des Landes wurden Tiergärten und prachtvolle

zu reinigen. Wenn sich ihrer der Regent auf diese Weise

Jagdschlösser errichtet. In der Jagd der Barock- und Roko-

und zu diesem Zweck bedient, so ist sie zulässig, nütz-

kozeit trieben Landesherren und Hochadel ihre Wünsche

lich und nötig. Allein, ein großer Teil der Landesherren

nach Macht und Repräsentation auf die Spitze, was nicht

hat nichts weniger als diese Absicht. Eine übertriebene

selten Kritik hervorrief. »Ursprünglich teils aus echter

Leidenschaft zur Jagd beherrscht dieselben. Daher wird

Passion, teils aus ritterlichem Sportsgeist, teils zur Ver-

auch eine übermäßige Menge Wildbret gehegt.«137

Bevölkerung – Soziales – Kultur

179

Die bäuerliche Bevölkerung hatte unter den hohen

In der langen Phase der herrschaftlichen Jagd war es ein

Jagdinteressen der Fürsten und Adligen zu leiden, weil

wichtiges Anliegen, die Großraubwildarten Bär, Luchs

das Wild immer wieder die Früchte ihrer Felder abfraß.

und Wolf zu bekämpfen und schließlich zu beseitigen.

Den Bauern blieb die Pflicht, zur Vor- und Nachberei-

Gründe hierfür waren zuerst die hohen Verluste an Weide-

tung der Jagd Hand- und Spanndienste zu leisten oder

vieh, also landwirtschaftliche Interessen. Doch später, im

als Treiber mitzuwirken. In der ländlichen Bevölkerung

17. und 18. Jahrhundert, dienten viele landesherrliche

blieb über die Jahrhunderte ein Groll darüber erhalten,

Wolf- und Luchsjagden vorrangig auch dem Schutz des

dass man das Wild nicht mehr nutzen konnte, und au-

Wildbestands.

ßerdem über die Nachteile, die sie durch die Auswüchse der höfischen Jagd zu erdulden hatten. »Die Revolte dagegen hat nie aufgehört und sie hieß ›Wildern‹.«

1803/1848 bis heute

Die Vorrechte von Landesherren

und Adel wurden beseitigt, die Jagd wurde »bürgerlich«

Gerade

und »demokratisch«. Ausgelöst durch die Französische

im Zeitalter der höfischen Jagd kam es immer wieder zu

Revolution von 1789, die Säkularisation von 1803 und

Wildereien. Aus allen Regionen in Deutschland sind die

schließlich die Revolution von 1848 wurde die Beschrän-

Namen von »berühmten Wildschützen« bekannt. Ein

kung der Jagdrechte auf Landesherren und Adel beendet.

Beispiel ist der Wildschütz Georg Jennerwein, der 1877 er-

Das preußische Gesetz vom 31. 10. 1848 hob das Jagdrecht

schossen wurde und dessen Grab in Hausham am Schlier-

auf fremdem Grund und Boden auf und band das Jagd-

see bis heute gepflegt wird. In der Bevölkerung hatten die

recht an das Grundeigentum. Es erlaubte grundsätzlich

Wilderer häufig einen guten Ruf (sie versorgten z. B. arme

jedem Grundeigentümer die Jagd auf seinem Grund-

Leute mit Wildbret), obwohl sie gegen bestehende Ge-

stück.139 Jeder Bauer konnte nun sein Jagdrecht (wieder)

setze verstießen und vereinzelt auch zu Mördern wurden.

selbst nutzen oder an eine Jagdgenossenschaft oder einen

138�

Jagdpächter weitergeben. Das neue Jagdrecht wurde zu einem Grundrecht der Reichsverfassung. Durch ein weiteres Jagdgesetz von 1850 wurden für die Jagd Reviere mit einer Mindestgröße von 300 Morgen (75 ha) festgelegt. Dem kleinen Bauern mit zehn oder 20 ha Land war damit die separate Jagd auf seinem eigenen Land untersagt. Dies führte zur Bildung von gemeinschaftlichen Jagdbezirken und zur Verpachtung von Jagden. Mit der Verpachtung kamen nun breitere Bevölkerungsschichten in Kontakt zur Jagd. Vor allem auch Stadtbewohner entdeckten ihre Freude daran und fuhren in ihrer Freizeit nach Feierabend oder am Wochenende aufs Land. So kam der Begriff des »Sonntagsjägers« auf, der schon von Carl Spitzweg in seinem berühmten Bild »Der Sonntagsjäger« leicht ironisierend dargestellt wurde. Mehr und mehr verbreitete sich ab dem späten 19. Jahrhundert auch in der bürgerlichen Jägerschaft die Gewohnheit, Teile der erlegten Tiere als Trophäe aufzubewahren und z. B. das Hirschgeweih oder Rehgehörn als dekorativen Raumschmuck zu verwenden. Die Jagd hat sich in den letzten hundert Jahren stark verändert. Sie steht heute unter ständiger Kontrolle des Staates und einer kritischen Beobachtung der nicht jagenden ÖfVor der Entwicklung der modernen »Feuerwaffen« wurde mit Armbrust und Pfeilen gejagt, hier ein historisches Stück von 1650.

180

Das moderne Dorf

fentlichkeit. Die moderne Jagd muss immer mehr gesell-

stellt und erhielten eine ganzjährige Schonzeit. Außerdem

schaftliche Interessen wie Land- und Forstwirtschaft, Na-

muss die Wildhege dafür sorgen, dass Beeinträchtigungen

tur- und Umweltschutz oder Freizeit und Erholung berück-

für die land- und forstwirtschaftliche Nutzung z. B. durch

sichtigen. Ein zentrales Anliegen der Jagd ist die Wildhege,

Wildschäden möglichst vermieden werden. In der Wild-

die auch seit Langem im Jagdrecht verankert ist. Wildhege

hege begegnen sich also bereits Jagd-, Naturschutz- sowie

bedeutet im klassischen Sinne zunächst eine »Vermehrung

land- und forstwirtschaftliche Interessen!

des Nutzwildes zur Optimierung der Jagdmöglichkeiten

Ein zentraler und ständiger Interessenkonflikt besteht

bzw. des Jagdertrages«.140 Darüber hinaus dient die Hege

zwischen der Jagd und der Forstwirtschaft. Der Fernseh-

aber auch dazu, einen artenreichen und gesunden Wildbe-

film »Über den Rothirsch« von Horst Stern, ausgestrahlt

stand zu erhalten und dessen Lebensgrundlagen zu pflegen

am Heiligabend 1971, wirkte wie ein Paukenschlag und er-

und zu sichern. Die Hege beinhaltet auch eine Verbesserung

reichte ein Millionenpublikum. Er griff die einseitigen In-

des Tierschutzes, z. B. durch das Verbot tierquälerischer Fal-

teressen der Jäger an, die nur hohe Wildbestände im Auge

len und die Einführung der Jägerprüfung, in der grund-

hätten und die Zerstörung der Wälder in Kauf nähmen.

legende Kenntnisse über Wildbiologie, Wildkrankheiten

»Waldsterben von unten« durch Wildverbiss war die klare

und Naturschutz verlangt werden. Bedrohte Tierarten wie

Botschaft. Tatsächlich steht fest, dass durch zu viel Wild er-

Fischadler oder Graureiher wurden unter das Jagdrecht ge-

hebliche Baumschäden in den Wäldern entstanden sind. So

Die Liebe zur Jagd zeigt sich auch in der Trophäenpflege, hier als Wandschmuck dekoriert im Speisesaal des Jagdschlosses Moritzburg bei Dresden.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

181

den »richtigen« Umgang mit der Natur. So sind seit den 1980er Jahren neben den traditionellen Jagdverbänden ökologische Jagdverbände gegründet worden. Ein weiteres Konfliktfeld ergibt sich durch die zunehmende Nutzung von Feld und Wald durch Freizeit und Erholung. Immer mehr Menschen suchen Entspannung durch Bewegung und Sport in der freien Natur, im Sommer wie im Winter, am Tage und in der Nacht. Spazierengehen, Radfahren, Reiten, Mountainbiking, Nachtwanderungen, Orientierungsläufe, querfeldein führende Skitouren, Pilze- und Geweihstangensuchen belasten in gehäufter Form die Tierwelt und führen zu Verhaltensänderungen bei den Wildtieren. So ziehen sich Hasen aus Feldbereichen zurück, in denen sie ständig von Spaziergängern mit Hunden gestört werden. Vielerorts arbeiten Forstämter, Jagdinhaber, Kommunen und Tourismusverbände an Lösungen, Ein Jäger beobachtet das Wild von einem Hochsitz aus, das Jagen von dort nennt man »Ansitzjagd«.

den Wald zur Erholung zu nutzen und zugleich den Lebensansprüchen der Wildtiere gerecht zu werden. Zum Beispiel werden Informationstafeln für Waldbesucher aufge-

182

folgte 1974 konsequent ein Aufruf von 120 deutschen Forst-

stellt, Ruhezonen für das Wild ausgewiesen und gesetzlich

wissenschaftlern, die eine nachhaltige Reduzierung der

zulässige Jagdzeiten verkürzt.143

Rot- und Rehwildbestände forderten.141 Inzwischen hat sich

Trotz seiner Siedlungs- und Verkehrsdichte weist

einiges getan. Durch hohe Abschusszahlen sind die Wild-

Deutschland einen artenreichen und auch zahlenmäßig be-

bestände in den Wäldern erheblich reduziert worden. In

deutenden Wildbestand auf. Welche heimischen Wildtiere

der Folge hat die heute angestrebte Naturverjüngung der

stehen heute vor allem im Blickfeld der Jagd? Traditionsge-

Baumbestände deutliche Fortschritte gemacht.

mäß werden die Wildarten immer noch in Hochwild und

Auch in der Beziehung zwischen Jägern und Natur- und

Niederwild eingeteilt. Das Hochwild war vom Mittelal-

Artenschützern gibt es sowohl Konflikte als auch Annä-

ter bis ins frühe 19. Jahrhundert der »Hohen Jagd« zugeord-

herungen. Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: die Erhal-

net, die dem Kaiser, König, Landesherrn und hohen Adel

tung von Natur und Landschaft und die nachhaltige Si-

vorbehalten war. Das Niederwild stand dem niederen Adel

cherung der Nutzungsfähigkeit der Naturgüter. »Auf die-

zu, seltener auch den Klöstern und Städten. Zum Hochwild

ser Basis setzen die beiden Gruppen allerdings spezifische

zählen vor allem das Rotwild (Hirsch) und das Schwarz-

Akzente: Naturschützer schützen die Natur auch um ih-

wild (Wildschwein), zum Niederwild das Rehwild, Hasen,

rer selbst willen, Jäger wollen auch Beute machen.«

Fuchs und kleines Geflügel wie Rebhuhn und Fasan. In

142

Ein

konkretes Konfliktbeispiel ist die derzeit von Naturschüt-

der Jägersprache ist heute auch die Bezeichnung »Schalen-

zern befürwortete und betriebene Wiedereinführung des

wild« üblich, die alle Wildarten zusammenfasst, die Scha-

Wolfes, der ja durch frühere Jagdmotive und Interessen der

len (Klauen) haben: dazu gehören vor allem Hirsch, Reh

Landwirtschaft aus unserer Kulturlandschaft verschwun-

und Wildschwein. Durch ein fortlaufendes Wildtier-Infor-

den war. Jäger stehen der »Schonung« des Raubwildes Wolf

mationssystem der Länder Deutschlands weiß man heute

überwiegend mit Skepsis gegenüber, weil dieser sowohl an

genau Bescheid über die Bestände und die regionale Ver-

Wildtieren als auch an domestizierten Nutztieren wie Scha-

breitung der wichtigsten Wildtiere. So hat z. B. der Feld-

fen Schaden anrichtet. Generell finden sich in der großen

hase im nordwestdeutschen Tiefland, das Schwarzwild in

Zunft der Jäger, die man früher gern salopp als »die Grü-

den deutschen Mittelgebirgen sowie in Mecklenburg-Vor-

nen« bezeichnete, sehr unterschiedliche Auffassungen über

pommern und Brandenburg seine größte Verbreitung. Die

Das moderne Dorf

Entwicklung der Bestände verlief in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr unterschiedlich. Während die Populationen der Feldhasen deutlich zurückgegangen sind, haben sich die Schalenwildbestände seit etwa 200 Jahren mindestens verzehnfacht.144 Warum noch jagen im 21. Jahrhundert, wenn das Töten weder aus Notwehr noch zur Sicherung des Nahrungsbedarfs geschehen muss? Die Antwort muss sehr komplex ausfallen. »Der Jäger von heute tötet und hegt zugleich. Denn die Tiere der Wildbahn haben in unserer Kulturlandschaft keine natürlichen Feinde mehr. Ein zu hoher Wildbestand aber richtet in Wald und Flur Schäden an, die das empfindliche ökologische Gleichgewicht gefährden. Die Jägerschaft leistet heute einen wichtigen Beitrag zum praktischen Natur- und Umweltschutz.«145 Natürlich liegt die Triebfeder zur Jagd nicht in einem reinen Idealismus und Dienst an der Gemeinschaft. Die Jagd verbindet offenbar persönliche Freuden mit dem Bewusstsein, etwas Sinnvolles für sich und die Gesellschaft zu leisten. In Deutschland gibt es heute etwa 384 500 Jäger und Jägerinnen, das sind 0,5 % der Bevölkerung. Inzwischen bilden Angehörige aller Schichten und Berufsgruppen das soziologische Spektrum der Jägerschaft: Neben den Landund Forstwirten gehen heute Bundespräsidenten, Geistliche, Unternehmer, Angestellte, Arbeiter, Ärzte, Studenten und Hausfrauen zur Jagd. Gleichwohl haftet der Jagd der Ruf an, ein elitärer Zirkel zu sein und zugleich sozialen Aufsteigern den Einstieg in die bessere Gesellschaft zu erleichtern. Außerdem hat die Jagd immer noch das Image einer verschworenen Männerdomäne. Was sind die Motive der Menschen, die heute zur Jagd gehen? Ist es die uralte

Nach einer Jagd präsentieren Jäger und Treiber stolz ihre »Strecke«, für Nichtjäger: ihre Jagdbeute.

Jagdleidenschaft, die in vielen Menschen noch vorhanden ist? Ist es die Sehnsucht nach dem Natürlich-Ländlichen?

der Natur und der Wunsch nach Beutemachen zu nennen.

Ist es die Pflege der alten Jagdrituale und der Jägersprache?

Aber es ist immer auch das ›Abenteuerliche‹ bei der Jagd,

Ist es das nachjagdliche »Schüsseltreiben« mit viel »Jägerla-

das reizt. Außerdem das, was man als umfassende Jagdkul-

tein«? Ist es die schlichte Freude an der Natur?

tur bezeichnen kann: die passende Kleidung, das Jagdhorn-

Kulturgeograph Prof. Dr. Reinhold Lob, der vor gut 20

blasen und die Jagdmusik, die Literatur und Malerei, die

Jahren im Alter von 55 den Jagdschein gemacht und damit

Arbeit der Hunde bei den Treibjagden, die oft jahrhunder-

einen Jugendtraum verwirklicht hat, beschreibt heute die

tealten Bräuche rund um die Jagd und die kameradschaft-

Motive seiner Jagdleidenschaft: »Warum ich heute zur Jagd

liche Geselligkeit an alten Kaminen nach der Jagd. Die Jagd

gehe, weiß ich nicht wirklich, aber der Wunsch hierzu ist

ist auch immer eine körperliche und psychische Leistung,

seit Kindertagen, die ich oft auf dem Land verbrachte, in

was insbesondere für einen älter werdenden Menschen eine

mir lebendig, und ich habe ihn mir erst sehr spät im Le-

nützliche Herausforderung darstellen kann, wenn man

ben erfüllt. Sicherlich sind zuerst die Freude am Erleben

seine Grenzen kennt.«145a

Bevölkerung – Soziales – Kultur

183

Ist das Landleben »in«? Die anhaltende Beliebtheit dörflicher Lebensstile

Ohne Zweifel ist das dörfliche Leben zunehmend städ-

Bauern löste sich auf. Die bisherigen ländlichen Mittel-

tischer geworden. Aber dennoch gibt es auch heute

und Unterschichten profitierten von den neuen Aufstiegs-

noch Unterschiede zwischen Land- und Stadtleben.

möglichkeiten in Industrie- und Dienstleistungsberufe, die

Ländliche Lebensstile sind vor allem natur-, traditions-

meist außerhalb des eigenen Dorfes lagen. Der Dorfbewoh-

und handlungsorientiert. Ehrenamt und konkretes

ner wurde zum Pendler. Die breite Motorisierung und die

lokales Denken und Tun spielen wichtige Rollen. Die

modernen Medien wie Fernsehen und Internet beschleu-

Chefs der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen

nigten die Öffnung des Dorfes. Verallgemeinernd lässt sich

kommen überwiegend vom Land, was für die dort

die Entwicklung des Landlebens in den zurückliegenden

erworbenen sozialen und emotionalen Kompetenzen

50 Jahren in zwei Punkten zusammenfassen: Das Dorfleben

spricht. Nicht nur ältere Menschen schätzen das

löste sich von der Landwirtschaft und wurde städtischer –

ruhige und überschaubare Dorf. Auch viele junge Fami-

der wirtschaftliche Strukturwandel führte zu einer »Ent-

lien entscheiden sich bewusst für das Landleben.

bäuerlichung« und Urbanisierung der Dörfer. Diese Bilanz gilt in gleicher Weise für West- und Ost-

Noch um 1950 war das Dorf ein auf sich bezogener sozia-

deutschland. Auch in der DDR war die Entwicklung des

ler Lebensraum. Festgefügt waren die sozialen Schichten.

Landlebens – nach der Zerschlagung der Herren- wie auch

Fast alle Dorfbewohner arbeiteten im eigenen Ort, nahezu

Bauernschichten – dadurch geprägt, dass städtisch-indus-

alle in der Agrarwirtschaft und im Handwerk. Das soziale

trielle Wirtschafts- und Sozialformen in die Dörfer über-

Leben verlief nach strengen Regeln, Normen und Werten.

tragen wurden. Nach der sozialistischen Agrarpolitik sollte

Weder die beiden Weltkriege noch das Hinzuströmen der

die Stadt das Land führen. So entstanden auf dem Land zwei

Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in das Dorf konnten

völlig neu geschaffene Einrichtungen: die landwirtschaft-

die alten Ordnungs- und Werteprinzipien des Landlebens

lichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) sowie die »städ-

verändern. Erst als die Landwirtschaft ab etwa 1955 in ihrer

tischen« Mietwohnungen für die Landarbeiter in mehr-

Bedeutung enorm schrumpfte und gleichzeitig die Indus-

geschossigen Plattenbauten. Der Bauer wurde zum LPG -

trie einen Aufschwung erfuhr, kam der entscheidende »Stoß in die Moderne«, wie Ralf Dahrendorf es formulierte. Das alte Schichtengefüge mit der Dominanz der (Groß-)

184

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Dorfbewohner engagieren sich für die Gemeinschaft: Frauen schälen Kartoffeln fürs »Backesgrumbeerefeschd« in Bärweiler.

Arbeiter und LPG -Mieter, die Kinder gingen ganztags in

körperlichen Betätigung. Die Erfahrung von Jahreszeiten

LPG -Krippen bzw. LPG -Kindergärten. Die LPG schuf ein

und natürlichen Abläufen wie Pflanzen, Säen und Ernten

breites ökonomisches, soziales und kulturelles Netzwerk

ist den Menschen wichtig. So gilt vor allem der dörfliche

für alle Dorfbewohner.

Garten inzwischen als ein Kernbestand dörflicher Lebens-

Nach 50-jährigem Wandel lässt sich für das Sozialleben

qualität. Ähnlich beliebt sind Spazierengehen, Wandern

des deutschen Dorfes heute folgende Bilanz ziehen: Die tra-

und Radfahren durch Feld und Wald. Bei wiederholten

ditionelle ökonomische und soziale Einheit von Landwirt-

Umfragen wurden in dem Wittgensteiner Dorf Elsoff die

schaft und Dorf hat sich weitgehend aufgelöst, die Dorfbe-

Freizeitaktivitäten der Bewohner ermittelt, wobei sich zu-

völkerung hat sich in gewisser Weise von der Landwirtschaft

mindest aus städtischer Sicht einige Überraschungen erge-

emanzipiert. Dabei fand eine ökonomische Stabilisierung

ben.146 An der Spitze der Freizeitbeschäftigung liegt die Ar-

statt durch Handwerk und Gewerbe und zunehmend auch

beit in Haus, Hof und Garten. Der normale Freizeitbegriff,

moderne Dienstleistungsberufe. Dörfer werden heute nicht

der in der Regel als »von Arbeit freie Zeit« definiert wird,

nur durch den alten Kern geprägt, sondern auch durch die

erhält hier eine andere Bedeutung. Die Dorfbewohner be-

neue Wohnbebauung an den Rändern. An die Stelle eines

trachten ihre »Arbeiten« in Haus, Hof (z. B. als Neben-

übersichtlichen und eng vernetzten, »intimen« Dorfes (je-

erwerbslandwirte) und Garten als Freizeit. Erst an zweiter

der kennt jeden) ist ein Nebeneinander verschiedener Sozi-

Stelle der Freizeitbeschäftigungen folgen die typischen Ak-

alkreise getreten. Vom Leben in der Dorfgemeinschaft geht

tivitäten Spazierengehen, Wandern und Radfahren.

der Trend zum weitgehend selbstbestimmten Leben in Dör-

Das Denken und Handeln in Traditionen prägt das Land-

fern nach dem Motto »Dorfleben macht frei«. Die Ähnlich-

leben. Man orientiert sich gern an dem, was »immer schon

keit der sozialen Veränderungen in west- und ostdeutschen sowie europäischen Dörfern zeigt den generellen und globalen Charakter des Wandels. Dieser knapp skizzierte soziale Wandel hat sich keineswegs in allen Dörfern und Regionen Deutschlands gleichzeitig vollzogen. Er hat manche Regionen und Dörfer wie im Sturm erfasst, während andere (meist abgelegene) ländliche Gebiete und Orte ihn eher langsam erfahren. Es gibt heute sowohl Dörfer (meist im Umfeld von Großstädten), deren Sozialstrukturen bereits fast städtischen Charakter besitzen, als auch solche, deren Sozialleben man den ländlichen Siedlungen um 1950 oder 1970 zuordnen möchte. Gibt es angesichts des starken wirtschaftlichen und sozialen Wandels des Landlebens überhaupt noch typisch dörfliche bzw. ländliche Lebensstile?� Und wenn ja, was sind ihre Merkmale? Obwohl die Dörfer urbaner geworden sind, bestehen auch heute noch wesentliche Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben. In dieser Feststellung sind sich auch die Wissenschaftler weitgehend einig. Ländliche Lebensstile sind natur-, traditions-, gemeinschafts- und handlungsorientiert. Ruhe und Entschleunigung, Ehrenamt sowie konkretes lokales Denken und Handeln spielen wichtige Rollen. Durch seine Naturnähe bietet das Dorf in Feld, Wald und Garten eine unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnutzung und Eine Frau setzt Blumenzwiebeln in ihrem Garten: die Gartenarbeit ist ein Kernbereich dörflicher Lebensqualität.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

185

Die Brauchtumspflege ist vielen Landbewohnern ein Anliegen: Frauen in Tracht schmücken eine Erntekrone beim 3. Brandenburgischen Dorf- und Erntefest 2006 in Pinnow.

186

war«: an der Kirche, dem Familienbesitz, den alten Verei-

(den haben/tragen sie auf der Schüttelgabel durchs Dorf)

nen oder wie man sich verhält in sozialen Kontakten. Man

bezieht sich auf eine hölzerne Gabel, die zum Wenden und

kennt die wichtigsten Ereignisse der Familien- und Dorfge-

Schütteln der Garben beim Dreschen gebraucht wurde,

schichte und dokumentiert diese in schön gestalteten Chro-

und bedeutet so viel wie »Sie reden alle über ihn«.214a Wir

niken. In vielfältiger Weise pflegt man das Brauchtum.

unterscheiden in Deutschland drei große Mundartland-

Dazu gehört auch die Pflege der lokalen Mundarten

schaften: das Niederdeutsche, das vielfach auch »Platt« ge-

oder Dialekte, in denen sich viele Landbewohner erst rich-

nannt wird (Südgrenze etwa auf der Linie Düsseldorf-Mag-

tig zuhause fühlen. Jede deutsche Region hatte und hat ihre

deburg-Wittenberg), das Mitteldeutsche (im Westen von

sprachlichen Besonderheiten. Mundarten haben sich in

Köln bis zur Pfalz und nach Osten über Hessen und Thürin-

langen Zeiträumen entwickelt, sie verändern ihre Sprach-

gen bis nach Sachsen) und das Oberdeutsche (grob identisch

färbung oft von Dorf zu Dorf. Die Sprache der Dialekte ist

mit den Ländern Baden-Württemberg und Bayern), dazu

reich an Bildern, die häufig aus der Landwirtschaft oder

kommt das Friesische in einigen Regionen an der Nordsee-

dem Kirchenleben stammen. Besonders in Sprichwörtern

küste.214b

und Redensarten steckt viel Welt- und Kulturwissen der

Die deutschen Mundarten befinden sich seit der Mitte

früheren Zeit, hier ein Beispiel aus Hörste im Kreis Gü-

des 20. Jahrhunderts auf dem Rückzug. So spricht in Nord-

tersloh: Die Redensart »Denn hät se uppe Schüddelgaffel«

deutschland nur noch eine Minderheit das ursprüngliche

Das moderne Dorf

Platt. Generell haben sich die Mundarten mehr und mehr an die Hochsprache angepasst. Wissenschaftler sprechen heute von Regionalsprache oder Regiolekt, quasi die moderne Anpassungsform der jeweiligen Dialekte an die überregionale Standardsprache. So gehören Sätze wie »Tus du noch wat trinken?« oder »Gibbet da noch mehr von?«, meist sehr melodisch vorgetragen, am Niederrhein zur regionalen Alltagssprache.214c Die alten Dialekte finden heute in vielfältiger Weise als schützenswertes Brauchtum Beachtung. Sowohl von ehrenamtlichen Vereinen als auch von staatlichen Institutionen werden »Klönabende« in der regionalen Mundart veranstaltet, Dokumentationen in Schrift und Ton

Die niederdeutsche Redensart »Denn hätse uppe Schüddelgaffel« bedautet soviel wie: Den tragen sie auf der Schüttelgabel durchs Dorf, das heißt: Der ist ins dörfliche Gerede gekommen.

angelegt oder Sprichwörter und Namen gesammelt. In allen Regionen gibt es Schriftsteller oder Heimatdichter, die

Lebenswerk eines verdienten Mannes würdigte und dies

literarische und heimatkundliche Texte in Mundart verfas-

auch seiner Familie gegenüber zum Ausdruck brachte.

sen. Das Interesse an Theateraufführungen, Gottesdiensten

Zu den besonderen Stärken des Landlebens gehört das

und Lesungen ist groß. So ist kürzlich eine CD erschienen,

Sich-Auskennen in praktischen und »natürlichen« Angele-

um den »Klang des Plattdeutschen« in Westfalen zu prä-

genheiten, das vielfach auch an die nächste Generation wei-

Viele ältere Dorfbewohner

tergegeben wird. Hier ein paar Beispiele: Gartenbau, das

und manche Sprachsoziologen sehen im allmählichen Ver-

sentieren und zu erhalten.

Einlagern und Einkochen von Garten- und Feldprodukten,

schwinden der regionalen Mundarten einen wesentlichen

das Kochen und Backen, das Hausbauen und andere hand-

Verlust an traditioneller Landkultur.

werkliche Tätigkeiten, das »Holzmachen« im Wald, das

214d

Des Weiteren sind dörfliche Lebensstile durch eine Über-

Pflegen von älteren und behinderten Menschen zu Hause,

schaubarkeit und hohe Dichte sozialer Netzwerke und Kon-

das Vorbereiten und Gestalten von Festen. Ländliche Le-

takte geprägt. Im Vordergrund stehen hier die großen Fa-

bensstile sind durch Handeln und Anpacken, durch stän-

milien, die Verwandtschaften und Nachbarschaften. Da-

diges Geben und Nehmen in der kleinen lokalen Gemein-

rüber hinaus ist es für Dorfbewohner wichtig, sich in

schaft geprägt. Nach einem Bericht in der FAZ 147 sind die

Vereinen und Kirchen zu engagieren und gemeinsame Feste

Chefs der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen

zu begehen. Die überschaubaren und engen Sozialkontakte

mehrheitlich in ländlichen Regionen aufgewachsen. Als

bieten Hilfe und Halt für junge wie ältere Menschen und

Erklärung für dieses Phänomen werden die auf dem Dorf

tragen nicht zuletzt auch zum Wohlstand und zur Zufrie-

erworbenen sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie

denheit in den Dörfern bei. Während ich an diesem Kapi-

ein auf dem Land noch vorhandenes »Arbeitsethos« ange-

tel schrieb, verstarb der langjährige Organist meines Hei-

führt, die sich so in der unpersönlicheren und virtuelleren

matdorfes im Alter von 89 Jahren. Er hatte 67 Jahre lang

Großstadt nicht erlernen lassen. Ländliche Lebensstile ha-

den Orgeldienst in der katholischen Pfarrkirche ausgeübt

ben auch deshalb Zukunft, weil Dörfer und Kleinstädte von

und dabei nicht nur die fast täglichen Gottesdienste und

ihren Bewohnern am meisten geliebt werden und deutlich

die Hochfeste des Kirchenjahres wie Ostern, Weihnachten

mehr Kinder hervorbringen, großziehen und in die Schu-

und Pfingsten ganz wesentlich mitgestaltet, sondern auch

len schicken als Großstädte – und schließen Werte mit ein,

die meisten Dorfbewohner an wichtigen Stationen des Le-

die auch dem Gesamtstaat zugutekommen.

bens wie Taufe, Kommunion, Trauung und Beerdigung be-

In ländlichen Lebensstilen zeigt sich die Vielfalt der

gleitet. Die Gemeinde dankte ihm nun mit einem festlichen

Landkultur. Ländliche Kultur entspricht noch am ehesten

Requiem und einer großen Beerdigung. In diesen für die

der ursprünglichen Bedeutung des Wortes (lateinisch cul-

Angehörigen schweren Stunden zeigte sich spürbar der Zu-

tura = Landbau, Pflege von Körper und Geist) und ist durch

sammenhalt und die Kraft der Dorfgemeinschaft, die das

eine enge Beziehung zwischen Mensch und Mitwelt ge-

Bevölkerung – Soziales – Kultur

187

tenpflege. Die Kultur des Helfens und die Vielfalt der sozialen Netzwerke wird auch als das soziale Kapital des Dorfes bezeichnet. Man spricht hier von der »Alltagskultur« oder auch schlicht von der »Lebenskultur« des Dorfes, die zu den Kernqualitäten des Landes gehört. Das 7. Dauner WEGE Symposium hat sich am 8. 11. 2018 in der Verbandsgemeinde Daun mit dem Thema »Kultur in ländlichen Räumen« befasst. Die dabei formulierten »Dauner Thesen« betonen bereits in den ersten drei Sätzen die hohe Bedeutung der Kultur für das Landleben: Kultur ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit menschlichen Lebens. Kultur lebt von Beteiligung und trägt zu einem positiven Lebensgefühl bei. Kultur stärkt die Resilienz, das heißt die Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit von Dorf und Gemeinde. Ländliche Lebensstile sind traditionsorientiert, hier ein Festumzug der Gebirgsschützen beim Bataillionsfest in Neubeuern im Chiemgau.

Dass ländliche Lebensstile und Landkultur der ganzen Bevölkerung eine hohe Anziehungskraft besitzen, zeigt der große Erfolg neuer »Land«-Zeitschriften wie »Land-

188

kennzeichnet. Generell ist ländliche Kultur persönlicher

lust«, »Land Liebe« und »Mein schönes Land«. Oder auch das

und konkreter als städtische Kultur, mehr durch Han-

kaum noch überschaubare Angebot an Büchern und Aus-

deln, Überschaubarkeit und Lokalorientierung geprägt.

stellungen über Gärten, Gartenbau und Gartenkunst.

Die ländliche Kultur wird daher nicht selten als »Aktiv-

Dörfliche Lebensstile können ein Motiv sein, warum sich

kultur« bezeichnet – im Unterschied zur Stadtkultur (als

junge Menschen bewusst dafür entscheiden, aufs Land zu

»Passivkultur«), die meist eher auf Rezeption und Konsum

ziehen. Johannes Liess hatte mit seiner Frau und den klei-

ausgelegt ist. Zur Kultur des Dorfes gehören zunächst ein-

nen Kindern ein modernes Nomadenleben geführt, hatte

mal die historischen und modernen Gebäude sowie die

als Architekt in mehreren Ländern gearbeitet. Nun sehn-

diversen Nutzungen der Natur in Feldern, Wäldern, Ge-

ten sie sich nach Ruhe und Stille. Die Sommerferien ver-

wässern und Gärten. Doch auch die Umgangsweisen zwi-

brachten sie zuletzt regelmäßig zwei Monate in einer re-

schen Menschen verschiedener Gruppen (z. B. zwischen Alt

novierungsbedürftigen Kate im halbverfallenen Dörfchen

und Jung, Einheimischen und Zugezogenen, verschiede-

Lüchow. Und irgendwann kam dabei der Gedanke: Warum

nen sozialen Milieus), die gepflegten Traditionen der Dorf-

bleiben wir nicht einfach hier? In einem Gespräch erklärt

gemeinschaft, der Vereine, Verwandtschaften und Nach-

Liess auf die Frage, warum sich seine Familie für das Land-

barschaften gehören dazu. Die Kultur des Dorfes hat ihre

leben entschieden hat und sich dort bis heute wohlfühlt:

festliche, gewissermaßen sonntägliche Seite. Und die dies-

»Für uns junge Familien bietet das Dorf einen ungeheuren

bezüglichen Anstrengungen und Darbietungen für Hoch-

Freiraum, ein Experimentierfeld, für die Kinder einen gi-

zeiten und Begräbnisse, für Schützen-, Kirchweih-, Musik-,

gantischen Spielplatz. Wir haben hier einen überschauba-

Feuerwehr- und Sportfeste fallen auch besonders ins Auge.

ren, ruhigen Ort, wo man sich kennt, wo man sich gegen-

Aber Dorfkultur zeigt sich auch in der Bewältigung des

seitig helfen und aktivieren und die eigenen Lebensmit-

normalen Alltagslebens: z. B. in Hilfestellungen bei Krank-

tel anbauen kann. Das gute Gemeinschaftsgefühl zeigt uns,

heiten und anderen Notlagen, in der Behinderten- und Al-

dass wir uns richtig entschieden haben.«147a

Das moderne Dorf

Ein fruchtbarer Austausch Die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen

In der Menschheitsgeschichte ist das Dorf lange

der das Landleben gepriesen. Die gegensätzlichen Argu-

ohne die Ergänzung durch die Stadt ausgekommen.

mente und Auffassungen sind bis heute nahezu konstant

Stadt-Land-Beziehungen gibt es erst, seit vor etwa

und aktuell geblieben.

10 000 Jahren die ersten Städte gebaut wurden.

Die Ausprägung von Städten und ländlichen Siedlungen

Aber noch vor 150 Jahren waren die Beziehungen

mit ihren unterschiedlichen baulichen, wirtschaftlichen

zwischen Stadt und Land relativ gering. Heute sind

und sozialen Merkmalen ist ein Kennzeichen unserer mo-

sie so intensiv, dass man sich eine Steigerung kaum

dernen Kulturen. Gleichwohl bestand und besteht in allen

vorstellen kann. Was sind die Motive des regen

Gesellschaften ein meist reger Austausch zwischen Stadt

Austausches? Sind die modernen Stadt-Land-Bezie-

und Land. Menschen machen Besuche, Güter werden trans-

hungen ausgewogen oder einseitig? Wer leistet in

portiert. Erfahrungen und Ideen werden von der Stadt zum

diesem komplizierten Geflecht mehr für den Gesamt-

Land übertragen und umgekehrt. Stadt-Land-Beziehungen

staat: die Stadt oder das Land?

sind von den jeweiligen Rechts- und Herrschaftsverhältnissen abhängig. So können Stadt und Land rechtlich gleich-

»Des Menschen körperliches und animalisches Dasein mag

gestellt oder mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet

durch das Land befriedigt sein, seine geistigen Bedürfnisse

sein. Bis zu Beginn des Industriezeitalters waren die Gren-

können nur durch die Stadt erfüllt werden.«

zen und Unterschiede zwischen Städten und Dörfern schon

Aristoteles

äußerlich klar zu erkennen (Städte waren mit Mauern um»Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in der Stadt,

geben, Dörfer mit Zäunen oder Hecken). Außerdem waren

sondern im Dorf.«

die Städte rechtlich bessergestellt als Landsiedlungen, was

Mao Tse-tung

in dem Motto »Stadtluft macht frei« zum Ausdruck kommt. Das Gegensatzpaar Stadt – Land bewegt die Menschen seit

Nach den Bürgerrechts- und Agrarreformen des 19. Jahr-

etwa 10 000 Jahren, seitdem es die Stadt gibt. Vor allem Po-

hunderts sind Stadt und Land in Deutschland formalrecht-

litiker, Philosophen, Dichter und Raumwissenschenaftler

lich gleichgestellt worden. Mit dem Aufbau der modernen

haben immer wieder kritisch abgewogen und Stellung genommen, was denn für das Wohlergehen des Menschen besser sei. Häufig wurde das Stadtleben favorisiert, dann wie-

Abbildung oben: Bauern vermarkten ihre Produkte direkt in der Stadt: hier auf dem Münsterplatz in Freiburg.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

189

haltensweisen, Bauformen, Kulturgütern und Ideen im ländlichen Raum. Vom Land ausgehende Austauschvorgänge werden als »Verländlichung« oder »Ruralisierung« bezeichnet. Verländlichung bedeutet, dass der Anteil der Landbevölkerung zunimmt. Dies kommt in der Moderne vor allem in Notzeiten im Zuge von Evakuierungen aus Großstädten vor, wie z. B. am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland hat sich das etwa ausgeglichene Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung seit einigen Jahrzehnten aber wenig verändert. Wenn ländliche Kulturelemente und Verhaltensweisen in den städtischen Raum eindringen, bezeichnet man das als Ruralisierung. Dies geschieht in der Regel durch Zuzügler, die einen Teil ihrer ländlichen Vorstellungen und Lebensgewohnheiten – wie Brauchtumspflege, Gartenbau und Kleintierhaltung – in die Stadt überführen. Vergleicht man die derzeitigen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen BeeinflusIn der Karikatur »Länd-Art« werden Wahrnehmungsunterschiede zwischen dem Land und seinen großstädtischen Besuchern offengelegt.

sungen zwischen Stadt und Land, zieht man sozusagen eine Austauschbilanz, kann man generell eine anhaltende Urbanisierung des Landes feststellen. Dennoch bleibt die Frage

Verkehrsnetze für den Eisenbahn-, Auto- und Flugverkehr

offen, ob die Dorfbewohner mehr von der Stadt oder die

haben die Stadt-Land-Beziehungen seit etwa 150 Jahren

Stadtbewohner mehr vom Land profitieren.

deutlich, in den letzten 50 Jahren drastisch zugenommen.

könnte vermuten lassen, dass es sich hier um zwei gegen-

gann Mitte der 1950er Jahre. Auf dem Land fielen damals

sätzliche, unversöhnliche, etwa gleich starke Partner han-

zahllose Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im Dorf-

delt, die lediglich durch drei tägliche Busverbindungen

handwerk weg. Zugleich lockten in den Städten die kräf-

in losem Kontakt stehen. Doch das wäre ein falsches Bild.

tig steigenden Angebote an Industrie- und Dienstleistungs-

Stadt-Land-Beziehungen sind äußerst komplexe – ökono-

berufen. Die seinerzeit einsetzende Bildungsrevolution

mische, soziale und kulturelle – Austauschbewegungen.

auf dem Land führte dazu, dass sich immer mehr Dorfbe-

Deren Vielschichtigkeit in den modernen Dienstleistungs-

wohner für städtische Berufe qualifizierten. Nicht zuletzt

und Kommunikationsgesellschaften sind kaum Grenzen

wuchs durch die breite Motorisierung die Bereitschaft der

gesetzt. Es gibt vielfache Abstufungen von Stadt-Land-Be-

Landbevölkerung zum beruflichen Pendeln in die Städte.

ziehungen zwischen den Extremen Metropole (wie Ham-

Stadt und Land kamen sich nun immer näher.

burg) und agrarer Einzelhofsiedlung (wie Emsland). Stadt-

Nach Art und Richtung der Austauschbewegungen zwischen Stadt und Land ergeben sich grundsätzlich zwei ver-

190

Das gängige Begriffspaar »Stadt-Land-Beziehungen«

Die Intensivierung der Stadt-Land-Beziehungen be-

bewohner haben sehr verschiedene Anlässe, aufs Land zu fahren, wie umgekehrt Dorfbewohner in die Stadt.

schiedene Entwicklungsschwerpunkte. Ist die Stadt der do-

Generell bestehen immer weniger deutliche ökonomi-

minierende Part, kommt es zu Verstädterung und Urbani-

sche, bauliche, soziale und kulturelle Trennlinien zwischen

sierung. Unter »Verstädterung« versteht man die räumliche

Stadt und Land. Außerdem sind städtische und ländliche

Ausdehnung der städtischen Siedlungsweise. Dies kann

Bevölkerungen in sich jeweils stark differenziert: Manche

passieren, wenn bestehende Städte sich über ihren Raum

Dorfbewohner leben wie Städter, manche Großstädter füh-

hinaus vergrößern oder aber wenn ursprüngliche Dörfer zu

len sich (z. B. wegen intensiver Freizeitbeschäftigungen auf

Städten heranwachsen. Der Begriff »Urbanisierung« um-

dem Land) als Landbewohner. Und nicht zuletzt schwan-

fasst die Ausbreitung von städtischen Lebensformen, Ver-

ken die Abhängigkeiten zwischen Stadt und Land, da die

Das moderne Dorf

Das Land bietet der Gesellschaft schöne Kulturlandschaften für Freizeit und Erholung, hier das Beispiel der von der Landwirtschaft genutzten und gepflegten Tallandschaft vor dem Wettersteingebirge bei Mittenwald in Bayern.

Stadt-Land-Beziehungen einem ständigen Wandel unter-

nachmittag in der Großstadt, das lange Wochenende hin-

worfen sind. Mal zieht die ältere Generation von der Stadt

gegen auf dem Land, was dann meist als das Zuhause be-

aufs Land, mal vom Land in die Stadt. Jugendliche kehren

zeichnet wird. So z. B. Uta Keseling, deren wöchentlicher

nach Studium und Berufsstart in Großstädten häufig in die

Spagat zwischen Berlin und einem 250-Einwohner-Dorf

heimatlichen Dörfer und Kleinstädte zurück.

in der Uckermark stattfindet. Sie beschreibt zunächst ihre

Ein großer Teil der Bevölkerung praktiziert heute im All-

Motive, aufs Dorf zu ziehen: »Als wir vor acht Jahren das

tag die Stadt-Land-Beziehungen in eigener Person. Groß-

alte, graue Haus kauften, wussten wir wenig vom Dorfle-

städter fahren in ihrer Freizeit oder im Urlaub immer wie-

ben. Es war eine vage Idee: Einen Garten wollten wir haben,

der aufs Land. Dorfbewohner suchen zum Arbeiten und

einen Ort, in den wir gehörten. Und ein Ziel, wenn uns die

Studieren die Stadt auf. Viele Menschen »leben« zugleich

Stadt zuviel wurde. Wir fanden die Uckermark: Weites, hü-

als Dorf- und Großstadtbewohner, sie führen eine Art

geliges Endmoränenland, mit sanften Rundungen und ge-

Zwitterdasein zwischen Stadt und Land. Sie verbringen

heimnisvollen Winkeln hinter Gehölz und Gebüsch. Eine

z. B. die Arbeitswochen von Montagmorgen bis Freitag-

Landschaft mit feuchten Augen aus hunderten Seen. Eine

Bevölkerung – Soziales – Kultur

191

ist neben der vorrangigen Erzeugung von land- und forstwirtschaftlichen Produkten zunehmend auch für die Energiegewinnung und die Pflege der ländlichen Kulturlandschaft verantwortlich. Die Aufgaben Ökologie und Umwelt beinhalten neben dem Natur-, Boden- und Klimaschutz vor allem die Sicherung der Wasserversorgung für die Gesamtbevölkerung. Doch die Freizeit- und Erholungsfunktion des ländlichen Raumes ist den meisten Menschen offenbar besonders wichtig: »Natur und schöne Landschaft« sind die Werte, die man in Deutschland nach wiederholten Umfragen am höchsten schätzt. Die sog. »Standortfunktion« umfasst neben der Gewinnung von Rohstoffen und Mineralien auch die Vorhaltung von Flächen für Flughäfen, Kraftwerke, Gewerbegebiete, Mülldeponien usw. Neben diesen Leistungen für die Großstädte und Verdichtungsgebiete besitzt der ländliche Raum natürlich auch die Funktion als Wohn-, Wirtschafts- und Freizeitraum der eigenen Bevölkerung, die ja immerhin die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmacht. Gerade im Zuge der heute vom Staat gewünschten »selbstgetragenen« Entwicklung von Regionen ist es wichtig, das Dorf und den ländlichen Raum nicht allein in ihren Aufgaben für die städtische Gesellschaft zu betrachten – sondern stärker auch sein »Eigenleben«, seine Bedürfnisse, Wünsche und Kräfte »für ihn selbst« in Rechnung zu stellen und zu respektieren. Immer wieder muss das Land für die Gewinnung von Rohstoffen Flächen zur Verfügung stellen: hier bei dem Dorf Grießen am BraunkohleTagebau Jänschwalde.

Eine interessante, aber keineswegs leicht zu beantwortende Frage ist, wer mehr für den Gesamtstaat leistet bzw. wer mehr zu den wechselseitigen Beziehungen beisteuert oder gar, wer leichter ohne den anderen auskommen könn-

menschenleere Ecke kurz vor Polen, die definitiv nie Speck-

192

te, die Stadt oder das Land? Auf den ersten Blick könnte

gürtel wird.« Beim wöchentlichen Abschied vom Dorf am

es die Stadt sein: Mit ihren Bankentürmen, Einkaufspassa-

Sonntagabend kommt zum Ausdruck, was die Autorin in-

gen und Universitäten, den Flughäfen, Messen und Haupt-

zwischen am Dorf liebt: »Bevor wir selbst abfahren, laufen

verwaltungen der großen Konzerne, den Einrichtungen der

wir noch einmal durchs Dorf. Ist es noch schön? Mehr denn

sog. »Hochkultur« wie Museen, Opern- und Konzerthäuser.

je. Was gibt es uns? Manchmal nur Kohlrabi aus dem Garten.

Wer die Vorzüge des Landes betrachten will, muss schon et-

Manchmal Kraft für die Woche. Immer: Dankbarkeit.«148

was genauer hinschauen und sich auf das weniger Spekta-

In der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft ergänzen

kuläre einlassen. Das Land bietet auf knapp 90 % der Staats-

sich Stadt und Land mit ihren »Leistungen« für den Ge-

fläche sehr unterschiedliche, in Jahrhunderten gewachsene

samtstaat. Die staatliche Raumordnungspolitik weist dem

Kulturlandschaften mit reizvollen Dörfern und Kleinstäd-

ländlichen Raum die vier klassischen, typisch flächenbezo-

ten. Hier stehen nahezu unbegrenzte Freizeit- und Erho-

genen Funktionen zu: erstens die Agrarproduktion, zwei-

lungsmöglichkeiten zur Verfügung. Ein wertvolles Gut

tens Ökologie und Umwelt, drittens Freizeit und Erholung,

enthalten die ländlichen Lebensstile mit ihrer Aktivkul-

viertens die Vorhaltung von Standorten u. a. für die Ge-

tur des sozialen Engagierens. Das naturnahe, traditionsbe-

winnung von Rohstoffen. Die Land- und Forstwirtschaft

wusste, kinderfreundliche und »ruhigere« Landleben bie-

Das moderne Dorf

tet den Menschen Heimatgefühl, Zufriedenheit und Rückzugsflächen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen beansprucht das Land die Solidarleistungen der Kranken- und Arbeitslosenversicherung weniger als die Stadt, ist die Kriminalitätsrate niedriger, die Blutspendequote zehnmal höher als in der Stadt. Für den Bauern Wilhelm Flocke (Jahrgang 1923) aus dem Nachbardorf Meerhof, mit dem ich mich hin und wieder über den Wandel des Dorfes und das Verhältnis Stadt – Land unterhalten habe, ist die Beantwortung der Frage, wer mehr für das Gemeinwohl des Staates leistet, klar: »Dat Duarp drächt de Stadt«, bemerkte er im Sommer 2010 knapp und kantig in westfälischem Platt. In wörtlicher Übersetzung heißt dies: »Das Dorf trägt die Stadt«. Schon aus diesen kurzen, fast willkürlichen Gegenüberstellungen wird deutlich, dass ein schnelles und eindeutiges Abwägen der Vorzüge von Stadt und Land nicht möglich ist. Fest steht aber, dass sich Stadt und Land mit ihren sehr unterschiedlichen Angeboten nahezu ideal ergänzen.

Die Möhnetalsperre versorgt zusammen mit anderen Talsperren des Sauerlandes schon seit dem späten 19. Jahrhundert große Teile des Ballungsraumes Ruhrgebiet mit Wasser.

Besonders in Deutschland, wo die Verteilung von Stadt und Land recht ausgewogen ist. Das Land braucht die Stadt ge-

daß Stadt und Land … Glieder eines organischen Körpers

nauso, wie die Stadt das Land braucht – die beste Voraus-

sind, von welchen keins verletzt werden kann, ohne daß die

setzung für ein sich ergänzendes Geben und Nehmen ist

übrigen Glieder mitleiden, und daß nur in der Gesundheit

der gegenseitige Respekt. Der traditionelle Gegensatz Stadt – Land wird sich in Zu-

und Kraft des ganzen Organismus das Wohl der einzelnen Glieder zu finden ist.«149

kunft vermutlich weiter abschwächen. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land werden durch den Trend zur Informationsgesellschaft mit raschem Datenaustausch noch enger werden. Es ist jedoch zu erwarten und auch zu hoffen, dass wesentliche Bestandteile des anregenden Kontrasts zwischen Stadt und Land zum Wohle des Gesamtstaates bestehen bleiben. Der berühmte Landwirt und Wissenschaftler Johann Heinrich von Thünen, der in Tellow in Mecklenburg-Vorpommern sein Mustergut betrieb und dem wir grundlegende Schriften zur Agrarökonomie verdanken, formulierte vor gut 170 Jahren seine Vorstellung zum StadtLand-Gefüge, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben: »Städte und Land üben in Beziehung auf den Wohlstand eine stete, nie ruhende Wechselwirkung aufeinander aus, beide sind innig miteinander verflochten, und nur Beschränktheit der Einsicht kann wähnen, den Wohlstand des einen Teils auf Kosten des anderen heben zu können. Möchten die Vertreter auf unseren künftigen Landtagen von der Erkenntnis durchdrungen, von dem Gedanken beseelt sein, Auf dem acht Hektar großen Gelände des Thüler Kindergartens erleben die Kinder je nach Jahreszeit und Witterung jeden Tag neue Abenteuer und Erfahrungen in der Natur.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

193

Dorfbewohner als Globetrotter Das Dorf im Austausch mit der Welt

»Nach Meerhof gingen oder fuhren wir einmal im Jahr

und der ehemaligen Sowjetunion und darüber hinaus aus

zu Laurentius im August. Das war der Geburtsort

praktisch allen Regionen der Welt hinzugekommen, die in-

der Mutter. In Helmern bin ich noch nie gewesen,

zwischen fast wie selbstverständlich in deutschen Dörfern

in Haaren ein einziges Mal, in Essentho vielleicht drei-

leben.

mal.« So erzählte meine Mutter über ihre Besuche in

Aber nicht nur durch Zuwanderungen ist das Dorf ein

den Nachbardörfern. Ihre Kinder und Enkelkinder

kleiner Spiegel der Welt geworden. Auch der Dorfbewoh-

haben inzwischen alle Kontinente bereist. Das ist kein

ner selbst hat sich auf die Wanderschaft begeben, ist zu ei-

Einzelfall. Das Dorf und seine Bewohner haben heute

nem Globetrotter geworden. Durch Auto, Bahn und Flug-

in vielfältiger Weise Kontakte mit der ganzen Welt.

zeug haben sich die Tore des Dorfes zur Welt geöffnet. Schon als Kinder lernen Dorfbewohner heute auf Auslandsrei-

Die Globalisierung ist im deutschen Dorf angekommen.

sen andere Länder kennen. In der Schule werden sie durch

Virtuell und real. Über die Medien wie Fernsehen und In-

die Weltsprachen Englisch, Spanisch und Französisch so-

ternet erfahren die Dorfbewohner täglich, wie die Men-

wie neuerdings Chinesisch auf internationale Kontakte ge-

schen in Afrika oder Asien leben. Die internationalen Stars

trimmt. Durch Schüleraustausche kommen sie nach Eng-

aus den Bereichen Sport, Kultur, Musik – ob sie aus Eng-

land, Frankreich, Spanien oder Polen und immer häufiger

land, Brasilien, Italien oder Russland kommen – sind auf

auch nach Nord- und Südamerika, nach Japan oder Korea.

dem Land genauso bekannt und populär wie in den Städ-

Während des Studiums oder der Ausbildung werden die ju-

ten. In die dörfliche Gesellschaft selbst mischen sich im-

gendlichen Dorfbewohner immer wieder zu Auslandsauf-

mer mehr Menschen aus aller Welt. Durch Zuwanderungen

enthalten animiert. Hierbei schließen sie Kontakte und

aus dem Ausland ist das Dorf unmittelbar bunter gewor-

Freundschaften, die sich auch im Dorf niederschlagen.

den. Es begann vor 50 Jahren mit den Gastarbeitern aus Ita-

Besonders in ihrem Urlaubsverhalten sind die deutschen

lien, Spanien, Portugal, dem Balkan und später aus der Tür-

Dorfbewohner wahre Globetrotter. Gefördert durch das in-

kei. Manche Familien leben bereits in der zweiten oder drit-

zwischen recht dichte Netz der Flughäfen und die drastisch

ten Generation hier, sprechen den heimischen Dialekt und nehmen an lokalem Brauchtum teil. In den letzten 20 Jahren sind zahlreiche Menschen aus dem östlichen Europa

194

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Auch Landschulen pflegen den Austausch mit der Welt: Gymnasium Bad Freienwalde 2008 mit Schülern aus USA und Norwegen.

gesunkenen Preise gehören Mallorca, Gran Canaria, Do-

zeigen die heutige Mobilität der Dorfbewohner. Viele von

minikanische Republik, Thailand und Namibia fast schon

ihnen bewohnen nicht nur ihren Heimatort, sondern le-

zum Erfahrungsstandard des dörflichen Mittelstandes. Der Journalist Klaus Brill, der ein sehr lesenswertes Buch

ben – gleichzeitig oder temporär – in fernen Städten und Ländern.

über die Globalisierung des Dorfes geschrieben hat, schil-

Das Dorf unterhält heute auch vielfältige gewerbli-

dert anschaulich ein paar kleine Beispiele aus seinem Hei-

che und institutionelle Kontakte mit der weiten Welt. Die

matdorf Alsweiler im Saarland, dessen Tor zur Welt der

ländliche Forstwirtschaft produziert und liefert hochwer-

nahe Flughafen Hahn geworden ist: »So wagten auch drei

tige Buchen- und Eichenstämme nach Indien oder China.

Pensionäre aus Alsweiler ein kleines touristisches Aben-

Umgekehrt verarbeitet der dörfliche Tischler hochwer-

teuer. Sie buchten ein Ticket für 40 Euro, fuhren am Tag

tiges Merantiholz aus den Tropen für Fenster und Türen.

des Ereignisses in aller Frühe mit dem Auto nach Hahn,

Die deutsche Landwirtschaft exportiert nicht nur Ge-

flogen nach Bergamo, um dort Mittag zu essen, spazieren

treide und Kartoffeln, sondern eine große Vielfalt an Fer-

zu gehen und Rotwein zu trinken, und nach der Rückkehr

tigprodukten wie Brot, Käse, Pizzas und Wein in die ganze

am selben Tag konnten sie spätabends in der Dorfkneipe

Welt. Umgekehrt bezieht sie Mineraldünger oder Futter-

schon von dieser Gaudi erzählen. Reisen nach Rom, früher

mittel wie Sojabohnen für die hiesigen Viehbestände aus

ein lange vorbereitetes, einmaliges Ereignis, wurden jetzt

Asien und Südamerika. Das Ernährungsgewerbe versorgt

zum harmlosen Trip, der sich kostengünstig wiederholen

natürlich auch die ländlichen Läden mit exotischen Früch-

ließ. Ein junges Paar unternahm eine Hochzeitsreise auf die

ten und Lebensmitteln aus aller Welt. Ländliche Hand-

Besonders fasziniert war Brill dann von ei-

werks- und Industriebetriebe produzieren längst nicht

ner Stippvisite nach New York: »Mich elektrisierte vor al-

mehr nur für die eigene Region. Mittelständische dörfli-

lem die Nachricht, dass ein junger Mann aus Alsweiler zur

che Maschinenbaufirmen in Baden-Württemberg, Westfa-

Silvesterfeier 1999 nach New York geflogen war, um dort

len oder Niedersachsen beliefern heute wie selbstverständ-

Malediven.«

150

auf dem Times Square die Ankunft des neuen Jahrtausends

lich den weltweiten Markt und errichten nicht selten Bü-

zu erleben. Jetzt war mir endgültig klar, dass der dörfliche

ros oder Zweigwerke in Brasilien oder China. Einige haben

Horizont in nie gekannter Weise aufgerissen war.«

sich sogar zu Weltmarktführern in ihren Spezialbereichen

Aber nicht nur zu touristischen Zwecken verlassen die

entwickelt. So sitzen zwei der drei in der Welt führenden

Dorfbewohner ihre Heimat. Insbesondere gut ausgebildete

Hersteller von Kartoffelvollerntemaschinen in der nieder-

Ingenieure, Wirtschaftsfachleute, Architekten, Wissen-

sächsischen Kleinstadt Damme.

schaftler und Handwerker reisen ins Ausland, um dort zu

Auch die großen Kirchen fördern durch Aktionen wie

arbeiten. Dies können kurze Aufenthalte von wenigen Ta-

»Brot für die Welt«, Adveniat oder Miserior die Kenntnisse

gen sein, um wichtige Verhandlungen zu führen oder um Maschinen aufzustellen, einzurichten oder zu reparieren. Aber auch Aufenthalte über Monate und Jahre hinweg sind nicht selten. Brill erzählt von einer Geburtstagsfeier bei seiner Mutter in Alsweiler, zu der Nachbarinnen und Verwandte gekommen waren. Als die Rede auf die Söhne und Enkel kam, wurde es global: Ein Sohn war schon seit Jahren in Asien tätig. Ein Enkel war unverhofft zum 80. Geburtstag der Oma aus Dubai angeflogen, wo er für einen deutschen Konzern tätig ist. Ein anderer Enkel war gerade zum Russischlernen in Moskau gewesen, studierte in Tübingen und plante eine Doktorarbeit in Berkeley oder Paris, seine Freundin kam aus Moldawien. Die Geschichten dieses Kaffeeklatsches sind kein Zufall. Sie ereignen sich überall und Auch Dorfbewohner lieben heute Auslands- und Fernreisen. So kommt das Reisebüro ins Dorf, wie hier in Neuhausen auf den Fildern.

Bevölkerung – Soziales – Kultur

195

dienfahrten ins Baltikum, nach Indien oder Marokko und nicht zuletzt durch Kurse und Unterrichtungen in Flamenco, Feng-Shui oder Samba-Trommeln. Der Aufbruch des Dorfes zu einem globalen Austausch hat dem Land sicherlich gutgetan. Er hat seinen Bewohnern ökonomische, soziale und kulturelle Chancen eröffnet und den Horizont erweitert. Die Bildungsrevolution der 1960er und 1970er Jahre hat den Grundstein hierzu gelegt, nachdem man kurz zuvor den »Bildungsnotstand auf dem Land« ausgerufen hatte. Dorfbewohner, die noch vor hundert Jahren überwiegend als Kleinbauern, Landarbeiter, Handwerker, Tagelöhner oder Hirten ihr bescheidenes dörfliches Dasein fristeten, stiegen bald in alle handwerklich-gewerblichen, Verwaltungs- und akademischen Berufe auf. Sie wurden Handwerksmeister, Lehrer, Verwaltungs- und Justizbeamte, Ingenieure und Juristen. Und besetzten nicht zuletzt zahlreiche Führungspositionen des Volkes. Sie wurden Direktoren von mittelständischen FirDorfpartnerschaften mit ausländischen Dörfern wie in Grafenberg bei Metzingen in Baden-Württemberg sind heute längst keine Seltenheit mehr.

men oder Gymnasien, Professoren, Chefärzte oder namhafte Redakteure großer Zeitungen bis hin zu Bundeskanzlern und Bundespräsidenten. Keine schlechten Belege für

und Kontakte mit fernen Ländern. Ausländische Priester, die heute in vielen deutschen Dörfern tätig sind, sor-

Es wäre jedoch falsch, die Kehrseiten und Nachteile des

gen für internationale Partnerschaften. In meiner dörfli-

weltvernetzten und mobilen Dorfes zu verschweigen. Zu-

chen Heimatpfarrei sind von drei Geistlichen zwei Auslän-

nächst einmal entzieht die Urbanisierung und Globalisie-

der, einer kommt aus Indien, einer aus Polen. Die Aktion

rung dem Dorf immer wieder vor allem junge Menschen,

»Fairer Handel« der katholischen Kirche will kleine Pro-

die zur Ausbildung und aus beruflichen Gründen ihr Dorf

jekte in der Dritten Welt unterstützen und nebenbei auf die

verlassen müssen und auch nicht zurückkommen. Die öko-

geltende Weltwirtschaftsordnung aufmerksam machen,

nomische und kulturelle Globalisierung führt aber auch

die die reichen Länder bevorzugt und die ärmeren benach-

dazu, dass sich die bleibenden Dorfbewohner weniger mit

teiligt. Landfrauen- und Landjugendverbände unterstüt-

ihrem Ort beschäftigen und identifizieren als früher. Typi-

zen den Aufbau und Unterhalt von Schulen, Kindergär-

sche ländliche Lebensstile werden nach und nach aufgege-

ten, Waisenhäusern und Krankenstationen oder auch von

ben, wie beispielsweise die Kleintierhaltung oder der Gar-

gewerblichen Einrichtungen wie Maismühlen, Wind- und

ten- und Obstbau, die seit Menschengedenken zur dörfli-

Wasserkraftanlagen in Afrika und Südamerika.

196

die Kraft und Weltoffenheit des heutigen Dorfes.

chen Kultur gehören. Sie verlangen ständige Pflege und

Neben den Kirchen unterhalten auch zahlreiche länd-

Beobachtung und passen daher nicht mehr zusammen mit

liche Kommunen Partnerschaften mit ausländischen Ge-

dem ständig mobilen Dorfbewohner. Statt die Äpfel im ei-

meinden, wobei diese Kontakte meist von vereinsähnlichen

genen Garten zu ernten, werden nun auch auf dem Land

Arbeitskreisen getragen werden. Diese gemeindlichen oder

die überall verbreiteten Braeburn aus Neuseeland gekauft

auch dörflichen Partnerschaften gehen vorwiegend in

und konsumiert. Die ständigen »Welt-Kontakte« per Fern-

das europäische Ausland, bisweilen aber auch darüber hi-

sehen und Internet entziehen dem Dorf soziales Kapi-

naus. Selbst die ländlichen Volkshochschulen machen die

tal. So sind die früher häufigen Dorfkontakte vor allem in

Dorfbewohner fit für den Austausch der Kulturen – durch

den Dorfkneipen rapide zurückgegangen – viele Geschich-

Sprachkurse bis hin zu Russisch und Chinesisch, durch Stu-

ten aus dem eigenen Dorf bleiben unerzählt. Auch in den

Das moderne Dorf

Eine Volkstanzgruppe aus Portugal präsentiert sich im Sommer 2011 auf dem alten Klostergut Böddeken im Rahmen der Internationalen Jugendwoche, die der Kreis Büren/Paderborn seit 1954 im Zweijahresrhythmus durchführt.

Familien wird der Austausch zwischen den Generationen,

barkeit, der Ruhe und Entschleunigung, der Familie und

wie z. B. das Gespräch zwischen Großeltern und Enkeln,

seiner Geschichte. Das Dorf bleibt seine Basisstation für

durch den Medienkonsum weniger gepflegt als früher. Ein

seine Ausflüge in die Welt. Der Dorfbewohner von heute

Amerikaner, der seit 1978 in Deutschland lebt und seit 1985

denkt und handelt global, ist aber lokal verwurzelt und en-

in Alsweiler wohnt, formuliert die Gefahren der Globali-

gagiert. Er ist zugleich bodenständig und weltoffen. Multi-

sierung für das Dorf: »Deutschland verliert langsam seine

lokalität prägt sein Leben, ständig hält er sich – zum Ar-

Eigenschaften, den Charakter, diese schöne deutsche Kul-

beiten oder Einkaufen, zur Ausbildung oder Erholung – an

tur. Den Dialekt zum Beispiel, der stirbt langsam aus, genau

verschiedenen Orten auf. Dies gilt für Millionen von Men-

Klaus Brill zieht ein ähnliches Resümee

schen in Deutschland. Viele bekannte Sportler, Künstler,

seiner langjährigen Beobachtungen in seinem Heimatdorf:

Wissenschaftler, Politiker und Spitzenkräfte der Wirtschaft

»Die große Vermengung ist im Gange. Was nicht heißen

gehören dazu.

wie in Amerika.«

151

soll, dass alles Fremde abzuweisen wäre. Nur sollte man darüber nicht das Eigene verachten und untergehen lassen.«152 Generell weiß der Dorfbewohner auch als Globalist sein Dorf zu schätzen. Als Ort der Vertrautheit und Überschau-

Bevölkerung – Soziales – Kultur

197

E XKU RS

Wie die Kunst das Landleben darstellt

Das Dorf in Literatur, Malerei und Film

Kann die Kunst etwas zum Verständnis des Dorfes

Wie nehmen Wissenschaft und Kunst die Wirklichkeit ei-

beisteuern? Sehr wohl! In unzähligen Werken der Lite-

ner Landschaft oder eines Dorfes wahr? Wie stellen sie diese

ratur, der Malerei, der Musik, der Fotografie und des

Wirklichkeiten dar? Wer kommt schließlich der Realität

Films sind Dorf und Landleben dargestellt worden und

des Dorfes und des ländlichen Raumes näher? Eher die »ob-

prägen unsere Vorstellungen. Wer hat nicht den Lehrer

jektive« und nüchterne Bestandsanalyse und -beschreibung

Lämpel von Wilhelm Busch vor Augen, wenn vom alten

der Wissenschaft oder die ganzheitliche, auch sensitive Er-

Dorfschullehrer die Rede ist. Die Kunst hat mancherlei

fassung der Kunst, die sich in subjektiven, anschaulichen

Vorzüge gegenüber der Wissenschaft. Sie spricht die

und lebendigen Darstellungen widerspiegelt? Was bietet

Sinne an und will emotional sein: Sie zeigt uns z. B.

uns die Kunst, was die Wissenschaft nicht leisten kann?153

die Schwere oder die Heiterkeit des Landlebens mit intensiven Worten und Bildern. Sie stellt komplexe Zusammenhänge komprimiert dar: ob nun die Abhängigkeit des Bauern vom Viehhändler beim Tierverkauf oder den modernen Dorfbewohner als Globetrotter.

198

E X KU RS

Abbildung oben: Im ländlichen Murnau am Staffelsee fand Wassiliy Kandinsky seine Motive, die ihn zur gegenstandslosen Malerei anregten. Das Bild »Murnau – Kohlgruberstraße« von 1908 gehört zu den ersten Werken der Klassischen Moderne.

Die Wissenschaft versucht, ein Dorf nahezu ausschließ-

stehen. An Beispielen wird gezeigt, welche »Bilder« des

lich durch die Vernunft und mathematisch-exakte Metho-

Landes uns die Kunst von etwa 1800 bis heute vermittelt hat,

den zu erfassen. Zählungen und Messungen stehen im Vor-

deren Eindrücke und Aussagen oft weit über die Möglich-

dergrund: An einem Bachlauf werden z. B. die Fließge-

keiten der Wissenschaft hinausgehen.

schwindigkeit, die Temperatur und die Art und Dichte der

Literatur über das Leben auf dem Land gibt es seit der

Schwebstoffe zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten ge-

Antike. Sie beschreibt das Landleben in vielen Facetten,

messen. Im Dorf selbst wird das Gebäudealter, die Sozial-

geht auf sozioökonomische Veränderungen ein und nimmt

schichtung oder das Freizeitverhalten der Bewohner unter

höchst unterschiedliche Bewertungen vor. Sie schwankt

die Lupe genommen, in der Landwirtschaft hingegen der

zwischen realitätsgerechter Darstellung einerseits und

Viehbesatz, die Betriebsgröße und die Zahl der Beschäftig-

Nostalgie und Utopie andererseits. Sie preist das Landle-

ten nachgefragt. Die sinnhafte Wahrnehmung durch Auge,

ben als Idylle oder verlorenes Paradies, als Ort der Wertebe-

Ohr, Nase und Tastsinn sowie alle Arten menschlicher

wahrung gegen Fortschritt und Moderne, als Ort der Selbst-

Empfindungen werden in der Wissenschaft meist ausge-

findung und Heilung. Sie zeichnet das Land aber auch als

klammert. Wissenschaft will nach methodisch festen Re-

Ort der Enge und Zurückgebliebenheit, der Zerstörung und

geln möglichst eindeutig klären und darstellen. Deshalb

Brutalität, der Armut und sozialen Ungerechtigkeit, der

wählt sie meist spezielle Themen aus, greift Einzelheiten

folkloristischen Kulisse und des Heimatkitsches.154

heraus und befasst sich weniger mit ganzheitlichen Fragen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckte die »Bildungs-

Das heißt, Wissenschaft erfasst die Wirklichkeit in der Re-

schicht« in den Städten ihre Vorliebe für das Landleben.

gel nur partiell. Den objektiven Methoden entsprechend, ist

Bauern und Dörfer wurden nun zunehmend positiv bewer-

die Darstellung der wissenschaftlichen Analysen häufig ge-

tet und dargestellt (die zuvor beliebte Charakterisierung des

kennzeichnet durch lange Tabellen und abstrakte Grafiken,

Bauern als derber Tölpel schwächte sich ab), was den Ideen

durch eine formelhafte und (dem Laien) kaum verständ-

der Aufklärung und Romantik entsprach. Einige Schrift-

liche Sprache.

steller verherrlichten das Landleben und gelten als »Idyl-

Was vermag also die Kunst im Vergleich zur Wissen-

lendichter« wie Salomon Geßner und Friedrich Müller, ge-

schaft? Kunst darf und will emotional und subjektiv sein.

nannt »Maler Müller«. Die Dichter der Romantik wie Ei-

Sie spricht neben dem Verstand vor allem auch die Sinne

chendorff oder Mörike haben uns zahlreiche Gedichte und

an, d. h. den ganzen Menschen mit all seinen Gedanken

Lieder überliefert, die den Aufenthalt in Natur und schö-

und Empfindungen. Kunst ist selten eindeutig wie man-

ner Landschaft in wunderbaren Versen preisen. Viele davon

ches Ergebnis der Wissenschaft, sie lässt an einem Ereignis

sind bis heute ein Teil unserer Volkskultur: »O Täler weit, o

oder Objekt vielfältige Beobachtungen und Auswertungen

Höhen, o schöner grüner Wald.« Oder: »Am Brunnen vor

zu. Die Kunst spricht – mehr als die Wissenschaft – kom-

dem Tore, da steht ein Lindenbaum.«

plexe Themen an wie z. B. Armut oder Reichtum, Aufstieg oder Verfall eines Landes oder Dorfes, die wohltuende Wirkung eines Baches am Abend oder eines Waldes am Morgen.

Am Walde

Eduard Mörike

Die Kunst hat viele Möglichkeiten, die »Dorfbilder« darzustellen: wirklichkeitsnah, übersteigert oder gar verfrem-

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,

det, um die Menschen zu fesseln, zu erfreuen, zu verstören,

Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;

zu warnen, zu belehren und generell zum Nachdenken an-

Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen

zuregen. Die Kunst zeigt, weckt und stillt Sehnsüchte der

Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

Menschen, aber auch deren Sorgen und Ängste, was die Wissenschaft nur begrenzt leisten kann. In der Kunst gibt es eine lange Tradition, sich mit dem

Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage, Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,

Dorf und dem Landleben zu befassen. Hier sollen die Lite-

Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,

ratur, die Malerei und der Film im Fokus der Betrachtung

Wo ich auf eigne Weise mich behage.

E X KU RS

199

Und wenn die feinen Leute nur erst daechten,

der, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache;

Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,

das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.

Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.

Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Reiche aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am

Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten

Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das

Sich wie von selber unter meinen Haenden,

Leben der Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren

Indes die Augen in der Ferne weiden.

seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Reichen.«156

Andere Schriftsteller beschrieben das Landleben realisti-

Sehr realistische Dorfbeschreibungen entstanden vor al-

scher, und ihre Texte lesen sich wie eine volkskundliche

lem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie finden

Skizze. Ein Beispiel ist die Novelle »Die Judenbuche – Ein

sich u. a. bei Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Theodor

Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen« von An-

Storm, Berthold Auerbach, Peter Rosegger, Ludwig Gang-

nette von Droste-Hülshoff aus dem Jahr 1842. Hier der Be-

hofer, Friedrich Hebbel, Theodor Fontane und Wilhelm

ginn der Erzählung:

Raabe. Erzählungen wie »Romeo und Julia auf dem Dorfe«

»Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn ei-

von Gottfried Keller oder »Stopfkuchen« von Wilhelm

nes sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers ge-

Raabe vermitteln ein dichtes Bild des Dorfinnenlebens und

ringer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rau-

lesen sich fast wie moderne soziologische Dorfstudien.

chig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt

Die kurze Novelle »Die Kuh« (1849) von Friedrich Heb-

durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der

bel wirft einen sehr realistischen wie düsteren Blick auf das

grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschicht-

Dorfleben und die Armut der kleinen Leute: Der Kleinst-

lich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen, dem es an-

bauer und Tagelöhner Andreas, der als Zugtiere zwei Esel

gehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwin-

im Stall hat, ist gerade dabei, vom Lohn seiner jahrelan-

kel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch

gen Tagelöhnerarbeiten eine Kuh zu erwerben. Immer wie-

ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte und eine Reise von

der zählt er die dafür benötigten Talerscheine. Der Höhe-

dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses sei-

punkt seines Arbeitslebens steht kurz bevor. Er führt einen

ner Gegend machte – kurz, ein Fleck,

kurzen Dialog mit seinem dreijähri-

wie es deren sonst so viele in Deutsch-

gen Sohn: »Noch heute erhalten un-

land gab, mit all den Mängeln und Tu-

sere beiden Esel Gesellschaft. Dein Va-

genden, all der Originalität und Be-

ter hat’s endlich so weit gebracht, die

schränktheit, wie sie nur in solchen

Kuh ist schon unterwegs! Du musst das

Zuständen gedeihen.«

Pferd schaffen, wenn du groß wirst!

155

Nicht wenige Dichter nahmen Stel-

Hörst du?« Das Kind nickte, obwohl es

lung zur ökonomisch und rechtlich

den Sinn noch nicht verstehen konnte.

prekären Lage der Landbevölkerung

Die Vision des Vaters geht also bereits

gerade in den 1830er und 1840er Jah-

auf die nächste Generation über, die den

ren. Sie wollten wachrütteln und zum

Sprung zum Pferd schaffen und es da-

politischen Umbruch aufrufen (der ja

mit besser haben soll. Da bricht drama-

mit der Landrevolution von 1848 ein-

tisch das Unheil herein: Der kurzfris-

geleitet wurde). Ein Beispiel ist »Der

tig unbeaufsichtigte Kleine zündelt alle

hessische Landbote« von Georg Büch-

sauer verdienten Talerscheine am of-

ner aus dem Jahr 1834, hier ein kleiner

fenen Talglicht zu Asche. Der zurück-

Auszug: »Das Leben der Reichen ist ein

kehrende Vater sieht sein Lebenswerk

langer Sonntag: sie wohnen in schö-

zerstört, gerät außer sich und wirft das

nen Häusern, sie tragen zierliche Klei-

Kind an die Wand und nimmt sich den Ein literarischer Paukenschlag gegen das Versagen der Politik auf dem Land (S. 202).

200

E X KU RS

In seinem Gemälde »Angelusläuten« (1857–1859) vermittelt uns Jean François Millet die Kargheit und Frömmigkeit des Landlebens.

Strick, der für die Kuh bestimmt war. Und die mit der Kuh

hin zu Tradition und Volkstum, und richtete sich gegen al-

ankommende Ehefrau trifft auf den toten Sohn und Mann

les Moderne und Fortschrittliche, das als dekadent verwor-

und das inzwischen brennende Haus, in dem schließlich

fen wurde. »In diesem Rahmen gelten dörfliche Lebensfor-

auch sie und die Kuh umkommen. Was wollte der Dich-

men als organisch, gewachsen und gesund, städtisch-indus-

ter vermitteln? Vielleicht eine wahre Begebenheit. Aber si-

trielle dagegen als ungesund, künstlich und konstruiert.

cherlich auch ein Stück Hoffnungslosigkeit in der breiten

Die Opposition Dorf-Stadt wird weiter verstärkt. Während

Masse der damaligen Landbevölkerung, die noch dem heu-

in der Stadt Sünde und Verfall herrschten, hielt das Dorf an

tigen Leser unter die Haut geht.

Sitte und bewahrender Tradition fest: die Rettung von Volk

157

Um 1900 entstand die »Heimatkunst«, eine zugleich literarische und politische Bewegung, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam blieb. Sie wandte sich rückwärts,

und Nation sei nur durch eine erneuerte und feste Bindung an diesen Lebensraum möglich.«158 Erst die 1960er und 1970er Jahre brachen mit dem ein-

E X KU RS

201

Das Bild »Bauernfamilie« des Malers Theodor Schüz von 1861 zeigt uns das Landleben als Idylle. Nicht Armut und Sorgen herrschen vor, sondern Wohlstand und Zufriedenheit.

seitig positiven Bild vom Dorfleben. Dorf und Heimat wurden in der Literatur nun als eng und rückständig dargestellt.

Den jüngsten Paukenschlag zur Land-Literatur setzte der

Doch inzwischen sind diese Begriffe auch in der Kunst

erst 24-jährige Autor Lukas Rietzschel mit seinem von den

längst wieder rehabilitiert worden. Viele Schriftsteller le-

überregionalem Medien vielbeachteten und hochgelobten

ben heute in kleinen Dörfern und beschreiben in Büchern

Debütroman »Mit der Faust in die Welt schlagen« (2018).

