Foucault heute: Neue Perspektiven in Philosophie und Kulturwissenschaft 9783839445532

This book examines Foucault's relevance in the global context of the 21st century and in the current philosophical

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German Pages 246 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
1. Einführung
2. Foucault heute. Das Subjekt im Kontext von Wissen, Macht, Ethik und Ästhetik
3. Resümee
4. Literaturverzeichnis
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Foucault heute: Neue Perspektiven in Philosophie und Kulturwissenschaft
 9783839445532

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Marita Rainsborough Foucault heute

Edition Moderne Postmoderne

Marita Rainsborough promovierte an der Universität Hamburg und lehrt am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg und am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungsarbeit bezieht sich hauptsächlich auf die Schnittstellen zwischen der zeitgenössischen französischen Philosophie, dem Erbe der klassischen deutschen Philosophie von Kant und Hegel im heutigen Denken und der Kulturtheorie und Philosophie Afrikas und Südamerikas.

Marita Rainsborough

Foucault heute Neue Perspektiven in Philosophie und Kulturwissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4553-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4553-2 https://doi.org/10.14361/9783839445532 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. E inführung 1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault  | 9 1.2 Das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie bei Foucault  | 19 1.3 Überlegungen zum Vorgehen  | 25

2. F oucault heute . D as S ubjek t im  K ontext von W issen , M acht , E thik   und Ä sthetik 2.1 Perspektivierungen und Neuentwürfe Foucault, Kant, Hegel, Bloch und Mbembe im Dialog  | 31 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6

Grenze und Überschreitung. Michel Foucaults Kantrezeption im Spiegel der philosophischen Metaphern | 31 Thema und Variation. Foucaults historische Apriorität als Kritik an Kants Konzept des Apriori | 45 Freiheit, Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Natur und Geschichte bei Kant und Foucault | 55 Von der Utopie zur Heterotopie. Foucaults philosophische Konzeption von Geschichte als Antwort auf Kant und Hegel | 66 Future and Possibility. Hoffnung in Kants, Foucaults und Blochs Philosophie | 76 Projekt Zukunft. Kritik, Gewalt und Fortschritt bei Kant, Foucault und Mbembe  | 88

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie Subjekt, Ethik und Ästhetik bei Foucault  | 111 2.2.1 Erkenne dich selbst. Anthropologische Perspektiven in der Ästhetik Hegels und in Foucaults Ästhetik bzw. Ethik | 111 2.2.2 Die leere Form des Heils. Die Ethik des guten Lebens bei Michel Foucault | 121 2.2.3 Ästhetik des Spiels und Techniken des Selbst. Der Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Michel Foucault | 127 2.2.4 Ökonomie, Kunst und Affekt. Affektökonomie und deren Grenzen im philosophischen Konzept von Michel Foucault | 143 2.2.5 Affekt. Körper. Begehren. Emotionalität bei Michel Foucault und Judith Butler | 155

2.3 Subjekt und Macht Foucaults Konzept von Macht und Widerstand im globalen Kontext  | 169 2.3.1 2.3.2 2.3.3

Macht und Grenzen der Macht. Widerstand und Autonomie bei Michel Foucault | 169 Foucaults Machtkonzeption aus Sicht der post- und dekolonialen Theorien von Mbembe und Mignolo  | 187 Thinking resistance. Kritik und Widerstand bei Foucault, Bhabha und Mignolo | 205

3. R esümee 4. Literaturverzeichnis  | 231

1. Einführung

1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault

Revisiting Foucault ermöglicht es, zum einen Foucaults Philosophie in einer Gesamtschau zu betrachten, die Wurzeln seines Philosophierens zu beleuchten und die Schwerpunkte seines Denkens herauszustellen und zum anderen die heutige Relevanz seiner Theoreme im Rahmen neuerer Denkrichtungen zu untersuchen. Ist Foucault überholt1 und kann zu den philosophischen Klassikern gezählt werden, die nur noch philosophiehistorische Bedeutung haben und für den aktuellen geisteswissenschaftlichen Dialog und die aktuelle gesellschaftspolitische Analyse nichts mehr beizutragen haben? Foucaults Anspruch war es immer, durch sein archäologisches und genealogisches Verfahren und die Untersuchung der von ihm gewählten Thematiken einen Beitrag zur Loslösung des Menschen aus bestehenden Wissens- und Machtstrukturen zu leisten und den Menschen und die Gesellschaft zu verändern. Seine Philosophie muss als lebensweltlich ausgerichtetes Programm mit politischen Implikationen verstanden werden. Ist sein emanzipatorischer Impetus einer experimentellen Kritik in dieser Form heute noch aufrechtzuerhalten oder brauchen wir mit den sich zeigenden gesellschaftlichen Herausforderungen im globalen Kontext neue Formen des kritisch-emanzipatorischen Denkens 1 | Diese These wird insbesondere vom naturtechnologisch ausgerichteten neuen Materialismus Barads, dem Agential Realism, in dem sie Konstruktivismus und Realismus zusammendenkt, vertreten, eine Form der neuen materialistischen Ontologie. Vgl. dazu Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham, London (Duke University Press), 2007. Obwohl sie auf Foucault rekurriert, hält sie ihn insbesondere hinsichtlich seines ›ideellen‹ Konstruktivismus und seiner Konzeption von Biomacht und Biopolitik für überholt. Post- bzw. dekoloniale Theoretiker wie Mbembe, Bhabha und Mignolo werfen Foucault Eurozentrismus vor und kritisieren seine Theorie der Macht vehement. Auch sie halten ihn für überholt. Siehe dazu Abschnitt 2.3. in dieser Untersuchung.

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und Handelns, wie sie z.B. vom neuen Realismus gefordert werden?2 Welche Bedeutung haben seine Erkenntnisse im 21. Jahrhundert? Die vorliegende Arbeit möchte unter Einbeziehung aller Teile seiner Philosophie eine umfassende Betrachtung seines Denkens insbesondere auf der Grundlage der Berücksichtigung seiner kantischen Bezüge und Wurzeln und unter Rekurs auf Bloch vornehmen, die in der Foucault-Rezeption oft nicht genügend beachtet oder betont werden, aber eine besondere Relevanz hinsichtlich der Einschätzung seiner heutigen gesellschaftspolitischen Bedeutung haben. Insbesondere die oft auf Verwunderung stoßende Betonung der Rolle des Subjekts im Foucault’schen Konzept der Emanzipation mit seinen Theoremen Kritik und Freiheit und sein Interesse an den Phänomenen Hoffnung und Zukunft werden so besser verständlich. Die vorliegende Analyse legt den Schwerpunkt auf die Untersuchung der emanzipatorischen Momente der Foucault’schen Philosophie, in deren Mittelpunkt Begriffe wie Freiheit, Autonomie und Kritik stehen. In diesem Kontext fehlen Untersuchungen zur Kantrezeption Foucaults, die gerade im Hinblick auf den Aspekt der Erkenntniskritik und der Aktualität von Philosophie und deren gesellschaftlicher Relevanz bedeutsam sind und auch ein Zusammendenken von Kritik 3 und Parrhesia als Form der Kritik und/oder umgekehrt der Kritik als Spielart der Parrhesia erfordern und deren kritisches Durchdenken.4 Die Frage nach der Aktualität stellt sich demnach in zweifacher Hinsicht: als Aktualität in und von Foucaults Philosophie. Aktualität begegnet uns in diesem Zusammenhang im Sinne von Foucaults Kantinterpretation als 2 | So fordert z.B. Bruno Latour – u.a. Foucaults Konstruktivismus kritisierend – eine neue Form der Kritik. Vgl. Latour, Bruno: Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich (diaphanes), 2007. Latour vollzieht »eine trostlose[n] Schilderung der kritischen Landschaft« und sagt: »Der Zeus der Kritik herrscht absolut, aber er herrscht über eine Wüste.« (Latour 2007: 40, 43) Diese zerstörerische Kritik möchte er verändern und fordert: »[D]iese Rückkehr zur realistischen Haltung ist es, was ich dem kritisch Denkenden als nächste Aufgabe anempfehlen möchte.« (Latour 2007: 12) Und: »Haben wir ein wirksames deskriptives Instrument zur Verfügung, eines, das mit Dingen von Belang arbeitet und dessen Bedeutung nicht mehr darin besteht, zu entlarven, sondern zu schützen und zu pflegen«. (Latour 2007: 22) Weiter heißt es bei ihm: »[D]er Kritiker ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt.« (Latour 2007: 55) Diese Form von Kritik gilt es nach Latour zu entwickeln. 3 | Vgl. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2012a, S. 39. 4 | In der Sekundärliteratur lässt sich bereits in den letzten Jahren eine Verschiebung im Hinblick auf die Bearbeitung dieser Thematiken erkennen, was insbesondere auf die Veröffentlichung der Vorlesungen von Foucault zurückzuführen ist. Siehe dazu z.B. Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (diaphanes), 2012.

1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault

Anspruch der Philosophie, der aktuellen Gesellschaft in der Analyse gerecht werden zu können und für sie relevant zu sein – als ›Ontologie der Gegenwart‹, ›Ontologie der Aktualität‹, ›Ontologie der Moderne‹ und ›Ontologie unserer selbst‹,5 wie die bis heute bedeutendste Arbeit zum Verhältnis von Foucault und Kant Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants? von Andrea Hemminger verdeutlicht hat.6 Foucault nimmt die Position eines Diagnostikers und »Anatoms, der eine Autopsie vornimmt« 7 ein. Foucault beschreibt dies auch als Suche nach dem blinden Fleck: »Auch diese Art blinder Fleck, von dem aus wir sprechen und sehen, skizzieren, zeichnen, bestimmen zu können, neu zu begreifen, was uns eigentlich diesen Blick in die Ferne möglich macht, die Nähe zu bestimmen, die überall um uns herum das allgemeine Feld unseres Blicks und unseres Wissens ausrichtet. Eben diese Unsichtbarkeit zu erfassen, dieses Unsichtbare am allzu Sichtbaren, diese Entfernung von dem, was zu nah ist, diese unbekannte Vertrautheit, darin besteht aus meiner Sicht das wichtige Verfahren meiner Sprache und meines Diskurses.« 8

Die neueren Auseinandersetzungen mit Foucaults Kantrezeption wie z.B. die von Jens Kertscher9 und Marcus Gabriel10 betonen, nachdem inzwischen die Vorlesungen Foucaults vollständig herausgegeben sind, das Verhältnis von Kri5 | Vgl. Foucault 2012a: 39. 6 | Hemminger, Andrea: Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants? Berlin (Philo Verlagsgesellschaft), 2003. Als ein weiteres Beispiel für eine Würdigung der Kantrezeption Foucaults in der Sekundärliteratur siehe Raffnsøe, Sverre; Gudmand-Høyer, Marius; Thaning, Morten S.: Foucault: Studienhandbuch. München (Fink), 2011. 7 | Foucault, Michel: Das giftige Herz der Dinge: Gespräch mit Claude Bonnefoy. Zürich (Diaphanes), 2012b, S. 40f. Foucault sagt: »Ich bin weder das eine noch das andere, ich bin Arzt, sagen wir Diagnostiker. Ich möchte eine Diagnose stellen und meine Arbeit besteht darin, durch das Aufschneiden der Sprache etwas freizulegen, was die Wahrheit dessen wäre, was tot ist.« (Foucault 2012b: 44f.) Foucault sieht hierin eine Nähe zu Nietzsche: »Für Nietzsche war die Philosophie in erster Linie Diagnose, sie hatte mit dem Menschen zu tun, insofern dieser krank war. Kurzum, sie galt ihm zugleich als Diagnose und gewaltsame Therapie der Kulturkrankheiten.« (Foucault 2012b: 46) 8 | Foucault 2012b: 68f. 9 | Kertscher, Jens: »Vorurteilslosigkeit oder Wahrhaftigkeit: Kant und Foucault über Aufklärung«. In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (diaphanes), 2012, S. 143-159. 10 | Gabriel, Markus: »Analytik der Wahrheit und Ontologie der Gegenwart? Der späte Foucault über Freiheit, Wahrheit und Kontingenz«. In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (diaphanes), 2012, S. 3347.

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tik und Parrhesia, womit eine Brücke von Foucaults erkenntnistheoretischen Aspekten zu seiner Ethik mit den Techniken der Selbstformung gespannt wird, woran hier angeschlossen werden soll. Darüber hinaus soll die kritische Auseinandersetzung mit Foucault in der heutigen Philosophie wie z.B. bei Judith Butler und Byung-Chul Han und in den post- und dekolonialen Theorien Achille Mbembes, Homi K. Bhabhas und Walter Mignolos beleuchtet werden. Dies geschieht beispielhaft für die aktuelle kritische Rezeption seines Werks in diesem Theoriefeld, die neben einer Absage an Foucault oft auch ein Weiterdenken seiner Theoreme bedeutet. Schwerpunkt der Untersuchung bildet der Aspekt des Subjekts zwischen Wissen, Macht, Ethik und Ästhetik in Geschichte und Politik – und somit das Subjekt zwischen Autonomie und Heteronomie. Neben der insbesondere durch das historisierende Verfahren vorgenommenen Betonung von geschichtlich Gewordenem und der Diagnose des Gegenwärtigen ergibt sich bei Foucault ein besonderes Interesse an der Gestaltung der menschlichen Zukunft. Die Untersuchung der Dimension des Möglichen bei Foucault bildet einen besonderen Schwerpunkt der vorliegenden kritischen Auseinandersetzung. Ausgangspunkt von Foucaults Philosophieren ist die Untersuchung der heteronomen Momente der Subjektkonstituierung in Wissens- und Machtkomplexen. Es geht dabei zunächst primär um die Analyse von Wissen strukturierenden Epistemen bzw. Regeln von Diskursen in Diskursformationen und deren machttheoretische Implikationen in einzelnen Bereichen in der synchronen wie diachronen Dimension. Die vorgenommenen Einzelanalysen in Wahnsinn und Gesellschaft, Psychologie und Geisteskrankheit, Die Geburt der Klinik, Überwachen und Strafen, Über Hermaphrodismus: Der Fall Barbin und Pierre Rivière u.a. lassen bereits ein generelles Interesse an diskursanalytischen Fragestellungen, die mit Machtverschiebungen zu tun haben, deutlich werden.11 Foucault unterzieht verschiedene Gegenstandsbereiche einer konkreten archäologischen und genealogischen Analyse, um Philosophie neu zu konzipieren und als konkretes Projekt der Gesellschaftsanalyse und -kritik zu erproben – bis hin zur zeitweisen provokativen Absage an die Philosophie. Die neue Art des Arbeitens ergibt sich aus dem zugrundeliegenden Interesse an 11 | Vgl. Foucault, Michel: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1968; Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1973; Foucault, Michel: Der Fall Pierre Rivière: Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 21975; Foucault, Michel: Raymond Roussel. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1989c; Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1994; Foucault, Michel: Über Hermaphrodismus: Der Fall Barbin. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1998; Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M. (Fischer), 72005b.

1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault

einer Gesellschaftsanalyse nahe an einzelnen Phänomenen, die die Formierung der Subjekte bestimmen und ggf. Veränderungsmöglichkeiten aufscheinen lassen. Von Anfang an zeigt sich bei Foucault auch eine Tendenz zur Suche nach Möglichkeiten des Subjekts zum Herausbrechen und zur Loslösung aus bestehenden Zwängen, zur Veränderung bestehender Formierungen und zur Auseinandersetzung mit diesen Problemkomplexen. Schon seine Beschäftigung mit den Themen Wahnsinn und Literatur manifestiert Foucaults Bedürfnis nach anderen Formen des Denkens und Fühlens und der Erfahrungen von Körperlichkeit im Sinne eines Gegendiskurses und einer Überschreitung. Seine – sogenannte – subjekttheoretische Wende ist genau in diesem Zusammenhang als Fortsetzung der Bearbeitung eines Problemkomplexes, der von ihm noch keine zufriedenstellende theoretischen Lösung erfahren hat, in der Präzisierung, Ausweitung und/oder Verschiebung zu verorten. Daneben geht es ihm auch um das Verdeutlichen von Bezügen und Zusammenhängen zwischen den einzelnen Bereichen seiner Philosophie. Die angestrebte Gesellschaftsveränderung und die Veränderung der mit ihr verbundenen individuellen Lebensweisen sind ohne aktive Mithilfe des Individuums nicht denkbar. Diese rückt folgerichtig immer mehr in den Vordergrund seines Denkens, was sich u.a. auch in Foucaults Interesse an den Themen Widerstand und Revolution spiegelt. Schon früh wurde ein Abgesang auf die Foucault’sche Philosophie gesungen, als es bei Baudrillard Oublier Foucault (1977) hieß.12 Doch im Gegenteil kann im Allgemeinen nur von einem Siegeszug seines Denkens gesprochen werden. Auf Foucault wird weltweit in so unterschiedlichen Disziplinen wie Wirtschaftswissenschaften, Disability Studies, Security Studies, Kriminalwissenschaft, Literaturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft etc., um nur einige zu nennen, rekurriert. Der Anschluss an sein Denken ist anscheinend bis heute in vielfältiger Weise möglich. Foucault gilt nach wie vor als einer der wichtigsten Impulsgeber der Geistes- und Sozialwissenschaften. Allerdings werden vermehrt kritische Stimmen laut, die Foucaults Denken nur für begrenzt anwendbar und sogar für überholt halten, insbesondere in den post- und dekolonialen Theorien, die Foucault z.B. Eurozentrismus vorwerfen, in den Theorien des neuen Realismus, die seinen Konstruktivismus kritisieren, oder auch in der Machtheorie Byung-Chul Hans, die in ihrem Kern schwerpunktmäßig auf Hegels Überlegungen beruht. Der politisch-gouvernementale und machttheoretische Schwerpunkt der Foucaultrezeption bezieht allerdings die post- und dekoloniale Kritik an Foucault nicht mit ein. Eine Untersuchung dieser Rezeptionen steht bislang noch aus, eine Forschungslücke, die diese Untersuchung schließen möchte. In diesem Kontext stellen sich 12 | Baudrillard, Jean: Oublier Foucault. Paris (Éditions Galilée), Réédition de 2004 [1977].

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die Fragen: Ermöglicht Foucaults Theorie eine über Europa hinaus gehende Gesellschaftsanalyse, wird sie den globalen Veränderungen gerecht oder muss hierfür über Foucault hinausgedacht werden? Die Sekundärliteratur zu Foucault ist umfangreich und vielfältig ausgerichtet. Auffallend in ihr ist zum einen die Betonung der diskursanalytischen und machttheoretischen Seite seines Werks, die mit einer Fokussierung auf die Heteronomie des Subjekts bis hin zum Starkmachen seiner These vom ›Tod des Subjekts‹,13 was zu einer Überbetonung des Ausgeliefertseins des Subjekts gegenüber insbesondere staatlichen und institutionellen Formungen bis hin zur Vorstellung von einer ›Tat ohne Täter‹14 reicht, und auf der anderen Seite die Betonung der ästhetischen Gestaltung des Individuums in der gesellschaftlichen Belanglosigkeit eines individuellen Hedonismus.15 Diese ist zumeist mit dem Vorwurf einer Ichzentriertheit und eines Solipsismus bei Foucault verbunden. Hier liegen eklatante Fehlinterpretationen seines Werks vor, wie insbesondere Fransisco Ortega in seiner Untersuchung der Freundschaft bei Foucault aufzeigt.16 Auch die Parrhesia, die in bestimmten Formen

13 | »Man braucht sich nicht sonderlich über das Ende des Menschen aufzuregen; das ist nur ein Sonderfall oder, wenn Sie so wollen, eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich nicht den Tod Gottes, sondern den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte.« In: Foucault, Michel: »Die Geburt einer Welt [Gespräch mit J.-M. Brochier]«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits: Band I: 1954-1969. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 1002. Siehe dazu auch: Nagl-Docekal, Herta; Vetter, Helmuth (Hg.): Tod des Subjekts? Wien, München (Oldenbourg), 1987. 14 | Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1995, S. 27. Ein Umschlagen dieser Sichtweise in eine Freiheitskonzeption des Subjekts lässt sich bei Philipp Sarasin beobachten, wenn er Foucaults Nähe zu Sartres Willens- und Freiheitsbegriff behauptet. Hier liegt aus meiner Sicht eine Überinterpretation von Foucaults Freiheitsbegriff vor. Vgl. Sarasin, Philipp: Foucault zur Einführung. Hamburg (Junius), 6 2016a. 15 | Suárez Müller spricht hinsichtlich des Foucault’schen Hedonismus von einem sozialkritischen Hedonismus. Vgl. Suárez Müller, Fernando: Skepsis und Geschichte: Das Werk Michel Foucaults im Lichte des absoluten Idealismus. Würzburg (Königshausen & Neumann), 2004, S. 199. Dieser Interpretation des Foucault’schen Hedonismus stimme ich zu. 16 | Ortega, Francisco: Michel Foucault: Rekonstruktion der Freundschaft. München (Fink), 1997. Ortega zeigt die Bedeutung des Anderen für das ethische Konzept Foucaults auf.

1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault

mit Freundschaft verbunden ist, setzt in einer besonderen Weise die Beziehung zum Anderen voraus. »Mit anderen Worten: Man kann sich nicht mit sich selbst befassen, sich um sich selbst sorgen, ohne eine Beziehung zu einem anderen zu haben. Die Rolle dieses anderen besteht nun aber gerade darin, das Wahre zu sagen, das ganze Wahre zu sagen oder zumindest das ganze nötige Wahre zu sagen, und zwar es in einer bestimmten Form zu sagen, die die parrhesia ist, die wieder mit Freimut übersetzt wird.«17

Die relationalen subjekttheoretischen Bezüge im Hinblick auf Foucaults Ethik der Selbstsorge werden in der aktuellen Betrachtung immer noch nicht ausreichend berücksichtigt, insbesondere auch im Hinblick auf die Dimensionen der Emotionalität und des Ästhetischen. Diese Untersuchung möchte auch zur Bearbeitung diese Aspekte einen Beitrag leisten, insbesondere auch unter der Fragestellung, welche Rolle Affektivität im Kontext der Diagnose der Gegenwart auf der Basis einer genealogischen Analyse des historischen Gewordenseins in Bezug auf Subjekt-, Macht- und Wissensfragen und der Möglichkeiten zur Gestaltung der Zukunft spielt. Die Zusammenschau der einzelnen Teile seiner Philosophie misslingt in der Foucaultrezeption zumeist, oft werden sie als zusammenhanglose, bruchstückartige Werkstücke betrachtet, die einen häufigen Richtungswechsel seines Denkens manifestieren und seine Philosophie als mehrfach revidierte Abfolge philosophischer Erkenntnisse erscheinen lassen.18 Der Fokus dieser Untersuchung liegt darin, das Foucault’sche Philosophieren in seiner generellen Ausrichtung aufzeigen zu wollen, um das Ineinandergreifen der einzelnen Teile aufscheinen zu lassen.19 Nach Foucault soll die Untersuchung der Phänomene wie Wahnsinn, Kriminalität und Sexualität in »das allgemeine Projekt«20 einbezogen werden. »Diese sollten dann entsprechend der Korrelation der drei Achsen untersucht werden, die diese Erfahrungen ausmachen, nämlich der Achse der Bildung von Erkenntnissen, 17 | Foucault 2012a: 66. 18 | Ein Beispiel hierfür ist die Interpretation von Philipp Sarasin, der den subjekttheoretischen Teil der Philosophie Foucaults als Wende bezeichnet. Vgl. Sarasin, 6 2016a. Petra Gehring dagegen vertritt wie die vorliegende Untersuchung eine Kohärenzthese, die u.a. am Beispiel des Theorems Freiheit exemplifiziert wird. Vgl. Gehring, Petra: »Foucault’sche Freiheitsszenen«. In: Gehring, Petra; Gelhard, Andreas (Hg.): Parrhesia: Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich (diaphanes), 2012, S. 13-31. 19 | Eine ähnliche Ausrichtung weist die Untersuchung von Raffnsøe/Gudmand-Høyer/ Thaning 2011 auf. 20 | Foucault 2012a: 63.

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Foucault heute der Achse der Normativität von Verhaltensweisen und schließlich der Achse der Konstitution von Seinsmodi des Subjekts.« 21

Dies soll allerdings nicht als These missverstanden werden, dass Foucaults Philosophie ein vorgefertigter Plan zugrunde liegt und Systemcharakter aufweist. Stattdessen liegt der Analyse die schwächere These zugrunde, dass Foucaults Denken durchgehend der Lösung bestimmter theoretisch/praktischer Problemstellungen mit gesellschaftspolitischer Relevanz, die den Zusammenhang von Subjekt, Wissen und Macht betreffen, verhaftet bleibt. Diese Problemstellungen müssen durchaus nicht von Anfang an fertig ausgearbeitet vorliegen, sondern können sich auf Grund vorangegangener Arbeiten und von deren Ergebnissen bzw. sich in ihnen zeigenden offenen Fragestellungen entwickeln – im Sinne einer Philosophie als work in progress. So ergibt sich im Denken Foucaults ein durchgehender roter Faden, der eine besondere Form der Kohärenz stiftet, die nicht durch eine Systematik geschaffen wird, sondern durch auf verschiedenen Ebenen und Bereichen bearbeitete Thematiken und Problematiken – verbunden mit Verschiebungen, Detaillierungen und Ausweitungen –, die den kontextuellen Rahmen bilden und eine als Zielvorstellung zu verstehende Ausrichtung ableitbar machen. Diese lässt sich als ein in einem spezifischen Sinne verstandenes emanzipatorisches Anliegen bezeichnen, das nicht allein mit der Zunahme von Erkenntnis verbunden ist, sondern in einem kritischen Impetus in einer praktischen Dimension Emotionalität und Körperlichkeit einbezieht, was eine Reflexion des Gewordenseins und der Möglichkeiten zur Veränderung des Subjekts auf der Basis der archäologischen und genealogischen Analyse von Wissens- und Machtformationen voraussetzt. Foucaults Anliegen der Verbindung einzelner Stränge seiner Arbeit wird immer wieder deutlich, insbesondere vermittels seiner Theoreme Parrhesia, Gouvernementalität und Praktiken des Selbst, die in der Verschiebung Kontinuität und Zusammenhang stiften. »Dieser Übergang, diese Verschiebung der Wissensentwicklung zur Analyse der Veridiktion bildete eine erste theoretische Verschiebung, die zu leisten war. Die zweite zu leistende theoretische Verschiebung besteht darin, sich bei der Analyse der Normativität von Verhaltensweisen von einer allgemeinen Theorie der Macht oder von Erklärungen durch die Herrschaft im allgemeinen zu befreien und zu versuchen, die Geschichte und Analyse der Gouvernementalität zur Geltung zu bringen. Schließlich besteht die dritte Verschiebung, die geleistet werden soll, im Übergang von einer Theorie des Subjekts, auf deren Grundlagen man versuchen könnte, die verschiedenen Seinsmodi freizule-

21 | Ebd.

1.1 Zur Frage der Aktualität des philosophischen Konzepts von Foucault gen, zur Analyse der Modalitäten und Techniken der Selbstbeziehung oder auch zur Geschichte der Pragmatik des Subjekts in ihren verschiedenen Formen […].« 22

Das Aufzeigen der ›Korrelation‹ zwischen den Bereichen23 stellt einen Versuch des Zusammenführens von disparaten, verstreut vorgenommenen Untersuchungen dar. »Mit dem Begriff der parrhesia haben wir, wie Sie sehen, einen Begriff, der sich an der Kreuzung der Pflicht zum Wahrsprechen, der Verfahren und Techniken der Gouvernementalität und der Herstellung des Selbstverhältnisses befindet.«24 Foucault stellt fest: »Der Begriff [hat] etwas Spinnenartiges«25 und ist auf der Grenze zwischen individueller Leitung und dem Bereich des Politischen zu verorten.26 Er leistet somit auch eine Verschränkung der Theorie des Wissens und der Theorie des Subjekts mit der der Macht, wie dies gleichermaßen für die Begriffe Gouvernementalität und Selbsttechnologie gilt, und schafft damit auch eine Verbindung von Theorie und Praxis in der philosophischen Konzeption. Diese Theoreme fallen durch ihre Funktion der Verschränkung von verschiedenen Theorieelementen auf. Hinsichtlich der aktuellen Relevanz Foucaults in der Auseinandersetzung in der Sekundärliteratur fällt neben dem Gesichtspunkt der Parrhesia insbesondere der Schwerpunkt Politik und Macht mit besonderer Berücksichtigung der Aspekte Disziplin, Postoralmacht und Biopolitik, Gouvernementalität und Ökonomie auf,27 wobei der zwischen den genannten Schwerpunktbereichen bestehende Zusammen22 | Foucault 2012a: 63f. Und weiter heißt es: »Ich hatte mich abwechselnd vor allem der Untersuchung jeder dieser drei Achsen gewidmet: der Achse der Bildung von Erkenntnissen und der Praktik der Veridiktion; der Achse der Normativität von Verhaltensweisen und der Technik der Macht; schließlich der Achse der Konstitution der Seinsmodi des Subjekts auf der Grundlage der Praktiken des Selbst.« (Foucault 2012a: 64) 23 | »Mit der Fragestellung nach der Regierung des Selbst und der anderen möchte ich versuchen herauszufinden, wie das Wahrsprechen, die Verpflichtung und die Möglichkeit des Wahrsprechens in den Verfahren der Regierung zeigen können, wie das Individuum sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Subjekt konstituiert.« (Ebd.) 24 | Foucault 2012a: 68. Und weiter: »Das Wahrsprechen […] ist eine der wesentlichen Bedingungen dafür, daß wir die angemessene Beziehung zu uns selbst bilden können, die uns Tugend und Glück verleihen wird.« (Ebd.) 25 | Ebd. 26 | Vgl. Foucault 2012a: 70. 27 | Vgl. Faubian, James D. (Hg.): Foucault Now: Current Perspectives in Foucault Studies. Cambridge (polity), 2014; Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung der Gegenwart. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 6 2012; Binkley, Sam; Capetillo, Jorge (Hg.): A Foucault for the 21st Century: Gouvernmentality, Biopolitics and Discipline in a New Millennium.

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hang nicht genügend bedacht wird. Es lassen sich im Einzelnen Verschiebungen, Ausweitungen und Präzisierungen der Problemstellungen konstatieren, die einer genauen Analyse zugeführt werden sollen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Subjekts zwischen Grenze und Überschreitung.

Newcastle (Cambridge Scholars Publishing), 2009; Pickett, Brent: On the Use and Abuse of Foucault for Politics. London, Boulder, New York u.a. (Lexington Books), 2006.

1.2 Das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie bei Foucault

Nach Foucault kann die Konstitution eines autonomen Subjekts nicht frei von fremdbestimmten Faktoren verstanden werden, so dass sich Autonomie und Heteronomie nicht in einem oppositionellen Sinne gegenseitig ausschließen, sondern als miteinander verwoben, sich ablösend und als ein auf partielle Momente bezogenes Nebeneinander zu denken sind. Dieser Auffassung liegt die Vorstellung der gleichzeitigen Konstituiertheit des Subjekts und seiner Möglichkeit zur Selbstkonstituierung zugrunde, die sich in seinem Machtbegriff als Spiel bzw. Kampf von Kräfteverhältnissen in seiner Mikro- und Makrophysik der Macht spiegelt. Archäologische und genealogische Verfahren untersuchen in Bezug auf Wissen, Macht und Ethik bzw. Ästhetik das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie. Foucault entwickelt seine Konzeption von Autonomie und Heteronomie im Zusammenhang mit seiner Kantrezeption in einer Kants Verständnis der Begriffe modifizierenden Weise. Bei Kant ist Autonomie primär als »oberstes Princip der Sittlichkeit«1 als Selbstgesetzgebung2 im Sinne einer unbedingten moralischen Verpflichtung zu verstehen.3 Das Prin1 | Kant, 04: 434. Die Angaben zu Kant in diesem Buch beziehen sich auf die Akademieausgabe seiner Werke: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hg.: Bd. 1-22 Preußische Akademie der Wissenschaften; Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin; ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. Die Abkürzungen für die Werke und die Zitierweise orientieren sich an den Vorschlägen der Deutschen Kant-Gesellschaft. 2 | Vgl. Kant, 04: 431; Kant, 29: 629. 3 | Den Begriff Autonomie, der sich an der politischen Souveränität ausgerichtet und ursprünglich aus der politischen Philosophie kommt, verwendet Kant in seinen publizierten Schriften zum ersten Mal in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant bezieht Autonomie primär auf den Willen vernünftiger Wesen und spricht von »der Autonomie der Vernunft selbst« (Kant, 05: 125f; vgl. auch Kant, 04: 443-445), die in der GMS keine von Gott verbürgte Verbindlichkeit mehr benötigt. »Autonomie des Willens

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zip der Autonomie ist also: »nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.«4 Der freie Wille kann unabhängig von Interessen und Neigungen, von fremden Ursachen, wirken. Autonomie und Freiheit stehen dabei in einem engen Zusammenhang: »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten […]. Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. die Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit den obersten praktischen Gesetzen zusammenstimmen können.« 5

Autonomie als Vermögen des Willens selbstgesetzgebend tätig sein und dem kategorisch Imperativ folgen zu können entspricht dem positiven Freiheitsbegriff Kants.6 Der Begriff Autonomie bezeichnet bei ihm gleichzeitig ein Vermögen und ein Prinzip und betrifft die Elemente Erkenntnis, Urteil und Handeln und wird in seiner Moralphilosophie sowohl deskriptiv als auch normativ gebraucht. Die dem Menschen mit dem kategorischen Imperativ zukommende Fähigkeit der Selbstgesetzgebung macht nach Kant die Würde des Menschen aus und wahrt diese gleichermaßen.7 ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« (Kant, 04: 440) Sittliche Autonomie ist auch im Hinblick auf das Verhältnis von Moral und Recht entscheidend und als gemeinsame Grundnorm anzusehen; sie stellt gleichermaßen den Urgrund und die Begrenzung des Rechts dar. 4 | Kant, 04: 60. 5 | Kant, KpV, I § 8. 6 | »[W]as kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?« (Kant, 04: 446) Dabei ist die Möglichkeit des Einzelnen zum freien moralischen Handeln gemeint, die mit der Anerkennung des kategorischen Imperativs Hand in Hand geht. In diesem Zusammenhang ist Kants Autonomieformel des kategorischen Imperativs von Bedeutung. (Vgl. Kant, 04, BA 76) 7 | Kant stellt fest, dass »Autonomie […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« (Kant, 04: 436) ist. Würde wird bei Kant verschieden erläutert: [S]ie beruht zum einen bereits auf der menschlichen Fähigkeit zum moralischen Handeln, zum anderen setzt sie das Handeln nach dem kategorischen Imperativ voraus. Des Weiteren rekurriert Kant im Hinblick auf die Menschenwürde auch ganz allgemein auf die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Als motivationale Grundlage dient Kant

1.2 Das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie bei Foucault

Der in seiner Moralphilosophie entwickelte Begriff von Autonomie als Selbstgesetzgebung, als die dem Menschen allgemein zukommende Eigenschaft als Vernunftwesen und als universale Bedingung von moralischem Handeln wird von Kant in seinem Aufsatz Was ist Auf klärung? erweitert. Hier lässt sich Autonomie als unabhängiges Urteil, ein dem Menschen zukommendes Recht auf Selbstbestimmung, Selbstkontrolle und/oder Handeln nach Prinzipien im sozialen bzw. politischen Kontext verstehen. Hinsichtlich der beiden Begriffe Autonomie und Freiheit rekurriert Foucault primär auf die kleineren, zumeist geschichtsphilosophischen Schriften Kants.8 So wird mit Kants Theoremen Aufklärung, Kritik, Öffentlichkeit und Revolution der gesellschaftspolitische Kontext zum Bezugspunkt. Nach Foucault strebt Kant im Prozess der Aufklärung die Etablierung von einem »Verhältnis der Autonomie zu sich selbst« an, »die [es] uns erlaubt, uns unserer Vernunft und unserer Moral zu bedienen«.9 Foucault geht es dabei um eine Selbstbestimmung10 im Sinne der Unabhängigkeit von Arten des Regiertwerdens, die die Heteronomie des Subjekts befördas der Vernunft nahestehende Gefühl des Respekts vor dem Gesetz. Der kategorische Imperativ wirkt so im autonomen Handeln selbstmotivierend. 8 | Foucault bezieht sich primär auf die beiden Schriften ›Was ist Aufklärung‹ und ›Streit der Fakultäten‹. 9 | Foucault 2012a: 53. 10 | Selbstbestimmung meint bei Kant im Unterschied zu Foucault zum einen die freie Entscheidung des Subjekts hinsichtlich der Wahl von Maximen und Handlungen und zum anderen die Determination des Subjekts durch einen Zweck. Insgesamt betrachtet benutzt er den Begriff Selbstbestimmung relativ selten. Des Weiteren bringt er Selbstbestimmung auch mit Selbstkonstitution und Selbstaffektion des Subjekts in Zusammenhang. (Vgl. Kant, 04: 427; 07: 251; 22: 73-87) Im relativen Sinne ist die Unabhängigkeit des Handelns von bestimmten faktischen Antrieben gemeint, wodurch eine Möglichkeit zur Wahl gegeben ist. »[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontanität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen.« (Kant, 06: 23f.) Im absoluten Sinne bezieht sich Selbstbestimmung als Vernunftadäquatheit auf die Bestimmtheit von Erkennen, Urteilen und Handeln durch apriorische Vernunftprinzipien in moralischer Hinsicht. Die Kraft als Handlungsvermögen des Subjekts wird in der Anthropologie hierbei mittels Einflussnahme auf sich selbst durch Imagination vorgenommen. Im Opus postumum lässt sich eine Tendenz zur Begriffsbestimmung im Sinne einer Selbstkonstitution ablesen. (Vgl. Kant, 22: 82) Hier sind weitere Bezüge Foucaults zu Kant auszumachen, die immer wieder im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen und tiefere Strukturen des Foucault’schen Philosophierens offen legen.

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Foucault heute

dern. Für Foucault besteht die Heteronomie des Subjekts11 in den freiheitsraubenden Kontrollmechanismen, denen es ausgesetzt ist und die sein Denken und Handeln bestimmen, aber nicht grundsätzlich festschreiben. Foucaults Verständnis von Autonomie begründet die Fähigkeit zur Selbstformung des Menschen als Ethik bzw. Ästhetik des Selbst und steht dezidiert in einem diskurs- und machttheoretischen Zusammenhang. Suárez Müller kritisiert den verdeckten normativen Charakter von Foucaults Theoremen: »Es scheint mir, dass explizite Anhaltspunkte für die latenten Kriterien der Gesellschaftskritik Foucaults in seiner Ethik anzufinden sind. Foucault hebt in seiner Ethik die Autonomie und die Freiheit des Menschen hervor, aber, da diese Ethik keine normative Begründung vorlegt, präsentiert er diese Autonomie und Freiheit nicht als allgemeingültige, normative Kriterien.«12

Und weiter: »Ähnliches geschieht in seiner Kulturkritik: auch hier werden Autonomie und Freiheit nicht explizit als Kriterien anerkannt, obwohl sie immer wieder als solche verwendet werden.«13 In der Tat erweisen sich diese 11 | ›Heteronomie‹, der Gegenbegriff zu ›Autonomie‹, versteht Kant als Abhängigkeit eines menschlichen Vermögens von einem fremden Gesetz (Kant, 04: 444; 05: 282). Der Begriff ist bei Kant primär in der praktischen Philosophie zu finden. Heteronomie herrscht vor, wenn der Wille nicht vom apriorischen Moralgesetz, sondern vom Glücksstreben, einem Handeln nach hypothetischen Imperativen, bestimmt wird. Die Abhängigkeit von einem hervorzubringenden Objekt kann keine moralische Verbindlichkeit begründen. Auch den Begriff Heteronomie übernimmt Kant aus der politischen Philosophie. Hier bezeichnet er eine eingeschränkte politische Autonomie durch von außen auferlegte Gesetze und damit eine fehlende gesetzgeberische Souveränität. Diesen Gedanken überträgt er auf die Moralphilosophie. »Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin, wenn er, indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus« (Kant, 04: 441). In diesem Fall bestimmt der Wille sich nicht unmittelbar selbst, sondern wird durch die Vorstellung der Wirkung der Handlung motiviert: »[D]er Wille giebt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb giebt ihm vermittels einer auf die Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Subjects das Gesetz« (Kant, 04: 444). Moral darf nicht auf Lust bzw. Unlust und vorgegebenen Werten beruhen. »Wenn der Begriff des Guten nicht von einem vorhergehenden praktischen Gesetze abgeleitet, sondern diesem vielmehr zum Grunde dienen soll, so kann er nur der Begriff von etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Causalität des Subjects zur Hervorbringung desselben, d.i. das Begehrungsvermögen, bestimmt.« (Kant, 05: 58) 12 | Suárez Müller 2004: 90. 13 | Ebd.

1.2 Das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie bei Foucault

Theoreme als die aufklärerische Wurzel und Grundlage seines Denkens. So stehen Aufklärung und Kritik in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen im Fokus seines Kantverständnisses, nicht Kants ethischer Universalismus und sein Konzept von Vernunft. Die Begriffe Autonomie und Heteronomie werden von der deontologischen Ethik gänzlich in den Bereich der individuellen Selbstgestaltung und gesellschaftlichen Transformierung verlagert und gehen mit Foucaults besonderer Konzeption von Macht und Ethik bzw. Ästhetik Hand in Hand. Foucault verankert Autonomie und Freiheit demnach zwar wie Kant in der Ethik, versteht diese aber in einer ästhetischen Wendung, die kein universales Prinzip zulässt. Freiheit und Autonomie werden bei Foucault letztlich machttheoretisch begründet, sie sind nach ihm im Machtbegriff logisch verankert. Die machtlogische Herleitung verschafft ihnen in subjekttheoretischer Hinsicht in anderer Weise erneut universelle Geltung.

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1.3 Überlegungen zum Vorgehen

Die Analyse versucht zum einen auf der Basis der überblickhaften Sicht auf die Philosophie Foucaults und des Inbeziehungsetzens ihrer einzelnen Teile zueinander und durch einen Vergleich bestimmter Aspekte seiner Theorie wie z.B. Körper, Affektivität, Macht, Widerstand mit maßgeblichen Kritikern Foucaults – insbesondere unter den Gesichtspunkten von Aktualität und Zukunft – neu zu lesen. Insgesamt liegt dem Vorgehen ein hermeneutisches und komparatives Verfahren zugrunde. Die Untersuchung stellt sich im ersten Kapitel des Hauptteils die Aufgabe, das Subjekt zwischen Grenze und Überschreitung im Kontext der Geschichtskonzeption von Foucault vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Kant und Hegel als heterotopes Modell einer pragmatischen Ad-hoc-Ausrichtung herauszustellen, in dem menschliche Hoffnung – unter Rekurs auf Bloch – ihre Berechtigung findet. Deutlich soll hier die gesellschaftspolitische Zielvorstellung Foucaults herausgestellt werden. Seine spezifische Kantinterpretation, nach der Kant primär als Philosoph verstanden werden muss, dem es um die Aktualität seines Denkens in Bezug auf gesellschaftspolitische Prozesse seiner Zeit geht, lässt Foucault als in besonderer Weise in der Tradition von Kant stehend ins Blickfeld rücken. Hier wird Foucaults gesellschaftspolitische Ambition, sein Anspruch mit seiner Philosophie eine Analyse gesellschaftlicher Phänomene seiner Zeit und Ansätze für Lösungen zu liefern, die eine Entsubjektivierung und Entunterwerfung des Subjekts ermöglichen, in prägnanter Weise deutlich. Hierzu sollen die Metaphern Grenze und Überschreitung (Kapitel 2.1.1), die Konzeption von Apriorität (Kapitel 2.1.2) und u.a. in einem Bezug zum neuen Realismus das Verhältnis von Freiheit, Natur und Geschichte (Kapitel 2.1.3) bei Foucault und Kant verglichen werden. Im Weiteren steht in Kapitel 2.1.4 Foucaults Geschichtskonzeption ausgehend von einem Dialog mit Hegel und Kant im Fokus des Interesses. In Kapitel 2.1.5 wird hinsichtlich des Aspekts Hoffnung neben Kant auch Ernst Blochs philosophisches Konzept thematisiert. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Subjekt und Geschichte? Welche Konzeption von Zukunft wird in diesem Kontext bei Foucault sichtbar? Diese Fragen stehen auch im Kapitel 2.1.6 im Hinblick auf die Aspekte Kritik, Gewalt und Fortschritt bei Kant, Fou-

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cault und Mbembe im Fokus der Untersuchung, wobei der postkoloniale und globale Kontext insbesondere unter Bezug auf Afrika beleuchtet werden soll. Das zweite Kapitel (2.2.1) des Hauptteils thematisiert Foucaults Subjektauffassung im Vergleich mit Hegels anthropologischen Perspektivierungen – besonders auch in seiner Ästhetik – und will die besondere Ausrichtung der Foucault’schen Philosophie im Hinblick auf die Subjektfrage im Kontext von Ethik und Ästhetik herausarbeiten. Wie lässt sich in diesem Zusammenhang Michel Foucaults Theorem der leeren Form des Heils verstehen? Dieser Fragestellung wird unter Bezug auf den Aspekt des menschlichen Glücks in Kapitel 2.2.2 nachgegangen. In Kapitel 2.2.3 soll gezeigt werden, dass Foucault mit der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst den Gestaltungsraum des Subjekts untersucht, der mit der Selbstformierung durch Techniken des Selbst gleichzeitig die Hoffnung auf die Befreiung aus der Determination des Subjekts durch Diskursformationen und Machtstrategien und damit die mögliche Autonomie des Subjekts vor dem Hintergrund seines Regiertwerdens beinhaltet. Hiermit ist auch die Fundierung der Handlungsfähigkeit des Subjekts und seines Potentials zum verändernden Denken, Fühlen und Handeln und zur Gestaltung der menschlichen Zukunft verbunden. In diesem Zusammenhang stellt sich in Kapitel 2.2.4, in dem insbesondere die neoliberale Regierungsform als zentrale aktuelle Form der Gouvernementalität, die auch die Konstitution einer besonderen Subjektweise betrifft, untersucht wird, auch die Frage nach der Konstituiertheit der Affekte und des Körpers, der Möglichkeit ihrer verändernden Formung durch die Anwendung von Selbsttechniken in emanzipatorischer Absicht und deren Rolle im Prozess der Entunterwerfung des Subjekts. In diesem Kontext wird anschließend die Affektivität bei Foucault mit Judith Butlers Beschäftigung mit der Thematik verglichen und Butlers Kritik an Foucault betrachtet (siehe Kapitel 2.2.5). Es geht in diesen letzten Kapiteln des zweiten Teils insbesondere um das Herausarbeiten der besonderen Rolle der Affektivität bei Foucault und die sich daraus ergebenden Implikationen. Die im dritten Teil vorgenommene Analyse des Machtbegriffs von Foucault und die Untersuchung des menschlichen Potentials für widerständiges Handeln verdeutlichen den Gestaltungsraum für Veränderungen im individuellen wie gesellschaftlichen Bereich. Der Macht- und Widerstandsbegriff Foucaults wird in Kapitel 2.3.1 untersucht. Es soll in diesem Zusammenhang geprüft werden, ob Foucaults Machtkonzeption im Vergleich zu der Machttheorie Hans, die als eine der aktuell bedeutsamsten Theorien zum Thema angesehen werden muss, und zu den Erkenntnissen postkolonialer und dekolonialer Theoretiker wie Mignolo, Bhabha und Mbembe (siehe dazu 2.3.2 und 2.3.3) nach wie vor ein adäquates Analyseinstrument für Machtphänomene im globalen Kontext bereitstellt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Frage nach dem Subjekt zwischen Macht und Ethik bzw. Ästhetik aus heutiger Sicht? Wie ist in

1.3 Überlegungen zum Vorgehen

diesem Zusammenhang der Vorwurf des Eurozentrismus in Bezug auf Foucaults Philosophie einzuschätzen? Ist es auf der Basis seines Konzepts nicht mehr möglich, die globalen gesellschaftspolitischen Veränderungen und die damit verbundenen Subjektkonstitutionen zwischen Autonomie und Heteronomie angemessen zu erfassen? Stellt seine Philosophie für die Untersuchung aktueller Probleme im globalen Kontext nach wie vor brauchbare Theoreme, Kategorien und Kriterien der Analyse und Bewertung zur Verfügung? Hält sie ein Rüstzeug für die theoretisch/praktische Bewältigung von Zukunft bereit?

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2. Foucault heute. Das Subjekt im Kontext von Wissen, Macht, Ethik und Ästhetik

2.1 Perspektivierungen und Neuentwürfe Foucault, Kant, Hegel, Bloch und Mbembe im Dialog

2.1.1 G renze und Ü berschreitung .  M ichel  F oucaults K antre zep tion im S piegel der philosophischen M e taphern 1 2.1.1.1 Foucault und die kritische Tradition Die Metaphern Grenze und Überschreitung sind in den Philosophien von Foucault und Kant mit einem besonderen Bedeutungsgehalt versehen, der sowohl zum ganzheitlichen Verständnis der philosophischen Konzeptionen und der Auffassungen von Philosophie beiträgt und die Besonderheit des jeweiligen Denkens herausstellt als auch die Unterschiede der philosophischen Theorien verdeutlicht. Ihr spezifischer Erkenntnisgehalt soll im Kontext des metaphorischen Umfelds, der systematischen Zusammenhänge und der argumentativen Ausrichtung der Werke von Foucault und Kant untersucht werden – insbesondere im Hinblick auf Foucaults Kantrezeption im Spiegel der Metaphern. Dabei soll ausgehend von der Untersuchung der Unterschiede hinsichtlich der Verwendung der Metaphern Grenze und Überschreitung der Frage nachgegangen werden, welche Relevanz und Funktion diese Metaphern im Rahmen der Philosophien von Foucault und Kant haben und was der Einsatz der Metaphern im Hinblick auf ihre geschichtsphilosophischen Implikationen für das Verständnis der unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen bedeutet. Foucault schreibt in einem unter einem Pseudonym verfassten Lexikonartikel über sich selbst: »[Wenn Foucault wirklich in der philosophischen Tradition steht, so in der kritischen Tradition, welche die von Kant ist, und so könnte 1 | Dieses Kapitel wurde nur unwesentlich verändert veröffentlicht in: Rainsborough, Marita: »Grenze und Überschreitung. Michel Foucaults Kantrezeption im Spiegel der philosophischen Metaphern«. In: Cecchinato, Georgia; Figueiredo, Virginia de Araujo; Kauark-Leite, Patrícia; Ruffing, Margit (Hg.): Kant and the Metaphors of Reason. Hildesheim, Zürich, New York (Olms), 2015, S. 531-545.

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Foucault heute

man]2 sein Unternehmen Kritische Geschichte des Denkens nennen.«3 Immer wieder bezieht Foucault sich in seinem philosophischen Vorhaben auf Kant, insbesondere hinsichtlich der Theoreme Auf klärung und Kritik, für ihn verkörpert Kant eine bestimmte Haltung des philosophischen Lebens – ein Ethos.4 Foucault setzt die Kritiken von Kant, seinen Text über die Aufklärung und seine geschichtsphilosophische Arbeit in einen argumentativen Zusammenhang im Rahmen des Gesamtprojekts der Philosophie Kants und sieht in dem Aufsatz Was ist Auf klärung? ein Scharnier zwischen kritischer Philosophie und Geschichtsphilosophie zur Reflexion über die Aktualität seines Vorhabens. »Die Hypothese, die ich vortragen möchte, ist die, dass dieser kleine Text gewissermaßen ein Scharnier zwischen der kritischen Reflexion und der Reflexion über die Geschichte bildet. Es ist eine Reflexion Kants über die Aktualität seines Unternehmens.«5 Foucault weist den Kritiken Kants damit einen Platz im allgemeinen Projekt der Aufklärung bei Kant zu. »Er beschreibt nämlich die Aufklärung als den Moment, in dem die Menschheit, ohne sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen, von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch machen wird; nun ist aber genau in diesem Moment die Kritik vonnöten, weil sie die Rolle hat, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Gebrauch der Vernunft rechtmäßig ist, um das zu bestimmen, was man erkennen kann, was man tun muss und was man hoffen darf.« 6 2 | Die Passage in Klammern stammt von F. Ewald. 3 | Foucault, Michel: »Foucault«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 776f. 4 | »Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden. Viele Dinge in unserer Erfahrung überzeugen uns, dass das historische Ereignis der Aufklärung uns nicht mündig gemacht hat, und dass wir es noch nicht sind. Dennoch scheint mir, dass man dieser kritischen Frage nach der Gegenwart und nach uns selbst, die Kant in seiner Reflexion über die Aufklärung formuliert hat, einen Sinn geben kann. Mir scheint, dass das sogar eine Art zu philosophieren ist, die seit den letzten zwei Jahrhunderten nicht ohne Bedeutung und auch nicht ohne Wirkung war. […] man muss sie als eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen, bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist.« In: Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 706f. 5 | Foucault 2005a: 694. 6 | Foucault 2005a: 693. Foucault sagt weiter: »Die Kritik ist gewissermaßen das Logbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und umgekehrt ist die Aufklärung das Zeitalter der Kritik.« (Foucault 2005a: 694)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

Die Geschichtsphilosophie Kants bestimmt dabei Entwicklungsrichtung und Ziel des Prozesses der Aufklärung. »Foucault [fordert] mit kantischer Geste erneut eine ›wahre Kritik‹ (ebd.), als deren Modell er dann aber nicht Kant, sondern Nietzsche propagiert.« 7 So heißt es bei Andrea Hemminger im Nachwort zu Foucaults Einführung in Kants Anthropologie.8 Diesem Bezug zu Nietzsche entspringt Foucaults genealogische Forschungsmethode. Hinsichtlich des Programms, das dem Werk von Foucault zugrunde liegt, spricht sie von ›einer erneuten Kritik‹.9 Auch für Deleuze ist nach Hemminger Kants Einfluss auf Foucault für das Verständnis seiner Philosophie zentral. »Foucault vollzieht nach seiner Kant-Lektüre eine theoretische Wende, die Deleuze als ›die wichtigste Konversion Foucaults‹ bezeichnet: ›die Phänomenologie in Epistemologie [zu] verwandeln‹.«10 Dabei verändert er »die Kritik vom Transzendentalen ins Historische« und »gibt das transzendentale Subjekt auf und setzt an dessen Stelle ein Faktum der Ordnung, die bloße Tatsache, ›daß es Ordnung gibt‹. […] Der Platz des Souveräns bleibt leer.«11 Die programmatische Frage, die er anlässlich seiner Kandidatur am College de France formuliert, lautet: »wie eine Kritik aussehen muß, ›wenn man nicht in transzendentalen, sondern in historischen Begriffen analysieren will‹. […] Diese Frage ist in der Tat die Leitfrage der Archäologie, die von daher als eine Transformation der Kantischen Kritik bezeichnet werden kann. Indem hier die Analyseebene vom Transzendentalen ins Historische verlagert wird, ändert sich allerdings die Arbeitsweise der Kritik. Es geht nicht mehr darum, die

7 | Hemminger, Andrea.: »Nachwort«. In: Foucault, Michel: Einführung in Kants Anthropologie. Berlin (Suhrkamp), 2010, S. 126. 8 | Auch hinsichtlich Kants Anthropologie, die sich primär mit dem Gemüt auseinandersetzt und deren Abweichungen, Schwächen und Krankheiten Foucault untersucht, »das Negativ der Kritik«, sucht er neben seiner Beschäftigung mit ihrer Genealogie nach ihrem Platz »in der Organisation des Wissens.« (Foucault 2010a: 59, 26) Kants Anthropologie spricht er, wobei er sich insbesondere auf Kants Opus postumum bezieht, einen Passagencharakter auf dem Weg zu seiner Transzendentalphilosophie zu. Anthropologie bei Kant ist nach Foucault demnach nicht im Sinne der nachfolgenden wissenschaftlichen Anthropologie der Moderne zu verstehen. 9 | Hemminger 2010: 127. 10 | Ebd. Hemminger zitiert hier Deleuze, Gilles: Foucault. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1987, S. 153. 11 | Hemminger 2010: 128. Hemminger zitiert hier Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1974, S. 23.

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Foucault heute Bedingungen möglicher Erfahrungen zu begründen, sondern darum, die Bedingungen tatsächlicher Erfahrungen zu beschreiben.«12

Dies fasst Foucault mit dem Begriff des historischen Apriori, darin werden Realitätsbedingungen für Aussagen in einer bestimmten Zeit formuliert, die aus der Untersuchung von Diskursen in einem archäologischen Verfahren gewonnen werden.

2.1.1.2 Die Metapher der Grenze bei Kant Die Metapher13 der Grenze ist im kantischen Denken zentral und steht in einem engen Zusammenhang mit dem Verständnis von Philosophie und des Vorhabens der Kritik. »Philosophie, heißt es bei KANT, bestehe darin, ›seine Grenzen zu kennen‹.«14 Es geht ihm um das Begrenzen der Vernunfttätigkeit, eine Einschränkung, die im positiven Sinne dafür sorgt, dass die Vernunft sich nicht anmaßt über etwas zu urteilen, was in spekulativer Weise über ihre 12 | Hemminger 2010: 129f. Hemminger zitiert hier in abgewandelter Form aus Foucault, Michel: »Titel und Arbeiten«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. Defert. Daniel; Ewald, François (Hg), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 1073. 13 | Metapher wird hier im Sinne des Konzepts der absoluten Metapher von Blumenberg und der lebendigen Metapher von Ricœur verstanden. Siehe dazu: Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1998 und Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher. München (Fink), 2004 [1975]. Beide Metaphernverständnisse gehen von der Relevanz der Metaphern für das philosophische Denken aus und ihren durch Begriffe nicht zu ersetzenden Erkenntnisgehalt. Blumenberg sieht in ihnen die Wirklichkeit als Ganzes erfassende Grundelemente der philosophischen Sprache. Nach Ricœur bieten lebendige bzw. unverschämte Metaphern neue Deutungen der Welt. Während Blumenberg den Aspekt des ganzheitlichen Verstehens fokussiert, betont Ricœur den Moment der Neuartigkeit. Beide Konzeptionen werden hier als sich ergänzend verstanden. Beide Metaphernbegriffe basieren nach Haverkamp auf einem hermeneutischen Paradigma. Vgl. Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1996. Eine ähnliche Auffassung wie Blumenberg vertritt Ribeiro dos Santos: »As metáforas determinam o ângolo de visão através do qual se vê a realidade, a natureza, a sociedade, o homem e o conjunto das suas representações e instituições. Eles constituem uma espécie de sistema de organisação perceptiva e cognitiva.« In: Santos, Leonel Ribeiro dos: Metafóras da razão ou economia poética do pensar kantiano. Lisboa (Fundação Calouste Gulbenkian), 1994, S. 40. 14 | Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2011, S. 138. Er zitiert aus Kant, KrV, B 755.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

Erkenntnismöglichkeiten hinausgeht. Definieren als Grenzensetzen spielt in diesem Prozess eine große Rolle: »Definieren soll, wie es der Ausdruck selbst giebt, eigentlich nur so viel bedeuten, als den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen.«15 Auch Foucault beschreibt das Vorhaben Kants ausgehend von diesem Aspekt: »[D]er erste Mut, den man fassen muß, wenn es um Wissen und Erkennen geht, besteht darin, zu erkennen, was man erkennen kann. Das ist die Radikalität und für Kant übrigens die Universalität seines Unternehmens.«16 Für ihn ist damit auch eine politische Dimension verbunden.17 Genau diese Grenzziehung vorzunehmen ist Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft und schafft gleichzeitig die Voraussetzungen dafür, dass Philosophie als Wissenschaft betrieben werden kann. »Kants Rede über Grenzen, betont Manfred Kuehn zu Recht, ›goes to the very heart of his philosophy‹. […] Schon der vorkritische Kant definiert die Metaphysik als eine ›Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft‹; […] zur Vorgeschichte der Entstehung der Kritik gehört Kants Plan zu einem Werk mit dem Titel ›Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‹. […] In seinen kritischen Schriften ist die Rede über Grenzen allgegenwärtig, ist doch das vernunftkritische Projekt im Kern das Projekt einer erkenntnistheoretischen Grenzziehung zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Reich der Dinge an sich.«18

Philosophie reflektiert sich in diesem Prozess auch selbst: »Diese Metapher ist ein wichtiges Mittel der Selbstreflexion ebendes Fachs, das Selbstreflexion zu 15 | Kant, KrV, A 727/B 755. 16 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin (Merve), 1992a, S. 59. 17 | »Sie tritt jetzt als ein politisches Problem in Erscheinung.« (Foucault 2005a: 693) An anderer Stelle sagt Foucault: »Die Aufklärung ist also nicht nur der Prozess, durch den die Individuen sich ihrer persönlichen Denkfreiheit versicherten. Es gibt Aufklärung, sobald allgemeiner Gebrauch, freier Gebrauch und öffentlicher Gebrauch der Vernunft zur Deckung kommen. […] Es stellt sich jedenfalls die Frage, wie der Gebrauch der Vernunft die öffentliche Form annehmen kann, die dafür notwendig ist, und wie der Mut zu wissen am hellichten Tag ausgeübt werden kann, wenn die Individuen gleichzeitig so exakt wie eben möglich Gehorsam leisten.« (Foucault 2005a: 692f.) Nach Foucault schlägt Kant Friedrich II. eine Art Vertrag vor: »Man könnte ihn den Vertrag des rationalen Despotismus mit der freien Vernunft nennen: Der öffentliche und freie Gebrauch der autonomen Vernunft wird die beste Gewährleistung des Gehorsams sein, unter der Bedingung jedoch, dass der politische Grundsatz, dem Gehorsam zu leisten ist, selbst der allgemeinen Vernunft konform ist.« (Foucault 2005a: 693) 18 | Pietsch, Lutz-Henning: Topik der Kritik: Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781-1788) und ihre Metaphern. Berlin, New York (De Gruyter), 2010, S. 238.