Andere erinnern sich an ihre Jugend

Im Mittelpunkt steht das trostlose Aufwachsen zweier Brü-

im Dorf oder in der Kleinstadt und verarbeiten dies in ih-

der in der sächsischen Lausitz, wo das Leben in den Dör-

ren Werken. So thematisiert der aus der hessischen Provinz

fern und Kleinstädten von Landflucht, Leerstand und Ver-

stammende und heute in Berlin lebende Autor Florian Il-

fall geprägt ist. Für die zuständige Politik und deren Versa-

ihre Landsehnsucht.

202

rinnen.

159

lies in dem Roman »Ortsgespräch« (2006) seine Liebe zum

gen empfindet der Autor nur Ohnmacht und Zorn: »Dieses

(früheren) Landleben. Dörte Hansen thematisiert in ihren

ganze eingefallene, verlassene Zeug. Untergegangene, trau-

einfühlsamen Romanen »Altes Land« (14. Aufl. 2015) und

rige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leer-

»Mittagsstunde« (2018) das Landleben mit seinen vielfach

stand. Die Schulen, die sie schlossen, die Sparkassen und

schmerzlichen Umbrüchen in die Moderne und gehört da-

Arztpraxen, die Kreise, die sie zusammenlegten, die Ge-

mit derzeit zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstelle-

meinden und Städte. Die Wege werden länger, die Ent-

E X KU RS

fernungen größer. Für Griechenland war Geld da gewesen und für unnötige Umgehungsstraßen. Schnellstraßen, damit niemand mehr durch die traurigen Orte fahren musste.« Die Lethargie und Verzweiflung der Brüder schlägt in dem Moment – dramatisch wirksam – in Wut und Hass um, als die bis dahin nicht präsente und untätige Politik die lokale, leerstehende und verfallende Grundschule als Flüchtlingsunterkunft wiederbeleben will: »Diese Schule kriegen sie nicht. Niemals! Das ist unsere Heimat!« Der Roman rüttelt auf, geht unter die Haut. Wie die Literatur entdeckte auch die Malerei um 1800 die bäuerlich-ländliche Welt. Dabei ging es nicht in erster Linie um eine realistische Darstellung des Dorfes und seiner Umgebung – die Bilder sind eher als Kommentare oder Visionen zum Land zu sehen. So stammten die Künstler fast immer aus der Stadt und waren akademisch ausgebildet. Ulrich Schütte fasst seine vorzügliche Untersuchung über das dörfliche Leben in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts zusammen: »Das problematische Verhältnis zwischen Stadt und Land bestimmt auch die Bilder der Künstler, deren Werke nur teilweise als Dokumente bäuerlichen Lebens zu lesen sind. Die Bilder sind von Wünschen, Interessen und mentalen Haltungen wie auch von Sympathie und Engagement der Künstler geprägt, die einem städtischen Mi-

Der in Paris lebende russische Maler Marc Chagall verwendete in seinen Bildern immer wieder Motive aus seinem Heimatdorf Witebsk, wie hier in dem fast biographischen Bild »Ich und das Dorf« von 1911.

lieu entstammen.«160 Einer der bekanntesten Maler des frühen 19. Jahrhunderts war der in Berlin geborene und in

Aber auch das Leben der Bauern wird in vielen Bildern

Dessau tätige Carl Wilhelm Kolbe. Seine Dorf- und Land-

des 19. Jahrhunderts dargestellt.162 Häufig kommt darin

schaftsdarstellungen sind, angeregt vom Schweizer Maler-

Harmonie und Zufriedenheit mit den Lebensumständen

poeten Salomon Geßner, eher Idylle und Vision als realis-

zum Ausdruck – so z. B. auf dem Bild »Bauernfamilie«

tisch: Eine überaus üppige Baum- und Pflanzenvegetation

(1861) von Theodor Schütz. Hier zeigt sich die große Bau-

wird zum Lebensraum liebeshungriger Faune und Nym-

ernfamilie am Feldrand versammelt zu Gebet und Mittags-

phen und urwüchsigen Getiers. Das Land ist hier nicht der

pause. Einen eher sozialkritischen Unterton verbreitet das

locus amoenus, der liebliche Ort, »sondern eine strotzende

Bild von Jozef Israels »Das kärgliche Mahl« (1876), in dem

leidenschaftliche Urwelt-Natur, in der der Mensch seine ei-

eine ärmliche, enge und dunkle Bauernstube mit Eltern,

genen Triebe und Emotionen gespiegelt sieht«.161

Kindern und Kleinvieh dargestellt wird. Im Bild »Kuhhan-

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203

del« (1908) von Ernst Würtenberger verstärkt sich die sozi-

perary« im Herbst 2008 in der Galerie Contemporary Fine

alkritische Aussage. Die Situation der kleinen Bauernfami-

Arts am Kupfergraben in Berlin erschien erstmals das groß-

lie, die beim Verkauf ihrer Kuh von der Willkür des Vieh-

formatige Bild »Bound« (3,20 × 2,20 m groß! 2008): Über ei-

händlers abhängig ist, erscheint hoffnungslos. Auch von

nem idyllischen Dorf fliegt bzw. wandert ein Junge durch

Marc Chagall (1887–1985) sind zahlreiche Dorfbilder be-

die Luft, gefesselt an eine große Weltkugel. Zwei »Welten«

kannt. Immer wieder brachte er sein russisches Heimat-

also in einem Bild. Der Titel »Bound« bedeutet und signa-

dorf Witebsk ins Bild, das er 1910 in Richtung Paris verlas-

lisiert sowohl Sprung als auch Erdverbundenheit. Man ist

sen hatte. Markante Beispiele sind »Ich und das Dorf« und

geneigt, an den Dorfbewohner als Globetrotter zu denken,

»Rußland, den Eseln und den anderen«, beide aus dem Jahr

der sein Dorf vor Augen hat, aber offenbar nicht in diese

1911. Chagall gibt eine knappe wie klare Begründung seiner

Idylle zurück kann, wo er Frieden, Heim und Stabilität fin-

Dorfmotive: »Der Boden, der die Wurzeln meiner Kunst ge-

den und sich ausruhen könnte. Er bleibt an die Globalisie-

nährt hatte, war Witebsk. Ich war begeistert von dem, was

rung gebunden.164 Auch moderne Karikaturen stellen im-

ich in Paris sah. Aber meine Begeisterung kehrte zu ihrem

mer wieder das Landleben dar. Durch ihre Übertreibungen

Ausgangspunkt zurück.«

oder Vereinfachungen gelingt es ihnen, komplexe Zusam-

163

Auch die moderne zeitgenössische Malerei setzt sich mit dem Dorf auseinander. Zur Avantgarde in Berlin gehört

menhänge von Dorfgefühlen oder Dorfpolitik in einem einzigen Bild zu veranschaulichen.

inzwischen der aus einem westfälischen Dorf stammende

Zuletzt ein kurzer Blick auf den Film. Das Land erscheint

Uwe Henneken. In einer großen Ausstellung »Tiptoe to Tip-

im deutschen Film vor allem im sog. »Heimatfilm«. Dörfliche Gemeinschaft und eine schöne, unberührte Landschaft bilden die Kulisse für eine melodramatische Liebesgeschichte, wobei das ländliche Leben generell harmonisch dargestellt wird und ein Happy End nicht fehlen darf. Der Heimatfilm erfreute sich besonders in den 1950er Jahren einer großen Beliebtheit, hatte aber seine Vorläufer in den 1920er und 1930er Jahren.165 Zwischen 1947 und 1960 gehörten durchschnittlich 20 % der deutschsprachigen Urund Erstaufführungen dem Heimatfilm an. Nach den Erschütterungen und Zerstörungen durch die Weltkriege hatten die Menschen Sehnsucht nach einer heilen und unzerstörten Welt, die man auf dem Land vorfand. Am erfolgreichsten war der Film »Grün ist die Heide« von 1951 (Regie: Hans Deppe), der 1953 mit einem Bambi für den »gesellschaftlich erfolgreichsten deutschen Film 1952« ausgezeichnet wurde. Die in einem Dorf in der Lüneburger Heide spielende Geschichte (sie hätte problemlos auch im Allgäu oder Rheinland spielen können) zeigt die für den Heimatfilm dieser Zeit typischen Themen und Bilder: die Dorfschenke, das Pfarrhaus, den Schützenplatz, Schafherden mit Hirten in der Heidelandschaft, das Wildern als Konflikt, das Flüchtlingsmotiv, der Stadt-LandGegensatz. Die Dorfbewohner sind auf Typen reduziert. So ist der schwarz gekleidete, Dialekt sprechende Pfarrer vor seinem schmucken Pfarrhaus bei der Gartenarbeit zu sehen. Das Dorf wird als einfache und traditionsgebundene Le-

Das Ölbild »Bound« von Uwe Henneken zeigt uns den modernen Menschen, der offenbar an die globale Welt gebunden bleibt.

204

E X KU RS

bensform idealisiert. Im Kontrast dazu wird die Großstadt als Ort der Wurzellosigkeit der Menschen negativ gezeichnet. Krönender Abschluss des Films ist ein von Einheimischen und Flüchtlingen gefeiertes Schützenfest. Ab den späten 1960er Jahren entstanden völlig andersartige Filme über das Land, die man als »linke«, »neue« oder »kritische Heimatfilme« bezeichnet.166 Das Dorf wird nun nicht mehr idyllisiert, sondern als Ort sozialer Zwänge und starrer Schichten und Machtstrukturen geschildert. Beispiele sind die Filme »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach« (1970, Volker Schlöndorff) und »Paule Pauländer« (1975, Reinhard Hauff). Wie eine Zusammenfassung des traditionellen und des »linken« Heimatfilms sieht Korsch die elfteilige Familien- und Dorfchronik »Heimat« (1984, Edgar Reitz), in der die Geschichte eines fiktiven Dorfes »Schabbach« im Hunsrück von 1919 bis 1982 erzählt wird. Phasenweise wird hier mit stimmungsvollen Bildern eine dörfliche Idylle aufgebaut, die jedoch immer wieder zerstört wird. Ein Resümee der doch relativ überschaubaren Phasen deutscher Dorffilme in den zurückliegenden Jahrzehnten, formuliert treffend Bettina Korsch: »Die künstlerisch belanglosen Heimatfilme der fünfziger Jahre siedelten ihre fiktiven Geschichten vornehmlich in der Provinz an. Jedoch war es nicht ihr Anliegen, Dorf als realen Raum wahrzunehmen. Vielmehr verklärten sie mit entsprechenden Bildern ländliches Leben zu einer illusionären Idylle. Die ›linken‹ Heimatfilme der siebziger Jahre zerstörten diese Idylle.

Schon das Plakat des erfolgreichen Heimatfilms »Grün ist die Heide« von 1951 macht das Filmmotiv deutlich: harmonisches Landleben in schöner Landschaft.

Das Dorf wurde als Ort sozialer Enge beschrieben, dem es zu entfliehen galt. Seit den achtziger Jahren zeichnet sich

lich von Bremen, Ahrenshoop auf der Halbinsel Darß an

schließlich im bundesdeutschen Spielfilm ein unkompli-

der Ostsee und Murnau am Staffelsee am Fuße der Alpen.

zierter Umgang mit der Provinz ab.«167�

Auch Wilhelm Leibl, der berühmte Münchner Maler aus

Die Kunst hat eindrucksvolle und einfühlsame Ge-

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ließ sich in seinen

schichten und Bilder vom Dorf und Landleben hervorge-

letzten Schaffens- und Lebensjahren im oberbayerischen

bracht. Sie hat uns erfreut und nachdenklich gemacht, auf-

Dörfchen Kutterling nieder. 1878 schrieb er seiner Mutter:

geklärt und wachgerüttelt, umgarnt und getäuscht. Sie hat

»Ich habe die Berühmtheit satt und freue mich, in der Stille

unsere Vorstellungen vom Land mitgeprägt. Sie hat unse-

des Landlebens ein anderes Bild anzufangen und mit Fleiß

ren Horizont erweitert, uns aber auch auf Fährten gelockt,

und Bescheidenheit auszuführen. Die ewige Lobhudelei

die weniger von Realität als von Bildungsabsichten, Nostal-

und das geräuschvolle Treiben der Welt sind nicht dazu an-

gie oder Visionen bestimmt waren.

getan, mir in der Ausübung meiner Kunst zu nützen.«168

Eine interessante Beobachtung ist es, dass Künstler aus der Stadt immer wieder – bis in die Gegenwart – zu längeren Aufenthalten das Land aufgesucht haben. Bekannte Beispiele sind die Dörfer Worpswede am Teufelsmoor nörd-

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205

Gestalt der Kulturlandschaft

Einführung Die ländliche Kulturlandschaft hat äußerst vielfältige

Unsere Vorfahren haben bereits alle Naturräume unseres

und überwiegend schöne Gesichter. Diese erfreuen Land-

Landes genutzt und besiedelt: So entstanden die Fischerdör-

bewohner und Städter in gleicher Weise und regen nicht

fer an den Küsten und auf den Inseln der Nord- und Ostsee,

selten Maler, Bildhauer, Dichter, Musiker und Philosophen

die Moor- und Marschhufendörfer im deutschen Nordwes-

zu großartigen Schöpfungen oder Ideen an. Die natürlich

ten, die Lössbördendörfer am Nordrand der Mittelgebirge

vorhandenen Ressourcen und deren Nutzung durch die

und auf den süddeutschen Gäuflächen sowie die meist eng

Menschen haben die ländlichen Siedlungen und Fluren ge-

bebauten und oft in Hanglage errichteten Dörfer der Mittel-

prägt. So sind in langen historischen Prozessen die unter-

gebirge. Da man beim Bauen früher die lokal und regional

schiedlichen Dorflagen und -größen sowie Dorf-, Bauern-

anstehenden »Gesteine« nutzte, entstanden die verschiede-

haus- und Flurformen entstanden.

nen Baumateriallandschaften. Im norddeutschen Tiefland

Zahlreiche regionale Kulturlandschaften haben sich he-

dominieren – neben den Graniten und Gneisen aus eiszeit-

rausgebildet und ihr eigenes typisches Gepräge bis heute

lichen Ablagerungen – die roten Backsteine aus dem ge-

bewahrt. Große Teile des nordwestdeutschen Tieflandes in

brannten Lehm der Region. In den Dörfern und Weilern

Niedersachsen und Westfalen sind von markanten Einzel-

der Mittel- und Hochgebirge können wir die typischen re-

hofsiedlungen geprägt, die wie kleine Trutzburgen inmit-

gionalen Farben der Natursteine beobachten und dabei den

ten ihrer Felder liegen. In vielen Regionen Deutschlands do-

geologischen Untergrund ablesen.

minieren die großen und kleinen, locker oder eng bebauten

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die meisten Dör-

Haufendörfer, die mit ihrem labyrinthischen Straßen- und

fer einen Modernisierungsschub erhalten und dabei auch

Wegenetz schon manchen Besucher verwirrt haben. Da-

manche überlieferten Formen verändert oder verloren. So

neben gibt es zahlreiche Regionen mit den regelmäßigen

sind die Neubausiedlungen am Dorfrand zur zweiten dörf-

Grundrissen der Rundlinge, Anger-, Straßen- oder Schach-

lichen Realität geworden. Durch Gebäudemodernisierun-

brettdörfer. Im nordostdeutschen Tiefland, insbesondere

gen, Straßenausbauten und staatlich geförderte »Dorfsa-

in Mecklenburg-Vorpommern, haben sich trotz mancher

nierungen« in den 1960er und 1970er Jahren ist ein Groß-

Brüche zahllose typische Gutsdörfer erhalten. Neben den

teil der historischen Bausubstanz in den Dörfern beseitigt

Dorfformen unterscheiden wir rund 20 Bauernhaus- und

worden. Seitdem ist die Wertschätzung der ländlichen Bau-

Gehöfttypen wie das Norddeutsche Hallenhaus, das Frän-

kultur allerdings wieder gestiegen. Außerdem wird die ma-

kische Gehöft oder das Schwarzwaldhaus. Auch das Aus-

terielle Agrarkultur inzwischen in zahlreichen Freilicht-

sehen der Flur ist in Deutschland, vor allem bedingt durch

museen in allen Regionen Deutschlands vorbildlich do-

die früher jeweils vorherrschenden Erbgewohnheiten, sehr

kumentiert und den Besuchern durch Aktionen wie das

unterschiedlich ausgeprägt. So dominieren im deutschen

»Lebende Museum« nahegebracht. In den Dörfern selbst

Südwesten immer noch die kleingekammerten Flurformen,

droht allerdings eine neue Gefahr: Fast in allen deutschen

ansonsten die großen, zusammengelegten Feldflächen.

Regionen sind gerade die alten und das Dorfbild prägenden Gebäude der Dorfkerne zunehmend vom Leerstand betroffen und damit vom Verschwinden bedroht. Ist dies der Beginn der Dorfauflösung oder gibt es Chancen durch Um-

Abbildung Seite 206/207: In ihrem Oberlauf windet sich die Weser in großen Bögen durch das Weserbergland, landschaftlich sehr reizvoll liegen sich hier die Dörfer Rühle und Pegestorf in Hang- und Tallage gegenüber.

208

Das moderne Dorf

nutzung? Das immer noch reiche bauliche und natürliche Erbe des ländlichen Raumes ist ein Auftrag an die heutige Generation zum nachhaltigen Handeln.

Vom Reiz der Dorflage Die Einbettung der Dörfer in die Landschaft

Wie unterschiedlich präsentieren sich unsere Dörfer in der Landschaft! Viele verstecken sich in einem Tal, nur

– Die Einbettung des Dorfes in die Landschaft, z. B. in einem Tal oder auf einer Bergkuppe.

der Kirchturm weist von Weitem auf eine Siedlung hin.

– Die Orte des »ersten Erkennens« an den wichtigen Zu-

Andere wiederum liegen majestätisch auf einem Berg.

gängen – das sind Stellen in der Landschaft, an denen

Nicht selten schmiegen sich Dörfer wie zum Schutz

man eine Siedlung zum ersten Mal sehen kann. Meist

an den Rand von Wäldern. Wieder andere befinden

sind diese Orte dort, wo die Wegführung sich ändert, z. B.

sich weithin sichtbar auf großen Ebenen inmitten ihrer

wenn man aus einem Wald herauskommt oder über eine

Feldflächen. Die Lage eines Dorfes prägt das Dorfbild

Kuppe fährt und der Weg sich senkt oder wenn man um

wie das Leben seiner Bewohner. Und es sagt uns

eine Kurve kommt. An diesen Stellen entsteht der erste

manches über die Motive der Siedlungsgründer, aber

Eindruck, den man beispielsweise als Fremder von einer

auch über die früheren technischen Möglichkeiten und

Siedlung hat. Deswegen sind diese Stellen in der Land-

politischen Verhältnisse.

schaft von besonderer Wichtigkeit. – Die Übergänge von der Landschaft in die Siedlung, z. B.

Wir schauen auf die topographische Lage des Dorfes, seine

durch Hecken oder Alleen.

Einbettung in den Naturraum. Wo haben unsere Vorfah-

– Die Gliederung des Weges bis zur Mitte: von der Land-

ren ihre Dörfer platziert? Dies ist das ureigene Betrach-

schaft über die Haupt- und Nebenstraßen zu den Plätzen,

tungsfeld der Historischen Geographie. Aber auch der be-

Höfen und Häusern.

kannteste Architekturprofessor für das ländliche Bauen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, Wilhelm Landzet-

Wie kam es dazu, dass sich in unserem Land so unterschied-

tel, hat uns die Wichtigkeit der Dorflage gelehrt. In wun-

liche Dorflagen herausgebildet haben? Dafür gibt es unter-

derschönen Büchern wie »Wege und Orte« (1977) hat er uns

schiedliche Gründe. Deutschland hat sehr verschiedenar-

gezeigt, dass man sich Dörfer am besten (topographisch) er-

tige Naturräume – die diversen Tief- und Bergländer, Mit-

schließt, wenn man sich ihnen – wie er selbst auf Reisen

tel- und Hochgebirge, Küsten und Inseln, Feuchtgebiete

durch Hessen, Niedersachsen und Bayern getan hat – in der Landschaft zu Fuß oder mit dem Fahrrad annähert. Vier Aspekte sind dabei für Landzettel von Bedeutung:169

Abbildung oben: Auf einer Basaltkuppe gelegen sitzt das Dorf Stornfels in typischer Bergspornlage wie auf einem Thron über der Landschaft der Wetterau.

Gestalt der Kulturlandschaft

209

Annäherung von Gronau-Barfelde: Erst im Winter sieht man den Kirchturm in der Achse der Straße und die Bäume auf der Kuppe hinter dem Dorf.

Annäherung von Eberholzen: Das Dorf vor dem Hintergrund der talbegleitenden Berge. Links der Aussiedliungshof, rechts der Hahmbach mit seinen Bäumen und der schöne Kirchturm.

Landschaftsarchitekt Wilhelm Landzettel skizziert und beschreibt seine unterschiedlichen Annäherungen an das Dorf Eitzum in Südniedersachsen.

und trockenen Standorte sind in der Vergangenheit flä-

ferne Dörfer hatten ständige Transport- und Speicherpro-

chenhaft und fast gleichmäßig wirtschaftlich genutzt und

bleme zu bewältigen. Allerdings konnte allzu große Was-

besiedelt worden. Unsere Vorfahren haben dabei ihre Sied-

sernähe auch Nachteile mit sich bringen, z. B. eine perma-

lungen jeweils den unterschiedlichen Naturbedingungen

nente Hochwassergefahr im Auenbereich der Flüsse und

angepasst. Sie haben aber zu verschiedenen Zeiten auch

Bäche. Deswegen mieden zumindest die älteren Dorfgrün-

sehr unterschiedliche Lagevorteile geschätzt. Diese wandel-

dungen den unmittelbaren Hochwasserbereich für ihren

ten sich mit den politischen Rahmenbedingungen, den je-

Siedlungsplatz. Die Wasserlage prägt wohl die meisten deut-

weiligen Nutzungsinteressen oder den technischen Mög-

schen Dörfer. Wilhelm Landzettel lässt in seiner Beschrei-

lichkeiten. In der Zusammenschau der verschiedenen Sied-

bung eines Wasserdorfes erkennen, wie sehr der Strom das

lungslagen und ihrer sich wandelnden Gründungsmotive

Leben der Bewohner bestimmt: »Oedelsheim an der Weser

lassen sich verschiedene Lagetypen feststellen.

faszinierte mich durch den Strom: In das Wasser schauen

Die naturräumliche bzw. topographische Lage bezieht

210

und dieses mit unaufhaltsamer Kraft lautlos dahinfließend

sich vor allem auf das Relief, die Lage am Wasser sowie

als stets sich verändernde und doch immer gleich bleibende,

auf das Klima, den Boden und die Vegetation. Besonders

unbegreifliche Macht zu erkennen – wer könnte sich dem

augenfällig ist in der Regel die Relieflage. Dörfer treten

entziehen? Das Dorf mit etwas über tausend Einwohnern ist

in Tallage, Hanglage, Terrassenlage, Hügellage, Mulden-

geprägt durch die Landwirtschaft und die Weserschifffahrt.

lage, Kammlage, Passlage oder Spornlage (Bergvorsprung

Ein Teil der Felder liegt auf der anderen Flussseite. Die Bau-

zwischen zwei oder drei zusammenlaufenden Tälern) in

ern setzen Schlepper und Wagen mit der Fähre über; es gibt

Erscheinung. Nicht selten verbinden sich zwei oder meh-

keine Siedlung auf der anderen Seite, und so ist die Begeg-

rere Reliefmerkmale in einer Siedlung. So sind viele Dörfer

nung zwischen Dorfraum und Strom eine innige und ele-

hinsichtlich ihrer Relieflage zweigeteilt: Sie haben ein im

mentare. Der Anleger für den Weserdampfer ist Ankunfts-

Tal gelegenes Unterdorf und ein sich auf einem Hügel oder

und Abschiedsort. Ein Gasthaus mit schönem Garten und

Bergsporn anschließendes Oberdorf.

großen Bäumen lädt zum Verweilen ein.« 170

Die Lage bzw. Nähe zum Wasser war für die meisten länd-

Die optimale Lage (»Gunstlage«) im Rahmen des lokalen

lichen Siedlungen das wichtigste Gründungsmotiv. Wasser

Kleinklimas ist bei vielen – vor allem älteren – Dörfern er-

wurde täglich von Mensch und Tier gebraucht, und wasser-

kennbar. So wurden in der Regel die stärker besonnten Tal-

Das moderne Dorf

Die Lage am Wasser bietet Vorteile und Gefahren zugleich. Dörfer in Seelage, wie hier Gmund am Tegernsee in Oberbayern, lebten früher teilweise vom Fischfang, und heute nicht selten vom modernen Tourismus.

hänge und Hügel für Siedlungsplätze bevorzugt, wie auch

Schwäbischen und Fränkischen Alb. Hier war die Größe

die geschützten Standorte im Windschatten von Höhenzü-

einer Siedlung, die Zahl der dort lebenden Menschen und

gen oder Wäldern. Die Lage an guten Böden, vor allem die

vor allem die Zahl der Nutztiere bis ins 20. Jahrhundert da-

Nähe zu wertvollem Ackerland, spielte bei Dorfgründun-

von bestimmt, wie viel Wasser sich in Zisternen sammeln

gen generell eine wichtige Rolle. Sie hatte jedoch weniger

ließ oder in den Regenwasserteichen – in den »Hülen«, wie

Gewicht als die vorrangig gesuchte Nähe zum Wasser.

man sie auf der Schwäbischen Alb nennt. Mit zunehmen-

Die Lagefaktoren sind in der Vergangenheit von den

den technischen Innovationen, z. B. im Brunnen- und Was-

Siedlern sehr unterschiedlich bewertet und genutzt wor-

serleitungsbau, verlor der Lagefaktor Wasser seine beherr-

den. So ist die direkte Lage am Wasser (außerhalb der Hoch-

schende Bedeutung. Die modernen Aussiedlungen land-

wassergefährdung) ein prägendes Merkmal der frühmit-

wirtschaftlicher Betriebe im 20. Jahrhundert konnten daher

telalterlichen Siedlungen. Gerade bei Klostergründungen,

völlig unabhängig von der Wasserlage in ökonomisch sinn-

die meist sehr strategisch geplant wurden, legte man den

voller direkter Nachbarschaft zu den bewirtschafteten Bö-

größten Wert auf eine unmittelbare Wassernähe. Wasser-

den realisiert werden.

arme Gebiete waren generell dünn besiedelt. Besonders pre-

Berg- oder Spornlagen auf Anhöhen über den Talhän-

kär und wachstumshemmend war die schlechte Wasserlage

gen von Flüssen und Bächen wurden besonders in den poli-

der Dörfer auf den Hochflächen der Karstgebiete, z. B. der

tisch unruhigen Zeiten des Hohen und Späten Mittelalters

Gestalt der Kulturlandschaft

211

schuh für die weitere Siedlungsentwicklung. Dennoch prägen die topographisch markant gelegenen Berg- und Spornsiedlungen des Hohen und Späten Mittelalters bis heute das Bild vieler Regionen. Schöne Beispiele sind, jeweils auf einem Basaltkegel gelegen, die Kleinstadt Amöneburg bei Marburg oder das Dörfchen Stornfels in der Wetterau. Wilhelm Landzettel erklärt uns mit knappen Worten die Vorzüge der an die Topographie angepassten Dörfer und damit generell des Bauens mit der Natur: »Unsere Vorfahren hatten schon aus Kostengründen keine Chance, gegen die Natur zu bauen. Jede Veränderung der Topographie kostete Kraft. Die Folge war ein ›angepasstes‹ Bauen, das aber dadurch mit der Umwelt stimmig wurde.«171 Insgesamt ist festzustellen, dass die naturräumliche Prägung des Siedlungsplatzes nach und nach abgenommen hat und heute, z. B. bei Siedlungserweiterungen, in der Regel nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Gleichwohl prägt der historisch gewählte und weiterentwickelte Siedlungsplatz auch heute noch das Erscheinungsbild der Dörfer – und darüber hinaus in mancher Weise das Leben und Befinden seiner Bewohner. Ein Beispiel aus Mainfranken: Viele kennen die Winzerdörfer am Main zwischen Würzburg und Volkach wie Randersacker, Sommerhausen, Frickenhausen oder Sulzfeld. Sie finden sich alle in einer (gut besonnten) Talrandlage am Fuße der als Weinberge genutzten Talhänge. Wer sich nur wenige Kilometer entfernt auf die fränkische Gäufläche mit ihren guten landwirtschaftlichen Böden begibt, entdeckt die Ackerbaudörfer wie Erlach, Kaltensondheim oder Westheim. Sie liegen, abseits überregionaler Verkehrswege, meist in leichter MuldenUnterhalb eines gewaltigen Felsmassivs aus rotem Porphyrgestein liegt Bad Münster am Stein-Ebernburg im Nahetal, durch die imposante topographische Lage ist der Winzerort eine Touristenattraktion.

lage direkt bei ihren Feldflächen. Hier die Winzerdörfer in einer klimabegünstigten Tallage mit Weinbergen, mit langer Tradition des wirtschaftlichen Austausches bis hin zum heutigen Tourismus. Dort – in enger Nachbarschaft – die

212

für Kleinstadt- und Burggründungen gewählt, um sich so

inmitten ihrer Felder liegenden und förmlich in sich ru-

vor Angriffen zu schützen. Ähnliches gilt für die Anlage

henden Bauerndörfer. Man spürt fast einen unterschied-

von Wasserburgen im Tiefland. Man spricht deshalb auch

lichen Pulsschlag der Menschen in den eng benachbarten

von einer Schutzlage oder militärischen Lage. Durch die

Dörfern.

Entwicklung neuer Waffen und Militärtechniken währte

Diese Unterschiede der Dörfer nach ihrer Lage, oft auf

das Hauptmotiv dieser Siedlungsgründungen nur wenige

kleinstem Raum, machen einen wesentlichen Reiz und

Jahrhunderte. Es wurde vielerorts sogar zu einem Hemm-

Wert unserer Kulturlandschaft aus.

Das moderne Dorf

Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt Zur Größe und Definition ländlicher Siedlungen

Wenn man eine Siedlung beschreibt, dann ist deren

Die Größe ist ein wichtiges Merkmal der ländlichen

Größe ein wichtiger Aspekt. Dabei ist die Größe einer

Siedlung. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die äußere Größe

Ortschaft nicht nur ein wichtiger formaler und statis-

einer Siedlung zu bestimmen: nach der Anzahl der Haus-

tischer Begriff. Mit ihr ändert sich auch das wirtschaft-

bzw. Hofstätten, nach der Einwohnerzahl oder auch nach

liche, soziale und kulturelle Leben. Große, mittlere

der besiedelten Fläche. Das Merkmal der Größe wird häu-

und kleine ländliche Siedlungen liegen keineswegs

fig zur Klassifizierung von Siedlungen herangezogen, weil

regional gleichmäßig verteilt in einem bunten Gemisch

es statistisch gut fassbar ist. Allerdings ist der Größenbe-

nebeneinander. Sie sind vielmehr – wie von einer

griff sehr relativ und zumindest für überregionale Verglei-

unsichtbaren Hand arrangiert – nach Größenregionen

che nur begrenzt anwendbar. Ein durchschnittliches mit-

sortiert auf Deutschland verteilt: Hier dominieren

teleuropäisches Dorf von etwa 1000 bis 1500 Einwohnern

die großen Dörfer, da die Einzelhöfe, dort die Weiler.

ist aus der Perspektive der ländlichen Siedlungen Skandi-

Und nicht zuletzt: Was sind neben der Größe weitere

naviens sehr groß, aus der Perspektive der süditalienischen,

Merkmale eines Dorfes, wie wird »Dorf« definiert im

ungarischen oder chinesischen Dörfer sehr klein. Typisie-

Vergleich zur Stadt?

rungen nach der Siedlungsgröße haben daher stets nur regionale Gültigkeit.

Wenn jemand von einem Dorf erzählt, das er gerade besucht

Für Deutschland gilt die folgende Klassifizierung der

hat, wird ihm mit Sicherheit bald die Frage gestellt: Wie

ländlichen Siedlungsgrößen, die im Wesentlichen von der

groß ist das Dorf denn eigentlich? Die Größe einer Sied-

Anzahl der Hausstellen und der Einwohnerzahl abhängt:

lung ist für uns offenbar ein wichtiges Ordnungsraster. Die

Einzelsiedlung, kleine Gruppensiedlung, große Gruppen-

unterschiedlichen Größen signalisieren ja auch etwas über

siedlung (= Dorf), Kleinstadt.

die inneren Eigenschaften. Von einem großen Dorf erwar-

Die Einzelsiedlung besteht aus einer einzigen Haus-

ten wir z. B., dass es dort eine Kirche, eine Schule, einen

oder Hofstätte, die eine unterschiedliche Anzahl von Ne-

Gasthof und einen Sportplatz gibt. In einem kleinen Dorf vermuten wir eine kleine Kapelle, einen Kindergarten und auf jeden Fall eine Feuerwehr, aber nicht unbedingt einen Tennisplatz oder eine Apotheke.

Abbildung oben: Einzelhofsiedlungen sind am weitesten verbreitet im Allgäu und in Nordwestdeutschland, wie hier in Butjadingen an der Wesermündung.

Gestalt der Kulturlandschaft

213

Viele eng bebaute und befestigte Kleinstädte unterscheiden sich an Größe nicht von Dörfern, weswegen man sie auch »Zwergstädte« oder »Titularstädte« nennt. Im attraktiven Winzerort Sommerhausen in Unterfranken sind die Stadtmauern und -tore noch komplett erhalten.

bengebäuden aufweisen kann. Entscheidendes Kriterium für die Einstufung als Einzelsiedlung ist die isolierte Lage

pelsiedlungen nennt man auch »Doppelhöfe«. Weiler sind

einer Wohn- und Wirtschaftseinheit (Mindestabstand von

kleine Gruppensiedlungen mit drei bis ca. 20 Haus- oder

150 m zum Nachbarhof). Bäuerliche Einzelsiedlungen

Hofstätten, d. h. etwa 15 bis 100 Einwohnern. Von einer

werden meist als »Einzelhof«, in Süddeutschland auch als

Streusiedlung wird dann gesprochen, wenn Einzelhöfe

»Einödhof« bezeichnet. Meist sind Einzelsiedlungen ver-

und kleine Gruppensiedlungen in lokaler Mischung ne-

bandsmäßig zusammengeschlossen, z. B. als Bauerschaft

beneinander auftreten.

in Nordwestdeutschland oder Talschaft in den Alpen. Eine

Alle ländlichen Gruppensiedlungen, die Weilergröße

Sonderform der Einzelsiedlung ist die Gutssiedlung, zu

überschreiten, werden in Deutschland als »Dorf« bezeich-

der im Regelfall das Herrenhaus des Gutsherren, die Wirt-

net. Gemeinhin unterscheidet man vier Größenstufen des

schaftsgebäude und die Landarbeiterhäuser gehören.

deutschen bzw. mitteleuropäischen Dorfes:172

Kleine Gruppensiedlungen bestehen aus zwei bis ca. 20 Haus- oder Hofstätten, d. h. etwa zehn bis 100 Einwohnern. Man unterscheidet hier zwischen Doppelsiedlungen und Weilern. Als »Doppelsiedlung« werden zwei benachbarte

214

Haus- oder Hofstätten bezeichnet. Landwirtschaftliche Dop-

Das moderne Dorf

– das kleine bis mäßig große Dorf mit 20–100 Hausstätten bzw. 100–500 Einwohnern, – das mittelgroße Dorf mit 100–400 Hausstätten bzw. 500–2000 Einwohnern,

Das Dorf ist die in Deutschland häufigste Siedlungsform. Ein mittelgroßes Beispiel ist Goßmannsdorf in Unterfranken, eng bebaut und ehemals befestigt mit derzeit etwa 1050 Einwohnern.

– das große Dorf mit 400–1000 Hausstätten bzw. 2000– 5000 Einwohnern und

rem Sprachgebrauch auch als »Landstädte« (über 2000 Einwohner) oder »Ackerbürgerstädte« bezeichnet, was ihren

– das sehr große Dorf mit mehr als 1000 Hausstätten und

bäuerlichen Charakter unterstrich. Die historischen Klein-

5000 Einwohnern. Für die beiden letztgenannten Grö-

städte waren in der Regel mit Stadtmauern und -toren um-

ßenstufen werden vielfach auch die Bezeichnungen

geben, die vielerorts bis heute erhalten sind: Schöne Bei-

»Großdorf« und »Stadtdorf« gebraucht, womit die statis-

spiele sind Sommerhausen am Main und Tangermünde

tische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich wird.

an der Elbe. Die meisten Kleinstädte in Deutschland unterscheiden sich allerdings nach Ortsbild, Wirtschaft und

Zu den ländlichen Siedlungen gehören nicht zuletzt die

Infrastruktur nicht von größeren Dörfern. Im Allgemei-

Kleinstädte. Sie werden in älteren Statistiken und frühe-

nen wird die Kleinstadt heute mit 5000 bis 25 000, biswei-

Gestalt der Kulturlandschaft

215

Der zwischen Einzelhof und Dorf stehende Weiler kommt am häufigsten im deutschen Mittelgebirge und in Süddeutschland vor, hier das Beispiel Gunzesried im Allgäu.

len sogar bis 50 000 Einwohnern ausgewiesen. Gerade der

Regel die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftli-

Übergang vom Großdorf zur Kleinstadt ist im Einzelfall oft

chen Schwankungen einer Ortschaft nachvollziehen.174 Die

schwer zu begründen.

meisten ländlichen Siedlungen Mitteleuropas haben in den

Die verschiedenen Siedlungsgrößentypen kommen in

letzten 200 Jahren sowohl Phasen des Rückgangs als auch

Deutschland nur selten bunt gemischt vor. Sie haben je-

der Stagnation und des Wachstums erlebt. Viele ländliche

weils ihre charakteristischen Verbreitungsgebiete. Die

Siedlungen entwickelten sich durch ihr Größenwachstum

Hauptverbreitungsgebiete des Einzelhofes liegen im nord-

zur Stadt, nicht wenige sind im Umkreis der Großstädte

westdeutschen Tiefland sowie in Bayern. Weiler sind vor al-

und Verdichtungsgebiete verstädtert oder als Vororte ein-

lem in den deutschen Mittelgebirgen verbreitet. Dörfer fin-

gemeindet worden. Es gibt aber auch zahlreiche ländli-

det man wiederum schwerpunktmäßig in den fruchtbaren

che Orte, wie das kleine Dorf Asseln im Kreis Paderborn

Bördenlandschaften Mittel- und Süddeutschlands.

mit etwa 400 Einwohnern, deren Größe seit etwa 150 Jah-

173

Verfolgt man die Veränderungen der Siedlungsgröße über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg, lassen sich in der

216

Das moderne Dorf

ren fast ohne jegliche Schwankungen konstant geblieben ist.

Die Siedlungsgröße beeinflusst zumindest indirekt auch das dörfliche Leben. So hat ein Kapellendorf mit 120 Ein-

man sonst verstehen, dass sogar junge Familien mit kleinen Kindern aus Großstädten in abgelegene Weiler ziehen?176

wohnern heute zwar in der Regel die eigene Feuerwehr,

Wir haben das Wort »Dorf« in diesem Kapitel bisher vor

aber noch keinen Sport- oder Musikverein. Erst ab Größen-

allem als einen Begriff der Siedlungsgröße kennenge-

ordnungen von 500 bis 800 Einwohnern wird das Vereins-

lernt. Doch in der Regel hat »das Dorf« eine umfassendere

leben in den Dörfern breiter und dichter. Aber man sollte

Bedeutung. Im Duden heißt es schlicht »ländliche Ort-

sich vor Verallgemeinerungen hüten. Es gibt Dörfer mit

schaft« und »Gesamtheit der Dorfbewohner«.177 In dieser Be-

300 Einwohnern wie Ollarzried in Bayern, die ihren letzten,

deutung ist das Wort seit dem Mittelalter geläufig. »Dorf« ist

wäh-

also ein Sammelbegriff für den ländlichen Lebensraum,

rend andere Dörfer mit 1000 Einwohnern stillschweigend

das Gegenstück zur Stadt – ein Sammelbegriff für die rund

die Schließung der letzten Gastwirtschaft hinnehmen.

35 000 Ortschaften des ländlichen Raumes in Deutschland,

schon aufgegebenen Gasthof wiederbelebt haben,

175

Die Siedlungsgröße spielt auch eine wichtige Rolle bei

die sich heute als Dorf bezeichnen, ob sie nun am Rande ei-

der äußeren und inneren Beurteilung einer Siedlung. Sie

ner Großstadt oder im Erzgebirge liegen. Jedes dieser Dör-

ist zugleich ein wesentliches Identifikationsmerkmal für

fer hat ein anderes Aussehen und eine andere wirtschaft-

die Bevölkerung gerade im ländlichen Raum. So wissen die

liche Basis.

Dorfbewohner in der Regel ganz genau, wie viele Einwoh-

Können wir heute das Dorf im Unterschied zur Stadt

ner ihr Dorf hat und welches Nachbardorf größer oder klei-

noch einheitlich und inhaltlich genauer definieren? Das

ner ist als das eigene. Allein schon deshalb ist es bedauer-

»alte« Dorf hatte es leichter. Es wurde durch seine agrar-

lich, dass seit der kommunalen Gebietsreform die amtliche

wirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmt. Diese klassische

Statistik auf der Ebene der eingemeindeten Dörfer bzw. sog.

Definition, die bis vor wenigen Jahrzehnten galt, ist nicht

»Ortsteile« nicht mehr weitergeführt wird.

mehr allzu hilfreich. Heute werden daher häufiger sozi-

Die Betrachtung der Siedlungsgrößen macht deutlich,

ale und kulturelle Kriterien herangezogen. Das Dorf wird

wie facettenreich das Landleben in Wirklichkeit ausgeprägt

mit Dorfgemeinschaft, Nachbarschaftshilfe, Traditionsbe-

ist. Bei einer Bewertung der sehr unterschiedlichen länd-

wusstsein, Kirchentreue, mit engen sozialen Netzwerken

lichen Lebensorte vom Einzelhof bis zur Kleinstadt sollte

und hohem ehrenamtlichem Engagement, seiner Vereins-

man vorsichtig sein. Wer aus der Großstadt in eine Klein-

dichte und Aktivkultur, mit Naturnähe oder insgesamt mit

stadt oder ein mittelgroßes Dorf kommt, mag denken, dass

seinen ländlichen Lebensstilen beschrieben. Eher nüchtern

dort die Welt still stehe. Ähnlich wird es mancher Dorf-

und pragmatisch ist jedoch die Definition, die sich am äu-

bewohner empfinden, wenn er einen Weiler oder gar ei-

ßeren Dorfbild orientiert: Wir sprechen von einem Dorf,

nen Einzelhof im tiefen Münsterland oder Oldenburger

wenn die Gestalt der Siedlung von der Agrarwirtschaft ge-

Land oder im Allgäu besucht. All diese ersten Blicke täu-

prägt wird, d. h. durch Bauern-, Landarbeiter- und Hand-

schen. Auch die ländlichen Streusiedlungen bieten in ih-

werkerhäuser, Gehöfte und Gutshöfe, auch wenn die Land-

rem überschaubaren Mikrokosmos (häufig mit mehreren

wirtschaft selbst heute nur noch eine untergeordnete Rolle

Generationen nebeneinander) einen Lebensraum mit vie-

spielt.178 Wir orientieren uns damit also an den überliefer-

len Reizen und Kontakten, in dem sich die Menschen über-

ten Bauformen der Vergangenheit, die tief in die Dorfge-

wiegend wohler fühlen als in den Metropolen. Wie könnte

schichte zurückreichen.

Gestalt der Kulturlandschaft

217

Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf Über die Vielfalt der deutschen Dorfformen

Dörfer unterscheiden sich nicht nur durch ihre Lage

über 50 Jahre zurück, als ich in einem dieser Pläne mein

und ihre Größe, sondern ganz wesentlich auch durch

Heimatdorf wiederfand: Es war offenbar wie die meisten

die jeweilige Anordnung der Straßen, Plätze und Ge-

Nachbarorte ein »großes Haufendorf«. Die anderen Grund-

bäude. Es gibt Dörfer, die nur aus einem umbauten

risstypen blieben mir damals noch fremd. Ich sollte sie erst

Platz bestehen; andere wiederum nur aus einer einzi-

als Student und bei späteren Reisen kennenlernen.

gen schnurgeraden Straße, an der sich beidseitig Häu-

Die Dorfform ist das Ergebnis planender Gestaltung

ser wie Perlen an einer Kette aufreihen. Die meisten

oder spontaner, ungeregelter Entstehung und Entwick-

deutschen Dörfer präsentieren sich als Haufendörfer –

lung. Am Dorfgrundriss kann man in der Regel ablesen, ob

das sind Labyrinthe, in denen man so schnell keine

die Siedlung allmählich gewachsen oder in einer gezielten

Orientierung findet. Dörfer können ganz eng oder ganz

Gründung entstanden ist. Im Grundriss können sich auch

locker bebaut sein, regelmäßig oder unregelmäßig.

naturräumliche Bedingungen widerspiegeln, wie z. B. bei

Sie können systematisch geplant oder einfach nur in

den Marschhufendörfern, die an Deichen und Flussdäm-

Jahrhunderten unregelmäßig gewachsen sein.

men angelegt wurden. Da Grundrissformen häufig sehr langlebig sind und sich bis in die Gegenwart erhalten ha-

Unter dem Begriff »Dorfform« versteht man den Grund-

ben, bieten sie dem Fachmann wie dem interessierten Laien

riss der bebauten Fläche, der sich aus Straßen, Wegen, Plät-

gute Einblicke in die sozioökonomischen und technischen

zen, Hofstellen und Häusern zusammensetzt. Man erkennt

Rahmenbedingungen der Siedler in früheren Zeiten.

die Grundrissform der Siedlung am besten aus der Vogelper-

Ein zusätzliches Formkriterium neben dem Grundriss

spektive, anhand eines Senkrechtluftbildes oder in der kar-

ergibt sich daraus, ob eine Siedlung regelmäßig oder un-

tographischen Darstellung.

regelmäßig angelegt ist. Die regelmäßig angelegte Sied-

Dorfformen gehören zum klassischen Kanon des Erd-

lung ist gekennzeichnet durch eine geometrische Anord-

kundeunterrichts in Deutschland. Irgendwann im Alter

nung der Haus- und Hofparzellen sowie der Straßen, z. B.

zwischen acht und zwölf Jahren müssen alle Schüler die Besonderheiten von Angerdörfern, Rundlingen oder Moorhufendörfern anhand von Grundrissplänen in Schulbüchern und Atlanten erlernen. Mein Aha-Erlebnis liegt weit

218

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Dörfer mit Freiflächen in der Ortsmitte nennt man Angerdörfer. Die Anger wurden später häufig bebaut, wie auch in Buckow in der Prignitz.

in Form eines Schachbretts. Ein weiteres Merkmal zur ge-

sind u. a. Nordhessen, der Odenwald, die Rhön, der nord-

naueren Beschreibung der Siedlungsform ist die Bebau-

östliche Schwarzwald, der Frankenwald und der Bayerische

ungsdichte. Man unterscheidet zwischen sehr dichter, mä-

Wald. Beispiele für Waldhufendörfer sind Winterkasten im

ßig dichter, lockerer und sehr lockerer Bebauung. Durch

Odenwald und Königshain bei Görlitz.

solche Beobachtungen lässt sich z. B. der große Kontrast

Marschhufendörfer wurden – seit dem Hohen Mittelal-

zwischen den sehr locker bebauten norddeutschen und den

ter – im Schutz der Deiche und Uferdämme der See- und

sehr dicht bebauten mittel- und süddeutschen Dörfern und

Flussmarschen des Tieflandes angelegt. Sie sind an das

Weilern feststellen.

nordwestdeutsche Marschenland gebunden und von der

Generell werden die folgenden drei Grundrisstypen

niederländischen bis zur dänischen Grenze anzutreffen.

ländlicher Siedlungen unterschieden. Die jeweils genann-

Beispiele sind die Marschufendörfer Neuenbrook bei Itze-

ten Beispiele sind am häufigsten in Deutschland verbrei-

hoe und Steinkirchen im Alten Land.

tet:179 – Linearsiedlung mit einer geradlinig reihenförmigen

Moorhufendörfer hingegen entstanden als Siedlungen der Moorkultivierung an geradlinigen Wegen oder Kanä-

Anordnung der Wohnstätten; Beispiele: Straßendorf, Waldhufendorf, Marschhufendorf, Moorhufendorf; – Platzsiedlung mit einer polaren Anordnung der Wohnstätten um einen zentralen Platz; Beispiele: Angerdorf,

Einzel- und Streusiedlung

Angerdörfer

Rundling; – Siedlung mit flächigem Grundriss und mit einer flächenhaften Anordnung der Wohnstätten; Beispiel für unregelmäßigen Grundriss: lockeres und »geschlossenes« Haufendorf; Beispiel für regelmäßigen Grundriss: Schachbrettsiedlung.

Lockere Dörfer (Weiler, Haufendorf) Straßendörfer (Wegedorf, Sackgassendorf)

In Straßendörfern sind die Hof- und Hausstellen kettenförmig zu beiden Seiten einer Straße aufgereiht. Straßendörfer treten in Deutschland in fast allen Regionen auf, insbesondere jedoch als planmäßige Anlagen in jüngeren Kolonisationsgebieten (der Frühen Neuzeit), vor allem

Geschlossene Dörfer (Weiler, Haufendorf, Wurtendorf)

des Mittelgebirges. Beispiele für Straßendörfer sind Markt Lehrberg in Mittelfranken, Freimersheim in der Pfalz und

Zeilendörfer

Niederasphe bei Marburg. Waldhufen-, Marschhufen- und Moorhufendörfer sind

Rechteckplatzdörfer

lineare Siedlungen mit lockerer Reihung von Bauernhäusern, angelegt an eine natürliche oder künstliche Leitlinie. Sie entstanden meist durch Waldrodung oder bei der Neulandgewinnung im Tiefland. Als Leitlinien dieser Ortsformen dienen Deiche, Uferdämme, Kanäle und Wege. Hinter den aufgereihten Höfen liegen die meist langen Parzellen

Rundplatz-Dörfer (Rundling)

Reihendörfer (Waldhufen-, Marschhufen-, Moorhufendorf)

(Hufen) rechtwinklig zur Siedlungsachse und reichen oft bis zur Gemarkungsgrenze. In waldreichen Gebieten, vor allem des Mittelgebirges, entstanden die Waldhufendörfer als typische Siedlungsform der Waldrodung während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Verbreitungsgebiete

Grundrisstypen ländlicher Siedlungen

Gestalt der Kulturlandschaft

219

Beim Rundling sind die Hofstellen wie Tortenstücke um einen runden bis hufeisenförmigen Platz angelegt, hier das Rundlingsdorf Oetzendorf, Gemeinde Weste, in Niedersachsen.

220

len, die als Transport- und Entwässerungskanäle dienten

in lockerem Abstand einen großen Platz umschließen. Die-

und oft mehrere Kilometer Länge aufwiesen. Moorhufen-

ser kann eine lanzenförmige, rechteckige, dreieckige oder

dörfer (eine Untergruppe sind die Fehnsiedlungen Ostfries-

andersartige Gestalt haben und ist gewöhnlich durch die

lands) finden sich vor allem in den ehemaligen Moorgebie-

Erweiterung der Dorfstraße entstanden. Wichtigstes Merk-

ten Nordwestdeutschlands, die im Rahmen der inneren Ko-

mal des Angerdorfes gegenüber anderen Platzformen ist

lonisation des 17. bis 19. Jahrhunderts – nach holländischen

die ausgeprägte Längserstreckung der Freifläche. Der An-

Vorbildern – besiedelt wurden. Beispiele sind Nordgeorgs-

ger diente der ländlichen Gemeinde als Kommunikati-

fehn und Rhauderfehn nordöstlich von Papenburg sowie

onsstätte, Gerichtsplatz und (nächtliche) Viehweide; au-

Heinrichswalde südwestlich von Ueckermünde.

ßerdem standen hier alle wichtigen öffentlichen Gebäude

Platzsiedlungen entstanden meist bei geplanten und or-

und Anlagen wie Kirche, Schule, Dorfbrunnen, Spritzen-

ganisierten Siedlungsgründungen. Der im Allgemeinbe-

haus und Gemeindeteich. Angerdörfer sind in allen Teilen

sitz befindliche zentrale Platz belegt anschaulich das Ge-

Deutschlands, vor allem aber im Osten verstärkt verbreitet.

meinschaftselement dieser Siedlungsform. So sind Anger-

Beispiele sind Baiershofen im bayerischen Schwaben und

dörfer mittelgroße planmäßige Siedlungen, deren Gehöfte

Wulfersdorf in der Prignitz.

Das moderne Dorf

Straßendörfer entstanden als geplante Siedlungen vor allem bei der Besiedlung der Mittelgebirge in der Frühen Neuzeit, hier das Beispiel Lehrberg in Mittelfranken.

Rundplatzdörfer sind durch ovale bis runde Platzformen

derheit darin besteht, ein Rundling zu sein: die Bauernhäu-

und eine entsprechend gekrümmte Gehöftreihung gekenn-

ser stehen im Kreis um den Dorfplatz, und diese Anord-

zeichnet. Die bekannteste Form bildet der Rundling. Hier-

nung vermittelt zugleich größte Geborgenheit und größte

bei sind die Hofstellen um einen runden bis hufeisenför-

Freiheit. Es gibt ein gemeinsames Zentrum, eine verbin-

migen Platz angelegt, wobei dieser Innenraum ursprüng-

dende Mitte, in der man sich trifft, auf die der Alltag zu-

lich nur eine Straßenzufahrt von außen besaß. Rundlinge

läuft, in der sich das Dorfleben konzentriert. Und es gibt

sind nahezu ausschließlich im ehemaligen deutsch-sla-

eine enorme Offenheit nach außen, in den Gärten, die wie

wischen Grenzraum anzutreffen, wie z. B. im Hannover-

Tortenstücke nach hinten immer breiter werden und sich in

schen Wendland. Beispiele sind dort die Orte Güstritz, Sa-

Wäldern und Feldern einfach verlieren.«180

temin, Dolgow und Klennow sowie Lanz bei Wittenberge.

Haufendörfer wiederum sind flächige Siedlungsräume,

Als »Schriftstellerin auf Zeit« lebte Marion Poschmann ei-

die nicht gleichmäßig, sondern haufenartig, sackgassen-

nige Monate in dem Rundling Schreyahn und reflektierte

förmig und unregelmäßig bebaut sind. Man unterscheidet

dabei auch über diese ungewöhnliche Siedlungsform: »Ein

nach der Bebauungsdichte zwischen lockeren und eng be-

Dorf im Wendland, etwa achtzig Einwohner, dessen Beson-

bauten bzw. »geschlossenen« Haufendörfern. Lockere Hau-

Gestalt der Kulturlandschaft

221

Eng bebaute Haufendörfer sind die häufigste Grundrissform in Deutschland und vor allem in den Mittelgebirgen und Südwestdeutschland verbreitet, hier das Beispiel des Winzerdorfes Roßwag an der Enz.

222

fendörfer weisen eine relative Weitständigkeit von Hof-

eine scharfe Außengrenze geprägt. Sie sind die häufigste

stellen auf. Zwischen den Höfen liegen meist Gärten. Die

Siedlungsform in Mitteleuropa. Sehr dichte und große

Verbreitungsgebiete der lockeren Haufendörfer und Wei-

Haufendörfer finden sich besonders in den klassischen Re-

ler liegen fast ausschließlich in Norddeutschland, schwer-

alteilungsgebieten Südwestdeutschlands (wo bei jedem Erb-

punktmäßig in den Börden am Nordrand der Mittelgebirge.

gang der Besitz geteilt wurde). Torsten Gebhard führt die

Sie sind aber auch im Emsland, in Schleswig-Holstein,

unterschiedliche Verbreitung der locker und eng bebau-

Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern flächenhaft

ten Dörfer in Deutschland auch auf die unterschiedlichen

anzutreffen. Beispiele sind die Bördendörfer Hüddessum

topographischen Gegebenheiten zurück: »Die Weiten der

und Borsum bei Hildesheim, das Inseldorf Nebel auf Am-

Norddeutschen Tiefebene gestatten großräumige dörfliche

rum und der Weiler Stollen im bayerischen Landkreis Hof.

Siedlungen. In Mitteldeutschland drängen sich die Dörfer

Eng bebaute bzw. geschlossene Haufendörfer werden

in schmalen Tälern, in engen Mulden zusammen. Vielfach

durch eine gedrängte Anordnung der Gebäude und durch

war die Hofstatt nur in Hanglage möglich. Schon diese so

Das moderne Dorf

Eines der bekanntesten und am besten erhaltenen Angerdörfer in Deutschland ist Baiershofen im Kreis Augsburg. Die 650 Meter lange Angerwiese verbindet die beiden Hofreihen, nur Kirche und Friedhof haben hier seit dem Mittelalter ihren Platz.

anders gearteten natürlichen Voraussetzungen mussten zu

während die Frontseiten der Hofstellen nach außen zur

unterschiedlichen Konzeptionen der bäuerlichen Anwe-

umschließenden Ringstraße gerichtet sind. Konzentriert

sen führen.«181 Gute Beispiele für geschlossene Haufendör-

zu finden sind Wurtendörfer in der sog. »Krumhörn« nord-

fer sind Hendungen im Landkreis Rhön-Grabfeld, Nassach

westlich von Emden, Beispiele sind Rysum und Loquard.

im Landkreis Haßberge und Roßwag an der Enz – Orte mit auch denkmalpflegerischen Qualitäten.

Das Schachbrettdorf ist der Hauptvertreter der flächigen Siedlungsform mit einem regelmäßigen Straßennetz, in

Eine Sonderform des geschlossenen Dorfes sind die »Wur-

Deutschland wie in Europa jedoch kaum verbreitet. Der git-

tendörfer« im nordwestdeutschen Marschenland. Wurten

terförmige Grundriss ist hierzulande vereinzelt beim Wie-

sind kleine, künstliche Aufschüttungen, auf denen ein Hof

deraufbau von Dörfern nach Kriegen und Großbränden

oder ein ganzes Dorf steht. Im Zentrum dieser meist kreis-

verwendet worden. Schachbrettdörfer sind z. B. in großer

runden Dörfer liegt auf einem kleinen Platz die Kirche,

Anzahl in den USA und in Südamerika anzutreffen.

Gestalt der Kulturlandschaft

223

Die überlieferten ländlichen Siedlungsformen haben

und das Verhältnis der einzelnen Bauten zueinander eine

sich in den zurückliegenden 60 Jahren teilweise stark ver-

geschichtliche Aussage, die man nicht bei einer Aneinan-

ändert, sodass die typischen »Normalformen« häufig nicht

derreihung von Einzeldenkmalen in einer Denkmalliste er-

mehr leicht zu erkennen sind. So sind in den engen Hau-

reichen kann.«182

fendörfern West- und Süddeutschlands durch »Ortsauflo-

Die überlieferte Dorfform bietet manchmal auch den

ckerung« vielerorts größere Freiflächen entstanden. An-

heutigen Dorfbewohnern eine höhere Lebensqualität. Dies

dererseits haben sich gerade in Nordwestdeutschland viele

gilt besonders für Anger- und Platzdörfer mit ihren Ge-

ehemals locker bebaute Weiler und Kleindörfer in den letz-

meinsinn stiftenden Flächen in der Ortsmitte. So wird der

ten Jahrzehnten »aufgefüllt« und vergrößert, sodass auch

gut erhaltende Anger von Baiershofen nicht nur von der

hier der Anteil der engen oder geschlossenen Dörfer erheb-

amtlichen Denkmalpflege, sondern auch von seinen Be-

lich angewachsen ist. Anderswo sind die ehemals öffentli-

wohnern geliebt. Die 650 m lange »Wiese« verbindet die bei-

chen Grünflächen im Kern der Anger- und Platzdörfer be-

den Häuserreihen des Dorfes, in ihrer Mitte stehen seit fast

baut worden.

700 Jahren Kirche und Friedhof. Die große Fläche, die al-

Die gut erhaltenen und besonders typischen Beispiele tra-

224

len gehört, ist locker mit Obst- und Nussbäumen bestanden

ditioneller Dorfformen stehen daher manchmal flächen-

und vielfältiger Festplatz und Treffpunkt. Die Baiershofe-

haft unter Denkmalschutz – so das geschlossene Haufen-

ner haben vor Jahren dem Trend widerstanden, aus ihrem

dorf Goßmannsdorf im Landkreis Würzburg, das Anger-

Anger eine städtische Grünanlage zu machen mit kurzge-

dorf Effelter im Landkreis Kronach, das Radialhufendorf

schnittenem Rasen und Springbrunnen und Hinweisschil-

Kreuzberg im Bayerischen Wald sowie das Zeilendorf (quasi

dern, dass das Betreten verboten sei. Die danach fragende

ein nur einseitig bebautes Straßendorf) Reicholdsgrün im

Soziologin Erika Haindl bekam zur Antwort: »Wissand,

Landkreis Wunsiedel. Thomas Gunzelmann, Hauptkonser-

nau wär’s nemme unser Dorfcharakter. Ma said, unser An-

vator beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege im

ger soll a Wies sei und net a Rasa. A Wies, dau wögst em

Schloss Seehof bei Bamberg, begründet die Unterschutz-

Früahleng d’r Löwazah und alle mögliche Bluama.« Der un-

stellung von ganzen Dorfensembles: »Der Grund für die

empfindliche Wiesenanger ist vor allem auch kinder- und

Eintragung von gesamten Dorfanlagen als Ensemble ist,

jugendfreundlich, der große Nussbaum ist wichtigster

dass sie eine Gestalteinheit bilden, die mehr aussagt als die

Treffpunkt bei schönem Wetter. »D’r Nußbaum em Anger

Summe ihrer einzelnen Teile. Bei einem Dorfensemble ist

drunte, dös isch unser ›Königsplatz‹, dau triffste am Aubad

eben auch der Grundriss und die ablesbare innere Struktur

d’Jugend, wenn d’s Weater schea isch.«183�

Das moderne Dorf

Menschen, Vieh und Ernte unter einem Dach Die traditionellen Bauernhaus- und Gehöftformen

Was finden die meisten Menschen am Dorf besonders

ten. Dazu gehört vor allem die Differenzierung des histori-

schön und anregend? Die alten Bauernhöfe! Würdevoll

schen Bauernhofes nach Formtypen sowie deren räumliche

stehen sie in den Dorfkernen und vermitteln etwas

Verteilung in Deutschland. Auch die zahlreichen Bedin-

Zeitloses, als wären sie für die Ewigkeit gebaut.

gungen und Faktoren, die den Bau von Bauernhöfen beein-

Bauernhäuser prägen nicht nur das Bild des Dorfes

flusst haben, sind hinreichend untersucht und beschrieben

und der Landschaft. Sie erzählen auch etwas von den

worden. Neben den Schulen tragen vor allem die Freilicht-

speziellen Kräften und Bedingungen der jeweiligen

museen in allen Regionen Deutschlands zur anschaulichen

Region. In den großen Weiten und Ebenheiten Nord-

Dokumentation und Vermittlung der traditionellen Bau-

deutschlands konnten sich andere Bauformen

ernhaus- und Gehöftformen bei.

entfalten als in den engen Tälern der Mittelgebirge.

Die Anzahl der unterscheidbaren Bauernhaustypen in

Aber auch das regional unterschiedliche Erbrecht

Deutschland schwankt zwischen 16 und 42, je nach Grad

prägte das Aussehen der Höfe. Wer sich auf eine

der Differenzierung bzw. Generalisierung. Allgemein üb-

Wanderschaft von Norden nach Süden oder Westen

lich ist die Zweiteilung des Bestands in Einhaus- und Ge-

nach Osten durch deutsche Dörfer begibt, wird schnell

höfttypen. Das Einhaus fasst die Wohn-, Stall- und Spei-

sehr unterschiedliche Typen von Bauernhäusern und

cherfunktionen unter einem Dach zusammen, während

Gehöften kennenlernen.

das Gehöft aus mehreren Gebäuden mit entsprechend getrennten Funktionen für Wohnen, Ställe, Scheunen, Wa-

Das Bild der meisten ländlichen Siedlungen wird immer

gen und Geräte besteht. Die Einhaus- und Gehöftgruppe

noch geprägt durch Bauernhäuser und Gehöfte, auch wenn

umfasst jeweils verschiedene Grund- und Einzeltypen.

diese längst nicht mehr alle in landwirtschaftlicher Nut-

In der Einhausgruppe unterscheidet man vier Grundty-

zung sind. Das bäuerliche Anwesen bleibt ein Inbegriff des

pen: quer geteiltes Einhaus, gestelztes Einhaus, längs geteil-

Dorfes und nimmt selbst in modernen Dorfdefinitionen bis heute einen zentralen Platz ein. Die Bauernhausforschung hat in den zurückliegenden 100 Jahren gute Arbeit geleistet. Ihre wichtigsten Ergebnisse finden sich heute in vielen Schulbüchern und Atlan-

Abbildung oben: Im Niederdeutschen Hallenhaus waren Ställe, Speicher und Wohnräume unter einem Dach vereint, hier ein Blick auf Feuerstelle und Küche in dem Bauernhaus im Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold.

Gestalt der Kulturlandschaft

225

tes Einhaus und Gulf-Einhaus. Das quer geteilte Einhaus ist

form liegt darin, dass der Wohnteil »gestelzt«, d. h. ganz oder

ein Langbau, bei dem die Wohnung und die Wirtschafts-

überwiegend im ersten Stock untergebracht ist. Die Haupt-

teile durch senkrecht zur Firstlinie verlaufende Innen-

verbreitungsgebiete des gestelzten Einhauses liegen in Süd-

wände getrennt und jeweils von außen her durch eigene

deutschland.

Zugänge zu erreichen sind. Verbreitungsgebiete sind das

Der wichtigste Vertreter des Grundtyps »längs geteil-

nördliche Schleswig-Holstein, Teile des deutschen Mittel-

tes Einhaus« ist das Hallen-Einhaus, das meist als Nieder-

gebirges, der Kraichgau und das Alpenvorland. Auch für

deutsches Hallenhaus und manchmal noch mit seinem äl-

den Grundtyp des gestelzten Einhauses ist die Querteilung

teren Namen als »Niedersachsenhaus« bezeichnet wird. Die

des Gebäudes charakteristisch. Das Besondere dieser Haus-

Erschließung dieses Hallenhauses erfolgt durch eine große Halle, »Deele« genannt oder »Tenne«, an deren Seiten die Ställe liegen. In die Deele kann ein hoch mit Stroh oder Heu beladener Erntewagen direkt einfahren und entladen werden, sie ist in der Regel 15 m lang und 6 m breit, kann aber in großen Bauernhäusern bis zu 40 m lang und 10 m

Quergeteiltes Einhaus (Alpenvorländer)

Quergeteiltes Einhaus (Nordfriesland)

Gestelztes Kleinbauernhaus

breit sein.184 An ihrem hinteren Ende, quasi zwischen Wirtschaftsteil und Wohnteil, liegt die Herdstelle bzw. Küche. Das Niederdeutsche Hallenhaus ist der im nördlichen Mitteleuropa meistverbreitete Bauernhaustyp. Die Vorzüge des Niederdeutschen Hallenhauses und insbesondere der zentral angelegten Herdstelle beschreibt Jus-

Gestelztes Quereinhaus

Längsgeteiltes Einhaus (Hallen-Einhaus)

Längsgeteiltes Einhaus (Ostelbisches Mittelflurhaus)

tus Möder in seinen »Patriotischen Phantasien« von 1778 in beeindruckender Weise: »Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses, und so angelegt, daß die Frau, welche bei demsel-

W = Wohnteil S = Stall T = Tenne

ben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ein so großer und bequemer Gesichtspunkt ist in keiner anderen Art von Gebäuden. Ohne von ihrem Stuhl aufzustehen, über-

Gulf-Einhaus (Ostfriesland)

Gulf-Einhaus (Eiderstedt)

sieht die Wirtin zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen, die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immerfort und kocht dabei. Ihre Schlafstelle ist hinter diesem Feuer, und sie behält aus derselben eben diese große Aussicht,

Haufengehöft

Hakengehöft (Kanter)

Dreiseitgehöft (Seiter)

sieht ihr Gesinde zur Arbeit aufstehen und sich niederlegen, das Feuer anbrennen und verlöschen, und alle Türen auf- und zugehen, hört das Vieh fressen, die Weberin schlagen und beobachtet wiederum Keller, Boden und Kammer […]. Der Platz bei dem Herde ist der Schönste unter allen.«185

Vierseitgehöft (Kanter)

Kreuzfirstgehöft

Streckgehöft

Kennzeichen des Gulf-Einhauses ist der zentrale, ebenerdige Raum (Gulf = Boden), der ohne Zwischendecke bis zum Dach reicht und als Lagerplatz für Heu, Stroh und Getreide dient. Mit dem Niederdeutschen Hallenhaus ver-

Gulf-Gehöft (Westfriesland)

wandt, ist das Gulf-Einhaus generell längs aufgeschlossen. Dieser Grundtyp, der manchmal auch als »Friesenhaus« be-

Bäuerliche Haus- und Gehöftformen in Mitteleuropa

226

Das moderne Dorf

zeichnet wird, war ursprünglich nur in den Marsch- und

Viehzuchtgebieten der Nordseeküste – vom nördlichen Holland bis Eiderstedt – verbreitet. Er wanderte jedoch seit dem 19. Jahrhundert in vielerlei Abwandlungen landeinwärts. In der Gruppe der Gehöfte unterscheiden wir das regellose Gehöft und das Regelgehöft. Das regellose Gehöft ist durch die unregelmäßige Anordnung der einzelnen Gehöftbauten gekennzeichnet. Als wichtigster Einzeltyp ist das Haufengehöft zu nennen, das besonders im mittleren Bayern geschlossen verbreitet ist. Zum Grundtyp »Regelgehöft« gehören alle Gehöfte mit schematischer Anordnung der Einzelbauten. Bei den sog. »Winkelgehöften« bilden die Einzelbauten einen rechteckigen Hofraum, der an zwei, drei oder allen vier Seiten nach außen abgeschlossen ist. Bei einem durchlaufenden First der Dächer spricht man von Kantern, sonst von Seitern. Nach der Anzahl der Gebäude unterscheidet man Haken-, Dreiseit- und Vierseitgehöfte. Diese Winkelgehöfte sind die in Mitteleuropa meistverbreitete Gehöftform, man nennt sie deshalb auch »Mitteldeutsches Gehöft« oder mit einem älteren Begriff »Fränkisches Gehöft«. »Regulierte Zwiegehöfte« dagegen sind Gehöfte mit zwei Gebäuden in regelhafter Stellung, Beispiele sind das Kreuzfirstgehöft und das Streckgehöft. Die Bezeichnung »Zwittergehöft« hat man für Hofanlagen gewählt, die zwischen dem Einhaus- und dem Gehöfttyp stehen. Neben einem Hauptbau, der als solcher dem Einhaustyp entspricht, treten weitere Gebäude auf, sodass von einem Gehöft gesprochen werden muss. Welche Faktoren und Bedingungen haben zur Ausprägung und Verbreitung der so unterschiedlichen Bauernhoftypen in Deutschland geführt? Es ist ein Beziehungsgeflecht von naturgeographischen, ökonomischen, techni-

Auch im Schwarzwaldhaus sind alle Funktionen des Bauernhofes unter einem Dach, wobei der Wohnteil meist im 1. Stock untergebracht ist, hier ein Bauernhof im Gutachtal, Baden-Württemberg.

schen, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten. In einem historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass

den lokalen und regionalen Baumaterialien vertraut war.

die bäuerlichen Anwesen in früheren Zeiten eine engere

Dessen Techniken und Erfahrungswissen wurden von Ge-

Beziehung zu den lokalen und regionalen Naturgegeben-

neration zu Generation weitergegeben und verbessert.

heiten (wie Klima/Wetter, Böden, Relief, lokale Baustoffe)

Grundsätzlich musste das Bauen ökonomisch und zugleich

hatten. Daneben spielten weitere ökonomische, soziale

nachhaltig sein. Das heißt, die Bauten sollten sparsam er-

und politische Faktoren eine Rolle, besonders das vorherr-

richtet und von großem Nutzen sein und möglichst lange

schende Erbrecht, die Größe der Betriebe, das Nutzungs-

halten.

oder Eigentumsrecht am Boden und nicht zuletzt bewährte Vorbilder, die man aus Nachbarregionen übernahm.

Die traditionellen Bauernhausformen haben im 20. Jahrhundert für die Landwirtschaft erheblich an Bedeutung

Generell wurde die überlieferte Baukultur immer vom

verloren. Sie entsprechen vielfach nicht mehr den moder-

dörflichen Handwerk geschaffen, das vor allem auch mit

nen Betriebserfordernissen und Wohnbedürfnissen. Vor-

Gestalt der Kulturlandschaft

227

dass sie bundesweit ähnlich sind und z. B. bei den Baustoffen kaum noch regionale Merkmale aufweisen. Andererseits hat die neuere Entwicklung bisher keinen gleichbleibenden Typ hervorgebracht, sie ist vielmehr durch ständige Veränderungen geprägt. Ein gutes Beispiel bietet das Wohnhaus der Bauernfamilie: Mal ist es eingeschossig, mal zweigeschossig, bald mit steilem, bald mit flachem Satteldach und nicht zuletzt oft als Bungalow ausgebildet. Ähnliche Variationsfolgen lassen sich an den Stallungen oder den – oft landschaftsprägenden – Silo- und Biogasanlagen oder Kornspeichern aufzeigen. Funktionales Bauen und internationaler Stil, die den Städtebau seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bestimmen, haben auch die Bauernhausentwicklung entscheidend beeinflusst. Niederdeutsche Hallenhäuser sind oft stattliche Gebäude und bis zu 40 Meter lang. Die große Deeleneinfahrt an der Giebelseite erschließt alle Räume: Das Beispiel steht im Freilichtmuseum Klockenhagen in Mecklenburg-Vorpommern.

teile besaßen die Gehöfte, die einzeln oder in den lockeren Dörfern und Weilern Norddeutschlands standen. Sie konnten sich mit ihren verschiedenen großen Gebäuden und dem vorhandenen Platz für Erweiterungen leichter als die Einhaustypen an die gewandelten Funktionen anpassen. Sehr begrenzt und vielfach unmöglich waren Umbauten und Erweiterungen in den dicht bebauten Dörfern und Weilern Mittel- und Süddeutschlands. Hier blieb die Aussiedlung in die Feldflur für viele der einzige Weg, den Betrieb zu erhalten, wenn dies denn gewünscht war. Die alten, funktionslos gewordenen Bauten wurden häufig, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, abgerissen. Viele ältere Bauernhäuser, aus denen die Landwirtschaft abgezogen wurde, sind jedoch für neue Zwecke um- und ausgebaut worden. So bleibt durch diese Gebäude ein bäuerlicher Charakter erhalten, obwohl deren ursprüngliche Nutzung längst durch eine andere – meist eine reine Wohnfunktion – abgelöst wurde. Seit etwa 1930 haben sich bei den landwirtschaftlichen Neubauten moderne Formen durchgesetzt und in der Folgezeit allmählich die traditionellen Bauernhaustypen abgelöst. Die verschiedenen Funktionen der Höfe sind heute in der Regel gebäudemäßig streng getrennt, besonders die intensive Tierhaltung ist in separaten Gebäuden untergebracht. Ein weiteres Kennzeichen der neuen Formen ist es, Gehöfte bestehen aus mehreren Hofgebäuden. Hier ist ein prächtiger Vierseithof zu sehen, der in Vielau am Rande des Erzgebirges in Sachsen steht.

228

Das moderne Dorf

Seit etwa 1955 wurden zahllose Bauernhöfe in Westdeutschland aus den beengten Dorflagen in die Feldflur ausgesiedelt. Es sind meist Gehöfte mit mehreren Gebäuden, im Bild ein moderner Aussiedlerhof bei Leinfelden-Echterdingen.

Doch was passiert in der Zukunft mit den noch vorhan-

Erfahrungen mit dem Denkmalschutz überwiegend eher

denen alten Bauernhäusern? Wie lange werden sie noch

negativ: Bei Anfragen nach im Denkmalschutzgesetz vor-

das Dorf prägen und schmücken? Die meisten sind zu rei-

gesehenen Hilfen für den Denkmaleigentümer (z. B. zum

nen Wohngebäuden umgebaut worden, andere für gewerb-

Thema Grundsteuererlass) traf ich auf massive bürokrati-

liche Zwecke. Viele stehen allerdings heute leer oder wer-

sche Schwierigkeiten: Nicht-Reagieren, lange Antwort-

den nur noch zu Bruchteilen genutzt. Wird man alle an die

zeiten, Abwimmeln etc. Problematisch sind außerdem die

nächste Generation weitergeben können? Die meisten Bun-

›Denkmalschutz-Modeströmungen‹: Musste man in den

desländer haben ihre Dorferneuerungsprogramme inzwi-

1970er Jahren seine neuen Fenster am ältesten Vorbild am

schen ganz auf die Umnutzung der Altbauten in den Dorf-

Haus ausrichten, so will man uns nun Sprossenfenster und

kernen konzentriert. Auch die amtlichen Denkmalbehör-

Rollschichten über und unter dem Fenster mit dem Argu-

den sind gefordert, die noch vor wenigen Jahrzehnten die

ment verbieten, man müsse erkennen, dass die Umbaumaß-

historischen Bauernhäuser ignorierten. Inzwischen hat

nahme von heute stamme. Ich war selbst in den 1970er Jah-

man deren Wert erkannt. Doch was darf man den Eigentü-

ren ehrenamtlicher Denkmalpfleger, kann jedoch jedem

mern zumuten, die in einem denkmalgeschützten Bauern-

nur raten, es sich sehr gut zu überlegen, ob er sein Eigen-

haus wohnen?

tum dem willkürlichen Zugriff sehr langsam arbeitender

Leider machen Dorfbewohner immer wieder schlechte

Bürokraten unterwerfen will, die überdies wohl kaum noch

Erfahrungen mit den einschlägigen Behörden. Hier das

über Geldmittel verfügen.«186� Solche Erfahrungen fördern

Beispiel eines befreundeten Kollegen, der seit Jahrzehnten

natürlich nicht die Erhaltung wertvoller Bauten in unse-

mit seiner Großfamilie in einem ehemaligen Bauernhaus

ren Dörfern.

am Rande des Ruhrgebiets wohnt und ein leidenschaftlicher Dorfbewohner ist: »Als Eigentümer und Bewohner einer ehemals bäuerlich genutzten Hofanlage sind meine

Gestalt der Kulturlandschaft

229

So kam die Farbe ins Dorf Die herkömmlichen regionalen Baumaterialien

Unsere Dörfer sind bunt. Sie haben meist ihre eigene

Dörfer des Tieflandes die Geröllsteine aus den eiszeitlichen

lokale oder regionale Farbe. Diese spiegelt die Mate-

Ablagerungen, daneben hatten sie ihre Ton- und Lehmgru-

rialien des Untergrundes wider: rote Tonziegel, braune,

ben. In den übrigen »steinreichen« Regionen Deutschlands

gelbe und rötliche Sandsteine, gräulich-weiße bis

besaßen die meisten Dörfer ihre eigenen Steinbrüche.

hellblaue Kalksteine, bunt glitzernder Granit, schwarzer

Das ursprüngliche Baumaterial im ehemals vom Wald

Schiefer und Basalt, Tuffe in allen Grautönen, schwarz-

beherrschten Mitteleuropa war das Holz. Bis in die Frühe

weißes Fachwerk. Die Menschen haben für ihre

Neuzeit, teilweise sogar bis in das 19. Jahrhundert hinein,

Bauten die Materialien aus ihrer Umgebung genutzt.

behielt das Holz hier seine führende Rolle als Baustoff

Es begann mit Holz, Lehm und Stroh und entwickelte

ländlicher Siedlungen. Hinsichtlich der Gebäudekonstruk-

sich zu prachtvollen Steinbauten. Über ganz Deutsch-

tion dominierte die Fachwerkbauweise. Die Gefache dieser

land gesehen entstanden die regionaltypischen

Holzständerbauten wurden mit Lehm ausgefüllt, den man

Baustofflandschaften. Diese können eine Basis für

mit Ästen und Stroh vermengte, um ihm einen größeren

eine moderne regionale Baukultur sein.