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seinen wesentlichen Bestimmungen zählt.«19 Somit ist die Grenzziehung für Kant Teil des philosophischen Verfahrens und eng mit seiner philosophischen Grundposition verbunden. In der philosophischen Diskussion um Kant ist genau dieser Aspekt oft Kritikpunkt. »Steht die Grenzziehungsmetapher nach Kantischem Selbstverständnis für ein diszipliniertes, sich aller Schwärmerei enthaltendes Philosophieren, so wird sie in der Inversion durch Kants Gegner zum Ausweis von Borniertheit und Überheblichkeit des Systematikers, der glaubt alle möglichen Formen von Erkenntnis in seine starre Ordnung zwingen zu können, und des Skeptizisten, der sich darin gefällt, die menschliche Vernunft in ihren Ansprüchen zu demütigen.« 20

Für Foucault ist die Frage nach der Grenze eng mit Kants Transzendentalphilosophie, seinem philosophischen Projekt als Ganzem, verbunden. »Eine transzendentale Philosophie, die versucht, die Beziehungen der Wahrheit und der Freiheit zu definieren – d.h.: sich in der Region des Fundamentalen zu situieren −, kann einer Problematik der Endlichkeit, der Grenzen […], nicht entrinnen.«21 Nach Kant ist diese Grenzziehung, wie Foucault feststellt, Voraussetzung für die Würdigung eines anderen Bereichs: »Diese Grenze ist in Kants Augen aber kein reines Negativum, indem sie auf die Realität eines Bereichs jenseits der Erfahrung notwendig hindeutet und damit einen Raum für den Glauben reserviert.«22 Sie eröffnet einen Bereich für die menschliche Hoffnung: »und die Bestimmung ›Grenzen der Vernunft‹ gibt dem ›Was darf ich hoffen?‹ seinen Sinn.«23 Auch hinsichtlich Kants Anthropologie,24 die sich primär mit dem Gemüt auseinandersetzt und deren Abweichungen, Schwächen und Krankheiten untersucht – für Foucault »das Negativ der Kritik« – sucht Foucault neben seiner Beschäftigung mit ihrer Genealogie nach ihrem Platz »in der Organisation des Wissens.«25 Aufgabe der Anthropologie nach Kant sei es: »Nicht zu beschreiben, was der Mensch ist, sondern, was er aus sich machen kann.«26 In

19 | Konersmann 2011: 138. 20 | Pietsch 2010: 248f. 21 | Foucault 2010a: 99. 22 | Pietsch 2010: 239. 23 | Foucault 2010a: 75. 24 | Foucault registriert zwischen den Kritiken und der Anthropologie einen Niveauunterschied, so dass ein struktureller Vergleich zunächst problematisch, wenn nicht unmöglich erscheint. 25 | Foucault 2010a: 59, 26. 26 | Foucault 2010a: 46.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

diesem Zusammenhang greift Foucault den Begriff Spielen von Kant 27 auf, dem ein metaphorischer Charakter zukommt. Während Kants Begriff sich primär auf die Zusammenstimmung der Erkenntnisvermögen in der ästhetischen Lust bezieht, macht Foucault ihn in seiner Philosophie in diskurstheoretischer und lebenspraktischer Hinsicht stark. »Dieser Begriff des Spielens […] ist von besonderer Wichtigkeit. Der Mensch ist das Spiel der Natur; […] aber dieses Spiel spielt er, und es spielt sich um ihn ab«.28 Anthropologie stellt bei Kant nach Foucault keine Antwort auf die in der Logik den drei grundlegenden Fragestellungen aus der Transzendentale[n] Methodenlehre hinzugefügte Frage Was ist der Mensch? dar, diese Frage entsteht für Kant nach Foucault erst »im Moment, in dem sich im Kantischen Denken die Organisation des Philosophierens […] totalisiert, das heißt in der Logik und im Opus postumum.«29 Die Frage zielt auf die »Vereinigung […] von Gott und Welt im Menschen und durch den Menschen«; dieser »Akt der Vereinigung ist also die Synthese des Denkens« und darüberhinaus auch »universelle Synthese, welche die reale Einheit bildet, von der her sich die Personalität Gottes und die Objektivität der Welt zusammenfügen, das sinnliche Prinzip und das Übersinnliche«.30 Ausgehend vom Opus postumum ordnet Foucault die Metapher Grenze bei Kant dem Menschen in seiner Endlichkeit zu. »Diese drei Begriffe, Gott, die Welt und der Mensch, setzen in ihrer fundamentalen Beziehung die Begriffe der Quelle, des Umfangs und der Grenzen wieder ins Werk, deren Kraft und organisatorische Hartnäckigkeit im Kantischen Denken wir bereits gesehen haben. Sie sind es, die auf obskure Weise die drei wesentlichen Fragen des Philosophierens […] und der Kritiken regierten; sie sind es auch, die den Inhalt der Anthropologie explizit machten«. 31

Foucault stellt fest: »von der Kritik zur Anthropologie ist die Kontinuität durch das gemeinsame Beharren auf Grenzen etabliert und durch die Unerbittlichkeit der Endlichkeit, die sie anzeigen.«32 Nach Foucault wird Grenze bei Kant im anthropologischen Kontext schwerpunktmäßig mit Endlichkeit assoziiert. 27 | Kant spricht in der Kritik der Urteilskraft in Bezug auf die Vermittlung des Naturund Zweckbegriffs durch den Begriff des Spiels von einer Spontanität im Spiel der Erkenntnisvermögen. Allgemeiner verwendet er den Spielbegriff in der Anthropologie, insbesondere hinsichtlich des Lebendighaltens der Lebenskräfte im Zusammenhang mit der menschlichen Geselligkeit. Dem Spiel spricht er einen angenehmen Charakter zu. 28 | Foucault 2010a: 47. 29 | Foucault 2010a: 69ff. 30 | Ebd. 31 | Foucault 2010a: 98. 32 | Foucault 2010a: 112.

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2.1.1.3 Grenze und Überschreitung bei Foucault und Kant im Spiegel der Metaphern Während Kant den Aspekt der Grenzziehung betont, ist bei Foucault insbesondere das Spiel zwischen Grenze und Überschreitung und der Gesichtspunkt der Überschreitung der Grenze zentral, sie ist Mittel der Erkenntnis- und Erfahrungserweiterung. »Es gibt keine herrschende Philosophie, wohl aber eine Philosophie oder eher noch Philosophien in Aktion. Die Bewegung, in der wir uns nicht ohne tastende Versuche, Träume und Illusionen von dem lösen, was als wahr gilt, und nach anderen Spielregeln suchen – diese Bewegung ist Philosophie. Die Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der überkommenen Werte, die ganzen Bemühungen, anders zu denken, zu handeln und zu sein – all das ist Philosophie.« 33

Er spricht auch von lebendiger und experimenteller Philosophie, deren Kennzeichen die Neugier ist.34 »Die Neugier ist ein Laster, das nacheinander vom Christentum, von der Philosophie und sogar von einem bestimmten Wissenschaftsverständnis stigmatisiert wurde. Neugier wurde als etwas Nichtiges verstanden. Aber das Wort gefällt mir. Es lässt mich an etwas ganz anderes denken: […] an den Willen, uns von Vertrautem zu lösen und dieselben Dinge ganz anders zu sehen; an den brennenden Wunsch, zu erfassen, was vor sich geht und vor unseren Augen geschieht; an eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber den traditionellen Hierarchien zwischen dem Wichtigen und dem Wesentlichen. Ich träume von einem neuen Zeitalter der Neugier.« 35

Neugier stellt für Foucault eine Voraussetzung für das Überschreiten im Denken und Handeln dar, sie bildet die motivationale Basis. Zum Charakter der Grenze und der Überschreitung im Allgemeinen heißt es bei Foucault: »Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte 33 | Foucault, Michel: »Der maskierte Philosoph«. In: Foucault, Michel: Schriften zur Medienkultur. Berlin (Suhrkamp), 2013, S. 304. 34 | »Wenn das unser Verhältnis zur Wahrheit ist, wie müssen wir uns dann verhalten? Ich glaube, es gab und gibt immer noch beträchtliche und vielfältige Bemühungen, die unser Verhältnis zur Wahrheit und zugleich auch unser Verhalten verändern. Und das im komplexen Zusammenwirken einer ganzen Reihe von Forschungen und einer ganzen Reihe sozialer Bewegungen. Genau das ist lebendige Philosophie.« (Foucault 2013: 305) 35 | Foucault 2013: 302f.

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Grenze durchbrechen würde, nichtig.«36 Foucault verdeutlicht die Überschreitung der Grenze näher mithilfe der Metaphern Blitz in der Nacht37 und Welle.38 Diese Bilder fokussieren jeweils andere Arten des Überschreitens – das plötzlich Drängende und Durchschlagende und das Beharrliche und Kontinuierliche im Passieren der Grenze und ein erneutes Zurückweichen bzw. Zurückfallen, wobei die gewonnene Erfahrung verändernd wirkt. In Foucaults Philosophie findet sich im Weiteren eine andere Einschätzung des Urteilens als bei Kant, was mit einem anderen Umgang mit der Gerichtsmetapher verbunden ist.39 Die roten Roben der Richter verbildlichen Foucaults Präferenz für phantasievolle Kritik nicht angemessen, er rekurriert auf Naturbilder wie wachsendes Gras, Wind, fliegender Schaum, Blitz und Gewitterstürme – Bilder, die Bewegung symbolisieren. Die Gerichtsmetapher bei Kant verbildlicht das Grenzen-Setzen als mit einer klaren Instanz des Urteilens und Richtens verbunden und steht – hier bezogen auf eine durch einen Schiedsspruch schlichtende Instanz – auch mit den Phänomenen Streit und Krieg in Zusammenhang. Dadurch lässt sie ein Gleiten von erkenntnistheoretischen zu geschichtsphilosophischen Überlegungen zu. 36 | Foucault, Michel: »Vorrede zur Überschreitung«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. D. Defert, Daniel; Ewald, Francois (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 325. 37 | »Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verdankt. Er verliert sich in dem Raum, den sie in ihrer Souveränität bezeichnet, und verfällt schließlich in Schweigen, nachdem er dem Dunkel einen Namen gab.« (Foucault 2001a: 326) 38 | »Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren. Doch bringt das Spiel weit mehr ins Spiel als diese Elemente; es versetzt sie in eine Ungewissheit, in Gewissheiten, die sogleich verkehrt werden, wo das Denken rasch Schwierigkeiten bekommt, wenn es sie fassen will.« (Foucault 2001a: 324f.) 39 | »Ich kann mir nicht helfen, aber ich stelle mir eine Kritik vor, die nicht zu urteilen versucht, sondern einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zum Dasein verhilft; die ein Licht entzündet, dem Gras beim Wachsen zusieht, dem Wind lauscht und den Schaum im Fluge ergreift, um ihn zu zerstreuen. Sie vermehrte nicht Urteile, sondern Zeichen des Daseins; sie riefe sie und weckte sie aus dem Schlaf. Und falls sie solche Zeichen gelegentlich erfände – um so besser. Die auf Urteilssprüche fixierte Kritik langweilt mich. Ich wünschte mir eine vor Fantasie sprühende Kritik. Sie wäre nicht souverän und kleidete sich nicht in rote Roben.« (Foucault 2013: 300)

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Die ungesellige Geselligkeit und der Krieg als Motor für gesellschaftlich-historische Veränderungen bei Kant lassen sich gleichzeitig auch vom teleologischen Prinzip seiner Philosophie her denken, das als organisches Entwicklungsprinzip aufgefasst wird, sind also bei Kant wie eine Art List der Natur zu verstehen. Der Prozess der Vervollkommnung wird durch die ungesellige Geselligkeit 40 im Zwischenmenschlichen und auf der Ebene der Staaten durch den Krieg41 vorangetrieben, beide Momente verfügen über einen aktivierenden Charakter.42 Das teleologische Prinzip, »Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur«, kann als Kern der Geschichtsauffassung von Kant angesehen werden: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.«43 Weiter heißt es bei Kant: »Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.« 44 Geschichte ist nach Kant der Ort der Ausbildung aller Anlagen des Menschen nicht im Individuum, sondern in der Gattung, also Universalgeschichte.45 Die Idee des Völkerbundes46 und

40 | »Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur.« (Kant, IaG, 08: 20) 41 | »Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt durch die Kriege […] zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, […] in einen Völkerbund zu treten […].« (Kant, IaG, 08: 24) 42 | »Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden […].« (Kant, IaG, 08: 21) 43 | Kant, IaG, 08: 18. 44 | Ebd. 45 | Seine geschichtsphilosophischen Überlegungen formuliert er insbesondere in den Schriften: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte (1786), Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), Rezensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit (1795), Zum ewigen Frieden (1795) und natürlich in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1984), auf den sich Foucault immer wieder bezieht. 46 | »[S]o kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik […] nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr eines Ausbruchs […].« (Kant, ZeF, 08: 357)

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des ewigen Friedens47 mit ihrer kosmopolitischen Ausrichtung soll als Leitfaden des menschlichen Handelns dienen. Damit verbunden ist nach Kant auch ein republikanisches Verfassungskonzept, ein Konzept internationaler Beziehungen, internationalen Rechts und des gesellschaftspolitischen Wandels als primär reformatorischer Prozess. Ziel dieses unabschließbaren teleologischen Prozesses ist die Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung der Menschheit.48 Kants geschichtsphilosophisches Denken verbildlicht sich primär in der Metapher des Organismus bzw. des organischen Lebens. Wie Kant benutzt Foucault auch die Metapher Meer, die er mit dem Bild der Welle zur Charakterisierung der Transgression verwendet. Besonders deutlich wird dies in der Metapher des verschwindenden Gesichts des Menschen im Sand, das die Wellen des Meeres verwischen.49 Foucault präferiert im Hinblick auf die Metapher Meer den Gedanken der Wandlung hinsichtlich der Konstitution von Wissen in einem nicht abschließbaren Prozess, dem auch das Konstrukt Mensch zum Opfer fällt. Kant dagegen betont durch das sprachlich evozierte Bild der Insel im Meer50 stärker das Moment der Abgrenzung zwischen Land und Ozean mit dem Ufer als Scheidelinie, wobei das Land den für den Seefahrer sicheren Ort im grenzenlosen Meer symbolisiert. Die von Kant benutzten Metaphern Traum, Schlaf, Schlummer und Schleier51 und das damit verbundene Aufwachen und Aufdecken verbildlichen Kants Interesse am Prozess des Auffindens von Grundlagen menschlicher Erkenntnis, in dem sich ein sicheres Fundament des Wissens herauskristallisiert, um Metaphysik als Wissenschaft betreiben zu können. Die Architekturmetaphern52 Bauen, Fundament, Gebäude etc. bei Kant stehen mit seiner Suche nach einem sicheren Ausgangspunkt für das philosophische Denken, was das Einhalten von 47 | »[S]o muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann, der vom Friedensvertrag (pactum pacis) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte.« (Kant, ZeF, 08: 356) 48 | »Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt«. (Kant, IaG, 08: 23) 49 | Vgl. Foucault 1974: 462. 50 | Kant, KrV, A 236, 237/B 295, 296. 51 | Die Metaphern Traum, Schlaf und Schleier verbildlichen die Formen des Denkens, die Kant mit seiner Kritischen Philosophie ersetzen möchte (träumende Metaphysik, Träume eines Geistersehers, dogmatischer Schlummer etc.). 52 | Taureck spricht in Bezug auf Kant von »einer anthropologischen Metaphorik der Architektur«. Siehe Taureck, Bernhard H. F.: Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2004, S. 145.

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Grenzen, das Unterscheiden zwischen rein und unrein – unter Verwendung der Metapher der Reinheit 53 – und eine klare Differenzierung zwischen Wissen und Hoffen beinhaltet, in Verbindung. Seine Metaphern der Architektonik führen von der Architektur der Vernunft zur architektonischen Vernunft. Er glaubt mit seinem Philosophieren ein sicheres, der Zeit enthobenes Gebäude errichten zu können. Entsprechend dieser Auffassung wird die Menschheit von dem gefundenen festen Fundament aus in einem nie endenden Prozess ständig optimiert bzw. optimiert sich selbst – bis zur Vervollkommnung im ethisch/praktischen Sinne. Entsprechend des Kantischen Raummodells ist das sichere Wissen dem Innen zugeordnet in klarer Abgrenzung vom Außen. Foucault dagegen vertritt ein Raumkonzept des Innen-Außen und des Heterotopen, in dem Schwellen und Brüche die Grenze zu einem sich ständig verschiebenden Ort des Übergangs machen. Foucaults Blickrichtung geht dabei weg von der Suche nach Kontinuitäten hin zu der nach Brüchen, Diskontinuitäten und Transformationen und damit wird die Überschreitung für ihn wichtiger als die Grenze. Weiter heißt es bei Foucault: »Ich werde folglich das der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische ethos als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren.«54 Foucault nennt dieses Programm Entunterwerfung. Für Foucaults Projekt der Entunterwerfung ist die kantische Vorstellung von Aufklärung entscheidend. »Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung. […] Folglich ist diese Definition der Aufklärung nicht einfach eine historische und spekulative Definition, sondern etwas, was man beinahe eine Predigt nennen könnte – oder sagen wir: einen Appell an den Mut.« 55 53 | Vgl. Konersmann 2011: 300. 54 | Foucault 2005a: 703f. 55 | Foucault 1992a: 15f. Es heißt an dieser Stelle auch: »Obwohl diese Definition bloß empirisch und ziemlich ungenau ist, maße ich mir an zu denken, daß sie nicht weit entfernt ist von jener Definition, die Kant gegeben hat: allerdings nicht von der Kritik, sondern von der Aufklärung*. Tatsächlich hat Kant in seinem Text von 1784 Was ist Aufklärung? die Aufklärung im Verhältnis zu einem Zustand der Unmündigkeit definiert, in welchem die Menschheit – autoritärerweise – gehalten werde. Zweitens hat er diese Unmündigkeit als eine gewisse Unfähigkeit charakterisiert, […] sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen […].« (Foucault 1992a: 15) Zum Ethos sagt Foucault: »Dieses philosophische Ethos lässt sich als eine Grenzhaltung charakterisieren. Es handelt sich nicht um ein Verweigerungsverhalten. Man muss der Alternative des Draußen und Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die

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Diese Haltung des Muts gilt es nach Foucault zu entwickeln und zu kultivieren. Mit ihr lassen sich Transgressionen und Transformationen vornehmen.

2.1.1.4 Foucaults Reflexion der Grenzen Während Kants Weg des Philosophierens primär durch die logische, dialektische Analyse und durch ihren gesetzgebenden, normativen Charakter gekennzeichnet ist, verfährt Foucault als Archäologe und Genealoge in zweifacher Hinsicht empirisch und ist in seinem Vorhaben primär am historisch Gegebenen ausgerichtet. »Was offensichtlich zur Folge hat, dass die Kritik nicht mehr in der Suche nach formalen Strukturen von universalem Wert praktiziert wird, sondern als historische Untersuchung, welche die Ereignisse durchläuft, die uns dazu veranlaßt haben, uns als Subjekt dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und zu erkennen. In diesem Sinne ist diese Kritik nicht tranzendental und hat nicht zum Ziel eine Metaphysik möglich zu machen: Sie ist genealogisch in ihrer Finalität und archäologisch in ihrer Methode.« 56

Hemminger betont: »Kritik bedeutet für Kant wie für Foucault Reflexion von Grenzen. Kant entwickelt die Kritik in Reaktion auf die in die Krise geratene Metaphysik. Problematisch ist für ihn die dort postulierte Erkenntnis des Unbedingten. Foucault hingegen stellt die in die Krise geratene Subjektphilosophie auf den Prüfstand.«57 Er erarbeite »eine Genealogie des Subjekts«58 und untersuche sowohl den Modus der Subjektivierung als auch der Objektivierung.59 Damit übersetzt er nach Hemminger »die drei Fragen Kants – ›Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?‹ – ins Historische«.60 Sie spricht von einer »Historisierung der Kritik«, in der u.a. eine »Form einer

Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie. Doch während die Kant’sche Frage die Frage nach den Grenzen war, auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss, scheint es mir, dass die kritische Frage heute in eine positive Frage verkehrt werden muss: welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent und willkürlichen Zwängen geschuldet? Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.« (Foucault 2005a: 702) 56 | Ebd. 57 | Hemminger 2010: 133f. 58 | Hemminger 2010: 135. 59 | Vgl. dazu auch Hemminger 2010: 136. 60 | Hemminger 2010: 136.

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kritischen Geschichte der Denksysteme« erarbeitet wird.61 Die in der historischen Ausrichtung in der Analyse deutlich werdenden unterschiedlichen Formen der Gouvernementalität, der Macht und der Konstitutionsbedingungen des Subjekts im Diskursiven und Dispositiven und die damit verbundenen Subjektpositionen und historischen Formen der Selbsttechnologien begrenzen den Freiheitsraum des Subjekts, nehmen ihm aber nicht in Gänze seine Handlungsfähigkeit zur Gestaltung des Selbst und der Gesellschaft. Es geht Foucault um das phantasievolle Ausprobieren im Prozess der Selbstformierung, der Erkenntnisweisen, des Begehrens und der Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Lebenswirklichkeiten in einer nicht-universalen Weise. Foucaults experimentelle Haltung gibt sich auf diesem Wege zunehmend bescheidener: »Doch damit es sich nicht einfach nur um die Behauptung oder den leeren Traum der Freiheit handelt, muss meines Erachtens diese historisch-kritische Haltung auch eine experimentelle Haltung sein. Ich meine, dass diese an den Grenzen unserer selbst geleistete Arbeit einerseits einen Bereich historischer Untersuchungen eröffnen und sich andererseits an der Realität und der Aktualität erproben muss, und zwar sowohl, um die Stellen zu erfassen, an denen Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch, um die genaue Form zu bestimmen, die dieser Veränderung gegeben werden muss. Folglich muss sich diese historische Ontologie unserer selbst von all jenen Projekten abwenden, die global und radikal sein wollen.« 62

Foucault äußert allen umfassenden Programmen zur gesellschaftlichen Veränderung gegenüber ein tiefes Misstrauen, wenn er sagt, dass diese »in Wirklichkeit nur zur Fortführung der schädlichsten Traditionen geführt [haben]«.63 Die Beschäftigung mit der Dimension des Historischen und sein Prinzip des historischen Apriori führen Foucault von der Überschreitung zur Grenze bzw. zur ›begrenzt‹ konzipierten Überschreitung, die letztlich als Ad-hoc-Grenzverschiebung gedacht wird.

2.1.1.5 Kant und Foucault im Vergleich Kant erscheint mit seiner Präferenz für die Grenzziehung bescheiden, disziplinierend und streng, Foucault dagegen in fast erotischer Weise spielerisch, phantasievoll und exzessiv. Doch findet sich Bescheidenheit, Beschränkung und Begrenzung bei Foucault in einem anderen Sinne. »Ich weiß nicht, ob man heute behaupten muss, dass die kritische Arbeit noch den Glauben an die 61 | Hemminger 2010: 131f. 62 | Foucault 2005a: 703. 63 | Ebd.

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Aufklärung impliziert; sie benötigt, denke ich, stets die Arbeit entlang unseren Grenzen, das heißt eine geduldige Arbeit, die der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt.«64 Sie findet sich in der bescheidenen, sorgfältigen Arbeit an seinen historisch situierten Projekten, den punktuell gelingenden Stilisierungen von Lebensweisen und der politischen Ad-hoc-Ausrichtung. Eine gegenläufige Tendenz lässt sich bei Kant beobachten. Kant wagt eine Überschreitung mittels der Annahme des teleologischen Prinzips der Natur, das dem Gesamtprojekt Mensch, Menschheit, Staatenbund und Weltfrieden zugrundeliegt, die in seinem metaphorischen Denken des Als-ob, der Analogie, des Symbols, des Schematismus und der Ideenlehre in der transzendentalen Ausrichtung seiner Philosophie verankert ist. In der Kritik der reinen Vernunft postuliert Kant zwar die Notwendigkeit des Grenzensetzens und erlaubt kein Überschreiten der Grenzen, doch zunehmend erhalten die Metaphern Übergang, Brücke, Fortgang und Fortschritt in der Kantischen Philosophie einen bedeutsamen Platz, was mit seiner Konzeption von Moralität und Ästhetik und insbesondere mit seiner Geschichtsauffassung im Kontext seines gesamtphilosophischen Projektes in Zusammenhang steht. Der quasi-utopische Zug der Kantischen Geschichtsphilosophie kommt vollkommen unbescheiden, fast anmaßend daher. Während bei Kant das Denken von Geschichte den Umschlag in die quasiutopische Überschreitung bedeutet, wirkt die Historisierung von Philosophie bei Foucault begrenzend. Die wahre Grenzüberschreitung vollzieht Kant.

2.1.2 Thema und V ariation . F oucaults   historische  A priorität als  K ritik an  K ants K onzep t des A priori 65 2.1.2.1 Das Konzept der acquisitio originaria bei Kant Foucaults Geschichtskonzeption basiert in seiner Kritik an der Kantischen Apriorität auf einer spezifischen Interpretation von dessen Apriori, von der ausgehend er seine Auffassung des historischen Apriori entwickelt. Kants Lehre von der ursprünglichen Erwerbung apriorischer Vorstellungen stellt gleichzeitig eine Kritik an der Lehre der eingeborenen Ideen, wie sie z.B. von Platon und Descartes vertreten wird, und an der empiristischen Auffassung 64 | Foucault 2005a: 707. 65 | Es liegt eine Veröffentlichung dieses Kapitels in englischer Sprache vor: Rainsborough, Marita: »Theme and variation. Foucault’s historical apriority as criticism of Kant’s concept of a priori«. In: Santos, Leonel Ribeiro dos; Louden, Robert B.; Marques, Ubirajara R. de Azevedo (Hg.): Kant e o A Priori. Marília, São Paulo (Oficina Universitária; Cultura Acadêmica), 2017, S. 313-324.