Halt zu geben. Für die Dacheindeckung nutzte man ebenfalls Produkte aus der Land- und Forstwirtschaft: Stroh,

Dörfer haben ihre spezifischen Farben, die mit den verwen-

Reet und Holzschindel.

deten Baumaterialien zusammenhängen. Bis in die 1950er

Seit der Frühen Neuzeit breitete sich allmählich die

Jahre hinein waren die Baustoffe überwiegend ortsgebun-

Steinbauweise, aus den romanischen Ländern kommend,

den. Sie wurden in der Umgebung der Siedlung gewonnen,

in Mitteleuropa aus. Ihre Vorzüge gegenüber dem Holz-

um die Transport- und Baukosten niedrig zu halten. Aus-

und Lehmbau in Bezug auf Wetterbeständigkeit und Fes-

nahmen von dieser Regel leistete man sich nur bei Kult-

tigkeit hatte man durch die Kult- und Herrschaftsbauten

und Repräsentationsbauten wie Kirchen, Pfarrhäusern,

bereits kennengelernt. Vorreiter der Steinbauweise waren

Rathäusern und Herrensitzen wie Burgen, Schlössern und

die wald- und holzarmen Landschaften wie z. B. die Nord-

großen Gutshäusern. In den meisten ländlichen Siedlungen spiegelt das überkommene Baubild die jeweilige Naturausstattung der Gemarkung bzw. Region wider. Man nutzte die Gesteine, die lokal »anstanden«. So verwendeten die

230

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Das Mittelgebirge bietet alle Baumaterialien: Naturstein für den Sockel, Fachwerk für den Aufbau und Schiefer für das Dach. Hier der Dorfkern von Diedenshausen im Wittgensteiner Land.

seemarschen, in denen sich bereits seit dem 16. Jahrhundert

norddeutschen Siedlungen. In Mittel- und Süddeutschland

der Ziegelstein durchsetzte. Während einer langen Über-

haben wir sehr verschiedenartige und reiche Naturstein-

gangsphase vom Holz- zum Steinbau wurden Holz und

vorkommen, die in zahllosen Steinbrüchen abgebaut wur-

Stein häufig in Kombination verwendet. Dabei wurden die

den und z. T. bis heute werden. Anzutreffen sind hier vor

Keller- und teilweise auch die Untergeschosse aus Stein er-

allem die durch Ablagerungen entstandenen Sediment-

baut, während die Ober- und/oder Dachgeschosse in tradi-

gesteine Sandstein, Kalkstein und Grauwacke, die Magma-

tioneller Holzbauweise ausgeführt wurden.

gesteine Granit, Basalt und Tuff sowie die durch Hitze und

Die Steinbauweise erreichte schließlich auch die Dächer

Druck im Erdinnern »umgewandelten« metamorphen Ge-

der Bauernhäuser und verdrängte die früheren »Weichdä-

steine Quarzit, Schiefer und Marmor. Die in Deutschland

cher« aus Stroh und Holz, die um 1800 noch die Dorfbil-

am meisten verbreiteten und für den Hausbau verwende-

der prägten. Dacheindeckungen und teilweise auch Wand-

ten Natursteine sind die diversen Sand- und Kalksteinarten.

verkleidungen wurden danach zunehmend mit Tonziegeln

Quasi unmittelbar »über« den jeweiligen Natursteinvor-

und Gesteinsplatten ausgeführt. Die Nutzung der Dachzie-

kommen haben sich die unterschiedlichen Baumaterial-

gel begann im Norddeutschen Tiefland, die der Dachsteine

landschaften herausgebildet.

in den »steinreichen« Mittelgebirgen. An der unteren We-

Eine große Vielfalt und ein häufiger Wechsel der Stein-

ser wurden die im Solling abgebauten roten Sandsteinplat-

baulandschaften sind bis heute besonders in den deutschen

ten zur Dacheindeckung genutzt. Wer ein noch erhaltenes

Mittelgebirgen, z. B. im südlichen Niedersachsen oder in

Beispiel anschauen möchte, kann dies im nordhessischen

der Eifel, zu beobachten. Ein anderes konkretes Beispiel

Grebenstein am Haus Leck tun, das 1606 seine Dachhaut

ist im Kreis Paderborn im südöstlichen Westfalen zu fin-

aus Solling-Platten erhielt und heute als Ackerbürgermu-

den: Hier sind auf einer Strecke von etwa 25 km – von Al-

seum dient.

187

In einigen Kalksteinregionen Süddeutsch-

lands wurden die Dächer auch mit hellen Kalksteinplatten gedeckt, man findet diese heute gelegentlich noch im Altmühlgebiet und in Mainfranken. Am weitesten verbreitet waren und sind die Dacheindeckungen aus Schiefer. Schiefervorkommen und -brüche gab es in fast allen Teilen des deutschen Mittelgebirges. Ehemals waren die meisten Dächer an der Mosel, der Lahn, am Mittelrhein, im Sauerland, im Harz und in den thüringischen Berggebieten mit Schiefer bedeckt. Generalisierend kann man feststellen, dass die vorher auf dem Land dominierende Holz- und Fachwerkbauweise in Deutschland allmählich seit der Frühen Neuzeit und endgültig ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Steinbauweise ersetzt wurde. Entsprechend der lokalen und regionalen Natursteinvorkommen ist die Skala der für Bauzwecke genutzten Steinarten sehr breit. In Norddeutschland, das überwiegend von eiszeitlichen Ablagerungen bedeckt ist, dominieren die aus Skandinavien stammenden Granite und Gneise (Gerölle und Felsbrocken) als Bausteine. Daneben werden im »steinarmen« Norddeutschland seit Jahrhunderten die in vielen Vorkommen anstehenden Tone und Lehme abgebaut und zu Ziegelsteinen und Dachziegeln gebrannt. Bis heute prägt der rotbraune Ziegel das Bild der Findlinge aus Skandinavien und Ziegelsteine sind die traditionellen Baumaterialien in Norddeutschland: in der Dorfkirche in Briest bei Schwedt wurden beide verbaut.

Gestalt der Kulturlandschaft

231

verändert. An manchen Gebäuden, die ursprünglich mit drei bis vier verschiedenen Baustoffen ausgekommen sind, sind heute nach Ergänzungen und Renovierungen zehn und mehr Baustoffe zu beobachten. Ein früheres Kennzeichen des ländlichen Bauens, nämlich die Beschränkung von Baustoffen, Formen und Farben, ist heute also (durch Angebote und Wohlstand) oft nicht mehr gegeben. In jüngerer Zeit ist jedoch auf dem Land eine Rückbesinnung auf lokale Traditionen und dörfliche Eigenwerte zu beobachten. Dazu gehört auch, dass lokale und regionale Baustoffe zunehmend wieder angeboten werden. Ein Beispiel ist die Neue Ziegel-Manufaktur Glindow bei Werder westlich von Potsdam. Am Standort einer alten Ziegelei und teilweise in Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert werden vielfältige alte und neue Ziegelprodukte für historische Im Natursteinbruch in Rochlitz in Sachsen wird der rötliche Porphyr abgebaut, der bis heute in ganz Sachsen ein beliebter Baustein ist und auch für Repräsentativbauten in Leipzig und Dresden verwendet wurde.

und moderne Bauten und Pflasterungen hergestellt. Unterstützt wird dieser Trend durch die staatliche Dorferneuerungsförderung mit dem entsprechenden Leitbild der »erhaltenden Erneuerung« sowie den Wettbewerb »Unser Dorf

tenbeken über Paderborn nach Delbrück – drei verschie-

hat Zukunft«. So werden z. B. in vielen Dörfern die ortsty-

dene Baumateriallandschaften wahrnehmbar. Zunächst

pischen Hof- und Böschungsmauern wieder mit den loka-

die bräunlich-roten Sandsteinorte des Eggegebirges, dann

len Bruchsteinen erneuert oder neu aufgebaut. Die Dorfbe-

die gräulich-weißen Kalksteinsiedlungen der Paderbor-

wohner merken inzwischen, dass die überlieferten Bautra-

ner Hochfläche (mit dem Paderborner Dom als dominan-

ditionen dem Ortsbild zugutekommen und darüber hinaus

tem »Beleg«) und schließlich die rötlichen Tonziegelbauten

die Zufriedenheit und Identifikation mit dem Dorf stärken.

des Tief landes. Orte, die auf Gesteinsgrenzen liegen, zei-

In einigen Natursteinregionen Deutschlands sind in den

gen im Baubild meist auch ihr »doppeltes« Gesicht – wie

letzten Jahrzehnten kleine Sand- und Kalksteinmuseen

das Dorf Herbram, das am Rande des genannten Egge-

entstanden. Sie vermitteln meist sehr anschaulich Kennt-

gebirges liegt, sowohl durch rote Sandsteine als auch durch

nisse der Entstehung, Gewinnung, Bearbeitung und Ver-

gräuliche Kalksteine geprägt wird.

bauung von Natursteinen. Beispiele solcher regionaler Na-

Die Modernisierung und Industrialisierung der Bau-

tursteinmuseen sind das Sandsteinmuseum in Havixbeck

weise hat ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf dem

bei Münster und das Ziegel- und Kalkmuseum in Flints-

Land zu einer allmählichen Aufgabe der ehemals land-

bach an der Donau bei Deggendorf.

schaftsgebundenen Baumaterialien geführt. Fast überall

232

Die regionaltypischen Bautraditionen prägen bis heute

ist bei Neu- und Ergänzungsbauten die traditionelle Holz-

das Bild unserer Dörfer, Kleinstädte und generell der länd-

und Natursteinbauweise durch die Verwendung von Kunst-

lichen Kulturlandschaften. Sie zeigen uns die früher vor-

steinen, Beton, Eisen, Glas und Kunststoff ersetzt worden.

handenen lokalen und regionalen Ressourcen und Bau-

Den dörflichen Bauherren steht heute eine nahezu unüber-

stoffe, die an Boden, Klima und Topographie angepassten

schaubare Auswahl an überregionalen Baustoffen zur Ver-

Haus- und Gehöftformen, die handwerklichen Fähigkeiten

fügung. Die lokalen und regionalen Abbaustätten wur-

und Stilrichtungen und auch die wirtschaftlichen Verhält-

den in der Regel aufgegeben und nur noch in Einzelfällen

nisse der Bauherren. Man spricht deshalb von landschafts-

für Restaurationen historischer Bauten offengehalten. Das

gerechten oder –typischen Bautraditionen. Immer wieder

reichhaltige Angebot an modernen Baustoffen hat nicht

gibt es Versuche, eine »Regionale Baukultur« als einen Bei-

nur die Neubauten, sondern vielfach auch die Altbauten

trag zur Erhaltung von Kulturlandschaften zu etablieren.

Das moderne Dorf

Worin liegt die Bedeutung einer Regionalen Baukultur? Sie ist zugleich ein Wissensspeicher und Identifikationsfaktor. Die überlieferten Siedlungen sind ein gebauter Erfahrungsschatz und damit auch sinnlich fassbare Haltepunkte der lokalen und regionalen Identität. Die überlieferten Bautraditionen können für die heutigen Herausforderungen zu einem nachhaltigen Bauen einige Antworten aufzeigen, da sie durch einen sparsamen Umgang mit Energie und Rohstoffen geprägt waren. Regionale Baukultur kann aber auch die Zufriedenheit und Beheimatung der Menschen fördern und damit zugleich zu einem Standortfaktor für die Zukunft werden. Orte und Regionen mit regionaler Identität und Tradition sind attraktiv und beliebt und haben deshalb auch Vorteile, Touristen sowie Zu- und Rückwanderer anzulocken. Wie kann man die zunächst abstrakten Prinzipien einer Regionalen Baukultur mit Leben zu füllen? In vielen Dörfern, Gemeinden und Regionen sind bereits Gestaltungs-

Das Dorf Herbram in Westfalen liegt auf einer geologischen Gesteinsgrenze, was sich im Ortsbild widerspiegelt: Hellgrauer Kalkstein und roter Sandstein wechseln einander ab.

oder Baufibeln, Handbücher oder Leitfäden zur jeweiligen Baukultur erstellt worden. Diese sollen zunächst den Bau-

sein: Im ehemaligen Bauerndorf Wettstetten entstand eine

herren und Architekten eine Orientierung und den Baube-

neue Ortsmitte mit drei Häusern für Gemeindeverwaltung,

hörden eine Basis für Empfehlungen und eventuelle Förde-

Ratssaal/Bürgersaal und Kita/Altenpflege, die sich am tra-

rungen bieten. Die oft mit Bildbeispielen und Zeichnungen

ditionellen Haustyp der südlichen Fränkischen Alb, dem

ausgestatteten Broschüren können vor allem Denkanstöße

sog. »Jurahaus« orientieren.

geben und den Kommunikationsprozess erleichtern. Gute

Die Bemühungen um eine Regionale Baukultur las-

kommunale Beispiele sind die »Gestaltungssatzung für

sen sich in allen Teilen Deutschlands beobachten. »Beste-

historische und neue Bauten in der Gemeinde Burbach«

Praxis-Beispiele« werden in einschlägigen Fachzeitschrif-

im Siegerland (NRW) von 2010, die »Baufibel Altes Land«

ten wie »Ländlicher Raum«, LandInform«, »Monumente«,

(zwischen Stade und Buxtehude) von 2011 oder die »Initia-

»Bauwelt«, »Der Holznagel« und »Bauernblatt« oder in den

tive Baukultur Eifel. Zeitgemäßes Bauen im Eifelkreis Bit-

Verbandsorganen und Jahrbüchern der der regionalen Hei-

burg-Prüm«, die die reiche Bautradition der Eifel erhalten

matverbände, der Länderakademien Ländlicher Raum, der

und weiterentwickeln will und gemeinsam vom Eifelkreis

Denkmalämter, der Architektenkammern und auch Bau-

Bitburg-Prüm und der Architektenkammer Rheinland-

sparkassen ausführlich beschrieben. Die Verbreitung gu-

Pfalz getragen wird. Um die Regionale Baukultur der Eifel

ter Beispiele ist wohl der beste Impuls für eine erhoffte

zu stärken und im Bewusstsein möglichst vieler Menschen

flächenhafte Ausdehnung der Regionalen Baukultur in

zu verankern, werden seit 2013 jährlich Baukulturpreise

Deutschland. Doch welche Bürgermeister und Landräte

vergeben. Auch bei der Verwirklichung diffiziler Aufga-

machen dies wirklich zu ihrem Anliegen? Und welche

ben kann die Regionale Baukultur ein hilfreicher Maßstab

Bundesländer unterstützen sie dabei?

Gestalt der Kulturlandschaft

233

Deutschland – ein Flickenteppich! Von der Vielfalt der Flurformen

Wie die Dorf- und Bauernhausformen prägen auch

deutschen Südwesten gewitzelt, die Bauern könnten hier

die unterschiedlichen Flurformen das Bild der Agrar-

die neuen Mähdrescher nicht einsetzen, weil diese beim

landschaft. Die Flur kann generell wenig oder stark

einmaligen Befahren ihres Feldes gleich das halbe Nach-

parzelliert, in Streifen oder Blöcke gegliedert sein.

barfeld mitmähen würden.

Flurformen sagen uns eine Menge über die wirtschaft-

Wie kam es zu diesen sehr unterschiedlichen Flurfor-

lichen, besitzrechtlichen und sozialen Verhältnisse

men in Deutschland? Manchmal waren es wohl die natür-

der Landwirtschaft. So wirkt das historische Erbrecht

lichen Verhältnisse. So hat das im Bayerischen Wald auf ei-

mit seinen unterschiedlichen Besitzteilungen bis in

nem Bergkegel gelegene Dorf Kreuzberg eine Radialhufen-

die Gegenwart nach. Für den Bauern ist es heute ein

flur, die sich ideal an die Topographie anpasst. Andere

riesiger Unterschied, ob er 100 ha auf 36 Parzellen

Flurformen hängen mit geplanten Dorfgründungen zu-

in einer kleinparzellierten Flur verstreut hat oder diese

sammen. So haben die gezielt gegründeten Straßen-, Wald-

zusammengefasst in zwei oder drei großen Blöcken

hufen- und Angerdörfer meist im unmittelbaren Anschluss

bewirtschaften kann.

an die Häuserzeilen gleichmäßige Streifenfluren. Die wesentliche Ursache für die in Deutschland sehr un-

Wer mit dem Flugzeug bei gutem Wetter von der Insel Use-

terschiedlichen Flurbilder liegt allerdings im historischen

dom quer durch Deutschland bis in den Raum Freiburg im

Erbrecht. Zwei Grundformen werden hierbei unterschie-

Breisgau fährt, erkennt beim Betrachten der Landschaft

den. Wir sprechen von »Anerbenrecht« oder »geschlosse-

gewaltige Unterschiede: Riesige, oft kilometerlange Feld-

ner Vererbung«, wenn der landwirtschaftliche Grundbe-

stücke im Nordosten, kleine und schmale »Handtuch«-

sitz im Erbfall ungeteilt auf eine Person übergeht. Wird das

Parzellen im Südwesten. Was aus der Luft wie ein maleri-

landwirtschaftliche Vermögen hingegen gleichmäßig an

sches Kunstwerk erscheint, ist in historischen Zeiträumen

die Erben verteilt, nennen wir diese Erbfolge »Realteilung«

gewachsen. Was für Reisende interessant und für Wissen-

oder »Freiteilbarkeit«. In der Regel wird hierbei der Grund

schaftler ein Forschungsfeld ist, ist für den Bauern ein harter Wirtschaftsfaktor. Eine zu starke Parzellierung der Flur bzw. der Betriebsflächen hat ökonomische Nachteile. So wurde schon vor Jahrzehnten auf einer Agrartagung im

234

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Durch die ständige Realteilung bei der Vererbung des Grundeigentums entstand im Südwesten Deutschlands eine starke Flurzersplitterung, wie hier bei Waiblingen in Baden-Württemberg.

und Boden verteilt, nicht aber die eigentliche Hofstelle. Al-

doch deutlich geringer als der Wert des Hofes war. Dem-

lerdings gab es im südwestdeutschen Raum auch Hofge-

gegenüber war die Realteilung dem politischen Leitbild

bäudeteilungen bis hin zum Stockwerkseigentum.

der Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet. Alle Erb-

Das Hauptziel des Anerbenrechts war die sog. »Hofidee«.

berechtigten sollten die gleichen Startchancen haben. Dies

Es ging darum, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der

hatte Vorrang gegenüber der Hofidee der geschlossenen

ungeteilten Höfe zu stärken und in der Generationenfolge

Vererbung. Die Folge war ein ständiger Auf- und Abbau der

zu erhalten. Die Nachteile des Anerbenrechts lagen in der

landwirtschaftlichen Betriebe, und der größte Nachteil der

wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit. Die An-

Realteilung bestand in der fortgesetzten Zersplitterung der

sprüche der Miterben gegenüber dem Haupterben waren

landwirtschaftlichen Flächen.

begrenzt. Sie erhielten meist eine sog. »Abfindung«, die je-

Die Verbreitung der historischen Erbsitten zeigt in

Im Osten Deutschlands dominieren heute, bedingt durch die Agrarpolitik seit dem 2. Weltkrieg, die großen Feldstücke, die manchmal die ganze Dorfgemarkung umfassen, hier ein Blick auf die Feldflur bei Sternberg in der Mecklenburgischen Seenplatte.

Gestalt der Kulturlandschaft

235

Die schöne Radialhufenflur von Kreuzberg im Bayerischen Wald ist im Luftbild besonders gut zu erkennen. Wie eine Spinne im Netz liegt das Dorf auf einem Bergsporn, von dort ziehen sich die immer breiter werdenden Feldhufen den Hang hinunter.

Deutschland wie in Europa starke Unterschiede zwischen

ten südlich der Linie Mönchengladbach – Lohr am Main,

In Nordeuropa von Skandinavien

wobei allerdings der Schwarzwald und der Odenwald aus-

Norden und Süden.

187a

über Norddeutschland bis zu den Britischen Inseln domi-

236

gespart bleiben.

niert die geschlossene Vererbung, sie ist darüber hinaus in

In den südwestdeutschen Realteilungsregionen sind die

Mittel- und Westeuropa in einem breiten Gürtel von Öster-

Feldfluren bis heute relativ kleinparzelliert. Dies mag er-

reich, Bayern und Schweiz über Mittel- und Südfrankreich

staunen, denn im Dritten Reich wurde die Realteilung per

bis nach Nordspanien verbreitet. Die Realteilung hingegen

Gesetz aufgehoben. Nach 1945 galten zwar wieder die älte-

ist eindeutig vorherrschend in Südeuropa, vor allem in Ita-

ren Erbregelungen, es wurde jedoch der Grundsatz der Frei-

lien und Spanien, aber auch in großen Teilen Frankreichs,

willigkeit eingeführt, und die Agrarpolitik förderte zuneh-

in Belgien und den Niederlanden. In Deutschland haben

mend das Leitbild der geschlossenen Vererbung. Außerdem

wir ein relativ geschlossenes Realteilungsgebiet im Südwes-

haben auch im deutschen Südwesten die meisten Gemar-

Das moderne Dorf

Im Waldhufendorf Königswalde im sächsischen Erzgebirge ist eine typische Waldhufenflur durch Steinrücken und Buschreihen erhalten. Hinter den Höfen in Tallage verlaufen die langen Streifenparzellen hangaufwärts bis zum angrenzenden Wald.

kungen seit den 1950er Jahren schon mindestens eine Flur-

hofes aufweisen. Als wesentliche Grundformen der Par-

bereinigung mitgemacht. Trotz allem wirkt die lange Tra-

zelle unterscheidet man Blöcke (Groß- und Kleinblöcke)

dition der Realteilung also bis in die Gegenwart!

und Streifen (lange und kurze, schmale und breite) und so-

Wie sehen nun unsere Feldfluren im Einzelnen aus? Die

mit nach dem jeweiligen Vorherrschen zwischen Blockflu-

Parzelle ist die kleinste formale Einheit in der Flur, manch-

ren und Streifenfluren. Je nach Verteilung der Besitzpar-

mal auch einfach »Flurstück« genannt. Sie ist in vielen Län-

zellen über die Flur wird von Gemengelage oder Einödlage

dern wie auch in Deutschland exakt vermessen und in amt-

gesprochen. Unter »Gemengelage« versteht man die ver-

lichen Katasterkarten und Grundbüchern als Eigentum

streute Lage der Parzellen eines Betriebes, unter »Einöd-

eingetragen. Deswegen spricht man auch von »Kataster-

lage« die geschlossene oder arrondierte Lage des Besitzes

parzelle«. Hinsichtlich ihrer Größen können Parzellen

in der Flur. Zur Einödlage gehört meist auch die Hofstelle

nur wenige Quadratmeter bis hin zu 2000 m2 eines Guts-

inmitten der eigenen Felder. Die Grenzen der Besitzparzel-

Gestalt der Kulturlandschaft

237

len sind im Gelände meist durch Steine markiert bzw. »ver-

schutz gestellt worden. Gut erhalten sind die langen Wald-

steint«. Zusätzlich werden die Grenzlinien in der Flur häu-

hufenstreifen in Bärenstein bei Annaberg in Sachsen, wobei

fig durch Hecken, Zäune, Wälle, Raine, Mauern, Gräben

die Hufengrenzen durch markante Buschreihen weithin in

oder »Knicks« (in Schleswig-Holstein) markiert und sicht-

der Landschaft sichtbar sind. Ein anderes Beispiel ist Bai-

bar gemacht. Diese Grenzmarkierungen besitzen in vielen

ershofen bei Augsburg: Hier wurde nicht nur das gut er-

ländlichen Regionen einen landschaftsgliedernden und äs-

haltene Angerdorf unter Schutz gestellt, sondern auch ein

thetisch ansprechenden Charakter.

Teil der ebenfalls noch gut erkennbaren hofanschließenden

Von den ursprünglichen Flurformen ist in Deutschland nur noch relativ wenig erhalten.

Kreuzberg im Bayerischen Wald mit seiner klassischen Ra-

19. Jahrhunderts sind durch staatliche Flurneuordnungen

dialhufenflur. Hier ist vor Jahren in Zusammenarbeit von

meist größere Flurstücke und neue Feldwege geschaffen

Flurbereinigung und Denkmalpflege die Erkennbarkeit der

worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die überliefer-

radial vom Dorf in die Flur verlaufenden Hufen durch He-

ten Flurbilder durch staatlich verordnete und gelenkte Bo-

cken- und Baumpflanzungen wiederhergestellt worden.189

denreformen und Flurbereinigungen noch einmal stark

Auch im Waldhufendorf Königswalde (S. 237) im Süd-

verändert worden. Gerade im Gebiet der ehemaligen DDR

osten Sachsens, im Herzen des Erzgebirges gelegen, ist eine

wurde die überlieferte Parzellenstruktur nahezu vollstän-

typische Waldhufenflur erhalten. Hinter den alten Höfen

dig beseitigt und zu riesigen Schlägen zusammengefasst.

in Tallage ziehen sich die langen Streifenparzellen han-

Die meisten deutschen Gemarkungen dürften in den letz-

gaufwärts. Ihre Grenzen sind seit altersher als Steinrü-

ten 150 Jahren mindestens eine, häufig aber bereits mehrere

cken und z. T. auch mit Hecken und Buschreihen markiert.

Flurbereinigungen durchlaufen haben. Es macht daher we-

Im Jahr 2009 bekam Königswalde für die Erhaltung und

nig Sinn, die Flurformen – wie die Dorf- und Bauernhaus-

Pflege seiner markanten Steinrückenlandschaft als heraus-

formen – in einer kleinmaßstäbigen Karte darzustellen. In-

ragendes kulturlandschaftliches Erbe einen Sonderpreis

teressanter ist hier schon ein Blick auf eine Karte der histo-

beim 7. Sächsischen Landeswettbewerb »Unser Dorf hat Zu-

rischen Flurformen um 1850, die im Atlas der Deutschen

kunft«. Katja Kaubitzsch liefert die Begründung: »Bei Er-

Agrarlandschaft erschienen ist.

halt und Pflege der Waldhufen- und Steinrückenlandschaft

Da sich die historischen Flurformen nur in relativ weni-

238

Hufenparzellen. Immer wieder zurecht zitiert wird auch

Bereits in der Mitte des

187b

greifen nachhaltige Bewirtschaftung, moderne Landwirt-

gen Beispielen erhalten haben, finden diese das besondere

schaft, naturschutzfachliche Pflege und touristische In-

Interesse der Öffentlichkeit bzw. der Denkmalpflege.188 So

wertsetzung ineinander.«190 Das Waldhufendorf Königs-

ist die Klosteranlage und das Dorf Bebenhausen (bei Tü-

walde pflegt also seine geschichtliche Identität und denkt

bingen) mitsamt der umgebenden Feldflur unter Denkmal-

zugleich an den wirtschaftlichen Nutzen.

Das moderne Dorf

Von Nutzen und »paradiesisch« Der dörfliche Garten

Der dörfliche Garten ist für viele ein Inbegriff des Land-

bei Parallelen in der Pflege der Pflanze und der Erziehung

lebens. Dichter und Philosophen beschreiben den

des Menschen: »So wenig der Gärtner sich durch andere

Garten immer wieder als vom Menschen geschaffene

Liebhabereien zerstreuen darf, so wenig darf der ruhige

kleine Paradiese im Einklang mit der Natur, als Orte

Gang unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden

der edlen Gestaltung und Besinnung. Die Gartenarbeit

oder zur vorübergehenen Vollendung nimmt. Die Pflanze

bringt Freude und zugleich Nutzen. Die Selbstversor-

gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles

gung mit Nahrungsmitteln aus dem eigenen Garten hat

erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt. Ein

auf dem Land eine lange Tradition. Die historischen

ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahreszeit, in

Vorläufer der heutigen Dorfgärten sind Klostergärten,

jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von

Schloss- und Gutsgärten, Pfarr- und Lehrergärten

niemand mehr als vom Gärtner verlangt.«192

sowie Bauerngärten. Heute finden wir auf dem Land neben Nutzgärten auch alle Arten von Zier- und Wohngärten.

Sprachgeschichtlich meint »Garten« das begrenzte, durch einen Zaun, eine Mauer oder Hecke abgeschlossene Stück Land, das zur Anpflanzung von Gemüse, Kräutern, Blumen und Obst genutzt wird. Nach der jeweils im Vor-

Was sind Gärten? Dieter Wieland beschreibt es mit wun-

dergrund stehenden praktischen oder ästhetischen Ziel-

derschönen Worten: »Gepflanzte Paradiese. Jeder Garten ist

setzung unterscheidet man zwischen Nutz- und Ziergar-

ein Spiegel von uns selbst. Denn Gärtnern ist ein Urtrieb,

ten, die häufig nebeneinander angelegt sind. Meist schließt

ein Urbedürfnis des Menschen. Lebensraum Garten – das ist

sich der Garten unmittelbar an das Bauern- oder Wohnhaus

ein phantastischer und immer wieder neuer Dialog mit der

an. In eng bebauten Dörfern fehlte oft der Platz für einen

Natur. Nichts hat die Phantasie des Menschen so befruchtet

Hausgarten. Deswegen legte man hier an den Dorfrändern

wie der Traum vom Traumland Garten.«

größere Gartenflächen an.

191

Doch was verlangt ein Garten vom Gärtner? Er braucht

Die Geschichte der dörflichen Gärten beginnt in

ständige Beobachtung und behutsame Pflege und vor al-

Deutschland mit den Klostergärten im Frühen Mittelalter,

lem Geduld. Dies gilt für alle Jahreszeiten. Sehr einfühlsam beschreibt der Naturforscher und Gartenliebhaber Goethe, was die Pflanze vom Gärtner verlangt. Und er sieht da-

Abbildung oben: Der dörfliche Garten macht ein Stück der Lebensqualität des Landlebens aus. Die Bäuerin in ihrem Blumengarten zeigt es.

Gestalt der Kulturlandschaft

239

terpflanzen. So gab es bereits Zwiebeln, Knoblauch, Porree, Sellerie, Rüben, Mangold, Salat, Pastinaken, Möhren, Große Bohnen, Kohl, Kohlrabi, Rettich, Gurken, Melonen, Grüne Bohnen und Kichererbsen. Neben den zahlreichen Gemüsearten baute man vielfältige Gewürz- und Heilpflanzen wie Bärlauch, Bohnenkraut, Kresse, Dill, Estragon, Fenchel, Minze, Kerbel, Koriander, Kümmel, Liebstöckel, Schlafmohn, Rosmarin, Salbei, Schnittlauch und Senf an.193 Zierpflanzen spielten in Klostergärten eine untergeordnete Rolle. Durch das schon im Mittelalter immer dichter werdende Netz von Klöstern breitete sich deren hohe Gartenkultur flächenhaft über das Land aus. Nach den Klöstern sorgten auch die Burg-, Schloss- und Gutsgärten für eine Ausbreitung der Gartenkultur in die Dörfer.194 Noch später waren es die Pfarr-, Apotheker- und Durch die Klöster kam die Gartenkultur aufs Land und war wohl auch die Keimzelle der Bauerngärten: der Klostergarten des Klosters Michaelstein in Blankenburg im Harz.

Lehrergärten, die eine Vorbildfunktion für die Dorfbewohner übernahmen. Besonders wichtig war der Pfarrgarten, quasi als ein Brückenkopf der Kloster- und Schlossgärten

die selbst von den Gärten ihrer Mutterklöster in den Mit-

ins Dorf. »Er war Tauschbörse für die Pflanzen und Sonn-

telmeerländern »gespeist« bzw. angeregt wurden. Kennzei-

tagsschule für den Obstbaumschnitt. Alle Fachwörter wie

chen der Klostergärten waren zwei rechtwinklige Wegach-

propfen, impfen, pelzen, okulieren sind bestes Kirchenla-

sen, die den Garten in vier Viertel teilten. Durch ihre Form

tein. Der Pfarrer hatte immer die besten Obstbäume und die

wirkten die Gärten der Klöster wie Kreuzgänge im Freien,

meisten Bienenvölker und die kostbarsten, feinsten Blumen

tatsächlich wurden sie immer zugleich als Wandelgärten

für den Altar, Rittersporn und Türkenbund, Madonnen-

genutzt zum Beten und Entspannen. Klostergärten waren

lilien.«195

vorrangig Nutzgärten und reich an Gemüse- und Kräu-

Die um 1800 in Erscheinung tretenden Bauerngärten orientierten sich an den Kloster-, Guts- und Pfarrgärten. Wohlhabende Bauern machten hierbei den Anfang, so wurden Gärten nun auch zu einem Statussymbol. Der Bauerngarten war grundsätzlich wie der Klostergarten quadratisch oder rechteckig und in der Regel durch einen Lattenzaun oder eine Hecke abgegrenzt, im Unterschied zu den meist ummauerten Kloster- und Gutsgärten. Seine innere Gliederung erfolgte ebenfalls durch ein Wegekreuz mit einem bepflanzten Rondell in der Mitte. Auch die Bauerngärten waren in erster Linie Nutzgärten, der Anteil der Zierpflanzen war hier weit geringer als in den Herrengärten. Im Mittelpunkt standen die Gemüse- und Kräuterbeete, dazu kamen Beerensträucher und (vereinzelt) Obstbäume, die an den Nordseiten der Gärten platziert wurden. Zierpflanzen waren lediglich eine Ergänzung und nahmen randliche Plätze ein. Die verschiedenen Beete wurden durch Buchsbaumeinfassungen abgegrenzt. Die Pflege der Bauerngärten gehörte in den Verantwortungsbereich der Frauen, die ihre Erfah-

Dieser kolorierte Holzschnitt »Frauen im Kräutergarten« von 1512 zeigt einen Klostergarten der Insel Reichenau. Frauen prägen seit altersher die Gartenkultur.

240

Das moderne Dorf

rungen an die Töchter weitergaben. Ein ertragreicher und gepflegter Garten war der Stolz jeder Bäuerin. Die Männer steuerten nur im Herbst etwas bei, wenn sie Stallmist einbrachten und den Garten umgruben. Ursprünglich waren die meisten Dorfgärten im wahrsten Sinne des Wortes Bauerngärten, da nahezu alle Besitzer von Haus und Grund in der Landwirtschaft tätig waren. Selbst die landlosen Landarbeiter der großen Höfe und Güter besaßen häufig als Pachtland ein kleines Gartenstück zur Selbstversorgung. Mit dem modernen Rückzug der Landwirtschaft aus den Dörfern verlor der Begriff »Bauerngarten« seinen ursprünglichen Zusammenhang. Echte Bauerngärten sind in der Praxis heute nur noch selten anzutreffen. In den Dörfern selbst spricht man daher auch schlicht von Garten. Die traditionellen Formen und Anpflanzungen von Bauerngärten aus der Zeit von 1850 oder 1900 finden wir heute vornehmlich in den ländlichen Freilichtmuseen. Allerdings ist der Begriff immer noch sehr populär. Eine Fülle von Büchern und Zeitschriften widmet sich diesem Thema, doch stehen in diesen Medien meist Ziergär-

Dieser Garten in Nieheim im Kreis Höxter enthält viele Elemente eines klassischen Bauerngartens: das Wegekreuz, die Mischung aus Nutz-, Zier- und Wohngarten, die Beerenbüsche und Obstbäume am Rande.

ten im Vordergrund, zu denen ein paar Würzkräuter hinzukommen. Das hat mit dem alten Bauerngarten als vorrangi-

worden, die die Möglichkeiten des »Lebens mit dem Gar-

gem Nutzgarten jedoch wenig gemein. Die zunehmenden

ten« jahreszeitlich ausdehnen. Horst D. Krus verweist dar-

und gut besuchten Gartenausstellungen und -festivals vom

auf, dass der heutige Dorfbewohner durch sein intensives

Frühjahr bis zum Herbst in allen Teilen Deutschlands zei-

Freizeitleben mit dem Garten Verhaltensweisen übernom-

gen jedoch, dass der ländliche Garten in (der Sehnsucht) der

men hat, die früher dem Adel vorbehalten waren: »In vie-

Bevölkerung eine große Rolle spielt.

len Gärten steht die Nutzung als Ort der Geselligkeit und

Der dörfliche Garten hat sich, wie bereits angedeutet, in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Generell ist der Nutzflächenanteil stark zurückgegangen, während der Zier- und Blumengarten und vor allem die Rasenflächen entsprechend zugenommen haben. Viele Gärten sind heute auf Pflegeleichtigkeit getrimmt. Man will sich nicht mehr den ganzen Sommer an den Garten »binden« und stattdessen »frei« sein für Reisen und andere Hobbys wie Tennis oder Radfahren. Aus zahlreichen ehemaligen »Nutz- und Arbeitsgärten« wurden »Wohngärten« mit Sitzterrassen und Gartenlaube, Springbrunnen und festen Grillplätzen, mit Sandkästen, Trampolin, Schaukeln und Rutschen für die Kinder. Bei sommerlichem Wetter wird das häusliche Leben gern in den Garten verlagert. Man trifft sich hier mit Freunden und Nachbarn zum Grillen, zu Geburtstagen und anderen Anlässen. Häufig sind im Übergangsbereich von Garten und Haus großzügige Wintergärten errichtet Viele Dorfbewohner schätzen die Gartenarbeit oder das »Garteln«, wie es die Bayern scharmant abkürzen. Hier ein Blick in einen Zier- und Wohngarten in Haidenkofen.

Gestalt der Kulturlandschaft

241

und Mistbeete zum Vorziehen von Gemüse zum technischen Standard der Gemüsegärten. Die meisten dörflichen Gärten sind heute eine Mixtur aus Nutz-, Zier- und Wohngarten, wobei die jeweilige Schwerpunktsetzung in allen Variationen vorkommt. Es gibt z. B. sowohl die klassischen Nutzgärten mit Kartoffeln, allen Gemüsesorten, mit Bohnenstangen und Erbsenreisern, mit Beerenobst, Kräuterbeeten und einzelnen Obstbäumen – als auch den modernen Wohngarten mit größeren Rasenflächen und randlichen Buchsbaum- und Rhododendron-Einfassungen, mit er Dorfs tr

aße

Terrasse, Gartenlaube und Grillplatz, zahlreichen Terracot-

Bendelin

Söll

enth

Gemeinde Bendelin Landkreis Prignitz Brandenburg

in

Margariten, Stauden- und Rosenbeeten sowie einem kleinen exquisiten Kräutergärtchen für den Küchengebrauch. Manche Beobachter schreiben dem Wandel der letzten

Kirche

nach

tatöpfen mit Hortensien, Jasmin, Fuchsien, Oleander und

Jahrzehnte herbe Verluste der ländlichen Gartenkultur zu. Tatsächlich sehen viele der heute pflegeleichten Gärten lieblos aus. Sie sind weder richtig Nutz- noch richtig Ziergärten. Die Gartenpflege beschränkt sich auf das Rasenmähen. Dieter Wieland, ein bekannt scharfer Kritiker des WanHaus mit Nutzgarten

nach Netzow

Haus mit Nutzgarten und Kleinviehhaltung Haus mit Kleinviehhaltung

dels auf dem Land, bedauert das allmähliche Verschwinden der alten Bauerngärten und ihre Ablösung durch Gärten, die diesen Namen nicht verdienen. »Das sind Abstellplätze

rg nach Havelbe

für zwei Blaufichten und drei Krüppelkoniferen. Fad. Kahl. Dürftig. Zu Tode rasiert vom kläffenden Rasenmäher. Leer-

Friedhof 0

100

200 m

gefegte Plattformen der Pedanterie, aus denen jedes Gänseblümchen mit Gift herausgeekelt wird. Rasen – steril wie

Nutzgartenkultur in den neuen Ländern: das Beispiel Bendelin in Brandenburg, 2005

Auslegware.«197 Die Wissenschaft hat sich mit den dörflichen Gärten bisher wenig beschäftigt. Hier eine der Ausnahmen: Drei So-

242

des Feierns im Vordergrund. Den Freizeitwert des eigenen

ziologinnen der Universität Bielefeld haben in einer zwei-

Gartens bestimmt dann nicht die Beschäftigung mit der

jährigen Untersuchung von zwei Dörfern der Warburger

Gartenkultur, d. h. der gärtnerischen Arbeit und der Ge-

Börde ein hohes Maß an »Selbstversorgungskultur« und

staltungsfreude, und erst recht nicht der Anbau von Nah-

eine im Vergleich zur Stadt »ausgedehnte Hauswirtschaft«

rungsmitteln. Darin wird der soziale und wirtschaftliche

festgestellt.198 Von 51 befragten Landfrauen bewirtschaf-

Wandel deutlich, in dessen Verlauf ein vormals nur einer

teten noch 47 einen Garten, 38 davon versorgten ihre Fa-

kleinen Bevölkerungsgruppe des Adels und des gehobenen

milien zu mehr als 50 % mit Gemüse und Obst aus dem ei-

Bürgertums vorbehaltener Gartengenuss nun prinzipiell

genen Garten. Das Verarbeiten und Zubereiten, das Einko-

allen Garteninhabern zuteil wird.«

chen und Haltbarmachen der Gartenprodukte gehört zu

196

In die dörflichen Nutzgärten sind früher eher seltene

den Schwerpunkten der meist noch relativ großen Haus-

Gemüsepflanzen wie Zucchini und Brokkoli sowie Kräu-

wirtschaften. In Gesprächen wurde immer wieder auch der

ter wie Rosmarin und Lavendel eingezogen. Außerdem ge-

soziale Aspekt des Gartens und der Gartenarbeit herausge-

hören heute verglaste Gewächshäuser für Tomaten, Klein-

stellt. Manche Frauen erklärten, dass sie ihren Garten we-

gewächshäuser für Gurken, Folientunnel, Tomatenhauben

gen der kleinen Kinder unterhalten, die praktisch im Gar-

Das moderne Dorf

Die schöne Park- und Gartenanlage von Schloss Ippenburg bei Bad Essen in Niedersachsen öffnet sich mehrfach im Jahr für große Gartenfestivals. Die wachsenden Besucherströme zeigen, dass immer mehr Menschen von der Gartenkultur angetan sind.

ten aufwachsen und im Schulalter z. B. selbst ein kleines

gärtner häufig eine Kleintierhaltung mit Hühnern, Gän-

Stückchen Land bewirtschaften können. Andere (ältere)

sen, Enten und Kaninchen und manchmal auch mit ein bis

Frauen betonten, dass die gewohnte Gartenarbeit und die

zwei Schweinen. Durch diese private Tierhaltung wurde

oft damit verbundene Kleintierhaltung (vor allem Hühner)

nicht nur die Selbstversorgung gesichert, sondern häufig

einen wesentlichen Teil ihrer Lebensfreude ausmachen.

ein spürbares Zweiteinkommen erzielt. Nach der Wieder-

Durch Tauschgeschäfte – z. B. Marmelade und Eier gegen

vereinigung blieben die intensive Gartennutzung und die

kleine Dienstleistungen wie die Lieferung von Stroh oder

Kleintierhaltung weitgehend erhalten, sodass sie hier heute

Einkaufshilfen – werden die sozialen Kontakte aufrechter-

einen deutlich höheren Bestand als in den westdeutschen

halten und intensiviert.

Dörfern aufweisen. Bei verschiedenen Befragungen in Dör-

Eine herausragende Rolle spielen die dörflichen Gär-

fern in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, z. B.

ten in den neuen Bundesländern. Während der DDR -Zeit

in Lelkendorf und Bendelin, ergaben sich erstaunliche Er-

konnten die Arbeiter der landwirtschaftlichen Produkti-

gebnisse: Rund 90 % der Hausgrundstücke hatten noch ei-

onsgenossenschaften (LPG ) und andere Dorfbewohner ihre

nen intakten Nutzgarten, die Hälfte davon eine Kleinvieh-

meist großen Gärten weiter bewirtschaften. Neben den

haltung (s. Abb. Seite 231). Elisabeth Meyer-Renschhausen

Nutzgärten betrieben diese Kleinstlandwirte und Hobby-

fasst ihre Untersuchungen über Dorfgärten und Kleinland-

Gestalt der Kulturlandschaft

243

wirtschaft in der Uckermark zusammen: »Gärten und Ne-

tigte, bemerkte er: »Es ist zwar wohl eine unrationelle Form

benerwerbsbauern sorgen dafür, dass die Dörfer nicht ›aus-

der Gemüseproduktion, aber mir scheint, dass es eine sehr

sterben‹. Ländliche große Nutzgärten helfen Dauerer-

rationelle Form der Glücksproduktion ist.« Und er fügte

werbslosen, ehemaligen LPG -Arbeitern und zwangsweise

noch einen für die Ökonomenzunft ungewöhnlichen

früh Verrenteten angesichts sinkender Sozialleistungen

Satz hinzu: »Ich glaube, dass die maximale Erzeugung des

psychisch, sozial und materiell über die Runden zu kom-

schlichten menschlichen Glücks das höchste Ziel ist, dem

men. Die Dorfbewohner sind also trotz des Verschwindens

wir zu dienen haben.«203

der Erwerbslandwirtschaft als Einkommensquelle auf Hof

Gärten bieten außerdem Rückzugsorte, in denen der zu-

Auch die soziale Bedeutung

nehmend gestresste moderne Mensch sich ausruhen und be-

von Nutzgärten wird in der Studie deutlich: Man tauscht

sinnen kann. Die Idee des Ruhe- und Besinnungsortes geht

und verschenkt Gartenerzeugnisse, knüpft und erhält so-

bis in die Antike zurück: Platon, Aristoteles und Epikur un-

ziale Beziehungen. – Eine Frage bleibt diesbezüglich offen:

terhielten ihre Schulen auf Gartengrundstücken. Auch die

Ist die Gartenbewirtschaftung nur eine vorübergehende

mittelalterlichen Klostergärten hatten neben der Selbst-

oder aber ein wesentlicher Teil des

versorgung mit Nahrungsmitteln den Zweck der Reflexion

ländlichen Lebensstils, der langfristig Bestand haben wird?

und der Geistespflege.204 Von vielen Künstlern wissen wir,

Bei Befragungen hinsichtlich des Wertes der Gartenar-

dass sie große Gartenfreunde sind oder waren – nicht zu-

beit äußern die ländlichen Kleingärtner: »Spaß an der Ar-

letzt unsere Literatur-Klassiker Goethe und Schiller. Sie

beit«, »aus Tradition«, »sinnvolle Beschäftigung«, »Frische

liebten die gärtnerische Arbeit und wussten zugleich die

und Garten angewiesen.«

»Krisenressource«

200

199�

Die

Einsamkeit ihrer Gartenhäuser zu schätzen, in denen sie

Gartenarbeit entspricht dem Betätigungs- und Schaffens-

nachdenken und besonders produktiv an ihren Werken ar-

drang des Menschen und auch dem natürlichen Instinkt,

beiten konnten. Der weit gereiste Goethe dankte dem Him-

sich und seine Familie ganz praktisch mit Nahrungsmit-

mel für sein Glück zu Hause mit dem eigenen Gärtchen:

und Geschmack« der Produkte, »Selbstversorgung«.

201

teln zu versorgen. Sie trägt zugleich zur körperlichen und psychischen Gesundheit bei, ganz konkret »den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren«.202 Als der berühmte Ökonom Wilhelm Röpke einmal kleine Gemüsegärten besich-

Weit und schön ist die Welt, doch o wie dank ich dem Himmel, Daß ein Gärtchen, beschränkt, zierlich, mein eigen gehört. Bringet mich wieder nach Hause! was hat ein Gärtner zu reisen? Ehre bringt’s ihm und Glück, wenn er sein Gärtchen versorgt.205

Die dörflichen Gärten sind ein wichtiger Bestandteil der ländlichen Kulturlandschaft und erhöhen deren Attraktivität. Bei städtischen Zuwanderern aufs Land hört man häufig als vorrangiges Motiv ihres Umzugs, einen eigenen Garten zu besitzen. Ländliche Gärten werden zunehmend auch touristisch vermarktet. So wirbt ein schöner Prospekt »Private Gärten öffnen 2010« dafür, die »Gartenlandschaft Altmark« in Sachsen-Anhalt zu besuchen, darunter finden sich auch ein Klostergarten in Jerichow und zwei Bauerngärten in Diesdorf und Mannhausen. Eine zunehmende Anziehungskraft haben jahreszeitlich wiederkehrende Gartenausstellungen, die inzwischen in allen Teilen Deutschlands stattfinden. Hier können die Besucher neue Anregungen finden, Pflanzen und Gartenzubehör kaufen, flanieren und in meist schönem Ambiente Speisen und Getränke genießen. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Gartenfeste im Park des Schlosses Ippenburg bei Osnabrück. In Bauerngärten finden sich immer neben Gemüse und Kräutern auch Zierpflanzen.

244

Das moderne Dorf

Ausbruch aus dem alten Kern Die neuen Wohnsiedlungen am Dorfrand

Heute ist es eine Selbstverständlichkeit: Zu einem

Beeinflusst wurde diese neuartige Landhauskultur von

»normalen« Dorf gehören der alte Kern und an den

Vorbildern aus England. Um 1900 war der Architekt Her-

Rand anschließend die Neubausiedlungen mit ihren

mann Muthesius von der Regierung in Berlin zum Zwe-

reinen Wohnhäusern. Dieses Nebeneinander von

cke des Studiums der dortigen Landhäuser nach England

»Alt« und »Jung« hat sich aber wesentlich erst ab der

geschickt worden. Anschließend trug er durch Publikati-

zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt.

onen und eigene Bauwerke ganz wesentlich zur Verbrei-

Wie kam es zu diesem Boom der Neubausiedlungen

tung des englischen Landhausstils in Deutschland bei.206

seit 1950? Welche Rolle spielen diese heute im dörf-

Das neue Landhaus war ein Familienwohnhaus, im regio-

lichen Leben und Bewusstsein? Ist die Integration

nalen Stil mit regionalen Baumaterialien errichtet. Häu-

von »Altdorf« und »Neudorf« gelungen? Manche Sozio-

fig schloss sich an das Haus eine geräumige Veranda oder

logen sind der Meinung, mit der neuen Wohnbebauung

Terrasse an, die zu einem größeren Garten – mit Park- und

habe der Aufbruch des alten Dorfes in die moderne

Nutzflächen – überleitete. Das nur dem Wohnen dienende

Zeit begonnen.

Landhaus war in deutschen Dörfern eine echte Innovation, die sich dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts flä-

Das in Jahrhunderten langsam gewachsene alte Dorf hat seit

chenhaft durchsetzte.

etwa 60–90 Jahren einen Neuling an seine Seite bekommen,

In den Nachkriegsjahren 1948 bis 1950 begann ein re-

der in vielem ganz anders war und ist. Bis in die 30er Jahre

gelrechter Bauboom an reinen Wohngebäuden in nahezu

des 20. Jahrhunderts gab es in den ländlichen Siedlungen

allen Dörfern Deutschlands. In mehreren »Bauwellen« ent-

kaum reine Wohngebäude. Die Dörfer bestanden fast aus-

standen größere und kleinere Siedlungsgebiete an wech-

schließlich aus Bauern- und Handwerkerhäusern, in denen

selnden Ortsrandlagen, wo jeweils Bauland zur Verfügung

die Wohn- und Wirtschaftsfunktionen miteinander ver-

stand. Die optimale »Platzierung« im direkten Anschluss

knüpft waren. Seit etwa 1930 begann nun das reine Wohn-

an die Ortsränder war aber oft nicht möglich. Und unter

haus in die Dörfer vorzudringen – zunächst noch zögerlich mit wenigen Häusern an einer Straßenzeile am alten Ortsrand. Die neuen Siedler waren überwiegend Beamte, Angestellte und Arbeiter, vereinzelt auch der Dorfarzt.

Abbildung oben: Die nach dem 2. Weltkrieg an den alten Dorfrändern entstehende neue Bebauung mit Wohnhäusern wurde vielerorts als »Siedlung« bezeichnet, so auch in Wannweil bei Tübingen.

Gestalt der Kulturlandschaft

245

dem Druck der z. T. stürmischen Nachfrage nach Bauland, das aber nicht an jeder gewünschten Stelle zur Verfügung stand, kam es zu manchen Zersiedlungseffekten. Gar nicht so selten wurden die Neusiedlungen sogar mehr als 500 oder 1000 m von den alten Dorfrändern entfernt in einer Abseitslage platziert. Dieser Barriereeffekt wird manchmal auch mit einer gewissen psychologischen Abneigung der alten Dorfeliten gegenüber den neuen Siedlern erklärt. Generell sprach man hinsichtlich der neuen Wohngebiete von »Siedlung«, wobei möglicherweise ein leicht abwertender Beigeschmack mitgeschwungen hat. Bezüglich ihrer Infrastrukturausstattung blieben die neuen Wohngebiete hinter den alten Dorfbereichen zurück. Dennoch ließen sich in den größeren Neubausiedlungen einzelne Geschäfte, Gasthöfe und Handwerksbetriebe nieder. Dass mit den Neubausiedlungen Standortfehler gemacht wurden, zeigt uns Wilhelm Landzettel anhand eines guten Beispiels. Das hessische Bergstädtchen Amöneburg liegt auf einem Basaltkegel wie auf einem Thron in der Landschaft, deutlich unterhalb im Tal eine kleine Mühlensiedlung. Die grandiose Spornlage ist nach 1945 durch zersplitterte Hangbebauung empfindlich gestört worden: »Amöneburg. Die Bebauung entlang der Straße den Berg herauf verzettelt die großzügige Situation. Bei notwendiger Vergrößerung der Siedlungsfläche wäre es besser, in zusammenhängenden Partien kombiniert mit gleichzeitiger Bepflanzung zu bauen und die bergauf führende Straße anbaufrei zu halten.«207 Landzettel belegt mittels zweier Skizzen, wie man eine notwendige Verdichtung besser erreicht hätte (vgl.

Bereits 1932 wurde mit diesem Werbeplakat für ein Familienwohnhaus im Landhausstil mit großem Garten geworben, dieser Stil blieb auch nach 1945 prägend.

Abb. Seite 247). Die Architektur bzw. Gestalt der Neubausiedlungen

herbe Architekturkritik hervorgerufen (die ja auch dem

hat in den zurückliegenden Jahrzehnten deutliche Wand-

modernen Städtebau gilt), die manchmal mit dem Schlag-

lungen erfahren. Die Gebäude der 1950er Jahre knüpften

wort »Bausparkasseneinheitsstil« zusammengefasst wird.

an die Bauten der Vorkriegszeit an und übernahmen in

246

Auch bezüglich der Grundstücksgrößen haben erheb-

der Regel die Verwendung regionaler Baumaterialien und

liche Veränderungen stattgefunden. In den frühen 1950er

Bauformen (z. B. in Norddeutschland das vielerorts vor-

Jahren waren noch Flächen von 1500–2000 m2 üblich. Der

herrschende steile Satteldach). Ab den 1960er Jahren sind

große Garten sollte nach Art einer Kleinstlandwirtschaft

die Siedlungen bzw. Häuser zunehmend an den wechseln-

der Selbstversorgung dienen. So besaßen die Häuser die-

den Trends überregional-einheitlicher Stilphasen zu unter-

ser Frühphase daher häufig einen kleinen Stallteil für ein

scheiden: u. a. Bungalowstil mit breiten, »liegenden« Fens-

bis zwei Schweine und zehn bis 20 Hühner. Nach und nach

tern und Klinkerverkleidung, Flachdachbauten, imitierte

wurden die Grundstücke jedoch kleiner. Inzwischen haben

Fachwerkgebäude, postmoderne und neuerdings klassizis-

sie in den meisten dörflichen Bebauungsplänen nur noch

tische Stilformen mit Säulen und Eingangsportalen. Ge-

Größen von 600–800 m2. Auch hier zeigen sich die Anpas-

rade die Bebauung seit etwa 1960 hat bisweilen eine z. T.

sungstendenzen an (vor-)städtische Leitbilder.

Das moderne Dorf

Zwei Skizzen von Wilhelm Landzettel zur Neubebauung der Umgebung von Amöneburg nach 1945, wodurch die ursprünglich großzügige Situation verzettelt wurde.

Die Motorik zur Anlage von Neubausiedlungen ging pri-

Sozialstruktur des Dorfes haben die Neubaugebiete inzwi-

mär von Ortsansässigen aus, die im alten Dorfkern keinen

schen eine beachtliche, manchmal sogar dominierende Po-

Platz zur eigenen Entfaltung fanden. Wie z. B. meine Eltern,

sition erreichen können. Viele Vereinsvorstände, Ratsmit-

die nach der Familiengründung 1939 bis 1950 in der beeng-

glieder, Bürgermeister und Ortsvorsteher kommen heute

ten Dorflage »warten« mussten (bedingt durch den Krieg),

längst aus den neuen Wohngebieten und haben damit teil-

bis sie 1950 endlich in einer neuen Siedlung am Dorfrand

weise die alten Dorfeliten in den Kernen abgelöst.

bauen konnten. Mein Vater brauchte den Platz, um ein Bau-

Trotz dieser sozialen Durchmischung und Integration

geschäft zu eröffnen. Anderen ging es ähnlich. So siedelten

von Altdorf und Neudorf bleiben Unterschiede bestehen –

sich etwa zeitgleich zwei Fuhrunternehmer, eine Zahnarzt-

nicht nur im Dorfbild. Die Identifikation der Dorfbewoh-

praxis und ein kleiner Lebensmittelladen an. Dazu kamen

ner mit ihrem Dorf stützt sich nach wie vor überwiegend

Handwerker, die im Dorf arbeiteten, und ein pensionierter

auf den alten Kern mit Kirche, Schule, Gasthof und den

Gutsinspektor. Neben den Einheimischen ließen sich bald

überkommenen Bauernhäusern. Man muss es nicht so krass

auch viele Ostvertriebene in der neuen Siedlung nieder. Die

sehen wie Anne Wolf, die dem Altdorf die »Seele des Dor-

Hauptboomphase der Neubautätigkeit dauerte gut zehn

fes« zuerkennt, dem Neudorf dagegen nur »ein Fetzchen

Jahre. Nach dieser relativ kurzen Zeit war die neu geplante

Stadt«,208 aber ein Körnchen Wahrheit ist darin.

Siedlung mit rund 70 Häusern praktisch »voll«. Ich selbst habe diese zehn Jahre meiner Kindheit noch gut als gewaltige Aufbruchphase in Erinnerung. Die Erwachsenen rackerten fast rund um die Uhr. Überall wurde gebaut, die riesigen Gärten wurden angelegt und intensiv genutzt, Obstbäume gepflanzt, ein paar Schweine und Hühner gehalten. Im Sommer und Herbst war fast ununterbrochen Einmachzeit. Die Häuser waren dicht bewohnt durch die großen Familien, sodass Einzelzimmer für die Kinder eine große Ausnahme waren, außerdem gab es zu nächst meist noch Untermieter. Die moderne Wohnhaussiedlung am Ortsrand hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg als zweite dörfliche Realität etabliert. Durch die Zahl der Gebäude und Einwohner ist sie vielfach dem alten Dorfbereich ebenbürtig, nicht selten sogar über diesen weit hinausgewachsen. Aber auch in der Moderne Dorfrandbebauung zwischen altem Dorfkern und Feldflur in Alverdissen im Kreis Lippe.

Gestalt der Kulturlandschaft

247

»Ein Kahlschlag geht durchs Land« Zum Wandel der traditionellen Dorf- und Flurformen

Der Wandel der modernen Welt geht auch nicht am

Generell kam es im 20. Jahrhundert zu einer baulichen

Dorf vorbei. Wer die alten Dorfbilder mit ihren schönen

Verdichtung der Dörfer und Weiler, vor allem durch Er-

Bauernhäusern nur aus Bildbänden und Freilicht-

gänzungs- und Erweiterungsbauten der sich ausdehnenden

museen kennt, wird meist enttäuscht sein, wenn er

landwirtschaftlichen und handwerklichen Betriebe wie

heute in ein echtes Dorf kommt. Hier stehen alte,

z. B. Ställe, Scheunen, Remisen, Schmieden oder Schrei-

modernisierte und junge Gebäude häufig stark

nereien. Insbesondere für neue und größere Maschinen

vermischt unmittelbar nebeneinander. Auch die Felder

musste Platz geschaffen werden. Die Dörfer erfuhren zu-

um das Dorf herum haben ihr Aussehen geändert.

nächst eine innere Verdichtung, d. h. in unmittelbarer

Zum modernen Formenwandel hat neben der Agrar-

Nachbarschaft der Betriebe wurde der noch vorhandene

technik wesentlich auch die Agrarpolitik beigetragen,

»Platz« bebaut. Häufig mussten aber – vor allem in den eng

in West- und Ostdeutschland mit sehr unterschied-

bebauten Dörfern – gerade neue Scheunen aus Platzmangel

lichen Ergebnissen.

an den Ortsrändern errichtet werden. So enstanden in vielen Dörfern und Kleinstädten ausgeprägte Scheunenviertel

In den sehr unterschiedlichen Naturlandschaften Deutsch-

an den Ortsrändern, gute Beispiele sind in Gräfenberg im

lands ist im Verlauf der Jahrhunderte vom Alpenrand bis

Landkreis Forchheim/Bayern oder Kremmen in Branden-

zur Küste durch Menschenhand ein Mosaik verschiedener

burg zu sehen.

Siedlungs- und Flurbilder entstanden. Wir sprechen hier

Zu umfangreichen baulichen Veränderungen und Ver-

vom »überlieferten« Formenschatz der Kulturlandschaft.

lusten an historischer Gebäudesubstanz in den Dörfern

Der gravierende ökonomische und soziale Wandel des länd-

kam es vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahr-

lichen Raumes im 20. Jahrhundert, vor allem aber seit dem

hunderts. Nicht selten geschah dies durch staatliche Im-

Zweiten Weltkrieg, hat jedoch die überlieferten Siedlungs-

pulse wie die »Dorfsanierung« (vgl. ausführlicher dazu

und Flurformen kräftig verändert. Die Intensität des mo-

S. 303 ff.). Auch die amtliche Denkmalpflege hat in diesen

dernen Formenwandels verläuft aber regional und lokal sehr unterschiedlich. In der Regel haben abgelegene und strukturschwache Gebiete die alten Formen länger erhalten als großstadtnahe oder reiche Agrarlandschaften.

248

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Die moderne Landwirtschaft benötigt große Bauten: für Viehhaltung, Erntespeicherung, Maschinen und Energiegewinnung. Den Platz hat sie durch die Aussiedlungen in die Flur gewonnen.

Jahrzehnten der ländlichen Baukultur (außer den Kirchen und Schlössern) wenig Beachtung geschenkt. In den alten Dorfkernen wurden zahlreiche Bauernhäuser abgerissen, die leer standen oder deren Flächen man für Straßenbauten oder neue Dorf- und Parkplätze benötigte. Mit diesen – aus heutiger Sicht – vielfach mutwillig erscheinenden Abrissen wurde ein Großteil der Altbauten und damit der dörflichen Identität zerstört. Dazu trugen auch die Modernisierungen, Umbauten und Erweiterungen der bestehenden Gebäude in dieser Phase bei: Sie hatten nach Form, Baumaterial, Größe und Gestaltung häufig keine Beziehung mehr zum überlieferten Dorfbild. Mit seiner z. T. drastischen Streitschrift »Bauen und Bewahren auf dem Lande« hat u. a. der Journalist Dieter Wieland 1978 zu einem Umdenken beigetragen: »Ein Kahlschlag geht durchs Land. Erst fallen die Bäume, dann fallen die Tore, dann fallen die Häuser. Jedes Jahr werden allein in Bayern zwischen 3 und 8 % der historischen Bauernhäuser abgebrochen. Wenn wir so weitermachen, ist der Tag nicht

Die aus den Dörfern abgezogene Landwirtschaft hinterließ viel leere Bausubstanz. Ehemalige Bauernhäuser werden heute meist als reines Wohnhaus genutzt, wie hier in Herbram in Westfalen.

weit, wo unser Land ein uninteressantes Neuland werden muss, ein Land ohne Unterschiede, ohne Gesicht und ohne

ten Weltkrieg entstanden ebenfalls überwiegend in Ost-

Geschichte, vom Grauschleier einer uniformen Häuserko-

deutschland, vereinzelt aber auch in Westdeutschland. Im

lonie überzogen. Muss unser Dorf so hässlich werden? Wo

Zuge einer »Bodenreform« von 1945 bis 1949 verteilte man

ist der Bauernstolz geblieben, die Freude am schönen Be-

in Ostdeutschland das den »Junkern« ab 100 ha Eigentum

sitz?«

Ab den späten 1970ern begann also eine neue Wert-

komplett weggenommene Land auf etwa 220 000 Neubau-

schätzung der ländlichen Baukultur – aus der »Dorfsa-

ernhöfe mit durchschnittlich 8,5 ha Besitz. Diese neuen,

nierung« entwickelte sich nun bald auch die »erhaltende

meist einheitlich gebauten Hofstellen wurden am Rande

Dorferneuerung«.

der alten Dörfer, häufig an kleinen Straßenzeilen, aufge-

209

Die ländliche Siedlungslandschaft erfuhr im 20. Jahr-

reiht und sind bis heute im Dorfbild präsent.

hundert in zwei Phasen auch eine Erweiterung durch Neu-

Auch in Westdeutschland kam es in den 1950er und

gründungen von Dörfern und Weilern. Dies passierte je-

1960er Jahren – mithilfe großer agrarpolitischer Program-

weils nach den Weltkriegen in den 20er und frühen 30er

me – zu einer starken Veränderung der Kulturlandschaft:

Jahren sowie in den späten 40er und 50er Jahren. In beiden

Durch die zahlreichen Aussiedlungen von Höfen aus den

Phasen entstanden die neuen landwirtschaftlichen Sied-

beengten Dorflagen wurden einerseits die Ortslagen »auf-

lungen meist durch die Aufsiedlung von Gütern im Zuge

gelockert« und andererseits den Bauern ein ökonomisch

von staatlichen Bodenreformen. So wurden von 1920 bis

besserer Standort in der arrondierten Feldflur geboten. Mit

1932 durch Privatisierung staatlicher Domänen sowie durch

Maßnahmen der Flurbereinigung wurden des Weiteren in

Aufteilung bankrotter, zwangsversteigerter Güter vor allem

zahllosen deutschen Gemarkungen die zersplitterten Flur-

in Mittel- und Ostdeutschland insgesamt mehr als 60 000

parzellen zu größeren Blöcken umgestaltet und ein neues

Neusiedlerstellen errichtet. Diese fügten sich meist zu Wei-

Feldwegenetz geschaffen.210

lern mit 10 bis 15 Hofstellen zusammen. Manchmal erhiel-

Die Feldfluren wurden aber nicht nur wegen landwirt-

ten die neuen Orte auch eine kleine Kirche, wie Matgendorf

schaftlicher Erfordernisse umgestaltet – gravierend ist auch

bei Teterow oder Elisenhof bei Paderborn. Die neuen Bodenreformsiedlungen nach dem Zwei-

der Landschaftsverbrauch für außerlandwirtschaftliche Belange. Die Flächenbereitstellung für Wohnbebauung,

Gestalt der Kulturlandschaft

249

Industrie und Gewerbe, Sport- und Freizeiteinrichtungen

Siedelbach 1789 Gemeinde Eck- und Siedelbach

sowie regionale und überregionale Verkehrswege hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass in DeutschWald

land täglich die Besitzfläche eines mittelgroßen Bauernho-

Feldgrasland

fes verloren geht. Nicht nur ein Landwirt bekommt Bauch-

Acker

schmerzen, wenn er auf der Autobahn durch irgendeine der

Wiese

fruchtbaren Agrarlandschaften fährt: Fast an jeder Aus-

Hofgelände

fahrt finden sich auf den besten Böden z. T. riesige Gewerbe-

Bach/Kanal mit Teich Straße/Weg Hofgutgrenze

Siedelbach 1898 Gemeinde Breitnau

Hofgebäude Backhaus Waschhaus Nebengebäude Mühle/Säge Kapelle

gebiete – oder sie entstehen dort gerade. Erhebliche Veränderungen hat es seit dem 19. Jahrhundert in der Feld-Wald-Verteilung gegeben: Generell ist die landwirtschaftliche Nutzfläche zugunsten des Waldes zurückgegangen. Dies gilt besonders für die sog. »Grenzertragsstandorte« der Landwirtschaft in den Mittelgebirgen. Durch den früheren Zwang zur Selbstversorgung gab es auch auf den hochgelegenen Flächen der Mittelgebirge bis etwa 850 m Höhe Ackerbau. Das Beispiel der Schwarzwaldgemeinde Siedelbach (s. Abb. rechts) zeigt, dass der Wald innerhalb der Gemarkung vor gut 200 Jahren gegenüber der Landwirtschaft eine völlig untergeordnete Rolle spielte.

Grünland

Siedelbach 1997 Gemeinde Breitnau

Wohn-/ Ferienhaus ehemalige Säge/Mühle moderne Säge

Heute ist es umgekehrt. Die früher dominierenden Nutzungen als Ackerland und Feldgrasland sind mittlerweile ganz aus der Gemarkung verschwunden. In der DDR brachte die Agrarpolitik ab 1952 mit der weitgehenden Zerschlagung der privaten Landbewirtschaftung zugunsten der LPG-Großbetriebe auch einen radikalen Wandel der überlieferten Kulturlandschaft, d. h. der Orts- und Flurbilder. Die alte Flurparzellierung mit ihrem

0

4 km

kleinteiligen Wegenetz wurde bald aufgegeben – es entstanden riesige Feldstücke, die manchmal die gesamte Flur

Wandel der Flächennutzungen im Schwarzwald

1960

ausmachten. An den Ortsrändern errichtete man die ent-

1995

Ein rasanter Wandel des Jagsttales in nur wenigen Jahrzehnten: eine Umgehungsstraße mit diversen Anschlüssen und eine Begradigung des Flusses haben ein neues Landschaftsbild geschaffen und die Wege in Flur und Wald verändert.

250

Das moderne Dorf

sprechend großen Wirtschaftsgebäude der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) oder volkseigenen Güter (VEG ). Die bewusste Trennung von Arbeiten und Wohnen führte zu den typischen Geschosswohnbauten. Im Zuge des Programms »Industriearbeiter aufs Land« bekam fast jedes LPG -Dorf den Bau dieser »Hochhäuser« von staatlicher Seite vorgeschrieben, um den zuziehenden Landarbeitern Wohnungen bieten zu können. Ein Musterbeispiel für die Entwicklung zu einer industrialisierten Landwirtschaft und einem verstädterten (LPG -)Dorf ist das ehemalige Moorhufendorf Ferdinandshof in Mecklenburg-Vorpommern.211 Die historische Bausubstanz der ehemaligen Bauernhäuser und Gutshöfe blieb zwar aus Mangel an Geld und neuen Baustoffen oft länger als in Westdeutschland erhalten, verfiel jedoch häufig wegen unterlassener Renovierungen. Zu Mittelpunkten des kulturellen Lebens wurden die – meist in den größeren Dörfern – neu errichteten Kulturhäuser, die in der Regel von der LPG , dem VEG oder der

In vielen deutschen Dörfern herrscht heute eine sehr gemischte Baukultur: Neben gut erhaltenen und gepflegten Altbauten stehen stillos modernisierte oder allzu selbstbewusste Neubauten, die dem wechselnden Zeitgeist gefolgt sind.

politischen Gemeinde betrieben wurden. Ingesamt

haben

landwirtschaftlicher

Strukturwandel

Als Beispiel soll hier ein kurzer Blick auf die Entwick-

und Agrarpolitik die traditionellen Kulturlandschaften im

lung des ehemaligen Gutsdorfes Burow in Mecklenburg-

zurückliegenden Jahrhundert bleibend verändert. Manche

Vorpommern in den zurückliegenden 100 Jahren gegeben

sprechen von herben Verlusten und bedauern die Entwick-

werden211a: Aus einem Gutsdorf mit Gutshaus, Park, Wirt-

lung. Tatsächlich sind sowohl in den Fluren als auch in den

schaftsgebäuden, Tagelöhnerkaten, Schule, Gasthof und

Dörfern zahlreiche ländlich-städtische Misch- oder Zwi-

Laden wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein LPG -Dorf

schenformen entstanden, die oft in extremem Gegensatz

mit neuen und größeren Wirtschaftsgebäuden, Geschoss-

stehen zum homogenen Gesamteindruck der traditionel-

wohnungsbauten und Infrastruktureinrichtungen wie

len Siedlungs- und Flurbilder. Zunehmend befassen sich

Oberschule und Kinderkrippe. Die bisherige Entwicklung

Bürger, Wissenschaftler und Politiker mit der Frage, ob wir

seit der Wiedervereinigung setzt wieder andere Schwer-

eine Verpflichtung haben, überlieferte Kulturlandschaf-

punkte: Die ehemaligen LPG -Wirtschaftsgebäude wurden

ten – entgegen den modernen Nutzungstrends – in Gänze

abgebaut, neue Kleingewerbegebiete und Wohnbausied-

oder in Teilen zu erhalten und an die nächste Generation

lungen für Einfamilienhäuser angelegt sowie zahlreiche

weiterzugeben.

Gebäudesanierungen durchgeführt.

Gestalt der Kulturlandschaft

251

Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss? Die ländliche Kulturlandschaft

Hat die uns überlieferte ländliche Kulturlandschaft mit

änderungen gerade auch der älteren Dorf- und Flurbilder

ihren historisch gewachsenen Dörfern, Kleinstädten

geführt. Viele sind der Meinung, dass dieser immer noch

und Fluren einen Wert? Wir finden sie schön, aber wie

anhaltende Wandel schmerzhafte Verluste an Tradition,

steht es mit dem ökonomischen Nutzen in der Gegen-

Identität und Schönheit gebracht hat. Gibt es Möglichkei-

wart und Zukunft? Was sind die Argumente für den

ten oder gar eine Verpflichtung, das »Rad der Geschichte«

(teilweisen) Erhalt der historischen Kulturlandschaft

anzuhalten und die Restbestandteile der historischen Kul-

auf dem Land? Darüber wird in Deutschland seit

turlandschaft an die nächste Generation weiterzugeben?

einigen Jahrzehnten intensiv nachgedacht und auch

Kulturlandschaften sind – im Unterschied zu Naturland-

vieles getan – durch staatliche Förderungen und

schaften – die wesentlich vom Menschen geprägten Land-

private Vereine und Initiativen. Die Beispiele Mittel-

schaften. Das heißt, das dicht besiedelte und intensiv wirt-

rheintal und Veringenstadt sowie Blicke nach England

schaftlich genutzte Deutschland besteht nahezu komplett

oder in die Schweiz zeigen uns, wie erfolgreich der

aus regional unterschiedlichen Kulturlandschaften. Grö-

Einsatz für den Erhalt wertvoller ländlicher Kulturland-

ßere kulturlandschaftliche Einheiten sind z. B. die Lüne-

schaften sein kann.

burger Heide, die Wetterau oder die Schwäbische Alb. Zur Kulturlandschaft gehört die Gesamtheit aller natürlichen

Die »schöne« und naturnahe, in Jahrhunderten gewachsene

sowie vom Menschen geschaffenen Bestandteile wie Boden,

und regionaltypische ländliche Kulturlandschaft – wir alle

Gesteine, Gewässer, Vegetation, Wegenetz, Flureinteilung

haben die vertrauten Dorf- und Flurbilder im Kopf. Exis-

und nicht zuletzt die eigentliche Siedlung. Die überlieferte

tieren sie aber noch in der Wirklichkeit? Die Experten kom-

Kulturlandschaft, die wir heute vor uns haben, setzt sich

men zu sehr differenzierten Antworten. Natürlich gibt es

aus verschiedenen Elementen historischer Epochen zusam-

noch die »traditionellen« Kulturlandschaften in vielen Re-

men. Sie enthält eine Fülle von Bestandteilen aus früheren

gionen Deutschlands, wir können sie zumindest noch in

Zeiten, die ihre ehemalige Funktion eingebüßt oder verlo-

zahlreichen und schönen Resten beobachten und erleben. Doch auch diese sind in Gefahr. Die massiven ökonomischen und technischen Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte in der Landwirtschaft haben zu starken Ver-

252

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Die ländliche Kulturlandschaft ist ein hohes Gut, das von den meisten Menschen sehr geschätzt wird. Hier die Kulturlandschaft Schwäbische Alb am Ipf.

ren haben, wie z. B. eine Burgruine, ein alter Kalkofen, ein

richtungen. Die erste und meist üblichere lautet: Anpas-

terrassierter Hang, ein Hohlweg oder ein verlandeter alter

sung an moderne Nutzungen, Inwertsetzung, Raubbau und

Fischteich.

Vermarktung. In diesem Fall verändert sich die tradierte

Doch was ist dann eine »historische« Kulturlandschaft?

Kulturlandschaft im freien Spiel der marktwirtschaftli-

Das ist z. B. die mittelalterliche Kulturlandschaft oder jene

chen Kräfte oder durch politische Steuerungen ohne Rück-

von 1800 oder 1950. »Historisch ist aber bereits die Kultur-

sicht auf das überlieferte Erbe. Die zweite Variante lässt sich

landschaft von gestern, in die wir heute oder morgen ein-

mit den Stichworten Konservierung, Ressourcensicherung,

greifen«.212 Die historische Kulturlandschaft ist das überlie-

Museumslandschaft und »Käseglocke« (nichts wird verän-

ferte Siedlungs- und Flurbild, das die vorherige Generation

dert) umschreiben. In diesem Fall wird die historische Kul-

quasi an die heutige übergeben hat.

turlandschaft quasi zum Entwicklungsleitbild für die Zu-

Wie gehen wir nun damit um? Die Betrachtung und Be-

kunft. Ein Rückblick in die vergangenen Jahrzehnte zeigt

handlung der überlieferten Kulturlandschaft lässt viele

wechselnde und fast gegensätzliche Denk- und Vorgehens-

Möglichkeiten zu. Generalisiert gibt es jedoch zwei Haupt-

weisen gegenüber der überlieferten Kulturlandschaft, z. B.

Die Kulturlandschaft »Oberharzer Wasserregal«, ein weitverzweigtes System aus Teichen und Wasserläufen, diente als Kraftwerk des mittelalterlichen und neuzeitlichen Bergbaus und wurde 2010 zum Weltkulturerbe erklärt.

Gestalt der Kulturlandschaft

253

in der staatlichen Flurbereinigung oder der Dorfsanierung

Die konkreten Bemühungen um den Erhalt der histori-

bzw. Dorferneuerung.

schen Kulturlandschaft verlangen stets viel Gespür und

Kann aber die überlieferte Kulturlandschaft, die ja prin-

mancherlei Kompromisse. Man kann nicht einfach eine

zipiell Konzepte der Vergangenheit widerspiegelt, in Gänze

Käseglocke der Konservierung auf Siedlungen und Fluren

oder in Teilen ein Gestaltungsmuster für die Zukunft sein?

»stülpen«. Die Erhaltung und Pflege des überlieferten Erbes

Häufig wird diese Frage (grundsätzlich) verneint. Da die

wird in der Regel nur teilweise oder exemplarisch möglich

historische Kulturlandschaft unter anderen ökonomischen

bzw. durchsetzbar sein. Jede Generation hat neue Ansprü-

und sozialen Rahmenbedingungen entstanden ist, sei es

che und Wertvorstellungen, aber auch andere politische

heute unehrlich und Verschwendung, sie weiter zu erhal-

Rahmenbedingungen – beispielsweise durch die Globali-

ten. Nachdem das Leben und Arbeiten mit der früheren

sierung. Die den historischen Bedingungen von 1750, 1850

Kulturlandschaft vorbei sei, habe auch deren »formale Hin-

oder 1920 entsprechenden Dorf- und Flurformen müssen

terlassenschaft« keine Existenzberechtigung mehr. Diese

einfach in mancherlei Hinsicht »modernisiert« werden. Bei

Argumente scheinen auf den ersten Blick einleuchtend.

der notwendigen Umnutzung der früher landwirtschaftli-

Die überlieferte Kulturlandschaft enthält jedoch auch

chen Gebäude sind z. B. Eingriffe in das äußere und innere

eine Reihe von Werten, was dafür spricht, sie bei der Ge-

Bild oft unvermeidlich, um einem Gebäudeleerstand und

staltung der Zukunft zumindest in Teilen zu erhalten:213

zunehmender Verödung der Dorf- und Stadtkerne zu ent-

1. Historische Kulturlandschaften sind bzw. enthalten

gehen.

wichtige Dokumente der Vergangenheit. Wir können

Das allgemeine Interesse und der politische Wille, die

aus ihnen mancherlei Lehren ziehen, z. B. wie man mit

»tradierte Schönheit« der Kulturlandschaft auf dem Land

den vorhandenen lokalen Ressourcen (oft in Jahrhunder-

zumindest teilweise zu erhalten, hat in den letzten 15 Jah-

ten erprobt) erfolgreich wirtschaften kann.

ren zugenommen. Die Bemühungen konzentrieren sich auf

2. Die historische Kulturlandschaft bietet den Menschen

die drei Bereiche Wissenschaft, staatliche Institutionen und

durch ihren Reichtum an Kontrasten und die meist

Förderprogramme sowie private Vereinigungen und Ini-

wohltuende Anpassung an die Natur viele Möglichkei-

tiativen. Die Wissenschaft recherchiert und dokumentiert

ten ästhetischer und sinnlicher Kontakte.

zum einen in akribischer Feinarbeit exemplarisch die kom-

3. Die traditionellen Kulturlandschaften haben in der Re-

pletten Kulturlandschaftselemente, etwa am Beispiel einer

gel ökologische Vorteile. Sie besitzen meist eine höhere

Gemarkung. Zum anderen beschreibt sie in verallgemei-

Artenvielfalt und ein besseres ökologisches Gleichge-

nernder Form regionaltypische Kulturlandschaften – z. B.

wicht als die modernen, vielfach »ausgeräumten« Agrar-

in Bayern oder Sachsen – in ihrer Gesamtheit. Ein Zentrum

landschaften.

der deutschen Kulturlandschaftsforschung ist seit 1975 der

4. Der ökonomische Mehrwert einer historischen Kultur-

interdisziplinäre Arbeitskreis Kulturlandschaftsforschung

landschaft zeigt sich besonders bei (gepflegten) histori-

in Mitteleuropa (ARKUM ), der am Bonner Lehrstuhl für

schen Bauten, die auch einen Nutzungswandel vertragen

Historische Geographie angesiedelt ist und unter Leitung

und oft zu den gefragtesten Immobilien auf dem Land

von Prof. Dr. Winfried Schenk steht.

gehören.

tur- und Denkmalschutzbehörden auf der Basis einschlä-

Menschen nicht zuletzt Heimat, Orientierung, Harmo-

giger Bundes- und Landesgesetze um die Belange des na-

nie und Geborgenheit, manchmal auch das Geheimnis-

türlichen und kulturellen Erbes auf dem Land. Vorbild-

volle und Unerklärliche, das mit einem Waldstück oder

lich sind beispielsweise die Bemühungen der bayerischen

einem alten Haus verbunden ist. Gerade alte Gebäude

Denkmalpflege, die schon in über 800 Dörfern mitsamt ih-

sind oft »Sehnsuchtsorte«.

ren Gemarkungen komplexe denkmalpflegerische Erhe-

6. Die historischen Flur- und Siedlungsformen sind gene-

254

Von staatlicher Seite kümmern sich vorrangig die Na-

5. Die überlieferte Kulturlandschaft bedeutet für viele

bungen durchgeführt hat. Dort wurde erkannt, dass man

rell ein kulturelles Erbe, für dessen (partielle) Weiter-

auf die Bürger und Politiker zugehen muss, wenn man ein-

gabe auch eine staatliche Verantwortung besteht.

zelne Gebäude oder ganze Dörfer und Kleinstädte als En-

Das moderne Dorf

In Schleswig-Holstein waren traditionell Wallhecken oder »Knicks« zur Abgrenzungen der Flurparzellen üblich. Sie prägen bis heute das Flurbild wie hier bei Plön. Dies zu erhalten, versucht die Kulturlandschaftspflege.

semble unter Denkmalschutz stellen will. Thomas Gunzel-

inzwischen auch die Dorferneuerungsbehörden, die seit

mann hat hier seine Erfahrungen gemacht, z. B. in dem un-

1990 flächendeckend den ländlichen Raum in Deutschland

ter Ensembleschutz stehenden Zeilendorf Reicholdsgrün

betreuen. Auch der Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zu-

(s. Bild S. 257): »Das Bewusstsein der Bevölkerung hat sich

kunft« widmet sich heute u. a. dem natürlichen und kul-

allmählich gewandelt. Zwar nicht himmelhoch jauchzend,

turellen Erbe. Die Zahl der als Bau- und Naturdenkmäler

aber doch mit einem gewissen Stolz auf das Dorf. Mittler-

eingetragenen Objekte auf dem Land dürfte heute in die

weile kann man durchaus von einem alltäglichen, grund-

Millionen gehen. Mehrere Gebäude- und Parkanlagen des

sätzlich positiven Umgang mit dem Ensemble sprechen.«

ländlichen Raumes – wie z. B. Maulbronn, Neustadt an der

214

Generell konnte Gunzelmann feststellen, dass auch die

Donau (Limes), Wörlitz und Bad Muskau – stehen inzwi-

ländlichen Kommunen den Denkmalschutz inzwischen als

schen auf der UNESCO -Welterbeliste. Zu den staatlichen

wichtiges Steuerungsinstrument der Innenentwicklung

Bemühungen um das kulturelle Erbe auf dem Land gehö-

der Dörfer und Kleinstädte sehen und Denkmäler generell

ren nicht zuletzt die inzwischen in allen Teilen Deutsch-

als ein Stück Infrastruktur betrachten.

lands anzutreffenden Freilicht- und Bauernhausmuseen.

Ähnliche Ziele der Kulturlandschaftspflege verfolgen

Die ausdrückliche Erwähnung der (ländlichen) Kultur-

Gestalt der Kulturlandschaft

255

Das Obere Mittelrheintal mit seinen Burgen, schroffen Felsen und Weinbergen gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den bekanntesten und beliebtesten deutschen Kulturlandschaften. Hier ein Blick auf den Rheinbogen bei Kaub.

256

landschaft als staatliches Schutzobjekt besteht seit gut zehn

tung der traditionellen Kulturlandschaft gefördert werden.

Jahren. So ist die »Erhaltung gewachsener Kulturlandschaf-

In Schleswig-Holstein stehen z. B. die dort charakteristi-

ten« inzwischen als Grundsatz der Raumordnungspolitik in

schen Knicklandschaften im Mittelpunkt der Kulturland-

Deutschland wie auch in der EU verankert. Das Welterbeko-

schaftspflege (»Knicks« sind Wallhecken zur Abgrenzung

mitee der UNESCO hatte bereits im Jahr 1992 beschlossen,

von Flurparzellen).

neben den Schöpfungen der Natur und singulären Kul-

Neben der Wissenschaft und den verschiedenen öffent-

turdenkmälern auch ganze Kulturlandschaften in seine

lich-rechtlichen Institutionen kümmern sich zahlreiche

»World Heritage List« aufzunehmen. Seit 2002 gehört als

private Verbände, Vereine und Bürgerinitiativen um die

erste »Kulturlandschaft« Deutschlands das Obere Mittel-

Erhaltung der ländlichen Kulturlandschaft. Zu nennen

rheintal zwischen Rüdesheim und Koblenz zum Welt-

ist hier an erster Stelle der Bund Heimat und Umwelt in

erbe der UNESCO . Die meisten Bundesländer – wie auch

Deutschland (BHU ). Dies ist ein Bundesverband für Natur-

die Nachbarstaaten Schweiz und Österreich – haben inzwi-

und Denkmalschutz, Landschafts- und Brauchtumspflege,

schen »Kulturlandschaftsprogramme« aufgelegt, mit denen

dem insgesamt 17 Landesverbände in ganz Deutschland an-

insbesondere die Leistungen der Landwirte für die Erhal-

geschlossen sind. Diese Landesverbände wiederum bündeln

Das moderne Dorf

Das »Zeilendorf« Reicholdsgrün im Kreis Wunsiedel steht unter Ensembleschutz der Denkmalpflege. Die Dorfbewohner sind inzwischen stolz auf ihre auffällige wie seltene historische Dorfform.

die Arbeit der Kreis- und Ortsvereine. So sind die ehren-

(angesiedelt in der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft)

amtlichen Tätigkeiten der dörflichen Heimatvereine bzw.

um den Erhalt von Kulturlandschaften. Weitere Initiativen

Ortsheimatpfleger prinzipiell bundesweit anzutreffen. Zu

sind die Agrarsoziale Gesellschaft ASG in Göttingen, die

den überregional tätigen Aktivgruppen gehören z. B. die

auf der Marksburg am Mittelrhein residierende Deutsche

Deutsche Sektion des Europäischen Verbandes für das Dorf

Burgenvereinigung und nicht zuletzt der interdisziplinäre

und die Kleinstadt ECOVAST (European Council for the

Arbeitskreis Dorfentwicklung, der seit 1978 alle zwei Jahre

Village and Small Town) sowie die in einigen Bundeslän-

Wissenschaftler, Planer und Kommunalpolitiker im west-

dern bestehenden »Akademien« für den ländlichen Raum.

fälischen Dörfchen Bleiwäsche zu Dorfsymposien zusam-

Außerdem kümmern sich der Bundesverband der Regio-

menführt und sich als »Bleiwäscher Kreis« einen Namen

nalbewegung, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Land-

gemacht hat. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere ein-

wirtschaft (ABL ), der Deutsche Bauernverband durch seine

schlägige überregionale Verbände und Aktivgruppen. Die

»Stiftung Deutsche Kulturlandschaft« und die Initiative

wichtigsten Kräfte zur Erhaltung der ländlichen Kultur-

»AgrarKulturerbe« der Gesellschaft für Agrargeschichte

landschaft finden sich allerdings in den Dörfern selbst, wo

Gestalt der Kulturlandschaft

257

deutschen Kulturlandschaften und wurde als solche 2002 in die UNESCO -Welterbeliste aufgenommen. Hier hat sich der Rhein auf rund 65 km Länge mit scharfen Windungen in das Schiefergestein des Mittelgebirges »eingefressen«. Auf markanten Felsen oberhalb der Ufer thronen mehr als 30 Burgen, die auf die mittelalterliche Bedeutung von Schifffahrt und Fernhandelswegen hinweisen. Direkt am Ufer liegen 30 Dörfer und Kleinstädte, an die sich hangaufwärts vielfach Weinberge anschließen. Die grandiose Landschaft (der man schon früh den Untertitel »Rheinromantik« gab) ist seit Jahrhunderten von zahllosen Besuchern bestaunt und von vielen Dichtern besungen worden. Heinrich Heine hat mit seinem berühmten Gedicht von der Loreley diese so typische deutsche Kulturlandschaft literarisch geadelt. Das schöne Mittelrheintal hat jedoch auch seine Schattenseiten. Es leidet vor allem unter dem Verkehr: Zwei Bundesstraßen und zwei der befahrensten Bahnlinien Europas zwängen sich durch das enge Tal und belasten die Bewohner und den Tourismus. Außerdem ist eine neue Rheinbrücke in diesem sensiblen Rheinabschnitt geplant, die den bislang sehr umständlichen Verkehr zwischen den beiden Rheinseiten verbessern soll. Der Welterbetitel »Kulturlandschaft« wird von der Region als Auftrag und Ansporn betrachtet. Man will sowohl die Natur- und Kulturdenkmäler erhalten und pflegen als auch die Lebensqualität der Bewohner und Besucher verbessern. Vor allem möchte man den etwas angestaubten Tourismus wiederbeleben. Dazu soll u. a. der ausgebaute Fernwanderweg »Rheinsteig« beitragen. Auch denkt man daran, die vielfach seit Jahrzehnten brachliegenden alten Weinbergsterrassen wieder Das beeindruckende historische Ortsbild von Veringenstadt wird seit Jahrzehnten von der Bürgerschaft gepflegt: durch kulturelle Veranstaltungen und neu geschaffene Skulpturen zur Lokalgeschichte, mit historischen Hausinschriften und schönen Illustrationen wie dieser kolorierten Federzeichnung der Künstlerin Monika Geiselhart (das Original hängt im Rathaus von Veringenstadt). Zweimal im Jahr wird die ganze Dorfstraße belebt durch einen Krämermarkt, den »Maimarkt« und den »Martinimarkt« im November.

mit Weinstöcken zu bepflanzen. Denn die Weinanbaufläche ist von ihrer Hochphase im Mittelalter mit 4500 ha bis auf 430 ha heute zurückgegangen. Veringenstadt ist ein Dorf (mit alten Stadtrechten) auf der Schwäbischen Alb mit etwa 1800 Einwohnern. Seine Bewohner haben in den letzten zwei Jahrzehnten eine vorbildliche lokale Kulturlandschaftspflege betrieben. Wer

258

sie in den verschiedenartigen Heimat- und Fördervereinen

durch den Ort geht, dazu begleitet von dem unermüdlichen

oder spontanen Bürgerinitiativen wirken. An zwei Beispie-

Kopf und Motor Prof. Dr. Erwin Zillenbiller, wird begeis-

len sollen nun die staatlich-kommunalen und privaten Be-

tert sein. Denn im Ortsbild stößt man auf zahlreiche Denk-

mühungen zur Erhaltung der Kulturlandschaft aufgezeigt

male und Dokumentationen, die sehr anschaulich wichtige

werden:

Phasen der Dorfgeschichte in Erinnerung rufen und be-

Das Obere Mittelrheintal zwischen Rüdesheim/Bingen

schreiben. Ein Denkmal der Zuwanderung erinnert daran,

und Koblenz ist eine der bekanntesten und wertvollsten

dass das Dorf nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern bereits

Das moderne Dorf

in Mittelalter und Frühneuzeit eine »Auffrischung« durch

Trotz der zahllosen und vielfältigen Aktivitäten um den

neue Siedler erfahren hat. Das Denkmal der kleinen »Hexe«

Erhalt der überlieferten Kulturlandschaft in allen Teilen

macht die Zeit der Hexenverfolgung zum Thema, der auch

Deutschlands muss eine generelle Bilanz eher nüchtern

in Veringenstadt vor rund 300 Jahren vorwiegend Frauen

ausfallen. Die Modernisierungs- und Uniformierungspro-

zum Opfer fielen. An die frühgeschichtliche Zeit erinnert

zesse in den ländlichen Kulturlandschaften gehen weiter.

ein Denkmal des Neandertalers, dessen Höhlenwohnun-

Außerdem ist eine Zersplitterung der Aktivitäten ohne

gen am Rande des Ortes bis heute sichtbar sind. An 16 his-

landes- oder gar bundesweite Vernetzung offensichtlich.

torisch wichtigen und das Ortsbild prägenden Häusern des

Viele Dörfer mühen sich und kämpfen ohne die Kenntnis

alten Dorfkerns sind knappe Hausbeschreibungen mit je-

von interessanten und erfolgreichen Vorbildern andern-

weils einem symbolträchtigen Bild angebracht worden, die

orts. Auch gibt es keine überregionale Plattform, wo man

die frühere Funktion und Geschichte des Gebäudes erklä-

Beispiele wie Veringenstadt jederzeit als Anregung abrufen

ren und veranschaulichen, z. B. die alte Poststelle von 1780

kann. Dies existiert hingegen schon lange in England, wo

bis 1980, einen Gasthof mit Weinhandlung von 1860 bis

sich seit 1926 ein Interessenverband mit dem Namen »Cam-

1975 usw. Am kleinen Dorffluss Lauchert ist des Weiteren

paign to Protect Rural England« (Verband zum Schutz des

ein Lehrpfad angelegt worden, der nicht nur die Tier- und

ländlichen Erbes) dafür einsetzt, die »Schönheit, das Leben

Pflanzenwelt des Gewässers erklärt, sondern auch seine

und die Einzigartigkeit unserer countryside« zu erhalten.

vielfältige wirtschaftliche Bedeutung in Vergangenheit

Auch in Schweden existiert eine nationale Dorfbewegung

und Gegenwart beschreibt. Mit viel Liebe und Sachverstand

mit über 5000 Dörfern, die z. B. alle zwei Jahre ein »länd-

wurde ebenfalls ein kleines Heimatmuseum aufgebaut. Um

liches Parlament« veranstaltet. Klaus Brill schlägt daher

das kulturelle Erbe des Ortes für Jung und Alt emotional

die Gründung einer vergleichbaren »Organisation zur Ver-

lebendig zu machen, hat Erwin Zillenbiller (mit Hilfe-

teidigung des ländlichen Raumes oder eines Verbandes der

stellungen von auswärtigen Künstlern) mehrere konkrete

deutschen Dörfer« vor.215 Auch die Einrichtung eines Dorf-

Schauspiele zur Dorfgeschichte geschrieben – z. B. zum Le-

portals im Internet und die regelmäßige Einberufung eines

ben der kleinen Hexe –, die dann von der Dorfbevölkerung

Deutschen Dorftages könnten seiner Meinung nach wich-

mit großer Resonanz aufgeführt wurden. Mit derart an-

tige Impulse geben, um die isolierten Aktionen in den ein-

schaulichen Geschichtsdarstellungen wird die Verbunden-

zelnen Dörfern zu verknüpfen und die Kräfte des ländli-

heit und Mitverantwortung für den Ort gefördert. Bereits

chen Raumes zu bündeln.

im Jahr 1996 hatte Zillenbiller für seinen Heimatort Verin-

Zum Schluss noch ein Hoffnungszeichen. In einer Stu-

genstadt eine wissenschaftliche Dokumentation mit dem

die des Instituts für Demoskopie Allensbach wurde 2009

Titel »Kulturlandschaft – Erbe und Auftrag. Entwicklungs-

zur Auswahl gestellt: »Diese Punkte treffen auf Deutsch-

phasen von der Natur- zur Kulturlandschaft« vorgelegt. In

land zu.« Mit 96 % deutlich an der Spitze lag die Angabe

dieser mit zahlreichen Karten, Grafiken und Tabellen an-

»Schöne Landschaft/Natur«. Bereits 2001 war diese Position

gereicherten Schrift wird nicht zuletzt auch ein konkretes

mit 95 % ähnlich. Die Menschen identifizieren sich also mit

Programm zur Pflege der lokalen Kulturlandschaft für die

der deutschen Kulturlandschaft.

Zukunft entwickelt und dargestellt!

Gestalt der Kulturlandschaft

259

Vom Erfahrungsschatz Freilichtmuseum Die Präsentation historischer Wohn- und Wirtschaftsformen

Wer sich für die historische Kulturlandschaft um 1800

auch das frühere Arbeits- und Sozialleben der Landbevöl-

oder 1900 interessiert, findet sie heute in »lebenden«

kerung dargestellt, wie z. B. die Viehhaltung, der Feld- und

Dörfern und bewirtschafteten Fluren nur noch in

Gartenbau, die handwerklichen Tätigkeiten, die Selbst-

Resten. Wer sie jedoch in »Reinkultur« kennenlernen

verwaltung mit Bürgermeister, Polizei und Feuerwehr, das

möchte, hat noch eine Chance: Er braucht nur in ein

dörfliche Brauchtum sowie das Leben mit Kirche, Schule,

Freilicht- oder Agrarmuseum zu gehen. Diese sind

Gasthof und Dorfladen. Die regionaltypischen Hofgrup-

inzwischen in allen Regionen Deutschlands anzu-

pen bzw. Dörfer sind häufig von historischen Nutzflächen

treffen. Sie zeigen nicht nur ganze Dörfer mit ihren

wie Gärten, Wiesen, Weiden, Äckern, Weinbergen und Tei-

Bauern-, Handwerker- und Kötterhäusern, Gasthöfen

chen umgeben. Daneben gibt es spezielle Interessenschwer-

und Läden mit kompletter Ausstattung, sondern auch

punkte wie vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen und

die damit verbundenen Flur- und Bewirtschaftungs-

Nutzpflanzen. Neben den Freilichtmuseen bestehen heute

formen. Mit vielfältigen Aktionen des »belebten

in vielen Dörfern und Kleinstädten sehr verschiedenar-

Museums« werden alte Geräte und Maschinen bewegt

tige Heimatmuseen mit meist lokaler, bisweilen auch re-

und typische Alltagsszenen vergangener Zeiten nach-

gionaler Ausrichtung. Eine überregionale Ausrichtung ha-

gespielt.

ben beispielsweise die beiden deutschen Landwirtschaftsmuseen in Hohenheim bei Stuttgart und in Markkleeberg

In Deutschland gibt es heute über 80 Freilichtmuseen, die

bei Leipzig.

manchmal auch als Agrar-, Bauernhaus- oder Freilandmu-

Die Idee der Freilichtmuseen wurde in der zweiten Hälfte

seen bezeichnet werden. Diese Museen sind regional aus-

des 19. Jahrhunderts in Skandinavien entwickelt.216 Hinter-

gewogen über das Land verteilt und dokumentieren über-

grund war die Abwanderung der Bevölkerung aus ländli-

wiegend Themenbereiche der agraren Kulturlandschaft.

chen Regionen im Zuge der Industrialisierung und der fol-

Hauptaufgabe ist die konkrete Präsentation der historischen Siedlungs-, Wohn- und Wirtschaftsweisen einer Region. Im Mittelpunkt steht zunächst die landwirtschaftliche und handwerklich-gewerbliche Sachkultur mit ihren Gebäuden und deren Einrichtungen. Darüber hinaus wird

260

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Freilichtmuseen veranschaulichen die frühere Agrarkultur. Hier präsentieren »Bauern« in traditioneller Feldtracht historische Arbeitsgeräte bei einem Museumsfest im Freilichtmuseum Diesdorf in Sachsen-Anhalt.

gende Verfall von Gehöften und Kirchen auf dem Land. Das erste Freilandmuseum entstand unter dem Namen »Skansen« auf der Insel Djurgarden bei Stockholm. Die neue Museumsgattung verbreitete sich von hier aus bald auch nach Deutschland und in die ganze Welt. Von Beginn an war es für die Freilichtmuseen üblich, die verschiedenen Bestandteile einer historischen Kulturlandschaft zu translozieren, d. h. zu versetzen, und gelegentlich auch zu rekonstruieren. Der ideale Standort für ein Freilichtmuseum ist grundsätzlich aber die »In-situ-Lage«, d. h. die historische Kulturlandschaft wird an ihrem »gewachsenen Platz« präsentiert und mit Leben gefüllt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das »Thünen-Museum-Tellow« in Mecklenburg-Vorpommern, das ein nahezu komplett erhaltenes historisches Gutsdorf präsentiert (s. Abb. links). In idealer Weise kann hier das praktische und theoretische Lebenswerk des großen Agrarökonomen Heinrich

Im »Thünen-Museum-Tellow« präsentiert sich ein Gutsdorf an seinem gewachsenen Platz. Die Ankunft der Gutsfamilie 1810 in Tellow wurde 2010 nachgespielt.

von Thünen an dessen Wirkungsstätte von 1810 bis 1850 veranschaulicht werden. In Tellow entwickelte Thünen

liegt mitten in dem heutigen Dorf Illerbeuren. Mehrere

seine berühmte agrarwirtschaftliche Standortlehre, die bis

Gebäude des Museums stehen an ihrem ursprünglichen

heute in allen einschlägigen Lehrbüchern als »Thünen’sche

Standort und haben also in gewisser Weise eine Doppel-

Ringe« präsent sind.

funktion: als Teil des Museums und als Teil des Dorfes. The-

Ein anderes, sehr interessantes Beispiel ist das »Schwäbi-

menschwerpunkt des Illerbeurer Museums ist das 19. Jahr-

sche Bauernhofmuseum Illerbeuren«, das 1955 eröffnete,

hundert, das hier vor allem mit einer sehr umfangreichen

älteste Freilichtmuseum Bayerns. Das Museum könnte man

und qualitätsvollen Sachgutsammlung in den historischen

auch als »Dorf im Dorf« bezeichnen. Der Museumseingang

Gebäuden präsentiert wird.

Im sehr weitläufigen Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold werden mit den historischen Bauwerken ganze Dorfanlagen rekonstruiert, an Tagen des belebten Museums backt hier der Dorfbäcker und hämmert der Dorfschmied.

Gestalt der Kulturlandschaft

261

Die deutschen Freilichtmuseen haben in den zurückliegenden 20 bis 30 Jahren – auch hier angeregt durch die skandinavischen Vorbilder – die Öffentlichkeitsarbeit zu einer primären Aufgabe gemacht. So werden regelmäßig Tage oder Wochen des »belebten Museums« durchgeführt, in denen alte Geräte und Maschinen bewegt, handwerkliche Produkte wie Teppiche, Eisennägel oder Holzschuhe hergestellt oder typische Alltagsszenen nachgespielt werden. Zum festen Bestand gehören heute auch integrierte gastronomische Angebote wie Dorfgasthäuser, Bäckereien und Läden sowie Informationsangebote mit allen modernen Medien. In wechselnden Ausstellungen werden z. B. die verschiedenen Dorfhandwerke und -gewerbe vorgestellt oder Themen wie die Jagd, Dorffeste oder die Ab- und ZuDie meisten Freilichtmuseen haben heute spezielle Lehr- und Aktionsprogramme für Kinder, hier wird eine Schulklasse durch das Freilichtmuseum Schwerin-Mueß in Mecklenburg-Vorpommern geführt.

wanderungen von Dorfbewohnern behandelt. Viele Angebote richten sich speziell an Kinder und animieren zum Mitmachen, z. B. zu alten dörflichen Spielen. Die Besucherströme zeigen, dass die Freilichtmuseen mit ihren vielsei-

Die in den letzten Jahrzehnten neu gegründeten Freilichtmuseen verfolgen immer häufiger einen ganzheitlichen Ansatz: Sie beziehen neben den Gebäuden und de-

Die heutigen Freilichtmuseen haben vielfältige Aufga-

ren Ausstattung auch die umliegende Kulturlandschaft in

ben zu erfüllen:

die museale Darstellung mit ein. Diesem Grundsatz ent-

– Sie erhalten, sichern und dokumentieren historische Ob-

spricht auch die in Frankreich entwickelte Idee des »Eco-

jekte (wie Bauernhäuser mit Inventar) oder Anlagen (wie

museums«, das als Einheit von ecology (Ökologie) und eco-

Gärten, Teichanlagen und Bergwerke). Darüber hinaus

nomy (Wirtschaft) verstanden wird. Dieser Museumstyp

befassen sie sich heute immer mehr mit der komplexen

arbeitet grundsätzlich in situ und bezieht bewusst verschie-

ökologischen, wirtschaftlichen und kulturell-sozialen

dene Außenstandorte in der Umgebung mit ein. Ein Bei-

Entwicklung der regionalen Kulturlandschaft.

spiel hierfür ist der »Museumsverbund Ecomuseum Zwickauer Land«.

217

Als Leit- und Zentralmuseum dient hier

– Sie präsentieren und veranschaulichen die historische Kulturlandschaft mit ihren Wohn-, Wirtschafts- und Le-

das »Deutsche Landwirtschaftsmuseum Schloss Blanken-

bensweisen. Des Weiteren erheben sie die Sensibilisie-

hain«, dessen Kern aus einem alten Rittergut mit anschlie-

rung und Bildung einer breiten Öffentlichkeit, gerade

ßendem Gutsdorf besteht. Das unmittelbare Umfeld des

auch von Kindern, zu ihrer wichtigsten Aufgabe.

Blankenhainer Museums wird in einem Radius von 10 km

– Die meisten Freilichtmuseen betreiben heute qualifi-

durch Lehrpfade und gezielte Wanderwege als »Museum

zierte Regional- und Grundlagenforschung. Sie befassen

in der Landschaft« erschlossen. Auf Informationstafeln, in

sich immer häufiger mit Sachbereichen, die an den Uni-

Broschüren und Führungen werden dann konkret sicht-

versitäten kaum noch Forschungsgegenstand sind, wie

bare Bodendenkmäler wie alte Hohlwege, Wehranlagen,

z. B. die Bauernhausforschung.

Mergelgruben oder historische Teichanlagen beschrieben

– Nicht zuletzt binden Freilichtmuseen ein breites Spek-

und erläutert. Neben diesem unmittelbaren Museumsum-

trum an Arbeitsplätzen (und häufig auch ehrenamtli-

feld gibt es im Rahmen des Museumsverbundes mehrere

chen Tätigkeiten) an den ländlichen Raum. Sie sind da-

Außenstellen wie das Technische Denkmal der ehemali-

her für die jeweilige Region nicht nur ein Kulturzent-

gen Brauerei Vielau oder das »Heimat- und Bergbaumus-

rum, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor.

eum Reinsdorf«.

262

tigen und interessanten Angeboten breite Bevölkerungskreise ansprechen.

Das moderne Dorf

Der Beginn der Dorfauflösung? Zunehmender Leerstand von Gebäuden in den Dorfkernen

»Wir haben keinen Leerstand!« So lautete bis vor

lange an. Durch die intensive Neubautätigkeit am Rande

wenigen Jahren noch die beschwichtigende Antwort

der Dörfer, durch Aussiedlungen von Höfen in die Feldflur

vieler Bürgermeister auf besorgte Fragen nach den

und die bald einsetzende Landflucht kam es bereits in den

bereits erkennbaren Bevölkerungsverlusten in den

1960er Jahren zu Leerständen in den Dorfkernen. Der Staat

Dorfkernen. Inzwischen ist es jedoch allen klar:

reagierte seinerzeit mit den einschlägigen Förderprogram-

Nach einer ersten Entleerungsphase in den 1960er

men der Dorfsanierung und Dorferneuerung. Mit »Auflo-

und 1970er Jahren ist es etwa seit der Jahrtausend-

ckerungen der Ortslagen« durch Gebäudeabrisse und neu

wende zu einer zweiten Leerstandswelle gekommen.

angelegte Dorfplätze, Grünanlagen und Parkplätze änder-

Die Probleme sind brennend und sie gehen an die

ten schon damals viele Dorfkerne ihr Gesicht.

Substanz des Dorfes. Vereinzelt macht sich bereits

Seit etwa 20 Jahren ist es in den meisten Dörfern Deutsch-

Resignation breit wie in dem Weiler Hamm in der Eifel.

lands zu einer erneuten Welle des Gebäudeleerstands ge-

Es gibt aber auch hoffnungsvolle Beispiele für eine

kommen. Sie ist offenbar »ultimativer« als jene in den

Wiederbelebung der alten Dorfkerne.

1960er und 1970er Jahren. Selbst in noch wachsenden Dörfern nimmt der Leerstand in den Kernen zu. Die Ursachen

Noch vor gut 50 Jahren waren alle Dörfer in Deutschland

hierfür sind vielfältig und bekannt. Seit Jahrzehnten wa-

im wahrsten Sinne des Wortes »voll«. Jeder Quadratmeter

ren die z. T. erheblichen Bauaktivitäten auf dem Land na-

wurde genutzt als Wohnungen für Menschen (in viel enge-

hezu ausschließlich auf immer neue Baugebiete an den

ren Räumen als heute), Ställe für Tiere, Speicher für Ernte-

Ortsrändern ausgerichtet. Es gehörte zum guten Image,

vorräte und Schuppen für Maschinen. Die damalige Voll-

sich »draußen« ein »modernes« Haus zu bauen. Die früher

heit der Dörfer hatte vor allem zwei Ursachen: Zum ei-

durch Landwirtschaft und Handwerk genutzten Gebäude

nen war die Bautätigkeit auf dem Land von etwa 1935 bis

in den Dorfkernen wurden in der Folge vielfach mehr und

1950 fast ganz zum Erliegen gekommen. Zum anderen

mehr vernachlässigt. Sie wurden teilweise und nur vorüber-

und Wichtigeren hatten fast alle deutschen Dörfer nach

gehend noch von älteren und sozial schwächeren Bewoh-

dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Bevölkerungszuwächse durch Flüchtlinge und Heimatvetriebene aus dem Osten zu verzeichnen. Doch hielt diese Enge in den Dörfern nicht

Abbildung oben: Der alte Amtshof in Eicklingen bei Celle stand lange leer, 2005 wurde er nach Sanierung und Umnutzung wiedereröffnet.

Gestalt der Kulturlandschaft

263

nern genutzt und standen zuletzt immer häufiger leer. Eine

in Thüringen, Hardegsen in Thüringen oder Lommatzsch

Nachfolgenutzung der oftmals riesigen Gebäudekomplexe

in Sachsen. Selbst zahllose ehemalige (bedeutende) Mittel-

ist vielfach ungewiss. Ähnliches gilt für ehemalige Gast-

städte wie Merseburg oder Warburg in Westfalen sind von

höfe oder Dorfläden, die von ihren älteren Eigentümern

deutlichen Leerständen in ihren alten Stadtkernen betrof-

aufgegeben und nicht weitergeführt werden. Allmählich

fen. Zu den Bedeutungsverlusten und Leerständen in den

verschwindet auch die traditionelle bäuerliche und hand-

Klein- und Mittelständen haben häufig die staatlich ver-

werkliche Bevölkerung, die noch eine enge Beziehung zu

ordneten Verluste von Stadt-, Amts- und Kreisverwaltun-

den alten Gebäuden besaß. Die Dorfkerne mit Leerstand

gen (und deren Folgen) durch die staatliche verordneten

und ohne Infrastruktur werden nach und nach unattrak-

Kommunal- und Kreisgebietsreformen beigetragen.

tiv, und es entsteht so ein Teufelskreis. Niemand will in ei-

In einer dramatischen Reportage beschreibt Wolfgang

nem vernachlässigten Umfeld wohnen und investieren. Bei

Bauer im Focus-Magazin unter dem Titel »Das Ende der

den Eigentümern bestehen meist weit überzogene Vorstel-

Dörfer« exemplarisch den Niedergang der kleinen Ge-

lungen vom »Wert« ihrer Immobilie, sodass es nur selten

meinde Hamm im Eifelkreis Bitburg-Prüm.218 Von ehe-

zu Verkäufen und damit Neunutzungen kommt. Die Leer-

mals 76 Einwohnern leben noch 20, bis auf zwei Kin-

standsquote in deutschen Dörfern beträgt durchschnittlich

der sind alle über 50 Jahre alt. Vor 35 Jahren hatte Hamm

zwischen 20 und 35 %.

noch 15 schulpflichtige Kinder. »Die Alten haben den Jun-

Die Probleme leer stehender Gebäude in Dorfkernen

gen später große Häuser gebaut, geräumig, mit separa-

sind in West- wie in Ostdeutschland flächendeckend ver-

ten Wohnungseingängen, nur damit sie bleiben. Sie lock-

breitet. Gleichwohl gibt es regionale Unterschiede. Beson-

ten und warben. Doch es blieb kein Einziger.« Johann

ders betroffen sind zum einen die abgelegenen Landstriche

Marbach, bis 2009 Bürgermeister in Hamm, beschreibt be-

und zum anderen die Dörfer, in denen die großvolumigen

schwörend seinen Überlebenskampf für das Dorf: »Es kann

Bauernhäuser und Gehöfte vorherrschen, die oft nur mit

doch nicht alles umsonst gewesen sein. Alles, wofür man

großem Aufwand umzunutzen sind.

sein ganzes Leben gearbeitet hat.«219 Noch ärger als Hamm

Aus ähnlichen Gründen leiden Tausende von Kleinstäd-

hat es bereits den Nachbarort Staudenhof getroffen. Er ist

ten in ganz Deutschland unter erheblichem Leerstand in

im Jahr 2005 gänzlich aufgegeben worden, aus dem Leer-

den Kernen, wo sich die oft riesigen Gebäudekomplexe ehe-

stand sind nun Ruinen geworden. Die Wissenschaftler nen-

maliger Läden, Gasthöfe, Hotels, Schulen, Krankenhäuser,

nen den Ort jetzt eine »Wüstung«. Fast apokalyptisch um-

Stadt- und Kreisverwaltungen, Finanzämter und Amtsge-

schreibt Wolfgang Bauer das weitere Schicksal des ehema-

richte nur schwer umnutzen lassen. Beispiele sind Birken-

ligen Talweilers: »Von den Hängen herab kriecht der Wald,

feld in Rheinland-Pfalz, Brüssow in Brandenburg, Geisa

Äcker werden zu Wiesen, Wiesen zu Strauchwerk. Die Na-

Der Leerstand bedroht vielerorts die Dorfkerne. Bürger und Gemeinden sind aufgerufen, den Verfall aufzuhalten und die alte Mitte wiederzubeleben, hier ein positives Beispiel aus dem Dorf Herbram in Westfalen (vorher: 1994, nachher: 1996).

264

Das moderne Dorf

Die alte Küsterschule von 1811 am Kirchplatz in Kleinenberg/Westfalen stand leer und sollte abgerissen werden. Eine Bürgerinitiative sorgte für Renovierung und Umnutzung zum schmucken und beliebten Dorfgemeinschaftshaus.

tur nimmt sich, was einst eine Siedlung mit 128 Einwoh-

Aktivierung des innerörtlichen Potenzials« in Baden-Würt-

nern war.«

temberg. Das neue Motto der Kommunalpolitik »Innenent-

220

Obwohl diese extremen Beispiele noch nicht repräsen-

wicklung statt Außenentwicklung« ist für manche ländli-

tativ für Deutschland sind: Der gegenwärtige Leerstand in

chen Gemeinden noch ungewohnt. So zeigen die bisherigen

unseren Dörfern ist nicht mehr zu leugnen. Das Problem

Erfahrungen, dass man beispielsweise viel Geduld und Geld

ist aktuell und brisant, trotzdem herrschte zunächst vieler-

für die Beratung und konkrete Unterstützung der – meist

orts eine erhebliche Wahrnehmungsschwäche. Kollegen

älteren – Eigentümer der leer stehenden Immobilien in den

aus dem baden-württembergischen Ministerium für Er-

Ortskernen aufbringen muss, um eine Neunutzung auf den

nährung und Ländlichen Raum berichten von ihren ersten

Weg zu bringen.

Gesprächen mit den ländlichen Bürgermeistern in den Jah-

Die bereits abgeschlossenen Förderprojekte zur Wieder-

ren 2002/2003: »Wir haben keinen Leerstand«, war vielfach

belebung der Ortskerne machen Mut und regen zur Nach-

die spontane Reaktion. Aber letztlich betrug der Leerstand

ahmung an. Ein Beispiel ist das Dorf Münster bei Creg-

überall zwischen 20 und 35 %. Diese Quote dürfte heute in

lingen mit rund 250 Einwohnern. Mithilfe der MELAP -

deutschen Dörfern durchschnittlich anzutreffen sein. Inzwischen hat sich bundesweit die Auffassung durchgesetzt, dass die bauliche, infrastrukturelle und soziale Wiederbelebung der Dorfkerne zu den wichtigsten Aufgaben der Kom-

Aussiedlerhof

Arbeitsplätze in Zentralorten

Arbeitsplätze in der Region Rathaus (im Hauptort)

munalpolitik und der Fachbehörden auf dem Land gehören. Die meisten Bundesländer haben daher längst entsprechende Förderprogramme aufgelegt. Zwei Ziele will man mit der Fokussierung auf die Ortskerne erreichen: Man will die identitätsstiftende Mitte stärken und damit auch den Verfall der ortsbildprägenden Bausubstanz und Versorgungseinrichtungen wie Läden und Gasthöfe aufhalten. Zum anderen will man einen Beitrag zur Eindämmung des Landschaftsverbrauchs an den Ortsrändern – durch immer neue Baugebiete – leisten. Entsprechende Namen tragen auch die neuen Förderprogramme, wie z. B. das MELAP , das »Modellprojekt Eindämmung des Landschaftsverbrauchs durch

Versorgung mit Waren und Diensten Discounter Arbeitsplätze im Nachbardorf

Neubaugebiet

Grundschule Historischer Dorfkern

Gewerbegebiet

Haupt- und Realschule

Neubaugebiet

Dorfrand

Berufliche und weiterführende Schulen

Gottesdienst

Bedeutungsverluste der historischen Dorfkerne

Gestalt der Kulturlandschaft

265

Förderung von 2003 bis 2008 konnten mit insgesamt 24

abfinden. Mithilfe der Dorferneuerungsförderung wurden

konkreten Maßnahmen die vorhandene Bausubstanz mo-

zahlreiche Wohnhäuser im Ortskern saniert und ehema-

dernisiert und innerörtliche Baulücken geschlossen werden.

lige Landwirtschaftsgebäude zu Wohngebäuden umgebaut.

Bürgermeister Hartmut Holzwarth und Ortsvorsteher Kurt

Es folgten die Umnutzung der alten Schule zu einem Bür-

Thomas ziehen heute ihr Fazit: »Viele junge Leute kehrten

gerhaus und die Renovierung des historischen Backhauses.

Münster in den letzten Jahrzehnten den Rücken, insgesamt

Der Bevölkerungsrückgang konnte gebremst werden. Jetzt

ging die Einwohnerzahl um 34 % zurück. MELAP war der

liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jah-

entscheidende Anstoß für die Trendwende in Münster. Jede

ren bei 20,6 %, er ist in den zurückliegenden 20 Jahren –

dritte Familie hat sich beteiligt. Die Einwohnerzahl ist seit

entgegen dem allgemeinen Trend – sogar leicht gestiegen.

Projektbeginn im Jahr 2003 wieder um 20 Personen (8 %)

Der wichtigste Faktor für die Wiederbelebung Bärweilers

gestiegen. Der Anteil der Einwohner unter zehn Jahren ist

ist für den heutigen Bürgermeister Hans Gehm das Bürger-

um zwei Drittel gestiegen!«221

engagement und das reichhaltige sozial-kulturelle Leben

Ein anderes Beispiel ist das im Nordpfälzer Bergland gelegene Dorf Bärweiler. Seine besten Zeiten erreichte es of-

266

insbesondere der Vereine und der Kirchengemeinde. Seit 2004 geht die Verbandsgemeinde Wallmerod konse-

fenbar zur Mitte des 19. Jahrhunderts und nach dem Zweiten

quent gegen die weitere Verödung der hier besonders eng-

Weltkrieg (1864: 450 Einw., 1950: 420 Einw.). In den 1970er

bebauten Ortskerne vor. Statt Geld für neue Baugebiete

und 1980er Jahren ging die Bevölkerungszahl bis auf unter

am Rand der insgesamt 21 Dörfer auszugeben, werden alle

300 Einwohner zurück. Auch die Infrastrukturausstattung

Kräfte und Mittel für die Wiederbelebung des Dorfinneren

verschlechterte sich dramatisch: Die Schule schloss 1973, die

eingesetzt. Hierbei geht man bewusst und konkret auf die

letzte Gaststätte und der letzte Dorfladen in den 1980er Jah-

Wünsche der Interessenten ein: Um Platz für einen kleinen

ren. In einer Untersuchung der Universität Mainz von 1986

Garten am Wohnhaus zu gewinnen, darf man auch mal ei-

wurde in Bärweiler ein Gebäudeleerstand von fast 25 % fest-

nen alten Stall abreißen. Bis 2014 wurden bereits 150 För-

gestellt, in einer Vorausschau auf weitere 20 Jahre wurde

derprojekte realisiert, der Anfang ist gemacht bei etwa 800

sogar eine Leerstandsquote von 30–40 % prognostiziert. Der

Problemgrundstücken. Die Erfolge in allen Dörfern der

Name Bärweiler erschien daraufhin zunächst in einem

Verbandsgemeinde Wallmerod sind einmal finanziell mess-

wissenschaftlichen Aufsatz, dann in der Regionalzeitung

bar (1 Million Euro Ersparnis und null Flächenverbrauch)

und im Fernsehen, mit der Bezeichnung »sterbendes Dorf«.

als auch am gewandelten Image zu erkennen: Objekte in

Dieses Menetekel rüttelte die Dorfbewohner auf und mo-

den Dorfkernen sind hier wieder gefragt! Die Erfolgsge-

bilisierte sie zu ungewöhnlichen Anstrengungen und Ak-

schichte von Wallmerod hat sich bis heute (2019) fortge-

tionen. Man wollte sich mit dem vorgesehenen Ende nicht

setzt, inzwischen sind 350 Förderprojekte realisiert. Insge-

Ein leer stehender und zugenagelter ehemaliger Dorfladen in Eicklingen im Landkreis Celle zeigt das Kernproblem vieler Dörfer.

Bärweiler galt als aussterbendes Dorf. Durch Anpackkultur, im Bild ein Dorferlebnispfad, konnte die Gemeinde diesen Trend umkehren.

Das moderne Dorf

samt wurden von 2004–2019 bereits 60 Mill. Euro in die

ökonomischen Kosten von Absiedlungen beschäftigt und

Ortskerne investiert. Initiator und Motor der Entwicklung

festgestellt, dass auch aus volkswirtschaftlicher Sicht eine

ist Klaus Lütkefedder als Bürgermeister der Verbandsge-

Aufgabe von Dörfern für den Staat viel zu teuer ist223. Das

meinde Wallmerod. Sein Leitbild lautet: »Die Identifika-

vielleicht wichtigste Argument gegen das Abwracken klei-

tion der Bürger mit ihren Dörfern kommt aus dem Kern,

ner Dörfer: Die Beobachtungen zum Beispiel bei Wettbe-

deswegen ist bei uns der Dorfkern im Fokus. Ziel unserer

werben wie »Unser Dorf hat Zukunft« oder »Kerniges Dorf«

Initiative ist es, unsere Dörfer attraktiv und lebendig zu er-

zeigen immer wieder, dass gerade in kleinen Dörfern die

halten.« (Gespräch im Mai 2019)

Gemeinschaftsleistungen besonders hoch sind. Jedes Dorf –

Die seit Jahren schrumpfende Gemeinde Hiddenhau-

auch das kleine – verdient Respekt. Jedes Dorf hat reiche

sen im nördlichen Westfalen hat 2007 das kommunale För-

und immer wieder andere Werte: durch seine Naturnähe,

derprogramm »Jung kauft Alt« aufgelegt, um den Verfall

durch seine bauliche, kulturelle und soziale Geschichte und

der Altimmobilien und der Infrastruktur in den Dorfker-

Gegenwart, durch seine zahlreichen Menschen, die sich für

nen zu stoppen und zugleich den Freiflächenverbrauch zu

das Gemeinwohl einsetzen.

reduzieren. Die kommunale Förderung besteht im Wesent-

Die positiven Beispiele zeigen, dass und wie die Entlee-

lichen aus relativ kleinen finanziellen Anreizen (um die

rung der Dorfkerne aufgehalten werden kann: durch ge-

10 000 Euro pro Familie gestaffelt nach der Kinderzahl)

meinsame Anstrengungen der Bürger, der Kommunalpo-

und großem Informations- und Beratungseinsatz. Sie be-

litik und der einschlägigen Fachbehörden. Fehlt auch nur

ginnt mit der Erstellung eines Altbau-Gutachtens, um die

ein Glied in dieser Kette, droht der schleichende Prozess

Nutzungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Um-

der Entleerung weiterzugehen. Dass Dörfer auch durch Zu-

bau- und Sanierungskosten der leer stehenden Immobilien

wanderungen aufgefüllt werden können, ist gegenwärtig

abschätzen zu lassen. Bis 2015 wurden mit dem Programm

in einigen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vor-

schon 323 Familien angelockt und gefördert, um alte Häu-

pommerns zu beobachten. Dort tragen besonders (Vor-)Ru-

ser in den Dorfkernen zu übernehmen anstatt auf der grü-

hestandswanderer aus Großstädten und Familien mit Kin-

nen Wiese ein Eigenheim zu errichten. Seit 2011 wurden

dern dazu bei, dass selbst abgelegene Dörfer kaum Leer-

keine Neubauflächen mehr ausgewiesen. Inzwischen gibt

stände aufweisen.

es in Hiddenhausen mehr Zu- als Wegzüge. Wegen des gro-

Bei der Umnutzung alter Bausubstanz rät Prof. Detlev

ßen Erfolgs hat der Rat der Gemeinde Hiddenhausen ein-

Simons grundsätzlich zur Flexibilität: »Nach dem Auszug

stimmig beschlossen, »Jung kauft Alt« unbefristet fortzu-

der Landwirtschaft aus den Orten ist die landwirtschaft-

führen.

. Zu den bundesweit für ihre erfolgreiche Leer-

liche Bausubstanz als typischer Bestandteil der Dörfer ge-

standsbekämpfung in den Dörfern bekannten Gemeinden

blieben. Damit dieser Bestandteil erhalten bleibt, sollte eine

gehören u.a. die Großgemeinde Illingen im Saarland und

Umnutzung so erfolgen, dass der Typ möglichst erhalten

die Gemeindeallianz »Hofheimer Land« in Unterfranken

bleibt. Das ist allerdings ein ›frommer‹ Wunsch, denn eine

in Bayern.

praktikable Umnutzung führt auch zu einer bedeutenden

222

Angesichts der Leerstände in vielen Landregionen wer-

Umwandlung der Bausubstanz. Hier sollten die Bau- und

den in der Raumordnung teilweise auch extreme Vor-

Denkmalbehörden nicht zu starr sein. Das ›Neue‹ muss Ein-

schläge diskutiert: zum Beispiel ganze Dörfer und struk-

zug halten können. Nur neue Funktionen können den Er-

turschwache Teilregionen Teilregionen ganz aufzugeben

halt der Dörfer sichern.«224�

und mit staatlicher Unterstützung, durch sog. »Abwrack-

Der alte Dorfkern als leere Hülle oder als lebendige

prämien«, zu begleiten und zu beschleunigen. Hilfreich

und das Ortsbild prägende Mitte – hier wird sich auch die

sind derartige Gedankenspiele über »Vorteile der geordne-

grundsätzliche Frage entscheiden, an welchem Leitbild

ten Wüstung« oder »die aktive Aufgabe eines Ortes« nicht.

sich das zukünftige »Dorf« des 21. Jahrhunderts orientieren

Ulf Hahne, Professor für Ökonomie der Stadt- und Regi-

wird: dem Leitbild des überlieferten Kerns oder dem der

onalentwicklung, hat dazu erhebliche ethische und recht-

Neubausiedlung am Rande.

liche Bedenken ausgeführt. Außerdem hat er sich mit den

Gestalt der Kulturlandschaft

267

Dorfpolitik

Einführung Die Entwicklung der Dörfer und des ländlichen Raumes

wertige Lebensbedingungen anzustreben. Dies ist gerade

wurde und wird in starkem Maße durch die Politik geprägt.

für den ländlichen Raum wichtig. Allerdings herrschte in

Die Politik für das Land ist für viele ein Labyrinth – sie ge-

der Raumordnungspolitik lange Zeit das Leitbild einer zen-

schieht auf verschiedenen Ebenen und in sehr unterschied-

tralstaatlichen Politik von oben nach unten, die dem ländli-

lichen Fachbehörden. Für alle Angelegenheiten der örtli-

chen Raum geschadet hat. Seit etwa 20 Jahren gilt nun (of-

chen Gemeinschaft ist in erster Linie die Kommunalpolitik

fiziell) das Leitbild der endogenen, sprich eigenständigen

zuständig, also Bürgermeister, Ortsvorsteher, Gemeinderat

Entwicklung. Der ländliche Raum soll sich wieder mehr an

und Verwaltung. Deren Aufgaben, Spielräume und Gren-

seinen gewachsenen Werten orientieren und sich mit eige-

zen werden hier im Folgenden dargestellt.

nen Kompetenzen und Kräften entwickeln und entfalten

Aber der ländliche Raum ist nicht autonom. Er erfährt in vielfacher Weise eine politische »Behandlung« durch die

Zu den für das Land besonders wichtigen Fachpolitiken

Parlamente und Ministerien des Bundes und der Länder.

gehört die moderne Agrarpolitik: Diese reicht von den um-

Diese führen die ländlichen Bürger und Kommunen durch

wälzenden Agrar- und Bodenreformen des 19. Jahrhunderts

ein enges Geflecht von Gesetzen, Vorschriften, Richtli-

bis hin zu den heutigen EU -geprägten Zielen gesunder

nien, Steuern und Förderprogrammen am »goldenen Zü-

Nahrungsmittel und einer nachhaltigen Entwicklung des

gel«. Nicht wenige sprechen auch von Bevormundung und

ländlichen Raumes. Auch die Fachpolitiken der Dorfver-

Fremdbestimmung. Ein Beispiel: Ob eine dörfliche Schule

schönerung, Dorfsanierung und Dorferneuerung hatten

heute weiter bestehen bleiben kann, entscheidet längst

und haben für das Dorf eine große Wirkung. Hier gab es

nicht mehr nur der lokale Gemeinderat.

noch vor wenigen Jahrzehnten Phasen, die stark von städ-

Es ist für das Verständnis des ländlichen Raumes wich-

tischen Vorbildern und einer geringen Wertschätzung der

tig, auch dessen komplexe Fernsteuerungen durch Bund

ländlichen Baukultur geprägt waren. Aber auch in diesem

und Länder kennenzulernen. Diese zeigen sich sowohl in

Bereich gelten längst neue Leitbilder: die der erhaltenden

der staatlichen Raumordnung als auch in diversen Fach-

und ganzheitlichen Dorferneuerung und Dorfentwicklung

politiken. Ein wesentlicher Grundsatz der Raumordnungs-

sowie eine über das einzelne Dorf hinausgehende regionale

politik ist das Ziel, in allen Teilräumen des Staates gleich-

Baukultur.

Abbildung Seite 268/269: Für die Politik des ländlichen Raumes ist der ständige Austausch zwischen »oben« und »unten« sehr wichtig, hier Peter Harry Carstensen als Ausschussvorsitzender für Ernährung im Deutschen Bundestag im Gespräch mit Bergbauern auf der Baumoosalm im oberbayerischen Sudelfeld.

270

dürfen.

Das moderne Dorf

»Wir geben keine Region auf!« Wie staatliche Raumordnung die ländliche Entwicklung steuert

Äußerst vielfältig sind die politischen Kräfte, die auf

sung der Raumordnung die typischen flächenbezogenen

den ländlichen Raum einwirken. Zu den am wenigsten

»Leistungen« wie Agrarproduktion, Ökologie und Umwelt

bekannten oder »sichtbaren« gehört die Raumord-

sowie Freizeit und Erholung.

nung – dabei hat sie ein großes Gewicht. So soll sie

Staatliche Raumordnung begann in Deutschland –

dafür sorgen, dass in allen Teilräumen unseres

wie auch die Raumordnung als Wissenschaft – vor etwa

Staates »gleichwertige Lebensbedingungen« herrschen.

100 Jahren. Man begründet ihre Notwendigkeit damals

Als kürzlich in den Medien wissenschaftliche Empfeh-

wie heute mit dem regional unterschiedlichen Wirtschafts-

lungen auftauchten, bestimmte abgelegene ländliche

wachstum und vor allem mit den Problemen der ausufern-

Gebiete nicht weiter zu fördern, wurde dies vom

den Großstadtregionen auf der einen und sich entleeren-

zuständigen Bundesminister Wolfgang Tiefensee ganz

der ländlicher Regionen auf der anderen Seite. Gesetzliche

entschieden mit den Worten zurückgewiesen: »Wir

Grundlage der Raumordnung in Deutschland ist heute

geben keine Menschen auf, wir geben kein Dorf auf.«

das Bundesraumordnungsgesetz (BROG ) von 1965 und das Bundesraumordnungsprogramm (BROP ) von 1975. Auf die-

Aber was genau macht die staatliche Raumordnung? Ver-

ser Basis haben die Bundesländer seit den 1970er Jahren ein-

einfacht ausgedrückt, entwickelt sie überörtliche und fach-

schlägige Landesplanungsgesetze und -programme ent-

übergreifende Leitvorstellungen von der Ordnung und Ent-

wickelt und immer wieder modifiziert. In den größeren

wicklung des gesamten Staatsgebietes. Diese sollen nicht

Ländern hat sich als weitere Planungsebene die Regional-

nur menschen- und umweltgerecht sein, sondern auch

planung etabliert, quasi als Bindeglied zwischen den zent-

der Wirtschaft dienen. Konkret bemüht sich die Raum-

ralstaatlichen Anliegen in Bund und Ländern und der Ge-

ordnungspolitik um eine Beseitigung der räumlichen Dis-

meindeplanung, die für die örtlichen Belange zuständig

paritäten, d. h. der Ungleichgewichte im regionalen Ge-

und verantwortlich ist.

füge des Staates. Wenn z. B. größere Landstriche noch nicht

Für den ländlichen Raum haben die Gesetze und Pro-

durch Autobahn- und ICE -Strecken oder Flughäfen er-

gramme der Raumordnung eine große Bedeutung. So heißt

schlossen sind und wirtschaftlich darunter leiden, arbeitet die Raumordnung auf eine Behebung dieser Defizite hin. Für den Gesamtstaat erfüllt der ländliche Raum nach Wei-

Abbildung oben: Autobahnen und ICE -Strecken erschließen das Land. Die staatliche Raumordnung sorgt für gleichwertige Lebensbedingungen.

Dorfpolitik

271

derung des Raumes führen: das Zentrale-Orte-Konzept, die Siedlungs- und Entwicklungsachsen, die Vorrang- und Sanierungsgebiete sowie die Raumgliederungen bzw. Gebietstypen. Das Zentrale-Orte-Konzept ist das wichtigste Instrument der Raumordnung und hat auch den ländlichen Raum bis heute stark geprägt. Zentrale Orte sind Siedlungen mit einem »Bedeutungsüberschuss« gegenüber dem Umland. Sie versorgen mit ihren öffentlichen und privaten Infrastruktureinrichtungen und Dienstleistungen (z. B. Krankenhäuser, Verwaltungen, Schulen oder Tageszeitungen) nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Regionalbahnen sind für das Land besonders wichtig, weil sie die Dorfregionen mit den regionalen Klein-, Mittel- und Großstädten verbinden.

von Nachbarorten. Der Geograph Walter Christaller hatte

es im Bundesraumordnungsprogramm von 1975 wörtlich:

gleichmäßig über das Land verteilt und in einem hierar-

»Gleichwertige Lebensbedingungen im Sinne dieses Pro-

chischen System miteinander verküpft sind. So umschließt

gramms sind gegeben, wenn für alle Bürger in allen Teil-

ein Zentralort der höheren Stufe in seinem Verflechtungs-

räumen des Bundesgebietes ein quantitativ und qualitativ

bereich in der Regel mehrere Zentralorte der nächst niedri-

angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbsmöglich-

geren Stufe. Drei übereinanderliegende Ebenen von zentra-

keiten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen in zu-

len Orten werden unterschieden: Oberzentren, Mittelzent-

mutbarer Entfernung zur Verfügung steht und eine men-

ren und Unter- bzw. Grundzentren.

1933 am Beispiel von Süddeutschland »entdeckt«, dass zentrale Orte unterschiedlicher Größe und Bedeutung recht

schenwürdige Umwelt vorhanden ist: in keinem dieser Be-

Die von Christaller beobachtete und beschriebene »Ge-

reiche soll ein bestimmtes Niveau unterschritten werden.

setzmäßigkeit« zentraler Orte wurde dann in den späten

[…] In den ländlichen Gebieten sind wirtschaftlich und

30er und frühen 40er Jahren von ihm als »wissenschaft-

infrastrukturell den übrigen Teilräumen entsprechend

liches Prinzip« in die aktive Raumordnungspolitik ein-

gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben.«

geführt und zum ersten Mal in die Praxis umgesetzt, und

225

Aus diesen Leitforderungen ergibt sich das Prinzip der

zwar bei der »Überplanung« der »eingegliederten Ostge-

»Aktivsanierung«, das die Raumordnung gerade für den

biete« östlich der Oder. Gut 20 Jahre nach seinem »Vorlauf«

ländlichen Raum bislang nie infrage gestellt hat. Aktiv-

im Dritten Reich wurde das Zentrale-Orte-Konzept dann

sanierung bedeutet, dass die staatliche Förderung in be-

in Westdeutschland flächenhaft in die Praxis umgesetzt. Es

nachteiligten Gebieten so lange stattzufinden hat, bis eine

wurde zum wichtigsten Instrument der Raumordnungspo-

Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen mit den übrigen

litik und zur Basis der dann folgenden kommunalen Ge-

Teilregionen erreicht ist. Die in Deutschland bislang nur

bietsreformen, zunächst in den meisten Ländern in West-

theoretisch diskutierte »Passivsanierung« würde bedeuten,

deutschland und nach der Wiedervereinigung auch in Ost-

dass der Staat den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und

deutschland. Es hat die die kommunalpolitische Landschaft

demographischen Niedergang von Teilregionen ohne Ge-

in Deutschland grundlegend verändert.

gensteuerung hinnähme.

272

Durch von oben diktierte kommunale Gebietsreformen

Die Raumordnung hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte

verloren in Deutschland ab den 1960er Jahren bis heute

mehrere räumliche bzw. formale Instrumente entwickelt,

über 20 000 Landgemeinden ihre kommunale Selbststän-

die auf den ersten Blick harmlos erscheinen, aber doch

digkeit mit Bürgermeister und Gemeinderat. Sie wurden zu

kräftig in die Entwicklung ländlicher (und städtischer) Re-

ohnmächtigen »Ortsteilen« in oft riesigen, willkürlich zu-

gionen eingreifen. Wir unterscheiden vier verschiedene In-

sammengefügten Groß- bzw. Einheitsgemeinden. Deutsch-

strumente, die prinzipiell jeweils zu einer formalen Glie-

landweit wurden mit den Gebietsreformen über 300 000

Das moderne Dorf

Auch die Erhaltung und Entwicklung der Kulturlandschaft, wie hier der Mecklenburgischen Seenplatte mit dem Müritzsee, ist ein wichtiges Anliegen der Raumordnung.

ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker »entlassen«. Ih-

lers in der deutschen Raumordnungspolitik wird heute –

nen wurde vom Staat signalisiert: »Wir brauchen Eure lo-

mit großer Verspätung – sehr kritisch beurteilt. Der Wal-

kale Kompetenz; Euer Denken, Fühlen und Handeln für

ter-Christaller-Preis für verdiente Raumordner wurde vor

Euer Dorf nicht mehr!« Der Herrschaftsanspruch der Zen-

wenigen Jahren mit kurzer Begründung abgeschafft. End-

tralorte gegenüber den sog. nicht-zentralen Orten ist von

lich kommt es in den betroffenen Fächern Geographie und

Christaller mit dem »Führerprinzip«, mit »führenden und

Raumordnung mehr und mehr zu einer breiteren öffentli-

folgenden Siedlungseinheiten« begründet worden (1940

chen Reflexion seiner Person und seiner nachhaltig negati-

und 1943). Die west- und ostdeutschen Gebietsreformen der

ven Wirkung für unser Land. Was freilich nicht einfach ist,

letzten Jahrzehnte atmen also den Geist einer Diktatur. Und

denn immer noch sitzen zahllose Promovierte und Habili-

sie entsprechen nicht dem heutigen demokratischen Staats-

tierte, die dem Zentrale-Orte-Steuerungsmodell verpflich-

aufbau von unten nach oben, dem immer wieder geforder-

tet waren, in den Zentralen der Macht in Politik und Ge-

ten Subsidiaritätsprinzip, dem Prinzip einer vom Bürger

sellschaft.

mitgetragenen Demokratie. Die Entlarvung des Zentrale-Orte-Modells als »Wissen-

Inzwischen ist durch zahlreiche neue Studien belegt worden, dass Gebietsreformen keine finanziellen Einspa-

schaft« ist bereits vor Jahrzehnten erfolgt (vgl. u.a. Henkel

rungen, aber verheerende demokratische, infrastruktu-

und Stiens 1990). Die unrühmliche Rolle Walter Christal-

relle und soziale Verluste verursacht haben und weiter ver-

Dorfpolitik

273

derten aufgebaute und funktionsfähige Einrichtungen in Dörfern und Kleinstädten beseitigt wurden. Das ZentraleOrte-Muster wurde zu einer Politik der Zuordnungen, der Normsetzungen, der Fernsteuerung, generell einer demokratiefeindlichen Politik von oben nach unten. Das in der Raumordnung bis heute angewendete Zentrale-Orte-Konzept wird inzwischen vielfach kritischer betrachtet als noch vor 40, 50 oder 70 Jahren. Vor allem wird es als ein zu starres System angesehen, das der Wirklichkeit der Städte und Dörfer nur selten gerecht wird und außerdem Entwicklungsprozesse behindert. So wird generell kritisiert, dass es sich um kein wissenschaftliches Modell handelt. Auch Ulrich Brösse stellt fest, »dass es keine wissenschaftlich eindeutig nachweisbaren Kriterien für die Bestimmung von Zentralität gibt«.226 Gerade für den ländlichen Raum ist das Zentrale-Orte-Konzept höchst unbefriedigend. Es erfasst nur einen Bruchteil der ländlichen Siedlungen (als zentrale Orte); die weit überwiegende Mehrheit der Dörfer wird als zu vernachlässigende Restkategorie (der Die Internationale Bauausstellung (IBA ) Fürst-Pückler-Land betrieb von 2000 bis 2010 die Rekultivierung und Renaturierung der ausgedienten Braunkohlegebiete in der Lausitz. Hier bei Großräschen entsteht der Ilse-See, eine 63 Meter lange Seebrücke aus einem ausgedienten Tagebaugerät wurde bereits installiert.

sog. »nicht zentralen Orte«) abqualifiziert. Nach Gerhard Stiens dienen die dem ländlichen Raum aufgezwungenen zentralörtlichen Gliederungen vorrangig den Herrschaftsinteressen der staatlichen Administration und schaden der großen Masse der deutschen Dörfer.227

ursachen

. Durch Langzeitstudien wissen wir, dass selb-

Neben den zentralen Orten legt die Raumordnung auch

ständig gebliebene 1000-Einwohner-Dörfer in Bayern sich

die großräumigen Siedlungs- und Entwicklungsachsen

225a

in ihrer Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilien-

fest. Dabei geht es um ein lineares Ordnungsprinzip, das im

wertentwicklung besser entwickelt haben als gleich große

Wesentlichen die wichtigen Verkehrsbänder wie Straßen,

eingemeindete Dörfer. Trotz all dieser Erkenntnisse und

Schienen und Kanäle umfasst. Die großräumigen Ach-

gewandelter Leitbilder werden Gebietsreformen weiter be-

sen sollen die Verdichtungsräume miteinander verbinden

trieben wie zuletzt in Thüringen und Brandenburg. Hier

und auch den ländlichen Regionen Entwicklungsimpulse

sehen die betroffenen Bürger, dass die zuständigen Bürger-

bringen. Verkehrsachsen niederer Ordnung werden von der

meister weit entfernt residieren und dass ihr lokales und de-

Landes- und Regionalplanung festgelegt. Neben den punkt-

mokratisches Denken und Handeln in Dörfern und Klein-

und linienhaften Modellen der zentralen Orte und Ach-

städten nicht mehr gefragt ist. Das Vertrauen gegenüber

sen gibt es in der Raumordnung auch noch das flächenbe-

dem Staat schwindet, Ohnmachtsgefühle und Wut stellen

zogene Ordnungsmuster der Vorrang- und Entwicklungs-

sich ein. Nicht- und Protestwähler sind die Folge. Gebiets-

gebiete – z. B. für ökologischen Ausgleich, Rohstoff- und

reformen haben der Mehrheit der deutschen Dörfer und

Wasservorkommen, Freizeit und Erholung. Die zahlreichen

Kleinstädte durch die Wegnahme ihrer Selbstverantwor-

Natur- und Nationalparke lassen sich hier einordnen.

tung großen Schaden zugefügt und damit zugleich eine bestehende demokratische Basis des Staates beseitigt. Nach den kommunalen Gebietsreformen folgten auch

274

Die Bilanz der bisherigen Raumordnungspolitik für den ländlichen Raum ist eher ernüchternd. Der Abbau von Ungleichgewichten zwischen starken und schwa-

im Schul-, Polizei- und Postbereich »Reformen« nach den

chen Teilregionen war wenig erfolgreich. Dies stellen die

gleichen Prinzipien mit dem Ergebnis, dass in Jahrhun-

Raumordnungsberichte des Bundes und der Länder sowie

Das moderne Dorf

wissenschaftliche Analysen immer wieder fest. Auch die Prognosen gehen nicht davon aus, dass sich z. B. die Strukturschwächen abgelegener ländlicher Regionen kurz- oder mittelfristig verbessern werden. Trotz generell gleichbleibender Leitbilder und Instrumente ist daher in der Raumordnung seit etwa 20 Jahren ein (zumindest verbaler) Paradigmenwechsel, d. h. ein Wechsel von einer Grundauffassung zu einer anderen, festzustellen. Man hat erkannt, dass zentralstaatliche, standardisierte Problemlösungen, die »von oben nach unten« diktiert werden, den unterschiedlichen Bedürfnissen auf dem Land nicht mehr gerecht werden und außerdem politisches Kapital verschenken. Heute gilt offiziell das Leitbild der endogenen bzw. regional angepassten Entwicklung, das erstmals im Raumordnungsbericht von 1990 auftaucht. Dieses Konzept will die Kompetenzen und das Engagement der Bürger und Politiker auf dem Land stärker als bisher in die Politik einbringen. Erste konkrete Konzepte »von unten« finden sich z. B. in der kommunalen und regionalen Energieversorgung und beim öffentlichen Nahverkehr. Hoffnung machen auch die neuen »Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland« von 2006.

Alle Regionen Deutschlands bieten eine erhaltenswerte Lebensqualität, hier das Dorf Apfeldorf im bayerischen Alpenvorland.

Hierin wird die »Sicherung und Gestaltung der gewachsenen Kulturlandschaft« als ein herausragendes Leitbild

Regionen nicht mehr zu fördern, entgegnete der zustän-

der Raumordnung genannt. Mit dieser neuen Zielvorgabe

dige Bundesminister Wolfgang Tiefensee kategorisch: »Wer

weist der Staat dem ländlichen Raum eine Hauptrolle zu.

Regionen aufgeben will, der gibt die Menschen darin auf.

Zur weiteren Realisierung der endogenen Entwicklung

Wissenschaftler können so etwas fordern. Politik aber muss

und Kulturlandschaftsgestaltung benötigt die regionale

es verhindern! Der Staat ist der Einzige, der die öffentliche

und kommunale Politik jedoch größere Spielräume. Das

Daseinsvorsorge auch in vom Bevölkerungsrückgang be-

bedeutet vor allem, dass die kommunalen Verwaltungen

troffenen Regionen sichern kann. Soll die alte Frau, die sich

der Kreise und Gemeinden auf dem Land gestärkt werden

an ihr Dorf, ihr Häuschen, ihr Tomatenbeet klammert, ins

müssen.

Pflegeheim im Oberzentrum verfrachtet werden? Ist das

Die grundsätzliche (akademische) Frage, ob die Entwick-

ein demokratisch-sozialer Gestus, oder nicht ein ganz ande-

lung des ländlichen Raumes in den letzten 50 Jahren ohne

rer? Wir werden diese Regionen aber nicht nur weiter för-

die Raumordnungspolitik besser oder schlechter verlaufen

dern um der dort Lebenden willen. Wir werden diese wun-

wäre, lässt sich nicht pauschal beantworten. Bewährt ha-

derschönen Landschaften nicht verloren geben, sondern ih-

ben sich mit Sicherheit die im Grundgesetz und Bundes-

nen eine Zukunft ermöglichen.«228 Ganz ähnlich äußerte

raumordnungsgesetz verankerten Leitbilder, gleichwer-

sich diesbezüglich der ehemalige zuständige Bundesminis-

tige Lebensbedingungen in allen Teilregionen des Landes

ter Ramsauer: »In Deutschland gilt das Ziel gleichwertiger

anzustreben. Diese Idealvision bietet einen ständigen An-

Lebensverhältnisse. Wir geben keine Region auf.«229 Konse-

reiz zum Nachdenken und Handeln. Und die Raumord-

quente, mutige Worte, die gerade für den strukturschwa-

nung hält daran fest, bis heute! Als kürzlich Wissenschaft-

chen ländlichen Raum Hoffnung machen!

ler dieses Leitbild der gleichwertigen Lebensbedingungen zur Diskussion stellten und forderten, bestimmte ländliche

Dorfpolitik

275

Abstufungen des Ländlichen Die drei ländlichen Raumtypen

Den einheitlichen ländlichen Raum gibt es nicht,

nicht vor. Auch das folgende Schema zur Gliederung der

wie es das einheitliche Dorf nicht gibt. Das ist mittler-

Siedlungsstruktur des Bundesgebietes, das in der Bundes-

weile eine Binsenweisheit in Wissenschaft und Politik.

raumordnung festgelegt ist, orientiert sich an den Kreis-

Doch wie viele ländliche Räume können oder wollen

grenzen.

wir unterscheiden? Die Bundesraumordnung legt sich

Zunächst werden von der Raumordnung für das gesamte

auf drei Grundtypen fest, die überall im Land anzu-

Bundesgebiet drei übergeordnete Raumtypen unterschie-

treffen sind. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein –

den: Agglomerationsräume mit ihrem Umland, Regionen

wie die darin liegenden Dörfer Grevel, Windesheim und

mit Verstädterungsansätzen und ländlich geprägte Regi-

Bärweiler. Für die Politik stellen sich hier jeweils

onen. Innerhalb dieser drei Haupttypen wird dann weiter

andere Aufgaben.

differenziert und z. B. das ländliche Umland von verstädterten Gebieten ausgewiesen. Kriterien dieser Abgrenzun-

Die Raumordnung hat neben dem Gesamtraum des Staa-

gen sind die Bevölkerungsdichte sowie die Zentralität der

tes immer auch dessen Teilregionen im Blick. Wichtig für

Städte. Fasst man alle ländlichen Gebiete in den drei Raum-

den ländlichen Raum ist natürlich die Frage seiner Abgren-

typen zusammen, ergibt sich, dass sie rund 90 % der Flä-

zung von städtischen Gebieten. Auch damit befasst sich die

che und 54 % der Bevölkerung des Bundesgebietes ausma-

Raumordnung in Wissenschaft und Politik, wobei jedoch

chen. Es soll an dieser Stelle nur darauf aufmerksam ge-

nur selten Einigkeit erzielt wird. Ein grundlegendes Pro-

macht werden, dass es für die Statistiker der Raumordnung

blem solcher Abgrenzungen besteht darin, dass als kleinste

ein Leichtes ist, die ländlichen Räume im gesamten Staats-

Einheit meist einfach die Kreise herangezogen werden.

gefüge »kleiner« zu machen – z. B. durch eine Absenkung

Derart kleinmaßstäbige Übersichten müssen naturgemäß

der Schwellenwerte der Bevölkerungsdichte für die zu defi-

stark verallgemeinern und dabei z. B. Unterschiede zwi-

nierenden ländlichen Gebiete. Was hin und wieder passiert

schen Stadt und Land innerhalb von (oft riesigen) Kreisen

mit dem Ergebnis, dass ländliche Gebiete wie große Teile

verwischen. Die beste Möglichkeit wäre eine Abgrenzung

des Sauerlandes, des Münsterlandes, des Emslandes, Nord-

auf Gemeindebasis oder sogar auf der Basis jeder einzelnen Siedlung. Solche großmaßstäblichen Übersichten zur Abgrenzung städtischer und ländlicher Gebiete liegen jedoch

276

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Bärweiler ist ein abgelegenes Dorf und damit ein »Sorgenkind« der Raumordnung.

und Mittelhessens, Baden-Württembergs und Bayerns auf Karten der Raumordnung plötzlich als »halbstädtisch« (und damit nicht mehr als »ländlich«) erscheinen. So war es in einem FAZ -Artikel vom 31. 5. 2005 230 auf einer beigefügten Karte abzulesen. Hier ein Auszug meiner knappen Antwort darauf: »Den Aussagen des Artikels ›Keine Landliebe mehr‹ (F. A. Z. vom 31. Mai) muß widersprochen werden: Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung sollen demnach auf dem Land leben. […] Mit welcher Berechtigung werden alle ländlichen Gebiete ab 100 (bis 500) Einwohner je Quadratkilometer als ›halbstädtisch‹ bezeichnet? Wem nutzt dieses Kunstwort? […] Es gibt bessere, weil differenziertere Abgrenzungen des ländlichen Raumes. Dann ist er auch nicht mehr so klein, wie die genannte Statistik uns weismachen will.«231 Entsprechend der siedlungsstrukturellen Dreigliederung des Bundesgebietes unterscheidet man in der Raumordnung allgemein drei Typen von ländlichen Räumen: Typ A Ländliche Räume am Rande von Agglomerationen,

Grevel liegt am Rand der Agglomeration Ruhrgebiet. An vielen Stellen wurde hier der ehemals dörfliche Charakter durch Wandverkleidungen und größere Mietshäuser und Garagenbauten verändert.