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der Aposteriorität eines Aristoteles oder Hume dar. Kants Theorie lässt sich als eine zwischen Empirismus und Innatismus vermittelnde Theorie, letzterer sowohl in Form der Vorstellung von aktuell als auch von potentiell angeborenen Ideen, auffassen.66 Oberhausen spricht diesbezüglich vom Kantischen Konziliationsdenken.67 »Kants Lehre von der acquisitio originaria ist keine völlig neue Theorie vom Ursprung der Erkenntnis, die aus einer radikalen Ablehnung aller traditionellen Erklärungen resultiert. Kant vereinigt vielmehr Elemente des empirischen mit solchen des innatistischen Ansatzes. Seinem eigenen Selbstverständnis nach versöhnt er so Empirismus und Innatismus miteinander.« 68

Diese Theorie der ursprünglichen Erwerbung der Apriorität wird in folgendem Zitat Kants besonders deutlich: »›Indessen kann man von diesen Begriffen [sc. Raum, Zeit und den Kategorien], wie von allem Erkenntnis, wo nicht das Principium ihrer Möglichkeit, doch die Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Erfahrung aufsuchen, wo alsdenn die Eindrücke der Sinne 66 | »Wenn Kant seine Lehre vom Ursprung apriorischer Vorstellungen als acquisitio originaria bezeichnet, macht er damit zum einen geradezu polemisch deutlich, daß diese Vorstellungen eben acquisiti sind und also nicht angeboren sein können. Auf der anderen Seite sind diese Vorstellungen zwar erworben, aber nicht derivative aus den Sinnen wie empirische Vorstellungen, sondern originarie, weil sie nicht ›von den Objekten‹ abstammen, sondern unser Erkenntnisvermögen sie ›aus sich selbst apriori zu Stande‹ (Entdeckung BA 68) bringt.« In: Oberhausen, Michael: Das neue Apriori: Kants Lehre von einer ›ursprünglichen Erwerbung‹ apriorischer Vorstellungen. Stuttgart, Bad Cannstatt (frommann-holzboog), 1997, S. 127. 67 | Oberhausen 1997: 129. »Das Bestreben, Streitfragen nicht durch bloße Widerlegung der einen oder der anderen Position zu lösen, sondern nach unparteiischer Prüfung beide widerstreitenden Ansichten miteinander zu versöhnen und den Streit so von innen heraus zu überwinden, ist Ausdruck der konzilianten Grundhaltung, die Kant mit seinem Zeitalter teilt.« (Oberhausen 1997: 129) Oldenburg weist in diesem Zusammenhang auf Herman Schmalenbachs Werk Leibniz (1921) hin. Bei Kant selbst heißt es dazu: »Wenn Männer von gutem Verstande […] ganz wider einander laufende Meinungen behaupten, so ist es der Logik aller Wahrscheinlichkeiten gemäß, seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittelsatz zu richten, der beiden Parteien in gewisser Maße Recht läßt«. (Kant, GSK, 01: 32) Norbert Hinske führt Kants Antithetik auf die protestantische Kontroversentheorie des 17. und 18. Jahrhunderts zurück. Siehe dazu dessen Schrift Hinske, Norbert: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie: Der dreißigjährige Kant. Stuttgart (Kohlhammer), 1982. 68 | Oberhausen 1997: 132.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe den ersten Anlaß geben, die ganze Erkenntniskraft in Ansehung ihrer zu eröffnen, und Erfahrung zu Stande zu bringen, die zwei sehr ungleichartige Elemente enthält, nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen, und eine gewisse Form, sie zu ordnen, aus dem innern Quell des reinen Anschauens und Denkens, die, bei Gelegenheit der ersteren, zuerst in Ausübung […] gebracht werden, und Begriffe hervorbringen‹ (B 118).« 69

Diese Theorie betrifft Ursprungs- und Geltungsfragen von Erkenntnissen und Fragen nach ihrem Umfang. Vorstellungen a priori entwickeln sich nach Kant unabhängig von den Dingen aus Regeln bzw. Gesetzen der Erkenntnis, der Natur der Erkenntniskraft bzw. des Erkenntnisvermögens,70 durch Erfahrung bzw. bei ›Gelegenheit der Erfahrung‹.71

69 | Vgl. Oberhausen 1997: 118. Oberhausen konstatiert eine gewisse Ähnlichkeit von Leibniz’ Konzept einer virtuell angeborenen Erkenntnis zu Kants Vorstellung der acquisitio originaria. (Vgl. Oberhausen 1997: 119) Allerdings sei Leibniz in der Philosophiegeschichte nicht der einzige gewesen, der potentiell angeborene Ideen angenommen hätte. Die These von der Abhängigkeit der Kantischen Argumentation von der Leibniz’schen Theorie sei u.a. deshalb in der Forschung nicht unbestritten. 70 | Kant basiert mit seiner Theorie von Gesetzen, die unabhängig von den Dingen in der Natur der Erkenntniskraft bzw. des Erkenntnisvermögens liegen, auf Reimarus, der diesen Gedanken entwickelte. (Vgl. Oberhausen 1997: 105) »Die sich damit unweigerlich aufdrängende Frage, wie denn Begriffe und Aussagen noch mit den Dingen selbst übereinstimmen, hat freilich noch nicht Reimarus, sondern erst Kant gestellt.« (Oberhausen 1997: 106) Und weiter: »Erst Kant wird den Gedanken von der Eigengesetzlichkeit der Vernunft zu Ende denken und durch die Problematisierung dieser Deckungsgleichheit zwischen Denk- und Naturgesetzen die Konsequenz aus der Autonomisierung der Vernunft ziehen.« (Oberhausen 1997: 106f.) 71 | Die Formel ›bei Gelegenheit der Erfahrung‹ benutzt Kant zum ersten Mal 1766 in den Träumen eines Geistersehers. (Vgl. Oberhausen 1997: 115) »Die Erfahrung ist nicht die Quelle dieser Begriffe, sondern bloß der Anlaß, die Verstandestätigkeit in Gang zu setzen. Dabei entstehen reine Begriffe, die somit ursprünglich erworben sind.« (Ebd.) In dieser Schrift schreibe Kant den reinen Begriffen allerdings noch keine positive Erkenntnisleistung zu. (Vgl. Oberhausen 1997: 116) ›Die Gelegenheit der Erfahrung‹ sei seit Plato auch konstitutiv für die Lehre von den angeborenen Ideen, worauf Kant in seinen philosophiehistorischen Ausführungen allerdings nicht eingehe. Dadurch kann er nach Oberhausen seine Theorie als Lösung vorstellen. »Indem er das Moment von der ›Gelegenheit der Erfahrung‹ in seinen Ansatz einbindet, kann er seine Theorie von der acquisitio originaria als Konziliationsmodell und damit als Lösung des alten Streits zwischen Innatismus und Empirismus präsentieren.« (Oberhausen 1997: 134) Diese These habe allerdings einen spekulativen Charakter und unterstelle Kant einen unredlichen Umgang mit der Philosophiegeschichte.

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Foucault heute »Sinnliche Eindrücke setzen den Verstand in Tätigkeit, die darin besteht, diese Eindrücke nach logischen Regeln und Gesetzen zu ordnen. Aus diesen Regeln, die dem Verstand als einer Kraft zu reflektieren wesenhaft eigen sind, entspringen anlässlich dieser Tätigkeit apriorische Begriffe. Anders gesagt: Reine Begriffe entstammen dem Vollzug des usus intellectus logicus.« 72

Und weiter heißt es: »Analog zu diesem Prozess läuft die Erwerbung der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit ab.« 73 Auch sie setzen Sinneseindrücke voraus.74 Oberhausen bemerkt: »Die Gesetze der Vernunft bestimmen a priori die Erkenntnis.« 75 Kants Apriori kann demnach, wie Oberhausen zutreffend feststellt, nicht einfach mit angeboren im Sinne der Lehre von den angeborenen Ideen gleichgesetzt werden,76 wie dies in der Interpretation der Kantischen Theorie als Spielart des Innatismus geschieht. In seiner Erwerbstheorie werden die apriorischen Vorstellungen auf die Regeln des Denkens zurückgeführt, so dass die formale Logik zur Grundlage der transzendentalen Logik wird. Logik ist für Kant eine apriorische Wissenschaft, er gründet sie nicht mehr in der Ontologie. »Kant vollzieht damit die Ableitung der Kategorien aus den Urteils- und der Ideen aus den Schlußformen in der Kritik der reinen Vernunft, die sogenannten metaphysischen Deduktionen, auf der Grundlage seiner Erwerbstheorie.« 77 Die acquisitio originaria78 stellt für Oberhausen zum 72 | Oberhausen 1997: 117. 73 | Ebd. 74 | Bei Kant heißt es dazu: »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren […]? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.« (Kant, KrV, B 1) 75 | Oberhausen 1997: 105. 76 | Bei Oberhausen heißt es in Anmerkung 19 dazu: »Dennoch hält sich die kurzschlüssige Gleichsetzung von Kants Apriori mit dem Angeborenen offenbar hartnäckig.« (Oberhausen 1997: 28) 77 | Oberhausen 1997: 38. 78 | Kant entwickelt die Grundidee dieser Theorie bereits in Paragraph 8 der Inauguraldissertation von 1770 und bezeichnet sie in der Streitschrift gegen Eberhard von 1790 erstmalig als acquisitio originaria. »[D]ie Stelle in der Streitschrift von 1790 ist die einzige, an der Kant selbst seine Theorie vom Ursprung apriorischer Vorstellungen als acquisitio originaria bezeichnet, wobei hier zudem zu vermuten ist, daß der Anlaß der rein äußerliche war, sich mit den Gegnern seiner Philosophie auseinandersetzen zu müssen.« (Oberhausen 1997: 122)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

einen Kants ›Hintergrundtheorie‹, die nie ausgearbeitet wurde, und zum anderen den Schlüssel der erkenntnistheoretischen Wende von 1772 dar.79 Mit ihr kann Kant den Rekurs auf Gott vermeiden, der wie z.B. bei Descartes die Geltung der angeborenen Ideen verbürgt.80 Kant verweigert zwar den »Rekurs auf Gott als Erklärung des Ursprungs und der Geltung der Erkenntnis« und geht lediglich von den Gesetzen der Erkenntnisvermögen aus, die diesen von Natur aus zugrunde liegen, weist aber insofern eine Verwandtschaft mit der Lehre von den angeborenen Ideen auf, als er »eine rein empiristische Erklärung des Ursprungs der Erkenntnis ablehnt.«81 So lässt sich erklären, dass Kant bestimmte Termini der Lehre von den angeborenen Ideen weiter benutzt.82 »Die Abkehr von der Gründung der Logik in der Ontologie, die schon Reimarus faktisch vollzogen hatte, mußte über kurz oder lang zu einer grundsätzlichen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen der logischen Wahrheit von Begriffen und Aussagen zu der metaphysischen Wahrheit führen.« 83

79 | Oberhausen 1997: 37f. 80 | Hierzu heißt es bei Oberhausen: »Sein Haupteinwand ist jedoch, daß sich die Annahme, gewisse Vorstellungen seien uns von Gott anerschaffen, unzulässigerweise auf eine Erklärung zurückziehe, die jede weitere Nachforschung unmöglich mache und dadurch Philosophie schlechterdings ruiniere.« (Oberhausen 1997: 76) Diese Art der Erklärung lasse sich auf Faulheit und Bequemlichkeit zurückführen. 81 | Oberhausen 1997: 114. 82 | Vgl. ebd. 83 | Oberhausen 1997: 111. Kant geht nach Oberhausen noch bis 1772 von der Deckungsgleichheit zwischen Denkgesetzen und Gesetzen der Dinge aus. »Erst um 1772 zieht Kant die Konsequenz aus der Autonomisierung der Vernunft und kehrt das Verhältnis von logischer und metaphysischer Wahrheit um, indem er, um die bekannte Formulierung aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft aufzugreifen, die Dinge sich nach unserer Erkenntnis richten läßt.« (Oberhausen 1997: 112) Oberhausen führt weiter aus: »Die Lehre von der acquisitio originaria liegt nun aber nicht nur dieser zentralen Wendung von Kants Denken zugrunde, sondern sie gibt zugleich die Lösung für das Problem an die Hand, die Begriffe, mittels derer die Erscheinungswelt konstituiert wird, vollzählig zu bestimmen.« (Ebd.) Und: »Die von Kant sogenannte metaphysische Deduktion, die Ableitung der Kategorien aus den Urteilsarten und diejenige der Ideen aus den Schlußarten, ist somit nichts anderes als das Nachvollziehen der acquisitio originaria dieser Begriffe.« (Ebd.) Entsprechendes gilt für die facultas cognoscendi inferior, die Sinnlichkeit, mit ihren reinen Formen Raum und Zeit, die in der ursprünglichen Einrichtung dieser Erkenntniskraft begründet sind. (Vgl. Oberhausen 1997: 113) Die Gesetze der Erkenntnisvermögen sind zwar angeboren; »das darf aber nicht in dem Sinne verstanden werden, daß Gott sie anerschaffen oder eingepflanzt hätte.« (Ebd.)

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Der Begriff acquisitio originaria entstammt zusammen mit dem Begriff acquisitio derivativa dem Naturrecht und somit der juristisch/juridischen Diktion.84 Kant überträgt den Begriff acquisitio originaria in die Sphäre der Erkenntnistheorie. »Die Art und Weise, wie Kant den Begriff acquisitio originaria aus dessen angestammter Sphäre in eine völlig neue, erkenntnistheoretische transponiert, kann darüber hinaus als Beispiel für Kants eigentümliches Verfahren der Begriffsbildung dienen.« 85 Es ist seinem metaphorischen Denken der Analogiebildung zuzuordnen. Kant weist auf diesen begrifflichen Ursprung im Rechtsdiskurs selbst hin: »›Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborne Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch dessen, was vorher gar noch nicht existiert, mithin keiner Sache vor dieser Handlung angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnisvermögen von den Objekten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zu Stande‹ (Entdeckung BA 68).« 86

Die metaphysische Deduktion87 der Kategorien aus den Urteilsformen bezieht sich auf den Aspekt des Ursprungs der Vorstellungen und hat nach Oberhausen eine Statthalterfunktion hinsichtlich der Theorie der acquisitio originaria,

84 | In Paragraph 10 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten schreibt Kant: »Ich erwerbe etwas, wenn ich mache (efficio), daß etwas mein werde. – Ursprünglich mein ist dasjenige Äußere, was auch ohne einen rechtlichen Akt mein ist. Eine Erwerbung aber ist ursprünglich [recte: Eine ursprüngliche Erwerbung aber ist] diejenige, welche nicht von den Seiten eines anderen abgeleitet ist. Nichts Äußeres ist ursprünglich mein; wohl aber kann es ursprünglich, d.i. ohne es von dem Seinen irgend eines anderen abzuleiten, erworben sein.« (Kant, KrV, AB 76) Zu Kants Begriff der ursprünglichen Erwerbung in der Rechtslehre siehe: Brocker, Manfred: Kants Besitzlehre. Zur Problematik einer transzendentalphilosophischen Eigentumslehre. Würzburg (Königshausen und Neumann), 1997, S. 103ff. Oberhausen hält die Entstehung der Theorie der ursprünglichen Erwerbung im Kontext der Entstehung der Rechtslehre für wahrscheinlich. (Vgl. Oberhausen 1997: 129) 85 | Oberhausen 1997: 121. 86 | Kant in Oberhausen 1997: 123. »Diese ›ursprüngliche Erwerbung‹ bezeichnet er dann mit ihrem lateinischen Ausdruck als ›acquisitio […] originaria‹ (BA 71).« (Ebd.) 87 | Auch der Begriff der Deduktion wie der der Antinomie entstammt einem rechtswissenschaftlichen bzw. rechtsphilosophischen Vokabular. (Vgl. ebd.)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

womit sich zum Teil die weitgehende Abwesenheit des Begriffs bei Kant erklären lässt.

2.1.2.2 Foucaults historisches Apriori als Kritik an Kants Apriorität Foucaults Rekurs auf Kants Apriorismus lässt sich als Historisierung der Kantischen Vorstellungen des Apriori verstehen und stellt eine deutliche Abwandlung des Gedankens der ursprünglichen Erwerbung dar. Seine Kritik der Kantischen Annahme eines bestimmten Inventars der apriorischen Formen der Sinnlichkeit, der Kategorien des Verstandes und der Ideen der Vernunft ausgehend vom Gebrauch der Regeln bzw. Gesetze der Erkenntniskräfte, deren Analyse durch die Anlehnung an die formale Logik eine vollständige Auflistung der Formen, Begriffe und Ideen a priori ermöglicht, lässt ein neuartiges Verständnis von Apriorität bei Foucault deutlich werden. Sie unterliegt nach ihm ständigen gesellschaftlichen und historischen Veränderungen und kann auch in ihrem Umfang nur in aufwendigen Prozeduren der Analyse näher gefasst werden. Dies leistet die Diskursanalyse, die sich an empirisch gegebenem Material orientiert, in einem archäologischen Verfahren, das des Weiteren durch ein genealogisches Verfahren der Machtanalyse ergänzt wird. Wissen erweist sich bei Foucault als durch Diskurse formiert, denen bestimmte Formationsregeln zugrunde liegen, die auch Subjektpositionen für das Individuum anbieten, die wiederum bestimmten Machtstrategien unterliegen. Während Kant sich bei seiner Deduktion der apriorischen Vorstellungen an der Logik orientiert, geht Foucault von historischem Material eines gegebenen Archivs aus, das die Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren, enthält und das er als die Gesamtheit der in einer Epoche faktisch formulierten Diskurse ansieht. Foucault berücksichtigt dabei nicht nur das Sprachliche; auch Praktiken und Rituale und die mediale Basis werden mittels des Begriff des Dispositivs mit einbezogen. Die Sichtung der Monumente führt zur Herausarbeitung der zugrundeliegenden Kategorien, Regeln, Relationen, Subjektpositionen etc. einer Zeit. Foucault sucht insbesondere nach Regeln des Ein- und Ausschlusses, nach der Verteilung von Sprechpositionen und deren Verknappung, wodurch Diskurse einer Zeit strukturiert werden. Dabei haben die zugrundeliegenden Aussagen nicht nur sprachlichen Charakter, sondern können z.B. auch in graphischen Kurven oder mathematischen Formeln bestehen. Im Unterschied zu Kant geht es Foucault nicht um die genaue Untersuchung der Spezifität der einzelnen Erkenntniskräfte, sondern um deren Strukturierung nach zugrundeliegenden historisch verschiedenen Formationsregeln in Erkenntnisprozessen, in denen sie gleichermaßen angesprochen sind. So sind Raum und Zeit bei Foucault nicht allein der Sinnlichkeit zuzuordnen,

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sondern es sind Phänomene, die mit allen Erkenntnisvermögen verbunden und historisch unterschiedlich konzipiert und formiert sind. Für Foucault ist Wissensgeschichte gleichzeitig Raumgeschichte. Er denkt Raum und Wissensordnung zusammen und entwickelt eine topologische Grundlegung des gesamten Denkens. Somit muss seine Raumtheorie als Grundlage für das Verständnis von Foucaults Philosophie insgesamt betrachtet werden. Das ganz und gar Undenkbare bzw. Unsagbare einer Zeit kann nicht in der Wissensordnung enthalten sein, es kann nur an der Schwelle aufscheinen. Auch hier klingt der Gedanke der Überschreitung von Grenzen an. Diskurse müssen demnach nach den für eine gegebene Epoche spezifischen Regeln organisiert sein, um nicht aus dem Bereich des Sagbaren und Sichtbaren ausgeschlossen, also z.B. als Wahnsinn qualifiziert zu werden. So ergibt sich eine Ordnung der Dinge nach zeitspezifischen Oppositionen wie wahr und falsch, normal und pathologisch, vernünftig und wahnsinnig usw. Es kommt zu einem historischen Apriori, das die Erkenntnismöglichkeiten einer Epoche bestimmt. Foucault definiert den Begriff historisches Apriori88 in Die Ordnung der Dinge folgendermaßen: »Dieses Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird.« 89

Des Weiteren erläutert er den Begriff im Kontext seines methodologischen Werks Archäologie des Wissens im Kapitel ›Das historische Apriori und das Archiv‹, in dem er sein Verfahren der Archäologie darlegt und die zentralen Begriffe wie Diskurs, diskursive Formation, Aussage, Archiv etc. erläutert. »Darüber hinaus entgeht dieses Apriori nicht der Historizität: es konstituiert nicht über den Ereignissen und in einem Himmel, der unbeweglich bliebe, eine zeitlose Struktur; es definiert sich als die Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren

88 | Den Begriff des historischen Apriori benutzt Foucault schon 1957 in seinem Aufsatz »Die wissenschaftliche Forschung und die Psychologie«. Dort spricht er von einem »historischen Apriori der Psychologie«. Vgl. Foucault, Michel: »Die wissenschaftliche Forschung und die Psychologie«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 197. 89 | (Foucault 1974: 204)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe […]. Das Apriori der Positivitäten ist nicht nur das System einer zeitlichen Streuung; es ist selbst ein transformierbares Ganzes.« 90

Für die archäologische Analyse stellt sich jeweils die Frage nach dem zugrundeliegenden historischen Apriori: »Von welchem historischen Apriori aus ist es möglich gewesen, das große Schachbrett der deutlichen Identitäten zu definieren, das sich auf dem verwirrten, undefinierten, gesichtslosen und gewissermaßen indifferenten Hintergrund der Unterschiede erstellt?«91 Weiter fragt er: »Was waren die Bedingungen für dieses Auftauchen, der Preis, der gewissermaßen dafür zu entrichten war, seine Auswirkungen auf das Wirkliche und die Art und Weise, wie es durch die Verbindung einer bestimmten Objektart mit bestimmten Modalitäten des Subjekts für eine Zeit, für ein Gebiet und für gegebene Individuen das historische Apriori einer möglichen Erfahrung konstituierte.« 92

Foucault steht mit seiner Konzeption in einer Tradition der Kritik an der Kantischen Auffassung des Apriori, die dessen überzeitliche Gültigkeit zwar angreift, den Charakter des Konstitutiven für die Erkenntnis als Möglichkeitsbedingung für Wissen und damit die transzendentale Fragestellung Kants93 aber beibehalten will. »What we end up with, in this tradition, is thus a relativized and dynamical conception of the a priori […], but which nevertheless retain the characteristically Kantian constitutive function of making the empirical natural knowledge thereby structured and framed by such principles first possible.«94 Foucaults Theorie des historischen Apriori weist diesbezüglich eine Ähnlichkeit zu Thomas Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels auf.95 Auch Kuhn bezieht sich auf Kant:

90 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1981, S. 185. 91 | Foucault 1974: 27. 92 | Foucault 2005a: 778. Foucault schrieb 1984 in einem Lexikonartikel für ein Philosophielexikon über seine eigene Philosophie einen Beitrag, aus dem dies Zitat stammt. 93 | Bei Kant heißt es: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« (Kant, KrV, B 25) 94 | Friedman, Michael: »Transcendental Philosophy and A Priori Knowledge: A NeoKantian Perspective«. In: Boghossian, Paul; Peacocke, Christopher (Hg.): New Essays on the A Priori. Oxford, New York (Oxford University Press), reprinted 2008, S. 370. 95 | Vgl. Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago (University of Chicago Press), 2012 [1962].

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Foucault heute »Though it is a more articulated source of constitutive categories, my structured lexicon [= Kuhn’s late version of ›paradigm‹] resembles Kant’s a priori when the latter is taken in its second, relativized sense. Both are constitutive of possible experience of the world, but neither dictates what that experience must be. […] The fact that experience within another form of life – another time, place, or culture – might have constituted knowledge differently is irrelevant to its status as knowledge.« 96

Während Kuhn primär die Wissenschaftsgeschichte und die den Wandel evozierenden Paradigmen im Auge hat, geht es Foucault darüber hinaus um die Konstitution von Wissen im Allgemeinen, er legt eine neue, modifizierte Form der Erkenntnistheorie vor, die ihren Ausgangspunkt nicht beim erkennenden Subjekt nimmt.

2.1.2.3 Kants und Foucaults Apriorität Sowohl bei Kant als auch bei Foucault hebt der Erwerb der Erkenntnis a priori mit der Erfahrung an. Kant sieht dabei allerdings eine Aktivierung eines bestimmten Inventars von reinen Formen, Begriffen und Ideen am Werk, währenddessen bei Foucault von einer historischen Offenheit des Apriori auszugehen ist, der selbst der Mensch als Episteme unterliegt. Es wird nicht die Ausstattung des menschlichen Erkenntnisvermögens untersucht, sondern die regelhafte Strukturierung von Diskursformationen. Hierzu gehören gleichermaßen die historisch variablen Konstitutionsbedingungen des Subjekts selbst. Die archäologische Suche nach dem historischen Apriori stellt demnach eine permanente Aufgabe dar, die insbesondere in Bezug auf die jeweilige Gegenwart eine gesellschaftspolitische Funktion aufweist und im Hinblick auf das eigene Gewordensein auch eine ethisch-politische. Während Foucault zunächst Episteme als Epochen strukturierendes historisches Apriori ausmacht, differenziert er die Typen des historischen Apriori für einzelne Diskurse zunehmend genauer in ihrer Vielfältigkeit und Besonderheit. Im Unterschied zu Kants Apriorität, die gleichermaßen das Konzept des Subjekts, Ethik, Ästhetik und gesellschaftlich-historische Prozesse im Allgemeinen betrifft, überträgt Foucault sein Konzept der historischen Apriorität zwar im Ansatz auf seine Theorie vom Subjekt, aber nicht auf den Bereich Macht, ein Grundtheorem seiner Philosophie. Bei Foucault bleibt Apriorität primär auf den Bereich Erkenntnis und auf damit verbundene Subjektbildungsprozesse bezogen. Während Kant z.B. in der Ethik nach der Verallgemeinerbarkeit der persönlichen Maxime fragt und das moralische Gesetz, den kategorischen Imperativ, als apriorisch gegeben betrachtet, ist Ethik bei Foucault 96 | Kuhn, Thomas: »Afterward«. In: Horwich, P. (Hg.): World Changes: Thomas Kuhn and the Nature of Science. Cambridge, Mass. (MIT Pres), 1993, S. 331f.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

in der Anwendung von Selbsttechnologien bei der Formung des Selbst als moralisches Subjekt im gesellschaftlich-historischen Kontext verortet und mit der Vorstellung von Leben als Kunst verbunden. Foucault unterscheidet zwar historische Formen von Macht und historische Kombinationen von Machtformen, sein diskursanalytisches Instrumentarium wird aber nicht für seine genealogische Arbeit fruchtbar gemacht und auf die sie konstituierenden Machtpraktiken bezogen. Während das Konzept der Apriorität bei Kant als konstitutiv für seine gesamte Philosophie betrachtet werden muss, ist es bei Foucault primär auf die Diskursanalyse beschränkt, somit auf den Bereich Wissen. In den anderen Bereichen bleibt Foucault bei dem Gedanken der Geschichtlichkeit und Prozesshaftigkeit im Allgemeinen stehen, ohne das Konzept der Apriorität weiter zu modifizieren, auszubauen und zu spezifizieren. Seine Theoreme der leeren Form des Heils und der Parrhesia lassen eine Tendenz zur Übertragung dieser Denkfigur der Philosophie des Wissens auf die Subjektphilosophie erkennen und zeigen vom Ansatz her ein Denken der historischen Apriorität in seiner Ethik auf. Der Zusammenhang von Wissen, Macht und Subjekt hätte ausgehend vom Konzept der historischen Apriorität also durchaus noch genauer gefasst und ausgebaut werden können. Damit kann festgestellt werden, dass Kants Apriorität von Foucault nicht umfassend genug bedacht wird und die mögliche Lehre aus Kant nicht genügend ausgeschöpft wird – auch nicht in ihrem kritischen Gehalt. Anders gewendet kann Foucaults Grenzziehung im Hinblick auf die Brauchbarkeit des Konzept der Apriorismus im Sinne der Kantischen Haltung der Kritik verstanden werden. Das Konzept erfährt eine pragmatische Reduktion seines Anwendungsbereichs und damit auch seiner Brauchbarkeit und Bedeutung. Der sich bei Foucault primär im Bereich des Wissens ergebende Apriorismus ist letztlich eine paradigmatische Verfestigung von Erfahrung, ist Apriorität in der Aposteriorität in einer spezifischen Perspektive auf das menschliche Wissen.

2.1.3 F reiheit, N atur und G eschichte . Z um V erhältnis von N atur und G eschichte bei K ant und F oucault 97 2.1.3.1 Freiheit, Natur und Geschichte bei Kant und Foucault Während für Kants Geschichtsphilosophie Freiheit und Natur gleichermaßen bestimmend sind, scheint der Begriff der Natur bei Foucault seine Bedeutung gänzlich einzubüßen. Geschichte erfährt einen Loslösungsprozess von der Na97 | Dieses Kapitel wurde fast unverändert veröffentlicht in: Rainsborough, Marita: »Freiheit, Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Natur und Geschichte bei Kant und

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tur und ist anscheinend in der kulturellen, sozialen und politischen Aufgabe des Menschen und der zufälligen Ereignishaftigkeit aufgegangen. Während bei Kant die Natur im Geschichtsprozess verankert ist und Naturteleologie Fortschritt in der Geschichte erst möglich macht, verliert die Natur bei Foucault ihre fundierende Rolle und der Naturbegriff in Folge seine zentrale Stellung im Gesamtkonzept. Die Natur scheint bei ihm verschwunden zu sein und wird vom Kulturellen und Sozial-Historischen absorbiert. Weiter will Foucault sich auch von anthropologischen Grundannahmen und der Wissen strukturierenden Episteme Mensch lösen, wenn er vom ›Tod des Menschen‹ und ›Tod des Subjekts‹ spricht. Verabschiedet sich Foucault mit seiner Konzeption von Macht und der diskursiven und dispositiven Verfasstheit des Menschen, dem bestimmte Subjektpositionen zugewiesen werden, auch vom Kantischen Freiheitskonzept? So wendet er sich z.B. auf Grund der mit ihm verbunden gedachten Universalität und des Status als philosophische Grundannahme einerseits gegen Kants Konzeption von Freiheit als Ausgangspunkt des ethischen Handelns nach dem Gesetz der praktischen Vernunft, andererseits rekurriert Foucault in seiner Kantrezeption mit seiner Theorie der Entunterwerfung und des kritischen Ethos auf Kant. Wie lässt sich dies erklären? Werden Kants Schlüsselbegriffe in abgewandelter Form wieder aufgegriffen oder ergibt sich ein Paradigmenwechsel? Welche Rolle spielen Natur und Geschichte in diesem Kontext?

2.1.3.2 Kants Freiheits- und Naturbegriff In Kants Philosophie zeigt sich ein »Parallelismus zwischen theoretischer und praktischer Vernunft«,98 der in unterschiedlicher Hinsicht im ordnenden, strukturierenden und in Kontexte einbettenden Agieren der Vernunft besteht. Im Zentrum des Kantischen Freiheitsbegriffs steht das vernünftige Handeln, die Unabhängigkeit von sinnlicher Bestimmtheit. So heißt es bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft: »Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.«99 Es gilt, sich von der sinnlichen Affiziertheit, von den sinnlichen

Foucault«. In: Marques, Ubirajara Rancan de Azevedo (Hg.): Estudos Kantianos. Edição Especial em homenagem a Leonel Ribeiro dos Santos, Marília, 2017, S. 339-350. Online: http://www2.marilia.unesp.br/revistas/index.php/ek/article/view/7095. 98 | Timmermann, Jens: Sittengesetz und Freiheit: Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens. Berlin, New York (De Gruyter), 2003, S. 4. 99 | Kant, KrV, A 534/B 562.