Typ B Ländliche Räume im Umfeld leistungsfähiger Oberzentren, Typ C Periphere, dünn besiedelte ländliche Räume ohne leistungsfähige Oberzentren.

haben sich quasi in einen großen Siedlungsbrei verwandelt. Dies hat auch Auswirkungen auf das Sozialgefüge und lokale Engagement, urbane Lebensstile setzen sich verstärkt durch. Hinsichtlich ihrer Überformung unterscheidet Jo-

Diese drei Grundtypen ländlicher Räume unterscheiden

hann Jessen�drei Dorftypen232:

sich nicht nur im Siedlungs- und Landschaftsbild. Sie wei-

1. Das »geschluckte« Dorf ist bereits ein Teil der Großstadt,

sen auch sehr unterschiedliche ökonomische, infrastruktu-

die ehemals dörfliche Bausubstanz weitgehend ver-

relle sowie kulturelle und soziale Merkmale auf. Entspre-

schwunden. Beispiele sind Eppendorf in Hamburg oder

chend andersartig werden die Entwicklungschancen und

Schöneberg in Berlin.

-probleme für die Zukunft beurteilt. Der Politik stellen sich

2. Im (oft mehrfach) »überformten« Dorf stehen in unmit-

daher in den verschiedenen ländlichen Raumtypen jeweils

telbarer Nachbarschaft großstädtische Wohn- und Ge-

andere Aufgaben. Wie jede knappe Gliederung der komple-

werbesiedlungen neben inselhaften alten Dorfkernen.

xen Wirklichkeit, müssen die folgenden Ausführungen zu

3. Beispiele für das »geschützte« Dorf sind die Weindörfer

den drei Grundtypen ländlicher Räume stark verallgemei-

Uhlbach und Rotenberg in Stuttgart oder Dorflagen im

nernd ausfallen!

Alten Land nahe Hamburg.

231a

Typ A Ländliche Räume am Rande von Agglomerationen:

Das Beispiel Grevel (am Rande von Dortmund) gehört zu

Die Nähe zu Großstädten und Verdichtungsgebieten bringt

den überformten Dörfern. Hier zeigt sich, wie eine vor 60

zugleich Vorteile und Nachteile. Zwar haben die Bewoh-

Jahren noch rein landwirtschaftlich genutzte Gemarkung

ner dieses ländlichen Umfeldes kurze Wege zu den hoch-

in wenigen Jahrzehnten durch Ansprüche der nahen Groß-

wertigen Arbeitsplatz- und Infrastrukturangeboten der na-

stadt massiv überformt wurde: durch eine Trabantenstadt

hen Zentren. Das größte Problem ist aber der immer noch

für 30 000 Einwohner, durch eine städtische Abfalldeponie,

wachsende Druck der Großstädte auf die noch freien Flä-

durch eine Trasse mit Endhaltepunkt der Stadtschnellbahn,

chen. Schon jetzt sind zahlreiche Dörfer so stark überformt

durch einen Bezirksfriedhof (s. Abb. oben). Auf der Strecke

worden, dass man sie als solche gar nicht mehr erkennt. Sie

blieben neben den baulichen und sozialen Dorfstrukturen

Dorfpolitik

277

hilfe zur nachhaltigen Dorfentwicklung im Großraum Hannover von Jörg Knieling.233 Hier eine Stimme aus eialter

1950

nem betroffenen Dorf selbst: Prof. Dr. Reinhold E. Lob, der

Dorfbereich 0

1000 m

seit Jahrzehnten in Grevel lebt, antwortet auf die Frage, ob sich die lokale Bevölkerung als Dorf fühlt und was man in Zukunft von der Kommunalpolitik erwartet: »Die meisten Bewohner unseres nördlichen Dortmunder Vorortes – sowohl Alteingesessene wie auch die in den letzten Jahrzehnten Hinzugezogenen – bezeichnen Grevel noch gern

Gemarkungsgrenze Wald Garten, Wiese, Weide Ackerland Park Industriebrache der Zeche Gneisenau

Verluste an Landwirtschaftsfläche 1950–2019 durch: 3 4

3

2019

2 7

7

umgesiedelter Hof

8 6

5

1a Alt-Scharnhorst 1b Trabantenstadt Neu Scharnhorst 2 Bezirksfriedhof 3 Städtische Abfalldeponie 4 Bergehalde der Zeche Gneisenau 5 Schrebergarten 6 Aufforstungen 7 Stadtschnellbahn 8 Gärtnerei

5 5

6

1a 1b

Verlorene landwirtschaftliche Nutzfläche 6

und das dörfliche Handwerk ist nahezu ganz verschwunden. Aber die räumliche und soziale Überschaubarkeit, lebendige Nachbarschaft sowie die zahlreichen noch erhaltenen ehemals landwirtschaftlichen Gebäude, der ländliche Pferdesport, aber auch das noch grüne Umfeld mit Weiden, Waldparzellen und Ackerland sind wohl die Ursachen dieser Einschätzung. Ich wünschte mir von der Kommunalpolitik einen behutsameren Umgang mit diesen stadtrandnahen ›Wunschdörfern‹, sowohl bei der baulichen Gestaltung im Inneren als auch bei der Bebauung und Umnutzung im Randbereich, und keine bloße Einstufung als ›Flächenreservepotenzial‹ der Großstadt.«234 Typ B Ländliche Räume im Umfeld leistungsfähiger

5

1b

als ›Dorf‹. Bäuerlich sind zwar nur noch zwei Familien,

zw. 1950 und 1970

Oberzentren: Dieser mittlere ländliche Raumtyp erfährt die Vorzüge von Stadt und Land – und kaum deren Nach-

zw. 1970 und 1990

teile. Durch die Nähe zu einem Oberzentrum kann er des-

zw. 1990 und 2019

sen hochwertige Arbeitsplätze und Dienstleistungen nutzen und zugleich die Vorteile des Landes wie Ruhe, sau-

Dortmund-Grevel 1950 und 2019, ein Dorf am Rande des Ballungsraumes im Wandel.

bere Luft, dörfliches Leben und schöne Kulturlandschaft genießen. Die spezifischen Nachteile sowohl der Verdichtungsgebiete als auch von abgelegenen Regionen wie Um-

278

vor allem die Freiflächen für die Land- und Forstwirtschaft,

weltbelastungen oder Verkehrsferne und fehlende Arbeits-

die Erholung, den landschaftlichen Kontrast und ökologi-

plätze müssen hier in der Regel nicht in Kauf genommen

schen Ausgleich. Trotz dieser Verluste fühlen sich die meis-

werden. Da Deutschlands Städtenetz sehr dezentral entwi-

ten Einwohner in den großstadtnahen Orten wie Grevel,

ckelt ist, ist dieser ländliche Raumtyp weit verbreitet. Bei-

welches zu Dortmund gehört, weiterhin als Dorfbewohner

spiele sind das Umland von Würzburg, Münster, Kiel, Er-

und pflegen entsprechend ihr ländliches Brauchtum. Die

furt und Ulm. Meist sind die regionalen Oberzentren noch

politischen Strategien für die Zukunft zielen auf den Erhalt

von einem Netz an Mittelzentren umgeben, die ebenfalls

der noch vorhandenen Reste ab, d. h. konkret: auf eine Si-

diesem ländlichen Raumtyp zugutekommen. Ein Beispiel

cherung der Freiräume und Grundwasserschutzgebiete, der

für diesen ländlichen Raumtyp ist das Dorf Windesheim in

Kultururlandschaftselemente und des historischen Dorf-

der Pfalz. Der Ort ist in den letzten Jahrzehnten an Sied-

ensembles. Wie dies aussehen könnte, zeigt eine sehr an-

lungsfläche und Einwohnern kräftig gewachsen, nicht zu-

regende und mit konkreten Beispielen versehene Planungs-

letzt auch durch städtische Zuwanderer. Das Gros der Be-

Das moderne Dorf

Windesheim liegt im Einzugsbereich einer Großstadt. Der Blick in die Dorfstraße zeigt, dass dieser ländliche Zentralort schon etwas kleinstädtische Züge trägt.

völkerung fährt zum Arbeiten täglich in die benachbarten

gliedert. Von einem Kollegen stammt der Vorschlag, den am

Klein- und Mittelstädte bis hin zum zugehörigen Oberzen-

dünnsten besiedelten Raum als den »ländlichsten Raum« zu

trum Mainz. Von der Raumordnung werden die ökonomi-

bezeichnen. Die ländlichen Regionen dieses Raumtyps sind

schen und sozialen Entwicklungsperspektiven dieses länd-

vor allem durch ihre abgelegene Verkehrslage und geringe

lichen Raumtyps generell als günstig eingestuft. Allerdings

Bevölkerungsdichte geprägt. Dazu kommt häufig ein Man-

zeigen sich bereits Gefährdungen in Richtung zweier Ten-

gel an Arbeitsplätzen und Infrastruktur. Diese erheblichen

denzen: In Großstadtnähe ist es deren Siedlungsdruck, in

Nachteile können die vorhandenen und auch wertgeschätz-

weiter abgelegenen Gebieten sind es hingegen Dörfer mit

ten Vorzüge der schönen und naturnahen Landschaft nicht

zunehmenden Leerständen.

ausgleichen. Zentrales Problem ist die Abwanderung vor allem der jungen Bevölkerung. Gebäudeleerstände und Aus-

Typ C Periphere, dünn besiedelte ländliche Räume ohne

dünnungen der Infrastruktur wie Schule oder Gasthof sind

leistungsfähige Oberzentren: Seit der Wiedervereinigung

oft die Folge. Als Beispiele können hier das kleine Dorf Bär-

und der damit verbundenen Einbeziehung der besonders

weiler oder der Weiler Hamm genannt werden235.�Während

dünnbesiedelten Regionen in Mecklenburg-Vorpommern

die Stimmung in Hamm derzeit von einer gewissen Resig-

und Brandenburg wird dieser Raumtyp meist noch unter-

nation geprägt ist, kämpft Bärweiler seit etwa 20 Jahren er-

Dorfpolitik

279

folgreich gegen seinen Niedergang. Die Zukunftsaussichten

len, der dem ländlichen Raumtyp B zugeordnet wird, meh-

des peripheren ländlichen Raumtyps werden generell kri-

rere Gemeinden bzw. Dörfer, die eigentlich dem Raumtyp

tisch beurteit. Alle Politikbereiche von der Raumordnung

C angehören. Deswegen gibt es einige Bundesländer, in de-

über die diversen Fachplanungen bis hin zur Kommunal-

nen die Raumordnung die ländlichen Räume weiter dif-

politik und nicht zuletzt die Bürgerschaft in den Dörfern

ferenziert, sodass wir dort vier oder fünf ländliche Raum-

selbst sind gefordert. Wichtig wird es vor allem sein, das Ver-

typen (z. B. in Bayern) unterscheiden.

kehrsnetz (Straße, Schiene, Telekommunikation) zu ver-

So unterschiedlich wie die dargestellten ländlichen Ge-

bessern, die Energieressourcen des Landes zu nutzen, sich

bietstypen sind die darin liegenden Dörfer wie Grevel,

mehr um außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze zu be-

Windesheim und Bärweiler. Haben diese Dörfer überhaupt

mühen und nicht zuletzt die Ortsbilder durch Maßnahmen

Gemeinsamkeiten? Was verbindet sie? Ist z. B. Grevel noch

der Dorferneuerung aufzuwerten. Das Beispiel Bärweiler

ein Dorf? Die begriffliche Diskussion, was wir heute unter

zeigt, dass es und wie es geht.

einem Dorf – im Vergleich zur Stadt – verstehen, wird

Die großen regionalen Unterschiede ländlicher Räume in Deutschland machen deutlich: Eine bundes- oder länder-

in Kapitel »Einzelhof, Weiler, Dorf, Kleinstadt« geführt (S. 213 ff.).

einheitliche Politik des ländlichen Raumes würde schnell an ihre Grenzen stoßen. Selbst die hier ausgeführte »Aufteilung« in drei ländliche Raumtypen bietet für eine behutsame Politik nur einen ersten Einstieg, da sie durch ihren Bezug auf die Kreisebene bisweilen erhebliche regionale und lokale Unterschiede verwischt und damit keine durchgehend sichere Planungsgrundlage darstellt. So enthält beispielsweise der Hochsauerlandkreis in Nordrhein-Westfa-

Wehrsdorf in der Lausitz gehört zu den zahlreichen abgelegenen Dörfern im Osten Deutschlands, die unter Abwanderung junger Menschen und Überalterung leiden.

280

Das moderne Dorf

Der lange Weg zur bäuerlichen Landwirtschaft Agrarpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Die Agrarpolitik prägt in vielfältiger Weise und oft

wir dagegen eine Agrarpolitik, die ständig und teilweise

massiv die Agrarwirtschaft und darüber hinaus die

dirigistisch in Produktion und Marktgeschehen eingreift.

Entwicklung der Dörfer. Dies gilt für Vergangenheit wie

Zum Kennzeichen einer Zwangswirtschaft gehören die

Gegenwart. Kommt es zu größeren Umgestaltungen

ausschließlich zentralistische Planung und staatlich kont-

durch die Agrarpolitik, spricht man von Agrarreformen.

rollierte Durchführung, wobei alle privatwirtschaftlichen

Ein Jahrhundert großer Agrarreformen war das 19. Jahr-

Kräfte ohne Wirkung bleiben. Häufig enthält die Agrar-

hundert. Damals entstand aus dem feudalen Agrar-

politik Anteile aus verschiedenen Wirtschaftsordnungen.

system mit vielen Abhängigkeiten die bäuerliche Land-

Heute ist die Agrarpolitik – gerade auch in den EU -Län-

wirtschaft. Bauernrevolten und die Landrevolution von

dern – sehr kompliziert geworden: Sowohl liberale wie ge-

1848 haben dabei geholfen.

lenkte und dirigistische Elemente stehen unmittelbar nebeneinander, sodass kaum noch zu erkennen ist, welches

Jeder Staat hat in der Regel genaue Vorstellungen davon, in

wirtschaftspolitische Grundmodell zugrunde liegt.

welcher Weise die Land- und Forstwirtschaft betrieben wer-

In Deutschland und Europa sind im Verlauf der Ge-

den soll. Die entsprechenden Ziele, Aufgaben, Regeln oder

schichte sehr verschiedenartige Agrarwirtschaftsordnun-

auch Reformprogramme zu formulieren und für deren

gen entstanden, meist nacheinander, bisweilen auch ne-

Umsetzung zu sorgen, ist Aufgabe der Agrarpolitik. In der

beneinander. Wir unterscheiden bisher vor allem feudale,

Agrarpolitik spiegelt sich die jeweils herrschende Wirt-

bäuerliche, kapitalistische und kollektivistische Wirt-

schaftsordnung eines Staates oder einer Gesellschaft wider.

schafts- und Gesellschaftssysteme.

Diese kann generell eher liberal sein und den freien Kräf-

In der feudalen Agrarordnung besitzt eine herrschende

ten des Marktes vertrauen oder staatlich gelenkt sein. Ohne

Oberschicht (meist Klerus und Adel) das Bodeneigentum

Kenntnisse der sich wandelnden Agrarpolitik sind viele

und damit die wirtschaftliche und politische Macht. Das

Entwicklungen des ländlichen Raumes nicht zu verstehen.

Land wird teilweise zur Nutzung verliehen bzw. »zu Le-

Eine liberale Wirtschaftsordnung vertraut auf Markt und Wettbewerb, wo bzw. wodurch sich eine leistungsfähige Agrarwirtschaft entwickelt und selbst organisiert. In gelenkten und gesteuerten Wirtschaftsordnungen haben

hen gegeben«, weshalb auch von einer Lehensherrschaft Abbildung oben: Vor einem Gehöft in Kleindrebnitz in Sachsen präsentiert sich im Jahre 1897 das Gesinde in einem Gruppenbild. Für den heutigen Betrachter ist das Foto eher gefühlte 300 Jahre alt!

Dorfpolitik

281

gesprochen wird. Grundherren als Lehensgeber und Bau-

lungen umgebildet, wobei die alten Dörfer meist aufgelöst

ern als Lehensnehmer standen in einem recht komplizier-

wurden.237 Man bezeichnet diesen Übergang auch als »Bau-

ten Dienst-Lehen-Verhältnis zueinander mit Rechten und

ernlegen« durch die Grundherren. Diese hatten die länger-

Pflichten auf beiden Seiten. Der Bauer war als Landnutzer

fristigen bäuerlichen Nutzungsrechte am Boden zurück-

personell und wirtschaftlich eng an den Grundherren ge-

genommen und in kurzfristige Arbeitsverträge überführt.

bunden, z. B. hatte er Naturalabgaben zu leisten und Hand-

Somit wurden die ehemaligen Bauern zu Landarbeitern

und Spanndienste zu erfüllen. Andererseits stand der

und Tagelöhnern degradiert. Sie gerieten in eine starke per-

Grundherr in der Pflicht der Armen- und Notfürsorge oder

sönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit zum Grund-

der Bestellung eines Richters. Unterhalb der Herren- und

herren, die man auch als »Leibeigenschaft« bezeichnet, z. B.

Bauernschicht entwickelte sich eine breite unterbäuerliche

durften sie den Hof ohne Erlaubnis nicht verlassen. Ent-

Schicht der landarmen Kötter (Kleinbauern und Besitzer

sprechend groß war in den Gutsdörfern die soziale Klassen-

eines Kotten, d. h. eines kleinen Hofgebäudes) und landlo-

trennung zwischen Gutsbesitzern und Landarbeitern.

sen Hausgenossen. Das feudale Agrarsystem dominierte in

Das wesentliche Merkmal kollektivistischer Agrarsys-

Europa und Deutschland vom Frühen Mittelalter bis zu den

teme ist die gemeinschaftliche Produktion und Vermark-

großen Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts.

282

tung. Nach dem Grad der Sozialisierung unterscheidet

In der bäuerlichen Landwirtschaft liegen die Eigentums-

man genossenschaftliche und sozialistische Agrarsysteme.

und Nutzungsrechte zusammen in der Hand der Betriebe.

Die genossenschaftliche Landwirtschaft ist ein freiwilli-

Der Hof ist die Heimat und Lebensgrundlage der landwirt-

ger Produktionsverbund selbstständiger Landwirte, die

schaftlichen Familie. Lange Zeit galt die sog. »Hofidee«: Das

auch Eigentümer ihres Landes bleiben. In Deutschland ent-

wirtschaftliche Handeln war vorrangig auf die Erhaltung

stand das moderne Genossenschaftswesen in der Landwirt-

und Weitergabe des Hofes ausgerichtet. Vor über 100 Jah-

schaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In sozialistischen

ren wurde das Leitbild der bäuerlichen Landwirtschaft von

Agrarsystemen regeln staatliche Planung und Aufsicht die

Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) ausführlich beschrie-

landwirtschaftliche Produktion. Eine sozialistische Plan-

ben und propagiert: Im Mittelpunkt stand der selbstgenüg-

wirtschaft mit erheblichen Eingriffen in die Privatrechte

same und heimatverbundene »Bauer guter Art«.236 Das eu-

der Landeigentümer herrschte in Deutschland von 1945 bis

ropäische Hofbauerntum ist seit den Agrarreformen des

1990 im Gebiet der ehemaligen DDR .

19. Jahrhunderts weit verbreitet, verändert sich seit der zwei-

In Deutschland wie auch in den meisten Ländern Euro-

ten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber zunehmend. Das Ver-

pas vollzog sich im 19. Jahrhundert die endgültige Beseiti-

antwortungshandeln gegenüber dem Hof und der künfti-

gung des feudalen Agrarsystems. An seine Stelle trat in ei-

gen Generation schwindet gegenüber individuellen Wün-

nem langen Prozess mehrerer Reformen, die sich fast über

schen der Hofmitglieder. Gleichwohl bleibt der bäuerliche

das ganze Jahrhundert erstreckten, eine liberale und bau-

Familienbetrieb ein Leitbild der Agrarpolitik.

ernorientierte Agrarordnung. Im Mittelpunkt stand die

Kapitalistische Agrarsysteme waren in Mitteleuropa vor

Ablösung des sehr komplizierten Dienst-Lehen-Verhält-

allem in der Gutswirtschaft verbreitet. Die Geschäftsbe-

nisses zwischen Bauern und Grundherren. Sie brachte für

ziehungen zwischen den Bodeneignern und den Pächtern

die Bauern und Landarbeiter die persönliche Freiheit und

oder Verwaltern und den eigentlichen Landarbeitern waren

zugleich Rechte auf Bodeneigentum. Gleichzeitig befreite

durch Pacht- und Arbeitsverträge geregelt. Die Entwick-

sie aber auch die ehemaligen Grundherren von wichtigen

lung zur kapitalistischen Gutswirtschaft, die in England

Verpflichtungen und Beschränkungen, so z. B. die den Bau-

und Skandinavien bereits im Späten Mittelalter einsetzte,

ern eingeräumten alten Waldnutzungsrechte. Ziele der li-

fand in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert vor allem im

beralen Agrarpolitik waren, den Bauern und Landarbei-

nördlichen und östlichen Deutschland statt. So vor allem in

tern gerechte und soziale Lebensbedingungen zu schaffen,

Mecklenburg und Pommern, in Teilen Schleswig-Holsteins,

den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt in der

Brandenburgs und Schlesiens. Es wurden dort flächenhaft

Land- und Forstwirtschaft zu fördern und nicht zuletzt den

ehemals grundherrschaftliche Bauerndörfer zu Gutssied-

Aufbau moderner Staaten zu erleichtern. Bauern, Land-

Das moderne Dorf

Die Landrevolution von 1848 beschleunigte die Agrarreformen und markiert den Start der Bauern in die moderne Zeit. Auf dem Holzschnitt dargestellt sind Erstürmung und Brand des Schlosses Waldenburg am 5. April 1848.

arbeiter und Grundherren waren nun unmittelbar und in

4. Zusammenlegung der verstreuten Besitzflächen und

gleicher Weise der Staatshoheit unterstellt. Nach Abschaf-

Feldwegebau zur individuellen Erschließung der Feld-

fung des feudalen Agrarsystems setzte sich in Deutschland

parzellen im Rahmen staatlicher Förderprogramme der

das Leitbild der bäuerlichen Landwirtschaft durch. Die wichtigsten Agrarreformen des 19. Jahrhunderts

Flurbereinigung. 5. Aufhebung des sog. »Flurzwanges«, wodurch eine ei-

lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:238

genständige betriebswirtschaftliche Landbewirtschaf-

1. Aufhebung der persönlichen Bindungen und Abhängig-

tung ermöglicht wurde. Mit Flurzwang beschreibt man

keiten der Bauern und Landarbeiter an die Grundherren.

die genaue Festlegung der anzubauenden Feldfrüchte

Ablösung der Hand- und Spanndienste und der natura-

und der zeitlichen Nutzung der Flurparzellen (bei Saat,

len Abgaben.

Pflege und Ernte) durch Grundherren oder Dorfgenos-

2. Ablösung des bisher geteilten Rechts am Boden (grund-

senschaften.

herrliches Obereigentum und bäuerliches Nutzungs-

6. Allmähliche Ablösung landesherrlicher Befugnisse seit

recht) und Übergabe des Eigentums am Boden an die

der Mitte des 19. Jahrhunderts, die dem Adel als Grund-

Bauern.

herren noch aus früheren Rechten zugeordnet waren:

3. Auflösung der bisher gemeinschaftlich genutzten Flächen (Allmenden, Weiderechte in den Wäldern) zuguns-

u. a. die niedere Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Gutsherren.

ten von Privateigentum und individueller Nutzung.

Dorfpolitik

283

Der Umbruch vom feudalen zum liberalen System und

konnte sich nun – neben dem Landadel – entwickeln und

überhaupt die Bereitschaft zu grundlegenden Agrarrefor-

etablieren.

men wurde nicht zuletzt durch ein immer stärkeres Auf-

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mithilfe des Reichs-

begehren der Landbevölkerung angetrieben.239 Ab 1830

siedlungsgesetzes von 1919 eine Bodenreform begonnen

kam es in Deutschland wiederholt zu Aufständen und

und damit vor allem eine rege landwirtschaftliche Sied-

Revolten gegen die lokale Grundherrschaft, um die Ab-

lungstätigkeit ausgelöst. Durch Privatisierung staatlicher

gabenlast und rechtliche Ohnmacht zu beseitigen. Den

Güter entstanden von 1919 bis 1932 besonders in Mittel- und

Höhepunkt dieser Protestaktionen bildete dann die Re-

Ostdeutschland über 60 000 Neusiedlerstellen mit durch-

volution von 1848, die von Unruhen und Aufständen

schnittlich 11 ha Land, die vom Staat an Landwirte vergeben

in Paris und Berlin ausging und in kurzer Zeit praktisch

wurden. Beispiele solcher neuer Bauernsiedlungen sind die

ganz Deutschland erfasste, vor allem aber auf dem Land

Straßenweiler Matgendorf, Groß Wüstenfelde und Schwet-

wirksam wurde. Vielerorts – Schwerpunkte lagen in Süd-

zin nördlich von Teterow in Mecklenburg-Vorpommern.

deutschland, Westfalen und Sachsen – zogen Dorfbewoh-

Im Dritten Reich war ein wichtiges Ziel der Agrarpoli-

ner vor Amtssitze, Schlösser und Archive und erklärten

tik die Selbstversorgung aller Staatsbürger mit Lebensmit-

dem Landadel mit seinen Beamten den Kampf. Sie verlang-

teln durch den eigenen Bauernstand. Um wirtschaftlich

ten den Verzicht auf Abgaben und Dienste und pochten auf

stabile Bauernhöfe zu bekommen bzw. zu erhalten, wur-

alte Rechte wie z. B. der Waldnutzung. Fand man kein Ge-

den »Erbhöfe« bestimmt, die mindestens 7,5 ha und höchs-

hör, wurden nicht selten Gebäude der adligen Grundher-

tens 125 ha besaßen und ungeteilt vererbt werden mussten.

ren gestürmt und in Brand gesetzt. Ein Beispiel ist die Er-

Basis dieser Agrarpolitik waren das Reichserbhofgesetz und

stürmung und Brandstiftung des Schlosses Waldenburg in

das Reichsnährstandsgesetz, die beide im September 1933

Sachsen am 5. April 1848, die in einem sehr detaillierten

erlassen wurden. Auf dem 2. Reichsbauerntag im Novem-

Holzschnitt eindrucksstark dargestellt ist. Die Landrevolu-

ber 1934 erfolgte ein entsprechender Aufruf zur »Erzeu-

tion von 1848 beschleunigte letztlich den Durchbruch zu ei-

gungsschlacht« der deutschen Landwirtschaft. Damit ange-

ner liberalen Agrarpolitik und markiert in gewisser Weise

strebt wurde die sog. »Nahrungsfreiheit«, die ernährungs-

den Start der Bauern und generell der deutschen Land-

wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland.240 Dem Ziel

wirtschaft in die Moderne: Die von grundherrschaftlichen

der Produktionssteigerung diente auch die Neulandgewin-

Vorrechten befreite bäuerliche Mittel- und Oberschicht

nung an den Küsten sowie die Urbarmachung von Ödland.

Nach den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts konnte die bäuerliche Landwirtschaft aufblühen und damit auch ein breiterer Wohlstand in die Dörfer einziehen, im Bild das Bauerndorf Unterliezheim in Bayern.

284

Das moderne Dorf

Bodenreform und Kollektivierung Agrarpolitik in Ostdeutschland von 1945 bis 1990

In den ersten 45 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg

Land beim Aufbau der klassenlosen Gesellschaft, in der all-

bestanden in den beiden getrennten Hälften unseres

mählich eine qualitativ neue Siedlungsweise der Mensch-

Landes zwei völlig gegensätzliche Agrarpolitiksysteme

heit geschaffen wird.«241 Die Konsequenz waren die indus-

nebeneinander. Ohne Zweifel hat die Agrarpolitik

trieähnlichen landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-

im Gebiet der DDR die bestehenden Verhältnisse der

schaften (LPG ) und die Hochhäuser für Landarbeiter, die in

Landwirtschaft und des Dorfes massiver verändert

den Dörfern entstanden.

als im Westen Deutschlands. Seit 20 Jahren haben

Insgesamt lassen sich in der DDR drei agrarpolitische Pha-

wir wieder eine gemeinsame deutsche Agrarpolitik.

sen unterscheiden.242 Die erste von 1945 bis 1949 stand unter

Die viereinhalb Jahrzehnte Agrarpolitik von 1945 bis

dem Leitwort der Bodenreform. Mit dem Motto »Junker-

1990 haben jedoch bis heute tiefe Spuren in den

land in Bauernhand« wurden alle Höfe und Güter mit

neuen Bundesländern hinterlassen.

mehr als 100 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche entschädigungslos enteignet. Außerdem wurden ebenfalls Betriebe

Die Agrarpolitik im Gebiet der DDR von 1945 bis 1990

unter 100 ha enteignet, sofern ihre Eigentümer als Kriegs-

war ein Teil der sozialistischen Gesellschaftsordnung.

verbrecher, Kriegsschuldige oder Nationalsozialisten aus-

Im Mittelpunkt stand die Beseitigung der adligen Guts-

gewiesen werden konnten (was nicht selten willkürlich ge-

herrschaften und des privaten Bauerntums. Dies wurde er-

schah). Insgesamt wurden so rund 12 000 Land- und Forst-

reicht, indem das Privateigentum in Staatseigentum oder

wirtschaftsbetriebe und etwa 3,2 Mio. ha Land enteignet,

Zwangsgenossenschaften überführt wurde und damit auch

rund ein Drittel der land- und forstwirtschaftlichen Nutz-

in sozialistische und planwirtschaftliche Produktionsfor-

fläche der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ ).

men. Nicht zuletzt verfolgte die Agrarpolitik das Ziel, die

Das durch die Enteignungen »gewonnene« Land verteilte

Lebensverhältnisse auf dem Land denen in der Stadt anzug-

man zu 52 % auf etwa 220 000 Neubauernhöfe (mit durch-

leichen. Da man die Stadt gegenüber dem Land ideolo-

schnittlich 8,5 ha Besitz), zu 16 % auf 335 000 Kleinstland-

gisch bevorzugte, war die Urbanisierung des Landes eine Leitvorstellung. B. Röseler und K. Scherf haben dies treffend formuliert: »Die herrschende Arbeiterklasse konzentriert sich in den Städten.Demzufolge führt die Stadt das

Abbildung oben: Nach der Beseitigung der privaten Landwirtschaft entstanden in der DDR Großbetriebe, hier ein Blick in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG ) Großerkmannsdorf.

Dorfpolitik

285

der Besatzer zu fallen. Nicht selten fanden ganze Familien den Tod. Die zweite Phase der Agrarpolitik von 1952 bis 1960 diente dem planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR – sie gilt als die Zeit der Kollektivierung. Zielvorgabe

der Sozialistischen Einheitspartei war es, dass möglichst alle Bauern sich zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) zusammenschließen. Dies erfolgte zunächst auf freiwilliger Basis, dann mit verschiedenen Vergünstigungen und schließlich durch wirtschaftlichen und politischen Druck. 1960 war die Vollkollektivierung der Landwirtschaft erreicht, die durchschnittliche Wirtschaftsfläche je LPG betrug bereits 580 ha. Die fast komplette Beseitigung des frei verfügbaren Privatbesitzes an landwirtschaftlichen Nutzflächen wurde in der DDR sprachlich als »Bauernbefreiung« gefeiert. Allerdings hatten sich Tausende von Landwirten dem zuletzt immer stärkeren Druck, ihren Betrieb in die LPG einzugliedern, durch ihre Flucht nach Westdeutschland entzogen. Ab 1963 folgte in einer dritten Phase der Agrarpolitik der Aufbau von Kooperationsgemeinschaften. Die Betriebe wurden nun weiter vergrößert und zusammengelegt, außerdem wurden die LPG s auf wenige Produkte spezialisiert. Ab 1968 setzte eine weitergehende Industrialisierung der Landwirtschaft ein, Schichtarbeit und Berufsverkehr wurden zur Normalität. Bis zum Beginn der 1980er Jahre sank die Zahl der Betriebe auf rund 5000, deren durchschnittliche Größe bei 5000 ha lag. Die immer größer werdenden Betriebe wuchsen nun über die Gemeindegrenzen hinaus. Durch den Neubau von modernen GroßstallanlaAlles wird von oben geplant und gesteuert: Auf diesem Plakat von 1952 geben die Zentralbehörden bekannt, wann die Feldarbeiten zu erledigen sind (als wenn man das vor Ort nicht besser wüsste!).

gen entstanden die ersten Beispiele der Agrarindustrie auf deutschem Boden. Für die Arbeiter dieser Agrarfabriken wurden in den LPG -Dörfern kompakte Wohnsiedlungen in vier- bis fünfgeschossigen »Hochhäusern« errichtet, die bis

wirtstellen (mit durchschnittlich 1,5 ha Besitz) und zu 32 %

Die großen LPG s und VEG s erfüllten in ihren Dörfern

de der Bodenreform waren besonders in den Sommer- und

zahlreiche Aufgaben, die weit über die Landwirtschaft

Herbstmonaten des Jahres 1945 oft dramatisch und mit gro-

hinausgingen und die man gemeinhin der Kommunal-

Die enteigneten Be-

politik zuordnet: »Sie übernahmen Infrastrukturmaßnah-

sitzer hatten meist binnen 24 Stunden mit ihren Familien

men bis hin zu Straßenbau, Wasserversorgung und Abwas-

die Höfe zu verlassen. Zahllosen Guts- und Hofbesitzern

serbeseitigung, betrieben Sozialeinrichtungen wie Gast-

und ihren Angehörigen, insbesondere den Frauen, wurde

stätten, Kulturhäuser, Freibäder, Erholungseinrichtungen,

Gewalt angetan. Viele wurden ermordet oder verschleppt,

Kinderkrippen, trugen mit bei zur Sicherung der Alten-

andere wieder begingen Selbstmord, um nicht in die Hände

betreuung und der ärztlichen Versorgung und boten Ar-

ßem menschlichem Leid verbunden.

286

heute das Erscheinungsbild vieler Dörfer prägen.

auf etwa 550 volkseigene Güter (VEG ). Die Begleitumstän-

Das moderne Dorf

243

1951 werden die »Bauern« noch umworben. Das Dorf Drachhausen bekommt nach diesem Plakat von 1951 einen Landwirtschaftlichen Produktionsplan und einen Dorfwirtschaftsplan, wozu auch Straßen- und Brückenbauten gehören.

beitsplätze. LPG s und VEG s verfügten über eigene Baubri-

zunächst nicht überall in der Lage, diese Verluste zu kom-

gaden, die auch die Wohnungen der Betriebsangehörigen

pensieren. Die Aufarbeitung der gewaltigen und überhas-

instandhielten. Die Kantinen versorgten vielfach die Schul-

teten Umbruchphase nach der Wiedervereinigung rückt in

und Krippenkinder mit Mittagsmahlzeiten, Fahrzeuge der

jüngster Zeit immer mehr in den Fokus 244 a.

LPG s oder VEG s fuhren Betriebsangehörige als Teilnehmer

zu Sportveranstaltungen.«244

Zusammengefasst lässt sich die Agrarpolitik der DDR als eine Zentralverwaltungswirtschaft bezeichnen. Alle Pla-

Nach der Auflösung der LPGs in den frühen 1990er Jah-

nungen und Entscheidungen zielten von oben nach unten.

ren fielen in der Regel auch deren infrastrukturelle, soziale

Die alljährlichen zentralen Planfestlegungen regelten Pro-

und kulturelle »Leistungen« für die Dörfer weg. Sowohl die

duktion, Verarbeitung, Absatz und Preise, aber auch die Zu-

Kommunalpolitik als auch die dörflichen Vereine waren

teilung von Maschinen, Dünger, Saatgut und Futtermitteln.

Dorfpolitik

287

In den neuen LPG -Dörfern wurden zahlreiche Arbeitskräfte gebraucht und angezogen, für sie wurden erstmals kleine »Hochhäuser« in die Dörfer gebaut wie hier in Trinwillershagen in Mecklenburg-Vorpommern.

Die LPG war in den Dörfern nicht nur für die Landwirtschaft zuständig, sie schuf und unterhielt auch soziale und kulturelle Einrichtungen, hier das Kulturhaus in Trinwillershagen.

Zwischen den Planzielen auf der einen Seite und den Er-

tionsgemeinschaften. Die Privatisierung der Landwirt-

gebnissen der Produktion auf der anderen Seite traten je-

schaft bedeutete vor allem, dass die vorher genossenschaft-

doch regelmäßig erhebliche Differenzen auf. Dies wird vor

lich genutzten Flächen in die Verfügungsmacht der Ei-

allem darauf zurückgeführt, dass die bürokratische Orga-

gentümer zurückgegeben wurden. Inzwischen sind die

nisation zu schwerfällig und die Betriebsabläufe zu we-

meisten LPG s und VEG s in Gesellschaften neuen Rechts

nig überschaubar waren, z. T. aber auch auf die wenig in-

oder Einzelunternehmen (»Wieder- oder Neueinrichter«)

tensive persönliche Bindung der Mitarbeiter an die Be-

überführt worden. Die politische Behandlung der sog. »Bo-

triebe. Ein ehemaliger Mitarbeiter einer LPG -Verwaltung

denreform« von 1945 bis 1949 war nach der Wiederverei-

ließ mir gegenüber anlässlich eines Besuches in den frühen

nigung höchst umstritten. So bestätigte das Bundesverfas-

1990er Jahren einen knappen sarkastischen Satz fallen, der

sungsgericht letztlich am 23. 4. 1991 die Enteignungen der

mir im Gedächtnis geblieben ist: »Mitte Juni meldeten sich

fünf Nachkriegsjahre, wobei den Alteigentümern später

die Herren vom Bezirk und erklärten, dass jetzt Erntezeit

allerdings eine geringe Entschädigung zugebilligt wurde.

sei.« Insgesamt jedoch konnte die Landwirtschaft der DDR

Die Anzahl der Betriebe in den neuen Ländern hat sich von

durch die Vergrößerung und Rationalisierung der Betriebe

rund 5000 im Jahr 1989/90 auf inzwischen 24 600 im Jahr

ihre Produktivität ständig steigern. Im internationalen

2018 erhöht. Ihre durchschnittliche Größe ist heute aber

Vergleich erreichte sie einen Spitzenplatz unter den Län-

immer noch etwa fünfmal höher als in den westdeutschen

dern Mittel- und Osteuropas, blieb jedoch unter dem Stand

Bundesländern.244 b Durch ihre größeren Flächen haben die

der westeuropäischen Landwirtschaften.

landwirtschaftlichen Betriebe in Ostdeutschland eine für

Mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 fand auch die

288

Deutschland überdurchschnittliche Produktivität erreicht,

sozialistische Agrarpolitik der DDR ihr Ende. Zum 31. 12.

die auch im europäischen und internationalen Wettbewerb

1991 erloschen die Rechtsformen der LPG s und Koopera-

konkurrenzfähig ist.

Das moderne Dorf

Modernisieren und »Wachsen oder Weichen« Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis heute

Agrarpolitik geht uns alle an, tagtäglich, aber viele

gemeinsamen EU -Agrarpolitik geprägt. Erst seit 20 Jah-

wissen wenig davon. Wer einmal Agrarpolitik zum

ren haben wir wieder eine einheitliche deutsche Agrarpoli-

Anfassen erleben möchte, sollte die alljährliche Inter-

tik, wobei in den neuen Ländern zunächst die Reprivatisie-

nationale Grüne Woche Mitte Januar in Berlin besu-

rung der kollektivierten Betriebe im Vordergrund der Be-

chen. Schon bei der festlichen Eröffnung im CityCube

mühungen stand.

in Berlin präsentieren EU - und Bundespolitiker sowie

Die Agrarpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit

Bauernpräsidenten die unterschiedlichen Wünsche

dem Zweiten Weltkrieg lässt sich bisher in drei Phasen un-

und Sorgen der Agrarpolitik, der Produzenten, Händler

tergliedern.245 In den Nachkriegsjahren von 1945 bis 1953

und Verbraucher von Agrarprodukten. Sie sprechen

stand politisch der Wiederaufbau des zerstörten Landes im

über Agrarsubventionen, Milchquoten und -preise bis

Vordergrund. Wichtigstes agrarpolitisches Ziel war damals

hin zur nachhaltigen Landwirtschaft und zur Verantwor-

die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln.

tung für die Welternährung. An den folgenden Tagen

Dazu musste die landwirtschaftliche Produktion, die in den

zeigt die Grüne Woche unzählige Aktivitäten der Agrar-

Kriegsjahren um mehr als ein Drittel gesunken war, wie-

politik ganz konkret: die Bemühungen um alte Tier-

der gesteigert werden. Die ersten Berichte des Bundesernäh-

rassen und Apfelsorten, um gesunde Lebensmittel

rungsministers hatten daher den Tenor »Sorgen um das täg-

und Ernährung sowie die Erhaltung des Dorfes und

liche Brot«. Diese prekäre Lage dauerte etwa fünf Jahre an.

der ländlichen Kulturlandschaft.

Bereits 1950 konnten alle Bewirtschaftungsmaßnahmen für Nahrungsmittel wieder aufgehoben werden. Zur Phase

Es gibt kaum einen Politikbereich, der in den letzten 70 Jah-

des Wiederaufbaus gehören auch die Bemühungen um

ren in Deutschland so unterschiedlich, wechselhaft und

eine Bodenreform. Man wollte damit vor allem den etwa

teilweise revolutionär und widersprüchlich verlaufen ist

300 000 aus Ostdeutschland und Osteuropa vertriebenen

wie die Agrarpolitik. Im Osten Deutschlands herrschte zu-

Bauern eine neue Existenzmöglichkeit anbieten. Insgesamt

nächst eine sozialistische Gesellschaftsordnung, im Westen

wurden jedoch nur etwa 230 000 ha Land umverteilt, wobei

die soziale Marktwirtschaft. Entsprechend kontrastreich war die jeweilige Agrarpolitik. Seit Mitte der 1960er Jahre wird die (west-)deutsche Agrarpolitik zunehmend von der

Abbildung oben: Auf der jährlichen Grünen Woche in Berlin informiert die Agrarpolitik auch über Verbraucherschutz und gesunde Ernährung.

Dorfpolitik

289

7000 Bauern durchschnittlich 24 ha und 50 000 Neusiedler

darbietet. Konkrete Schwerpunkte der staatlichen Agrar-

durchschnittlich 3 ha erhielten. Zur Landabgabe – gegen

strukturförderung ab 1953 waren u. a.: Flurbereinigung

Entgelt – waren zuvor Großbetriebe über 100 ha per Gesetz

und Aussiedlung, Agrarsubventionen wie Dieselölverbilli-

verpflichtet worden. Insgesamt erfassten die Bodenrefor-

gung oder Preisstützungsmaßnahmen bei Milch und Ge-

men in Westdeutschland weniger als 5 % der agraren Nutz-

treide sowie agrarsoziale Maßnahmen wie die Altershilfe

fläche und bewirkten keine wesentlichen Änderungen der

für Landwirte und deren Ehefrauen. Daneben gab es land-

Agrarstruktur. Man bewertet sie heute als vorübergehende

wirtschaftliche Regionalprogramme zur Unterstützung

Nothilfe, die den Betrieben wegen der geringen Flächen-

benachteiligter Regionen wie dem Emsland, der Schwäbi-

ausstattungen kaum langfristige Chancen boten.

schen Alb und dem Bayerischen Wald. Die Fördermaßnah-

Ab 1953/55 begann die Ausgestaltung einer modernen

men der 1950er und 1960er Jahre dienten letztlich dazu,

Agrarpolitik, deren Herzstück das neue Landwirtschafts-

den angestrebten Modernisierungs- und Schrumpfungs-

gesetz von 1955 wurde. Deren Hauptziele waren die Förde-

prozess der Landwirtschaft nicht dem »freien Markt« zu

rung der landwirtschaftlichen Produktion und die Verbes-

überlassen, sondern in geordneten Bahnen verlaufen zu las-

serung der sozialen Lage der in der Landwirtschaft tätigen

sen. Dazu gehörte auch, dass man an dem Leitbild des bäu-

Menschen. Angesicht der großen Modernisierungs- und

erlichen Familienbetriebes festhielt.

Einkommensfortschritte in Industrie und Handel hatte

Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Agrarpolitik der

man die Notwendigkeit erkannt, auch den Agrarsektor zu

Bundesrepublik zunehmend von übernationalen Regelun-

modernisieren. Um die angestrebten Verbesserungen zu

gen der EWG , dann der EG und heute der EU geprägt. Man

beobachten, wurde ein alljährlicher Bericht über die Ein-

erließ Marktordnungen, in denen z. B. einheitliche Richt-

kommenssituation in der Landwirtschaft an den Bundestag

preise für Milch, Zucker oder Getreide festgelegt wurden.

gesetzlich verankert. Das gilt bis heute. Aus dem »Grünen

Man schützte die eigenen Bauern vor billigen Einfuhren

Bericht« wurde der »Agrarbericht«, der alljährlich Mitte

mit Zöllen und erleichterte andererseits die Ausfuhr von

Januar zur Grünen Woche erscheint und jeweils wichtige

Agrarprodukten durch Subventionen. Ein großes Problem

Zielvorgaben und Daten zur Agrarpolitik in knapper Form

für eine gemeinsame Agrarpolitik waren die erheblichen

Die Agrarpolitik fördert Groß- wie Kleinbetriebe, in der Börde wie im Gebirge. Dieser Hof im Trettachtal bei Oberstdorf betreibt Gründlandwirtschaft und damit zugleich – durch die Offenhaltung der Talaue – Kulturlandschaftspflege.

290

Das moderne Dorf

Unterschiede in der westeuropäischen Agrarstruktur. So

Betriebe und Vergrößerung der Flächen je Betrieb) ökono-

stand die klein- und mittelbäuerliche deutsche Landwirt-

misch und sozial abzufedern. So gab es Förderungen zur

schaft einer von Großbetrieben geprägten Landwirtschaft

Modernisierung landwirtschaftlicher Betriebe, zur Ein-

in Großbritannien und Frankreich gegenüber. Um hier

stellung der landwirtschaftlichen Tätigkeit, zur berufli-

eine notwendige Anpassung zu beschleunigen, verfasste der

chen Qualifikation der in der Landwirtschaft tätigen Perso-

damalige Vizepräsident der EG -Kommission Sicco Mans-

nen und nicht zuletzt das sog. »Bergbauernprogramm« zur

holt im Jahr 1968 ein »Memorandum zur Reform der Land-

Förderung der Landwirtschaft in Berggebieten und in be-

wirtschaft in der EG «. Dieser seinerzeit äußerst umstrittene

stimmten Regionen.

»Mansholt-Plan« forderte nicht zuletzt von der deutschen

Trotz der intensiv betriebenen Gesundschrumpfung der

Landwirtschaft einen forcierten Schrumpfungsprozess

Landwirtschaft vernachlässigte die Agrarpolitik die Ge-

nach dem Motto »Wachsen oder Weichen«. Klein- und Mit-

samtentwicklung des ländlichen Raumes keineswegs. An-

telbetriebe sollten zugunsten von Großbetrieben zum Aus-

ders als im Osten Deutschlands wurde der ländliche Raum

scheiden gedrängt werden. Betriebe mit Bodenproduktion

im Westen als gleichberechtigt neben den Städten und In-

sollten mindestens 80–120 ha groß sein. Der Mansholt-Plan

dustriegebieten respektiert, wie es der damalige Bundes-

wurde besonders in Deutschland seinerzeit als Radikal-

landwirtschaftsminister Josef Ertl im Jahr 1976 unmissver-

lösung verurteilt, er zeigte jedoch mittel- und langfristig

ständlich ausdrückte: »Ein Industriestaat muß gleicherma-

Wirkung. Mit verschiedenen Programmen hat die EU seit

ßen industrielle und ländliche Räume entwickeln. Verliert

den 1970er Jahren dazu beigetragen, den Prozess der Ge-

der ländliche Raum infolge mangelnder Arbeitsplätze an

sundschrumpfung der Landwirtschaft (Verringerung der

Attraktivität, dann ist die Chancengleichheit der Bürger in

Die Agrarpolitik unterstützt zunehmend auch eine nachhaltige und weniger intensive Landbewirtschaftung, hier die Pflege und Bewirtschaftung einer Streuobstwiese in Benediktbeuern in Bayern.

Dorfpolitik

291

Protestierende Bauern machen immer wieder auf Probleme aufmerksam: Hier fordern rund 500 Milchbauern aus Baden-Württemberg vor dem Agrarministerium in Stuttgart am 22. 9. 2009 faire Milchpreise, die nicht unter den eigenen Kosten liegen.

unserem Lande zunehmend gefährdet. Soziale, generative

schen und sozialen Strukturwandel des Landes zu beglei-

und kulturelle Erosion sind die Folge. Noch funktionsfä-

ten. Es gibt jedoch bis heute unterschiedliche Auffassungen

higen Siedlungsstrukturen droht der Kollaps. Auf der an-

darüber, ob das von der Agrarpolitik der EU und Deutsch-

deren Seite würden die stärker verdichteten Räume immer

lands vorgegebene Tempo der Modernisierung nicht doch

dichter werden; die Umweltprobleme potenzieren sich und

zu scharf war und gerade in der deutschen Landwirtschaft

So wurde in

und im deutschen Dorf schmerzhafte Wunden hinterlassen

Deutschland zusätzlich mit einem Gesetz über die Gemein-

hat, die z. T. immer noch nicht verheilt sind. An der Gestal-

schaftsaufgabe des Bundes und der Länder zur Verbesserung

tung der Agrarpolitik haben sich natürlich auch die ver-

der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (GAK , seit 1973)

schiedenen Spitzenverbände der deutschen Agrarwirtschaft

ein Instrument zur Modernisierung der Landwirtschaft

seit Jahrzehnten intensiv beteiligt.

die Infrastruktur wird zunehmend belastet.«

292

246

und des ländlichen Raumes geschaffen, das u. a. der Dorfer-

Immer wieder wurde die EU -Agrarpolitik in den zu-

neuerung zugutekam. Seit den 1990er Jahren werden mit

rückliegenden Jahrzehnten mit Vorwürfen und Krisen

dem EU -LEADER -Programm vielfältige innovative In-

konfrontiert. Finanzkrisen führten dazu, dass Beihilfen

itiativen im ländlichen Raum gefördert, die von lokalen

und Förderprogramme abgesetzt werden mussten. Die viel-

Gruppen getragen werden. All diese Förderungen dien-

fältigen Subventionen ermöglichten erst Produktionsüber-

ten letztlich dazu, den für notwendig gehaltenen ökonomi-

schüsse (erinnert sei an die »Milchseen« und »Butterberge«),

Das moderne Dorf

die man dann durch feste Quoten zu reduzieren versuchte. Vorwürfe, die Brüsseler Agrarbürokratie sei zu aufgebläht, stehen fast ständig im Raum. Dies gilt auch für die hohe Regelungsdichte der Verordungen und Anweisungen, der Eingrenzungen und Ausgrenzungen, der Erstattungen und Abschöpfungen, die so unübersichtlich und wechselhaft geworden sind, dass eine verantwortungsvolle Kontrolle kaum noch möglich ist. An der Basis wird der Sinn der oft wechselnden Programme nicht verstanden. Ähnliche Klagen wie diese hört man häufiger: »Heute wird das Abholzen von Obstbäumen – und morgen das Anpflanzen von Obstbäumen gefördert.« Manche sprechen daher von einer staatlich-bürokratischen Zwangswirtschaft, von Abschottung vor dem Weltmarkt und zu wenig Marktwirtschaft. Andere werfen der Agrarpolitik vor, dass sie die EU -Landwirtschaft zu stark subventioniere und insgesamt zu wenig ihre soziale, ökologische und globale Verantwortung wahrnehme.

Als Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft hat sich Julia Klöckner vor allem um die Sorgen und Wünsche der Landbevölkerung zu kümmern. Im Rahmen der Grünen Woche verkündete sie am 22. 1. 2020: »Die 20er Jahre werden das Jahrzehnt der ländlichen Räume!«

Man muss der Agrarpolitik allerdings zugutehalten, dass sich die Ansprüche der Gesellschaft an die Landwirtschaft

kette sowie Tierschutz und Risikomanagement in der

in den letzten Jahrzehnten ständig verändert haben. Stand

Landwirtschaft.

zunächst die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu erschwinglichen Preisen im Vordergrund, wurden es da-

4. Wiederherstellung, Erhaltung und Verbesserung der von der Land- und Forstwirtschaft abhängigen Ökosysteme.

nach mehr und mehr die ökonomischen, sozialen und bau-

5. Förderung der Ressourceneffizienz und Unterstützung

lichen Verbesserungen im ländlichen Raum sowie heute

des Agrar-, Ernährungs- und Forstsektors beim Über-

zunehmend der Natur- und Kulturlandschaftsschutz.

gang zu einer kohlenstoffarmen und klimaresistenten

Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) macht mit

Wirtschaft.

ihren Förderungen heute 38 % des gesamten EU-Haushalts

6. Förderung des sozialen Eingliederung, der Armutsbe-

aus. Die agrarpolitische Förderung der EU erfolgt in zwei

kämpfung und der wirtschaftlichen Entwicklung in den

Säulen. Säule eins umfasst die direkten Einkommensbei-

ländlichen Gebieten.247

hilfen an die Landwirte und Marktsteuerungsmaßnahmen.

Derzeit laufen bereits die intensiven Beratungen über den

Säule zwei umfasst Maßnahmen zur Förderung des länd-

Mehrjahreshaushalt GAP 2021–2027, wobei u. a. über die

lichen Raumes und gilt zum Beispiel dem Umwelt- und

Verschiebung der Mittel zwischen den Säulen, über mehr

Tierschutz sowie der Dorfentwicklung. Im Förderzeitraum

Umwelt- und Tierschutz, über die verbesserte Förderung

2014–2020 waren drei Viertel des Fördervolumens für die

von kleinen und mittleren Betrieben diskutiert wird.

erste Säule und ein Viertel für die zweite Säule reserviert.

Die für die deutsche Agrarpolitik zuständige Ministerin

Für den Förderzeitraum der GAP 2014–2020 gelten sechs

Julia Klöckner beschreibt in knapper Form ihr Leitbild der

Schwerpunkte:

Landwirtschaft: »Was muss Landwirtschaft leisten? Was sie

1. Förderung von Wissenstransfer und Innovation in der

immer geleistet hat: Sie muss die Menschen ernähren. Dazu

Land- und Forstwirtschaft und den ländlichen Gebieten.

muss sie natürlich wirtschaftlich sein und technische Ent-

2. Verbesserung der Wirtschaftlichkeit von landwirtschaft-

wicklungen nutzen. Sie muss aber auch ein hohes Maß an

lichen Betrieben und der Wettbewerbsfähigkeit aller Ar-

Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen

ten von Landwirtschaft in allen Regionen. 3. Förderung von Organisationen in der Nahrungsmittel-

zeigen, tiergerecht sein und nachhaltig, und auch zur Attraktivität ländlicher Regionen beitragen.«248

Dorfpolitik

293

Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert Aufgaben und Entwicklung der Flurbereinigung

Seit Jahrhunderten betreibt der Staat Bodenneuord-

lich die nur wenige Meter breiten »Handtuchfluren« übrig

nungen im ländlichen Raum – mit sehr unterschied-

blieben. Die Zersplitterung und stetige Verkleinerung des

lichen Zielen. Meist stand die ökonomisch zweckmä-

Besitzes erschwerte natürlich eine langfristige Existenzsi-

ßige Landbewirtschaftung im Vordergrund. Dabei ging

cherung der landwirtschaftlichen Betriebe in den Realerb-

es vor allem um die Zusammenlegung von zersplit-

gebieten.

tertem Grundbesitz, den Feldwegebau und den Hoch-

Generell haben auch die Staaten (und deren Wirtschafts-

wasserschutz. Heute ist die staatliche Flurbereini-

und Finanzminister) bzw. früher die Landes- und Grund-

gungsbehörde für zahlreiche und komplexe Aufgaben

herren ein Interesse an ökonomisch stabilen und ertrag-

der ländlichen Entwicklung zuständig. Im Mittelpunkt

reichen landwirtschaftlichen Betrieben. Daher gibt es in

stehen die Dorferneuerung und die Kultur- und Natur-

Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern

landschaftspflege.

schon seit der Frühen Neuzeit Reformen, Gesetze und Förderprogramme mit dem Hauptziel, die kleinparzellierte

Schon auf kleinmaßstäblichen Luftbildern von Deutsch-

Flur zugunsten größerer, betriebswirtschaftlich sinnvol-

land kann man erkennen, dass die Flurstücke von Region

ler Feldstücke umzuwandeln. Diese einschlägigen staatli-

zu Region sehr unterschiedliche Größen haben. Generell

chen Ziele und Maßnahmen werden heute in den Begriffen

sind sie im Norden und Osten am größten, die kleinsten

»Flurbereinigung« bzw. »Bodenneuordnung« zusammen-

Flurparzellen finden sich im Süden und Westen Deutsch-

gefasst. Auch die dafür zuständigen staatlichen Ämter tru-

lands. Diese Kontraste im Flurbild sind historisch entstan-

gen oder tragen in der Regel diese Namen.

den durch ein unterschiedliches Erbrecht. Im Norden und

Die staatliche Flurbereinigung zielt grundsätzlich auf

Osten Deutschlands galt früher die geschlossene Vererbung

eine Verbesserung der Agrarstruktur ab. Neben der Besei-

oder das Anerbenrecht: Das landwirtschaftliche Grundei-

tigung von kleinparzelliertem Grundbesitz geht es dabei

gentum ging im Erbgang ungeteilt an eine Person über. Im

auch darum, das Feldwegenetz und die Wasserwirtschaft zu

Westen und Südwesten dominierte hingegen die Realtei-

verbessern, Betriebe zu vergrößern, Orte aufzulockern, Aus-

lung: Das landwirtschaftliche Vermögen wurde gleichmäßig auf die Erben aufgeteilt. Durch fortgesetzte Teilungen entstanden so immer schmalere Flurparzellen, bis schließ-

294

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Schmale Parzellen wie hier in Bayern erschweren die Landbewirtschaftung. Hier kann die Flurbereinigung helfen.

siedlerhöfe zu errichten und insgesamt Dörfer zu erneuern.

15. Jahrhundert) und in Skandinavien (seit dem 18. Jahr-

Nicht selten dient die Flurbereinigung auch nicht agraren,

hundert) statt.250 Hier ist die Landwirtschaft schon seit dem

überregionalen Planungen für Autobahnen, Bahntrassen,

19. Jahrhundert komplett aus den beengten Dorflagen ver-

Kanäle oder Flugplätze, wobei sie zwischen den Privatinte-

schwunden und konzentriert sich jetzt auf die frei in der

ressen der Landwirtschaft und den Gemeinwohlinteressen

Feldflur liegenden Gehöfte. Diese Nachbarländer haben

des Staates zu vermitteln hat. Die meisten Gemarkungen in

durch ihre frühen und flächenhaften Flurneuordnungen

Deutschland haben seit dem 19. Jahrhundert zumindest ein-

einen deutlichen strukturellen Vorsprung gegenüber der

mal eine Flurbereinigung erfahren.

deutschen Landwirtschaft, die in vielen Regionen immer

Die ältesten staatlichen Flurneuordnungen fanden in Deutschland ab dem 16. Jahrhundert im Allgäu und in

noch relativ kleinparzelliert ist und sich häufig auch noch in beengten Dorflagen befindet.

Oberschwaben statt. Es kam hier zu den sog. »Vereinödun-

Eine erste flächenhafte Verbreitung fand die staatliche

gen«, d. h. zu Aussiedlungen von Hofstellen aus den beeng-

Flurneuordnung in Deutschland mit den Agrarreformen

ten Ortslagen in die Flur, und gleichzeitig zur Zusammen-

des 19. Jahrhunderts. So kam es zur Aufteilung, d. h. Priva-

legung (Arrondierung) der Besitzflächen um die neuen

tisierung, des Gemeindelandes – der Allmende. Um den

Einödhöfe. Diese Neuordnung fand bis ins 19. Jahrhundert

»Flurzwang«, also die fest geregelte Bewirtschaftung der

statt. Ein Beispiel hierfür ist die Vereinödung von Gun-

Feldparzellen, aufheben zu können, stand für Jahrzehnte

zesried im Allgäu aus den Jahren 1826–28.

Insgesamt 49

der Feldwegebau im Vordergrund. Seit Mitte des 19. Jahr-

Hofstellen wurden in die Feldflur ausgesiedelt und der frei

hunderts konzentrierte sich die Flurbereinigung darauf,

249

werdende Hofgrund an die verbleibenden Höfe aufgeteilt.

die in der Flur verstreuten Feldstücke zusammenzulegen.

Das generelle Ergebnis dieser Flurneuordnung war nicht

Diese Bemühungen trugen regional unterschiedliche Na-

nur eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Produk-

men wie Verkoppelung, Konsolidation, Arrondierung, Se-

tionsbedingungen, sondern auch eine Umgestaltung der

paration, Vereinödung oder Feldbereinigung. In dieser

Siedlungslandschaft: Aus einer Landschaft mit eng bebau-

Phase entwickelte sich allmählich auch der Berufsstand der

ten Dörfern entwickelte sich ein Streusiedlungsgebiet mit

Bodenneuordner oder Flurbereiniger. Es sind früher wie

Einzelhöfen und vereinzelten Weilern sowie locker bebau-

heute Geodäten (früher »Landmesser« oder »Feldmesser«),

ten, kleinen Dörfern. Ähnliche Maßnahmen der Dorfauf-

also Vermessungsingenieure. Doch deren Arbeitsfelder

lockerung und manchmal auch der Dorfauflösung zuguns-

gehen inzwischen weit über das reine Vermessen hinaus.

ten von arrondierten Einzelhöfen in der Flur fanden in sehr

Durch die immer komplexer gewordenen Aufgabenstellun-

viel größeren Ausmaßen vor allem in England (seit dem

gen arbeiten die Flurbereinigungsämter heute intensiv mit

Im Allgäu wurden ab dem 16. Jahrhundert Einzelhöfe in die Flur ausgesiedelt: Ergebnisse einer frühen Flurbereinigung.

Dorfpolitik

295

Gemeinde Büttgen

Gemeinde Kleinenbroich

vor Flurbereinigung 1961 Birkhof

sich extrem zersplittert in schmalen, langen und gebogenen Parzellen in Gemengelage ohne Feldwegeerschließung. Die Gemarkung erhielt im Bereinigungsprozess gerade Linien und größere Besitzflächen. So ist das neue Flurbild geprägt durch wenige rechtwinklige Parzellen und ein syste-

B er en ch Jü

matisches Feldwegenetz, das die Erschließung jeder Besitzeinheit ermöglicht251a.

h ac

Lüttenglehn

Die erste reichseinheitliche Regelung zur Flurneuord-

Glehn

nung erfolgte erst im 20. Jahrhundert, und zwar durch

Schanzer Höfe

das Reichsumlegungsgesetz von 1936 und die Reichsum-

Jüchener Bach

Epsendorf

legungsordnung von 1937. Zu deren vorrangigen Zielen

Scherfhausen

Beispielbetriebe

gehörten die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Nah-

Ortsbetrieb 24 Besitzstücke

rungsmitteln und damit eine Erhöhung der landwirt-

Aussiedlungsbetrieb 32 Besitzstücke

schaftlichen Produktion. Die staatlichen Programme zielten darauf ab, Flurstücke zusammenzulegen, Ortslagen aufzulockern und Aussiedlungen zu fördern. Außerdem gab es auch das Leitziel einer Vergrößerung der landwirtschaftli-

00

500 500

m

chen Nutzflächen durch die Urbarmachung von Mooren und Sümpfen, die Nutzung von brachliegendem Ödland Gemeinde Büttgen

Gemeinde Kleinenbroich

nach Flurbereinigung 0 500m 1966 Birkhof

sowie die Neulandgewinnung an den Küsten. Die geplanten Maßnahmen wurden allerdings nur kurze Zeit ausgeführt, sie endeten mit Beginn des Krieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete in Westdeutschland das Flurbereinigungsgesetz von 1953 die neue Gesetzes-

Jüc rB

ne

he

grundlage. Zur Durchführung von konkreten Flurbereini-

ach

gungsverfahren entstanden in allen Bundesländern schlag-

Lüttenglehn

Glehn

kräftige Behörden, die sich »Flurbereinigungsämter« oder

Schanzer Höfe

»Ämter für Agrarordnung« nannten. Das Gesetz von 1953 gilt im Wesentlichen bis heute, es bekam jedoch durch eine

Mülldeponie

Jüchen

er Bach

Epsendorf

Beispielbetriebe Ortsbetrieb 3 Besitzstücke

Scherfhausen

Aussiedlungsbetrieb 1 Besitzstück

Eine typische Flurbereinigung der 1960er Jahre: das Beispiel Glehn am Niederrhein

Novellierung im Jahr 1976 neue agrarpolitische Zielsetzungen. Für gut zwei Jahrzehnte lagen die überwiegend ökonomisch orientierten Schwerpunkte der Flurbereinigung in Ortsauflockerungen und Aussiedlungen von Betrieben in die Feldflur, Flurstückszusammenlegungen sowie in Feldwege- und Wasserbauten. Von diesen Maßnahmen, die auch in zahlreichen Weinbergsgemarkungen durchgeführt wurden, profitierte ohne Zweifel die westdeutsche Landwirtschaft.

Agraringenieuren, Bauingenieuren, Architekten, Denk-

Ein typisches Flurbereinigungsverfahren aus den

malpflegern, Geographen, Ökologen, Landespflegern, So-

1960er Jahren zeigt das Beispiel Glehn (s. Abb. oben). Hier

ziologen, Historikern und Juristen zusammen.251

wurden im Wesentlichen sechs Maßnahmen verwirklicht:

Ein gutes Beispiel für die Flurneuordnung des 19. Jahr-

296

1. Beseitigung der Flurzersplitterung: So wurde für den

hunderts bietet die Separation von Göhritz westlich von

dargestellten Ortsbetrieb die Anzahl der Betriebsstücke

Merseburg im Jahr 1854. Die Flur vor der Bereinigung zeigt

von 24 auf 3 reduziert;

Das moderne Dorf

2. Aussiedlung von Höfen in die Feldflur mit arrondierten

lektivierungsphase ab 1952 wurden dann alle landwirt-

Besitzflächen: Hier konnte für das gezeigte Beispiel eine

schaftlichen Betriebe zur Zusammenlegung ihrer Eigen-

optimale Reduzierung der Betriebsstücke von 32 auf 1 er-

tumsflächen in die neu geschaffenen LPG s genötigt. Nach der Wiedervereinigung etablierte man in den

reicht werden; 3. Landstraßenneubauten der L 377 und L 376 mit Umge-

neuen Ländern flächendeckend – nach westdeutschem Vorbild – neue Flurbereinigungsämter und stattete sie mit ho-

hung der Ortschaften; 4. Feldwegebau;

hen Personal- und Sachetats aus. Grundlage waren das be-

5. Begradigung des Jüchener Baches;

stehende Flurbereinigungsgesetz und das in Kraft getretene

6. Anlage von Gräben zur Entwässerung und Vermeidung

Landwirtschaftsanpassungsgesetz von 1990/91. Generell ging es in der Folge um die »Lösung der Bodenfrage«,252 de-

von Überschwemmungen.

ren Herausforderung darin bestand, die sozialistische EiDer in den frühen 1970er Jahren einsetzende allgemeine

gentums- und Agrarordnung in eine liberale, auf Privatei-

Wertewandel zu mehr Umwelt- und Kulturpflegebewusst-

gentum basierende Agrarordnung zu überführen. Die kon-

sein führte zu einer breiten öffentlichen Kritik an der Flur-

kreten Aufgaben der neuen Ämter lagen zunächst in der

bereinigung. Nun waren die alten Ziele wie Begradigung,

Aufteilung der riesigen Schläge, entsprechend der neuen

Arrondierung, Hochwasserfreilegung (der Ortslagen) und

bzw. alten Eigentumsflächen, und im Feldwegebau. Heute

Dorfsanierung umstritten. Die Flurbereinigung wurde ver-

geht es zunehmend und damit vergleichbar mit West-

antwortlich gemacht für den starken Artenrückgang in der

deutschland um Landschaftspflege, Naturschutz und nicht

Tier- und Pflanzenwelt, für die Bodenzerstörung und die

zuletzt um Dorferneuerung.

Ausräumung und manchmal gar Zerstörung ganzer Landschaften und Dörfer. Gesetzgeber und Behörden reagierten daraufhin durchaus auf den Bewusstseinswandel und die Kritik – bereits mit der Novellierung des Flurbereinigungsgesetzes von 1976 wurden andere Akzente gesetzt. Neu aufgenommen wurden »bodenschützende« und »landschaftsgestaltende« Maßnahmen. Die Aufgabenstellungen Ortsauflockerung und Aussiedlung wurden hingegen aufgegeben und durch eine umfassende Dorferneuerung ersetzt. Heute gehören Arten- und Biotopschutz, Boden- und Erosionsschutz,

Wasserrückhaltung,

Kulturlandschafts-

pflege und inzwischen vorrangig die ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung zu den Schwerpunkten der Flurbereinigung. Die klassischen Zielvorgaben der 50er und 60er Jahre sind inzwischen in den Hintergrund gerückt oder ganz aufgegeben worden. In der DDR gab es keine Gesetze und Behörden zur Flurbereinigung, die mit Westdeutschland vergleichbar wären. Dennoch kam es zu »Flurbereinigungen« der ganz anderen Art – als Konsequenz einer sozialistischen Agrarpolitik. Nachdem im Rahmen der sog. »Bodenreform« von 1945 bis 1949 alle landwirtschaftlichen Betriebe ab 100 ha enteignet worden waren, wurden diese Flächen z. T. in kleine Parzellen für Neubauern (in der Regel Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten) aufgeteilt. In der KolAuch Weinberge werden flurbereinigt. Dabei geht es vor allem um Wegeerschließung, Entwässerung und Erosionsschutzmaßnahmen: hier das Beispiel Strümpfelbach.

Dorfpolitik

297

Von der Dorf- und Landesverschönerung Die Entwicklung vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Der erste bekannte Dorfverschönerungsplan in

Forstwirtschaft im Vordergrund. Doch seit etwa 200 Jah-

Deutschland stammt aus dem Jahr 1807. Das Dorf

ren gibt es neben den ökonomischen Interessen auch ver-

Freudenbach bei Creglingen sollte nach den Prinzipien

schiedene Bewegungen, die eine Verschönerung der ländli-

der Harmonie, der geometrischen Ordnung und Nütz-

chen Kulturlandschaft zu ihrem Anliegen gemacht haben.

lichkeit umgestaltet werden. Wichtige Impulse erfuhren

Zunächst waren es die Landesherren (der vielen deutschen

zahlreiche Dörfer und ländliche Kulturlandschaften

Kleinstaaten), daneben vor allem der Adel und die Klöster,

durch die großartigen Parkschöpfungen des Adels in

dann die ländlichen Gemeinden und schließlich die Hei-

allen deutschen Regionen. Aber auch der beginnende

matschutz- und Verschönerungsvereine, die das Dorf ästhe-

Tourismus an den Küsten, am Rhein, am Alpenrand

tisch aufwerten wollten.

und in den Mittelgebirgen führte zu bewussten Dorf-

Die Bewegung der »Landesverschönerung« entstand in

verschönerungen. Bereits 1867 wurde in Remagen

Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als ihr Be-

ein sog. »Lokalverschönerungsverein« gegründet.

gründer gilt Karl Vorherr, der als Baubeamter in verschie-

Eine breite Heimat- und Denkmalschutzbewegung für

denen Regionen Süddeutschlands tätig war. In einem 1808

ganz Deutschland begann um 1900.

veröffentlichten Aufsatz »Über Verschönerung Deutschlands« rief er dazu auf, durch Förderung des Ackerbaus, der

Bei der Gestaltung von Dörfern und Fluren stand früher in

Gartenkunst und der Baukunst das ganze Land planmä-

der Regel die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit im Vorder-

ßig zu verschönern, um Deutschland zu einem »Eden von

grund und das, was lange hielt (also nachhaltig war) und

Europa« zu machen.253 Ideen der Aufklärung und Roman-

was man sich leisten konnte, wie z. B. die Baumaterialien aus

tik kamen hier zusammen. Die Aufklärung brachte Ord-

der eigenen Gemarkung. Mit Gedanken um die Schönheit

nungsdenken, klare Formen und Volkserziehung, die Ro-

ihrer Dörfer und Felder werden sich die meisten Landbe-

mantik entdeckte den Reichtum der eigenen Geschichte

wohner sicherlich nicht allzu oft beschäftigt haben. Auch

sowie den von Natur und Landschaft. Durch die Landesver-

die Landes- und Grundherren hatten vorwiegend ökono-

schönerung sollten die Bereiche Landwirtschaft, Gewerbe,

mische Interessen am ländlichen Raum. Selbst bei den früheren Agrarreformen und Maßnahmen der Flurbereinigung stand die wirtschaftliche Verbesserung der Land- und

298

Das moderne Dorf

Ein bewusst schön gestaltetes »Musterdorf« entstand um 1800 in Paretz in Brandenburg. Initiator war der preußische König Friedrich Wilhelm III .

Obstbau und Gartenbau gefördert und dazu die Dörfer und

auftragte. Es entstanden ein schlichtes königliches Land-

Fluren sowohl nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit

haus im Stil des Klassizismus, ein Amtshaus, mehrere Bau-

und Zweckmäßigkeit als auch der Harmonie und Schön-

erngehöfte und ein Familienhaus, in dem ein Leineweber,

heit gestaltet werden.

ein Fischer, vier Drescher und Tagelöhner, ein Müller und

Von Gustav Vorherr stammt auch der erste bekannte Dorf-

der Dorflehrer wohnten. Außerdem wurde eine Schmiede

verschönerungsplan in Deutschland, den er 1807 für sein

und ein Gasthaus errichtet sowie die alte Feldsteinkir-

Heimatdorf Freudenbach vorlegte (s. Abb. unten).

Das vor-

che zu einer neugotischen Kirche mit einer Königsloge

geschlagene Ordnungsraster neuer, rechtwinkliger Straßen

umgebaut. Den Dorfeingang betonte der Architekt durch

ist vom Stil des Klassizismus geprägt. Aus zeitgenössischen

zwei Torhäuschen, in denen ein Schafstall und die Woh-

Berichten wissen wir, dass die Dörfer damals in einem jäm-

nung für den Schafhirten untergebracht waren. Alle Häu-

254

merlichen Zustand und zugleich verschuldet waren. Um

ser der Dorfbewohner waren sorgfältig geplant. Sogar an

nicht zu viel Geld investieren zu müssen, schlug Vorherr

den Scheunen finden sich verblendete Rundfenster und

deshalb nur geringe Renovierungsarbeiten an den Gebäu-

Fledermausgauben. In Paretz verbrachten König Friedrich

den selbst vor. Es kam ihm zunächst darauf an, die Infra-

Wilhelm III . und seine Ehefrau Königin Luise von 1797 bis

struktur und die Landbewirtschaftung zu modernisieren

1805 jeden Sommer einige Wochen und genossen das Land-

und damit eine Aufbruchstimmung zu begründen. Die

leben. Doch das Musterdorf diente nicht nur dem Vergnü-

Ideen der ästhetischen und kulturellen Landesverschöne-

gen, es warf auch Erträge ab.255

rung des frühen 19. Jahrhunderts schlugen sich zwar noch

Zu einer wirklichen und bleibenden Bereicherung der

in einer Reihe von beeindruckenden Plänen nieder, sie fan-

ländlichen Kulturlandschaft kam es flächenhaft vom spä-

den jedoch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts keine

ten 18. Jahrhundert an durch die zahlreichen und vielfäl-

durchgehende Verbreitung. Die Landbevölkerung wie

tigen Parkschöpfungen des Adels. Vor allem von engli-

auch die Landes- und Grundherren waren mit der Umset-

schen Vorbildern (landscape-gardening) angeregt, entstan-

zung der Agrarreformen, mit starken Bevölkerungszunah-

den um die adligen Schlösser und Herrenhäuser weit mehr

men, Missernten und Hungersnöten sowie betriebswirt-

als tausend Landschaftsparks in Deutschland. Als Urzelle

schaftlichen Neuerungen ausreichend beschäftigt.

auf deutschem Boden gilt Wörlitz, wo man um 1765 mit der

Das Beispiel eines neu errichteten »Musterdorfes« ist Pa-

Gestaltung eines neuen Parks nach Vorbildern aus England

retz westlich von Potsdam. Initiator war der preußische Kö-

begann.256 Zuvor hatte der junge, in Wörlitz residierende

nig Friedrich Wilhelm III ., der 1797 den Architekten David

Fürst Franz von Anhalt-Dessau mit seinem befreundeten

Gilly mit der planmäßigen Anlage eines ganzen Dorfes be-

Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff meh-

1807

um 1830

Dorfverschönerungsplan von Gustav Vorherr für Freudenbach

Ein Dorferneuerungsplan von 1807 für Freudenbach, Kreis Ansbach. Das bestehende Haufendorf Freudenbach (s. Plan von 1830) wurde dem Zeitstil entsprechend streng klassizistisch umgeplant. Die damalige Bewegung der Landesverschönerung hatte zum Ziel, Landwirtschaft, Gartenkunst und Architektur zu vereinen und Dörfer nach den Prinzipien der Harmonie, der geometrischen Ordnung und Nützlichkeit zu gestalten. Dieser erste bekannte deutsche Dorferneuerungsplan von 1807 wurde allerdings nicht verwirklicht, wie der Plan von 1830 zeigt.

Dorfpolitik

299

Ab dem späten 18. Jahrhundert bereicherten zahlreiche Parkschöpfungen die ländliche Kulturlandschaft. Die ersten entstanden – nach englischen Vorbildern – in Wörlitz bei Dessau, hier der Park und das Schloss Luisium.

rere Kunst- und Bildungsreisen nach Italien, Frankreich

ben, Denkmälern, Grotten, Pyramiden und Vulkanen, die

und vor allem England durchgeführt und sich dort reich-

dem Spaziergänger durch immer wechselnde Sichtachsen

liche Anregungen geholt. Die Parkschöpfungen veredelten

erschlossen wurden. Bei der Gestaltung der Parks waren der

die Naturlandschaft: Ehemals sandiges Ödland, sumpfige

Fantasie der Parkschöpfer kaum Grenzen gesetzt. Zu den

Talzüge oder kahle Ebenen wurden in kunstvolle und üp-

großartigsten gehören die Anlagen in Wörlitz, Branitz und

pige Parklandschaften umgewandelt. Mit bestehenden Ge-

Muskau an der Neiße. In Muskau hat Fürst Hermann von

bäuden ging man nicht immer behutsam um. Die häufig

Pückler-Muskau seine »Utopie« realisiert: Nicht nur das

in der Nähe der Residenzen liegenden Gutshöfe oder Teile

Schloss mit seinen Nebengebäuden, sondern auch das Dorf

von Dörfern wurden beseitigt oder verlagert, wenn sie im

Muskau, gewerbliche Betriebe und die Ländereien sind in

Wege standen, wie das Beispiel von Branitz in Brandenburg

das Konzept des Parks einbezogen.