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Neigungen, die unsere Natur als Mensch ausmachen, zu lösen.100 Da durch Sinnlichkeit, Affekte und Leidenschaften101 keine Verlässlichkeit und Allgemeinheit im ethischen Handeln gewährleistet werden kann, bedarf es der praktischen Vernunft a priori. Diese kann im Bereich der Moral in Form des kategorischen Imperativs unbedingt gebieten. Kants unterschiedliche Formulierungen des kategorischen Imperativs belegen den engen Zusammenhang von Moral, dem Gedanken der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen und der Zweckhaftigkeit der Natur in seiner Philosophie. Kants Freiheitsbegriff weist unterschiedliche Aspekte auf: Freiheit von der Nötigung,102 Freiheit als Möglichkeit zur Wahl von Maximen, als Spontanieität des Handelns aus sich selbst heraus, als Vermögen des Handelns nach Vorgaben der Vernunft, praktische oder transzendentale bzw. absolute Freiheit und Autonomie als Selbstgesetzgebung.103 Dabei lassen sich ein negativer und ein positiver Freiheitsbegriff unterscheiden. Bei Timmermann heißt es dazu: »Ein negativer Freiheitsbegriff ist für sich genommen ›unfruchtbar‹ und verstattet keinen Einblick in das ›Wesen‹ der Freiheit. […] Es wird nur gesagt, wovon der Mensch in seinen Handlungen frei ist, nicht auch wozu.«104 In diesem Kontext ist die Fragestellung nach der Verbindung von Natur und Freiheit in ihren verschiedenen Ausformungen bei Kant relevant. Kant betont den Unterschied zwischen Freiheit nach Regelmäßigkeit und blinder bzw. wilder Freiheit:

100 | Dazu heißt es bei Kant: »Nun finden wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei« (Kant, KpV, 05: 131). 101 | »Affekte sind von Leidenschaften spezifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrensvermögen an und sind Neigungen, welche die Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen.« (Kant, KU, 05: 121 Anm.) Menschliche Freiheit wird nach Kant durch Leidenschaften stärker als durch Affekte beeinträchtigt, Vernunft wird durch sie missbraucht. Nur die Achtung vor dem Gesetz, die einem Urteil folgt, lässt Kant als Moral förderliches Gefühl gelten. Mit der Anerkennung dieses Gefühls löst er gleichzeitig das Problem der Motivation für ethisches Handeln, das Problem der Triebfeder. 102 | Dies ist zu verstehen als Unabhängigkeit von sinnlicher Beeinflussung bzw. von sinnlichen Neigungen. 103 | Letzterer wird in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt. 104 | Timmermann 2003: 22.

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Freiheit bedeutet nach Kant nicht Unabhängigkeit von Naturgesetzen, sondern ist auf der Basis ihrer Gültigkeit zu denken. »Es ist schwierig, eine ›subjectiv unbedingte‹ – d.h. eine negativ freie Willkür, die sich nicht durch Naturursachen bestimmt sieht – mit der durchgängigen Bestimmung der Natur nach dem Kausalgesetz zu vereinbaren.«106 Positive Freiheit, die Sinn und Zweck der Freiheit bestimmt, ist bei Kant mit der Vernunftausübung insbesondere in moralischen Kontexten verbunden: Freiheit ist die ratio essendi des moralischen Gesetzes, wonach Freiheit sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung für die Geltung des Sittengesetzes darstellt, und das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi der Freiheit, die er als Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit versteht, beide hängen unmittelbar zusammen.107 »Da Freiheit zunächst Freiheit von der Naturkausalität bedeutet, gesetzlose Freiheit jedoch unmöglich ist und wir außerdem gute Gründe haben, auch den freien Willen qua Kausalität für gesetzmäßig zu halten, müssen wir nach dem spezifischen Kausalgesetz der Kausalität durch Freiheit suchen.«108

An dieser Stelle wird die Autonomie des Willens als Selbstgesetzgebung durch den kategorischen Imperativ zentral. Der Wille ist das Vermögen nach Prinzipien der Vernunft zu handeln, Kant spricht auch vom Vermögen der Zwecke. »Weil ein freier Wille nicht heteronom bestimmt ist, muss er sich selbst eine Regel sein.«109 Diese besteht in der gesetzgebenden Form und deren Universalisierung. Moral und Freiheit verweisen wechselseitig aufeinander. Bei Timmermann heißt es dazu: Moral ist der Erkenntnisgrund der Freiheit und Freiheit der Seinsgrund der Moral.110 Kant entwickelt ein Konzept von vernünftiger und moralischer Freiheit als Vermögen zum Handeln unabhängig von Naturursachen. Freies und verantwortliches Handeln ist auch dann gegeben, wenn dem Handelnden keine andere Handlungsoption möglich ist. Verant105 | Kant zitiert nach Timmermann 2003: 23. 106 | Timmermann 2003: 24. 107 | Vgl. Kant, KpV, 05: 5 Anm. 108 | Timmermann 2003: 30. 109 | Timmermann 2003: 31. 110 | Vgl. Timmermann 2003: 37.

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wortung ist nicht an die Möglichkeit anders zu handeln gebunden, sondern an reflektiertes und selbständiges Wollen. Für Kant ist »ein Mangel an Vernunft […] zugleich ein Minus an Freiheit.«111 Recki spricht von einer Ethik der Autonomie bei Kant.112 Zum Zusammenhang von Freiheit und Moral heißt es bei Timmermann: »Im Höchstmaß sind allein moralisch motivierte Handlungen autonom, denn nur dann gibt der Wille sich selbst das vernünftige Gesetz«.113 Und weiter: »Also wird strenggenommen nur beim Handeln aus Pflicht und aus Achtung für das moralische Gesetz die menschliche Autonomie realisiert.«114 Sinnlichkeit wird durch die Achtung vor dem Gesetz in die Schranken gewiesen. Demnach ist nicht die Unabhängigkeit vom Zwang im Allgemeinen entscheidend, sondern die Art des ausgeübten Zwangs. »Wer dem Zwang der Vernunft unterliegt, gewinnt dadurch an Freiheit.«115 Auch der Naturbegriff hat bei Kant verschiedene Bedeutungsfacetten: Natur als Mechanismus, dem Kausalgesetze zugrunde liegen, Natur als Kosmologie, Natur als Organismus, der sich entsprechend des in ihm verorteten Keimes entwickelt, und Natur als teleologischer, auf einen Zweck hin ausgerichteter Prozess. Recki macht darauf aufmerksam, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft, in der er seine ästhetische Theorie darlegt, ein anderes Naturverständnis entwickelt, in dem die Idee einer zweckmäßig verfassten Natur enthalten ist – der Natur als System der Zwecke. Die Aufwertung der Sinnlichkeit durch die Annahme des freien Spiels der Erkenntniskräfte im interesselosen Wohlgefallen, der genuin ästhetischen Erfahrung der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, wird primär am Beispiel von Naturerfahrungen aufgezeigt. Hier sieht Recki das Modell eines herrschaftsfreien Verhältnisses zur Natur und eine Rehabilitierung der Sinnlichkeit gegeben und die Möglichkeit für eine Naturethik angelegt. Die Idee einer zweckmäßigen Natur, die mit der Grundannahme der Teleologie verbun-

111 | Timmermann 2003: 39. 112 | Vgl. Recki, Birgit: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Paderborn (mentis), 2005, S. 55. 113 | Timmermann 2003: 43. Weiter heißt es: »In selbständigen, vernünftigen Entscheidungen zeigt sich, daß die Vernunft ebenso wie die Natur nach Gesetzen verfährt.« (Timmermann 2003: 53) 114 | Timmermann 2003: 43. 115 | Timmermann 2003: 56. Des Weiteren heißt es bei ihm: »Nicht die Determination als solche ist für Kant erschreckend, sondern eine bestimmte Variante der Natur. Wäre alles menschliche Handeln nichts anderes als eine Folge von Naturursachen und ihren Wirkungen, so gäbe es Kant zufolge in ihm kein Vermögen, die Gebote der Vernunft in die Praxis umzusetzen«. (Ebd.)

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den ist, beziehe sich auf die Struktur des Organismus als sinnvolles Ganzes, den Gedanken der Natur als System und auf die Schönheit in der Natur.116 »Mit der Zweckmäßigkeit unterstellt man der Natur insgesamt Handlungsrationalität – und damit die Form der Vernunft, aufgrund derer wir uns selbst als handelnde Wesen zu achten haben. Im Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur denken wir im Grunde eine nach dem Vorbild unseres eigenen praktischen Selbstverständnisses vernünftig eingerichtete Natur.«117

Recki fährt fort: »Wir erleben und denken uns somit in der ästhetischen Reflexion als sinnlich-vernünftige Wesen in einem sinnlich-vernünftigen Kontext.«118 Damit wird für uns Menschen die Erfahrung möglich, »als Vernunftwesen in die Welt zu passen«.119 Recki leitet daraus eine ethische Implikation des Ästhetischen ab, auch im Sinne eines ethischen Respekts vor der Natur, einer Achtung der Natur. Das teleologische Denken bleibt aber nach Recki ein Als-ob, da wir in ihm auf uns selbst bezogen sind, der Ausgangspunkt der Teleologie ist und bleibt anthropozentrisch. »Der Anthropozentrismus ist gerade durch reflektiertes teleologisches Denken nicht zu überwinden, sondern wird – als Bedingung seiner Möglichkeit und seines Sinns – geradezu bekräftigt. Wir werden somit durch den teleologischen Gedanken – und auch durch seine normative Wendung – den Anthropozentrismus nicht los.«120 Genau diesen Anthropozentrismus historisiert Foucault, indem er ihn in eine bestimmte Epoche des Denkens einordnet und kritisiert ihn darüber hinaus scharf, mit deutlichen Folgen für seine Konzeption von Geschichte.

2.1.3.3 Foucaults Konzeption von Freiheit, Natur und Geschichte Der Begriff der Freiheit kann bei Foucault ähnlich wie bei Kant sowohl negativ im Sinne des Befreiens von, als Freisetzung von Einschränkungen, als auch positiv als Praktik der Freiheit zur Gestaltung verstanden werden. Dabei kann der Akt der Befreiung unter Umständen als Voraussetzung für das Ausüben der Freiheitspraktiken angesehen werden: »Freedom can be practiced in resis-

116 | Vgl. Recki 2005: 60. 117 | Recki 2005: 61. 118 | Ebd. 119 | Ebd. 120 | Recki 2005: 62.

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tance, in subordination, counter-conduct, as well as ethical subjectivation.«121 In seiner Konzeption von Freiheit wird »freedom as ›ongoing work‹«122 konzipiert. Freiheit muss immer wieder in konkreten Situationen erobert werden. Widerstand ist in diesem Zusammenhang eine Praxis der Freiheit. Freiheit erweist sich bei Foucault als machtlogisch verankert und nicht wie bei Kant als mit der Vernunftausstattung des Menschen insbesondere in praktischer Hinsicht gegeben. Han konstatiert in Bezug auf den Zusammenhang von Macht und Freiheit bei Foucault: »Ein Ethos der Freiheit wacht also darüber, daß die Macht nicht zur Herrschaft erstarrt, daß sie ein offenes Spiel bleibt.«123 Er wirft Foucault vor, »den Begriff ›Freiheit‹ in einem emphatischen Sinne«124 zu nutzen, ohne dies angemessen herzuleiten. »Eine argumentative Unschärfe weist Foucaults stiller Übergang von der Freiheit als strukturaler Voraussetzung für die Machtbeziehung zu einer Ethik der Freiheit auf. Foucault verwandelt die Freiheit als Strukturelement der Machtbeziehung stillschweigend in eine ethische Qualität. Diese wohnt aber der Macht als solcher nicht inne. An diesem sehr brüchigen Übergang von der Machtlogik zur Machtethik führt Foucault eine Differenz zwischen Macht und Herrschaft ein.«125

Die Pathos-Formel der Freiheit bei Foucault erweist sich als Erbe der Kantischen Philosophie und seines Konzepts der Kritik und Aufklärung. Foucault geht es dabei insbesondere um die Qualität der Machtbeziehungen und der Herrschaft. Zugrunde liegt die Vorstellung von der Möglichkeit zum Einwirken auf Konstitutionsbedingungen und damit die Möglichkeit zur Befreiung von Fremdeinwirkung und zur Selbstgestaltung. Im Unterschied zu Kant gibt es keine anthropologische Wesenhaftigkeit, die eine natürliche Ausstattung darstellt, da von einer grundsätzlichen, unhintergehbaren Konstruiertheit auszugehen ist. Ein natürlicher Kern lässt sich nicht herausarbeiten, wie z.B. auch 121 | Simons, Jon: »Power, Resistance, and Freedom«. In: Falzon, Christopher; O’Leary, Timothy; Sawicki, Jana (Hg.): A Companion to Foucault. Chichester (Wiley-Blackwell), 2013, S. 314. 122 | Taylor, Dianna: »Introduction: Power, freedom and subjectivity«. In: Taylor, Dianna (Hg.): Michel Foucault: Key Concepts. Durham (Acumen), reprinted 2013, S. 6. Und weiter: »Freedom for Foucault is not a state we occupy, but rather a practice that we undertake. Specifically, it is the practice of navigating power relations in ways that keep them open and dynamic and which, in doing so, allow for the development of new, alternative modes of thought and existence.« (Taylor 2011: 4f.) 123 | Han, Byung-Chul: Topologie der Gewalt. Berlin (Matthes & Seitz), 2011, S. 128. 124 | Ebd. 125 | Ebd.

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an Foucaults Kritik an der Repressionstheorie der Sexualität deutlich wird. Die Unterscheidung von Natur- und Kulturhaftigkeit wird hinfällig. Auch die organische und die teleologische Naturvorstellung werden bei Foucault im Unterschied zu Kant nicht vorausgesetzt und nicht argumentativ zur Absicherung von aufgestellten Thesen hinsichtlich der Vervollkommnung des Menschen und des geschichtlichen Fortschritts hin zum ewigen Frieden benötigt. An ihre Stelle tritt Foucaults Konzept der geschichtlichen Konstruktion durch Diskurse, Dispositive und den mit ihnen verbundenen Machtpraktiken. So verschiebt sich die Kantische Problematik, wie Freiheit und Natur vereinbar gedacht werden können, wobei die Natur als ›Helfershelfer‹ für das menschliche Projekt der ethischen, kulturellen und politisch/historischen Vervollkommnung betrachtet werden kann und muss, hin zur Fragestellung, wie die Lösung aus der je spezifischen Konstituiertheit denkbar ist, und damit, wie der Einzelne Einfluss auf die Art des Gemacht-Werdens erhält und wie eine partielle Befreiung möglich ist. Foucaults Entwurf ist dabei von großer Bescheidenheit und großem Pragmatismus gekennzeichnet. Somit fokussiert Foucault primär gesellschaftspolitische und historische Prozesse. Natur wird zunächst nur als Naturerkenntnis unter dem Blickwinkel ihrer gesellschaftlichen Geformtheit durch Diskurse und Dispositive gedacht. Foucault legt den Schwerpunkt auf die Analyse von sich im historischen Verlauf ändernden epistemologischen Kategorien und Verfahren in den Naturwissenschaften wie z.B. der Biologie oder Medizin, die auch im Kontext von Machtpraktiken, die sich u.a. auf das Leben und den menschlichen Körper beziehen, angesiedelt sind, was am Beispiel der Biopolitik deutlich wird. Natur ist kein eigenständiges Theorem und wird bei Foucault zum blinden Fleck seiner Philosophie. Sie stellt sich weder als Antipode der Freiheit noch als heimlicher Verbündeter dar, Natur erweist sich bei Foucault als von der Kultur absorbiert. Foucault fokussiert somit primär die Geschichte, deren Untersuchung er an Einzelereignissen ausrichtet und als ein Archiv aus Monumenten und Ereignissen betrachtet. Eine vorgegebene Entwicklungsrichtung im Sinne eines Fortschritts wie bei Kant hin zu einer republikanischen Verfasstheit, zu einem Völkerbund und zum Ewigen Frieden ist in Foucaults Philosophie dabei zwar nicht vorgesehen, aber dennoch ist die Gestaltung des menschlichen Lebens als Individuum und im Zusammenleben in den verschiedenen Kontexten der menschlichen Verantwortung unterstellt und somit Projekt menschlicher Gestaltung und Emanzipation. Andererseits lässt sich feststellen, dass Foucaults Begrifflichkeit in hohem Maße von den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, und der mit ihnen verbundenen Technik bestimmt ist. Auffallend ist seine Nähe zum Darwin’schen Konzept des Kampfes bzw. Krieges ums Dasein, den Kämpfen um

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Lebenschancen, die sich in Anpassung und Evolution126 manifestieren. Es ist der Verdienst von Philipp Sarasin, Foucaults Rekurs auf Darwin, den Foucault selbst nicht markiert, herausgearbeitet127 und seine Begrifflichkeit und Metaphorik im Hinblick auf den Bezug zu den Naturwissenschaften hin untersucht zu haben. Er konstatiert, »dass Foucault eine nie laut ausgesprochene, dennoch aber unübersehbare Neigung verspürte, sich methodologisch auf die Naturwissenschaften zu beziehen«128 und nennt in diesem Zusammenhang die Schlüsselbegriffe aus Foucaults Philosophie ›Ereignis‹, ›Serie‹, ›Regelmäßigkeit‹, ›Möglichkeitsbedingung‹, ›Funktion‹ und ›Transformation‹.129 In ihnen manifestiere sich der epistemologische Gestus der Naturwissenschaften.130 Diese »Brücke«, die Foucault insbesondere »zwischen Biologie und Kultur« schlägt,131 bildet sich auch in der Naturmetaphorik der philosophischen Sprache Foucaults ab, wie sie in Kapitel 2.1 im Vergleich zu Kants Metaphorik im Hinblick auf den Aspekt Grenze und Überschreitung herausgearbeitet wurde. Auch kann bei Foucault eine Berücksichtigung der Materialität der Welt in ihren unterschiedlichen Phänomenen wie z.B. bei der Diskursivität festgestellt werden. Seine Vernachlässigung des Naturbegriffs mündet also nicht in einem ideellen und spekulativen Konstruktivismus. Im Gegenteil sind Wissensproduktionen und Machtprozeduren bei ihm immer materiell verankert. Besonders deutlich spiegelt sich dies in seinem Dispositivbegriff. Kultur ist bei Foucault demnach immer auch materiell bestimmt. Der Natur- und Materiebegriff taucht also in veränderter Form wieder auf, verankert im Kulturbegriff selbst, im Dispositivbegriff und bei der theoretisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit Naturphänomenen im Kontext der Untersuchung der Diskurse der Naturwissenschaften. Darüberhinaus spiegelt er sich auch in den Theoremen von Foucaults Philosophie wieder, in seiner theoretischen Begrifflichkeit und sei126 | Nach Sarasin spricht sich Foucault gegen den Begriff der Evolution aus und damit auch gleichzeitig gegen eine falsche Interpretation von Darwins Verständnis von Evolution als Entwicklungslogik. Bei Darwin bedeute Evolution Zufall und Diskontinuität, es ginge um die Rekonstruktion einer faktischen Entwicklungslinie. Vgl. Sarasin, Philipp: Wie weiter mit Michel Foucault? (»Wie weiter mit … ?«). Hamburg (Hamburger Edition HIS), 2016b, S. 31, 38. 127 | Vgl. dazu Sarasin, Philipp: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2009. 128 | Sarasin 2016b: 11. 129 | Vgl. Sarasin 2016b: 21. Sarasin nennt als Foucault’schen Bezugspunkt z.B. den Anatomen Xavier Bichat und den Biologen Georges Cuvier. Für den Begriff von Macht und Widerstand bezieht sich Foucault nach Sarasin auf Darwin. (Vgl. Sarasin 2016b: 34f.) 130 | Vgl. Sarasin 2016b: 21. 131 | Sarasin 2016b: 43.

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ner Naturmetaphorik. Die Absorption von Materie und Natur im Kulturellen vollzieht sich bei ihm ausgehend vom Gedanken der Materialität von Kulturprozessen im Sinne einer Ontologisierung des Kulturellen als eine Form des kulturellen Realismus. Allerdings betont Foucault nicht ausreichend das Agentielle, die Kraft und Potenz der Natur selbst, wie es der neue Realismus fordert: »Der Posthumanismus weist die Quelle aller Veränderungen nicht der Kultur zu und verweigert dadurch der Natur auch nicht jede Art von Tätigsein und Geschichtlichkeit.«132 Diese Art der Performanz im Werden der Natur wird, wie z.B. Barad feststellt, von Foucault theoretisch nicht genügend verankert. »Materie wird produziert und ist produktiv, sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen.«133 Nach Barad muss dafür die Grenze im Foucault’schen Sinne immer neu an der Schnittstelle von Kultur und Natur ermittelt werden.134

2.1.3.4 Natur, Freiheit und Geschichte bei Foucault und Kant. Ein resümierender Vergleich Obwohl Foucault neben seiner machtlogischen Verankerung der Freiheit Kants Freiheitsbegriff in stark modifizierter Weise in der Formel des Ethos der Freiheit benutzt, greift er nicht auf Kants Naturbegriff zurück. Natur gerät bei Foucault aus dem Blickfeld, sie ist zwar in erkenntnis- und machttheoretischer, aber nicht in ethisch-ästhetischer und politisch-historischer Hinsicht von Belang. Kants Philosophie spricht der Natur in vielerlei Hinsicht eine zentrale Rolle zu: als die den Menschen integrierende Welt, die nach Naturgesetzen funktioniert, als Kosmologie,135 als Erhabenheit in der ästhetischen Erfahrung und Schönheit evozierendes, das menschliche Handeln nach Vernunftgesetz­ en ermöglichendes und menschliche Projekte – auch in globaler und zukunftsweisender Hinsicht – stützendes Element. Dabei wird durch Kants organischen und teleologischen Naturbegriff Hoffnung auf eine Entwicklung 132 | Barad, Karen: Agentieller Realismus. Berlin (Suhrkamp), 2012, S. 13. 133 | Barad 2012: 14f. 134 | »Tatsächlich lehnt er [gemeint ist der Posthumanismus] die Vorstellung einer natürlichen (oder auch einer rein kulturellen) Spaltung von Natur und Kultur ab und fordert eine Erklärung dafür, wie diese Grenze aktiv festgelegt und immer wieder neu gezogen wird.« (Barad 2012: 14) 135 | »Die Kosmologie, die er [gemeint ist Kant] vorschlägt, will nicht die Genese des Lebendigen selbst erklären, sondern nur die mechanischen und kosmischen Bedingungen, unter denen eine solche Existenz lebender und bewusstseinsfähiger Wesen zustande kommt.« In: Meillassoux, Quentin: »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«. In: Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt: Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert. Berlin (Merve), 2013, S. 31.

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der menschlichen Gattung hin zu einer ethischen Vervollkommnung und zu einem friedvollen Zusammenleben in einem Staatenbund entsprechend seines kosmopolitischen Konzepts ermöglicht. Menschlichem Handeln wird das grundsätzliche Vermögen dazu zugesprochen und vernunftgemäßes Handeln darf von einer ihm gemäß strukturierten Welt ausgehen. Natur wird dabei von Kant zwar als zu beherrschendes Element angesehen, die menschliche Naturauffassung geht aber in der ästhetischen und ethischen Erfahrung darüber hinaus. Die Kantische Geschichtsphilosophie basiert demnach sowohl auf seinem Freiheits- als auch auf seinem Naturbegriff – jeweils in ihren unterschiedlichen Facetten. Bei Foucault stellt Geschichte zwar auch eine menschliche Aufgabe dar, in der es um die Gestaltung von Welt, sozialer Gemeinschaft und Selbst geht, die menschliche Freiheit voraussetzt, Natur gerät dabei aber aus dem Blickfeld. Die Auseinandersetzung mit Natur reduziert sich hauptsächlich auf den Aspekt der epistemischen Herangehensweise an Naturphänomene, die Untersuchung der Konstituiertheit des Körpers und des Begehrens durch Machtpraktiken und diskursive Momente. Es scheint, als sei das philosophische Konzept des Anthropozän136 im Foucault’schen Denken bereits in indirekter Weise – sich als Verschwinden der Natur bzw. ihre tiefgehende Transformation durch menschliches Einwirken manifestierend – angedacht, dies wird allerdings nicht auf der naturphilosophisch-geologisch-ökologischen, sondern auf der erkenntnistheoretischen Ebene behandelt. Hierin zeigt sich gleichermaßen das Foucault’sche Paradox der Überbetonung des Humanen im Versuch der vermeintlichen Überwindung dieser Überbetonung, seinen Anthropomorphismus im Ringen um die Vermeidung des anthropozentrischen Denkens. Auch naturtechnologische und ökologische Implikationen werden von Foucault nicht genügend wahrgenommen,137 worauf insbesondere Karen Barad im Rahmen ihres Konzepts des agentiellen Realismus hinweist.138 Sie kritisiert die Vernachlässigung der Materialität und Realität von Welt und hält Foucaults Philosophie deshalb für überholt. Das herausgestellte Versäumnis der theoretischen Berücksichtigung der Natur bei Foucault ist ein Zeichen für diese Lücke in seinem Denken bzw. für die Verschiebung hin zu einer Materialisierung des Geistigen und Sozialen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Agentialität der Natur und Materie. 136 | Der Terminus bezeichnet eine genealogische Epoche, in der die vom Menschen direkt oder indirekt vorgenommenen Veränderungen der Natur die Natur bestimmen. Vgl. dazu Kersten, Jens: Das Anthropozän-Konzept: Kontrakt – Komposition – Konflikt. Baden-Baden (Nomos), 2014. 137 | Das Eingehen auf die materielle und technologische Dimension ist bei Foucault besonders im Dispositivbegriff angedacht und wäre durchaus ausbaufähig. 138 | Vgl. Barad 2012.

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Im Vergleich zu Kant ergibt sich trotz der Gemeinsamkeiten im Freiheitsbegriff und hinsichtlich des modifizierten Projekts der Aufklärung ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Naturauffassung und das Geschichtsverständnis und damit eine Loslösung von der teleologisch ausgerichteten Kantischen Geschichtsphilosophie hin zu einer pragmatischen Philosophie auf der Grundlage des Theorems einer ereignishaft strukturierten Geschichte. Trotz der herausragenden Stellung, die Kant dem Menschen zuweist, fällt bei ihm die menschliche Bescheidenheit angesichts der Natur auf, auf deren Zusammenstimmen und Mithilfe der Mensch hoffen darf. Auch die Möglichkeit einer Naturethik und eines herrschaftsfreien Verhältnisses zur Natur ist bei Foucault im Unterschied zu Kant nicht angelegt. Es kann bei Foucault demnach neben dem ›Tod des Menschen‹ und dem ›Tod des Subjekts‹ – wiederum in einem methodologischen Sinne – auch vom ›Tod der Natur‹ gesprochen werden. Seine Tendenz zur Materialisierung des Kulturellen schafft allerdings eine Brücke zur Natur. Der Weg weg von der Natur könnte in einer erneuten Verschiebung, vergleichbar der theoretischen Bewegung in seiner Subjektphilosophie, durchaus wieder zurück zu ihr führen. Diesen Weg beschreitet Foucault dann allerdings nicht mehr. Hier bedarf es eines Weiterdenkens mit Foucault über ihn hinaus.

2.1.4 V on der U topie zur H e terotopie . F oucaults philosophische K onzep tion von G eschichte als A nt wort auf K ant und H egel 139 2.1.4.1 Foucaults, Kants und Hegels Geschichtskonzeptionen im Vergleich Foucault wendet sich in seiner an Einzelereignissen ausgerichteten Analyse von Geschichte, in der sie nicht als sinnhafter, teleologisch motivierter Bedeutungsprozess betrachtet wird, sondern als ein Archiv aus Monumenten und Er139 | Der Abschnitt ist gekürzt und leicht verändert als Aufsatz veröffentlicht worden. Siehe: Rainsborough, Marita: »Von der Utopie zur Heterotopie. Foucaults philosophische Konzeption von Geschichte als Antwort auf Kant und Hegel«. In: Arndt, Andreas; Bowman Brady; Gerhard, Myriam; Zovko, Jure (Hg.): Hegel-Jahrbuch, Band 2017, Heft 1. Berlin (De Gruyter), 2017, S. 430-434. Auch eine Veröffentlichung des Abschnitts in portugiesischer Sprache liegt vor: »Da Utopia à Heterotopia. Conceção Filosófica da História de Foucault como Resposta a Kant e Hegel«. In: Afonso, Filipa; Marques, Ubirajara Rancan de Azevedo; Santos, Leonel Ribeiro dos (Hg.): Filosofia & Atualidade: Problemas, Métodos, Linguagens: Jornadas Filosóficas Internacionais de Lis-

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eignissen, das auf Regelhaftigkeit hin untersucht wird, gegen den utopischen Kern der Geschichtsauffassungen von Kant und Hegel. Dieser lässt sich insbesondere in dem geschichtlichen Prozess zugrundeliegenden teleologischen bzw. logischen Prinzip ausmachen. Kants Geschichtsauffassung mit seiner Vorstellung von einer Vervollkommnung der Menschheit, vom Staatenbund und vom ewigen Frieden auf der Grundlage seiner Konzeption des Organischen, verbunden mit einer angelegten Entwicklung des Menschen als Gattung,140 seiner Zweiweltentheorie, die dem Menschen bei der Entfaltung seiner Naturanlagen Freiheit zur ethischen Vervollkommnung und eine Ausrichtung an Ideen und Idealen zuerkennt, weist eindeutig einen teleologischen Charakter auf, auf der Basis eines teleologischen Naturbegriffs. Der »Fortschrittsgedanke [dient] als ›Leitfaden‹ ›zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher Dinge‹«.141 Bei Hegel, der den utopischen Charakter von Geschichte ins System eines dialektischen Prozesses der Rückkehr des absoluten Geistes zu sich selbst und somit ans Ende von Geschichte als Selbstaufhebung verlegt, ein Prozess, in dem Anfang und Ende verschmelzen, ist ein logisches Prinzip im Zentrum des Denkens auszumachen.142 Utopisches in der Geschichte lässt sich demnach näher charakterisieren als Sinnhaftigkeit, Zielgerichtetheit und mit der Entwicklung des Menschen und der Menschheit als Ganzem im Sinne eines Fortschritts verbunden betrachteter Prozess mit der Vorstellung eines wünschenswerten Endzustandes, der im Falle Hegels in Bezug auf die Geschichte das Ende der Geschichte im Prozess der Weiterentwicklung der absoluten Vernunft zu sich und in sich selbst bedeutet. Gerade gegen diese Auffassung von Geschichte wendet sich Foucault entschieden. Nach Habermas entspricht die Abkehr vom Utopischen dem allgemeinen Zeitgeist. »Heute sieht es so aus, als seien die utopischen Energien aufgezehrt, als hätten sie sich vom geschichtlichen Denken zurückgezogen. Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert. Die Zukunft ist negativ besetzt […] Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst.«143

boa 2015, Lisboa, CFUL, 2015, S. 203-214; online: http://repositorio.ul.pt/bitstre​ am/10451/22762/1/Jornadas2015.pdf. 140 | Bei Kant heißt es: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.« (Kant, IaG, erster Satz, A 388) 141 | Hübner, Dietmar: Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus: Kant – Fichte – Schelling – Hegel. Stuttgart (Kohlhammer), 2011, S. 21. 142 | Vgl. dazu Labarrière, Pierre-Jean: L’utopie logique. Paris (L’Harmattan), 1992. 143 | Habermas, Jürgen: »Die Krise des Wohlfahrtstaates und die Erschöpfung utopischer Energien.« In: Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1985, S. 143.