Herzstück der Parks waren zunächst das Schloss

Neben den Parks und Schlossgärten des Adels waren na-

oder Herrenhaus mit den dazugehörigen Nebengebäuden

türlich auch die Klostergärten der verschiedenen Orden

wie Pferdeställen, Wagenschuppen, Küchenhaus, Orange-

ein besonders schönes Element der ländlichen Kulturland-

rie und Gästehaus. Von dort ging es über breite Terrassen

schaft mit oft erheblicher Ausstrahlung auf die Pfarr- und

mit Blumen- und Staudenbeeten zu größeren Rasenflächen,

Bauerngärten der umliegenden Dörfer. Nach der Auflösung

Baumgruppen, Hainen, Einzelbäumen, Baumschulen und

der meisten Klöster durch die Säkularisation im Jahr 1803

Gemüsegärten, zu künstlichen Hügeln, Seen und Bächen

verwilderten und verbuschten jedoch sehr viele der ehemals

mit Brücken, Inseln und Wasserfällen, zu Tempeln, Lau-

prächtigen Gartenanlagen, die wir noch aus alten Stichen

zeigt.

300

257

Das moderne Dorf

Einer der größten Parkschöpfer in Deutschland war Fürst Hermann von Pückler, der zuerst in Muskau an der Neiße seine »Utopie« verwirklichte und dabei Schloss, Gutshof und Dorf in sein Parkkonzept einbezog, hier eine Farblithographie von 1834.

und Gemälden kennen. Nur ein kleiner Teil der früheren

verkehrsgemeinden gründete man zu diesem Zweck häufig

Klostergärten hat bis heute Bestand. Einzelne wurden in-

spezielle Verschönerungsvereine. So entstand in Remagen

zwischen nach alten Vorgaben wiederhergestellt, wie das

am Rhein im Jahr 1867 der erste »Lokalverschönerungs-

Beispiel des Klosters Dalheim in Westfalen zeigt.

verein« der Region.258 Bereits in den folgenden zwei Jah-

Die Orts- und Landesverschönerung bekam ab der Mitte

ren legte dieser Verein einen Promenadenweg an und ge-

des 19. Jahrhunderts einen neuen Impuls durch den Tou-

staltete einen Aussichtspunkt mit einem Pavillon und ei-

rismus, der sich in vielen ländlichen Regionen nun stärker

ner breiten Terrasse. Schon ein Jahr nach Remagen wurde

entwickelte. Dieser begann an den Küsten, im Alpenvorland,

im benachbarten Neuenahr ein »Verschönerungs-Verein

in den Mittelgebirgen, am Rhein und seinen Nebenflüssen

für Bad Neuenahr« gegründet. Der dortige Badearzt Dr. Un-

sowie an Orten mit neu erschlossenen Mineral- und Ther-

schuld formulierte 1870 die Notwendigkeit solcher Bemü-

malquellen. So entstanden bereits ab dem späten 18. Jahr-

hungen: »Neuenahr, erst in der 2. Dekade seiner Wirksam-

hundert in zahlreichen kleinen, ländlichen Orten wie Dri-

keit, bietet dem Fremden als ersten Eindruck den des

burg oder Lauchstädt bemerkenswerte Kurbauten, die bis

Unfertigen. Hütten neben Hotels, Sandwüsten neben Park-

heute Besucher anziehen. Um den Gästen den Aufenthalt

anlagen, Ziegenställe neben Wagenremisen, Filetvorhänge

angenehmer zu machen, wurden auch die Ortsbilder auf-

neben Papierscheiben.«259 In den touristisch geprägten Or-

gebessert, Promenaden und Aussichtspunkte, Kurparke

ten und Regionen Deutschlands entstanden nicht nur die

und Trinkhallen angelegt. In den aufstrebenden Fremden-

bis heute sehenswerten Kurparks, Badehäuser, Wandelhal-

Dorfpolitik

301

Heimatschutz« gegründet, der mit seiner regionalen und lokalen Präsenz bald flächendeckend in ganz Deutschland (also auch in den Städten) aktiv wurde und bis heute Bestand hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug er jahrzehntelang den Namen »Deutscher Heimatbund«, seit 1998 firmiert er unter dem Titel »Bund Heimat und Umwelt (in Deutschland)« oder kurz »BHU «. Das wachsende Heimatund Nationalbewusstsein im späten 19. Jahrhundert beförderte auch die Entstehung der modernen Denkmalpflege. Zu deren Bibel wurde das »Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler«, das in fünf dicken Bänden von 1905 bis 1912 von Georg Dehio herausgegeben wurde. »Der Dehio« dieser Gründerjahre ist bis heute ein Standardwerk und immer wieder neu aufgelegt worden. Auch der Schutz schöner Ortsbilder und Landschaften fand bald seine Verankerung in der Gesetzgebung. Das preußische Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden von 1907 wandte sich gegen unschöne bauliche Veränderungen.260 Es gab den Gemeinden außerdem die Erlaubnis, durch Ortssatzungen »schönheitliche« Anforderungen an bevorzugte Gebiete festzulegen. Die Parkanlagen und Kurgebäude von Driburg in Westfalen sind vorwiegend im späten 18. und im 19. Jh. entstanden. Das gesamte Ensemble ist bis heute sehr gepflegt und wurde vor ein paar Jahren zu einer 5-Sterne-Anlage restauriert und ausgebaut.

Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts brachten relativ wenig nachhaltige Impulse für die Dorf- und Landesverschönerung. Allerdings wurden nun erstmals im Rahmen der Flurbereinigung vereinzelt auch Maßnahmen zur

len und Promenaden, sondern auch ansehnliche Ortsbilder

»Auflockerung der Ortslagen« durchgeführt. In den 1930er

mit zahllosen Gasthöfen, Cafés und Hotels in der sog. »Bä-

Jahren gab es Bestrebungen, den schlechten baulichen Zu-

derarchitektur«. Diese vorwiegend im Historismus-Stil der

stand der Landarbeiterhäuser und -wohnungen in den

Gründerzeit errichteten Gebäude sind besonders auf den

Gutsdörfern zu beseitigen. Es entstand die »Verordnung zur

Inseln und an den Küsten der Ostsee bis heute in großer

beschleunigten Förderung des Baues von Heuerlings- und

Zahl erhalten.

302

Werkswohnungen sowie von Eigenheimen für ländliche

Um 1900 entwickelte sich in allen Teilen Deutschlands

Arbeiter und Handwerker« vom 10. 3. 1937.261 Wie man sich

eine breite Heimatschutzbewegung. Sie zielte vor allem

ein Gutsdorf mit mustergültigen Landarbeiterhäusern vor-

auf eine Erhaltung und Pflege bäuerlich-ländlicher und re-

stellte, wurde dann in Alt Rehse bei Neubrandenburg bei-

gionaler Kulturgüter und Traditionen ab. Man deutet diese

spielhaft veranschaulicht: Nachdem man das alte Dorf ab-

Bewegung heute als Reflex gegen die Industrialisierung

gerissen hatte, wurden 22 Einzel- und Doppelhäuser mit

und Urbanisierung mit ihren schnellen Veränderungen,

Fachwerk und Reetdach im Stil der deutschen Provinzen

aber auch als Folge des im späten 19. Jahrhundert zuneh-

errichtet. Die etwas skurril anmutende Anlage steht heute

menden Nationalgefühls. Im Jahr 1904 wurde der »Bund

unter Denkmalschutz und kann besichtigt werden.

Das moderne Dorf

Die erste Modernisierungswelle der Dörfer Dorfsanierung von 1950 bis 1980

In den 1950er Jahren begann die intensive bauliche

frühen 1950er Jahren? Sie kann in den meisten Dörfern aus

Modernisierung der Landwirtschaft und des Dorfes.

heutiger Sicht als mangelhaft bezeichnet werden. In Tau-

Die Kommunen erneuerten die technische Infra-

senden von deutschen Landgemeinden gab es weder eine

struktur: Straßen, Wasser- und Abwasserleitungen.

Wasserleitung noch eine allgemeine Kanalisation für die

Die Häuser erhielten moderne Badezimmer und

Abwässer. Vielerorts gab es keine befestigten Straßen, Bür-

Toiletten. Zahllose Altbauten wurden abgerissen. Der

gersteige und Straßenbeleuchtung waren eine Seltenheit.

Staat gab durch neue Gesetze und Förderprogramme

Ein Großteil der Bauern- und Handwerkerhäuser war über

vielfach die Richtung vor. »Ortsauflockerung« und »Dorf-

hundert Jahre alt und in einem schlechten baulichen Zu-

sanierung« hießen die Leitbilder. Für die überlieferte

stand. Die meisten Haushalte besaßen weder ein Bad noch

Baukultur zeigte man wenig Respekt. Man glaubt es

eine Wassertoilette. Gleichzeitig stiegen die Ansprüche der

heute kaum, wie radikal noch im Jahr 1970 Landes-

Dorfbewohner an ihre Häuser, z. B. an Geschosshöhen, Zu-

politiker und anerkannte Dorfplaner das Dorf umge-

schnitt und Besonnung der Räume. Sie schauten bald auf

stalten wollten.

die Neubausiedlungen am Dorfrand, die z. B. in ihren Badund Toilettenräumen bereits moderner waren. Die land-

Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg galten dem

wirtschaftlichen und handwerklichen Betriebe hatten vor

Wiederaufbau der landwirtschaftlichen Produktion und

allem in den eng bebauten Dörfern West- und Süddeutsch-

der Notversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmit-

lands kaum Chancen, sich zu erweitern, was wirtschaftlich

teln. Doch ab den frühen 1950er Jahren setzten die Fach-

aber nötig war. Die Hof- und Gewerbeplätze waren einfach

planungen für das Land neue Schwerpunkte. Es begann der

zu klein. Doch der Staat erkannte den Handlungsbedarf

längst überfällige Strukturwandel der Landwirtschaft und

und begleitete und förderte mit seinen Fachplanungen den

die notwendige bauliche Modernisierung des Dorfes. Bei-

notwendigen baulichen Strukturwandel.

des war durch die Weltkriege und Wirtschaftskrisen aufge-

Den ersten Impuls setzte das neue Flurbereinigungsge-

staut und verschoben worden. Die inhaltlichen Leitbilder

setz von 1953, das u. a. zur »Auflockerung« der Ortslagen

der neuen staatlichen Programme lauteten »Ortsauflockerung« und »städtebauliche Dorfsanierung«. Wie also war die bauliche Situation auf dem Land in den

Abbildung oben: Die enge Bebauung alter Dorfkerne um 1950 zeigt den Handlungsbedarf: Platz schaffen und modernisieren!

Dorfpolitik

303

den sehr unterschiedlich genutzt: für Straßenerweiterungen und Parkplätze, für Spielplätze und Grünanlagen, aber auch für Erweiterungen von benachbarten landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieben. Mit dem Bundesbaugesetz von 1960 griff eine weitere Fachplanung in das Dorf ein. Allgemeine bauliche und infrastrukturelle Standards, bisher nur in Städten angewandt, galten nun auch auf dem Land. Damit erhielt das Dorf einen kräftigen Modernisierungsschub. Die Landgemeinden legten neue Wasser- und Abwasserleitungen, bauten Schulen, Kindergärten und Turnhallen. Straßen und Plätze wurden asphaltiert, Straßenlampen, Telefonzellen und Feuermelder errichtet. Mit dem Städtebauförderungsgesetz von 1971 kam dann der zusätzliche Auftrag, »städtebauliche Missstände« festzustellen und entsprechende Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen zu fördern. Man wollte Platz schaffen für Neues sowie Luft und Licht in die Häuser bringen – man wollte das Dorf aufwerten. Die Dorfsanierungen der 1960er und frühen 1970er Jahre waren vornehmlich Modernisierungen nach städtischen Standards. Die konkreten Maßnahmen zielten in erster Linie auf Abriss und Neubauten (wie damals auch in den meisten Städten) und weniger auf eine behutsame Sanierung von Altbauten. Generell standen Altbauten nicht hoch im Kurs, man sprach oft abfällig von Gelumpe oder 1950 diente die Dorfstraße den Menschen und Tieren, noch nicht dem Autoverkehr.

Rattenburgen. Die vorherrschenden städtebaulichen Konzepte der Fachplanungen führten nicht selten zu Flächensanierungen, die aus heutiger Sicht als übertrieben erschei-

aufforderte. Diese Zielvorgabe diente zunächst vor allem

nen. Eine große Wichtigkeit besaß seinerzeit der Dorfstra-

der Agrarstrukturverbesserung, nämlich Platz zu schaffen

ßenausbau. Entsprechend dem Leitbild der »autogerechten

für die im Ort bleibenden landwirtschaftlichen Betriebe.

Stadt« wurde auch das »autogerechte Dorf« angestrebt.

Die Kernaufgaben der Flurbereinigung lagen in den 1950er

Man folgte den sog. »RAST -Empfehlungen« (Richtlinien

und 1960er Jahren aber in der Flur: Zusammenlegung von

für die Anlage von Stadtstraßen) mit den darin vorgege-

Parzellen, Feldwegebau und die ebenfalls stark geförderten

benen breiten Trassen und weiten Kurvenradien, um den

Aussiedlungen von Höfen zu ihren arrondierten Feldflä-

schnellen Autodurchfluss durch das Dorf zu ermöglichen.

chen. Die Ortsauflockerungen in dieser Phase waren daher

Dörfer wurden nicht als Lebensraum, sondern als Verkehrs-

eher ein Nebeneffekt der Aktivitäten in der Flur und hatten

hindernis betrachtet. Gerade der Straßenbau der 1960er

nur selten den Charakter ganzheitlicher Ortssanierungen.

und 1970er Jahre hat mit seinen breiten und geraden Tras-

Es kam jedoch in vielen eng bebauten Dörfern West- und

sen viele Altbauten, Plätze und Gärten beseitigt und zahl-

Süddeutschlands zu sog. »Entkernungen« von besonders

reiche Dörfer und Weiler in Deutschland in zwei Teile zer-

verdichteten Gebäudekomplexen, aber auch zu »Flächensa-

schnitten.

nierungen« bis hin zum Abbruch ganzer Dorfteile. In den

304

Die gewachsene Baukultur des Dorfes hatte in dieser

Dörfern Mehrstetten und Stebbach in Baden-Württemberg

Zeitspanne wenig Fürsprecher. Dies gilt nicht nur für die

z. B. ist genau das passiert. Die frei werdenden Flächen wur-

Agrar-, Bau- und Verkehrsbehörden. Auch die staatliche

Das moderne Dorf

Denkmalpflege schenkte seinerzeit ihr Interesse vornehmlich den Domen und Schlössern, den Rathäusern und Klosteranlagen, die bäuerlich-ländliche Bausubstanz überließ sie jedoch weitgehend sich selbst. Auch andere Einrichtungen für das Dorf wie der Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« betrieben zu dieser Zeit eher die Modernisierung des Dorfes und kümmerten sich weniger um die überlieferte Baukultur und Dorfbegrünung. Die deutschen Dörfer haben in den 1960er und 1970er Jahren einen Großteil ihrer überlieferten Bausubstanz verloren. Der Abriss kulturhistorisch wertvoller Gebäude hat vielen Ortsbildern die gewachsene Besonderheit und den alten Charme genommen. Aber auch die modernisierten Alt- und Neubauten dieser Zeit stehen heute vielfach in der Kritik, da sie nach Form, Baumaterial und Gestaltung oft keine Beziehung zum überlieferten Dorfbild erkennen lassen. Über den radikalen »Zeitgeist« der amtlichen Dorfplanung am Ende der 1960er Jahre kann man heute nur ins Staunen geraten. Ein prächtiges Beispiel geben die »Städtebaulichen Gutachten« für Haaren und Fürstenberg in Westfalen, die von der staatlichen Landesentwicklungsgesellschaft (LEG ) des Landes Nordrhein-Westfalen erarbeitet worden sind. Im Vorwort verweisen die beiden diplomierten Autoren ausdrücklich auf enge Beratungen mit den da-

Um 1970 eroberte der Autoverkehr die Dorfstraße, das Dorf galt nun als Verkehrshindernis. Nach der autogerechten Stadt plante man nun das autogerechte Dorf.

mals bedeutendsten Professoren für ländliches Bauen in Deutschland. Diese Gutachten mit Bestandsanalyse, Konzept und Maßnahmenplan zeigen exemplarisch die wissen-

körper Situationen ab, die man als städtebaulich oder histo-

schaftlichen und politischen Leitbilder der Dorfsanierung

risch wertvoll kennzeichnen könnte. Straßen- oder Platz-

vor 40 Jahren. Sie sind geprägt vom Idealziel einer Verstäd-

bildungen, die wegen ihrer Gesamtwirkung erhalten blei-

terung, geringer Wertschätzung der vorhandenen Bau- und

ben sollten, gibt es nicht. Einen ›Traditionsstil‹, auf den eine

Sozialstrukturen, insgesamt von Arroganz und Maßlosig-

Neubebauung Rücksicht zu nehmen hätte, gibt es nicht.«262

keit gegenüber jahrhundertealten Dörfern. Der gesamte

Beiden Dörfern wird jeglicher Eigenwert abgesprochen,

innere Kern der beiden Dörfer mit seinen z. T. sehr attrak-

um die geplante Tabula rasa (das rücksichtslose Wegräu-

tiven niederdeutschen Hallenhäusern, Hofplätzen und

men) zu rechtfertigen. Dabei gibt es sowohl in Haaren als

Gärten wurde für wertlos erklärt und komplett mit städ-

auch in Fürstenberg noch eine Fülle historischer Bauten

tisch-avantgardistischen Bauformen überplant. In Haaren

und Ensembles aus Fachwerk und Naturstein, von denen

waren es alle 120 Häuser des alten Dorfkerns, die man op-

inzwischen über 40 unter Denkmalschutz stehen! Die Rea-

ferte, allein die Kirche wurde verschont. Mit Ladenstraßen,

lisierung der »städtebaulichen Sanierung« von Haaren und

Terrassenbauten, Fußgängerzonen und überdimensiona-

Fürstenberg wurde bis auf einige Gebäudeabrisse aufgrund

len Flachdachblöcken wurden die typischen westfälischen

von Bürgerprotesten ab dem Ende der 1970er Jahre nicht

Haufendörfer in geradezu grotesker Weise verfremdet. Für

weiter betrieben und schließlich ganz eingestellt.

beide Orte wird in den Gutachten – jeweils gleichlautend! –

Die Phase des unbekümmerten und respektlosen Um-

festgestellt: »Nirgendwo innerhalb der bebauten Ortslage

gangs mit der ländlichen Baukultur endete in den späten

zeichnen sich durch Lage, Stellung und Aussehen der Bau-

1970er Jahren. Einen wichtigen Beitrag zu einem allmäh-

Dorfpolitik

305

Neuplanung des Haufendorfes Haaren (Ortskern) 1970

Bestand des Haufendorfes Haaren (Ortskern) 1970

F S

F Z

K A

F

F

F A F K S Z

Altenheim Freizeit-Spor t Kindergar ten Schulzentrum Zentrale Sanierungsgrenze

Neuplanung des Dorfkerns von Haaren im Modell

Städtebauliche Dorfsanierung der 60er und 70er Jahre: das Beispiel Haaren in NRW Die Abbildungen zeigen, wie Dorfplanungen noch vor wenigen Jahrzehnten betrieben wurden: vor allem mit geringer Wertschätzung der überlieferten lokalen und regionalen Baukultur.

306

Das moderne Dorf

lichen Bewusstseinswandel leistete seinerzeit der Journa-

wachsenen Dorf nur mehr der renovierte Kirchturm übrig-

list Dieter Wieland. Hier ein paar Beispielsätze seines kriti-

bleibt. Wir brauchen nicht die Reliquie, in Folie verpackt,

schen Appells an die Fachplaner, Politiker und Dorfbewoh-

wir brauchen die lebendige Auseinandersetzung mit den

ner: »Städte haben wir verpfuscht. Was gut war an ihnen,

alten Bauten, die unerschöpfliche Fundgrube an Rat und

das kompakte Nebeneinander von Wohnen, Geschäft und

Lösungen. […] Vielleicht haben wir keine Lehre nötiger als

Gewerbe – die Stadt der kurzen Wege, die haben wir zer-

das Studium der alten Dörfer. Alte Dörfer zeigen, wie man

stört. Soll sich nun das gleiche Trauerspiel, der gleiche Irr-

aus wenigem das Beste macht.«263

weg auf dem Lande wiederholen, geringer in den Dimen-

Die oft rabiate und auch vom Staat beförderte Moderni-

sionen, aber gleich schäbig und trostlos am Ende? […] Was

sierungswelle der 50er bis 70er Jahren hat in den Dörfern

Jahrhunderte zusammengetragen haben an Reichtum, an

viel Wertvolles quasi weggespült. Die Erinnerung daran ist

Form, an Phantasie, an Können und Wissen um das gute

heute weitgehend verblasst. Es sollte den Bürgern und Po-

Dorf und um das gute Leben in der Gemeinschaft, das dür-

litikern auf dem Land aber bewusst sein: Orte und Regio-

fen wir nicht verprassen und vergeuden. Es geht wahrhaf-

nen, die ihre natürliche und kulturelle Identität bewahren,

tig nicht um die Denkmäler. Es geht um die Welt unserer

sind beliebt und attraktiv – für die Landbewohner ebenso

Kinder. Denkmalschutz ist Mumienpflege, wenn vom ge-

wie für die Besucher, Touristen und potenziellen Zuzügler.

Dorfpolitik

307

Eine Trendwende in der Dorfmodernisierung Ganzheitliche und erhaltende Dorferneuerung von 1980 bis heute

Zwischen 1975 und 1980 vollzog sich eine Trend-

förderung großen Anteil hat. Man könnte sie heute als die

wende in der Beurteilung und Behandlung des Dorfes.

zweite, nunmehr dorfgemäße Modernisierungskampag ne

Die einseitige »Verbesserung« nach städtischen

des Landes durch den Staat bezeichnen.

Vorbildern hörte auf. Planer und Wissenschaftler

Die allmähliche Wahrnehmung der Eigenwerte des

er kannten die Eigenwerte des Dorfes und die Kom-

Dorfes begann Mitte der 1970er Jahre. Ein wichtiges Sig nal

petenz der Landbewohner. Daraus entstand das

gab das Europäische Denkmalschutzjahr 1975, das auch das

allgemein verbreitete Leitbild der »erhaltenden Dorf-

in seinem Geschichtsbewusstsein gebrochene Deutschland

erneuerung«. Man schenkt nun den historisch gewach-

aufforderte, seine historische Baukultur (wieder) wahrzu-

senen Dorfstrukturen eine besondere Beachtung.

nehmen und zu pflegen. Der europäische Impuls kam zwar

Es gilt heute das Ziel, den individuellen Charakter

zunächst Städten wie Lübeck, Osnabrück oder Bamberg zu-

des jeweiligen Dorfes zu erhalten und zu entwickeln.

gute, erreichte aber in zeitlicher Verzögerung bald auch das Land. So forderten das Bundesraumordnungsprogramm

In allen deutschen Dörfern sind in den letzten vier Jahr-

von 1975 und die darauf folgenden Planungsgesetze der

zehnten unter dem Stichwort »Dorferneuerung« zahllose

Länder ausdrücklich die Behebung von Strukturschwächen

und vielfältige öffentliche und private Aktivitäten abge-

in ländlichen Regionen. Besonders wichtig war die Novel-

laufen.

Sie haben dem Land gutgetan. So wurden alte Na-

lierung des Flurbereinigungsgesetzes von 1976. Der frühere

turstein- und Ziegelbauten renoviert und Fachwerkfron-

Auftrag der Ortsauflockerung wurde gestrichen und die

ten freigelegt, Straßen und Wege verkehrsberuhigt und ge-

komplexe Aufgabe der Dorferneuerung nun als wesentli-

pflastert, Dorfplätze mit Brunnen, Bänken und Laternen

cher Bestandteil der Flurbereinigung gesetzlich verankert.

errichtet. Außerdem wurden Dorfbäche renaturiert und

Im Jahr 1977 wurde die Dorferneuerung in das »Zukunfts-

264

Teiche angelegt, ortstypische Bäume, Büsche und Hecken

investitionsprogramm des Bundes und der Länder (ZIP ) zur

angepflanzt und nicht zuletzt durch Dorfgemeinschafts-

Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes«

häuser und Heimatstuben kulturelle und soziale Traditio-

aufgenommen.

nen wiederbelebt. Nach den Jahren der »städtischen« Dorfsanierung hat man die fast vergessenen Werte des Dorfes wiederentdeckt, woran die staatliche Dorferneuerungs-

308

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Nach 1975 wurden allzu breite Dorfstraßen zurückgebaut, wie hier in Wolfsbach in Oberfranken.

Gerade durch die Aufnahme in das ZIP -Programm entfaltete die Dorferneuerung eine ungeheure Breitenwirkung. In allen Bundesländern wurden die bestehenden Agrarämter für die Dorferneuerungsförderung ausgebaut. Auf vielen politischen und wissenschaftlichen Ebenen diskutierte man über Ziele, Inhalte und Verfahren der Dorferneuerung sowie generell über den Stellenwert des Dorfes in der Gesellschaft. In Berlin wurde die »Deutsche Akademie der Forschung und Planung im ländlichen Raum« begründet. Der Impuls der späten 1970er Jahre hatte eine nachhaltige Wirkung, die bis heute trägt. Dorferneuerung hat sich als ganzheitliche Aufgabenstellung zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum etabliert. Dazu gehören: Landwirtschaft, Gewerbe und private Dienstleistungen, Verkehr, Dorfstraßen und -plätze, kommunale Grundausstattung, Begrünung und Gewässer, bauliche Ordnung und Denkmalpflege, Gemeinschaftsleben. Bereits in den späten 1970er Jahren wurde das Leitziel der »erhaltenden Dorferneuerung« entwickelt und auch

Die ruhige Dorfplatzgestaltung – in den 80er Jahren – erlaubt vielfältige Nutzungen durch die Dorfbevölkerung: z. B. Aufstellung der Fronleichnamsprozession und des Schützenumzugs, Spielplatz für Kinder, Pfarrfeste, Kirmesplatz, Abstellen von Erntewagen u. a., das Beispiel zeigt Borgholz im Kreis Höxter.

bald darauf in den Förderungsrichtlinien der Länder verankert. Der Begriff betont den Anspruch, die historisch ge-

die jeweiligen Stärken und Schwächen eines Dorfes. Dar-

wachsenen Dorfstrukturen im Rahmen einer Dorferneue-

aus werden schließlich die notwendigen und wünschens-

rung zu beachten. Damit soll eine Kontinuität des dörfli-

werten Maßnahmen der kommenden Dorfentwicklung ab-

chen Lebensumfeldes in die Zukunft hinein sichergestellt

geleitet – einschließlich der Kosten und Fördermöglichkei-

werden. Dass die Dorferneuerung nun so programmatisch

ten. Der Dorferneuerungsplan enthält generell drei Teile:

auf den Erhalt des kulturellen Erbes zielte, ist sicher auch

die Bestandsanalyse, die Bestandsbewertung mit Prognose

ein Reflex auf die vorhergehenden Sanierungsprogramme.

und das eigentliche Planungskonzept mit einem genauen

Diese bestanden hauptsächlich im Abriss und der Orientie-

Maßnahmen- und Kostenplan.

rung auf städtische Maßstäbe.

Die bisherige Praxis der Dorferneuerung zeigt, dass die

Im Mittelpunkt eines konkreten Dorferneuerungsver-

Bundesländer durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt

fahrens steht der obligatorische Dorferneuerungsplan. Die-

haben. So fördert z. B. Baden-Württemberg bei Bauvorha-

ser beschreibt und veranschaulicht mit Karten und Fotos

ben im Ortsbereich auch Maßnahmen des Innenausbaus

Die Dorferneuerung veränderte den maßlos asphaltierten, trostlosen Raum zwischen den Häusern durch kleine Vorgärten, Grünstreifen, Bäume und Gehwege, Erkeln im Kreis Höxter 2002 und 2006.

Dorfpolitik

309

Behandlung der Dorfgewässer: In der ersten Phase der Dorferneuerung hatte man noch Bäche und Teiche verrohrt und zugeschüttet und damit aus dem Dorfbild beseitigt. Inzwischen werden die ehemaligen Dorfgewässer von der Dorferneuerung wieder offengelegt und den Bewohnern mit Wegen, Treppen und Kneipp-Tretbecken nahegebracht. 3. Die Mitwirkung der Bürger bei der Planung und Durchführung der Dorferneuerung hat sich stetig verbessert. Aus einer anfänglich expertenorientierten Dorferneuerung »von oben« ist immer häufiger eine von den Bürgern und Dorfpolitikern mitgetragene »Dorfangelegenheit« geworden. In mehreren Ländern wird die Planung und Durchführung der Dorferneuerung jeweils durch einen Arbeitskreis Dorfentwicklung begleitet, der sich Dieser historische Schafstall von 1780 war jahrelang ungenutzt und halb verfallen. Er wurde in den frühen 90er Jahren vom Fürstenberger Carnevals-Club (FCC ) saniert und dient seitdem als Wagenbauerscheune und sehr beliebte Begegnungsstätte.

aus zehn bis 15 ortsansässigen Bürgern aus den wichtigsten Bereichen des dörflichen Lebens zusammensetzt. 4. Die Planungsbehörden, die für die Erstellung des Dorferneuerungsplans verantwortlich sind, leisten heute in

von Gebäuden. Hessen unterstützt u. a. die Entwicklung

der Regel auch eine Beratung der Kommunen und Bür-

innovativer ländlicher Bauformen nach regionaltypi-

ger während der Durchführungsphase. Denn die Erfah-

schen und ökologischen Gesichtspunkten. Generell erfor-

rung hat gezeigt, dass diese andauernden Orientierungs-

dern dicht bebaute Dörfer im deutschen Südwesten andere

hilfen für den Erfolg der Dorferneuerung maßgebend

Fragestellungen und Lösungen als die locker bebauten im

sind. Ebenfalls der Beratung von Dorfpolitikern und

norddeutschen Tiefland. Dörfer mit noch aktiver Land-

Landbewohnern dienen auch die Dorferneuerungsschu-

wirtschaft stellen andere Ansprüche an die Dorferneue-

len, die seit 1991 zuerst in Bayern begründet wurden: in

rung als Dörfer am Rande der Großstädte.

Klosterlangheim in Oberfranken, in Plankstetten in der

Dennoch lassen sich einige überregionale Merkmale der

Oberpfalz sowie in Thierhaupten in Schwaben. Dem Bei-

Dorferneuerungspraxis in Deutschland von etwa 1980 bis

spiel Bayern sind inzwischen andere Länder wie Sachsen

heute feststellen:

gefolgt.

1. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Dorferneuerung ha-

310

ben sich generell von einer Agrarstrukturförderung zu

In der DDR hat es eine flächendeckende Förderung des Dor-

einer ganzheitlichen Dorfförderung entwickelt. Ein

fes entsprechend der westdeutschen Dorfsanierung und

Großteil der Dorferneuerungsmittel wird heute bundes-

Dorferneuerung nicht gegeben. Die Modernisierungsakti-

weit gegen die bauliche, infrastrukturelle und soziale

vitäten auf dem Land konzentrierten sich auf die Dörfer der

Verödung der Dorfkerne eingesetzt.

landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ).

2. Anstelle von »städtebaulichen« Leitbildern und massiven

Hier entstanden neben den modernen Wirtschaftsgebäuden

Eingriffen in die Dorfstruktur wird Dorferneuerung

die in den Dörfern vorher unüblichen Geschosswohnungs-

heute in der Regel von lokal gerechteren und behutsame-

bauten für die LPG -Mitarbeiter sowie öffentliche Einrich-

ren Planungen geprägt. So hat die Dorferneuerung in-

tungen wie Kulturhäuser und Kindergärten. Das Fehlen

zwischen zahlreiche vorbildliche, dorfgemäße Straßen

der »Programme« nach westdeutscher Art hatte ambiva-

und Plätze angelegt, wie die Beispiele Borgholz in Nord-

lente Konsequenzen: Bei der Wiedervereinigung 1990 bo-

rhein-Westfalen und Kreuzberg in Bayern zeigen. Den

ten die alten Dorfbereiche teilweise das (malerische) Bild

inhaltlichen Wandel der Dorferneuerung zeigt auch die

der 1950er Jahre, teilweise aber auch des Verfalls.265 Die nach

Das moderne Dorf

1990 in den neuen Ländern sofort eingerichteten Dorferneuerungs- bzw. Agrarbehörden haben inzwischen einen Großteil des aufgestauten Nachholbedarfs abgearbeitet. Darüber hinaus sind hier in den zurückliegenden 20 Jahren viele innovative Erneuerungskonzepte entwickelt und verwirklicht worden, z. B. hinsichtlich einer ökologisch orientierten Dorferneuerung.266 Die Dorferneuerungspolitik der letzten 40 Jahre kann eine insgesamt positive Bilanz ziehen. In Tausenden von deutschen Dörfern sind Ortsbild und Lebensqualität verbessert worden. Die staatliche Förderung hat die Gemeinden und Landbewohner zum Nachdenken über ihre Defizite angeregt und viele private und kommunale Investitionen ausgelöst. Für zahlreiche Dörfer brachte die Dorferneuerungsförderung eine Trendwende von einer rückläufigen und resignativen zu einer positiven und optimistischen Dorfentwicklung. So steht das Fazit von Bürgermeister Hans Gehm für sein Dorf Bärweiler in Rheinland-Pfalz stellvertretend für viele Tausend andere Dörfer in Deutsch-

In Bärweiler wurde 1995/96 die Ortsmitte neu gestaltet und dabei ein »Dorfpfad« geschaffen, der einem früheren Weg zwischen den Scheunen nachempfunden wurde.

land: »Für unser Dorf wurden düstere Prognosen erstellt. Ohne die Dorferneuerung, nur mit eigenen Kräften, hätten

schen Dörfer wahrzunehmen und »wachzurütteln«, um

wir den Aufschwung in unserem Dorf niemals geschafft.

eine Trendwende zu einer lebendigen und »anpacken-

Die wichtigste Lehre aus der Dorferneuerung war, dass sie

den« Dorfentwicklung herbeizuführen.

das Wir-Gefühl in der Bevölkerung und das gemeinsame Handeln für unseren Ort verstärkt hat.«267 Bei einem Blick nach vorn lassen sich für die Dorferneu-

Detlev Simons, Professor für ländliche Siedlungsplanung der Universität Stuttgart, fasst seine jahrzehntelangen Er-

erung die folgenden Trends und Aufgabenschwerpunkte

fahrungen zur Dorferneuerungspraxis zusammen: »Wenn

erkennen:

Dorferneuerung nur als Verschönerung des Ortsbildes ver-

1. Dorferneuerung entwickelt sich weiter weg von der äu-

standen wird, verblasst dieses Make-up sehr schnell. Dorfer-

ßeren Dorfbildpflege und hin zur Umnutzung von leer

neuerung sollte immer auch zu baulichen, wirtschaftlichen

stehenden Gebäuden und brachliegenden Freiflächen in

und sozialen Verbesserungen führen. Wenn das gegeben ist,

den Ortskernen. Nicht mehr nur die Ortsgestalt, sondern

ist der Dorfbewohner auch gerne bereit, Überliefertes zu

auch das wirtschaftliche und soziale Leben des Dorfes ist

bewahren und sich mit dem schönen Äußeren zu befassen.

die Zielrichtung der Dorferneuerung.

Wirtschaftliches und soziales Denken waren und sind die

2. Auch angesichts der knapperen öffentlichen Mittel wird es häufiger zur Förderung von selbstgetragenen Bürgerprojekten kommen, z. B. was die lokale Energieversorgung, den letzten Gasthof oder Laden, die Altenpflege oder Kinderbetreuung sowie Genossenschaften vielfältiger Art betrifft. 3. Nicht alle Dörfer sind bereit und in der Lage, sich mit

Basis einer nachhaltigen Dorfentwicklung.«268

Bei der Ortskern-Revitalisierung sollten Kommunalund Fachpolitik möglichst flexibel auf die Wünsche der Bewohner eingehen und zum Beispiel auch mal auf eng bebauten Parzellen einen alten Schuppen abreißen lassen, wenn sich dadurch Freiräume für einen kleinen Garten oder Spielplatz ergeben.

den anstehenden Problemen zu befassen. Es wird daher mehr und mehr auch die Aufgabe der Dorferneuerung sein, die (zahlreichen!) stagnierenden und oft apathi-

Dorfpolitik

311

Vom Blumenschmuck zur Lebensqualität Der Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«

Der Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« bzw.

Der Wunsch der Jahre 1960/61, das Dorf »schöner« zu ma-

seit 2007 »Unser Dorf hat Zukunft« ist seit 50 Jahren

chen, entsprach einer damals allgemein verbreiteten Vor-

ein fester Bestandteil der politischen Bemühungen um

stellung vom Dorf als unsauberem, rückständigem und

den ländlichen Raum. Er kreiert jeweils Gold-, Silber-

daher besonders hilfebedürftigem Siedlungswesen. Man

und Bronzedörfer auf Kreis-, Landes- und Bundes-

müsse sich nur am Vorbild der Stadt orientieren, um zu

ebene. Am 23. Bundeswettbewerb 2010 nahmen

gesunden. Dies sollte man bedenken, um die später kaum

3330 Dörfer in Deutschland teil. Manche sprechen

noch akzeptierten und z. T. heftig kritisierten Bemühungen

diesbezüglich von der größten Bürgerinitiative auf dem

der ersten Wettbewerbe zu verstehen. Doch schon wenige

Land. Häufig stand der Wettbewerb aber auch in der

Jahre nach seinem Start entwickelte der Wettbewerb neue

Kritik. So warf man ihm lange vor, nur ein »Blumen-

Schwerpunkte. 1967 erschien zum ersten Mal das »Orts-

schmuckwettbewerb« zu sein. Heute verfolgt der Wett-

bild« als Gegenstand der Bewertung. Allerdings war hier

bewerb ganzheitliche Ziele: Er will die Lebensqualität

noch überwiegend die Eingrünung und die »Ordnung des

in den Dörfern verbessern.

Straßenraumes« gemeint, die viele Dörfer nach städtischen Standards umformte. Zur Vorbereitung der kommunalen

Als Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft initi-

Gebietsreform in den 1960er und frühen 1970er Jahren be-

ierte Graf Lennart Bernadotte von der Blumeninsel Mainau

lohnte der Wettbewerb die »zwischengemeindliche Zusam-

im Jahr 1961 den ersten Bundeswettbewerb »Unser Dorf

menarbeit«, danach nicht mehr. Eine grundlegende Erwei-

soll schöner werden«. Dessen Untertitel lautete »Unser Dorf

terung erfuhr der Wettbewerb seit 1977 durch die Einbe-

in Grün und Blumen«. Das Ziel war zu Beginn also klar

ziehung der Belange der Denkmalpflege. (Man muss den

und eindeutig: Die Dörfer sollten mit Grün- und Blumen-

späten Zeitpunkt dieses »Erwachens« nicht übermäßig kri-

schmuck verschönert werden. Der Wettbewerb hat sich seit

tisieren: Auch die amtliche Denkmalpflege hatte bis dato

dieser Anfangsphase mehrfach inhaltlich verändert und ist

das Dorf vernachlässigt.) 1977 wurden erstmals unter der

wohl auch deshalb zum Dauerläufer geworden. Gleichwohl

Rubrik »Private Gebäude und Hofräume« für die »Erhal-

haftete ihm lange und teilweise bis heute das Image eines Blumenschmuckwettbewerbs an, was er aber schon seit vielen Jahren nicht mehr ist.

312

Das moderne Dorf

Abbildung oben: Ein liebevoll gestalteter Vorgarten wie hier in Haidenkofen gehört nach wie vor zu den Pluspunkten des Dorfes.

tung und Pflege der für den Ortscharakter bedeutsamen

Zusätzlich zu den Fachbewertungsbereichen werden der

Bausubstanz« Bewertungspunkte vergeben. Im Jahr 1979 be-

Gesamteindruck des Dorfes in ökonomischer, sozialer

gann die Merkmalsgruppe »Gestaltung des Ortes« erstmalig

und ökologischer Hinsicht sowie gestalterische Gesichts-

mit dem Leitsatz »Erhaltung und Pflege historischer Bau-

punkte, die dazu beitragen, den unverwechselbaren Dorf-

substanz«. Zu dieser Trendwende beigetragen hat sicherlich

und Landschaftscharakter zu erhalten, beurteilt.

ein (den Dorfwettbewerb) provozierendes, weit verbreitetes

6. Gesamturteil.

Poster des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz

Die vier Fachbewertungsbereiche werden gleichgewich-

von 1978 mit dem Titel »Muß unser Dorf so häßlich wer-

tet und bilden mit dem Gesamteindruck und unter Be-

den?« Der Dorfwettbewerb hat derartige Anregungen und

rücksichtigung der Ausgangslage des Dorfes das Gesamt-

Kritiken genutzt. So gehört die Pflege der historischen Bau-

urteil. In allen Bereichen stehen die eigenständigen

substanz heute zu seinen zentralen Anliegen.

Leistungen der Dorfgemeinschaft im Vordergrund. (Be-

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde der Dorfwettbewerb immer komplexer. Die Beachtung ökologischer Be-

wertungsleitfaden 26. Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« 2019)

lange und der Umgang mit kulturellen Traditionen kamen

Wenn man die aktuellen Bewertungskriterien von 2019

hinzu. So führte die inhaltliche Erweiterung auch zu Än-

mit denen von 2010 vergleicht (s. 3. Aufl. S. 299), wird man

derungen des Titels: Der Untertitel »Unser Dorf in Grün

feststellen, dass man heute auf Begriffe und Leitbilder wie

und Blumen« wurde aufgegeben und 1997 durch den Zusatz

»bürgerschaftliches Engagement der Dorfbevölkerung«,

»Unser Dorf hat Zukunft« ersetzt. Um das alte Image gänz-

»Entwicklung von Perspektiven und Innovationspotentia-

lich abzuschütteln, trägt der Wettbewerb seit 2007 nur

len für die Zukunft des Dorfes«, »Bündelung der vorhan-

noch diesen kurzen Titel »Unser Dorf hat Zukunft«. Heute

denen kommunalen und bürgerschaftlichen Kräften« so-

präsentiert sich der Wettbewerb so umfassend wie nie zuvor.

wie »Stärkung der dörflichen Identität« verzichtet. Statt-

Sein Ziel ist die individuelle und nachhaltige Steigerung

dessen wird nun auf »Akzeptanz des Verwaltungshandelns«

der Lebensqualität in den Dörfern und generell die Verbes-

oder »Ortsübergreifende Kooperationen« Wert gelegt. Will

serung der Zukunftsperspektiven des ländlichen Raumes.

der Wettbewerb damit nicht allzusehr den braven und ge-

Mit seinen Bewertungen und Preisverleihungen will er vor

horsamen Dorfbürger beloben und weniger den noch vor

allem das Engagement und die Eigenleistungen der Men-

neun Jahren erwünschten kritischen und für die dörfli-

schen in den Dörfern anerkennen und fördern.

che Identität engagierten und kämpfenden Bürger unter-

Diese allgemeinen Zielvisionen fin-

stützen? Hat der Wettbewerb 2019 ver-

den ihren Niederschlag in den konkre-

gessen, dass engagierte Bürger in der

teren Bewertungskriterien. Die Aus-

Vergangenheit

oft

wichtige

Berei-

schreibung des 26. Bundeswettbewerbs

che der Dorfkultur, zum Beispiel orts-

2019 benennt vier bzw. sechs Berei-

bildprägende und identitätsstiftende

che (sog. »Querschnittskriterien«), die

Bauten, gegen einstimmige Ratsbe-

durch die Kommissionen bewertet

schlüsse und Verwaltungshandeln er-

werden:

kämpft und gerettet haben? Will man

1. Entwicklungskonzepte und

das in Zukunft möglichst verhindern?

wirtschaftliche Initiativen.

Dies wäre schade, leiden doch die Dör-

2. Soziales Engagement und

fer und Landgemeinden (schon ohne

kulturelle Aktivitäten.

den Dorfwettbewerb) mehr denn je an der fortgesetzten Bevormundung und

3. Baugestaltung und Siedlungs-

Entmündigung durch die Entscheider

entwicklung.

in den Zentren von Politik und Gesell-

4. Grüngestaltung und das Dorf in

schaft (s. S. 271 ff. und 327 ff.).

der Landschaft. 5. Gesamteindruck. Haidenkofen ist stolz auf den Sieg im Dorfwettbewerb und zeigt es am Dorfeingang: »Herzlich Willkommen im Golddorf Bayerns«

Dorfpolitik

313

Das bisher am höchsten prämierte Golddorf Gersbach im Schwarzwald präsentiert seine zahlreichen geschaffenen Attraktionen und Lehrpfade auf einer großen Infotafel.

Wie ist der Dorfwettbewerb organisiert, wie läuft er ab?

Kreiswettbewerbe voraus. Organisiert werden die Landes-

Ausgelobt und durchgeführt wird der Wettbewerb heute

wettbewerbe von den jeweils zuständigen Ministerien, die

vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft

Kreiswettbewerbe von den Kreisverwaltungen. In der drei-

und Verbraucherschutz (BMELV ). Ihm zur Seite stehen

stufigen Hierarchie nehmen die Sieger der unteren Ebene

weitere Ministerien und im Bereich der Dorfentwicklung

anschließend an den Wettbewerben der nächst höheren

engagierte Organisationen und Verbände, z. B. der Deutsche

Ebene teil. Die Zahl der meldbaren Sieger zur höheren

Landkreistag, die Deutsche Gartenbau-Gesellschaft 1822

Ebene richtet sich nach der Gesamtzahl der Beteiligung: Je

e. V. (sie organisierte den Wettbewerb in den Anfangsjahr-

größer die Beteiligung im Kreiswettbewerb ist, desto mehr

zehnten) und der Bund Heimat und Umwelt in Deutsch-

Orte können zum Landeswettbewerb gemeldet werden. Auf

land. Aus den verschiedenen Verbänden setzen sich auch

allen drei Wettbewerbsebenen werden den erstplatzierten

die sog. »Bewertungskommissionen« zusammen, die alle

Orten die begehrten Gold-, Silber- und Bronzeplaketten

teilnehmenden Dörfer besichtigen und nach den genann-

verliehen, dazu gibt es kleinere Geldpreise. Im Rahmen der

ten Kriterien begutachten.

Wettbewerbe werden außerdem diverse Sonderpreise vergeben, z. B. für herausragende Einzelleistungen in den Berei-

Der Dorfwettbewerb findet prinzipiell auf drei Ebenen statt: Dem Bundeswettbewerb gehen jeweils Landes- und

314

Das moderne Dorf

chen Naturschutz oder Denkmalpflege. Teilnahmeberechtigt zum Dorfwettbewerb sind alle

Orte des ländlichen Raumes »mit überwiegend dörflichem Charakter« bis zu 3000 Einwohnern. Die Zahl der am Wettbewerb teilnehmenden Dörfer stieg von 1970 Teilnehmern im Jahr 1961 nahezu kontinuierlich an und erreichte 1998 mit 5529 Teilnehmern seinen bisherigen Höchststand. Damit nahmen rund 17 % der insgesamt etwa 32 000 deutschen Dörfer und Weiler am Wettbewerb teil. Seitdem gehen die Zahlen leicht zurück. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Teilnahme in den Bundesländern recht unterschiedlich ist. So übertrifft das kleinere Rheinland-Pfalz das deutlich größere Baden-Württemberg um Längen. Am stärksten ist die Resonanz in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Offensichtlich hat der Wettbewerb in den zuständigen Landesministerien einen unterschiedlichen Stellenwert. Die Siegerdörfer präsentieren ihre Auszeichnungen und Plaketten mit Stolz, sie betrachten diese als sichtbaren Lohn

Die Preisverleihung an die Wettbewerbssieger des 23. Bundeswettbewerbs fand im Januar 2011 durch Bundesministerin Ilse Aigner in Berlin statt.

für die meist langjährigen ehrenamtlichen Bemühungen um ihr Dorf. Oft stehen große Schilder oder Steinblöcke

schaft durch eine dorfeigene Käserei mit Direktvermark-

mit dem eingravierten Schriftzug wie »Bellersen – Silber-

tung; Förderung des Tourismus und des Brauchtums durch

dorf 2004« oder »Banzkow – Golddorf 2007« an den Orts-

einen Rinderlehrpfad, ein Wald-Glas-Zentrum, ein Wis-

rändern. Entsprechende Berichte über die prämierten Leis-

entgehege, eine Barockschanze, einen Informationspavil-

tungen finden sich heute natürlich auch im Internetportal

lon und das jährlich Ende September durchgeführte Wei-

der Siegerdörfer.

defest. Die Erfolge in den Dorfwettbewerben waren für die

Der bislang am höchsten bewertete Ort in Deutschland

Dorfgemeinschaft eine logische Belohnung und Bestäti-

ist das 700 Einwohner zählende Gersbach im südlichen

gung dafür, dass sie sich mit wichtigen Fragen der Dorfzu-

Schwarzwald, auf 800–1170 m ü. N. N. gelegen. Im Bundes-

kunft beschäftigt und dann auch zahlreiche konkrete Maß-

wettbewerb 2004 mit der Goldplakette ausgezeichnet, er-

nahmen verwirklicht hat.«269

hielt das Dorf 98 von 100 möglichen Punkten. Auch im eu-

Warum sinkt seit vielen Jahren die Zahl der teilnehmen-

ropäischen Dorfwettbewerb »Entente Florale« wurde Gers-

den Dörfer – also das Interesse am Dorfwettbewerb? Die

bach 2007 zum Golddorf gekürt. Basis dieser Erfolge ist das

noch für das lokale Gemeinwohl engagierten Dorfbewoh-

von der Dorfgemeinschaft entwickelte Konzept »Dorf in ei-

ner haben ein feines Gespühr dafür, dass die oft oberleh-

nem Stück«, das aus 20 verschiedenen Einzelprojekten be-

rer- und gönnerhaftauftretenden »Inspektoren« von außen

steht. Der ehemalige Ortsvorsteher (1999 bis 2009) und

Ihnen keine wirkliche Hilfe bringen, dass sie beim Kampf

langjährige Motor des Wettbewerbs, Ralf Ühlin, benennt

um die Zukunft des Dorfes generell allein gelassen werden.

die Motive und Ergebnisse für sein Dorf: »Die Herausforde-

Sie machen ja ständig die Erfahrung, dass die Eliten in Staat

rungen in unseren Dörfern, gerade im südlichen Schwarz-

und Gesellschaftes zulassen oder sogar aktiv dazu beitragen,

wald, sind vielfältig. Viele Arbeitsplätze und Infrastruktur-

dass in Dörfern Schulen, Bürgermeisterämter, Polizeistatio-

einrichtungen sind weggebrochen. Wir haben uns durch

nen, Sparkassen und Volksbanken, Kirchen und Poststellen

den Wettbewerb einen Impuls von außen und von innen er-

geschlossen werden. Der Dorfwettbewerb sollte sich mehr

hofft und schließlich ein umfassendes Konzept erstellt. Da-

an den grundlegenden Sorgen und Wünschen der Dorfbe-

nach haben wir z. B. Folgendes umgesetzt: Offenhaltung

wohner ausrichten – statt immer nur wechselnde Vorgaben

der ortstypischen Weide- und Wiesenflächen (es bestand die

von oben zu machen –, um damit eine konkrete Hilfestel-

Gefahr der Verwaldung) und damit Pflege der traditionel-

lung und Aufbruchsstimmung für möglichst viele Dörfer

len Kulturlandschaft; Erhalt und Sicherung der Landwirt-

bewirken zu können.

Dorfpolitik

315

Vom Schultheiß zum Bürgermeister Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung auf dem Land

Die dörfliche Selbstverwaltung hat eine lange Tradition,

des, der Allmende. Aber auch für die übrige Flur gab es

die in Teilen bis ins Hohe Mittelalter zurückreicht.

zahlreiche Regelungen, die fixiert und kontrolliert werden

Zu den ältesten Gemeindeaufgaben gehörte z. B. die

mussten. Zum Beispiel für die Aussaat und Ernte auf den

Organisation der Allmendenutzung oder des Feuer-

schmalen Besitzparzellen, die jeweils nur über Nachbar-

schutzes. Allerdings standen die ländlichen Gemein-

grundstücke zugänglich waren, was mit dem Begriff »Flur-

den – länger als die Städte – unter den dominierenden

zwang« umschrieben wird.

Einflüssen der Landes- und Grundherren. Erst seit dem

Zu den primären Anliegen und Aufgaben, die das Dorf

späten 19. Jahrhundert sind die Landgemeinden den

schon früh in Eigenregie organisierte, gehörte der Schutz

Städten rechtlich gleichgestellt und im Staatsaufbau

vor Überfällen und Dieben – z. B. durch die Errichtung ei-

verankert. Dem dezentralen Staatsgefüge entspre-

nes Dorfzaunes und Einrichtung einer Bürgerwehr. Dazu

chend, haben wir heute in den Bundesländern unter-

kamen der Feuerschutz, die Unterhaltung von Wegen und

schiedliche Gemeindeordnungen und demzufolge auch

Wasserläufen sowie die Armenversorgung. Die Gerichts-

eine sehr unterschiedliche kommunale Selbstverant-

barkeit unterlag nicht der Befugnis der Dorfgemeinschaft,

wortung der deutschen Dörfer.

sondern sie wurde als Herrenrecht ausgeübt. Vorsitzender des Gerichts war in der Regel der Grundherr selbst oder ein

Die Geschichte der gemeindlichen Selbstverwaltung auf

von ihm bestellter Vogt oder Richter.

dem Land ist nicht leicht zu generalisieren und in weni-

Das wichtigste Beratungs- und Beschlussorgan des Dor-

gen Sätzen zu beschreiben. Groß sind die regionalen Unter-

fes war die Gemeindeversammlung. Rechtlich gehörten

schiede. Außerdem stiegen die »Freiheitsrechte« der Dorf-

zur dörflichen Gemeinde bis weit in das 19. Jahrhundert hi-

bewohner, sich selbst zu organisieren, keineswegs kontinu-

nein nur die Grundbesitzer. Zu den verschiedenen öffent-

ierlich vom Mittelalter bis heute an. So gab es wiederholt

lichen Anliegen gab es manchmal detaillierte Dorford-

Rückschläge (z. B. durch die Bauernkriege in der Frühen

nungen, die z. B. den Ablauf des jährlichen Schützenfestes

Neuzeit), die Jahrhunderte andauerten. Immerhin wissen

festlegten. Das wichtigste Amt des Dorfes hatte der Dorf-

wir, was die Dorfbewohner in früheren Zeiten überwiegend selbst geregelt haben. Es war insbesondere die wirtschaftliche Nutzung des allen gehörenden Gemeindelan-

316

Das moderne Dorf

Altbürgermeister Germann und Bürgermeister Gehm präsentieren Bärweiler im Wettbewerb »Kinder- und jugendfreundliche Dorferneuerung«.

vorsteher inne, der regional sehr unterschiedliche Namen trug. Am weitesten verbreitet waren »Schultheiß« und »Schulze«. Daneben gab es zahlreiche regionale Bezeichnungen wie Meier, Ammann, Vogt, Richter, Grebe oder Bauermeister.270 Das Amt des Dorfvorstehers war durchaus janusköpfig. Es wurde zwar von einem ortsansässigen Bauern ausgeübt, dieser hatte neben den Bedürfnissen der Dorfgemeinde aber auch die Interessen der Landes- und Grundherrschaft zu vertreten und auszuführen. Da Dorfbewohner und Grundherren wirtschaftlich, rechtlich und sozial durch das Dienst-Lehen-Verhältnis eng miteinander verknüpft waren, gab es vor Ort ständige Interessenkonflikte. Unmittelbare und häufige Streitpunkte zwischen diesen beiden »Gruppen« waren die jährlich zu leistenden Abgaben und Dienste sowie die diversen Nutzungsrechte der Dorfbewohner am meist grundherrlichen Wald. Man kann sich leicht vorstellen, welchem Druck ein Schultheiß im Jahr 1780 manchmal ausgesetzt war. Einem heutigen Bürgermeister wird dieser Zwiespalt allerdings bekannt vorkommen! Er muss sowohl die Wünsche und Sorgen seiner Bürger als auch die Gesetze des Bundes und des Landes beachten und umsetzen. Mit der preußischen »Städteordnung« von 1808 begann die moderne kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.271 Nach den Reformideen des Freiherrn vom Stein

Die kommunale Selbstverwaltung hat auf dem Land eine lange Tradition. Der Stolz vieler Dörfer ist daher das eigene Rathaus wie hier in Wolfschlugen im Landkreis Esslingen.

wurde der Bürgerschaft erstmals das Selbstverwaltungsrecht auf örtlicher Ebene zugestanden. Mit der Städteord-

zweite wesentliche Neuerung war, dass ab nun auch alle

nung wollte man die komplexen Machtstrukturen von Adel

volljährigen Ortseinwohner – unabhängig von Herkunft

und Kirche beseitigen und einen starken Staat auf der Basis

und Besitzstand – als Gemeindemitglieder anerkannt wa-

von drei Selbstverwaltungsebenen (Provinzen, Kreise, Ge-

ren. Somit bekam die kommunale Selbstverwaltung damit

meinden) errichten. Das neue Bürgerrecht blieb allerdings

eine demokratische Basis. Die erste einheitliche deutsche

zunächst auf die Städte beschränkt und galt dort auch nur

Gemeindeordnung wurde 1935 erlassen. Mit ihr wurden die

für Bürger mit Grundbesitz. Die Landgemeinden Preußens

traditionellen Unterschiede in den Gemeindeverfassungen

blieben vorerst unter der Verwaltung des Dorfvorstehers

der Länder beseitigt und außerdem die rechtlichen Unter-

oder Dorfschulzen, der von der Grundherrschaft eingesetzt

scheidungen zwischen Städten und Landgemeinden aufge-

wurde. Als erste kamen die Dörfer im deutschen Südwes-

hoben. Im zentralistischen Staatsgefüge des Dritten Reiches

ten zu einer begrenzten Selbstverwaltung. Das Badische Ge-

kam es allerdings zu einer Aushöhlung der kommunalen

meindegesetz von 1831 machte erstmals keine wesentlichen

Selbstverwaltung. Entsprechend dem »Führerprinzip« wa-

Unterschiede mehr zwischen Stadt- und Landgemeinden.

ren alle gemeindlichen Befugnisse auf den Bürgermeister

Die Landgemeinden Preußens erhielten schließlich im Jahr

übertragen worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch

1872 ihr Selbstverwaltungsrecht.

wurde die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung wie-

In der Weimarer Republik wurde das Recht der kom-

der aufgebaut. Die bald folgenden, sehr unterschiedlichen

munalen Selbstverwaltung erstmals für ganz Deutschland

Gemeindeordnungen der Bundesländer setzten neben den

in der Reichsverfassung von 1919 (Art. 127) verankert. Die

deutschen Traditionen vor 1933 auch die Erfahrungen und

Dorfpolitik

317

meindeordnung von Nordrhein-Westfalen in § 1 programmatisch mit dem Satz: »Die Gemeinden sind die Grundlage des demokratischen Staatsaufbaus.« Prinzipiell sind die Gemeinden »für alles« zuständig, was einen örtlichen Bezug hat. Man spricht hierbei vom Grundsatz der »Allzuständigkeit«. Staatspolitische Angelegenheiten wie Bündnis- oder Rüstungsfragen überschreiten hingegen den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. So muss sich die kommunale Selbstverwaltung an den »Rahmen der Gesetze« halten, sie darf also nicht gegen Landes- oder Bundesrecht gerichtet sein. Der Staat überwacht die Einhaltung dieses Rahmens durch eine Kommunalaufsicht. Durch die Selbstverwaltungsgarantie sind jedoch auch alle Regelungen und Vorgaben verfassungswidrig, die die kommunale Autonomie schwächen und zu Vollzugsorganen des Bundes und der Länder werden lassen. Neben den Gemeinden sind auch Gemeindeverbände Bürgermeister in Ausübung seiner Tätigkeit: Bürgermeister Reinhard Streng mit Bundesministerin Ursula von der Leyen bei der Einweihung des Mehrgenerationenhauses in Langenfeld in Mittelfranken in Bayern.

durch Grundgesetz und Landesverfassungen garantiert. In Deutschland existieren die folgenden Formen der Gemeindeverbände nebeneinander: Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz, Verwaltungsgemeinschaften in Baden-

Empfehlungen der jeweiligen Besatzungsmächte um. Bei

318

Württemberg, Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü-

einem Vergleich der lokalen Selbstverwaltung eines deut-

ringen, Samtgemeinden in Niedersachsen sowie Ämter in

schen Dorfes von 1810 und heute wird man möglicherweise

Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-

nicht nur Fortschritte der Moderne feststellen können. Zwar

Holstein. Allen Gemeindeverbänden liegt eine zweifache

haben sich die persönlich-demokratischen Freiräume der

Zielsetzung zugrunde: die Autonomie der (kleinen) Ortsge-

Dorfbewohner erheblich verbessert, die Rechte der Dorfge-

meinden zu erhalten und zugleich eine starke zentrale Ver-

meinde an der unmittelbaren Nutzung und Gestaltung »ih-

waltung der Verbandsgemeinde zu gewährleisten. Denn die

rer« Gemarkung haben sich jedoch gemindert, zumal hier

Gemeindeordnungen regeln nicht nur die übergemeind-

heute auch Gesetze des Landes und Bundes gelten.

liche Zusammenarbeit (der Gemeindeverbände), sondern

272

Im dezentral aufgebauten Staatsgefüge der Bundesrepu-

auch die innergemeindliche Gliederung. Hierzu bieten die

blik Deutschland haben die Gemeinden mit ihrer Selbst-

Länder sehr unterschiedliche Modelle an. So können die

verwaltung einen sehr hohen Stellenwert inne, wie die

oft riesigen, aus zahlreichen Dörfern und Kleinstädten be-

verfassungsgemäße Verankerung im Grundgesetz unter-

stehenden Gemeindegebiete in Bezirke, Ortsteile oder Ort-

streicht. Im Artikel 28, Absatz 2 heißt es: »Den Gemeinden

schaften gegliedert werden: um dort auch Selbstverwal-

muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der

tungsgremien wie Ortsräte, Ortsbeiräte, Bezirksbeiräte oder

örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener

Bezirksausschüsse oder die Institution eines Ortsvorstehers

Verantwortung zu regeln.« Entsprechende Bestimmungen

einzurichten. Diese (mit begrenzten Befugnissen ausgestat-

zur Selbstverwaltungsgarantie finden sich auch in den Lan-

teten) Gremien sind vor allem nach den teilweise gewalti-

desverfassungen der einzelnen Bundesländer. Die vertikale

gen Gemeindevergrößerungen durch die Eingemeindun-

Gewaltenteilung und Gliederung des Staates in Bund, Län-

gen der kommunalen Gebietsreform in den zurückliegen-

der und Gemeinden ist nach dem Willen des Gesetzgebers

den Jahrzehnten geschaffen worden.

eine wesentliche Voraussetzung für die sich von unten nach

Zwischen den Gemeinden und Ländern stehen die

oben aufbauende Demokratie. Daher beginnt u. a. die Ge-

Kreise, die ebenfalls im Grundgesetz (Art. 28, Abs. 1) ab-

Das moderne Dorf

gesichert sind. Die Kreise werden der kommunalen Selbstverwaltung zugeordnet. Sie übernehmen Aufgaben, die die Leistungsfähigkeit der Gemeinden übersteigen, wie Polizei, Rettungswesen, Kreisstraßen, Schul- und Bauaufsicht. Die Gemeinden und Kreise haben sich in Deutschland zu drei kommunalen Spitzenverbänden zusammengeschlossen: Deutscher Städtetag, Mitglieder sind hauptsächlich die großen, kreisfreien Städte; Deutscher Städte- und Gemeindebund, Mitglieder sind vor allem die mittelgroßen und kleineren, kreisangehörigen Städte und Gemeinden; Deutscher Landkreistag, Mitglieder sind die Landkreise und Kreise. Diese kommunalen Spitzenverbände nehmen eine zweifache Aufgabenstellung wahr. Zum einen beraten und informieren sie ihre Mitglieder, organisieren den Erfahrungsaustausch und erarbeiten Empfehlungen und Mustersatzungen (z. B. für die Ortsbildgestaltung). Zum anderen wirken sie bei der Gesetzgebung und den Finanzre-

Das Repräsentieren bei wichtigen Dorffesten gehört zu den »Pflichten« ländlicher Bürgermeister. Hier Erster Bürgermeister Klaus Korneder, Zweite Bürgermeisterin Iris Habermann und Gemeinderäte der Gemeinde Grasbrunn beim Festumzug zur Einweihung des neuen Feuerwehrgerätehauses in Harthausen.

gelungen in Bund und Ländern mit. Das Grundgesetz hat den Ländern die Ausgestaltung des

meindevertretung (Gemeinderat) ein Magistrat oder Ge-

Gemeinderechts überlassen. Allen Kommunalverfassun-

meindevorstand, der als ausführendes Organ die Gemeinde-

gen gemeinsam sind die zwei zentralen Institutionen der

verwaltung leitet. Vorsitzender des Magistrats ist der haupt-

kommunalen Selbstverwaltung: Der Gemeinderat als ge-

amtliche, direkt gewählte Bürgermeister. An der Spitze der

wählte Vertretung der Gemeindebürger ist das »Beschluss-

Stadtverordnetenversammlung bzw. Gemeindevertretung

organ« der Gemeinde, quasi das Gemeindeparlament. Zur

steht der Stadtverordnetenvorsteher bzw. Gemeindever-

Entlastung des Gemeinderats sind in der Regel beratende

tretungsvorsitzende. Die Position des Bürgermeisters wird

Fachausschüsse eingerichtet, z. B. Haupt-, Finanz-, Bau-,

in Deutschland sowohl als Hauptamt als auch ehrenamt-

Kulturausschuss. Die Mitglieder des Gemeinderats sind wie

lich ausgeübt. In den durch kommunale Gebietsreformen

die sachkundigen Bürger in den Fachausschüssen ehren-

entstandenen ländlichen Groß- oder Einheitsgemeinden

amtlich tätig, sie erhalten lediglich eine geringe pauschale

sind die Bürgermeister in der Regel hauptamtlich, d. h. im

Entschädigung für ihre Aufwendungen. Neben dem Ge-

Hauptberuf, tätig.

meinderat steht die Gemeindeverwaltung. Zu dieser »aus-

Als wohl dienstältester und auch insgesamt ältester Bür-

führenden« Verwaltungsbehörde gehören ein Verwal-

germeister in Deutschland (und vermutlich der Welt) ist

tungschef, Beamte und Arbeiter. Die Leiter der Verwaltung

vor ein paar Jahren Karlheinz Poredda vom niedersächsi-

werden für eine gesetzlich festgelegte Zeit gewählt und gel-

schen Ministerpräsidenten David McAllister geehrt worden.

ten als Wahlbeamte.

Er konnte im Alter von 91 Jahren auf 50 Jahre als Bürger-

Bezüglich der Stellung des Bürgermeisters haben sich

meister und 63 Jahre im Gemeinderat der Gemeinde Hip-

die Gemeindeordnungen in Deutschland in den letzten

stedt bei Bremerhaven zurückblicken. Sein »Programm«

Jahrzehnten stark angeglichen. Mit einer Ausnahme gilt

verrät viel über die Merkmale und Vorzüge der ländlichen

heute in allen Flächenländern die sog. »Süddeutsche Rats-

Kommunalpolitik: »Auf drei Grundsätze baut Poredda, der

verfassung«. Hier hat der direkt vom Volk gewählte Bürger-

rund um die Uhr von den 1300 Bewohnern Hipstedts ange-

meister eine starke Position. Er ist Vorsitzender des Gemein-

rufen werden kann: Man müsse sich für Menschen interes-

derates und zugleich Chef der Verwaltung. Die Ausnahme

sieren, nicht nachtragend sein und Ausdauer haben.«273

bildet Hessen, wo die sog. »Magistratsverfassung« gilt. Hier

Durch die verschieden ausgeführten kommunalen Ge-

besteht neben der Stadtverordnetenversammlung bzw. Ge-

bietsreformen und Gemeindeordnungen ist die kommu-

Dorfpolitik

319

Das kleine Dorf Bärweiler in Rheinland-Pfalz (250 Einwohner) kann sich als eine politisch selbstständige Gemeinde auf seinem Ortsschild präsentieren. Ein Vorzug, den die meisten deutschen Dörfer nicht mehr haben.

Das ehemals politisch selbstständige große Dorf Wrexen in Nordhessen (1750 Einwohner) ist durch Eingemeindung zum »Ortsteil« der Großgemeinde Diemelstadt geworden. Diemelstadt ist eine künstliche Namensprägung und keine reale Ortschaft.

nale Selbstverantwortung der deutschen Dörfer jedoch

– Weesby, Amt Schafflund, Kreis Schleswig-Flensburg:

sehr unterschiedlich ausgeprägt. So gibt es auf der einen

Das Dorf Weesby ist eine selbstständige Gemeinde und

Seite Tausende kleiner Dörfer mit 300 oder 600 Einwoh-

gehört zur Amtsgemeinde Schafflund (Verwaltungssitz).

nern, z. B. in Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz, die

– Gemeinde Eicklingen, Kreis Celle: Das Dorf Eicklingen

ihre lokale Autonomie und damit ihren ehrenamtlichen

ist eine selbstständige Gemeinde und gehört zur Samt-

Ortsbürgermeister und Gemeinderat bis heute bewahrt ha-

gemeinde Flotwedel (deren Verwaltungssitz ist Wienhau-

ben. Allerdings sind diese kleinen, selbstständigen Gemein-

sen).

den in der Regel verwaltungsmäßig zu größeren Einheiten,

– Alsweiler-Marpingen, Kreis St. Wendel: Das große Dorf

z. B. Ämtern, zusammengeschlossen. Auf der anderen Seite

Alsweiler hat mit der kommunalen Gebietsreform seine

finden sich vor allem in Hessen, Nordrhein-Westfalen oder

Selbstständigkeit verloren und ist nun ein Gemeinde-

dem Saarland zahlreiche große Dörfer mit 2500 und mehr

bezirk der Großgemeinde Marpingen (auch Verwaltungs-

Einwohnern, die ihre politische Selbstständigkeit mit der

– Und nicht zuletzt die gar nicht so seltene Verwirrvari-

ergibt sich in Deutschland ein großes Nebeneinander von

ante: Diemelstadt-Wrexen, Kreis Waldeck-Frankenberg:

kommunalpolitisch selbstständigen und unselbstständigen,

Das Dorf Wrexen hat mit der kommunalen Gebiets-

da eingemeindeten Dörfern.

reform seine Selbstständigkeit verloren und ist in die

Der aufmerksame Beobachter kann den unterschied-

neue Großgemeinde Diemelstadt mit einer künstlichen

lichen kommunalpolitischen Status der deutschen Dörfer

Namensprägung eingemeindet worden. Eine reale Ort-

beim Reisen durch das Land bereits an den Ortsschildern

schaft Diemelstadt gibt es also nicht.

ablesen. Hier ein paar Beispiele:

320

sitz).

Eingemeindung zu Großgemeinden aufgeben mussten. So

Das moderne Dorf

Freiwillig, verpflichtend oder übertragen Aufgaben und Spielräume der ländlichen Kommunalpolitik

Das Wohlergehen auf dem Land hängt in vielfacher

len. Über Art und Umfang kommunaler Aufgaben wird

Weise von der lokalen Kommunalpolitik ab. So schafft

immer wieder diskutiert und gestritten, sowohl grundsätz-

die Gemeinde die Rahmenbedingungen für das wirt-

lich als auch konkret. Oft geht es dabei um die Frage, ob

schaftliche, kulturelle und soziale Leben in den

Dienstleistungen wie die Gas- oder Wasserversorgung sinn-

Dörfern. Sie sorgt für Trinkwasser und Kanalisation,

vollerweise kommunal oder privat angeboten werden sol-

sie unterhält Schulen, Kindergärten und Dorfgemein-

len. Eine ständige kommunalpolitische Diskussion wird

schaftshäuser, sie erschließt Bauland und kümmert

auch darüber geführt, wie weit man die Bürger über Steu-

sich um den Leerstand in den Kernen, sie unterstützt

ern und Gebühren an den kommunalen Leistungen beteili-

die dörflichen Vereine. Leider werden die Spielräume

gen kann oder sollte.

der Kommunalpolitik immer enger. Neuerdings gilt das

Die Vielfalt der kommunalen Aufgaben zeigt sich im

Leitbild einer Bürgerkommune: Rat, Verwaltung und

Aufbau der Gemeindeverwaltungen oder auch der Haus-

Bürger treten als gleichwertige Partner auf, wobei auch

haltspläne. Normalerweise werden zehn Aufgabenbereiche

die Bürger immer mehr öffentliche Aufgaben zu über-

unterschieden: allgemeine Verwaltung; Finanzen; öffent-

nehmen haben.

liche Sicherheit und Ordnung; Schulen und Kindergärten; Kulturpflege; soziale Sicherung; Gesundheit, Sport, Erho-

Die Gemeinden sind grundsätzlich für »alle Angelegen-

lung; Bau- und Verkehrswesen; öffentliche Einrichtun-

heiten der örtlichen Gemeinschaft« zuständig. Doch was

gen, Wirtschaftsförderung; wirtschaftliche Unternehmen,

gehört dazu? Welche Aufgaben muss die Gemeinde er-

Grund- und Sondervermögen. Zu den vorrangigen kom-

füllen, welche freien Spielräume hat sie darüber hinaus?

munalen Ausgaben gehören derzeit die Bereiche Schulen

Die Schule und der Kindergarten, das scheint auf den ers-

und Kindergärten, wo vielerorts kräftig in die Kleinkind-

ten Blick klar zu sein. Die Müllabfuhr, das könnten auch

und Ganztagsbetreuung investiert wird. Etwa ein Drittel

private Dienstleister anbieten. Ein kommunales Kino oder

der kommunalen Ausgaben wird für die Personalkosten

ein kommunaler Bus zum Nulltarif, wie es bisweilen vor-

der Angestellten und Arbeiter der Gemeinden ausgegeben.

kommt, ist sicherlich eine Ausnahme. Kommunale Leistungen stehen nicht ein für alle Mal fest – sie unterliegen dem Wandel, häufig ändern sie sich nach Kommunalwah-

Abbildung oben: Auch Landgemeinden schaffen kulturelle Angebote wie hier das Schulmuseum in Folmhusen, Gemeinde Westoverledingen in Ostfriesland.

Dorfpolitik

321

mit sind nun auch alle ländlichen Gemeinden angehalten, eine Lokale Agenda 21 zu erstellen. Hierin müsste dargelegt werden, wie die vorhandenen ökonomischen, ökologischen und kulturell-sozialen Potenziale erhalten und an die nächste Generation weitergegeben werden können. Weil diese sehr unterschiedlichen Schwerpunkte auf den ersten Blick gar nicht zueinander passen, spricht man auch vom »Magischen Dreieck« der Agenda 21. Beim konkreten Abwägen und Entscheiden zwischen den unterschiedlichen Agenda-Zielen zeigen sich bald die Konflikte. Angestrebt wird eine dauerhafte Balance zwischen den ökonomischen, ökologischen und kulturell-sozialen Interessen. Was aber global bisher kaum möglich ist, z. B. die Erhaltung des tropischen Regenwaldes und eine ökonomische Entwicklung der tropischen Länder, ist auch in den ländlichen KommuZu den Pflichtaufgaben der Landgemeinden gehört die Schulversorgung im Grundschulund Sekundarstufenbereich, im Bild die gemeindliche Grundschule in Wrexen.

nen schwierig. So lautet eine typische Frage in vielen bayerischen Alpenrandgemeinden: Bauen wir einen festen Weg auf die Alm? Der ökonomische Gewinn einer besse-

322

Die Kommunen haben neben ihren lokalen Interes-

ren Verkehrserschließung könnte aber vielleicht manche

sen auch die des Staates wahrzunehmen. Wir unterschei-

Nachteile der Umweltbelastung mit sich bringen und auch

den daher zwischen den eigenen oder Selbstverwaltungs-

manche kulturellen Traditionen aushöhlen. Oder in Meck-

aufgaben und den übertragenen oder staatlichen Auf-

lenburg-Vorpommern: Wie weit erschließen wir die Seen

gaben. Die Selbstverwaltungsaufgaben können freiwillig

für den Tourismus? Auch hier sprechen zumindest vorder-

oder verpflichtend sein. Freiwillig ist z. B. die Einrichtung

gründig ökonomische Gründe für eine positive Antwort.

und Unterhaltung eines Heimatmuseums oder einer Ge-

Doch sind ökologische und kulturelle Vorbehalte möglich.

meindehalle. Pflichtaufgaben hingegen sind Wasserversor-

Generell kann bei derartigen Fragen jede Gemeinde zu ei-

gung, Kanalisation, Schulen und die Bauleitplanung. Diese

nem anderen Ergebnis kommen. Wichtig für den Erfolg der

Leistungen müssen von den Gemeinden nach bundes- und

Agenda sind kleine Schritte, die konkrete Ergebnisse brin-

landesrechtlichen Vorgaben erbracht werden, wobei ihnen

gen und von der Bevölkerung mitgetragen werden – z. B.