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Hat Foucault das utopische Element des Teleologischen bzw. Logischen im geschichtsphilosophischen Denken endgültig überwunden?

2.1.4.2 Geschichte bei Foucault und Hegel Hegel wird allgemein als Antipode Foucaults verstanden: »Der eigentliche philosophische Antipode Foucaults144 ist Hegel, […] gerade auch der Geschichtsphilosoph Hegel.«145 Das Absolute wird bei Hegel in der Selbstproduktion der Vernunft in einer objektiven Totalität in geschichtlichen Stufen146 der Entäußerung und Rückkehr des Absoluten zu sich selbst gestaltet, dem das dialektische Prinzip der ›Identität der Identität und Nichtidentität‹,147 das dem Muster von Entgegensetzung und Aufhebung,148 dem An-sich-Sein, Für-sich-sein und Anund-für-sich-Sein, folgt, und das Theorem der ›List der Vernunft‹149 zugrunde liegt. Die Dialektik »ist sowohl Fundamentalformel des Systems der Philosophie als auch Strukturprinzip des Absoluten in der Wirklichkeit.«150 Bei Hegel ist Philosophie der Geschichte nur möglich, wenn »Vernunft in der Geschichte« ist. Die Trennung von Denken und Sein wird in dem Geschichtsprozess, in dem ein immanentes Telos wirkt, aufgehoben: »Der dialektische Dreischritt wird somit bei Hegel speziell zum Schema des historischen Fortschritts.«151 144 | Grundlage seiner Untersuchung ist hauptsächlich die Phänomenologie des Geistes von Hegel. 145 | Seitter, Walter: »Michel Foucault – von der Subversion des Wissens«. In: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. (Fischer), 1983, S. 123. 146 | Von der Stufe des ›subjektiven Geistes‹ über die des ›objektiven Geistes‹ hin zur dritten Stufe des ›absoluten Geistes‹ entwickelt sich der Geist in einem geschichtlichen Werden. 147 | »Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität« heißt es bei Hegel in dessen Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (W I, 252). Hegel wird im vorliegenden Buch aus der Werkausgabe des Suhrkamp Verlags zitiert. Siehe: Hegel, Georg W. F.: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1970ff. 148 | »Aufheben […] ist einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlechterdings allenthalben wiederkehrt, […]. Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet, und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen.« In: Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (W I, 188) 149 | Hübner 2011: 185. Das Theorem findet sich in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (W IX, 41). Die ›List der Vernunft‹ ist von der argumentatorischen Funktion her mit der ›Naturabsicht‹ bei Kant vergleichbar. 150 | Hübner 2011: 148. 151 | Hübner 2011: 183.

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Aposteriori und Apriori vereinen sich im Geschichtsprozess.152 Das Absolute realisiert sich schließlich auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung in der Philosophie selbst, die somit Teil dieses Prozesses ist. »Die kultürlichen Gestaltungen, Kunst, Religion und Philosophie, hingegen liegen auf der Ebene des absoluten Geistes, auf welcher der Geist seine Selbstfindung erst wirklich vollzieht, wobei namentlich die Philosophie den Vorzug hat, diese wesenhafte Selbstfindung des Geistes in der eigentlichsten Form, nämlich derjenigen des Begriffs, zu betreiben. Auf diese Weise enthält die Weltgeschichte als Geistgeschichte bei Hegel zwei parallele Ebenen, die politische Ebene des objektiven Geistes und die kultürliche Ebene des absoluten Geistes, während dem subjektiven Geist des individuellen Bewusstseins aus verständlichen Gründen keine unmittelbar historische Dimension zukommt.«153

Dieser Entwicklung liegt ein bestimmter Geschichtsbegriff zugrunde, der in einem Kontext mit der Philosophie zu sehen ist. »Sie überwindet somit die ›ursprüngliche Geschichte‹, d.h. die bloße Chronik der aufeinanderfolgenden Ereignisse, und ebenso die ›reflectirte Geschichte‹, d.h. die Anordnung dieser Ereignisse unter bestimmten externen und letztlich willkürlichen Gesichtspunkten etwa moralischer Art.«154 Foucault kritisiert Hegels dialektisches Denken, dem es auf Grund seiner aktuell immer noch gegebenen Wirkungsmacht zu entkommen gilt. »Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; man muß wissen, wieweit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man

152 | Vgl. Hübner 2011: 199. Bei Hübner heißt es: »Insbesondere ist es auf dieser Grundlage möglich, die empirische Geschichte a priori aufzufassen, d.h. die historische Realität als eigengesetzliche Entfaltung des Geistes in der ›Weltgeschichte‹ zu begreifen.« (Hübner 2011: 199) 153 | Hübner 2011: 182f. Bei Hegel selbst heißt es zu diesem Prozess: »Es ist hier nur anzuführen, daß die erste Stufe das […] Versenktseyn des Geistes in die Natürlichkeit, die zweite das Heraustreten desselben in das Bewußtseyn seiner Freiheit ist. Dieses erste Losreißen ist aber unvollkommen und partiell, indem es von der unmittelbaren Natürlichkeit herkommt, hiermit auf sie bezogen, und mit ihr […] noch behaftet ist. Die dritte Stufe ist die Erhebung aus dieser noch besonderen Freiheit in die reine Allgemeinheit derselben, in das Selbstbewußtseyn und das Selbstgefühl des Wesens der Geistigkeit.« (Hegel in Hübner 2011: 184) 154 | Hübner 2011: 199.

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Foucault heute muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.«155

Hegels dialektisches Denken gerät bei Foucault aufgrund seines Anspruchs auf Absolutheit des Wissens, auf Totalität und Kontinuität, wegen seines Systemcharakters und seiner Lokalisierung im Subjekt des Wissens, des Selbstbewusstseins und des absoluten Geistes, auch wenn diese prozessorientiert aufgefasst werden, in die Kritik – ein Denken, das Foucault geschichtlich in der Ordnung des Wissens am Anfang des 19. Jahrhunderts verortet, wodurch er es historisiert und ihm den Anspruch auf universale Welterfassung nimmt. »Die ausgezeichnete Bedeutung des Totalitätsbegriffs im Hegelschen System erhellt unmittelbar daraus, daß ein Wissen mit Absolutheitsanspruch (der auch den historischen Prozess einbezieht) sich nur dann realisieren kann, wenn es der Form nach Notwendigkeit, Vollzähligkeit und logische Stringenz seiner Momente verschränken kann. Ein Versuch, der nicht bloß aus historischer Sicht zum Scheitern verurteilt ist, weil er einen ›Endpunkt‹ der Wissensbildung voraussetzen muß, sondern auch systemimmanent problematisch bleibt, verurteilt er doch, wie sich zeigen wird, die Bewegung des Denkens zum Stillstand kreisförmiger Reproduktion.«156

Dem dialektischen, systembezogenen und kreis- bzw. spiralförmigen Denken Hegels stellt Foucault sein eigenes Konzept von Geschichte entgegen: »Es handelte sich darum, diese Geschichte in einer Diskontinuität zu analysieren, die keine Teleologie von vornherein reduzieren würde; sie in einer Streuung festzustellen, die kein vorher bestehender Horizont umschließen könnte; sie sich in einer Anonymität entfalten zu lassen, der keine transzendentale Konstitution die Form des Subjekts auferlegen würde; sie für eine Zeitlichkeit zu öffnen, die nicht die Wiederkehr einer Morgenröte verspräche. Es handelte sich darum, sie von jeglichem transzendentalen Narzißmus zu befreien; sie mußte aus seinem Zirkel des verlorenen und wiedergefundenen Ursprungs, in dem sie gefangen war, befreit werden.«157

Shaun Gallagher konstatiert allerdings eine Ähnlichkeit von Foucault zu Hegel in der besonderen Berücksichtigung des Partikularen: »Hegel rejects the philosophical starting point of first seeking out the universal (or the future utopia) and then applying it to the particular situation. The starting point must 155 | Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. (Fischer), 92003a, S. 45. 156 | Künzel, Werner: Foucault liest Hegel: Versuch einer polemischen Dekonstruktion dialektischen Denkens. Frankfurt a.M. (Haag + Herchen), 1985, S. XII. 157 | Foucault 1981: 289.

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be with the particular situation, because there is no way for a philosopher to go beyond it.«158 Und noch pointierter: »The universal can be found only within the particular.«159 Weiter heißt es bei ihm. »Foucault, not unlike Hegel, offers a model of critique that takes its point of departure from historical contents rather than from utopian schemas or the metanarratives of totalitarian theories. Critique, according to Foucault, needs to reveal the historical knowledge that is displaced or hidden by funcionalist or systematizing thought.«160 Auch Beatrice Han macht auf eine Ähnlichkeit des Denkens von Foucault und Hegel aufmerksam: »[She] (1998/2002, 143) argues that some of Foucault’s formulations reactivate the type of Hegelian schema so disliked by him, in which power knowledge takes different historical forms.«161 Hegels These vom Ende der Geschichte als Ende der Geschichte des Geistes steht Foucaults These vom Ende des Menschen als Ende der Episteme Mensch gegenüber. Für beide ist die Geschichte damit nicht zu Ende, sondern erhält einen neuen Charakter. Doch die Ähnlichkeiten hinsichtlich der Würdigung des Partikularen und der Annahme spezifischer historischer Formen lassen Foucaults Kritik an der Philosophie Hegels als universalistische Theorie, deren Implikationen überwunden werden müssen, nicht als überflüssig und/oder inkonsequent erscheinen.162 Denn die Vermittlung des Allgemeinen und Besonderen wird bei Hegel mit seinem Rekurs auf die Logik nicht klar genug herausgearbeitet. Bei Foucault erscheint das Allgemeine ausgehend von der Untersuchung der Einzelphänomene mithilfe seiner archäologischen und genealogischen Verfahren methodologisch angemessen reflektiert auf – als Episteme, die einer bestimmten Epoche zugrunde liegen.163 Des Weiteren distanziert sich Foucault mit seiner produktiven Machttheorie strategischer Machtrelationen von Hegels Theorie der Macht, die auf einem Modell der Repression basiert. »Hegel and Foucault differ fundamentally on the question of the nature of power and domination.«164 Auch steht der »kollektivistische Charakter von Hegels

158 | Gallagher, Shaun: »Hegel, Foucault, and Critical Hermeneutics«. In: Gallagher, Shaun (Hg.): Hegel, History and Interpretation. Albany (State University of New York Press), 1997, S. 149. 159 | Ebd. 160 | Gallagher 1997: 155. 161 | Oksala, Johanna: Foucault on Freedom. Cambridge, New York u.a. (Cambridge University Press), 2005, S. 104. 162 | »It is true that Foucault, like Lyotard, would list Hegel’s discourse as one of the ›globalizing discourses‹ that he attempts to struggle against.« (Gallagher 1997: 156) 163 | Nach der Entwicklung der Diskursanalyse spricht Foucault von Diskursregeln. 164 | Gallagher 1997: 159.

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Philosophie«165 im Gegensatz zu Foucaults Präferenz für das Individuum als Ausgangspunkt der politischen Kritik in seiner Ethik bzw. Ästhetik des Seins. »Für Foucault ist Vernunft nicht in der Geschichte, sondern Vernunft ist geschichtlich.166

2.1.4.3 Kritik bei Kant und deren Historisierung bei Foucault Anders als Hegel wird Kant nicht als Antipode Foucaults, sondern als dessen Ahnherr verstanden. Bei Hemminger heißt es dazu: »Kant entwickelt die Kritik in Reaktion auf die in Krise geratene Metaphysik. Problematisch ist für ihn die dort postulierte Erkenntnis des Unbedingten. Foucault hingegen stellt die Subjektphilosophie auf den Prüfstand.«167 Er erarbeitet »eine Genealogie des Subjekts« und untersucht sowohl den Modus der Subjektivierung als auch der Objektivierung.168 »Neben der Ebene des Wissens, auf der wir uns als Subjekte des Wissens konstituieren, umfaßt Foucaults Genealogie des Subjekts die Ebene der Macht, auf der wir uns als Subjekte konstituieren, die auf andere einwirken, sowie die Ebene der Ethik, auf der wir uns selbst als moralisch Handelnde konstituieren.«169 Foucault weist der Geschichte hiermit im Rahmen seines Denkens eine besondere Bedeutung zu: Geschichte wird zum Kern seines philosophischen Denkens. Die von Kant geforderte Haltung des Muts empfindet Foucault auch heute noch als wünschenswert. Foucaults Projekt der Entunterwerfung liegt die Kantische Vorstellung von Aufklärung zugrunde. Es geht ihm um das phantasievolle Ausprobieren im Prozess der Selbstformierung, 165 | Hübner 2011: 178. »Hierher gehört nur, darüber überhaupt zu bemerken, daß das Wohl des Staates eine ganz andere Berechtigung hat als das Wohl des Einzelnen […]. die Ansicht von dem vermeintlichen Unrechte, das die Politik immer in diesem vermeintlichen Gegensatze haben soll, beruht noch vielmehr auf der Seichtigkeit der Vorstellungen von Moralität, von der Natur des Staates und dessen Verhältnisse zum moralischen Gesichtspunkte.« (Hegel, Die Sittlichkeit, § 337, W VIII, 428f.) 166 | Bei Baberowski heißt es: »Die Vernunft ist nicht in der Geschichte, die Vernunft ist vielmehr geschichtlich.« In: Baberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte: Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München (C. H. Beck), 2 2013, S. 196. Weiter heißt es bei ihm: »Foucaults Bedeutung für die Geschichtswissenschaften liegt vor allem in der Historisierung der Rationalität und der Einsicht, daß Subjekte sich in kulturellen Praktiken konstituieren, die Teil eines Machtfeldes sind.« (Baberowski 2013: 203) 167 | Hemminger in Foucault 2010a: 133f. 168 | Hemminger in Foucault 2010a: 135. Vgl. auch S. 136. 169 | Hemminger in Foucault 2010a: 136. Hemminger bezieht sich auf Zur Genealogie der Ethik: ein Überblick über laufende Arbeiten, Foucaults Gespräch mit Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow. In: Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1987, S. 275.

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der Erkenntnisweisen, des Begehrens und der Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Lebenswirklichkeiten in einer nicht-universalen Weise. Nach Schmidt »will Foucault den Geist der Aufklärung wiederbeleben: den Geist der Freiheit, den Geist des Aufstandes gegen die Art, auf die gegenwärtige Weise regiert zu werden.«170 Allerdings ist Foucaults Anliegen gegenüber Kants kosmopolitischem Konzept des Ewigen Friedens von großer Bescheidenheit geprägt. »Foucault sucht nach einer anderen Weise des Philosophierens, einer bescheidenen Philosophie, die keine auf ein philosophisches Denken gestützte alternative Ordnung entwickeln will […]. Foucaults bescheidene Philosophie strebt einzig danach, sich die aufklärerische Kritik des Gegebenen zu erhalten.«171 Er übernimmt auch nicht Kants im Naturbegriff verankerte Teleologie,172 nicht sein Konzept vom Völkerbund und Weltbürgerrecht. »Foucault [verwirft] die meisten von Kants Lösungen, bewahrt aber die Problemstellungen: Was heißt es aufgeklärt zu sein? Wie aufgeklärt bin ich? Und vor allem: Was sind die Voraussetzungen der Aufklärung? Was sind die subjektiven Kräfte, die die Aufklärung vorantreiben, und wie ist es möglich, sie zu entfesseln?«173

Foucault rekurriert auf die Kantische ›Radikalisierung der Selbstreflexion‹, wie Schmidt es nennt, und entwickelt eine ihn als Person betreffende Lesart: »Foucault liest mehr oder weniger zwischen den tatsächlichen Zeilen: Wie aufgeklärt bin ich? Und: Wie aufgeklärt kann ich unter den gegebenen Umständen überhaupt sein?«174 Wie Kant setzt Foucault in diesem Prozess auf die Bedeutung der Öffentlichkeit. Im Unterschied zu Kant ist Aufklärung und Kritik 170 | Schmidt, Christian: »Kritik als Lebensform: Foucaults Studien zu Kant und revolutionärer Subjektivität.« In: Schmidt Christian (Hg.): Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt, New York (Campus), 2013, S. 112. 171 | Schmidt 2013: 113. 172 | Bei Kant heißt es: »Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich = und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen […].« (Kant, IaG, Achter Satz, A 403) Die praktisch-moralische Legitimierung der Fortschrittsidee, der praktische ›Leitfaden‹, ist nach Kant für die Umsetzung der Naturabsicht unerlässlich. Hier verbinden sich Ethik, Politik und Geschichte. Dem Geschichtsprozess liegt auch ein theoretisch-regulatives Prinzip, ein theoretischer ›Leitfaden‹, als Entwicklungsprinzip zugrunde. Naturmechanismen wie Krieg und Not, die bürgerliche Verfassung der Staaten mit ihrer rechtlichen Struktur und psychosoziale Faktoren wie die ungesellige Geselligkeit begünstigen den Fortschritt. (Vgl. Hübner 2011. 23f.) 173 | Schmidt 2013: 127f. 174 | Schmidt 2013: 115.

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aber immer auf die emanzipatorische Wirkung von Praktiken des Selbst angewiesen, die kritisches und widerständiges Verhalten im Subjekt affektiv verankern und körperlich einschreiben. Sie sind nicht allein als Vernunftpraktiken anzusehen, die auf Einsicht und eine gesellschaftliche Möglichkeit zur Realisation durch politische Freiräume angewiesen sind. Sie benötigen die Selbstgestaltung des Subjekts in den verschiedenen Dimensionen wie Affekt, intellektuelle und psychische Ausstattung und Körperlichkeit. Foucault beschäftigt sich in seiner letzten Schaffensperiode mit den antiken Selbsttechnologien wie z.B. Askese, Wahrsprechen, Meditation, Diätetik, die Vorbild sein können, aber nicht kopiert werden sollen, um die Möglichkeiten des Subjekts zur Formung des Selbst zu erkunden, die Kritik als Lebensform ermöglichen. Foucault geht es um die Entwicklung von Praktiken der Freiheit, mittels derer wir uns zu autonomen Subjekten konstituieren können.175 »Es ist wichtig zu sehen, dass diese Frage für Foucault nicht ein für alle Mal zu klären ist. Sie stellt sich für jede historisch auftretende Form der Subjektivität neu. Deshalb erfordert die Freiheit eine Haltung der ›permanenten Kritik unserer selbst‹. Deshalb haben die Praktiken der Freiheit auch einen asketischen Zug und müssen sich im ethos verstetigen.«176

Der Ethos ist nach Foucault eine experimentelle Haltung. Foucault wendet sich in diesem Zusammenhang deutlich gegen umfassende Programme der Veränderung der Gesellschaft, die, wie in den historischen Prozessen zu beobachten ist, nur negative Folgen haben. Foucault präsentiert ein Projekt der Gesellschaftsveränderung, das beim Einzelnen und Konkreten ansetzt, mit kleinen Schritten der individuellen und gesellschaftlichen Formung und greift nicht auf Kants geschichtsphilosophisches Konzept des Ewigen Friedens zurück. »Critical hermeneutics involves struggle which is immediate in two ways: it is struggle at a local level, and it is not oriented toward a future.«177 Das bedeutet konkret die Verabschiedung von einem bestimmten, erträumten Bild von Gesellschaft, aber nicht die Verabschiedung von der Verantwortung für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft, in der den Individuen Möglichkeiten zur Gestaltung ihrer Selbst hinsichtlich der intendierten Lebensart offenstehen und ein freundschaftliches Miteinander möglich ist, eine Gesellschaft, in der das kritische Ethos gelebt werden kann. »To give up the power of an ought that derives from an already known universal, from the future already dreamed, is not to give up the responsibility to act in response to existing conditions.«178 175 | Vgl. Schmidt 2013: 125. 176 | Schmidt 2013: 126. 177 | Gallagher 1997: 165f. 178 | Gallagher 1997: 166

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2.1.4.4 Foucaults Konzept von Geschichte als Heterotopie Die Kantische Haltung des Muts zur Veränderung löst Foucault aus dem teleologischen Gesamtrahmen der Philosophie Kants. Die anvisierte Veränderung des Selbst in der Ästhetik bzw. Ethik des Selbst kennt keine Richtungsvorgabe, aber das emanzipatorische Anliegen der Befreiung aus vorgegebenen Machtprozeduren und Selbstbestimmung. »As a starting point, the present does not lead to consensus or to a perfect future, but to the possibility of critical refusal. […] Thus, Foucault suggests, critique takes the form of a ›possible transgression‹.«179 Die Richtung, die sich das Individuum in einer Stilisierung seiner Lebensweise immer wieder selbst gibt, wobei es den historisch-gesellschaftlichen Konstituierungsprozessen nicht entfliehen kann, lässt eine Konzeption der Wertschätzung für die Autonomie des Selbst und für eine ethische Beziehung zum Anderen auf der Basis des Modells der Freundschaft erkennen – Momente, die auch die Gesellschaft als Ganzes nicht unverändert lassen können und sollen. Wie Kant fordert er eine ›moralische Politik‹,180 die dem Individuum Räume zur ästhetisch-ethischen Selbstgestaltung eröffnet. Auch wenn Foucault in seiner Konzeption von Geschichte auf ein teleologisches bzw. logisches Prinzip verzichtet, so wendet er sich doch nicht gänzlich vom Utopischen der Geschichtsauffassung von Kant und Hegel ab und verfällt ins Topische, Atopische oder Dystopische. Hegels dialektischer Fortgang der Geschichte, der Versöhnung betont, wird bei Foucault zur bruchartigen Aufeinanderfolge von Epochen, denen bestimmte Episteme bzw. Formationsregeln des Diskurses, bestimmte Machtpraktiken, Konstitutionsprozesse des Subjekts und Selbsttechnologien zugrunde liegen. Diese sich ablösenden Epochen sind nicht in ein vorgegebenes Gesamtsystem eingebettet, haben also keine vorgesehene Entwicklungsrichtung, aber doch eine Monumente und Ereignisse ordnende Funktion. Sie schaffen ein geordnetes System des Geschichtsprozesses, das der Analyse zugänglich ist. An den Rändern des Topischen scheint das Neue, Andere auf und im Topischen sind heterotope Orte des Wissens, der Macht

179 | Gallagher 1997: 165. 180 | Hübner weist dezidiert auf die moralische Grundlegung der Politik hin: »Wie sehr seine politische Philosophie einer moralischen Perspektive verpflichtet ist, unterstreicht Kant in Zum ewigen Frieden auf zwei unterschiedliche Arten: Erstens weist er konfrontativ die Ansprüche einer rein pragmatischen Politik gegenüber der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes zurück, zweitens formuliert er affirmativ inhaltliche Prinzipien für eine moralische Politik unter Rückgriff auf seine Ethik.« (Hübner 2011: 46) Auch Foucault bindet in seiner Kritik und in seinem politischen Handeln Politik in einem moralischen Sinne an einen bestimmten Anspruch.

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und der Subjektformung möglich.181 Foucault macht diesen Bereich des Heterotopen in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen stark: Utopie wird bei Foucault zur Heterotopie im geschichtlichen Werden.

2.1.5 F uture and P ossibilit y. H offnung   in  K ants , F oucaults und  B lochs  P hilosophi e 2.1.5.1 Zum Phänomen Hoffnung Hoffnung ist als emotive Einstellung bzw. emotive Form der Handlungsmotivation mit der positive Ausrichtung auf die Zukunft verbunden. Zukunftsgestaltung bedarf der Zuversicht im Fühlen, Denken und Handeln als Basis für die Umgestaltung des Bestehenden, dies gilt gleichermaßen für den individuellen wie für den allgemein gesellschaftlichen Bereich. Das Projekt Zukunft ist ohne eine positive Erwartungshaltung, ohne menschliche Hoffnung auf wünschenswerte Veränderungen, die nicht allein zufälligen, schicksalshaften Wendungen zu verdanken sind, sondern insbesondere dem planerischen menschlichen Handeln und dem Gefühl von Erreichbarkeit unterliegen, nicht denkbar.182 So wie andererseits auch die Angst vor einer ungewissen, vielleicht tragischen Zukunft emotive Haltungen und Handlungsmotivationen in positiver Weise bestimmen, aber auch Apathie, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erzeugen kann. Die menschlichen Gefühle oszillieren im Hinblick auf Zukunftsprojektionen zwischen dem Utopischen und dem Distopischen bzw. Apokalyptischen, zwischen Hoffnung und Angst hin und her. Hoffend verhält sich der Mensch im Hinblick auf die Zeitlichkeit seiner persönlichen Existenz und der menschlichen Existenz im Allgemeinen in optimistischer Weise in der Erwartung auf die Erfüllung seiner Wünsche, Bestrebungen und 181 | Siehe zu den Begriffen Topie, Heterotopie und Utopie insbesondere: Foucault, Michel: Die Heterotopien: Les hétérotopes: Der utopische Körper: Le corps utopique: Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005c. 182 | Hoffnung wird philosophiegeschichtlich betrachtet nicht immer positiv konnotiert. So findet sich z.B. in der griechischen Antike eine allgemeine Skepsis gegenüber unberechtigten, illusionären Hoffnungen (z.B. in Platons Philebos). Nach Aristoteles kann sie auch mit einer gedrückten Stimmung der Seele verbunden sein. Bei Seneca weist sie einen unbestimmten Charakter auf. Eine besondere Rolle hat Hoffnung im Christentum im Zusammenhang mit dem Glauben an Gott, auch als Gegenpol zum apokalyptischen Denken. Der christliche Hoffnungsbegriff findet sich noch in der Existenzphilosophie Gabriel Marcels. Bei ihm stellt Hoffnung eine Antwort auf Verzweiflung auslösende Grenzerfahrungen im menschlichen Leben dar.

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Vorstellungen. Kant, Bloch und Foucault bieten sehr unterschiedliche Ansätze zum Verständnis von Hoffnung. Welches Verständnis von Hoffnung liegt bei den Autoren jeweils vor, welche Funktionen werden der Hoffnung in den unterschiedlichen philosophischen Konzepten von Kant, Bloch und Foucault zugesprochen und welche Bedeutung hat Hoffnung für das jeweilige philosophische System und dessen Argumentationszusammenhang? Welcher Bezug lässt sich von Foucault zu Kants und Blochs Philosophie ausgehend von diesem Aspekt konstatieren? Die bisher übersehene Blochrezeption Foucaults soll in diesem Kontext näher betrachtet werden. Ist die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Hoffnung bei den drei Philosophen von aktueller Relevanz für Fragen der individuellen Lebensbewältigung und im zeitgenössischen gesamtgesellschaftlichen bzw. globalen Kontext?

2.1.5.2 Hoffnung und die Zukunft des Menschen bei Kant Hoffnung ist bei Kant eng mit der Frage nach dem Wissen verbunden; sie erhält ihr Terrain, wenn Wissen an seine Grenzen stößt. Hoffen beginnt dort, wo sicheres Wissen nicht mehr möglich ist, aus einem Bedürfnis der menschlichen Vernunft heraus. Sie erfährt demnach eine anthropologische Verankerung. Ihr zentraler Bereich ist bei Kant zum einen die Ethik und zum anderen die Geschichtsphilosophie. In seinem Konzept der Glückswürdigkeit ist ein Hoffen auf einen späteren Ausgleich für moralisch angemessenes Handeln vorgesehen, der einem pflichtgemäßen Handeln folgen sollte. Das Handeln nach dem kategorischen Imperativ lässt das Bedürfnis nach einer Kompensation für Entsagungen, die mit dem moralischen Handeln verbunden sind, entstehen. Hoffen wird zum zentralen Bestandteil der Kantischen Moralität. Auch im Rahmen der geschichtsphilosophischen Theorie Kants ist Hoffnung als Moment, das auf die Zukunft ausgerichtetes Handeln erst ermöglicht, indem sie Zuversicht schafft, mit dem Modell des ewigen Friedens verbunden. Hier richtet sie sich auf die dem menschlichen Handeln entsprechende Zweckmäßigkeit der Natur, die der menschlichen Zielsetzung nicht entgegensteht. Hoffnung stellt somit wie die Achtung vor dem Sittengesetz als moralisches Gefühl ein konstitutives emotives Element der Kantischen Philosophie dar, das mit Rationalität verbunden gedacht wird und der Vernunft selbst entspringt.