Spielräume bei der Ausgestaltung bleiben. Bei den übertra-

die Umstellung kommunaler und gewerblicher Heizungs-

genen oder staatlichen Aufgaben erfüllen die Gemeinden

anlagen auf erneuerbare Energieträger der Region, die Re-

Bundes- oder Landesrecht. Sie unterstehen nicht nur der

naturierung des Dorfbaches oder eine genossenschaftliche

Rechts- sondern auch der Fachaufsicht des Staates. Vielfach

Gründung zur Rettung des letzten Dorfladens.

ist hier auch die Durchführung der Aufgaben – z. B. in den

Auf dem Lande hat in den letzten Jahrzehnten eine zwei-

Bereichen Wahlen, Sozialhilfe, Ordnungsrecht oder Melde-

fache Entmündigung kommunaler Instanzen stattgefun-

wesen – fest vorgeschrieben.

den: auf der Ebene der Gemeinden und der Dörfer. Ebene

Durch die UN -Konferenz für Umwelt und Entwicklung

der Gemeinden: Spricht man mit Bürgermeistern, Gemein-

in Rio de Janeiro 1992 haben die Gemeinden weltweit ei-

deräten und Gemeindeverwaltungen oder liest kommunal-

nen neuen Handlungsauftrag für das 21. Jahrhundert be-

politische Publikationen, taucht immer wieder die Klage

kommen – die Agenda 21.274 Unter dem Stichwort »Lokale

auf: »Wir können kaum noch etwas selbst gestalten.« In der

Agenda 21« sind alle Gemeinden zu einer nachhaltigen

Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Bevormun-

Entwicklung aufgefordert. Denn Deutschland hat die Be-

dung und Geringschätzung durch die »hohe« Politik. Tat-

schlüsse von Rio unterzeichnet und das Prinzip der Nach-

sächlich beschneiden die Vorgaben der Landes- und Bun-

haltigkeit 1994 im Grundgesetz, Artikel 20 a verankert. Da-

despolitik immer massiver das Selbstverwaltungsrecht

Das moderne Dorf

der Gemeinden. Die Fernsteuerung der Kommunen zeigt sich in rechtlichen, finanziellen und planerischen Reglementierungen. Die rechtliche Steuerung der Kommunen liegt begründet im Rechtsmonopol für Gesetze und Verordnungen, das in Deutschland dem Bund und den Ländern vorbehalten ist. So zwingen die hierzulande geltenden Prinzipien Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in den Teilräumen des Staates die Gesetzgeber immer wieder zu bundes- und landeseinheitlichem Vorgehen, z. B. in den Bereichen Sozialhilfe, Polizei, Feuerwehr, Baurecht, Denkmal- und Umweltschutz. Doch die finanziellen Abhängigkeiten sind das hauptsächliche Hindernis für eine Entfaltung einer echten Selbstverwaltung der Gemeinden. Die steuerlichen Einnahmen der Gemeinden (vor allem durch die Gewerbesteuer) haben abgenommen gegenüber den Zuweisungen von Bund und Land. Hier dominieren einseitig die zweckge-

Die Dorfgemeinde lebt von ihrer »aktiven Bürgergesellschaft«, die sich Gedanken um die Zukunft des Dorfes macht und dann auch konkrete Aufgaben übernimmt, hier eine Bürgerversammlung in Bärweiler.

bundenen Zuweisungen (»Zweckzuweisungen«) gegenüber den freien Zuweisungen (»Schlüsselzuweisungen«), die

soziale und individuelle Lebensbereiche wie Bildung, So-

von den Kommunen für selbstgewählte Zwecke genutzt

zialfürsorge, Sport, Erholung und Kultur unter die Pla-

werden können. Man spricht hier oft vom »goldenen Zü-

nungshoheit des Bundes und der Länder.

gel« der Zweckzuweisungen, mit dem die öffentlichen Mit-

Die zahlreichen und komplexen Fernsteuerungen der

tel in den Gemeinden weitgehend nach den Kriterien der

Gemeinden durch Bund und Länder bewirken viele Nach-

zentralen Fachpolitiken verteilt werden. Daraus folgt nicht

teile. So ist die Kommunalpolitik auch auf dem Land un-

nur eine lokalpolitische Ohnmacht, sondern auch die häu-

durchsichtiger geworden, und die politische Verantwort-

fig beklagte Vereinheitlichung aller öffentlichen Einrich-

lichkeit ist nicht mehr deutlich auszumachen. Durch das

tungen von Sylt bis Oberstdorf, z. B. beim Kindergarten-

gesetzliche und juristische Übergewicht der zentralen Bü-

oder Spielplatzbau, ohne lokal angemessene Gestaltungs-

rokratien sind die Kompetenzen der kommunalen Parla-

varianten. Inzwischen sind etwa 90 % der kommunalen

mente und Verwaltungen kaum noch gefragt und ihre Wir-

Ausgaben durch staatliche Gesetze und Richtlinien fest-

kungskraft tendiert gegen Null. Die in Sonntagsreden stets

gelegt. Die fehlende »freie Spitze« kommunaler Finanz-

hochgelobte kommunale Selbstverwaltung (»Schule der

planung zwingt viele Kommunen zu verstärkter Schulden-

Politik / der Demokratie«) steht nur noch auf dem Papier.

aufnahme, was ihre Handlungsfreiräume letztlich weiter

Es gibt zu viele bürokratische Vorgaben, zu viele und im-

einschränkt. Ab einer bestimmten Schuldensumme werden

mer neue Hürden, zu viel Töpfchenförderung (mit ihren

sie zu »Ausgleichsstockgemeinden«, die sich alle Vorhaben

labyrinthischen Antrags-, Bewilligungs-, Kofinanzierungs-

vom Land genehmigen lassen müssen, sodass ihre Finanz-

und Evaluationshürden) durch Bund und Länder. Kommu-

autonomie schließlich erlischt.

nalpolitik ist ein permanenter und zermürbender Abnut-

Die planerischen Steuerungen der Kommunen durch

zungskampf gegenüber den Ländern und dem Bund. Die

die Fachbehörden des Bundes und der Länder begannen

im Staatsaufbau vorgesehene und im Grundgesetz veran-

verstärkt ab den 1960er Jahren. Zuerst waren es der Bereich

kerte kommunale »Selbstverantwortung« ist kaum noch

Raumplanung und eher technische Aufgaben wie die Ver-

eine solche, sie ist weitgehend eine Verwaltung von Aufga-

kehrs-, Bau- und Stadtentwicklungsplanung, die der zen-

ben, die meist »von oben« bestimmt werden.

tralen Planung unterworfen wurden. Später kamen auch

Ebene der Dörfer: Ganz aufgelöst wurde eine bestehende

Dorfpolitik

323

Der vom Arbeitskreis Kultur in Weyarn erstellte »Kulturpfad« führt zu Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkten der Gemeinde, dazu gehören auch diese Steinskulpturen von einheimischen und auswärtigen Künstlern.

demokratische Basis des Staates in über 20 000 deutschen

»höhere« staatliche Politik führt somit konsequent zu einer

Dörfern und Kleinstädten: Von oben diktierte Gebietsrefor-

Geringschätzung bei den Bürgern. Gegen diese Missstände

men nach dem sog. Zentrale-Orte-Modell haben hier die

an der Basis des Staates muss dringend und nachhaltig an-

in Jahrhunderten aufgebaute und bewährte lokale Selbst-

gegangen werden, Dies erfordert ein gewaltiges Umden-

verantwortung mit Bürgermeister und Gemeinderat ab-

ken in den Zentralen der Macht in Bund und Ländern. Statt

geschafft. Die Dörfer verloren ihre eigene demokratische

immer weiter seine zentralistischen Programme von oben

Kraft und damit auch das Selbstwertgefühl, für ihr Dorf

nach unten durchzusteuern, sollte der Staat seine demokra-

Kompetenz zu besitzen und verantwortlich zu sein.

tische Basis »unten« respektieren, stärken und wiederbele-

Die vom Staat reduzierten Befugnisse und Freiräume

ben. Ist er dazu von sich aus in der Lage? Mit Heimatmi-

in den Gemeinden und Dörfern haben nicht nur dauer-

nisterien versuchen Bund und Länder derzeit, den Dörfern

haft die kommunalpolitische Arbeit erschwert. Sie haben

und Landgemeinden Zuwendung zu signalisieren. Skep-

auch generell zu einem schlechten Image der Kommunal-

sis ist jedoch angebracht, ob damit tatsächlich eine Kehrt-

politik geführt. So ist es in vielen Orten und Regionen der

wende in der Behandlung des Landes beginnt.

Republik oft schwierig, Nachwuchs für den Gemeinderat

Erst wenn die Kommunalpolitik in den Dörfern und Ge-

zu gewinnen. Und vielerorts findet sich kein Bewerber be-

meinden wieder Gewicht und Befugnisse bekommt, wird

reit, für das Amt des Bürgermeisters oder des Ortsvorstehers

auch ihr Ansehen in der Bevölkerung steigen. Dann wer-

zu kandidieren. Es ist ein Trend zu beobachten, dass viele

den auch die Bürger wieder mitmachen, den Staat tragen

für die Kommunalpolitik hochqualifizierte Bürger bewusst

helfen und sich mit dem Gemeinwesen solidarisieren.

nicht in die Kommunalpolitik gehen, sondern lieber Vor-

Die großen, überregionalen Parteien haben in den Land-

standsämter in Schützen-, Sport-, Musik-, Karnevals- und

gemeinden häufig nur eine begrenzte Ausstrahlung. Sie

Kulturvereinen übernehmen, wo sie wirklich etwas bewe-

werden bisweilen als Honoratioren- und Wahlkampfclub

gen können und die erfolgreiche Arbeit auch noch Spaß

bezeichnet, der für die lokalpolitische Arbeit nur wenige

macht.

Impulse gibt. Zur Sinnfrage der politischen Parteien in der

Die Geringschätzung der Kommunalpolitik durch die

324

Das moderne Dorf

Kommunalpolitik wird gerne ironisch angemerkt, dass

es doch weder eine christdemokratische Straßenbeleuchtung noch einen sozialdemokratischen Dorfbrunnen gebe. Dem Leitbild einer parteifreien Kommunalpolitik entsprechen dann auch die unabhängigen, aber meist sehr engagierten Wählergruppen. Man bezeichnet sie in der Regel als »freie Wählergemeinschaften« oder – durchaus treffend – als »Rathausparteien«. Sie sind gerade in ländlichen Regionen weit verbreitet und stellen nicht selten die Mehrheit und den Bürgermeister im Gemeinderat. Es gibt inzwischen zahlreiche Landgemeinden in Deutschland, in denen nur lokale Wählergemeinschaften und keine Parteien mehr zur Kommunalwahl antreten. Ein Hauptvorteil der ländlichen Kommunalpolitik ist prinzipiell ihre Bürgernähe. Denn die direkten Kontaktmöglichkeiten der Bürger zu »ihren« Kommunalpolitikern sind von der Gemeindegröße abhängig. Je kleiner die Gemeinde, desto volksnäher und erreichbarer sind ihre Bürgermeister und Ratsvertreter. Und je größer die kommu-

Die Dorfgemeinde Weyarn leistet sich eine Bücherei und macht sie besonders attraktiv für Kinder, die sich hier offenkundig wohlfühlen.

nale Einheit, desto größere räumliche und mentale Distanzen liegen zwischen Bürgern und Politikern. Ländliche

kleinen Gemeinde Ummendorf in Sachsen-Anhalt schon

Kommunalpolitik findet daher in der Regel noch auf Au-

seit Jahren. Für Reinhard Falke ist es am wichtigsten, wie

genhöhe zwischen Bürgern, Ratsmitgliedern und Verwal-

man in der Gemeinde miteinander umgeht. Dass auch die

tung statt.

Heranwachsenden das respektvolle Miteinander lernen, ist

Im Verhältnis zwischen den politisch Verantwortlichen

ihm ein besonderes Anliegen. So trifft er sich jede Woche

und den Bürgern bahnt sich in jüngster Zeit ein Paradig-

(!) einmal mit jeweils rund 30 Jugendlichen, um Vorha-

menwechsel, d. h. ein Wechsel in der Grundauffassung, an.

ben und Wünsche zu besprechen.275 Das Klima des Mitein-

Mit Begriffen wie »Bürgerkommune« und »Aktive Bürger-

anders und des Sich-wohl-Fühlens zeigt bereits Wirkung:

gesellschaft« wird zum Ausdruck gebracht, dass im Wesent-

Ummendorf ist einer der wenigen Orte in Sachsen-An-

lichen aktive Bürger das Gemeindeleben tragen und prägen

halt, der an Einwohnern wächst. Im Dorf gibt es auch kei-

(sollen). Hier zeigt sich der lange Weg vom Leitbild »Papa

nen Gebäudeleerstand wie in den meisten anderen Dörfern

Staat« mit dem Bürger als Untertan über das Leitbild »Un-

Deutschlands. Besonders stolz ist Bürgermeister Reinhard

ternehmer Staat« mit dem Bürger als Kunde bis hin zum

Falke auf die Auszeichnung Ummendorfs als kinder- und

heutigen bzw. künftigen Leitbild »aktivierender Staat« mit

familienfreundlichste Gemeinde Sachsen-Anhalts aus dem

dem Bürger als Partner. Generell sind hierbei Bürgermeis-

Jahr 2008. So ist er auch bei einem Blick in die Zukunft zu-

ter, Rat, Verwaltung und Bürger gleichgewichtige Akteure,

versichtlich: »Ein Großteil unserer Jugendlichen, die unser

zwischen denen ein ständiges Geben und Nehmen statt-

Dorf für Ausbildung und Studium verlassen müssen, wird

findet. Dies verlangt von der Kommunalpolitik erhebliche

später wiederkommen, hier bauen und eine Familie grün-

Veränderungen. Sie muss die sich entwickelnde Bürger-

den. Sie haben ja erlebt, wie eine Dorfgemeinschaft funk-

kommune aktivieren, unterstützen und moderieren. Die

tioniert und wohltut. Wir vermitteln diesen Jugendlichen,

Eigenverantwortung und Kooperationsbereitschaft loka-

dass wir uns über ihre Rückkehr freuen. Denn wir wissen,

ler Akteure und Gruppen muss durch intensivere Informa-

dass auch in der Zukunft die Kraft unseres Dorfes in dem

tionsvermittlung und durch einen ständigen Dialog geför-

Mitwirken der Bürger liegen wird.«276

dert werden. Wie so etwas aussehen kann, zeigt der Bürgermeister der

Eine bundesweit beachtete Pionierleistung in Richtung einer umfassenden Bürgerbeteiligung zeigt die oberbaye-

Dorfpolitik

325

rische Gemeinde Weyarn, 3500 Einwohner groß und etwa

Umdenkens mitgenommen wird.«278 Das Modell der Bür-

35 km südöstlich von München gelegen. Seit 17 Jahren wird

gerbeteiligung ist für Bürgermeister Pelzer übertragbar auf

dort »der Weg zur Bürgergesellschaft« unter der Regie von

alle (ländlichen) Gemeinden in Deutschland. Und es gibt

Bürgermeister Michael Pelzer erprobt. In Weyarn werden

bereits eine große Nachfrage nach dem Vorbild Weyarn. Sie

die Bürger wirklich ernst genommen. Dem Bürgermeis-

bestärkt den Bürgermeister: »Den Bedarf an einer neuen

ter ist es ein besonderes Anliegen, dass ein gutes politisches

politischen Kultur erleben wir an der Reaktion der Bürger

Klima im Dorf herrscht. Der Erfolg zeigt sich darin, dass

anderer Gemeinden, Agendagruppen und politischer Or-

sehr viele Bürger in Bürgerwerkstätten und Arbeitskreisen

ganisationen, die uns besuchen oder die wir mit Vorträgen

mitarbeiten, Projekte anschieben und begleiten und die ge-

erreichen (ca. 50 im Jahr). Das macht Mut. Dabei erleben

wählten Kommunalpolitiker unterstützen und kontrollie-

wir allerdings auch Ängste bei den Entscheidungsträgern,

ren. Des Weiteren sorgt der Bürgermeister für totale Trans-

diesen Prozess zuzulassen. Wichtig ist uns, durch unser Vor-

parenz in allen kommunalpolitischen Angelegenheiten

bild Ängste zu nehmen und durch die wirtschaftlichen und

und holt bei Bedarf auch auswärtige Forscher und Planer

sozialen Erfolge unserer Gemeinde andere zur Nachah-

mit ins Boot. Am Anfang stand eine umfassende Bestands-

mung anzuregen.«279

aufnahme dessen, was Weyarn ist und in Zukunft will. Und

Generell haben sich die Aufgabenschwerpunkte der

Weyarn wollte vor allem nicht in den Sog der Verstädterung

ländlichen Kommunen in den letzten Jahrzehnten deut-

durch den Raum München geraten, sondern vielmehr den

lich verändert und erweitert. Früher ging es den Bürger-

Erhalt seiner ländlichen Eigenart und Lebensqualität. So

meistern und Gemeinderäten vorwiegend um neue Bau-

wurden unter anderem ein Autohof verhindert, ein neues

und Gewerbegebiete, um Wasser- und Abwasserversorgung

Schulhaus errichtet, ein Dorfladen gegründet, ein 4,5 km

sowie um das kommunale Wegenetz. Heute steht immer

langer Kulturpfad geschaffen, eine Dorfchronik mit bis-

mehr die Bekämpfung und Steuerung von Schrumpfungs-

her fünf Bänden herausgegeben, eine Senioren-Hilfsbörse

prozessen – mit Themen wie Leerstand, Infrastrukturver-

mit 25 Helfern aufgebaut und eine ehrenamtlich geführte

lusten und demographischem Wandel im Vordergrund. Ein

Bücherei mit 22 Mitarbeitern eingerichtet. Geplant ist, die

Dorfbürgermeister in Rheinland-Pfalz brachte es neulich

Kinder und Jugendlichen noch stärker als bisher durch

auf den Punkt: »Ein Dorfladen ist für uns genauso wichtig

Kindergemeinderatssitzungen und Jungbürgerversamm-

wie die Kanalisation!«. Zunehmend wird die innere und

lungen in die Bürgerbeteiligung einzubinden. Außerdem

vor allem soziale Infrastruktur der Dörfer – wie Kinder-

will man den Energiebedarf der Gemeinde bis zum Jahr

betreuung, Schule, Arzt, Pflege und Betreuung von Seni-

2025 ausschließlich aus regenerativen Energieformen de-

oren, Kranken und Behinderten, Vereine, Einkaufs-, Gas-

cken. Seit 2008 ist die Bürgerbeteiligung in Weyarn – nach

tronomie-, Kultur- und Freizeitangebote – zum harten

15 Jahren Erfahrung – in einer Hauptsatzung, der Bürger-

und bestimmenden Standortfaktor. Und nach dem Sozial-

beteiligungssatzung, auch für die Zukunft festgeschrieben.

staatsprinzip stehen Staat und Kommunen hier in der Ver-

Die Presse titelte: »Bürgerbeteiligung wird zum Weyarner

antwortung.

Grundgesetz.«

326

277

Ganz wichtig sind – vor allem in kleinen und mittelgro-

Bürgermeister Pelzer beschreibt den bisherigen Weg:

ßen Dörfern – öffentliche Treffpunkte für Junge und Alte,

»Unsere Herausforderung ist die Etablierung einer umfas-

wie zum Beispiel im mittelfränkischen Langenfeld in ei-

senden neuen politischen Kultur, statt nur die Veränderung

ner sanierten alten Scheune (»Dorflinde«). Neben den Treff-

von Teilbereichen. Die Gemeinde ist nicht mehr Vollversor-

punkten sind die geschaffenen Möglichkeiten des betreu-

ger für alle Fährnisse des täglichen Lebens, sondern profes-

ten Wohnens und Altwerdens im Dorf wichtig, dies ent-

sionelle Entwicklungsagentur. Die Bürger sind nicht mehr

spricht einem Hauptwunsch der der älteren Landbewohner.

Kunden, sondern Mitgestalter. Politiker sind nicht mehr

Das kleine und nicht übermäßig reiche Bundesland Rhein-

Macher, sondern Ermöglicher. Solidarität entsteht aus Ei-

land-Pfalz unterstützt und fördert diese Möglichkeiten für

genverantwortung. Das ist nur möglich, wenn neben Bür-

die ältere Generation in kleinen mittelgroßen Dörfern vor-

gern und Politik auch die Verwaltung auf diesen Weg des

bildlich.

Das moderne Dorf

Der Kampf um dörfliche Selbstbestimmung Kommunale Gebietsreformen und die Autonomie des Dorfes

Die politische Selbstverantwortung des Dorfes gehört

Rückblick erstaunlich ist, dass es für die Reformen keine

zu den Erfolgen der europäischen Zivilisation.

einheitlichen oder umfassend begründeten Ziele gab. Die

Sie befindet sich in Deutschland jedoch seit etwa

in den späten 1960er Jahren begonnenen Gebietsreformen

40 Jahren in einer schweren Krise. Durch kommunale

entsprachen letztlich einfach den damaligen politisch-

Gebietsreformen hat die weit überwiegende Mehrheit

wissenschaftlichen Vorstellungen und dem Zeitgeist.

der deutschen Dörfer ihre kommunale Selbstbestim-

Die Hintergründe und Begründungen der Reformen in

mung verloren. Sie wurden per Gesetz zu größeren

den 1960er Jahren lassen sich knapp so zusammenfassen:280

kommunalen Einheiten zusammengefügt und zum

Durch die stark anwachsenden Aufgaben der Kommunal-

»Gemeindeteil« degradiert. Die Dörfer verloren ihren

politik war der Ruf nach leistungsfähigen Gemeindever-

Bürgermeister und ihren Gemeinderat, die sich mit

waltungen – auch auf dem Land – immer lauter geworden.

viel Kompetenz und Einsatz um alle Angelegenheiten

Für die konzentrierten Verwaltungen stellte man auch Kos-

der örtlichen Gemeinschaft gekümmert hatten.

teneinsparungen in Aussicht. Man glaubte, starke und rationalisierte Verwaltungen nur durch Zusammenlegung von

Die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehn-

Gemeinden verwirklichen zu können. Die Raumordnung

te sind für die lokale Demokratie in Deutschland ein be-

hatte mit ihrem theoretischen, aber schlichten Konzept der

deutendes Ereignis. Sie haben in weiten Teilen des Staates

zentralen Orte ein »wissenschaftliches« Modell zur Verfü-

die seit dem Mittelalter entwickelte Selbstverwaltung der

gung, das man für die Schaffung von Großgemeinden be-

Landgemeinde beseitigt. Ausgelöst wurden diese »Refor-

nutzen konnte. Aus heutiger Sicht klingt es fast zynisch,

men« durch den Deutschen Juristentag 1964, der die selbst

dass sogar »der Bürger« in die Begründungskataloge auf-

gestellte Frage »Entspricht die gegenwärtige kommunale

genommen wurde. So sollten die neu geschaffenen riesi-

Struktur den Anforderungen der Raumordnung?« mit ei-

gen Einheitsgemeinden (mit z. T. mehr als 20 Altgemein-

nem eindeutigen Votum für Gebietsreformen beantwortete.

den) eine bürger- und ortsnahe Versorgung sichern und die

In der Folge wurden dann Gebietsreformen in den einzel-

bürgerschaftliche Beteiligung erleichtern!

nen Bundesländern mit sehr unterschiedlicher Intensität durchgeführt und nur in wenigen Ländern (SchleswigHolstein und Niedersachsen) weitgehend unterlassen. Im

Langenfeld in Mittelfranken (1400 Einwohner) nutzt seine kommunalpolitische Freiheit und errichtet im Dorfkern ein Mehrgenerationenhaus.

Dorfpolitik

327

den etwa 250 000 Gemeinderatssitze – für kompetente und engagierte Bürger – abgebaut. Die Gebietsreform erfolgte in den Bundesländern in sehr unterschiedlicher Intensität. Am stärksten war die Reduzierung der Gemeindenzahl im Saarland mit 86 %, gefolgt von Hessen (84 %), NordrheinWestfalen (83 %) und Bayern (70 %). Äußerst maßvoll und auf freiwilliger Basis verlief die Kommunalreform hingegen in Schleswig-Holstein mit einer Verringerung der Gemeinden um 18 %, ähnlich war der Ablauf in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. In diesen Bundesländern beließ man den Dorfgemeinden ihre lokale Selbstständigkeit, wobei sie in Gemeindeverbänden wie Amtsgemeinden, Samtgemeinden oder Verbandsgemeinden zusammengefügt und verwaltungsmäßig betreut und vernetzt wurden.Vor allem in den Ländern Saarland, Hessen und Nordrhein-Westfalen herrschte damals die Idealvorstellung einer großen Einheitsgemeinde von mindestens 5000 bis 10 000 Einwohnern. So wurden in Nordrhein-Westfalen und Hessen nicht selten 30 und mehr Gemeinden zu weitflächigen Großgemeinden – mit nun riesigen Distanzen zwischen den einzelnen Ortschaften – zusammengelegt. Die den Gemeinden aufgezwungenen Gebietsreformen verursachten ein ganzes Bündel an negativen Folgen, die vor allem die eingemeindeten Orte trafen. So erwiesen sich die meisten Vorteile, die man sich versprochen hatte, inzwischen als Illusion: Die in den Dörfern existierende demokratische Basis wurde beseitigt. Denn ursprünglich hatten z. B. mittelgroße Dörfer einen Gemeinderat mit zwölf bis 18 Ratsmitgliedern, davon sind nach der Reform ein bis vier Vertreter für das Großgemeindeparlament übrig geblieben. Kleine Dörfer sind heute vielfach gar nicht mehr Der Verlust der kommunalen Selbstständigkeit hat vielerorts zu heftigen Protesten geführt, hier in Gültstein bei Herrenberg wurde der Protest des Dorfes öffentlich auf dem Giebel des alten Feuerwehrhauses platziert.

vertreten. Die früheren Möglichkeiten der kommunalpolitischen Bewährung und Meinungsbildung gerade auch für junge Menschen sind damit auf Null oder bestenfalls auf ein Minimum reduziert worden. Damit hat das seit Jahr-

328

Die Durchführung der kommunalen Gebietsreform lässt

hunderten geltende Leitbild der dörflichen Kommunalpo-

sich gut mit Zahlen belegen. Im Jahrzehnt zwischen 1965

litik, das auf »Kenntnis der Örtlichkeit« basiert, nun aus-

und 1976 wurden in der Bundesrepublik etwa 16000 Ge-

gedient. Des Weiteren sind die wenigen Kommunalpoliti-

meinden aufgelöst – damit verloren zwei Drittel aller west-

ker, die heute in den Großparlamenten sitzen, vielfältigen

deutschen Dörfer ihre politische Selbstständigkeit. Von ehe-

Interessen- und Zeitkonflikten ausgesetzt. Sie müssen sich

mals 24 411 Gemeinden sind 8506 übrig geblieben.281 Die

mit den Gegebenheiten und Wünschen des eigenen Dorfes,

Auflösung von 16 000 Gemeindeparlamenten führte zu-

der übrigen Dörfer, des Zentralortes sowie der Gesamtge-

gleich zu einer drastischen Reduzierung der Anzahl ehren-

meinde befassen. Der Zeitaufwand wächst, sodass es zu ei-

amtlich tätiger Kommunalpolitiker: Mit der Reform wur-

ner beruflichen Auslese kommt: Bauern und Handwerker

Das moderne Dorf

haben einfach keine Zeit mehr für diese ehrenamtliche Arbeit, Beamte und Angestellte dominieren nun die ländlichen Parlamente. Die viel zitierte Bürgernähe ist schon im wörtlichen Sinne verloren gegangen. Wer zum Bürgermeister oder ins Rathaus will, muss längere Wege in Kauf nehmen. Durch die Größe der Gemeinden wächst somit die Distanz zu den politisch Entscheidenden. Auch die Chance der Bürger, sich kommunalpolitisch einzubringen, ist reduziert worden. Die alten Ortsnamen, ein wichtiges Symbol der dörflichen Identifikation, sind vielerorts auf den Ortsschildern, in Urkunden, postalisch und nicht zuletzt auch in der amtlichen Statistik beseitigt worden. Insgesamt hat die Gebietsreform die Möglichkeiten der Mitgestaltung der Bürger in der dörflichen Politik grundlegend verschlechtert. Als Konsequenz ist eine wachsende kommunalpolitische Resignation zu beobachten. Die Rolle der Bürger hat sich vielerorts auf die Beobachtung und Annahme kom-

Die Degradierung des autonomen Dorfes zum eingemeindeten »Ortsteil« in der Karikatur.

munaler Leistungsangebote reduziert. Inzwischen ist auch das Kostenargument für Gebietsreformen entlarvt wor-

ter zuwege gebracht, die von allen guten Geistern verlassen

den: zahleiche neue Studien belegen, dass Gemeinde- und

sind. Und nun kommen sie und wollen an dem gesunden,

Kreiszusammenlegungen keine finanziellen Einsparungen

was sie verachtet und zerstört haben.«283

erbracht haben (ausführlicher dazu s. S. 271 ff).

In der DDR hat es keine Gebietsreform gegeben, sodass

Mit der Gebietsreform ist die große Mehrheit der deut-

im Wesentlichen der Gemeindebestand von 1939 bzw. 1945

schen Dörfer zu ohnmächtigen »Ortsteilen« abgesun-

bis 1990 konstant blieb. Durch die Gemeinde- und Kreis-

ken (schon dieser oft gebrauchte, vom Wortsinn aber fal-

ordnungen von 1946/47 wurde den Gemeinden und Krei-

sche Begriff zeigt die Diskriminierung). Die Konsequenz

sen das Recht der Selbstverwaltung bestätigt. Allerdings

der nun fehlenden lokalen Selbstbestimmung ist der poli-

gab es bereits seit den 1950er Jahren mehrere Gesetze zum

tisch nicht mehr gefragte und daher inaktive Dorfbürger.

strikten Aufbau einer zentralistisch strukturierten Staats-

Für den ländlichen Raum, aber auch für den Staat insge-

macht mit dem Ergebnis einer Aushöhlung der kommuna-

samt hat die Gebietsreform somit einen gewaltigen Demo-

len Selbstverwaltung. Mit der Wiedervereinigung 1990 be-

kratieverlust bewirkt. Die politischen und sozialen Folgen

kamen die Gemeinden entsprechend Artikel 28 des Grund-

der Reform sind offenkundig.282 Ein Blick in benachbarte

gesetzes ihre Selbstverwaltung zurück. Die fünf neuen

Länder mit langen demokratischen Traditionen wie die

Länder gaben sich bald neue Gemeindeordnungen und be-

Schweiz, England und Frankreich zeigt, dass lokale Selbst-

stätigten die kommunalen Einheiten.

verantwortung und Bürgerbeteiligung dort bis heute einen

Inzwischen sind auch in den neuen Ländern kommunale

hohen Stellenwert besitzen. Dies macht deutlich, welchen

Gebietsreformen durchgeführt worden. Bereits im Sommer

Sonderweg man in Deutschland mit der kommunalen Ge-

1990, also noch vor der Wiedervereinigung, gab es aus dem

bietsreform beschritten hat.

Westen einen entsprechend starken »Empfehlungsdruck«.

Der Schriftsteller Walter Kempowski hat für die sensi-

Insbesondere der Deutsche Städtetag und die westdeutschen

bel beobachtete kommunale Gebietsreform nur Sarkasmus

Ministerialbürokratien plädierten für eine möglichst ra-

übrig: »Dörfer wurden ›zusammengelegt‹ (mit dem Erfolg,

sche kommunale Gebietsreform in den neuen Bundeslän-

dass sich die Verwaltungskosten vervielfachten). Ja, was das

dern nach westdeutschen Vorbildern. Erfreulicherweise

Schlimmste ist, alte Namen verschwanden. In Niedersach-

folgten die neuen Länder den schnellen Ratschlägen der ge-

sen gibt es jetzt Dörfer, die N. B. I heißen. Dies haben Städ-

nannten Institutionen zunächst nicht und verzichteten auf

Dorfpolitik

329

Verlust der Autonomie) zusammenschließen. Deren Mindestgröße wurde auf 3000 bis 5000 Einwohner festgelegt. Die große Mehrheit der Dorfgemeinden entschied sich für die Variante Verwaltungsgemeinschaften/Ämter, welche die Vorteile kleiner, überschaubarer Gemeinden mit den Vorteilen großer, leistungsstarker Verwaltungen verbindet, die wir auch auf dem Land brauchen. Durch eine »zweite Welle« von Gebietsreformen haben die meisten neuen Länder jedoch inzwischen ihre liberale Haltung den Gemeinden gegenüber abgelegt und die Anzahl der selbstständigen Kommunen erheblich reduziert. Insbesondere die Länder Sachsen, Brandenburg, Thüringen und zuletzt auch Sachsen-Anhalt haben z. T. erhebliche Druck- und Lockmittel eingesetzt, um ihre eindeutigen Wunschvorstellungen – d. h. Großgemeinden – durchzusetzen. So wurden Geldmittel für eingemeindungswillige Orte angeboten oder die Mindestgrößen für »Ortsteile« und Verwaltungsgemeinschaften höher gesetzt, um die Aufgabe der dörflichen Autonomie zu erzwingen. Über die großen und teilweise noch anhaltenden Proteste und Widerstände der Bürger und Lokalpolitiker gegen diese demokratiefeindliche Politik von oben hat sich die Landespolitik hinweggesetzt. Der »Erfolg« der zentralistischen »Reformen« lässt sich an folgenden Zahlen ablesen: Die Anzahl der Gemeinden wurde in Brandenburg um 77 %, in Sachsen-Anhalt um 75 %, in Sachsen um 70 % und in Thüringen um 44 % reduziert. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern ist die kommunale Gebietsreform bislang maßvoll und auf freiwilliger Basis durchgeführt worden. Die AnDie Gemeinde Ermershausen in Unterfranken konnte sich aus der Eingemeindung »befreien« und errichtete zur Erinnerung an die Rückgewinnung der Selbstständigkeit diesen Gedenkstein in der Dorfmitte.

zahl der (vielfach recht kleinen) Gemeinden ist hier nur um 27 % zurückgegangen. Man orientiert sich offenbar am Vorbild der westlichen Nachbarländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die die Autonomie der Landgemeinden bis-

eine Beseitigung der Gemeinden. Man hatte offenbar aus

330

her ebenfalls nicht angetastet haben.

der eigenen Geschichte mit der zentralstaatlichen Bevor-

Deutschlandweit haben bis heute etwa 20 000 Dörfer

mundung der Gemeinden gelernt und sicherlich auch von

und Kleinstädte ihre gemeindliche Selbstverantwortung

den negativen Erfahrungen der Gebietsreformen in West-

mit Bürgermeister und Gemeinderat verloren und sind

deutschland gehört. Stattdessen wollte man den Dörfern

in Großgemeinden aufgegangen. Damit wurden rund

und Kleinstädten und ihren Bürgern die echte Chance ge-

300 000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker aus ih-

ben, eine lokale Kommunalpolitik als Schule der Demokra-

ren Ämtern entlassen. Ein kleines Beispiel für die Entmün-

tie aufzubauen. So wurde es den ländlichen Gemeinden zu-

digung der Dörfer: Wo früher die marode Friedhofsmauer

nächst freigestellt, ob sie sich zu Verwaltungsgemeinschaf-

durch Bürgermeister und Gemeinderat in Augenschein ge-

ten oder Ämtern (wobei sie politisch selbstständig bleiben

nommen und zeitnah und kostengünstig saniert wurde, be-

würden) oder aber zu Einheits- bzw. Großgemeinden (mit

ginnt heute ein langwieriger und kostspieliger Behörden-

Das moderne Dorf

und Aktenmarathon mit mehrfachen Bereisungen von entfernten Kommissionen, in denen kein ortskundiger und engagierter Dorfbürger mehr gefragt und gebraucht wird. Aufgrund der negativen Erfahrungen, die man bereits in Westdeutschland mit der kommunalen Gebietsreform gemacht hat, sind inzwischen ein paar »Verbesserungen« für die eingemeindeten Dörfer geschaffen worden. So bieten die meisten Gemeindeordnungen heute die Möglichkeit, Gemeindebezirks- oder Ortsbeiräte (als Ersatz für die aufgelösten alten Gemeinderäte) oder das Amt des Ortsvorstehers einzurichten. Die Befugnisse dieser Gremien und Ämter sind allerdings nur sehr bescheiden ausgestaltet. In der Regel handelt es sich hier um Anhörungs-, Beratungs- und Vorschlagsrechte für den Großgemeinderat. Fast durchgängig stehen die Dorfnamen wieder auf den Ortsschildern, nachdem man sie zunächst durch Nummern ersetzen wollte: Lahn 1 und 2 (für Gießen und Wetzlar) oder Schmallenberg 17 (für Oberkirchen) Vielerorts sind in den eingemeindeten größeren Dörfern auch (temporäre) Verwaltungsnebenstellen und Bürgersprechstunden eingerich-

Ein symbolträchtiges Bild, ein Gemeindeamt auf dem Lande, irgendwo in Deutschland, über das der Betrachter nur sinnieren kann: steht das Gebäude leer, weil hier wie in über 20 000 deutschen Dörfern und Kleinstädten die lokale Selbstverantwortung durch wohlklingende »Gebietsreformen« beseitigt wurde, oder wartet eine arme entmündigte Gemeinde schon länger nur auf die Mittel zur Bausanierung aus irgendeinem Fördertopf »von oben«?

tet worden, um wenigstens stundenweise die vor der Reform propagierte »Bürgernähe« zu praktizieren. Die meisten

gehört zu den wenigen Orten im Hassberge-Kreis, die eine

deutschen Dörfer dürften allerdings ihren Traum von der

positive Einwohnerentwicklung zu verzeichnen haben.«284

Befreiung aus den erzwungenen Eingemeindungen weiter-

Im Rückblick ist die kommunale Gebietsreform ein Pro-

träumen. Einige »Rebellendörfer« bzw. »Protestgemeinden«

dukt der 30er und frühen 40er sowie der 60er und 70er

wie Ermershausen, Horgau, Tettenweis und Türkenfeld in

Jahre des 20. Jahrhunderts, als man in Wissenschaft und

Bayern haben dies bereits geschafft. Sie haben sich mit der

hoher Politik glaubte, mit zentralen Modellen die ganze

zwangsweisen Eingemeindung per Gesetz nicht abgefun-

Gesellschaft von oben nach unten steuern und verbessern

den, haben dem Staat die Stirn geboten und sind in die Frei-

zu können. Der Glaube an die Kompetenz und Leistungs-

heit entlassen worden. In diesen Gemeinden blüht das lo-

kraft der Bürger und kommunalen Politik auf dem Land

kalpolitische Leben.

war in der Elite des Staates nicht vorhanden. Eine entspre-

Ermershausen hat sich in der Dorfmitte einen Gedenk-

chende Wissenschaftslobby gab es kaum. Erst ab den 1980er

stein in Erinnerung an die kommunalpolitische Befrei-

Jahren beurteilte man die rigiden Gebietsreformen mit zu-

ung von 1993 gesetzt. Heute hat das Dorf etwa 630 Einwoh-

nehmender Skepsis und teilweise Verachtung. Bemerkens-

ner und gehört zur Verwaltungsgemeinschaft Hofheim.

wert ist das Bekenntnis des bekannten Soziologen Albert

Der ehrenamtliche Bürgermeister Werner Döhler zieht ein

Ilien, der das Dorf Hausen während der Gebietsreform 1971

kurzes Fazit der selbstständigen Gemeindeentwicklung

mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung inten-

seit 1993: »Die Befreiung aus der Eingemeindung hat sich

siv untersucht hat und sich elf Jahre später über den Voll-

auf das Gemeindeleben äußerst positiv ausgewirkt. Der da-

zug der Gebietsreform und seine damalige Auffassung dazu

malige lange und schließlich erfolgreiche Protest hat das

nur wundern kann: »Mitte 1971 empfand ich die Möglich-

Dorf zusammengeschweißt und stolz gemacht. Gemeinde-

keit eines Verlustes der kommunalpolitischen Autonomie

rat und Bürgerschaft arbeiten in wichtigen Dorfangelegen-

für Hausen als nicht besonders aufregend. Die Hausener

heiten eng zusammen. Die Menschen wissen, dass die kom-

schienen mir – gerade durch ihre innerdörflichen kollek-

munale Selbstverwaltung ein hohes Gut ist. Ermershausen

tiven Eigenarten – mit ihrer kommunalpolitischen Selbst-

Dorfpolitik

331

332

ständigkeit überfordert. […] Wenn ich heute, nach elf Jah-

Kleinstädte großen Schaden zugefügt und zugleich die die

ren, an die Eingemeindung Hausens zurückdenke, muss ich

demokratische Basis des Staates massiv beschädigt. Die Eli-

staunen: wie diese Eingemeindung seinerzeit ›durchgezo-

ten in Staat und Gesellschaft scheint das nicht zu beunru-

gen‹ werden konnte. Ein anderes Erstaunen ist in den letz-

higen.

ten Jahren sogar noch gewachsen: wie wenig mir diese Vor-

Zu den bundesweit aktivsten Dörfern gehören die klei-

gänge bedeutet haben, wie wenig Gespür ich damals für

nen, selbstständigen Gemeinden Ummendorf, Weyarn, Bär-

das hatte, was sich vor meinen Augen abspielte. Zweifel-

weiler und Langenfeld. Wäre das hier anzutreffende außer-

los war damals die allgemeine Wertschätzung des lokal Be-

gewöhnliche Engagement der Bürger ohne das Rückgrat ei-

sonderen weit weniger entwickelt als heute.«

Die Dorf-

ner eigenen Gemeinde, eines eigenen Bürgermeisters und

bewohner bleiben skeptisch, ob die Wissenschaft ihre Vor-

Gemeinderats denkbar? Der stellvertretende Bürgermeister

285

stellungen und Wünsche wirklich wahr- und ernst nimmt.

der fränkischen Gemeinde Langenfeld gibt eine Antwort

Als ich auf einer Tagung im Kreis Lippe 1988 davon berich-

auf diese Frage. Langenfeld hatte im Jahr 2009 im Wett-

tete, dass die Wissenschaft nun dabei sei, sich intensiver mit

bewerb der Wüstenrot Stiftung »Land und Leute – Kleine

den negativen Folgen der Gebietsreform zu befassen, be-

Gemeinden gestalten ihre Zukunft im demographischen

merkte ein älterer Kommunalpolitiker eines eingemeinde-

Wandel!« den ersten Preis gewonnen für die Umnutzung ei-

ten Dorfes lapidar: »Es ist doch erstaunlich, dass die Studiker

ner ehemaligen Scheune im alten Dorfkern zu einem mul-

jetzt merken, was wir seit 20 Jahren gelitten haben!«

tifunktionalen Begegnungs- und Veranstaltungszentrum

Das Signal der Gebietsreformen an über 20 000 deut-

für alle Generationen nach dem Motto »Dorflinde. Mitten

sche Dörfer und Kleinstädte mit ihren Bürgermeistern und

im Dorf – Mitten im Leben«. Wolfgang Rückert: »Wich-

rund 300 000 ehrenamtlichen Gemeinderäten lautete:

tig war, dass Langenfeld mit seinen 1040 Einwohnern noch

»Wir brauchen Eure lokale Kompetenz, Euern Denken,

eine selbstständige Gemeinde mit eigener Finanzhoheit ist.

Fühlen und Handeln für Euer Dorf nicht mehr. Dieses Sig-

So konnten die Bürger direkt für das Projekt ›Dorflinde‹

nal war für mich der Beginn des »inneren Dorfsterbens«. Für

gewonnen und einbezogen werden. Ginge Langenfeld in

den Neuzeithistoriker Wolfgang Reinhard war die Gebiets-

einer Großgemeinde auf, wie das Tausenden Dörfern durch

reform der 70er Jahre das Ende der Demokratie in Deutsch-

Gebietsreformen in Bayern und anderen Bundesländern

land (SZ v. 9. 4. 2017). Viele Dörfer und Kleinstädte sind bis

aufgezwungen wurde, dann sind solche Gemeinden wie

heute durch den Verlust ihres lokalen Kompetenz-, Ver-

unsere tot.«286 Werden derartige »Weckrufe« von der Basis

antwortungs- und Kraftzentrums traumatisiert. Gebiets-

in den Parlamenten und Staatskanzleien der Länder gehört

reformen haben der Mehrheit der deutschen Dörfer und

und verstanden?

Das moderne Dorf

Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung Zwei Szenarien zur Entwicklung des ländlichen Raumes

Wer prägt das Leben in den Dörfern und Kleinstädten

lerweise aussehen? Im Folgenden werden zwei alternative

mehr: die Politiker und ihre Berater in den großen

Szenarien für die Zukunft vorgestellt.

Zentren oder die Politiker und Bürger auf dem Land? Die Antwort ist eindeutig: Die Fernsteuerung von oben

Szenario 1: Die Fernsteuerung und Fremdbestimmung des

nach unten dominiert, was nicht selten der ländlichen

Landes hat zwei Facetten – eine grundsätzliche und eine in-

Entwicklung schadet und außerdem eine Politik-

haltliche. Grundsätzlich sind durch die Dominanz der Zen-

verdrossenheit in den Gemeinden und Dörfern fördert.

tralen die Gestaltungsspielräume der ländlichen Kommu-

Hat der ländliche Raum angesichts seiner starken

nen immer kleiner geworden. Dadurch ist die kommunale

Fremdbestimmung durch die Zentralen überhaupt noch

Kompetenz auf dem Land immer mehr ausgehöhlt worden.

die Chance zu einer eigenständigen Entwicklung?

In der Lokalpolitik und der Bürgerschaft entwickelt sich ein Gefühl von Bevormundung, Ohnmacht und Resigna-

Generell bewegt sich die Entwicklung des ländlichen Rau-

tion.

mes zwischen den beiden Polen der Fernsteuerung durch

Die inhaltliche Fernsteuerung der »Provinz« durch die

Bund und Länder sowie der endogenen (d. h. der eigenen,

zentralen Raumordnungs- und Fachpolitiken hat neben ei-

von »innen« kommenden) Selbstbestimmung. Wünschens-

nigen positiven Impulsen auch viele negative Entwicklun-

wert wäre ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des

gen gefördert. Hierzu ein paar Beispiele:

Staates und der Selbstorganisation der lokalen Gemein-

Die staatliche Dorfsanierung der 1960er und 1970er

schaft durch Kommunen und Bürger. Der ländliche Raum

Jahre hat – wie der damalige Wettbewerb »Unser Dorf soll

leidet jedoch seit Jahrzehnten an einer Fremdbestimmung

schöner werden« – die gewachsenen Werte des Dorfes, wie

durch die Zentralen der Macht in Politik, Wirtschaft, Wis-

z. B. die historische Baukultur, ignoriert und vielfach besei-

senschaft und Medien, die meist in den großen Städten an-

tigt. Durch wechselnde »städtebauliche« Moden sind, dem

gesiedelt sind. Was würde es für ihn bedeuten, wenn dieser

jeweiligen Zeitgeist entsprechend, viele Dörfer umgestal-

Trend so weiterginge? Oder wenn wir die bereits aufkom-

tet und aus heutiger Sicht verschandelt worden. Dies gilt

menden Hoffnungszeichen für eine größere eigenständige Entfaltung in den letzten Jahren betrachten: Wie würde eine endogene Entwicklung des ländlichen Raumes idea-

Abbildung oben: Das Land erfüllt zahlreiche Aufgaben für die Gesellschaft, hier durch die Transrapid-Versuchsstrecke im Emsland.

Dorfpolitik

333

u. a. für den Ausbau von Straßen und Plätzen oder für die

Gestalt von Bund und Ländern verwehrt dem Land, seine

Behandlung von Dorfbächen, die man häufig ohne zwin-

Zukunft durch kommunale Selbstverantwortung und bür-

gende Gründe kanalisierte oder verrohrte.

gerschaftliches Mitwirken selbst in die Hand zu nehmen.

Die von der staatlichen Raumordnung initiierten kom-

Wie selbst ein an sich begrüßenswertes »Leitbild Kultur-

munalen Gebietsreformen haben der großen Mehrheit der

landschaft« zu einer äußerst fragwürdigen inhaltlichen

deutschen Dörfer ihre in Jahrhunderten gewachsene lokale

Fernsteuerung werden kann, zeigte sich vor gut 20 Jahren

Selbstverantwortung und damit auch ihr Selbstbewusst-

in Nordrhein-Westfalen. Die Ministerialverwaltung über-

sein genommen, indem sie die Dörfer eingemeindete und

raschte die Kommunen mit einer Karte »13 wertvolle Kul-

zu »nicht-zentralen Orten« abqualifizierten. Durch andere

turlandschaften«, wozu u. a. das Feuchtgebiet Unterer Nie-

zentralistische Reformen wurden Schulen, Kindergärten

derrhein und die Waldlandschaften zwischen Alme und

und Polizeistationen aus den Dörfern entfernt. Andere

Diemel gehörten.287 Mit einer typischen Leitbildsetzung

Aufbauleistungen früherer Generationen wie Post und

von oben nach unten wurde hier eine willkürliche Sach-

Bahn zogen sich immer mehr aus der »Fläche«, d. h. aus

auswahl getroffen, wobei es sich eher um wertvolle »Natur-

zahllosen ländlichen Siedlungen, zurück. In der Agrarpoli-

räume« handelte als um Kulturlandschaften. Diese Auswahl

tik waren die Empfehlungs- und Förderungswellen häufig

vermittelte einen völlig falschen Eindruck von der Verbrei-

undurchsichtig, wechselhaft und aus der Sicht der Bauern

tung und dem Wert der tatsächlichen Kulturlandschaften

vielfach unsinnig. Mal wurde das Abholzen von Obstbäu-

in Nordrhein-Westfalen, an denen es sowohl in Westfalen

men gefördert, mal die Erhaltung von Obstwiesen – mal

als auch im Rheinland keinen Mangel gibt. Am meisten

die Beseitigung von Sümpfen, mal das Anlegen von »natür-

werden sich die zahlreichen Gemeinden, denen keine wert-

lichen« Feuchtgebieten. Zentrale Leitbilder führten häufig

vollen »Kulturlandschaften« von oben zugewiesen wurden,

zu einer Uniformierung der Kulturlandschaft. Lokale und

gewundert haben. Denn sie haben fast alle überaus reich-

regionale Unterschiede und Besonderheiten gingen mehr

haltige, in langer Geschichte geprägte Kulturlandschaften

und mehr verloren.

aufzuweisen.

Fortgesetzt werden Dörfer und Landgemeinden durch

Resümee: Bei einer Fortsetzung der zentralistischen

Landes- und Gebietsentwicklungspläne in ihrer zukünfti-

Trends und Leitbilder könnten ländliche Räume und Dör-

gen Entwicklung gebremst und entmutigt. Selbst die Aus-

fer im Jahr 2040 – knapp generalisiert – folgendermaßen

weisung kleinerer Bau- und Gewerbegebiete wird ihnen

aussehen. Ländliche Räume sind endgültig zur machtlo-

verwehrt. Somit wird den Bürgern und Kommunalpoli-

sen Vefügungsmasse der Verdichtungsgebiete geworden.

tikern untersagt, die ökonomischen und infrastrukturel-

Durch die vornehmlich auf die Metropolen ausgerichtete

len Zukunftschancen durch Ideenreichtum, Tatkraft und

Politik ist der ländliche Raum vor allem politisch und wirt-

»Herzblut« für ihre Heimatorte zu verbessern. Der Staat in

schaftlich abgesunken. Die ländlichen Kommunen werden von Bund und Ländern ferngesteuert und haben ihre Chancen auf eigenständige Entwicklung und Entfaltung weitgehend verloren. Außerdem sind die meisten deutschen Dörfer ohnmächtige »Ortsteile« einer großflächigen Einheitsgemeinde. In ihren Bemühungen um lokale Infrastruktur und Arbeitsplätze sind sie auf sich allein gestellt. Ohne eigenen Bürgermeister und Gemeinderat herrschen in der dörflichen Bevölkerung kommunalpolitische Apathie und ein Rückzug ins Private und Vereinsleben. Bei nüchterner Betrachtung kann man die fortgesetzte Fernsteuerung und Entmachtung der Dörfer und Landgemeinden durch Bund und Länder als systemisch-strukturelle Machtausübung von oben nach unten bezeichnen. Wie

Neuhof am Schaalsee ist auf dem Weg zu einem Bioenergiedorf, ein derzeit häufiges Beispiel für die Eigenentfaltung ländlicher Gemeinden.

334

Das moderne Dorf

Zu den größten Werten des Landes gehören seine Kultur- und Naturlandschaften wie hier die Kreidefelsen auf Rügen. Wird deren Pflege und Erhaltung auch von der Gesellschaft honoriert?

das Wirtschaftssystem unterstützt das politische System das

nungs- und Fachplanungspolitik vonnöten ist, die vor al-

Große, nicht das Kleine. Die vielfältigen Verluste, die Dör-

lem dessen Kompetenz und Regelungskraft nutzt.

fer und Landgemeinden durch Entmündigung, Entdemo-

So erklärte die Bundesregierung erstmals im Jahr 1990

kratisierung, zu geringe Unterstützung und Kappung der

(im Raumordnungsbericht des Bundes) die Förderung

Gestaltungsfreiheit erleiden, können nur teilweise durch

des »endogenen Potenzials des ländlichen Raumes« zu ei-

ein außergewöhnliches Engagement der Bürger und der

nem Leitziel der Raumordnungspolitik. Eine solche (verba-

Kommunalpolitik kompensiert werden.

le) Kehrtwende ist allerdings nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Die etablierten Steuerungsmächte der Zentralen

Szenario 2: Trends der eigenständigen Entwicklung. Ne-

möchten natürlich nur ungern etwas von ihren gewohn-

ben dem Haupttrend der Fernsteuerung der »Restkatego-

ten Befugnissen abgeben. Doch es gibt zunehmend konkre-

rie« ländlicher Raum sind ab den frühen 1980er Jahren zu-

te Hoffnungszeichen für eine dorfgerechte Politik. So sind

nehmend Bemühungen zu beobachten, die das Dorf mit

in den meisten Bundesländern die Mindestquoten für dörf-

seinen Eigenwerten respektieren und entwickeln wollen.

liche Grundschulen, die z. B. in Nordrhein-Westfalen in

Auf den Ebenen des Bundes und der Länder sowie in den

den 1990er Jahren noch bei 112 Schülern lagen (was viele

Wissenschaften hat sich mehr und mehr die Einsicht durch-

Eltern und Kommunalpoliker auf dem Land zur Verzweif-

gesetzt, dass für den ländlichen Raum eine neue Raumord-

lung gebracht hatte), erheblich reduziert worden. Die staat-

Dorfpolitik

335

Ollarzried in Bayern hat schon mehrfach seine innere Kraft gezeigt. Hier packt das kleine 340-Einwohner-Dorf wieder an …

liche Dorferneuerungsförderung befasst sich längst nicht

oder 20 Jahren aussehen könnte oder sollte. Oder es geht

mehr vorrangig mit Fassaden, Brunnen und »städtebauli-

um konkrete Projekte wie die Nutzung des leer stehenden

chen« Dorfplätzen, sondern mit Existenzfragen des Dorfes

Schulgebäudes oder die Erhaltung der Pfarrbücherei. Die

wie Gebäudeleerstand und Infrastrukturdefiziten wie Kin-

in jüngster Zeit massenhaft auf dem Land neu gegründe-

derbetreuung und Altenhilfe. Mit neuen Heimatministe-

ten ganzheitlichen Dorfvereine (»Förderverein Unser West-

rien in Bund und Ländern versucht der Staat, das Vertrauen

heim«) scheinen in mancher Weise die Arbeit der früheren

der Bürger und Kommunalpolitiker auf dem Land zurück-

Gemeinderäte fortzuführen.

zugewinnen.

336

Resümee: Die Verstärkung dieser positiven Trends ei-

In der dörflichen Bürgerschaft selbst ist seit den 1990er

ner endogenen Dorfentwicklung könnte bis zum Jahr 2040

Jahren ein wachsendes Lokalbewusstsein zu beobachten.

zu folgenden Ergebnissen führen. Ländliche Regionen sind

Häufig wurden neue Heimat- oder Bürgervereine gegrün-

politisch und wirtschaftlich erstarkt und in ihrem Eigen-

det, um – quasi im außerparlamentarischen Raum – ge-

wert von den urbanen Zentren respektiert. Das lokalpoliti-

samtdörfliche Interessen zu verfolgen. Hier werden grund-

sche Denken und Handeln ist nach dem Trauma der kom-

sätzliche Fragen angesprochen, z. B. wie das Dorf in zehn

munalen Gebietsreform in viele Dörfer zurückgekehrt.

Das moderne Dorf

… und gestaltet den vielfach zu nutzenden Dorfplatz selbst.

Das Dorf ist wieder – wie früher – ein Standort mit Inf-

gischen und z. T. auch Imagegründen neue Nationalparke

rastruktur und vielseitigen wirtschaftlichen Aktivitäten.

ausweisen, wie z. B. derzeit im Raum Senne/Teutoburger

Eine dezentrale Raumordnungs- und Förderpolitik lässt

Wald in Nordrhein-Westfalen. Die groß- und kleinbäuer-

dies wieder zu. Das Dorf mit seinen kulturellen, sozialen

lichen Waldeigentümer sorgen sich nun um ihre Rechte an

und baulichen Eigenwerten wird von seinen Bewohnern

ihren in Jahrhunderten aufgebauten Waldbeständen. Auch

geliebt und als Lebensmitte geschätzt, obwohl sie durch

das waldnutzende Handwerk und Gewerbe, in vielen länd-

vielfältige Kontakte immer mehr mit einer globalisierten

lichen Regionen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, befürch-

Welt verbunden sind.

tet Standortnachteile für ihre dörflichen Betriebe und Arbeitsplätze. Werden diese ländlich-regionalen Interessen

Ein typisches Beispiel dafür, wo zentrale Wünsche des Staa-

und Bedürfnisse von den Befürwortern der Nationalpar-

tes und handfeste Interessen der Landbewohner aufeinan-

kidee nicht ausreichend ernst genommen, wird es wohl

derstoßen können, sind die Nationalparke, die häufig in

kaum zu einer »Umwidmung« von bisher wirtschaftlich

waldreichen Regionen anzutreffen oder geplant sind. Bund

genutzten Flächen kommen.

und Länder sowie regionale Verbände möchten aus ökolo-

Ob das Machtgefälle zwischen Stadt und Land wirklich

Dorfpolitik

337

wässerschutz betreibt und gute Nahrungsmittel mit ökologischen und tierethisch akzeptablen Methoden herstellt. Aber vorläufig verlangt die Stadt durch das Diktat der Ökonomie eine immer weitergehende Rationalisierung, die auf die weitgefassten Funktionen des ländlichen Raumes keine Rücksicht nimmt.«290 Es ist zu hoffen, dass sich das derzeitige Kräftespiel zwischen Stadt und Land möglichst bald zu einer fairen Partnerschaft mit Interessenausgleich entwickeln wird. Auf lange Sicht sehen Albert Herrenknecht und Jürgen Wohlfahrt den ländlichen Raum sogar im Vorteil: »Das Land ist ganzheitlicher, denn es kann ohne die Stadt (über)leben; die Stadt dagegen ist der unvollständigere Teil, denn sie kann ohne das Land aus eigener Kraft nicht überleben.«291 Insgesamt verfügt der ländliche Raum über gute Nachhaltigkeitsressourcen, die längst nicht nur in seinen Im neu geschaffenen Dorfzentrum von Langenfeld sitzen Alt und Jung an einem Tisch. Die Chancen und Lebensfreude des Dorfes werden hier sichtbar.

großen naturnahen Flächen liegen. Nach Herrenknecht und Wohlfahrt besitzt der ländliche Raum gegenüber den Großstädten erhebliche Nachhaltigkeitsvorteile: u. a. weil

abgebaut werden kann, bleibt fraglich. Der bekannte So-

das Erfahrungswissen im Umgang mit der Natur auf dem

ziologe Peter Atteslander hält dies für eine Illusion. Seine

Land noch breiter gespeichert ist als in den durchmoderni-

pessimistische Zukunftsvision sind »voll ferngesteuerte

sierten Städten. Weil hier noch »Nachhaltigkeitskerne« wie

und fremdentwickelte ländliche Gebiete«.

In jünge-

Mühlen, Wasserkraftwerke oder Vermarktungsstrukturen

ren Studien wird darauf aufmerksam gemacht, dass das ge-

vorhanden sind, die wieder aktivierbar sind. Weil hier Ge-

genwärtige Stadt-Land-Verhältnis parasitär ist, dass sich

meinsinn und eine Kultur des Mitmachens und Mithelfens

ein einseitiges Nutzungsverhältnis zum Vorteil der Städte

erhalten geblieben sind, auf die im Bedarf zurückgegriffen

288

und zum Nachteil des ländlichen Raumes ausgebildet hat.

werden kann. Nicht zuletzt bieten Grundbesitz und Ma-

Das renommierte Wuppertal-Institut wirft in seiner um-

schinenverfügbarkeit sowie die noch vorhandenen Klein-

fassenden Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« den Bal-

strukturen in Handwerk, Landwirtschaft und Hobbyland-

lungsgebieten vor, den ländlichen Raum ohne Gegenleis-

wirtschaft ganz andere Möglichkeiten für konkretes Han-

tungen auszubeuten: »Die Ballungsgebiete bzw. die dort le-

deln und Gestalten als das Mietwohnen in der Stadt.

bende Bevölkerung nutzen die sie umgebenden ländlichen

Somit kommen wir zum Fazit der komplexen politischen

Räume aus. Das Wasser, die Luft, die Nahrungsmittel, der

Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land: Der länd-

Platz für Abfälle, der Raum für Erholung, für Siedlungs-

liche Raum bietet nicht nur Wohn-, Arbeits- und Lebens-

und Verkehrsflächen, die Rohstoffe, die biologische Viel-

raum für die Hälfte der Bevölkerung. Er erbringt darüber

falt, all das erzeugen oder erhalten die ländlichen Räume

hinaus für den Gesamtstaat auf 90 % der Fläche vielfältige

für die Gesellschaft, doch bezahlt werden nur wenige Leis-

ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Leistun-

tungen.«

gen. Der Staat sollte diese Leistungen anerkennen und un-

289

Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht Ernst Ulrich von

terstützen. Auch die Zentren sollten dem Land auf Augen-

Weizsäcker in einem fairen Interessenausgleich zwischen

höhe entgegentreten und auf jedwede Art einer »Kolonisie-

Stadt und Land: »Die ökologischen Funktionen des länd-

rung der Fläche« verzichten. Ein faires Geben und Nehmen

lichen Raumes müssen von den Städten angemessen be-

zwischen Stadt und Land ist vonnöten.

zahlt werden, dann kann der umweltbewusste Städter auch verlangen, dass die Landwirtschaft Artenschutz und Ge-

338

Das moderne Dorf

Ein knappes Fazit

Zu Füßen von Schloss Langenburg liegt malerisch das alte Dorf Bächlingen im Hohenloher Land. Hier mussten früher die Pferde gewechselt werden, wenn die Postkutschen von den Höhen ins Jagsttal heruntergerumpelt kamen. Heute ist Bächlingen Ausgangspunkt zu stillen Wanderungen.

Mehr Licht als Schatten Das deutsche Dorf heute und ein Blick nach vorn

Was würde ein Dorfbewohner von 1800 empfinden,

Generationen kennt, durch Geschichten, Erinnerungen

wenn er heute in sein Dorf käme? Würde er noch

und Wertvorstellungen, die man weitergibt. Selbst die mo-

etwas wiedererkennen? Wahrscheinlich nur die Kirche,

derne Dorfforschung orientiert sich gern am alten Dorf.

den Gutshof und ein paar Fachwerkhäuser. Was würde

Sie nimmt immer noch Merkmale aus früheren Zeiten zu

er wohl am meisten bestaunen oder bewundern?

Hilfe, wenn sie das heutige Dorf definiert. Sie spricht vom

Vielleicht den modernen Kindergarten und die Sport-

Dorf, wenn die agrarische Wirtschaft das heutige Ortsbild

anlagen, die technisch perfekte Wasser- und Energie-

prägt – und sei es auch nur noch optisch durch den Bestand

versorgung, die Feldwege, die Sauberkeit der Häuser

alter Bauernhäuser.

und Straßen, den Wohlstand und die »neuen Berufe«

Wie sieht nun ein typisches Dorf von heute aus? Zu-

der Dorfbewohner. Was würde unser Vorfahre wohl

nächst ist eine grundsätzliche Einschränkung zu machen:

vermissen? Vielleicht den Zusammenhalt in den

Natürlich gibt es nicht das typische deutsche Dorf! Die

großen Familien und Hausgemeinschaften. Die dörf-

enormen Unterschiede zwischen den rund 35 000 deut-

lichen Feste und den Feierabend, bei dem man zusam-

schen Dörfern verbieten es eigentlich, ein typisches Dorf

mensaß, Freud und Leid teilte und sich Geschichten

auszuwählen. Wie groß sollte das ausgewählte Dorf sein,

erzählte. Und das Gefühl einer dörflichen Solidarität?

soll es 300 oder 3000 Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Großstadt liegen oder »weit ab« in Mecklenburg oder

Das deutsche Dorf hat in den letzten 220 Jahren den Sprung

der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region soll es sein:

in die moderne Zeit gemacht. Es hat wirtschaftlich, sozial

aus den Küstengebieten und dem Tiefland, dem Mittelge-

und vom Dorfbild her eine neue Identität gewonnen (wie

birge oder dem Alpenvorland? Soll es ein Börden- oder ein

natürlich auch die Stadt). Die alte Agrargesellschaft, die

Winzerdorf sein? Welche ökonomischen Schwerpunkte soll

um 1800 noch den ganzen Staat prägte, gilt nun auch auf

das Dorf haben? Ist das Dorfbild eher durch historische

dem Land nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Gemein-

oder moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert haben

samkeiten zwischen dem alten und dem modernen Dorf.

kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein wachsendes

Aber dennoch ist das frühere Dorf nicht völlig verschwunden. Es wirkt weiter: durch seine alten Gebäude, durch den Boden, den Bach, den Wald, das Lokalklima, das man seit

340

Ein knappes Fazit

Abbildung oben: Das harmonisch in der Flur liegende Dorf ist ein Merkmal unserer Kulturlandschaft: gerade für Großstädter faszinierend!

oder schrumpfendes, ein lebendiges oder ein lethargisches

sächlich von mehreren Aussiedlerhöfen aus betrieben, die

Dorf ausgesucht werden?

von 1955 bis 1975 in der Feldflur errichtet worden sind.

Wir wählen ein mittelgroßes Dorf mit etwa 1000 Ein-

Neben den Landwirten gibt es in Kirchhusen heute noch

wohnern und nennen es »Kirchhusen«. Es liegt irgendwo

einige Handwerksbetriebe: eine Tischlerei, einen Elektro-

in der Mitte Deutschlands, ca. 35 km von einer kleineren

und Sanitärbetrieb, eine Bäckerei, einen Kfz-Betrieb mit

Großstadt entfernt. Das Dorf hat klar erkennbar noch einen

Tankstelle, dazu kommen eine Versicherungsagentur, ein

historischen Kern mit Kirche, Schulgebäude und älteren

Steuerberater und ein Architekturbüro. Zur Infrastruktur-

Bauernhäusern. Hier präsentiert sich das Dorf mit seinen

versorgung gehören ein Kindergarten, ein Feuerwehrhaus,

»schönen« Seiten. Aber es gibt auch »normale« Dorfbilder,

ein Lebensmittelladen (der in Kürze schließen wird), ein

wo sich Altes und Neues kunterbunt mischt, und auch ein

Gasthof mit Saal und Kegelbahn, eine Bankfiliale und eine

paar »hässliche« Ecken. Am Dorfrand befinden sich zwei

Postagentur. Die lokale Volksschule musste im Rahmen ei-

Neubaugebiete, das eine relativ geschlossen aus den 1950er

ner großen Schulreform vor etwa 40 Jahren, die Grund-

Jahren, ein zweites mit Häusern der 1960er Jahre bis heute.

schule schließlich vor 20 Jahren aufgegeben werden, was

Nur noch in zwei Bauernhäusern des Dorfkerns wird heute

bis heute bedauert wird. Seit einigen Jahren ist die örtliche

Landwirtschaft (im Nebenerwerb) betrieben, die übrigen

Kirchengemeinde Teil eines Pastoralverbundes und muss

werden als Wohnhäuser genutzt. In ein ehemaliges Bauern-

sich inzwischen mit mehreren Nachbargemeinden einen

haus ist ein Antiquitätengeschäft eingezogen, in ein weite-

Pfarrer teilen. Zur Erfolgsbilanz des Dorfes zählt sein ho-

res ein Handwerksbetrieb, zwei alte Hofstellen stehen weit-

her Standard an technischer Infrastruktur: die Wasserver-

gehend leer. Die lokale Landwirtschaft wird heute haupt-

und -entsorgung, das Strom- und Gasnetz, die Versorgung

Pferdezucht und Reitsport sind auf dem Lande weit verbreitet. Sie sind für viele Menschen ein Kernelement des dörflichen Lebensstils und vielerorts auch ein Wirtschaftsfaktor.

Das deutsche Dorf im Jahr 2011

341

Auch Dörfer im Mittelgebirge haben Charme und Lebendigkeit: Gersbach im Schwarzwald ist Goldsieger im Wettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft«.

mit den modernen Kommunikationsmedien Telefon, Fern-

in Kreis-, Finanz- oder Justizverwaltungen. Ihre täglichen

sehen und Internet.

Ziele sind benachbarte Kleinstädte oder auch die 35 km ent-

Generell hat unser Dorf in den zurückliegenden Jahr-

342

fernte Großstadt.

zehnten einen Großteil seiner Arbeitsplätze und Infra-

Zu den Errungenschaften des heutigen Dorfes gehören

struktureinrichtungen verloren, vor allem in der Land-

seine Sport-, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Diese

wirtschaft und im lokalen Handwerk. Außerdem haben

werden überwiegend von Vereinen getragen, so auch in

in den letzten Jahrzehnten mehrere Dorfläden und Gast-

Kirchhusen. Der Sportverein betreibt zwei Rasensport-

höfe geschlossen. Die Dorfbewohner haben ihren Arbeits-

plätze und eine kleine Sporthalle, der Tennisverein zwei

platz heute überwiegend außerhalb des Dorfes – sie sind zu

Tennisplätze, jeweils mit einem zugehörigen Sportheim.

Pendlern geworden. Viele Dorfbewohner üben heute ehe-

Dazu kommen drei Spielplätze, die von einem Förderver-

mals »städtische« Berufe aus: Sie sind Arbeiter und Ange-

ein gepflegt werden. Den kulturtreibenden Dorfvereinen

stellte in Industrie- und Gewerbebetrieben oder Beamte

steht eine Begegnungsstätte – im historischen Schulge-

Ein knappes Fazit

Im Inneren des Dorfes zeigen sich seine Kräfte: Im saarländischen 950-Einwohnerdorf Gonnesweiler war die alte Schlosskapelle bei einer Straßenerweiterung abgerissen worden. 2004/2005 wurde die Nepomuk-Kapelle am Dorfrand neu errichtet und mit einem kleinen Dorffest eingeweiht!

bäude – zur Verfügung. Ein recht aktiver Heimatverein hat

dem hat sich der Ort auf Dauer nicht unterkriegen lassen:

eine kleine Heimatstube mit lokalgeschichtlichen und na-

So besteht seit zehn Jahren ein neuer, integrativer »Förder-

turkundlichen Schriften und Exponaten aufgebaut und au-

verein Unser Dorf«, der sich mit Grundsatzfragen der ak-

ßerdem einen Lehrpfad am Dorfbach und am stillgelegten

tuellen und zukünftigen Dorfentwicklung befasst und in

Steinbruch angelegt. Zwei Musikvereine sind wie die bei-

gewisser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats und

den Sportvereine das ganze Jahr über aktiv und betreiben

Bürgermeisters fortsetzt.

eine breite Jugendarbeit. Und wie steht es mit der kommunalen Selbstverwaltung?

Ein wichtiger Vorzug des Dorfes ist das Engagement in der Dorfgemeinschaft, manchmal auch als »soziales Kapi-

Jahrhundertelang war Kirchhusen eine eigene, selbststän-

tal« bezeichnet. Diese Werte sind nicht leicht zu fassen. Die

dige Gemeinde. Seit der kommunalen Gebietsreform von

Statistiken belegen z. B. eine deutlich höhere Vereinsdichte

1975 ist es jedoch nur noch »Ortsteil« einer neu geschaffe-

bzw. Vereinszugehörigkeit auf dem Land als in Mittel- und

nen Einheitsgemeinde. Statt eines eigenen Gemeinderats mit (früher) zwölf Mitgliedern wird der Ort heute durch zwei Dorfbürger im Großgemeinderat vertreten. Es gibt keinen eigenen Bürgermeister mehr. Mit der kommunalen Gebietsreform der 1960er/1970er Jahre ist die in Jahrhunderten gewachsene politische Selbstverantwortung des Dorfes in Kirchhusen, wie vielerorts auch, gebrochen worden. (Es gibt einige Bundesländer wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern, die den kleinen Dorfgemeinden ihre Autonomie belassen haben, wobei deren Verwaltung von Ämtern oder Samtgemeinden geleistet wird.) In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deutschen Dörfer besteht die Identität von Dorf und Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein. TrotzBei einer Dorfkonferenz 2011 in Arzbach wurden Visionen bis 2030 entwickelt. Eine der Kernaussagen war: »Ich bin Arzbach – Yes we can«

Das deutsche Dorf im Jahr 2011

343

schen. Auf dem Dorf gibt es dichte soziale Beziehungen, die Menschen engagieren sich für die soziale Gemeinschaft und man kann in unmittelbarer Nähe zur Natur leben. Dies wird von den Bewohnern in Kirchhusen wie in anderen Dörfern in ganz Deutschland geschätzt! Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbeinen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind durch ihr Studium oder für ihre Firmen monatelang in anderen Kontinenten tätig. Das Dorf selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahlreiche Zuwanderer aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehemalige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Vergleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf weltoffen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter geworden, er bleibt Als stiller Beobachter einer internationalen Dorftagung im Mai 2011 in Berlin entwarf und zeichnete Diplom-Designer Heyko Stöber dieses äußerst symbolträchtige Bild »Sie tragen das Dorf«.

aber »seinem Kirchhusen« als Basisstation verbunden. Das Dorf hat sich von 1800 bis heute stark gewandelt und es wird sich auch in Zukunft weiter verändern. Wir wissen nicht, in welche Richtung. Alois Glück, jahrzehnte-

Großstädten. Auch in Kirchhusen sind praktisch alle Kin-

langer Dorfbewohner seit Geburt im bayerischen Hörzing

der und Jugendlichen sowie die große Mehrheit der Er-

bei Traunstein und jahrzehntelang führender CSU -Politi-

wachsenen in mindestens einem der Sport- und Musikver-

ker in München (und von 2009–2015 Präsident des Zentral-

eine, der Feuerwehr oder dem Schützenverein aktiv. Ne-

komitees der Deutschen Katholiken), wagt einen Blick in

ben den Vereinen bestehen im Dorf enge Verwandtschafts-,

die Zukunft des Dorfes, der insgesamt zuversichtlich aus-

Nachbarschafts- oder Cliquenverbindungen, die durch ein

fällt. Nach Glück liegt die Chance und Besonderheit des

ständiges Austauschen von Gütern, Geräten und Dienst-

ländlichen Raumes in den kleinen, überschaubaren Einhei-

leistungen geprägt sind. Man trifft sich zu privaten Feiern

ten: der Familie, der Nachbarschaften, der Vereine, der Kir-

und hilft sich beim Bauen oder im Garten, bei der Betreu-

chengemeinde, des Dorfes und der Region. Die Kraftquelle

ung von Kindern, Kranken und älteren Menschen. Dieses

des Landes sind die für das Gemeinwohl engagierten Bür-

ständige Geben und Nehmen trägt – neben einer sehr ho-

ger: »Die Selbstorganisation der Bürger […] hat im ländli-

hen Eigenheimquote – zu einem relativ hohen Wohlstand

chen Raum viel mehr Chancen als in den größeren, anony-

des Dorfes bei. Ein weiterer Vorzug des Dorfes ist seine Na-

meren Strukturen.«291 Lassen wir uns anstecken von dieser

turnähe. Sie bietet in Feld, Wald und Garten eine unmit-

Zuversicht!

telbare Chance der Erholung, Entspannung, Freizeitnut-

Auf seine bisherige Geschichte kann das Dorf stolz sein.

zung und körperlichen Betätigung. Vor allem der dörfliche

Es hat einen »wichtigen Beitrag im Prozess der europäi-

Garten gilt inzwischen als ein Kernbestand ländlicher Le-

schen Zivilisation geleistet« und gehört »als Siedlungs- und

bensqualität. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zufrie-

Sozialform zu den Erfolgsmodellen der europäischen Ge-

denheit mit dem Lebensumfeld auf dem Dorf deutlich grö-

schichte«.292 Dem ist nichts hinzuzufügen.

ßer ist als in der Großstadt. Dies gilt auch für junge Men-

344

Ein knappes Fazit

Ein Blick nach vorn Argumente dafür, dass das Dorf nicht sterben darf

Kann die »Erfolgsgeschichte« des Dorfes weitergehen?

ist Luxus – lasst das Dorf sterben!« Mein erstes Empfinden

In welche Richtung wird sich das Dorf in den nächsten

war: Zentralistische Hirngespinste oder Satire? Ich folgte

30 oder 50 Jahren entwickeln? Viele Landbewohner

schließlich der Bitte, eine Gegenrede zur plakativen These

und Dorfbeobachter sind eher skeptisch, sie konsta-

zu formulieren (Anm. Henkel 2015 und 2018, S. 273 ff.).

tieren die fortgesetzten und sichtbaren »Verluste«,

Hier nun – stark verkürzt – meine Argumente dafür, dass

nicht wenige sehen das Dorf von heute gar in einer

wir das Dorf auch in Zukunft brauchen.

Existenzkrise. Immer wieder wird das Ende oder – noch

Die Aufforderung »Lasst das Dorf sterben!« offenbart

dramatischer – das Sterben des (alten) Dorfes festge-

eine elitäre urbane Sichtweise (es verlangt ja auch niemand

stellt oder vorhergesagt. In Politik, Wissenschaft und

»Lasst die Großstadt sterben!«). In den Zentren von Poli-

Medien wird recht häufig über die Gegenwart und

tik, Medien, Kultur und Wissenschaft wird die Bedeutung

Zukunft des Dorfes diskutiert. Oft geht es um irgend-

des Wirtschafts- und Lebensraums Dorf für den Staat und

welche neue Förderprogramme für Kommunen,

die Gesellschaft häufig unterschätzt und zu wenig respek-

Verbände und Vereine. Doch es fehlen in der Regel

tiert. Das Land ist jedoch für Staat und Gesellschaft genauso

mittel- und langfristige wissenschaftliche oder politi-

wichtig wie die Großstadt. Beide ergänzen sich und sind

sche Leitbilder und Signale, die dem Land Hoffnung

aufeinander angewiesen. Für eine Zukunft des Landes spre-

machen können. Es bleibt die vielzitierte »Unübersicht-

chen zahlreiche gute Gründe:

lichkeit« der Bewertung von Gegenwart und Zukunft.

– Über 50 % der ökonomischen Wertschöpfung Deutschlands erfolgen auf dem Land, viele unbekannte Welt-

Wenn man über die Zukunft des Landes nachdenkt, sollte

marktführer haben ihren Sitz in Dörfern und Kleinstäd-

man sich zuerst und grundsätzlich fragen: Worin liegt die

ten.

große – oft unterschätzte – Bedeutung bzw. Wertigkeit des

– Auf dem Land herrscht ein relativ hoher Wohlstand.

Lebens- und Wirtschaftsraumes Dorf für Staat und Ge-

Gründe hierfür sind eine hohe Eigenheimquote (über

sellschaft? Vor wenigen Jahren wurde ich von einem angesehenen Berliner Zeitungsverlag gebeten, einen knapp limitierten Beitrag zu dieser These zu leisten: »Wie sinnvoll ist eine Wiederbelebung des ländlichen Raumes? Landleben

Abbildung oben: Der Weihnachtsmarkt im Innenhof der Burg Lichtenfels, die zum 140-Einwohnerdorf Dalwigksthal im Landkreis Waldeck-Frankenberg gehört, erfreut sich größter Beliebtheit in der Region.