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Gefühle sind im Unterschied zu Affekten und Leidenschaften183 in der Vernunftkonzeption Kants von »integraler Bedeutung«.184 Kants Kriterium der Bewertung der unterschiedlichen Emotionen bezieht sich auf den mit ihnen verbundenen Grad des Verlustes von Freiheit im Handeln bzw. der Beförderung von Freiheit. Affekte und Leidenschaften sind als vernunftwidrige bzw. unvernünftige Weisen der Handlungsmotivation zu betrachten, die sich durch ihren spontanen bzw. vorübergehenden oder gewohnheitsmäßigen Charakter voneinander unterscheiden. Bei Kant heißt es: »Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths; weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.«185 Gefühle allerdings sind als emotive Form der Motivation insofern von entscheidender Bedeutung als sie durch ihre Vernunftbezogenheit für seine Kritik der Vernunft sowohl im Bereich der Moral als auch in der ästhetischen Ausrichtung des Menschen im Rahmen einer allgemeinen Weltorientierung186 unerlässlich sind und den Zusammenhang von Moralisierung und Kultivierung demonstrieren. »Denn Gefühl, wie auch immer vernunftgewirkt, ist nicht anders denkbar denn als sinnliches Befinden. Fühlen kann überhaupt nur ein sinnliches, und das heißt körperliches Wesen.«187 Zu den emotionalen und handlungsleitenden Gefühlen, die der Vernunftausrichtung des Menschen nicht entgegenstehen, sondern diese sogar befördern, indem sie zum einen dem dualen Charakter des Menschen als Vernunftund Sinnenwesen gerecht werden und zum anderen die Weiterentwicklung des Menschen als Einzelwesen und als Gattung unterstützen, gehört neben der Achtung vor dem moralischen Gesetz in uns, dem Gefühl des Schönen, 183 | »Der Affekt, so definiert er, ist ›das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt‹.« In: Recki, Birgit: »Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle«. In: Herding, Klaus; Stumpfhaus, Bernhard (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten. Berlin, New York (De Gruyter), 2004, S. 276. Recki zitiert hier Kant, 07: 251. Zum Unterschied von Affekt und Leidenschaft bei Kant bemerkt Recki: »Während die Leidenschaft einem Strom vergleichbar ist, ›der sich in seinem Bette immer stärker eingräbt‹, wirkt der Affekt ›wie ein Wasser, was den Damm durchbricht‹; die Leidenschaft wirkt wie die Schwindsucht oder Auszehrung, der Affekt dagegen wie ein Schlaganfall«. (Recki 2004: 276) Recki verweist hier auf Kant, 07: 252. Kant spricht wörtlich von ›Abzehrung‹ und ›Schlagfluß‹. 184 | Recki 2004: 275. 185 | Kant, 07: 251. 186 | Recki spricht in Bezug auf Kants Ästhetik zutreffend von einer »Ästhetik des reinen Gefühls«. (Recki 2004: 278) 187 | Recki 2004: 287.

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das als interesseloses Wohlgefallen näher gefasst wird, und dem Gefühl des Erhabenen insbesondere das Gefühl der Hoffnung. Kants Auseinandersetzung mit vernunftbezogenen Gefühlen findet sich in seiner Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie, während in Kants Anthropologie insbesondere nicht-vernünftige Gefühle wie Pathos, Affekte und Leidenschaften reflektiert werden, allerdings ohne dass über sie eine Theorie ausgearbeitet wird. In Bezug auf die Phänomene Hoffen und Hoffnung sind in den einzelnen Bereichen seiner Philosophie unterschiedliche Herangehensweisen und argumentative Ausrichtungen zu konstatieren: Während in der Erkenntnistheorie der Bereich von Wissen und Hoffen unterschieden wird, damit theoretische Vernunft ihre Grenzen nicht übersteigt und spekulativ wird, um Metaphysik als Wissenschaft möglich zu machen, ist Hoffnung in der Moral- und Geschichtsphilosophie mit ihren politischen und pädagogischen Implikationen ein integrativer, fundierender Bestandteil der philosophischen Betrachtung, der moralisches Verhalten und geschichtlichen Fortschritt befördert. Im Bereich der Moral konstatiert Kant ausgehend von der Glückswürdigkeit des moralischen Subjekts die Hoffnung auf Glückseligkeit: »Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein. Die zweite fragt nun: wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?«188 Das Phänomen Hoffnung wird bei ihm in einem philosophischen Sinne relevant, und der Begriff bekommt einen systembezogenen Stellenwert im Gesamtrahmen seiner Philosophie. Schon die Frage ›Was kann ich hoffen?‹ als eine der drei Ausgangsfragen seines Philosophierens markiert die Bedeutung der Hoffnung für Kant.189 Sie bezieht sich in besonderer Weise auf das Zusammenstimmen von Sinnlichkeit und Vernunft, von Natur- und Sittengesetz und auf die Postulate von der Unsterblichkeit der Seele, der Existenz Gottes und der Freiheit des Willens. In der Logik wird Hoffnung der Religion zugeordnet und die drei Grundfragen durch die zusammenfassende anthropologische Frage »Was ist der Mensch?« ergänzt. Von diesen Überlegungen ausgehend stellt sich die Frage: In welcher Weise und in Bezug auf welche Aspekte rekurrieren Bloch und Foucault auf die Kantischen Überlegungen?

2.1.5.3 Blochs Philosophie der Hoffnung und das Utopische Bei Bloch erfährt der Bereich der Hoffnung Kants eine Ausweitung und wird zum grundlegenden Prinzip seiner Philosophie, das mit dem Entwurf und der Gestaltung von Zukunft im Allgemeinen verbunden wird, was sich in besonderer Weise in den Termini Noch-Nicht und abstrakte und konkrete Utopie 188 | Kant, 07: 679. 189 | Die anderen beiden Fragen lauten: ›Was kann ich wissen?‹ und ›Was soll ich tun?‹.

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abbildet. Kants Philosophie selbst avanciert bei Bloch mit ihren Theoremen kategorischer Imperativ, Reich der Zwecke und Ewiger Frieden zu einer Utopie. Bloch sieht Hoffnung zum einen als anthropologische Grundbestimmung und zum anderen als alle Bereiche des menschlichen Lebens gleichermaßen durchziehendes Prinzip. Tagtraum, Wunsch und Sehnen im Alltäglichen, die Kunst als Vorschein und Sozialutopien bilden gleichermaßen den Untersuchungsgegenstand seiner Philosophie. Die Begriffe des Nach-MöglichkeitSeienden und des In-Möglichkeit-Seienden spiegeln die Diskrepanz zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren. Hoffnung erweist sich bei Bloch als Gefühl der Zuversicht, das in einer positiven Erwartungshaltung mit der Antizipation von Zukunft verbunden ist. Der Mensch ist für ihn mit seinem antizipierenden Bewusstsein primär ein auf die Zukunft ausgerichtetes Wesen. Ausgangspunkt des Hoffens bei Bloch ist die Erfahrung von Not, Mangel und Bedürftigkeit. Hoffnung ist dabei zugleich als Affekt und als kognitiver Akt aufzufassen, deren Gegenpol im Affektiven Furcht und im Kognitiven Erinnerung darstellt. Erinnerung bezieht sich auf die Erkenntnis des Vergangenen, wobei ihr Unabgegoltenes als mögliches Heraufkommendes gilt. »Hoffen macht das Erinnern fruchtbar, schlägt das Schöne, das fortwährend Bedeutende aus ihm heraus.«190 Deutlich wird, dass Bloch den Fokus insbesondere auf eine Transformierung von Gesellschaft im geschichtlichen Werden durch utopisches Denken richtet. Hoffnung wird dazu anthropologisch fundiert und durchzieht das menschliche Schaffen insbesondere auch im Prozess des kulturellen Schaffens, in dem u.a. Produkte der Literatur und Kunst den Vorschein auf eine bessere Welt zum Tragen kommen lassen. Bloch reformuliert die Kantischen Fragen am Beginn seines Werks Utopie der Hoffnung: »Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?«191 Deutlich wird bei Bloch die Zeitbezogenheit seiner Grundfragen, die sich auf die menschliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen und damit insbesondere die zeitliche Dimension von Mensch, Natur und Welt betonen. Das der menschlichen Hoffnung entsprechende Korrelat setzt eine Subjekt-Objekt-Vermittlung voraus, wonach der Welt- und Geschichtsprozess gleichermaßen über eine Möglichkeitsdimension verfügen. Hoffnung kann aber auch immer wieder enttäuscht werden, so dass eine Haltung des Trotzdem opportun wird, in der Brüche, unerwartete Entwicklungsrichtungen und die damit verbundenen Enttäuschungen ausgehalten werden. Hoffnung steht immer mit Unbestimmtheit in Zusammenhang und ist auf einen Prozesscharakter 190 | Bloch, Ernst: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Gesamtausgabe Band 10, Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1985, S. 145. 191 | Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, erster Band. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 5 1978a, S. 1.

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von Welt ausgerichtet, mit einem antizipierten Ziel, das im Reich der Möglichkeiten aufscheint. Nach Bloch geht der Erwartungsaffekt Hoffnung mit einem Aufruf zum Handeln, Eingreifen und Verändern einher und hat einen aktivierenden Charakter. Mit der Hoffnung ist auch die Überwindung von Angst und Furcht verbunden. Hoffnung steht immer an der Front zum Noch-Nicht. Das mit der Hoffnung zusammenhängende utopische Moment benötigt ein utopisches Sein als Seinsprinzip, das als Noch-Nicht und Noch-Nicht-Gewordenes, verstanden werden kann, eine Latenz des Seins. Dabei rekurriert Bloch auf die Kategorie der Möglichkeit von Aristoteles insbesondere hinsichtlich der Wesenheit der Materie192 als »Bewegung nach ›Maßgabe des Möglichen‹« (Kata to dynaton) und »das In-Möglichkeit-Sein« (Dynamei on).193 Bloch spricht zur Verdeutlichung des Zusammenstimmens von Mensch, Natur und Welt von subjektiver Potenz und objektiver Potentialität.194 Das anthropologische Prinzip Hoffnung in seinen unterschiedlichen Formen vom Tagtraum bis zur reflektierten Hoffnung als eine Art Erkenntnisakt, die docta spes, korrespondiert demnach gleichzeitig mit einem Gesellschafts- und Naturprinzip, eine Vermittlung, die Bloch mit dem Begriff Heimat fasst. Vernunft verändert Hoffnung auf einen bestmöglichen Zustand von Welt zu zielgerichtetem, mit Normen verbundenem Tätigsein, das kommunikativen Aushandlungsprozessen unterworfen werden kann.

2.1.5.4 Hoffnung und das Heterotope bei Foucault Foucaults veränderte Subjekttheorie lässt Zukunft als intentionales Projekt dagegen obsolet werden. Die Konstitution des Subjekts durch Wissensdiskurse und Machtstrategien verengen den persönlichen Handlungsspielraum. Autonomie muss der Heteronomie mühsam abgetrotzt werden. Eine Zukunftsvision lässt sich weder im Sinne des Kantischen Ewigen Friedens noch der konkreten Utopie Blochs entwickeln. Zukunft wird im geschichtlichen Prozess unkalkulierbar. Lässt Foucaults Theorie, die den ›Tod des Subjekts‹ proklamiert, dennoch Raum für Hoffnung? Es zeigt sich, dass Foucaults Begriff der Heterotopie sich zwischen dem Topischen und Utopischen bewegt und dass seine Ad-hoc-Theorie im Politischen eine Dimension des Kritischen im Sinne der Kantischen Aufklärung als Grundlage für menschliche Hoffnung vorsieht. Eine Hoffnung, die auch die Formung des Selbst in der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst mit einbezieht. Foucaults quasi-utopische Ausrichtung, die 192 | Bloch bevorzugt es, von Weltstoff zu sprechen. Vgl. Bloch in Traub, Rainer; Wieser, Harald (Hg.): Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1975, S. 288. 193 | Bloch in Traub/Wieser 1975: 285f. Als dritte aristotelische Kategorie der Materie nennt Bloch »das Störende«. 194 | Vgl. Bloch in Traub/Wieser 1975: 288.

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sich auf die Perfektionierung des Selbst und der Gesellschaft gleichermaßen bezieht, kommt nicht ohne einen Rekurs auf Kant aus. Bei Foucault ist Kants Philosophie nicht wie bei Bloch nur Dokument des Utopischen als Illustration der eigenen Grundauffassung, sondern wird durch die Integration des Kantischen Theorems der Kritik zum Grundstein für seine Hoffnung. Neben Kant ist in diesem Kontext auch Bloch von entscheidender Bedeutung: »Tout simplement la lecture d’un livre déjà ancien que je n’avais pas encore lu, et que, à la faveur d’un accident et d’une convalescence, j’ai eu le temps de lire avec soin l’été dernier et c’est le livre de Ernst Bloch Le Principe Espérance […]. Ça m’a beaucoup frappé, parce que c’est un livre qui est finalement assez peu connu en France, a eu relativement peu d’influence, et qui me paraît poser un problème tout à fait capital.«195

Foucaults erwähnt Blochs Werk Das Prinzip Hoffnung im Kontext der Frage nach den Möglichkeiten zum Widerstand hinsichtlich der Iranischen Revolution. Er rekurriert hier auf Blochs Konzept vom Vorschein auf eine bessere Welt: »une ouverture, un point de lumière et d’attraction qui nous donne accès, dès ce monde-ci, à un monde meilleur.«196 Der Vorschein in der Geschichte lässt die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen aufkommen: »quelque chose comme une Révolution était possible.«197 Ähnlich wie Kant versteht Foucault revolutionäres Geschehen allerdings eher als Zeichen denn als wünschenswertes Agieren. Die Dimension der Hoffnung erscheint bei Foucault außer bei der Beschäftigung mit den Fragen von Widerstand in seinen unterschiedlichen Formen im Bereich Illusion, Imagination, Phantasie und Traum insbesondere im Heterotopen auf. Die Heterotopien, die in Die Ordnung der Dinge zunächst andere Sprach- und Denkordnungen verkörpern, werden in seinem Vortrag Les hétérotopies zu Gegenräumen, oft auch in Verbindung mit Heterochronien. Sie sind Räume des Übergangs, der Verwandlung, der Krisensituationen und Abweichungen. Sie haben auf Grund ihres entlarvenden Charakters auch Auswirkungen auf die Realitätswahrnehmung insgesamt. Foucault bestimmt in seinem Vortrag Le corps utopique den menschlichen Körper als Hauptakteur aller Utopien.

195 | Foucault in: Foucault, Michel; Sassine, Farès: »Foucault en l’entretien«. [1979] 2014. Online: http://fares-sassine.blogspot.de/2014/08/entretien-in​e d​i t-avec-mi​c h​ el-foucault.html; zuletzt aufgerufen am 30.04.2018, S. 1f. 196 | Foucault in Foucault/Sassine 2014: 2. 197 | Ebd.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe »Le corps, il est le point zéro du monde, là où les chemins et les espaces viennent se croiser, le corps il n’est nulle part: il est au cœur du monde ce petit noyau utopique à partir duquel je rêve, je parle, j’avance, j’imagine, je perçois les choses en leur place et je les nie aussi par le pouvoir indéfini des utopies que j’imagine.«198

Im Körper ist sowohl Topisches, Heterotopes als auch Utopisches verankert. Das Denken des Andersartigen im Heterotopen ist bei Foucault Ansatzpunkt für eine Veränderung, Überschreitung und Korrektur des Bestehenden. Sein Begriff Heterotopie lässt sich mit dem Begriff der konkreten Utopie bei Bloch vergleichen. Allerdings betont Foucault im Unterschied zu Bloch insbesondere den räumlichen Charakter des Heterotopen. Er bleibt allerdings nicht bei einer rein räumlichen Bestimmung stehen. Foucaults Analyse der bestehenden Diskursformationen, der Dispositive, der Subjektkonstitution und der Machtformen in ausgewählten Bereichen in historischen Situationen gibt ein Handwerkszeug für mögliche Veränderungen von Regierungsformen, Subjektformen und gesellschaftlichen Bedingtheiten und eröffnet einen Raum für Freiheit im Denken und Handeln.199 In seiner an Kant angelehnten Konzeption von Kritik geht es Foucault darum, diesen zu erschließen, um die Autonomie des Selbst denkbar zu machen. Dieser heterotope Raum ist ein Ort der Hoffnung, in dem Widerstand möglich ist. Foucault spricht sich in diesem Kontext gegen utopische Entwürfe aus, die eine umfassende gesellschaftspolitische Veränderung anstreben und dabei zumeist scheitern. Er bevorzugt eine Politik der kleinen Schritte, der Bescheidenheit.

2.1.5.5 Projecting the future. Kant, Bloch und Foucault im Vergleich Ähnlich wie Kant setzt Bloch ein Entgegenkommen der Natur voraus, damit dem von der Hoffnung motivierten und gelenkten Handeln des Menschen eine objektiv-reale Möglichkeit entspricht, eine Art Allianz zwischen Welt, Natur und Mensch. Während bei Kant der Postulat-Charakter der erhofften Korrespondenz betont wird und Hoffen gerade auch auf diesen Aspekt bezogen wird, wird die anthropologische und ontologische Übereinstimmung bei Bloch als Bestandteil seiner materialistischen Ontologie behauptet. Bloch schließt sich der Kantischen Vorsicht nicht an. Wie Kant benutzt Bloch eine biologischorganische Metaphorik, um diese Übereinstimmung auszudrücken, wenn er im Hinblick auf die Prozessimmanenz von »keimenden Inhalten« und einem

198 | Foucault 2005c: 63. 199 | Die Erfahrung von Andersheit ist bei Foucault insbesondere im Bereich Literatur und Kunst möglich.

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»Kern«, der noch nicht geblüht habe, spricht.200 Auch greift er auf Kants Ästhetik mit Ihrer Unterscheidung zwischen dem Naturschönen und der Naturerhabenheit zurück, um diese als Versprechen zu deuten. Eine weitere Ähnlichkeit besteht in der Vernunftzugewandtheit bzw. dem Vernunftcharakter des Gefühls Hoffnung bei Bloch und Kant. Während Bloch einen bestimmten Typus von Hoffnung hervorhebt, die docta spes, ist bei Kant Hoffnung im Kontext der Moralphilosophie explizit als ein der Vernunft zugängliches bzw. Vernunft förderliches Gefühl thematisiert, als ein Gefühl, das die Moralität des Menschen unterstützt. Kants Geschichtsphilosophie mit dem Ziel des Staatenbundes und des Ewigen Friedens weist ähnlich wie Blochs Konzeption einen geschichtsphilosophischen Entwurf und einen utopischen oder quasi-utopischen Charakter auf. Allerdings geht Kant im Unterschied zu Bloch nicht auf ökonomisch-soziale Ungleichheiten als Auslöser von internationalen Konflikten ein und unterscheidet nicht wie Bloch zwischen dem positiv zu bewertenden Kampf für realutopische Ziele und Krieg als zu bekämpfendes Phänomen, sondern sieht im Krieg ausgehend von seinem Theorem der ungeselligen Geselligkeit, das auf das Verhältnis zwischen Staaten übertragen wird, einen Motor von Geschichte, der sich durch den Prozess zunehmender Verrechtlichungen zwischenstaatlicher Beziehungen bei der Bildung eines Völkerbundes überwinden lässt. Auch die positive Bewertung von Handelsbeziehungen zur Beförderung des Friedensprozesses ist bei Bloch nicht zu finden. Gerade der ökonomische Bereich ist bei ihm Ausgangspunkt von Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Sein eigenes Werk versteht Bloch – in Anlehnung an Kant – als eine Art Kritik der praktischen Vernunft.201 Diese ist aber nicht wie bei Kant als Moralphilosophie, sondern eher als eine Art Handlungstheorie zu verstehen. Im Unterschied zu Kants organisatorischrechtlichem Konzept eines Völkerbundes ist Blochs Zielvorstellung marxistisch-anarchistisch ausgerichtet. Den Kategorien aus Kants Erkenntnistheorie setzt Bloch eine »prozessierende Kategorienlehre«202 mit der Grundkategorie ›Möglichkeit‹ entgegen. Bloch betont die im Kategorialen angelegte Offenheit und Veränderbarkeit. Foucault vollzieht später mit seinem Begriff des historischen Apriori die gänzliche Historisierung der Kategorien. Möglichkeit ist bei ihm nicht mehr kategorial zu verstehen, sondern in der Offenheit des Geschichtsprozesses angelegt.

200 | Vgl. Bloch in Traub/Wieser 1975: 260, 286. 201 | Vgl. Braun, Eberhard: »Ernst Bloch – der philosophische Schriftsteller des Exils«. In: Zeilinger, Doris (Hg.): Grenzen der Utopie? Krieg der Hoffnung?: Ernst Bloch zum 25. Todestag, VorSchein Nr. 24: Jahrbuch der Ernst-Bloch-Assoziation. Berlin, Wien (Philo & Philo Fine Arts) 2004, S. 192. 202 | Bloch in Traub/Wieser 1975: 261.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

Blochs und Foucaults Philosophie verbindet der Begriff des Überschreitens, den Foucault als Schlüsselbegriff seiner Philosophie des Subjekts, der Macht und des Wissens zur Charakterisierung eines Übergangs, der auch sprunghaft erfolgen kann, formuliert, während Bloch ihn im Begriff Hoffnung verankert. Beide arbeiten mit dem Horizontbegriff, der eine Ausrichtung auf die Zukunft und ein Aufscheinen von Anderem, Möglichem und Ausgeschlossenem umfasst. Bloch und Foucault wenden sich gegen abstrakte Utopien, die großen Entwürfe der Weltveränderung. Während Bloch die konkrete Utopie als realisierbare Utopie im Sinne eines sozialistischen Humanismus anstrebt, formuliert Foucault ein bescheidenes Programm einer Art Ad-hoc-Veränderung der Gesellschaft, in der es um die Zunahme von Autonomie für das Individuum geht, das sich sowohl selbst im Sinne eines Kunstwerks verändern als auch Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft als Ganzer nehmen kann und soll. Foucault geht es um experimentelles Ausprobieren203 von Lebensweisen, Formen des Zusammenlebens und das Bewirken von gesellschaftspolitischen Veränderungen, die eine partielle Befreiung von Machtkonstellationen ermöglichen, damit Machtformen nicht zu Herrschaftsformen erstarren. Ausgehend vom Konzept der Konstruktivität von Wissen und der Konstitution des Subjekts durch Wissen und Macht in diskursiven wie dispositiven Zusammenhängen ist für Foucault eine anthropologische Festlegung des Menschen, wie Bloch sie mit seinem Prinzip Hoffnung als Wesensbestimmung des Menschen vornimmt, undenkbar. Für Foucault ist der Mensch nur ein ›Gesicht im Sand‹, eine Metapher, die auf die Offenheit des Menschen verweist. Der Mensch kann nicht mehr wie bei Kant und Bloch auf ein Zusammenstimmen von Mensch, Natur und Welt hoffen und ist mit seinem Tun nicht mehr der Schlüssel zum Fortschritt in der Geschichte, wenn auch nicht gänzlich ohne Wirkungsmacht. Während bei Bloch ein Verständnis von Macht als Repression vorliegt, ist Macht bei Foucault strategisch-relational zu verstehen. Aus seinem Machtbegriff wird bei Bloch ein Widerstandskonzept zur Realisierung von konkreter Utopie abgeleitet, das in erster Linie Befreiung von repressiver Herrschaft bedeutet. Bei Foucault dagegen erfordert Widerstand auch den Umgang mit sich selbst und bedeutet gleichermaßen Veränderung des Selbst wie der gesellschaftlichen Kontextes. Hoffen als ein menschlicher Affekt ist bei Foucault durch Wissens- und Machtpraktiken und Technologien des Selbst geformt und formbar. Hoffen ist demnach nicht nur durch wandelnde inhaltliche Bezüge und Funktionen im individuellen wie gesellschaftlichen Kontext zu bestimmen, sondern durch die Wandelbarkeit des Affektcharakters und der Kognitivität selbst. So kritisiert Foucault Bloch:

203 | Auch Bloch spricht dem Experimentieren im realutopischen Prozess eine wichtige Rolle zu. (Vgl. Bloch in Traub/Wieser 1975: 265)

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Foucault heute »Alors, euh, ce thème m’a beaucoup intéressé car je le crois historiquement vrai, même si Ernst Bloch ne donne pas de tout cela une démonstration très satisfaisante en termes de science historique. Je crois que c’est une idée, qui est tout de même…« 204

Das Moment des konkret Utopischen und Hoffnungsvollen wird bei Foucault aber nicht vollständig suspendiert, sondern transformiert und historisiert. Hoffnung kann bei Foucault nicht wie bei Bloch und Kant den der Kognition nahestehenden Gefühlen zugeordnet werden, sondern muss entsprechend seiner Konzeption der Konstruiertheit des Gefühls immer schon als sowohl dem Sinnlichen wie dem Kognitiven auch körperlich eingeschrieben und gleichzeitig durch Selbsttechnologien formbar vorgestellt werden. Für Foucault besteht aufgrund seiner Konzeption der Einheit von Körper und Seele ein grundsätzlicher Zusammenhang von Gefühl und Kognition. Hoffnung selbst muss als historisch offen und verschieden ausgeprägt verstanden werden. Hoffnung auf ein sich aus heteronomen Zwängen befreiendes Selbst und eine dies ermöglichende gesellschaftspolitische Konstellation erweist sich demnach als Projekt der Zukunftsgestaltung ohne vorgegebene Richtung,205 als gemeinschaftliche Aufgabe der Menschen. Rorty konstatiert aktuell einen ›loss of faith‹ in Bezug auf den Glauben an die Erreichbarkeit globaler Gerechtigkeit, der mit den Überzeugungsverlust der historischen Narrationen in Zusammenhang steht, die zum einen die fehlende Überzeugungskraft des marxistischen Modells zum Ausdruck bringen und zum anderen das Versagen des ökonomisch-technischen Modells der westlichen Demokratien, im globalen Kontext Gerechtigkeit schaffen zu können, spiegeln. Utopisches Denken hat in der zeitgenössischen Situation seine wichtigsten Wurzeln verloren. »It seems to me that loss of faith in both of the alternative scenarios that were supposed to culminate in an egalitarian utopia plays a much greater role in our concern about globalization than do either the movements grouped together under ›identity politics‹, or any specific philosophical developments.« 206

Für Rorty spiegeln die aktuellen philosophischen Themen diesen Verlust an Hoffnung: »This seems to me the result of a loss of hope – or, more specifically, of an inability to construct a plausible narrative of progress. A turn away from narration and utopian dreams toward philosophy seems to me a gesture of de-

204 | Foucault in Foucault/Sassine 2014: 2. 205 | Bei Bloch wird das Ziel mit dem Begiff ›Heimat‹ gefasst. 206 | Rorty, Richard: Philosophy and Social Hope. London (Penguin Book), 1999, S. 231

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

spair.«207 Die Berechtigung der Hoffnung beruht darauf, dass utopisches Denken andere Formen des Ausdrucks als Motor zur Entwicklung neuer Formen des politischen Denkens und Handelns sucht. Dass bestehende Theoreme des hoffnungsbezogenen utopischen Denkens mobilisiert und verändert und neue philosophisch-politische Konzepte entwickelt werden können, die ein Denken der Hoffnung nach dem Ende der utopischen und realutopischen Erzählungen anbieten, wird an der pragmatischen Philosophie Foucaults deutlich, der der utopische Zug eines Kant oder Bloch208 fehlt. Bei Foucault wird das Primat der Zukunft zum Primat der Gegenwart, ohne dabei die Bedeutung der Zukunft 207 | Rorty 1999: 232. Er weist auf die Bedeutung des Begriffs ›impossibility‹ in der politischen Philosophie bei Chantal Mouffe und Ernesto Laclau hin. Rorty skizziert die aktuelle gesellschaftlich Situation durch die Bedeutung des globalen Kapitals, das in der Hand der global overclass liegt. »The absence of a global polity means that the super-rich can operate without any thought of any interests save their own.« (Rorty 1999: 233) Rorty betont die Notwendigkeit einer globalen Politik (global polity) und der Schaffung globaler Institutionen: »We should probably be doing more than we are in dramatize the changes in the world economy which globalization is bringing about, and to remind our fellow citizens that only global political institutions can offset the power of all that marvellously liquid and mobil capital.« (Rorty 1999: 233f.) Er hält dies für die einzige Möglichkeit, in Zukunft das Ziel globaler Gerechtigkeit erreichen zu können: »But I suspect that is the only chance for anything like a just global society.« (Rorty 1999: 234) Weiter heißt es bei Rorty: »Although I think that historical narrative and utopian speculation are the best background for political deliberation, I have no special expertise at constructing such narratives and speculations.« (Rorty 1999: 234) Die Fokussierung auf die Themen ›identity‹ and ›difference‹ ist für Rorty ein Ausdruck des alten utopisch ausgerichteten egalitären Denkens. »As I see it, the emergence of feminism, gay liberation, various sorts of ethnic separatism, aboriginal rights, and the like, simply add further concreteness to sketches of the good old egalitarian utopia.« (Rorty 1999: 235) Rorty zeigt hier, dass utopisches Denken in der zeitgenössischen Situation durchaus andere Formen annehmen kann und annimmt. 208 | So konstatiert z.B. Arabatzis Blochs Bedeutungsverlust in der Gegenwart: »Ich beginne mit der These, daß Bloch heute nicht mehr aktuell ist. Es ist in der Tat um ihn still geworden.« In: Arabatzis, Stavros: »Zur Aktualität Ernst Blochs«. In: Zeilinger, Doris (Hg.): Grenzen der Utopie? Krieg der Hoffnung?: Ernst Bloch zum 25. Todestag, VorSchein Nr. 24: Jahrbuch der Ernst-Bloch-Assoziation. Berlin, Wien (Philo & Philo Fine Arts) 2004, S. 102. Nach Anne Frommann ist der Umgang mit Blochs Philosophie heute durch Missachtung und einen zynischen Umgang gekennzeichnet. Das ›Prinzip Hoffnung‹ sei zu einer Plattitüde verkommen. Vgl. Frommann, Anne: »Augenblick – dreifach«. In: Zeilinger, Doris (Hg.): Grenzen der Utopie? Krieg der Hoffnung?: Ernst Bloch zum 25. Todestag, VorSchein Nr. 24: Jahrbuch der Ernst-Bloch-Assoziation. Berlin, Wien (Philo & Philo Fine Arts) 2004, S. 165.

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zu verkennen. Mit dem Ende der Utopie209 ist nach Foucault kein Ende der Hoffnung verbunden.