Dorfpolitik

345

80 %) oder auch das sog. »Informelle Wirtschaften«, das

– Ein großer Schatz des Landes sind seine abwechslungs-

ständige Geben und Nehmen in der Nachbarschafts- und

reichen und regionalspezifischen Natur- und Kultur-

Verwandtschaftshilfe.

landschaften samt ihrer Dörfer und Kleinstädte mit ih-

– Das Land versorgt die Gesellschaft mit Lebensmitteln

ren sehr unterschiedlichen Bautraditionen, die auch von

und Rohstoffen wie Wasser, Holz und erneuerbarer

der Großstadtbevölkerung sehr geliebt und häufig für

Energie.

Erholung und Freizeit besucht und genutzt werden.

– Auf dem Land sind die Menschen zufriedener mit ihrem Wohnumfeld.

Fazit: Dorf und Land haben ökonomische, ökologische, kul-

– Kinder und Jugendliche können hier ruhiger und ent-

turelle und soziale Potentiale und bringen diese auch in

spannter und generell physisch und psychisch gesunder

hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Sehr viele

aufwachsen.

Menschen lieben das naturnahe, überschaubare und ruhi-

– Zufriedenheit und Gesundheit sind ein Resultat der

gere Landleben – und gestalten dies mit Gemeinwohlden-

ländlichen Lebensstile. Diese sind natur-, traditions-, ge-

ken und Anpackkultur. Dies sollte auch in Zukunft mög-

meinschafts- und handlungsorientiert.

lich sein.

– Das Sich-Auskennen und Handeln in vielen praktischen

Wie kann es erreicht werden, dass die vielfache und hohe

und natürlichen Bereichen ist ein Kernbereich des Land-

Wertigkeit des Landes/Dorfes für Staat und Gesellschaft er-

lebens, man kann hier auch von der Lebens- und All-

halten bleibt? Hier sind zunächst einmal die Bürger und

tagskultur des Dorfes sprechen: das Arbeiten im Garten,

Kommunalpolitiker des Landes gefragt/angesprochen/ge-

das Einmachen und Einlagern von Garten-, Feld- und

fordert, in gleicher Weise aber auch die Entscheider in Po-

Waldprodukten, das Kochen und Backen mit Gemüse

litik und Gesellschaft in den urbanen Zentralen von Politik

und Obst aus dem eigenen Garten, das Holzmachen im

und Gesellschaft.

Walde, das ständige Sich-Aushelfen im Alltag, das Ge-

Die Bürger und Kommunen müssen sich klar machen,

stalten von Festen, das Pflegen und Betreuen von älte-

dass die Zukunft ihrer Dörfer und Kleinstädte zunächst

ren und gebrechlichen Menschen, wobei man sich aus-

und entscheidend von ihrem Mitwirken und Gestalten ab-

tauscht und dies auch an die nächste Generation wei-

hängt.

tergibt. Das für eine Gesellschaft wichtige vor- und

Die Entscheider in Staat und Gesellschaft sollten zu-

fürsorgende Denken und Handeln ist auf dem Land weit

nächst die andauernde Entmündigung der Dörfer und

verbreitet.

Landgemeinden beenden. Sie müssten den Bürgern und

– Dorfbewohner haben eine hohe, durch viele Erfahrun-

Kommunalpolitikern auf dem Land mit viel mehr Respekt

gen aufgebaute Kompetenz, lokale Fragen und Probleme

begegnen und ihnen mehr Unterstützung und vor allem

ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen und

Gestaltungsfreiheit zukommen lassen. Dann würde das

Verantwortung für das Gemeinwesen zu tragen.

Dorf beste Chancen haben, zu überleben und seine vorhandenen Kräfte neu zu entfalten.

346

Ein knappes Fazit

Anhang

In allen Landregionen werden traditionelle Dorffeste und Umzüge gepflegt wie hier bei der jährlichen Maibaumaufstellung in Harthausen.

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348

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Sachregister A Abriss von Gebäuden 249, 263, 304 f., 309

Abwanderung 22, 40, 124–126, 128 f., 134 f., 174, 260, 279

Abwasserversorgung 97 f. Abwrackprämie 267 Ackerland 51, 90, 140, 250, 278

Adel 16 f., 20–22, 27–29, 116, 140, 178–180, 182, 241f., 281, 283 f., 298–300, 317

Agglomeration 276 f. Agrarbericht 290 Agrargesellschaft 39, 134, 139, 141 f., 340

Agrarkrise 19, 22, 27 Agrarmuseum 260 Agrarordnung – feudale 281 – liberale 282, 296 f. Agrarpolitik 44, 46, 59, 61, 184, 236, 248, 250 f., 270, 281–293, 334

Agrarreformen 28, 34, 73, 83, 111 f., 139, 281–284, 295, 298 f.

Agrarsoziale Gesellschaft (ASG) 257 Agrarsubventionen 48, 289–293

Agrarsystem – feudales 16, 28, 281–283

– kapitalistisches 282 – kollektivistisches 282 – sozialistisches 282 Agrarwirtschaft 18 f., 21, 23 f., 29, 38 f., 184, 217, 281, 292

Aktivkultur 124, 188, 192 , 217

Aktivsanierung 272 Allmende 21, 34, 111, 283, 295, 316

Allmendenutzung 316 Altdorf 245, 247 Altenheime 155 Altersaufbau 134, 137 Amtsgericht 102 f., 117

Anerbenrecht 234 f., 294 Angerdorf 20, 208, 218–220, 223 f., 234, 238

Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL ) 58, 257 Arbeitslosenquote 41 Arbeitsplätze 38 –41, 53, 99

– dörfliche 86, 115, 121, 136 f., 190, 262, 279, 291, 315, 334, 337, 342

– forstwirtschaftliche 75 – landwirtschaftliche 39, 65, 190, 286f.

Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land 20 Armenversorgung 316 Armut 28, 30, 33, 82, 125, 131, 199 f.

Arrondierung 295, 297 Artenvielfalt 254 Ärztemangel 104 Aufklärung 28, 199, 298 Ausgleich, ökologischer 274, 278

Aussiedler 131 Aussiedlung von Höfen 228, 249, 263, 290, 295–297

Autobahnen 88, 97, 99, 133, 271, 295

Autonomie – des Dorfes 318, 327, 330

– kommunale 318, 320, 343

Bauernhausmuseum 255, 260

Bauernkriege 14, 26 f., 316 Bauernlegen 26, 28, 120, 282

Bauerschaft 154, 214 Baugestaltung 313 Baukultur 208, 227, 230,

92, 94, 302

Bauernbefreiung 141, 286 Bauerndorf 82, 115, 119 f. Bauerngarten 239–242, 244, 300

Bauernhaus 121, 129, 156, 174, 219, 221, 225, 228 f., 231, 247–251, 264, 340 f.

Bauernhausform 208, 225–227, 238

Bauernhausforschung 225, 262

325 f., 329

Bürgergesellschaft 325 f. Bürgerkommune 325 f. Bürgermeister 21, 34, 90, 104, 106, 109, 137, 150 f.,

233, 249, 270, 303–308,

155, 161, 170–172, 247,

333

260, 263–267, 270, 316 f.,

Baumaterialien 43, 227, 230, 232, 245 f., 298

Bebauungsdichte 219, 221 Bergbauernprogramm 291

Bergbausiedlung 119 f. Berglage 209, 211 Betriebe, mittelständische 41, 89

Betriebsgrößen 22, 26, 43 f. Bevölkerungsrückgang 22, 134–136, 266, 275

Bevölkerungswachstum 20, 73, 134, 136, 140

Bildungsnotstand auf dem Land 161 Binnenkolonisation 19 f. Binnenwanderung 125 f. Biobauern 60 f. Biotopschutz 297 Blockflur 237 Blütezeit des Dorfhandwerks 81, 85, 87 Boden 49–52, 56, 60, 75, 210

Bodenklimazahl 50 Bodenreform 120, 238, 249, 270, 284–286,

B Bäderarchitektur

welt in Deutschland (BHU ) 256, 302, 314 Bürgerbeteiligung

288–290, 297

Bodenreformsiedlung 249 Brauchtumspflege 133, 152, 161, 169, 186, 190, 256, 278

Bronzedorf 312 Bücherei 91, 169, 325 f. Bundesraumordnung 276 Bundesraumordnungsprogramm 271 f., 308 Bundeswaldgesetz 73, 80 Bundeswettbewerb 312–315

Bund Heimat und Um-

319, 322, 324–332, 334, 343

Bürgernähe 325, 329, 331 Bürgerverein 143, 152, 171 Bürgerwehr 316

Dienstleistungsgesellschaft 39, 41, 139

Doppelhof 214 Dorfauflösung 208, 263, 295

Dorfbild 65, 68, 115, 120, 153, 199, 204, 208 f., 217, 247, 249, 252, 310, 340 f.

– traditionelles 231, 248 – überliefertes 249, 305 Dorfdefinition 115, 148, 213, 217, 225

Dorferneuerung 254, 263, 270, 279, 292, 294, 297, 308–311

– erhaltende 249, 270, C Caritas 155 Cliquen 149, 173 D Dachverein 110 Demokratieverlust 9, 159, 329

Denkmalpflege 224, 238, 248, 302, 305, 309, 312, 315

Denkmalschutz 224, 229, 238, 254–256, 302, 307

Deutsche Burgenvereinigung 257 Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft (DLG ) 113 Deutsche Ostsiedlung 19 Deutscher Bauernverband 48, 113, 257

Deutscher Dorftag 259 Deutscher Landkreistag 41, 314, 319

Deutscher Städtetag 319, 329

Deutscher Städte- und Gemeindebund 319 Diakonie 155 Dialekt 169, 186 f. Dienst-Lehen-Verhältnis 17, 31, 282, 317

Dienstleistungen 39 f., 42, 63 f., 86, 108, 110, 118, 120, 128, 155, 243, 272, 278, 309, 321, 344

297, 308 f.

– ganzheitliche 270, 297, 308

Dorferneuerungsförderung 110, 232, 266, 308 f., 311, 336

Dorffeste 149, 172 f., 176, 262

Dorfform 208, 218, 224, 254

Dorfgarten 239, 241, 243 Dorfgasthaus 110, 114, 262 Dorfgemeinschaft 19, 21, 30 f., 103, 124, 130 f., 148–152, 171, 187 f., 217, 213, 315 f., 325, 343

Dorfhandwerk 26, 38, 81, 83–85, 87, 142, 190, 262

Dorfkern 46, 131, 137, 225, 229, 247, 249, 259, 263 f., 277, 305, 332, 341

– Auflockerung 302 – Entleerung 267 – Verödung 129, 254, 266, 310

Dorfkirche 16, 132, 144, 154, 174

Dorfkultur 188 Dorfladen 38, 102, 106 f., 108–110, 113 f., 129, 166, 260, 264–266, 322, 326, 342

Dorflage 208, 247, 249, 277, 295

Dorflehrer 155, 160 f., 299 Dorfordnung 30, 103, 316

Register

355

Dorfpolitik 40, 204, 310 Dorfportal im Internet 259 Dorfsanierung 208, 248 f., 254, 263, 270, 297, 303–310, 333

Dorfschule 34, 110, 161–163, 174

Dorfschulze 317 Dorfstatistik 130 Dorfstraßenausbau 304 Dorftypen 115, 119 f., 277 – ökonomische 115, 120 Dorfverschönerung 270, 298, 302

Dorfvorsteher 317 Dorfwettbewerb 313–315 Dreifelderwirtschaft 19, 28 E Ehrenamt 150, 168–171, 184 f., 328–332, 346

Einhaus 225 f. Einheitsgemeinde 327 f., 334, 343

Einödlage 237 Einzelhof 190, 208, 213 f., 216 f., 295

Einzelsiedlung 213 f. Eisenbahnnetz 84 Elektrifizierung 54 Energieversorgung

45, 65, 140

F Fachplanung 280, 303 f. Fachwerk 230, 302, 305 Fahrbücherei 169 Familienbetrieb 45 f., 282, 290

Familienstand 134, 137 Fehden 22 Feld-Wald-Verteilung

329 ff., 343 ff.

– ehrenamtliches 168, 217 – politisches 108, 143, 275 Enteignung 285, 288 Entwicklung – eigenständige 270, 333 f. – endogene 270, 275, 333, 336

– nachhaltige 270, 278, 311, 323

Erbe, kulturelles 254 f., 259, 309, 340

Erbhöfe 284 Erbrecht 82, 115, 141, 225, 227, 234, 294

Erholung 75 f., 78, 80, 90, 178, 185, 278, 321, 323, 338, 344

Erholungspotenzial – kulturräumliches 90 f. – natürliches 90 Erlebnispark 95 Erntedankfest 151, 156, 172, 186

Anhang

208, 225, 241, 248, 255, 260–262

Freizeit 59, 63, 75 f., 78, 90, 105, 124, 180, 185, 191 f.

Freizeitaktivitäten 76, 185 Freizeitbeschäftigung 185 Freizeit und Erholung 38, 181, 192, 271, 274

283, 294–297, 304

Ferien auf dem Bauernhof 63, 94

Fernsteuerung – der Kommunen 323 f. – des Landes

28, 81, 98

Fürsten 20 f., 179 f.

270, 274, 333 f.

Feudalismus 16 Feuerwehr 34, 97, 102–104, 150, 167 f., 172, 176, 188, 213, 217, 260, 323, 344

Film 181, 198 f., 204 f. Fischerdorf 96, 115 Flächensanierung 304 Flughäfen 97, 100, 192, 194, 271

Flur 183, 208, 234, 304, 316

147, 167 ff., 184 ff., 313,

Freie Wählergemeinschaften 325 Freilichtmuseum 40, 94,

Fremdbestimmung – der Kommunen 270 – des Landes 333 Friesisch 186 Frühindustrielles Gewerbe

236–238, 250, 294–296,

– bürgerschaftliches

113, 282

23, 250

33 f., 97, 102, 129, 275,

313, 343

19, 47, 49, 53, 56, 58 f., 89,

Feldwegebau

311, 340

Engagement 10, 277,

356

Erwerbspersonen 39, 43,

Flurbereinigung

G Garten 124, 185, 190, 196, 239–246, 344

– bäuerlicher 241 – dörflicher 185, 239, 241, 344

Gartenfestival 174 Gartenkultur 10, 169, 240, 242

Gartenkunst 188, 298 Gastarbeiter 130, 194 Gasthaus/Gasthof 38, 86, 99, 102, 106–110, 114,

238 f., 248, 249, 282, 290,

129, 148, 150, 173, 213,

294–298, 302, 304

217, 246 f., 251, 259 f.,

Flurbereinigungsgesetz 296 f., 303, 308

Flurbild 234, 252, 294, 296 – traditionelles 251 f. – überliefertes 238, 248, 250, 253

Flurform 234, 238 – historische 129, 208, 238, 248, 254

– kleingekammerte 208 Flurzersplitterung 234, 296

Flurzwang 28, 111, 283, 295, 316

Formenwandel 248 Förster 65, 68 Forstpolitik 73, 79 Forstrecht 80 Forstwirtschaft 38 f., 59, 65–80, 118, 181, 195

– moderne 73 – multifunktionale 75, 80

– nachhaltige 71, 73 Fortschritt, technischer

264 f., 279, 299, 302, 311, 341 f.

Gebietsreformen, kommunale 151, 170, 272–274, 312, 318–320, 327–331

Geburten 125, 134 f. Gehöft 22, 208, 217, 220, 225–228, 261, 264, 295

Gemeinde 21, 34, 44, 62, 90, 108 f., 136 f., 153, 160, 166, 171, 187, 220, 251, 264, 266 f., 275,

Gemüsegarten 242, 244, 300

Genossenschaften 111–114, 311

Genossenschaftsbanken 102, 105

Gerichtsherrschaft 16, 140 Gesangverein 157, 161, 167 f.

Getreidekette 54 Gewerbefreiheit 83, 141 Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen 272, 323

Globalisierung 10, 166, 196, 204, 254

– des Dorfes 195 Grenzertragsböden 20, 23, 50, 65, 80

Grenzmarkierungen 238 Großgemeinde 145, 320, 327, 330 f.

Grundausstattung 97, 105, 309

Grundherrschaft 14–16, 20, 24, 31, 43, 103, 115 f.,

316–319, 329 f.

Gemeinderat 84, 151, 270, 319 f., 325–327, 331, 334, 343

Gemeindeverfassung 317 Gemeindeversammlung 26, 316

Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP ) 293 Gemeinschaftsleben 110, 186, 309

169 f., 259 f., 322

Heimatschutzbewegung 302

Heimatverein 168 f., 257, 343

Herrenschicht 21, 140 Hochwald 73 f. Hochwasserfreilegung 297 Hochwild 182 Höfesterben 46 Hofidee 43, 46, 235 f., 282 Holzbauweise 231 f. Holzmangel 72 Holzproduktion 38, 74 f., 78

Holzwirtschaft 65, 68–70 Honoratioren 149, 172 Hungerkrisen 141 Hungersnöte 22, 27, 30, 33, 58, 125, 299

128, 150, 282, 317

Grundrissform des Dorfes 218

Grundschule 162, 164, 335, 341

Grundversorgung – öffentliche 102 – private 102, 106 – schulische 162 – technische 97 Grundzentrum 105, 118, 272

Grüngestaltung 313 Grünland 50–52, 62, 90 Gruppensiedlung 213 f. – große 213 – kleine 214 Gunstlage 210 Gutsdorf 115 f., 120, 141, 208, 251, 261 f., 282, 302

Gutsgarten 239 f. Gymnasium 161 f., 164

316–332, 343

Gemeindeordnung

Haupterwerbsbetriebe 47 Hausarztpraxis 105 Hausgarten 239 Haushaltsstruktur 137 Heimatgefühl 143, 193 Heimatmuseum

H Handelsbetriebe 82–84 Händler 81 f., 124, 142, 289

Handwerk 14, 38–40, 44, 69, 81–87, 97, 112, 115 f., 128, 140, 142, 184 f., 227, 262 f., 278, 337 f.

Handwerkerdorf 115, 119 Hangneigung 50 Haufendorf 20, 208, 218 f., 221–224, 305

I Identifikation, lokale 143 f., 170, 232, 247, 329

Individualverkehr 100 Industrialisierung 39, 53, 73, 84 f., 98, 119, 141, 232, 260, 286, 302

Industriebetriebe 38, 40, 84, 195

Industriegesellschaft 130, 150

Industriepflanzen 59, 61 Informationsmedien 101 Informationstechnologie 97, 100

Infrastruktur 33, 38, 97, 102, 255, 264, 279, 292, 299, 334, 337

– technische 97, 102, 303, 341

Internationale Grüne Woche 113, 289 f. Internetanschluss 101 J Jagd 27, 76, 79, 111, 169, 174, 177–183, 262

– bäuerliche 180 – höfische 177, 179 f. Jagdgenossenschaft 111, 180

Jagdrecht 177, 179–181 – bäuerliches 180 Jagdschloss 177, 179

K Kalkstein 230 f. Kanäle 97, 219 f., 274, 295 Kapital, soziales 42, 196, 343

Kirchdorf 154 Kirche 16, 22, 26, 30, 32, 34, 43, 62, 99, 102 f., 111, 124, 143, 150, 153–155, 157 f., 169, 172, 176, 187, 195 f., 220, 223 f., 230, 247, 260 f., 299, 317, 340 f.

Kirchenburgen 154 f. Kirchengemeinde 124, 153, 155, 266, 341, 344

Kirchenschließungen 153

Kirchweihfest 30, 150, 156, 172, 188

Klassifizierung von Siedlungen 213 Kleinstadt 40, 144, 195, 202, 213, 215–217

Kleinstlandwirtschaft 82, 246

Kleinviehhaltung 32, 243 Klima 49–52, 75, 79, 90, 210, 227, 232

Klosterdorf 115 Klostergarten 239 f., 244, 300 f.

Kollektivierung 117, 120, 285 f., 297

Kommunalpolitik 129, 136, 142 f., 265 f., 270, 278 f., 286, 321–332

Kontakte – lokale 114, 139, 196 – mit dem Ausland 194, 196, 344

– soziale 135, 148, 187, 243

Kooperationsgemeinschaften 286, 288 Krankenhäuser 38, 102, 104, 117, 133, 155, 272

Krankenversorgung 102 Kreditgenossenschaft 111 f. Kreise 136, 166, 275 f., 317–319, 329

Kreiswettbewerb 314 Kulturlandschaft 60, 64, 94, 145, 177, 192, 208, 212, 248–262, 278 f., 334

– gewachsene 10, 256, 275 – historische 22, 252–254, 260–262

– ländliche 192, 208, 244,

– regionale 208, 252 f.,

181, 192, 230, 278, 281 f.,

259, 262

– traditionelle 64, 251 f., 254, 257, 315

285, 298

Landvolkshochschule 156 Landwirtschaft 20, 25, 32,

– überlieferte 47, 129, 248, 251–254, 259

Kulturlandschaftspflege 59, 255–258, 297 Kulturlandschaftsprogramm 256 Kulturpflege 168, 321 Kulturveranstaltungen

202, 204 f.

Kunstausstellung 109, 174 Kurorte 91 Kur- und Badeorte 93, 119 Küster 34, 155, 160 L Lage – naturräumliche 210 – topographische 10, 209 f. Landarbeiter 21, 24, 30 f., 46, 138, 140 f., 184, 196, 241, 251, 282 f., 285

Landarmut 58, 141 Landbau, ökologischer 59–61

Landesausbau 23, 27 Landesherren 27 f., 30, 178–180, 182, 298

Landesplanung 274 Landesverschönerung 298 f., 301 f.

Landeswettbewerb 314

Landflucht 125, 127 f., 130, 263

Landgemeinde 105, 137, 171, 303 f., 317, 324 f., 327, 330

Landhandel 40 Landhausstil 245 Landkreise 41, 169, 319 Landkultur 176, 187 f., 208 Landmaschinenbau 53 Ländlicher Raum 277, 338 Landnahme 15 Landrevolution von 1848 281, 284

Landschaftspark 299 Landschaftsverbrauch 249, 265

Landtechnik 53, 55, 58 Land- und Forstwirtschaft

252, 256–259, 289,

32, 38 f., 43–80, 86, 89 f.,

298–300

97, 119, 127 f., 136, 138,

38, 43–66, 71, 115 f., 138,

270, 275, 282 f., 290, 303–305, 310, 321, 325,

315, 338 280–283

– deutsche 45, 47, 195, 284, 291 f., 295

– Entwicklung der 14, 20, 43–45, 48 f., 52–54, 56,

Kulturverein 167–169 Kunst 34, 141, 175 f., 198 f.,

166, 232, 235 f., 246, 267,

153, 199, 263, 298, 309 f.,

– bäuerliche 43, 58, 234,

172, 174

Leistungen des ländlichen Raumes 192, 271, 338 Leitbild 46, 57, 71, 73, 80,

58 f., 63, 112, 217, 252,

328, 334

Literatur 30, 141, 177, 183, 198 f., 202

Lohngefälle 127 Lokale Agenda 322 LPG -Arbeiter 184 f., 245 LPG -Dorf 117, 120, 251, 286, 310

284–286, 295, 303

– Erschließung für die 20, 22 f., 28

– genossenschaftliche 282, 286

– – – – – –

Grundlage der 49 f. industrialisierte 251 Intensivierung der 17 kleine 31, 81, 84 konventionelle 60 f. moderne 58–60, 62, 238, 341

– nachhaltige 58, 61 f., 73, 289

– ökologische/alternative 59–61

– privatisierte 288 – Schrumpfungsprozesse der 142, 184, 190, 228, 241, 251, 290 f., 342

– Spezialisierung der 32, 43, 47, 56 f.

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG ) 44, 112, 117, 175, 184, 243, 251, 285 f., 288, 297

Landwirtschaftsanpassungsgesetz 297 Landwirtschaftsgesetz 290

Landwirtschaftskammern 113

Leben, naturnahes 135, 146 f., 192

Lebensraum Dorf 10, 60 Lebensstile – ländliche 124, 184 f.,187, 192, 196, 217

– urbane 277 Leerstand 208, 263–267, 321, 336

Lehrberg 221 Lehrergarten 239 f. Leibeigenschaft 16, 26, 282

Leibherrschaft 16, 140

M Mädchenschule 160 Magistrat 319 Malerei 30, 77, 154, 175, 177, 183, 198 f., 203 f.

Mansholt-Plan 291 Marktorientierung 19, 24 Marschhufendorf 208, 218 f.

Massenproduktion 84 Massentierhaltung 57–60 Mehrzweck-Forstwirtschaft 80 Mineraldünger 52, 56, 61, 195

Missernten 30, 50, 299 Mitteldeutsch 186 Mittelpunktschulen 160, 162

Mittelschicht 21, 31, 124, 129, 139–142, 184

Mittelzentrum 104, 118,

N Nachbarschaftshilfe 124, 148 f., 217

Nachhaltigkeit 58, 61–64, 71, 73, 298, 313, 338

Nahversorgung 108 Nationalpark 76, 78, 274, 337

Naturfaktoren 49, 51 Naturpark 76, 78, 274 Naturschutz 59, 62, 64, 78, 181, 297, 314

Naturstein 208, 231 f., 305 Natursteinbauweise 232 Natursteinmuseum 232 Nebenerwerbsbetriebe 47, 66

Nebenerwerbslandwirtschaft 47, 185 Netzwerke, soziale 137, 148 f., 185–188, 217

Neubaugebiet 131, 247, 341

Neubausiedlung 208, 245 f., 267, 303

Neubauten 232, 304 f. – landwirtschaftliche 228 Neudorf 245, 247 Neudörfler 139 Neugründung von Siedlungen 16, 20, 249 Neulandgewinnung 219, 284, 296

Niederdeutsch 169, 186 Niederwald 73 f. Niederwild 182 Nutzgarten 239–244

272, 278

Mitverantwortung 145, 259

Mobilität, soziale 21, 141 Modell des demographischen Übergangs 134 Modernisierung – der Landwirtschaft 291–293, 303

– des Dorfes 208, 303–305 – von Gebäuden 108, 232, 249

Molkereigenossenschaft 112

Moorhufendorf 20, 208, 218–220, 251

Motorisierung 54, 68, 84, 87, 121, 184, 190

Mundart 186 f. Musik 77, 176 f., 194, 198 Musikfest/-spiel 172, 188 Musikverein 124, 144, 161, 167 f., 173, 217, 343 f.

Musterdorf 299

O Oberdeutsch 186 Oberschicht 31, 34, 129, 139–142, 281, 284

Oberzentrum 104, 274, 278

Obstbau 50, 196, 299 Ödlandnutzung 296, 300 Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV ) 100 Opern 77, 174 f., 177 Orte – nicht zentrale 273 f., 334 – zentrale 161 f., 272–274 Ortsauflockerung 224, 296 f., 303 f., 308

Ortsbezogenheit 143–147, 153

Ortsbild, überliefertes 250 Ortschaft 213, 216 f., 297, 302, 318, 320, 328

Ortsteil 217, 318, 329 f., 334, 343

Register

357

Ortsvorsteher 173, 247, 266, 270, 315, 318, 331

Ostkolonisation 18

Raumordnungspolitik 64, 88, 192, 256, 270–275, 333, 337

Raumtyp, ländlicher P Parkanlagen 28, 91, 116, 250, 255, 301

Partnerschaften – kirchliche 155, 196 – kommunale 114, 196 Parzelle 28, 111, 219, 234, 237 f., 296 f., 304

Passionsspiel 175 Passivkultur 188 Passivsanierung 272 Pastor 138, 150, 153, 155, 157

Patrimonialgericht 103 Pendelwanderungen 41, 127

Pendler 38, 184, 342 Pendlerdorf 115, 121 Pfarrei 16, 34, 44, 153, 155, 158 f.

Pfarrer 34, 106, 139, 153, 155, 158–161, 173,

276 –280

Realschule 86, 161 f., 164 Realteilung 82, 140 f., 234–238, 294

Reetdach 230, 302 Regionalplanung 271, 274 Regionalprogramme, landwirtschaftliche 290 Reichserbhofgesetz 284 Reichsnährstandsgesetz 284

Reichssiedlungsgesetz 284 Reichsumlegungsgesetz 296

Relief 49–51, 210, 227 Relieflage 210 Residenzsiedlung 116 Rodungsperiode 20 Rohstoffe 192 Romantik 199, 298 Rundling 208, 218 f., 221 Ruralisierung 190

204, 341

Pfarrgemeinde 153, 155, 158

Pfarrheim 155 Pflanzenbau 56, 61 Pflanzenschutzmittel 56, 60, 112

Pflichtaufgaben der Gemeinden 160, 322 Plattdeutsch 187 Polizei 102 f., 112, 160 f., 260, 319, 323

Post 38, 86, 102 f., 108, 113, 118, 160 f., 334, 341

Präzisionslandwirtschaft 55

Preisverfall 48 Produktion, landwirtschaftliche 20, 27 f., 32, 43, 46, 48 f., 54, 56, 83, 282, 289 f., 296, 303

Produktivität der Landwirtschaft 20, 47 f., 52, 58

Protestgemeinden 331 Prozessionen 156 R Raiffeisenbanken 105 Raiffeisengenossenschaften 113 Raumgliederung 272 Raumordnung 41, 129, 132, 267, 270–277, 279 f., 326, 334

358

Anhang

S Saisonwanderungen 126 Samtgemeinde 318, 320, 343

Sandstein 230 f. Sanierung, städtebauliche 305

Schachbrettsiedlung 208, 219, 223

Schichtung, soziale 14, 21, 139

Schifffahrt 258 Schlossgarten 240, 300 Schüleraustausch 194 Schule, weiterführende 160 f., 165

Schulschließungen 136, 160–165

Schultheiß 316 f. Schützenfest 30, 34, 144, 150, 172, 188, 205, 316

Selbstverwaltung 34, 89, 260, 317 f., 323, 327, 329

– dörfliche 316 – kommunale 150, 160, 316–319, 329, 331, 343

Schutzfunktion des Waldes 75, 80

Seebäder 91, 93 f. Selbstbestimmung – kommunale 327 – lokale 329, 333 Selbstversorgung 32, 43, 47, 81, 86, 97, 239, 241, 243 f., 246, 250, 284, 296

Selbstversorgungskultur 242

75, 90 f., 96, 120, 212, 258, 298, 301, 315, 322

– sanfter/nachhaltiger 91 Traditionsbewusstsein 217

Siedlungsform 219 f., 222–224, 254

Silberdorf 312, 315 Solidargemeinschaft 148–150

Sommererholungsorte 91, 94 f.

Sonderkulturen 50 f., 56, 116

Sparkassen 102, 105 »Speckgürtel« am Rand der Großstädte 133 Spielplätze 78, 105, 143,

U Umnutzung von Gebäuden 208, 229, 254, 267, 278, 311, 332

Umweltschutz 181, 183, 323

Unterschicht 21, 25, 31, 124, 129, 139–142, 184

Urbanisierung 76, 184, 190, 196, 285, 302

Urbarmachung von Mooren 27, 296

304, 342

Spitzenverbände, kommunale 319 Spornlage 118, 210 f., 246 Sport 91, 147, 182, 194, 321, 323

Sport- und Freizeiteinrichtungen 102, 105, 250 Sportverein 124, 132, 161, 167 f., 173, 176, 217, 342–344

Sprachpflege 169 Städtebauförderungsgesetz 304 Städtegründungen 19 f., 117

Städtezwang 81, 83 Stadt-Land-Beziehungen 189–191

Stagnation von Siedlungen 136, 216

Sterbefälle 125, 134 f. Straßendorf 208, 219, 224, 234

Straßennetz 99, 223 Streifenflur 234, 237 Streusiedlung 214, 217 Strukturschwächen 40, 275, 308

Schützenverein 34, 103, 155, 167 f., 173, 344

Tourismus 38, 40, 59, 64,

V Verbandsgemeinde 318 Verdichtung, bauliche 15, 19, 246, 248

Verdichtungsgebiete

W Waldarbeiterdörfer 65, 96, 115, 118

Waldbau 50 f., 79 Waldbauern 66 Waldgenossenschaft 110 f. Waldnutzung 26, 71, 282 Waldpädagogik 76 Waldsterben 181 Waldwirtschaft 20, 23, 73, 113

Waldzerstörung 72 Wandel – demographischer 136, 332

– sozialer 185, 242, 248 Wandelgarten 240 Wanderungsbilanz 134 Wanderungsströme 130 Warengenossenschaft 111 f.

Wasserversorgung 33 f., 97 f., 102, 192, 286, 321 f.

Weiler 15, 20, 102, 132,

39, 41, 89, 192, 216,

136, 153 f., 160, 165, 208,

277 f., 334

213 f., 216, 219, 222, 224,

Verdorfung 15, 20 Vereine 105, 107, 110, 124, 131, 143, 145, 150, 152, 155, 157, 167–173, 186–188, 252, 258, 266, 321, 342, 344

Vereinsdichte 167, 217, 343 Vererbung, geschlossene 234, 236, 294

Verkehrserschließung 91, 99, 322

Verländlichung 190 Versorgung, ärztliche 286 Verstädterung 39 f., 125, 190, 305, 326

Vertriebene/Flüchtlinge 130 f., 151, 184, 205, 247, 263, 297

Verwaltungsgemeinschaft 318, 330 f.

Verwandtschaften

228, 248 f., 263, 279, 295, 304, 315

Weinbau 50 f. Welterbe 255, 258 Wildbestand 79, 180–183 Wildschäden 181 Wintersportorte 91, 95 f. Winzerdorf 115, 118, 340 Wirtschaften, informelles 42

Wissenschaft 10 f., 14, 20, 49, 115, 148, 198 f., 242, 254, 271, 276, 331

Witterung 50 Wohlstand 21, 42, 65, 75, 112, 135, 187, 232, 340, 344

Wohndauer im Dorf 139 Wohngarten 239, 241 f. Wohnsiedlung 245, 286 Wüstungen 22 f.

149, 173, 187 f.

T Tagelöhner 25, 31, 44, 82, 124, 142, 196, 200, 282, 299

Tallage 210, 238 Talschaft 214 Telearbeit 101 115, 121 Telekommunikation 101, 280

Tiergärten 177 Tierhaltung 58–60 Tierschutz 181

Viehhaltung 14, 28, 44, 47, 56, 60, 71, 260

Volkseigene Güter (VEG ) 251, 286–288

Volksfrömmigkeit 156 Volkshochschule 102, 166, 169, 196

Volksschule 68, 86, 160 f., 341

Vollerntemaschinen 53, 55, 66, 195

Z Zentrale-Orte-Konzept 272, 274, 324

Ziergarten 239, 241f. Zufriedenheit 42, 124, 143, 145–147, 193, 203, 232, 344

Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP ) 308 Zuwanderung 124 f., 130–134, 194, 258, 262, 267

Ortsregister Die hier aufgeführten Dörfer, Kleinstädte und Gemeinden verweisen auf die Darstellung und Erwähnung in Text und Bild. Sie erscheinen zusätzlich auch in den beiden Deutschlandkarten im vorderen und hinteren Vorsatz des Buches. Die Abkürzungen beziehen sich auf folgende Bundesländer: Baden-Württemberg (BW ), Bayern (BY ), Berlin (B) Brandenburg (BB ), Hamburg (HH ), Hessen (HE ), MecklenburgVorpommern (MV ), Niedersachsen (NI ), Nordrhein-Westfalen (NRW ), Rheinland-Pfalz (RP ), Saarland (SL ), Sachsen (SN ), Sachsen-Anhalt (ST ), Schleswig-Holstein (SH ) Thüringen (TH ).

A Ahrenshoop (MV ) 94, 205

Aiging (BY ) 150 Alheim (HE ) 98 Alme (NRW ) 334 Alsweiler (SL ) 195,197, 320

Alt Rehse (MV ) 302 Altenbeken (NRW ) 231 f. Altmühltal (BY ) 91 Alverdissen (NRW ) 247 Amöneburg (HE ) 212, 246, 247

Angerstein (NI ) 132 Arnsberg (NRW ) 72 Arzbach (RP ) 343 Aschfeld (BY ) 155 Asseln (NRW ) 136, 216 Atteln (NRW ) 167, 169, 171, 176

B Bächlingen (BW ) 339 Bad Driburg (NRW ) 90, 91, 302

Bad Essen (NI ) 243 Bad Freienwalde (BB ) 194 Bad Lauchstädt (ST ) 173, 175

Bad Münster am SteinEbernburg (RP ) 212 Bad Muskau (SN ) 255, 300 Bad Neuenahr (RP ) 301 Bad Wünnenberg (NRW ) 136 Baierbrunn (BY ) 124, 168 Baiershofen (BY ) 220, 223,

Bendingbostel (NI ) 105 Benediktbeuern (BY ) 291 Berlin (B) 113, 128, 146, 309

Bestwig (NRW ) 39 Bingen (RP ) 258 Binswangen (BY ) 157 Binz (MV ) 92 Bitzen (RP ) 152 Blankenburg (ST ) 240 Blankenhain (SN ) 262 Böddeken (NRW ) 197 Bollschweil (BW ) 114 Borgholz (NRW ) 309 f. Borsum (NI ) 222 Bottrop (NRW ) 41 Brakelsiek (NRW ) 127 Branitz (BB ) 300 Braunshausen (NRW ) 72 Briest (BB ) 231 Buckow (BB ) 218 Büdingen (HE ) 21 Butjadingen (NI ) 213 C Clemenswerth (NI ) 29

171, 184, 266, 276, 279f., 311, 320, 323, 332,

Bebenhausen (BW ) 238 Beilstein (BW ) Titelbild Bellersen (NRW ) 315 Belm (NI ) 26, 28 Bendelin (BB ) 242 f.

333

Eppendorf/Hamburg (HH ) 278 Erkeln (NRW ) 309 Erlach (BY ) 212 Ermershausen (BY ) 330 f. Essen (NRW ) 126 f. Essentho (NRW ) 194 F Feldwies (BY ) 109, 114 Ferdinandshof (MV ) 251 Fischen (BY ) 154 Flintsbach (BY ) 232 Freienseen (HE ) 170 f. Freimersheim (RP ) 219 Freudenbach (BW ) 298 f. Freyburg (ST ) 117 Frickenhausen (BY ) 212 Fürstenberg (NRW ) 24, 103, 105, 168, 305, 310

G Gelting (BY ) 113 f. Gersbach (BW )

D Dalheim (NRW ) 175, 301 Dalwigksthal (HE ) 345 Damme (NI ) 40, 195 Delbrück (NRW ) 232 Detmold (NRW ) 225, 261 Diedenshausen (NRW ) 230 Diemelstadt (HE ) 320 Diesdorf (ST ) 244, 260 Dolgow (NI ) 221 Drachhausen (BB ) 267

Gesseln (NRW ) 143 Giebelstadt (BY ) 172, 175 Gießen (HE ) 331 Glashütte (SN ) 40 Glehn (NRW ) 296 Glindow (BB ) 232 Gmund (BY ) 211 Göhritz (ST ) 296 Gonnesweiler (SL ) 343 Goßmannsdorf (BY )

E Eberbach (HE ) 16 Eberswalde (BB ) 40 Edersee (HE ) 77 Effelter (BY ) 224 Eicklingen (NI )

Göttingen (NI ) 62, 257 Grafenberg (BW ) 87, 196 Gräfenberg (BY ) 248 Grasbrunn (BY ) 319 Greetsiel (NI ) 118, 120 Grevel (NRW )

224, 238

Banzkow (MV ) 315 Bärenstein (SN ) 238 Barmen (NRW ) 106, 109f. Barth (MV ) 98 Baruth (BB ) 70 Bärweiler (RP ) 102, 104,

Emsland (NRW )/(NI )

314, 315, 342

215, 225

263, 266, 320

Einhausen (TH ) 16 Eitzum (NI ) 210 Elisenhof (NRW ) 249 Elsoff (NRW ) 144 f., 185

Eltz (RP ) 18

Großgressingen (BY ) 28

Großräschen (BB ) 274 Großweidenmühle (BY ) 23

Gültstein (BW ) 328 Gunzesried (BY ) 216, 295 Gülzow (MV ) 80 Güstritz (NI ) 221 Gutachtal (BW ) 227 H Haaren (NRW ) 194, 305 f. Hahn (RP ) 195 Haidenkofen (BY ) 119, 241, 312, 313

Hamm/Eifel (RP ) 263 f., 279

Harthausen (BY ) 111, 113, 114, 319, 347

Hausen (BW ) 135, 139, 331

Havixbeck (NRW ) 232 Heiligendamm (MV ) 93 Heinrichswalde (MV ) 220 Helmern (NRW ) 194 Hendungen (BY ) 223 Herbram (NRW ) 232, 233, 249, 264

Heroldsbach (BY ) 95 Herpf (TH ) 155 Herrenberg (BW ) 328 Hesseneck-Hesselbach (HE ) 163 Heudorf (BW ) 24 Hiddenhausen (NRW ) 137, 267

Hildesheim (NI ) 126 Hildrizhausen (BW ) 107 Hipstedt (NI ) 319 Hofgeismar (HE ) 91 Hohenheim (BW ) 40, 260 Horgau (BY ) 331 Hüddessum (NI ) 222 Hurlach (BY ) 113

277, 278, 280

Grießen (BB ) 192 Grimmelfingen (BW ) 149 Groß Wüstenfelde (MV ) 284

Großerkmannsdorf (SN )

I Illerbeuren (BY ) 261 Insel Reichenau (BW ) 240 Insel Rügen (MV ) 78, 90, 335

285

Ortsregister

359

J Jachenau (BY ) 153 Jagsttal (BW ) 250, 339 Jänschwalde (BB ) 192 Jasmunder Bodden (MV ) 173, 175 Jühnde (NI ) 61, 62, 98, 120

Mayschoß (NRW ) 35 Meerhof (NRW ) 193 f. Mehrstetten (BW ) 304 Mittenwald (BY ) 173, 191 Möhnetalsperre (NRW ) 193

Mölln (SH ) 83 Mönchengladbach (NRW ) 41, 236

K Kaltensondheim (BY ) 212 Kassel (HE ) 62 Kaub (RP ) 256 Kirchlinteln (NI ) 105 Kleindrebnitz (SN ) 281 Kleinenberg (NRW ) 265 Klein-Oschersleben (ST) 54 Klein Leppin (BB ) 175 Klennow (NI ) 221 Kleve (NRW ) 62 Klockenhagen (MV ) 228 Klosterlangheim (BY ) 310 Koberg (SH ) 109 Kobern-Gondorf (RP ) 51 Koblenz (RP ) 256, 258 Königshain (SN ) 219 Königswalde (SN ) 237, 238

Kremmen (BB ) 248 Kreuzau (NRW ) 113 Kreuzberg (BY ) 224, 234,

Mönchsondheim (BY ) 155

Moritzburg (SN ) 181 Münster (BW ) 265 Müritzsee (MV ) 273 Murnau (BY ) 198, 205 Muskau (SN ) 300 N Nassach (BW ) 223 Nebel (SH ) 222 Nehren (BW ) 81 Netzschkau (SN ) 101 Neubeuern (BY ) 188 Neubösekendorf (NI ) 132 Neuenbrook (SH ) 219 Neuhausen (BW ) 195 Neuhof (MV ) 334 Neustadt/Donau (BY ) 255 Niederasphe (HE ) 219 Nieheim (NRW ) 241 Nordgeorgsfehn (NI ) 220

236, 238, 310

Kunreuth (BY ) 44, 84 Küstrow (MV ) 99 Kutterling (BY ) 205 L Langenfeld (BY ) 318, 327, 332, 338

Lanz (BB ) 221 Lauterbach (MV ) 90, 93 Lehnin (BB ) 63 Lehrberg (BY ) 219, 221 Leibis-Lichte (TH ) 98 Leinfelden-Echterdingen (BW ) 229 Lelkendorf (MV ) 44, 176, 243

Lichtenau (NRW ) 136 Locksiefen (NRW ) 132 Loquard (NI ) 223 Lübeck (SH ) 128, 308 Lüchow (MV ) 160, 162,

O Oberammergau (BY ) 175 f. Oberhausen (NRW ) 41 Oberhof (TH ) 95 f. Oberstdorf (BY ) 93, 96, 290, 323

Ochsenfurt (BY ) 21 Oedelsheim (HE ) 210 Oetzendorf (NI ) 220 Ollarzried (BY ) 106, 110, 161, 171, 217, 336

Ostheim (BY ) 155 Ottobeuren (BY ) 110 P Paderborn (NRW ) 136 f., 230

Reicholdsgrün (BY ) 224, 255, 257

Reinsdorf (SN ) 262 Remagen (RP ) 298, 301 Reuden (ST ) 134 Rhauderfehn (NI ) 220 Rissenthal (SL ) 151 Rixdorf (BB ) 12 Rochlitz (SN ) 232 Rockhausen (TH ) 38 Rohr (TH ) 155 Roßwag (BW ) 222 f. Rötenbach (BW ) 65, 68 Rotenberg (BW ) 278 Rüdesheim (HE )

S Saalhausen (NRW ) 42 Satemin (NI ) 211 Scharmede (NRW ) 135–137

Schöneberg (B) 278 Schönfließ (BB ) 131 Schorfheide-Finow (BB ) 97

Schreyahn (NI ) 221 Schwalenberg (NRW ) 33 Schwenda (ST ) 155 Schwerin-Mueß (MV ) 262

Schwetzin (MV ) 284 Seiffen (SN ) 85 Senne (NRW ) 337 Sieben Linden (ST ) 62, 64 Siedelbach (BW ) 250 Simonshofen (BY ) 113 Sommerhausen (BY ) 212, 214, 215

Starnberger See (BY ) 42 Staudenhof (RP ) 264 Steinkirchen (NI ) 219 Sternberg (MV ) 235 Sternenfels (BW ) 109 Stocksee (SH ) 175 Stollen (BY ) 222 Stornfels (HE ) 209, 212 Ströbeck (ST ) 145 Strümpfelbach (BW )

Lüneburger Heide (NI ) 64 Luthe (NI ) 114

T Tangermünde (ST )

M Markkleeberg (SN ) 260 Matgendorf (MV ) 249, 284 Maulbronn (BW ) 255

R Ralswiek (MV ) 172 f.,175 Randersacker (BY ) 212 Reichenbach (SN ) 100

Tellow (MV ) 116, 261 Tempelhof (B) 30 Tettenweis (BY ) 331 Tharandt (SN ) 40

297

Sulzfeld (BY ) 212

175, 215

360

Anhang

Wulfersdorf (BB ) 220 Wust (ST ) 175

165, 172, 193

Trendelburg (HE ) 40 Treppendorf (BY ) 88, 89 Trettachtal (BY ) 290 Trinwillershagen (MV ) 119, 288 U Uhlbach (BW ) 278 Ummendorf (BW ) 167 Ummendorf (ST ) 167, 170, 325, 332

Unterliezheim (BY ) 284

93, 256, 258

Rühle (NI ) 208 Rysum (NI ) 223

Paretz (BB ) 298 f. Pegestorf (NI ) 206 f, 208 Pinnow (BB ) 110, 186 Plankstetten (BY ) 310 Plön (SH ) 255 Premslin (BB ) 151 Prerow (MV ) 94

165 ff., 188

Thierhaupten (BY ) 310 Thüle (NRW )

V Vahlbruch (NI ) 45 Vechta (NI ) 87 Vellberg (BW ) 14 Verden (NI ) 105 Veringenstadt (BW ) 133, 144 f, 171, 252, 258 f

Vielau (SN ) 228 W Wacken (SH ) 172, 174, 175 Waiblingen (BW ) 234 Waldenburg (SN ) 283 f. Waldkirch (BW ) 40 Walldorf (TH ) 155 Walle (NI ) 106 Wallgau (BY ) 146 f. Wannweil (BW ) 245 Warburg (NRW ) 21 Weesby (SH ) 320 Wehrsdorf (SN ) 280 Weihenstephan (BY ) 40 Wermsdorf (SN ) 177 Weste (NI ) 220 Westheim (NRW ) 171 Westoverledingen (NI ) 321 Wetzlar (HE ) 274 Weyarn (BY ) 164, 324 ff., 332

Wienhausen (NI ) 320 Wietze (NI ) 57 Wilflingen (BW ) 66 Willingen (HE ) 96 Windesheim (RP ) 276, 278 ff.

Winterkasten (HE ) 219 Witzenhausen (HE ) 40 Witzwort (SH ) 109 Wolfsbach (BY ) 308 Wolfschlugen (BW ) 317 Wörlitz (ST ) 255, 299 f., 301

Worpswede (NI ) 205 Wrexen (HE ) 149, 320, 322

Z Zainingen (BW ) 142 Zimmernsupra (TH ) 156

Anmerkungen Vom Leben in der guten alten Zeit 1

2 3 4 5 6 7 8 9 10

11 12 13

14 15 16 17 18 19 20 21

22

23 24 25 26 27 28 29

30

31

32 33 34 35 36

Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 18 Seidl 2006, S. 48 ff. Henning 1974, S. 254 Rösener 1985, S. 27 nach Rösener 1985, S. 215 Rösener 1985, S. 216 Rösener 1985, S. 13 Seidl 2006, S. 85 ff. Glaser et al. 2007, S. 132 f. Glaser et al. 2007, S. 133 f. und Rösener 1985, S. 49 Glaser et al. 2007, S. 135 Rösener 1985, S. 39 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 38 f. Seidl 2006, S. 73 f. Rösener 1985, S. 273 Henkel 1973, S. 107 Henkel 1973, S. 69 Seidl 2006, S. 99 Seidl 2006, S. 104 f. Seidl 2006, S. 108 f. Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 65 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 51 ff. Spille 1985, S. 21 Seidl 2006, S. 75 ff. Seidl 2006, S. 96 Henning 1974, S. 238 ff. Henning 1974, S. 246 ff. Henning 1974, S. 245 ff. siehe Abbildungen in Glaser et al. 2007, S. 145 u. 150 siehe Abbildung nach Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 112 siehe Luftbild und Karte in Glaser et al. 2007, S. 139 Henning 1974, S. 255 ff. nach Seidl 2006, S. 124 Seidl 2006, S. 126 Henning 1974, S. 259 Seidl 2006, S. 126

41 42 43 44

45 46 46a

47 47a

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Wirtschaft und Versorgung 37 38

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Römer 2009, S. T1 Deutscher Landkreistag 2019, Daten von 2016 Klein 2009 Baier et al. 2005, S. 200

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63a

Baier et al. 2005, S. 178 Ulm 2003 Roßbach 2011, S. 10 Deutschlandfunk, Sendung »Studiozeit« vom 9. 8. 2007, Thema: Blühendes Landleben und Forschung rund um das Dorf, Redakteure: Andreas Beckmann und Regina Kusch zitiert nach Braun 2010, S. 84 Kohler 2009, S. 1 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; Daten und Fakten 2019 Roßbach 2010, S. 9 Landwirtschaftliches Wochenblatt. Heft 35/2009, S. 14 Grossarth 2012, S. 17 Sonnleitner 2011, S. 58 ff. Seidl 2006, S. 147 Krombholz et al. 2009, S. 37 ff. Krombholz et al. 2009, S. 277 ff. Brill 2009, S. 96 Brill 2009, S. 96 dpa 2009, S. 16 und von Lucius 2010, S. 2 Roßbach 2011, S. 1 von Treuenfels 2012, S. 8 Grossarth 2011, S. 10 Ickler 2010, o. S. Situationsbericht des deutschen Bauernverbandes 2018/2019 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2009, S. 29 ff. Situationsbericht des deutschen Bauernverbandes 2018/2019 Schwägert 2006, S. 12 BMWI , AGEE -Stat (Febr. 2018) Situationsbericht 2018/2019 des Bauernverbands Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; Bericht: Der Wald – Deutschland. 3. Aufl. Juli 2018 telefonische Auskunft des Deutschen Forstwirtschaftsrates vom 17. 6. 2010 Wald und Holz in Deutschland. 2019 Statistisches Bundesamt 2010, S. 338 Statistisches Jahrbuch 2018

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Statistisches Jahrbuch 2014 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070100-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070200-2012.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -3070400-0000.pdf http://berichte.bmel-statistik. de/SJT -7010300-2012.pdf Wald und Holz in Deutschland. 2019 Holzabsatzfonds 2007, S. 34 Selter et al. 2003, S. 177 ff. zitiert nach Selter et al. 2003, S. 187 Selter et al. 2003, S. 201 beide Zitate nach Selter et al. 2003, S. 203 Selter et al. 2003, S. 219 zitiert nach Selter et al. 2003, S. 220 1963, zitiert nach Selter et al. 2003, S. 232 Köhl et al. 2009, S. 104 Polley 2009, S. 75 Miersch 2009, S. 8 u. a. Möhring u. Mestemacher 2009, S. 65 ff. Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 128 vgl. Glaser et al. 2007, S. 149 f. u. Abbildung S. 81 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 128 Ulm 2003, S. 30 ff. Schuler 2010, S. 18 Haffke 2009, S. 79 ff. Dieterle 2009, S. 31 Frank 2009, S. 9 Gespräch im Herbst 2010 Mihm 2010, S. 11 und Mihm 2011, S. 1 Akademie für die Ländlichen Räume Schleswig-Holsteins e. V. 2009, S. 13 Bayerisches Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten 2007, S. 26 f. Kluge 1967, S. 248 Seidl 2006, S. 211 Seidl 2006, S. 213

92 93 94 95 96

Liebrich 2009, S. 21 Grossarth 2009, S. 14 Grossarth 2009, S. 14 Henkel 2020, S. 276 ff. zu Jühnde siehe Kapitel »Vom Nahrungsmittelzum Energieproduzenten«

Bevölkerung – Soziales – Kultur Leib u. Mertius 1983, S. 110 Henkel 2020, S. 58 99 Westfälisches Freilichtmuseum Detmold, Sonderausstellung zur Wanderarbeit im Sommer 2010 100 Planck u. Ziche 1979, S. 71 101 Fränkisches Freilandmuseum 2000, S. 200 ff. und Happe 2009, S. 9 102 Zinkant 2009, S. 3 103 Elsing 2011, S. 34 104 Sezgin 2011 105 Sieverts 1997 106 Beispiel Dortmund-Grevel, vgl. in Kapitel »Abstufungen des Ländlichen« 106a Deutsches Statistisches Bundesamt 2018 107 Dirscherl u. Fröhlich 2010, S. 18 108 Burger 2011, S. 2 109 Pergande 2010, S. 2 110 Henkel 2019 110a Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2015 111 Bohler 2005, S. 229 112 Henkel 2004b, S. 86 ff. 113 zu Veringenstadt siehe auch Kapitel »Ein wertvolles Erbe, das man erhalten muss?« 114 Gespräch im Winter 2011 114a Petersen 2014 114b Presseinformation der Bundesstiftung Baukultur, Potsdam v. 2. 12. 2015. Titel: Gegen den Trend zur Stadt! 45 % der Deutschen würden am liebsten in einer ländlichen Gemeinde wohnen. 115 Mak 1999 116 siehe hierzu auch die Kapitel »Macht das Landleben glücklich?« und »Ist das Landleben ›in‹?« 97 98

Anmerkungen

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Brill 2009, S. 267 Mak 1999 119 u. a. Planck u. Ziche 1979, S. 163 f. 120 Nathan 2010 120a Durch ein Schreiben der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz an alle Bischöfe im Juni 2014, s. außerdem: G. Henkel und J. Meier: Lasst den Dörfern ihre Kirche. In: Christ in der Gegenwart. H. 46 v. 16. 11. 2014. S. 521 f.; Henkel 2018, S. 226–238, Henkel 2018, S. 4 120b Henkel 2018, S. 237 121 Henkel 2020, S. 349 122 Kempowski 1985, S. 17 f. 123 Lübbert 2009, S. 12 124 Gespräch im Mai 2010 125 Gespräch mit Johannes Liess im April 2011 126 Deutschlandfunk, Sendung »Studiozeit« vom 9. 8. 2007, Thema: Blühendes Landleben und Forschung rund um das Dorf, Redakteure: Andreas Beckmann und Regina Kusch 127 zu Ollarzried siehe Kapitel »Der Kampf um den letzten Dorf laden« 128 in Henkel u. Schmied 2007, S. 92 129 Schäffer 2010, S. 3 130 Deutsche Stiftung Kulturlandschaft 2010, S. 2 131 Gespräch im Herbst 2010 132 Petrak u. Selter 2003, S. 693 133 Rösener 2004, S. 9 134 Petrak u. Selter 2003, S. 694 135 Rösener 2004, S. 17 136 Kremser 1990, zitiert nach Petrak u. Selter 2003, S. 708 137 Petrak u. Selter 2003, S. 708 138 Aberle 2001, S. 37 139 Petrak u. Selter 2003, S. 713 ff. 140 Petrak u. Selter 2003, S. 714 141 Rösener 2004, S. 380 142 van Elsbergen 2003, S. 774 143 Petrak 2003, S. 771 ff. 144 Rösener 2004, S. 380 145 Blüchel 1996, S. 9 145a Gespräch im Juni 2019 146 vgl. Henkel 2004b, S. 86 ff. 147 Nöcker 2006, S. C1 147a Gespräch im Sommer 2010 148 Keseling 2009, S. 8 149 Bürgerzeitung für Teterow vom 16. 6. 1848, in Niehaus 1958, S. 358 150 Brill 2009, S. 41 151 Brill 2009, S. 232 152 Brill 2009, S. 233 153 vgl. Henkel 1997 154 vgl. Hein 1997, S. 23 ff.

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Anhang

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von Droste-Hülshoff 2007, S. 3 zitiert nach Johann 1958, S. 78 Hebbel o. J., S. 565–569 Hein 1997, S. 29 siehe hierzu Kapitel »Das Dorf als Zufluchtsort« Schütte 1997, S. 39 Städtische Museen und Galerien Paderborn 2010 vgl. Schütte 1997, S. 41 ff. zitiert nach Schütte 1997, S. 54 Rinck u. Bell 2008 Korsch 1997, S. 73 ff. Korsch 1997 S. 77 ff. Korsch 1997, S. 73

Gestalt der Kulturlandschaft Landzettel 1982, S. 298 Landzettel 1981 a, S. 71 f. 170 Landzettel 1981 a, S. 56 171 Landzettel 1977, S. 49 172 vgl. u. a. Lienau 1995, S. 64 173 vgl. Henkel 2020, S. 241 174 siehe hierzu die Kapitel »Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt« und »Zuwachs, Stagnation oder Schrumpfung?« 175 zu Ollarzried siehe Kapitel »Der Kampf um den letzten Dorfladen« 176 siehe hierzu die Kapitel »Ist das Landleben ›in‹?« und »Ein fruchtbarer Austausch« 177 Drosdowski 1983 178 in Anlehnung an Born 1977 179 vgl. u. a. Henkel 2020, S. 238 ff. und Lienau 1995, S. 64 ff. 180 Poschmann 2010, S. R7 181 Gebhard 1982, S. 49 182 Gespräch im Juni 2010 183 Haindl u. Landzettel 1991, S. 102 f. 184 Schepers 1994, S. 36 ff. 185 zititert nach Gebhard 1982, S. 13 186 Gespräch im April 2011 mit Prof. Dr. R. Lob 187 Kiesow 2009, S. 68 f. 187a vgl. Henkel 2020, S. 124 ff. 187b Ein Überblick über historische Flurformen vgl. u. a. Henkel 2020, S. 244 ff. und Lienau 1995, S. 75 ff. 188 vgl. hier v. a. Gunzelmann et al. 1999 189 zu Baiershofen und Kreuzberg siehe die Kapitel »Angerdorf, Haufendorf, Straßendorf«; s. zum Thema »Historische Flurformen«: Henkel 2020, S. 244 f. 190 Kaubitzsch 2009, S. 72 191 Wieland 1993, S. 8 f. 168 169

Bade 2004, S. 53 Krus 2004, S. 38 194 Über die zahlreichen Parks und Landschaftsgärten der Schlösser und Herrensitze auf dem Land wird im Kapitel »Von der Dorfzur Landesverschönerung« berichtet. 195 Wieland 1993, S. 82 196 Krus 2004, S. 205 197 Wieland 1993, S. 87 198 Baier et al. 2005, S. 94; siehe hierzu auch Kapitel »Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?« 199 Meyer-Renschhausen 2004, S. 83 u. 94 f. 200 Inhetveen 1994, S. 27 201 Fock u. Tillack 2007, S. 37 202 Inhetveen 1994, S. 27 203 Plickert 2009, S. 12 204 Reents 2010, S. 34 205 Bade 2004, S. 78 206 vgl. Frühsorge 1993, S. 219 ff. 207 Landzettel 1977, S. 51 208 Stiftung für die Natur Ravensburg 1988, S. 82 209 Wieland 2003, S. 4, 6 u. 8 210 siehe hierzu auch die Kapitel »Modernisieren und ›Wachsen oder Weichen‹« und »Wie der Staat die Landbewirtschaftung verbessert« 211 Buchholz u. Scharmann 1992, S. 64 f. 211a vgl. Henkel 2020, S. 276 f. 212 Burggraaff u. Kleefeld 1998, S. 294 213 Henkel 1997b 214 Gespräch im Juni 2010 214a Markus Denkler: Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens – Linguistische Grundlagenforschung für die Region. In: Heimatpflege in Westfalen, Heft 5/2012, S. 22–24 214b s. genauere Untergliederung in: Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. 14. Aufl. München 2004, S. 230 f. 214c Georg Cornelissen: Der Niederrhein und sein Deutsch. Sprechen tun et fast alle. Greven Verlag. Köln 2009, S. 14 214d Heimatpflege in Westfalen, Heft 2/2012, S. 24 215 Brill 2009, S. 283 f. 216 vgl. Knauss 2005 217 Knauss 2005 218 Bauer 2009, S. 110–115 219 Bauer 2009, S. 112 220 Bauer 2009, S. 112 192

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Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum BadenWürttemberg 2009, S. 2 Andreas Homburg 2015 Hahne 2014 und 2017 Gespräch im November 2010

Dorfpolitik Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1975, S. 1 u. 5 225a vgl. u. a. Rösel, Güllner und Kramer 226 Brösse 1975, S. 68 227 Stiens 1990, S. 99 ff. 228 Tiefensee 2009, S. 36 229 Ramsauer 2010, S. 24 230 Schmitt 2005, S. 7 231 Henkel 2005, S. 8 231a vgl. die ausführliche Text- und Kartendarstellung in Henkel 2004 a, S. 287 ff. und Henkel 2020, S. 300 ff. 232 Jessen 2000, S. 96 233 Knieling 1998 234 Gespräch im Juni 2019 235 siehe Kapitel »Der Beginn der Dorfauflösung?« 236 Riehl 1910 237 vgl. das Beispiel Trinwillershagen in Kapitel »Trend zum Pendlerdorf« 238 Henning 1978 u. 1996 239 vgl. u. a. Dipper 1980 240 Seidl 2006, S. 256 241 Röseler u. Scherf 1976, S. 85 242 vgl. u. a. Düsterloh 1975, Halama 2006 und Henning 1978 243 vgl. u. a. von Kruse 1990 244 Halama 2006, S. 256 244a vgl. u. a. Böick 2018 244b Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 245 vgl. Henkel 2020, S. 181 ff. 246 Ertl 1976, S. 136 f. 247 Europäische Kommission 2013: Überblick über die Reform der GAP 2014–2020. Informationen zur Zukunft der Agrarpolitik Nr. 5. S. 9. 248 Rede zum Erntedankfest am 10. 10. 2018 249 Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1986, S. 19 250 Henkel 2020, S. 309 ff. 251 Thomas 2010, S. 381 251a vgl. Henkel 2004a, S. 180 252 Thomas 2010, S. 395 253 zitiert nach Gassner 1981, S. 115 254 Bayerisches Staatsministerium 225

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für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1986, S. 20 Nathan 2009, S. 12–19 und Werger 2010, S. R3 Frühsorge 1993, S. 109 ff. Henkel 2020, S. 311 ff. Haffke 2009, S. 132 Haffke 2009, S. 135 Gassner 1981, S. 108 Halama 2006, S. 153 ff. Landesentwicklungsgesellschaft NRW für

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Städtebau, Wohnungswesen und Agrarordnung 1970, S. 50 Wieland 2003, S. 4, 6 u. 68 vgl. Henkel 2020, S. 318 ff. Grube u. Rost 1995, S. 42 Henkel 2020, S. 331 Gespräch im Juli 2010 Gespräch im Sommer 2010 Gespräch im Juli 2010 Troßbach u. Zimmer-

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mann 2006, S. 305 f. vgl. Henkel 2020, S. 368 f. siehe Hauptmeyer 1986 von Lucius 2011, S. 9 vgl. Henkel 2020, S. 401 ff. siehe auch Kapitel »Die Kraftquellen des Dorfes« Gespräch im September 2010 Merk-Holzapfel 2008 Gespräch im August 2010 Gespräch im August 2010 Henkel 2020, S. 382 ff.

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ausführlich dazu: Gerhard Henkel 2020, S. 382 ff. und Henkel 1986 Henkel 1986 zitiert nach Landzettel 1982, S. 9 Gespräch im Juli 2010 Ilien 1983, S. 59 u. 65 Gespräch im August 2010 siehe Henkel 1997 b, S. 31 ff. Atteslander 1982, S. 53 f.

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Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 1997, S. 237 von Weizsäcker 1997, S. 106 Herrenknecht u. Wohlfahrt 1997, S. 31

Ein knappes Fazit 292 293

Höpfinger 2010, S. 8 Troßbach u. Zimmermann 2006, S. 284

Anmerkungen

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Bildnachweis akg-images: S. 16 unten (Bildarchiv Monheim); S. 17 rechts (British Library); S. 18; S. 22; S. 78; S. 90 (Bildarchiv Monheim); S. 130; S. 141; S. 155 oben (Bildarchiv Monheim); S. 180 (Archives CDA /St-Génes); S. 198; S. 201; S. 203; S. 231 (Bild archiv Monheim); S. 240 unten; S. 281; S. 283; S. 286 f.; S. 298; S. 301; S. 335 (Bildarchiv Monheim); Alamy Stock Foto: S. 39 (imageBROKER ), S. 56 (wayne HUTCHINSON ); S. 117 (imageBROKER ); S. 244 (Juniors Bildarchiv GmbH); S. 247 unten (Panther Media GmbH); S. 256 (David Noton Photography); ALE Oberfranken: S. 308; Amtshof Eicklingen Planungsgesellschaft mbH & Co KG : S. 2 Mitte; S. 105 unten; S. 106; S. 263; S. 266 links; Aufwind-Luftbilder/VISUM : S. 6 Mitte; S. 220; S. 255; Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe: S. 25; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: S. 215; S. 236; S. 257; Bibliotèque de l’Arsenal, Paris: S. 17 links; Bildarchiv der volkskundlichen Kommission für Westfalen – Landschaftsverband Westfalen-Lippe: S. 72; Hans Blossey / Klaes Bildarchiv: S. 235; BMEL / Ute Grabowsky / photothek.net: S. 293; Ulf Böttcher, Potsdam: S. 92; bpk/Anton Meinholz: S. 4; bpk/Kupferstichkabinett, SMB /Jörg P. Anders: S. 13; S. 30; bpk/Nationalgalerie, SMB /Klaus Göken: S. 31; bpk/Edelgard Rehboldt: S. 148; CLAAS KG : S. 5 links; S. 53; Bundesministerium für Ern. und Landwirtschaft: S. 80; LWL -Freilichtmuseum Detmold, Westfälisches Landesmuseum für Volkskunde, Bildsammlung: S. 128; S. 261 unten; Deutsches Jagd- und Fischereimuseum München: S. 178; dpa picture alliance: S. 2 links (Okapia); S. 3 (DuMont Bildarchiv); S. 5 Mittes; S. 5 rechts (Bildagentur Huber); S. 6 links; S. 14 (dpa); S. 16 oben (Bildarchiv Monheim); S. 29; S. 33; S. 36/37; S. 48; S. 49; S. 51 (dpa); S. 52 (okapia); S. 54 (ZB ); S. 55 (ZB ); S. 57; S. 60; S. 63; S. 68 (Stefan Puchner); S. 63, S. 67; S. 69; S. 71; S. 75; S. 77; S. 79 (Uwe Zucchi); S. 83; S. 84; S. 85 (ZB ); S. 86; S. 87 oben (dpa); S. 91 (ZB ); S. 93; S. 97; S. 99; S. 101; S. 104 (dpa); S. 108; S. 110; S. 113; S. 118; S. 120; S. 122/123; S. 125 (Stephan Jansen); S. 126/127; S. 131; S. 132; S. 134 (Euroluftbild); S. 138 (Helga Lade Fotoagentur); S. 142 (DuMont Bildarchiv); S. 145 (dpa); S. 146; S. 151; S. 153; S. 154 (okapia); S. 157 (Helga Lade Foto agentur); S. 163; S. 168 unten (dpa); S. 173 oben (Bildagentur Huber); S. 173 Mitte und unten (ZB ); S. 174; S. 177 (Bildagentur Huber); S. 181, S. 182 (dpa); S. 185 f.; S. 189 ( Josef Wildgruber); S. 191f; S. 193 (Bildarchiv Monheim); S. 194; S. 205; S. 211 (Bildagentur Huber); S. 212 (HB Verlag); S. 213 (Euroluftbild); S. 214 (HB Verlag); S. 216 (Arco Images GmbH); S. 218 (ZB ); S. 225; S. 226: nach Karl Heinz Schröder, 1974 d, Gerhard Henkel 2004, S. 244; S. 227 (ZB ); S. 228 oben (Arco Images Gmbh); S. 229 (Bildagentur Huber); S. 232; S. 239; S. 240 oben; S. 243 (dpa); S. 260 (ZB ); S. 262 (ZB ); S. 271 (Arco Images GmbH); S. 272 oben (ZB ); S. 273 unten; S. 280 (Bildagentur online); S. 285 (ZB ); S. 289 (Robert Schlesinger), S. 290 unten (Arco Images GmbH); S. 292 (dpa); S. 294 (dpa); S. 295; S. 297 (Euroluftbild); S. 300; S. 321; S. 333 f.; Joachim Feist, Pliezhausen: S. 3; S. 8; S. 142; S. 252; Wolfgang Filser: S. 188; Förderkreis für Kultur, Geschichte und Natur im Sintfeld e.V., Fürstenberg, Foto Gefion Apel: S. 105 oben; Fotolia (Gina Sanders): S. 331; Nathalie Franzen: S. 343 unten; Freundeskreis Ökodorf e. V.: S. 62; Willi Gehring: S. 158; Monika Geiselhardt: S. 252; S. 258; Gemeinde Bärweiler: S. 102; S. 184; S. 266 rechts; S. 276; S. 311; S. 316; S. 320 links; S. 323; Gemeinde Ermershausen: S. 330; Gemeinde Gonnesweiler: S. 343 oben beide; Gemeinde Grasbrunn: S. 111; S. 114 alle; S. 319, S. 347; Gemeinde Haidenkofen, Eva Gerl: S. 119; S. 241 unten; S. 312 f.; S. 341; Gemeinde Langenfeld: S. 7 Mitte; S. 318; S. 327; S. 338; Gemeinde Niederaudorf: S. 32; Gemeinde Schopfheim: S. 314; S. 342; Gemeinde Weyarn: S. 164; S. 324f; Geno Archiv: S. 112; Ralf Gerard/JOKER : S. 291; Bettina-Hartkopf.de: S. 165; S. 193; Fotoarchiv Gerhard Henkel: S. 265 oben beide, ergänzt nach Abschlussbericht Modellprojekt Eindämmung des Landschafts-verbrauchs durch Aktivierung des innerörtlichen Potentials. MELAP . Ministerium für Ernährung und Ländlicher Raum. Stuttgart 2009. S. 24; S. 288 beide; S. 306; S. 309 oben; S. 328; Johannes Henkel: S. 94; Eugen Hellinge: S. 233; S. 249; Matthias Janke: S. 87 unten; S. 195 f.; S. 228 unten; S. 248; S. 251; S. 317; Frank Junker, Atteln: S. 169; Bernd Kittlinger: S. 275; Kreismuseum Paderborn: S. 134; S. 137; Horst-D. Krus: S. 241 oben; Katrin Viviane Kurten, Wiesbaden: S. 340; Werner Tiki Küstenmacher: S. 129; Landesmedienzentrum BadenWürttemberg: S. 7 links; S. 250 unten beide; S. 305; Landesmuseum Württemberg, Stuttgart: S. 179; Landpixel.de: S. 41 oben; S. 59; S. 61; S. 182f; Gerhard Launer WFL GmbH, Schießhausstraße 14, 97228 Rottendorf, www.deutschlandvonoben.de: S. 2 rechts; S. 115; S. 221 ff.; S. 234; S. 237; Jochen Littkemann: S. 204; Reinhold Lob, Grevel: S. 277; Verein »Das lebendige Dorf e.V.« in Lüchow: S. 166 ; Maria Lummer,

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Anhang

Hegensdorf: S. 264 beide; S. 309 unten beide; Jochim May, Windesheim: S. 279; © Markttreff: S. 108; Mauritius images: S. 45 (Manfred Mehlig); S. 206/207 (Chris Seba); Herbert Meinunger, Mellrichstadt: S. 155 unten; Sammlung Armin Mayer, Bad Urach: S. 107; S. 245; Oberhofer Freizeit und Tourismus GmbH © Patrick Muschiol: S. 95; Axel Nickolaus: S. 175; Ollarzried aktiv: S. 161; S. 336f; prepress Media GmbH: S. 109; Dennis Pucher, Denkstrukturen: S. 170; Dr. Jürgen Römer, Dalwigksthal: S. 21; S. 27; S. 345; Roland Rossner, Bonn: S. 156; Sägewerk Rötenbach: S. 65; Uwe Schmid: S. 35; Georg Schmidt, Diemelstadt: S. 149 unten, S. 320 rechts; S. 322; Johannes Sieren, Fürstenberg: S. 168 oben; S. 310; Silberburg Verlag Tübingen: S. 81; S. 149 oben; S. 162; Stadtarchiv Balingen: S. 103 oben; sv-Bilderdienst: S. 140; SZ Photo: S. 34; S. 160; S. 268/269; Jan-Phillipp Scheibe, Hamburg © VG Bild, Bonn: S. 176; Staatsgalerie Stuttgart: S. 202; Heyko Stöber, Berlin: S. 344; Musikhaus Thomann: S. 88; Thünen-Museum: S. 116; S. 261 oben; TV Yesterday: S. 246; Ullstein Verlag: S. 200; Musikverein Ummendorf bei Biberach: S. 167; Unternehmensgruppe Graf von Oeynhausen-Sierstorpff, Bad Driburg: S. 302; Verein »Das lebendige Dorf e.V.«: S 166; Stadt Veringenstadt: S. 133; Verkehrsverein Saalhausen: S. 42; Waldburg-Zeil’sches Gesamtarchiv Schloss Zeil, Archivsignatur ZAM s 54: S. 26; Armin Weigel, Bitzen: S. 152; WESTFÄLISCHES VOLKSBLATT : S. 143 (Per Lütje); S. 197 (Hanne Hagelgans); wikimedia: S. 98 (StefanX112); S. 253 (JuTe CLZ ); S. 274; Erwin Zillenbiller, Veringenstadt: S. 144; S. 6 rechts: aus: Dorfentwicklung in Nordrhein-Westfalen, S. 7 oben; S. 15: aus: Norbert Wand, Das Dorf der Salierzeit – ein Lebensbild (1991), S. 25/26; S. 17: aus Blum, J., Die bäuerliche Welt (1982), S. 73; S. 19: aus: Glaser R., Gebhardt, H. und W. Schenk, Geographie Deutschlands (1997), Abb. 4.33 (mit Ergänzungen des Autors); S. 187: aus: Heimatpflege in Westfalen. 25. Jg., H. 5/2011; S. 23: aus Rösener, W.: Bauern im Mittelalter (1985), S. 241 (Holzschnitt aus Lichtenbergers »Prognosticatio«, Jacob Meydenbach, Mainz 1492); S. 25: aus Rösener, W., Bauern im Mittelalter (1985), S. 70; S. 26: Blum, J., Die bäuerliche Welt (1982), S. 149; S. 32: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild August; S. 43: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild März; S. 74: aus: Die Jahreszeiten, Reprint, Monatsbild Januar; S. 44 oben: nach Weber-Kellermann, I. 1965; S. 47: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 100; S. 82: aus Glaser, R., Gebhardt, H. und W. Schenk, Geographie Deutschlands (1997), Abb. S. 150; S. 150: aus: Ländliche Entwicklung in Bayern, S. 13; S. 172: aus: 1150 Jahre Thüle. Ein Dorf im Wandel der Zeit (2006), S. 506; S. 190: aus: Das Parlament Nr. 31/2009, S. 13; S. 209: aus: Wilhelm Landzettel, Wege und Orte. Landschaft und Siedlung in Hessen (1977), S. 18; S. 230: aus: Dorfentwicklung in Nordrhein-Westfalen, S. 7 oben; S. 247 oben: aus: Wilhelm Landzettel, Wege und Orte. Landschaft und Siedlung in Hessen (1977), S. 51; S. 284: aus: Ländliche Entwicklung in Bayern, S. 26 oben; S. 303: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 96; S. 304: aus: Schnieders, R., Porträt des Dorfes (1964), S. 50; S. 7, S. 14, S. 339: C.: L. Schmitt, Das Hohenloher Land, Siegloch Edition. Abbildungen/Tabellen S. 40: ergänzt nach Planck und Ziche 1979, Statistische Jahrbücher des Stat. Bundesamtes; S. 44: nach Agrarberichten der Bundesregierung, Klemm 1985 und Eckart 1998, Statistische Jahrbücher 2003 und 2009; S. 46 unten: Regionalatlas der Statist. Ämter des Bundes und der Länder 2010; S. 50: nach Agrarbericht 1991, nach Henkel 2004 a, S. 107; S. 66: Statistisches Jahrbuch des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2009, Deutscher Forstwirtschaftsrat 2010; S. 73 ergänzt in Anlehnung an Selter 2003; S. 103 unten: Eigene Erhebung des Autors; S. 135: nach Henkel 2004 a, S. 48; S. 136: Daten vom Landesamt für Statistik NRW , ab 1975 Gemeindeverwaltungen Lichtenau, Salzkotten und Bad Wünnenberg; S. 139: nach Henkel 2004 a, S. 93; S. 219 nach Born 1977, nach Henkel 2004 a, S. 231; S. 226: nach Schröder 1974, nach Henkel 2004 a, S. 244; S. 242: nach Lob 2005, S. 195; S. 250: nach B. Neuer, Geographisches Institut der Universität Freiburg, nach Henkel 2004 a, S. 268; S. 265 unten: ergänzt nach Abschlussbericht MELAP des Ministeriums Ländlicher Raum, Stuttgart 2009, S. 21; S. 278: nach Henkel 2004 a, S. 291, ergänzt durch R. E. Lob 2010; S. 296: nach Henkel 2004, S. 182; S. 299: nach Henkel 2004 a, S. 298; S. 306: Städtebauliches Gutachten Haaren 1970, nach Henkel 2004 a, S. 304f.; S. 329: Zeichnung Sepp Buchegger in Grundlagen der Dorfentwicklung, H 1. Deutsches Institut für Fernstudien. Tübingen 1988, S. 235.

Die Graphiken und Tabellen stammen – wenn nicht anders angegeben – vom Autor.

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4., korrigierte und erweiterte Auflage 2020 © 2020 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten. Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

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Lektorat

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