2.1.6 P rojek t Z ukunf t. K ritik , G ewalt   und  F ortschrit t bei K ant , F oucault und M bembe 2.1.6.1 Projecting the Future. Kant, Foucault und Mbembe Für die philosophischen Überlegungen von Michel Foucault und des sich auf ihn beziehenden postkolonialen afrikanischen Philosophen Achille Mbembe ist der Rekurs auf Kant gleichermaßen von entscheidender Bedeutung und bezeugt neben der Aktualität des Foucault’schen Denkens auch die Aktualität Kants für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Frage- und Problemstellungen im weltweiten Kontext. Wie bei Kant ist der Begriff Kritik für Foucault und Mbembe zum einen mit der Analyse der menschlichen Erkenntnis als auch mit einer kritischen Haltung als aufklärerischer Impetus verbunden. Während Kant die Untersuchung des Erkenntnisvermögens – der Erkenntniskräfte Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft – insbesondere im Hinblick auf das Herausarbeiten ihrer Apriorität vornimmt, geht es Foucault und Mbembe um eine Diskursanalyse, in der nach Foucault die das Denken einer Zeit strukturierenden Episteme, das historische Apriori, und nach Mbembe die zugrundeliegenden Prinzipien bzw. Paradigmen aufgefunden werden sollen. So rekurriert Mbembe in seiner Schrift Critique de la raison nègre 210 entgegen des im Titel evozierten intertextuellen Dialogs mit Kant eher auf einen über Foucault vermittelten modifizierten Kant, wenn er den Diskurs über Schwarze unter Einbeziehung der Ebene der Dispositive sowohl in der Außenperspektive als auch in der Innenperspektive kritisch untersucht. Die Selbstkritik an der Beibehaltung des Theorems Rasse im afrikanischen Denken über sich selbst wird erweitert durch die Kritik an der Perpetuierung der Opferrolle, an der mangelnden Bereitschaft zur Übernahme einer Mitschuld an den traumatischen Ereignissen der Vergangenheit bzw. des fehlenden Eingeständnisses der eigenen Schuld und an der fehlenden Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens, Afrikas und der Welt. Trotz der Vorstellung von der Konstituiertheit des Subjekts gehen Mbembe 209 | Diese Formulierung verweist auf Marcuse, Herbert: »Das Ende der Utopie«. In: Marcuse, Herbert: Psychoanalyse und Politik. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1968, S. 6978. 210 | Mbembe, Achille: Critique de la raison nègre. Paris (La Découverte), 2013b. Die deutsche Übersetzung erschien 2014: Mbembe, Achille: Kritik der Schwarzen Vernunft. Berlin (Suhrkamp), 2014.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

und Foucault von der Autonomie und Verantwortlichkeit des Menschen in moralisch-politischer Hinsicht aus – ganz im Sinne Kants. Es geht ihnen wie Kant um die Gestaltung der menschlichen Zukunft. In diesem Kontext soll untersucht werden, welche Auffassungen über Kritik, Gewalt und Fortschritt bei Kant, Foucault und Mbembe vorliegen und welche Bezüge zwischen den Begriffen bzw. Phänomenen jeweils bestehen? Welche Funktionen erfüllt der Rückgriff von Foucault und Mbembe auf Kant und von Mbembe auf Foucault und was bedeutet dies für ihre jeweilige philosophische Positionierung? Welche Zukunftsvisionen und Lösungsansätze für die Bewältigung anstehender Probleme entwickeln sie?

2.1.6.2 Revolutionäre Gewalt, Kritik und Fortschritt bei Kant Kant reflektiert die Frage der Gewalt insbesondere ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Thema Revolution und von der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden. Anders als Foucault lehnt er die gewaltsame Revolution insbesondere deshalb ab, weil Gewalt die rechtliche Verfasstheit des Staates zerstört. Für ihn bleibt ›ewiger Frieden‹ trotz der Tendenz zur ›ungeselligen Geselligkeit‹ zwischen Staaten als allgemeinmenschliches Projekt eines kosmopolitisch orientierten Völkerbundes denkbar und erstrebenswert. Kant ist als entschiedener Gegner des Widerstandsrechts bekannt, da für ihn eine grundsätzliche Gehorsamspflicht gegenüber dem Souverän besteht.211 Der die Staatsmacht legitimierende staatsphilosophische Kontraktualismus würde der Anarchie durch die zugrundeliegenden subjektiven Gerechtigkeitsinterpretationen Tür und Tor öffnen, wenn in ihm die Grenzen des Gehorsams durch die Untertanen selbst festgelegt werden könnten. Widerstand ist deshalb für Kant insbesondere aus logischen Gründen abzulehnen. Aufgrund des sich ergebenden Widerspruchs ist Widerstand für ihn nicht mit den Prinzipien des Staatsrechts vereinbar.212 Er legitimiert allein die Verbindlichkeit des Gehorsamsanspruchs gegenüber dem Souverän. 211 | Kant duldet Widerstand nur in Form der in der dualistischen Staatsform des mittelalterlichen Ständestaats selbst verankerten rechtlich vorgesehenen Form, bei der das Volk durch Repräsentanten an der Herrschaftsausübung beteiligt ist. Dieser Widerstand ist nach Kant gesetzlich verankert und dient der Staatserhaltung und -verbesserung, er stellt eine rechtlich organisierte Gewalt dar. Faktisch handelt es sich um ein aktiv legitimiertes Widerstandsrecht der Stände, nicht des Volkes. Hierin rekurriert Kant auf die Lehren der Monarchomachen und der Allgemeinen Staatslehre seiner Zeit. Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Paderborn (mentis), 2007, S. 357ff. 212 | »Kants Nachweis der staatsrechtlichen Unmöglichkeit des Widerstandsrechts basiert auf einem schlüssigen, leicht nachvollziehbaren logischen Argument. Die recht-

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Foucault heute »Hieraus folgt: daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Unterthanen thätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist: weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Verbot ist unbedingt, so daß, es mag auch jene Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, sogar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts Gesetzgeber zu sein nach dem Begriff des Unterthans verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewaltthätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Unterthan kein Widerstand als Gegengewalt erlaubt bleibt.« 213

Hier zeigen sich bei Kant widersprüchliche theoretische Anforderungen zwischen leviathanisch aufgefasster Herrschaft, Gerechtigkeitskonzeption, Kontraktualismus und rechtsstaatlicher Grundlegung.214 In der methodischsystematisch parallel zum Privatrecht vorgenommenen Grundlegung des Staatsrechts wird auch die Frage nach der Entstehungsursache staatlicher

liche Möglichkeit eines Widerstandsrechts gegen die Staatsgewalt impliziert die Befugnis des Berechtigten, die Bedingungen seines Gehorsams selbst zu bestimmen. Sie setzt den Berechtigten zum Herrn über den Widerstandsfall ein und stattet ihn daher mit der Souveränität aus.« (Kersting 2007: 362f.) Bei Kant heißt es dazu: Es »müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein und das Volk als Unterthan in einem und demselben Urtheile zum Souverän über den zu machen, dem es unterthänig ist; welches sich widerspricht und wovon der Widerspruch durch die Frage alsbald in die Augen fällt: wer denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte?« (Kant, MS, 06: 320) Das Widerstandsrecht lässt sich auch nicht vom Selbstverteidigungsrecht bzw. Notwehrrecht, das Kant vom Notrecht unterscheidet, ableiten. (Vgl. Kersting 2007: 378) 213 | Kant, TP, 08: 299. 214 | »Das Ergebnis dieses zweigleisigen Vorgehens ist eine differenzierte rechtsphilosophische Position, die das ›Ideal des Hobbes‹ mit dem ›Ideal des Rousseaus‹ zu vereinigen versucht und sowohl eine staatsrechtliche Grundlegung der wahren Republik und eine Theorie der gerechten Herrschaft als auch eine sich von Gerechtigkeitsnormen unabhängig machende Geltungstheorie positiven Rechts enthält.« (Kersting 2007: 355) Einem entthronten Monarchen gesteht Kant sogar ein Recht auf gewaltsame Wiedererlangung der Herrschaft zu. Hierin sieht Kersting zurecht einen Bruch in der Argumentation Kants: »Damit wäre er der einzige Staatsbürger, der ein Recht auf Revolution und Widerstand hätte. Mit einem einzigen Federstrich erklärt Kant hier seine ganze staatsrechtliche Konzeption für ungültig. Hier wird auf einmal das Herrschaftsrecht nicht mehr öffentlich-rechtlich als Imperium, sondern privat-rechtlich als Dominium begriffen.« (Kersting 2007: 368)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

Herrschaft rechtlich betrachtet nebensächlich,215 ihre Herkunft bleibt legitimationstheoretisch unerheblich. Eine gewaltsame revolutionäre216 Machtergreifung erlaubt trotz der grundsätzlichen »Rechtswidrigkeit einer revolutionären Staatsverbesserung«217 widerstandsrechtlich keine andere Einschätzung; auch diesen Machthabern gegenüber gilt nach Kant die Gehorsamspflicht bzw. das Widerstandsverbot. Auch die natürliche Rechtsposition218 begründet nach Kant kein Widerstandsrecht, sondern allein eine rechtliche Pflicht des Herrschers, die natürlichen Rechte der Staatsbürger zu respektieren. Die Qualität von Herrschaft zeigt sich nach Kant in der Bereitschaft des Herrschers zur Selbstaufklärung, zur Gewährleistung von sich gegenseitig begrenzender Freiheit der Staatsbürger und zur Etablierung einer Kultur der Publizität. Kant glaubt auch diesbezüglich an einen evolutionären Prozess der allmählichen Verbesserung. Revolution entspräche dem Rückfall in den Naturzustand, was die Abschaffung des Rechts und den Einzug von Gewalt implizieren würde. Es heißt bei ihm: »[B]evor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, 215 | »Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine neue | Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich als guter Staatsbürger zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die [...] Gewalt hat. « (Kant, MS, 06: 322f.) 216 | Kant differenziert nicht zwischen Aufruhr, Aufstand und Revolution; der Terminus Revolution umfasst bei ihm alle Formen gewaltsamer Proteste und Umstürze. 217 | Kersting 2007: 374. 218 | Das natürliche Recht kann als Recht auf Freiheit betrachtet werden, das dem universellen Prinzip der Gerechtigkeit zugrunde liegt und auch das Recht auf Eigentum begründet. Im Naturzustand haben diese Rechte im Unterschied zu Locke allerdings nur einen provisorischen Charakter. Rechte werden bei Kant nach dem Modell Rousseaus vom sozialen Vertrag garantiert, der bei Kant hypothetisch bzw. transzendental und im Sinne eines Postulats verstanden wird. Damit beruhen sie nach Korsgaard als reziproke Garantien auf sozialen Beziehungen. Vgl. Korsgaard, Christine M.: »Taking the Law in Our Own Hands: Kant on the right to Revolution«. In: Reath, Andrews; Herman, Barbara; Korsgaard, Christine (Hg.): Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls. Cambridge, New York, Melbourne etc. (Cambridge University Press), 1997. S. 301, 305. Des Weiteren müssen diese individuellen Rechte vom gemeinsamen Willen auf der Basis eines etablierten rechtlichen Zustands ggf. durch Zwang durchgesetzt werden können. Dieser allgemeine Wille wird prozedural verstanden. (Vgl. Korsgaard 1997: 313) Davon ausgehend besteht eine Pflicht zum Zusammenleben in einer Zivilgesellschaft. (Vgl. Korsgaard 1997: 302f.) »To put it another way, justice, which is the condition in which we have guaranteed one another our rights, exists only where there is government. Government, then is founded on our presumptive general will to justice.« (Korsgaard 1997: 303)

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[können] vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein«.219 Kersting betont: »Der Tyrann avanciert damit vom summum malum zum kleineren Übel – sofern man überhaupt noch über eine differenzierende politische Ethik verfügt, die verschiedene Weisen staatlicher Herrschaftsausübung normativ zu unterscheiden erlaubt, und sich nicht mit einer generellen Legitimationstheorie staatlicher Herrschaft begnügt.« 220

Die summum-malum-Funktion übernimmt bei Kant der Naturzustand.221 Ihm zufolge bedeutet die positivrechtliche Fundierung des mit Gewaltanwendung verbundenen Widerstands die Selbstauflösung des Staates, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, Ungerechtigkeit und Instabilität, da der Staat nach Kant die Freiheit aller garantiert: »Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«.222 Nur um die reziproke Freiheitsausübung zu gewährleisten ist nach Kant die Anwendung von Zwangsmitteln erlaubt. Es heißt bei Kant:

219 | Kant, MS, 06: 312. 220 | Kersting 2007: 375. »Nennen wir den Angriff auf die moralische Integrität der Untertanen ein Charakteristikum tyrannischer Herrschaft, so gilt, daß Kant wie die gesamte neuzeitliche Staatsphilosophie keine Lösung für das Tyrannenproblem zu entwickeln vermag. Es wird ungeschmälert und unmittelbar den Individuen aufgebürdet. War der Tyrann in der klassischen Politik der Herrscher, der den Staatszweck pervertierte und daher mit Recht aus seiner Herrschaft zu vertreiben und nötigenfalls zu töten war, so wird er bei Kant zu einer Bewährungsprobe des moralischen Subjekts.« (Kersting 2007: 374) 221 | »In der neuzeitlichen Staatsphilosophie hingegen übernimmt der Naturzustand die summum-malum-Funktion. Ihr Kontrastbegriff ist nicht die schlechte, weil den politischen Zweck verratende Herrschaft, sondern die Anarchie. Daher muß das neuzeitliche Denken widerstandsfeindlich aus Prinzip sein, denn jeder Widerstand ist ordnungszerstörend und dient der Beförderung der Anarchie.« (Kersting 2007: 374f.) 222 | Kant, MS, 06: 231. Bei Cummiskey heißt es in diesem Zusammenhang: »Justice (Right) thus involves ›the sum of the conditions under which the choice of one can be united with the choice of another in accordance with a universal law of freedom.‹ (MS 230) The universal law of justice, the categorical imperative of justice, is thus: ›so act externally that the free use of your choice can coexist with the freedom of everyone in accordance with a universal law‹ (MS 230-31).« In: Cummiskey, David: »Justice and Revolution in Kant’s Political Philosophy«. In: Muchnik, Pablo (Hg.): Rethinking Kant, volume I. Newcastle upon Tyne (Cambridge Scholars Publishing), 2009, S. 220.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe »Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht; mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft. […] man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen.« 223

Nach Kant ist die Anwendung von Gewalt zur Etablierung einer rechtvollen Zivilgesellschaft zwar durchaus zulässig, nach Überwindung des Naturzustands favorisiert er dagegen normativ-rechtliche und institutionelle Mittel und strebt einen evolutionären Prozess gradueller Reformen an. Kant befürchtet mit dem einsetzenden Zustand der Rechtslosigkeit primär den Einbruch von Gewalt und Zerstörung und die Aufkündigung des Friedens im Staatswesen. Gewalt und Krieg betrachtet Kant ausgehend von einer naturteleologischen Sichtweise und ordnet sie so in sein Fortschrittskonzept ein, so dass sie zunächst zum Motor auf dem Weg zur kosmopolitischen Weltordnung, dann aber zunehmend zum hinderlichen und verzichtbaren Mittel werden. Die wachsenden weltweiten Handelsbeziehungen, das Besuchsrecht zwischen Bürgern verschiedener Staaten, die zunehmende politische Kooperation unter Staaten auf dem Weg hin zu einem Völkerbund und die Tatsache, dass die republikanische Partizipation der Bürger große Opfer der Bevölkerung mit sich bringende, leichtfertig begonnene und vermeidbare Kriege letztlich verhindern wird, lassen die Hoffnung auf Frieden berechtigt und Gewaltanwendung vermeidbar erscheinen. Institutionelle und rechtliche Maßnahmen, eine Veränderung der Denkungsart und eine Zunahme an menschlicher Moralität sind mit dieser Entwicklung hin zum ewigen Frieden verbunden. Dieser Prozess bedeutet die Entfaltung der Anlagen der Gattung Mensch und ist durch die Natur selbst verbürgt, denn der Mensch darf nach Kant darauf hoffen, dass die Natur selbst das Ausleben seiner höheren Ambitionen ermöglicht und begünstigt. 223 | Kant, MS, 06: 231f. Vgl. dazu auch Cummiskey 2009: 221. Cummiskey vertritt wie z.B. auch Sarah William Holt die These, dass die Gerechtigkeitskonzeption Kants unter bestimmten Voraussetzungen Widerstand rechtfertigt. Diese Auffassung geht von der Unabhängigkeit der Herleitung von Gerechtigkeit einerseits und Recht andererseits aus, wonach es Gerechtigkeit bereits im Naturzustand gibt. »[T]hese actions are direct violations of justice and do not depend on civil society for their legitimate external enforcement.« (Ebd.) Allerdings lassen sich Gerechtigkeit und Recht nach Kant nur in Bezug aufeinander betrachten, so dass sich in seiner Argumentation an dieser Stelle meiner Auffassung nach kein logischer Widerspruch auffinden lässt. Der Zwang geht nicht von der Gerechtigkeitsvorstellung selbst aus, sondern muss institutionell-rechtlich abgesichert werden.

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Trotz der Ablehnung von Revolution und Gewalt ist die französische Revolution für Kant im Hinblick auf den in ihr sichtbar werdenden moralischen Enthusiasmus aus der Sicht des Betrachters224 als Zeichen des historischen Fortschritts und der zunehmenden Moralität zu werten. Die Beurteilung Kants erfolgt auf der geschichtsphilosophischen Metaebene und betrifft nicht die theoretische Handlungsebene politisch agierender Kontrahenten in Bezug auf die mit der Revolution verbundenen Opfer225 und die Erschütterung der durch die Regierung garantierten Rechtsstaatlichkeit. Verbesserungen im Staat erhofft Kant sich zum einen durch Reformen des Politisch-Rechtlichen in einem kontinuierlichen Prozess des Fortschritts und zum anderen durch die Zunahme von Autonomie, Mündigkeit und Moralität aller Staatsbürger und des Souveräns selbst. Kant spricht hier von einer Revolution der Denkungsart des Menschen, die eine Umorientierung im Denken, einen abrupten Bruch mit dem Bisherigen, darstellt. Das Verbot des Widerstands bedeutet allerdings nicht bedingungslosen Gehorsam: »[S]o verlangt Kant natürlich, den Gehorsam schuldig zu bleiben, wenn die Befehle des Herrschers mit den moralischen Pflichten kollidieren. Denn mit dem generellen Verbot eines aktiven Widerstands ist ja nicht gesagt, daß der Untertanengehorsam überhaupt keine Grenzen kennen darf. […] Auch für Kant erlischt der Gehorsamsanspruch des Souveräns dort, wo auch das handlungsnormierende Recht seine Grenze findet. Nur das, was überhaupt Gegenstand des Rechts ist, untersteht der gesetzgeberischen Disposi224 | »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, — diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.« (Kant, SF, 07: 85) Kant legt hier den Schwerpunkt auf die Moralität des Menschen als Zeichen von Hoffnung. »But if revolution is wrong, how can ›wishful participation‹ be right? And we know that Kant himself was one of the most enthusiastic of these wishful participants. His personal obsession was both the French and the American Revolutions«. (Korsgaard 1997: 299f.) Revolutionäre sind nach Koorsgard als verantwortlich für die Folgen ihrer Taten anzusehen: »A revolutionary must see himself as the author of the loss of life and limb, the social disorder, and the suspension of the juridical condition that results from revolution.« (Koorsgard 1997: 315) 225 | Sie machen deutlich, dass Menschen in revolutionären Prozessen oft als Mittel zum Zweck betrachtet werden.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe tion des Herrschers. Folglich endet die rechtliche Unwiderstehlichkeit der Befehlsgewalt des Fürsten da, wo die Domäne der moralischen Vernunft beginnt.« 226

An dieser Stelle erhält Kritik ihre logisch-argumentative Stelle im System der Kantischen Philosophie. Kritik lässt sich zunächst im Sinne der Untersuchung der Bedingung der Möglichkeit für menschliche Erkenntnis und Moralität verstehen. Darüberhinaus bekommt Kritik – verstanden als eine Art sozio-politische Autonomie des Denkens – im gesellschaftlichen Rahmen eine konkrete Gestalt als Weise des Sich-des-eigenen-Verstandes-Bedienens, insbesondere nach dem Prinzip der Publizität in Form der öffentlichen Stellungnahme als 226 | Kersting 2007: 371. Weiter heißt es dort: »Im Fall einer Kollision der Gehorsamspflicht mit grundlegenden moralischen Pflichten ist der unter dem Sittengesetz stehende Mensch ohne Zweifel nicht nur berechtigt, sondern ausdrücklich verpflichtet, dem letzteren den Vorzug zu geben. Mit anderen Worten, und überdies genauer: Eine Kollision, zwischen der Gehorsamspflicht und moralischen Geboten ist immer nur scheinbar, da den letzteren der stärkere Verpflichtungsgrund innewohnt. Wenn also der Staat eine Verletzung moralischer Pflichten verlangt, darf und muß ihm Widerstand geleistet werden. Dieser Widerstand ist aber allein passiver Natur; es ist keine tätige Gehorsamsaufkündigung, sondern eine leidende Gehorsamsverweigerung.« (Kersting 2007: 372) Meiner Meinung nach ist Widerstand bei Kant als kritische Haltung zu verstehen, die sich u.a. auch als passiver Widerstand deuten lässt. Diese bedeutet z.B. konkret das Niederlegen von Ämtern und eine Darlegung der eigenen kritischen Position im Medium der Publizität, nicht aber gewaltsame Aktionen in Form von Aufruhr oder Revolution – Widerstand in Form öffentlicher Kritik. »Es ist irrig, in der Widerstandstheorie Kants das Dokument einer moralisch monströsen Obrigkeitsgesinnung zu erblicken.« (Kersting 2007: 373) Und weiter: »Kant hat auch nicht die rechtliche Unmöglichkeit einer Begrenzung des Untertanengehorsams behauptet, sondern die Rechtswidrigkeit einer revolutionären Staatsverbesserung.« (Kersting 2007: 374) Das politische Mittel des Misstrauensvotums in heutigen parlamentarischen Demokratien kann als ein rechtlich organisiertes Vorgehen im Sinne des Kantischen Verständnisses von Widerstand gedeutet werden. Meiner Meinung nach ist von der Philosophie Kants ausgehend Widerstand nicht nur im Sinne einer moralischen Gehorsamsverweigerung und eines Ethos der öffentlichen Kritik zu interpretieren, sondern auch im engeren Sinne politisch-rechtlich. Es ergibt sich logisch eine Grenze des Gehorsams, wenn die rechtliche Verfasstheit des Staates durch den Souverän selbst aufgehoben wird, so dass im Grunde ein Naturzustand gegeben ist. Nach Kant müsste in diesem Moment Gewalt vorherrschen und es würde sich erneut die Frage nach der Schaffung rechtsstaatlicher Gebilde stellen. Kant sieht bekanntermaßen zur Etablierung von rechtlich fundierten Staaten ein Zwangsrecht vor, das Gewaltanwendung impliziert und legitimiert: »the right to use violent means to bring about a civil society.« (Cummiskey 2009: 220) Und weiter: »Justice involves the authorization to use coercion to promote lawful freedom.« (Cummiskey 2009: 221)

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Gelehrter, als Kenner eines bestimmten Bereichs – aufgefasst als eine kritische Haltung des Staatsbürgers. Kritik wird so zu einem Ethos. Diese Art der Kritik kann und soll alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens betreffen. Mündigkeit und Kritik stehen dabei in dem nach Kant um Aufklärung ringenden Zeitalter in einem engen Zusammenhang. Auch wenn Kant der Anwendung von Gewalt 227 in kriegerischen Auseinandersetzungen einen mobilisierenden Charakter zuspricht, durch den der Mensch zu größeren Anstrengungen motiviert wird, ist Gewalt wegen ihres destruktiven Charakters doch in rechtlicher und menschlich-moralischer Hinsicht abzulehnen und wird nur durch eine von der Natur verbürgte Teleologie hinnehmbar,228 die auf einen ›ewigen Frieden‹ verweist. Kant präferiert im staatspolitischen Bereich den rechtlichen Weg, um Fortschritt zu erreichen, der gleichermaßen die Moralität des Menschen befördert.

227 | »Eine sich in den Dienst des moralisch-rechtlichen Fortschritts stellende, progressive Gewalt […] ist für Kant undenkbar.« (Kersting 2007: 369) Und weiter: »Dem revolutionären Pathos vom absoluten Neubeginn, vom notwendigen letzten Gefecht, der enthusiastischen Anmaßung, aus den Trümmern der alten Ordnung den neuen Staat als unbefleckte, von allen Bindungen an das korrupte alte Regime losgelöste Gerechtigkeitsschöpfung entstehen zu lassen, setzt Kant mit nüchterner Eindringlichkeit das unaufhebbare Recht eines jeden auf Frieden, Ordnung und Gewaltfreiheit entgegen.« (Kersting 2007: 370) 228 | Bei Kant heißt es: »Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich – und zu diesem Zwecke auch äußerlich – vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen«. (Kant, IaG, 08: 27) Beck stellt in seinen Essays on Kant and Hume fest: »The unsocial sociability of mankind, the competition among tribes and states which leads to war, and revolutions – all of which are judged, juridically and moralistically, to be evil – are the means nature uses in realizing her ›secret plan‹ for mankind.« In: Beck, Lewis W.: »Kant and the Right of Revolution«. In: Beck, Lewis W.: Essays on Kant & Hume. New Haven, London (Yale University Press), 1978, S. 182. Bei Beck heißt es unter Bezug auf die Kritik der Urteilskraft über die Revolution: »The organization of nature, Kant tells us, has nothing analogous to any causality known to us, but it throws light on ›a complete transformation, recently undertaken, of a great people into a state‹.« (Ebd.) Kant betont nach Beck in diesem Zusammenhang den Aspekt der Transformation zu einem Ganzen. Allerdings lehnt er den Einsatz des Menschen als Mittel zum Zweck ab und betont den Charakter des Menschen als ›end in itself‹. (Vgl. ebd.)

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

2.1.6.3 Revolution, Gewalt und Kritik bei Michel Foucault Gewalt ist bei Foucault eine der möglichen Widerstandsformen, die theoretisch in seiner Konzeption von Macht verankert ist. Sein Gewaltbegriff ist weit gefasst, so dass z.B. auch symbolische Formen von Gewalt inkludiert sind. In Foucaults Ausführungen zur Revolution wird seine Ablehnung von physischer Gewalt deutlich, die Leiden perpetuiert. Sie ist »[ein] großartiges und gefährliches Versprechen«, und er fragt sich, »ob diese Revolution denn wirklich so wünschenswert sei.«229 Weiter heißt es: »Sie war der gigantische Versuch, die Erhebung in eine rationale, beherrschbare Geschichte einzupassen. Sie gab der Erhebung eine Legitimation, unterschied zwischen guten und schlechten Formen, bestimmte die Gesetze ihres Ablaufs und definierte ihre Voraussetzungen, Ziele und Erfolgskriterien. Man definierte sogar den Beruf des Revolutionärs. Durch diese Repatriierung glaubte man, die Erhebung in ihrer Wahrheit erscheinen zu lassen und auf ihren realen Begriff zu bringen.« 230

Foucault zeigt eine Präferenz für gewaltfreie Widerstandsformen und betont die Notwendigkeit zur Einbeziehung der Technologien des Selbst in gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse und damit der Veränderung des Subjekts selbst. Allerdings lassen sich sowohl Revolutionen als auch die Anwendung von Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen nach Foucault nicht grundsätzlich vermeiden, zu beobachten sind jeweils andere historisch-gesellschaftliche Ausformungen und Bereiche ihrer Anwendung. Bei Foucault heißt es:

229 | Foucault, Michel: »Nutzlos, sich zu erheben«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits III: 1976-1979. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003b, S. 988 und 989. Foucault bezieht sich hier auf Max Horkheimer; er entwickelt seine Überlegungen ausgehend vom Umsturz des Schah Regimes und der Revolution des Ayatollahs im Iran. »Weil Erhebungen gleichermaßen in der Geschichte und ›außerhalb der Geschichte‹ stehen und weil es für alle um Leben und Tod geht, wird verständlich, warum sie ihren Ausdruck und ihre Dramaturgie so oft in religiösen Formen finden. Das Versprechen eines Jenseits, die Wiederkehr der Zeiten, das Warten auf einen Erlöser, den Jüngsten Tag und die uneingeschränkte Herrschaft des Guten, all das war dort, wo die Form der Religion sich dafür anbot, jahrhundertelang nicht etwa nur eine ideologische Einkleidung, sondern schlechthin die Art und Weise, wie man eine Erhebung erlebte.« (Foucault 2003b: 988) 230 | Foucault 2003b: 988. Hier bezieht sich Foucault auf das sogenannte ›Zeitalter der Revolution‹ seit dem 18. Jahrhundert.

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Foucault heute »Erhebungen gehören zur Geschichte. Aber in gewisser Weise entgehen sie der Geschichte. Die Bewegung, in der ein einzelner Mensch, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: ›Ich gehorche nicht länger‹, und einer als ungerecht empfundenen Macht unter Lebensgefahr entgegentritt – diese Bewegung scheint mir nicht erklärbar zu sein. Weil keine Macht sie jemals vollständig unmöglich zu machen vermag.« 231

Foucault betrachtet Revolutionen – im Unterschied zu Kant – im gesamtgeschichtlichen Prozess von ihrer Ereignishaftigkeit her. Hinsichtlich der Erlebnisseite des Beteiligten betont er die Überlagerung von politischen und religiösen Heilsversprechen, in der »die Macht stets das Böse ist.«232 Bei ihm werden Revolutionen nicht wie bei Kant unter dem Gesichtspunkt des Rückfalls in den Naturzustand, als Bruch des Rechtssystems und gleichzeitig auch als Zeichen von Moralität auf einem Weg der Weltgesellschaft hin zu einem Völkerbund und zum ewigen Frieden gesehen,233 für Foucault bleiben sie als historisches Faktum Teil der sich ereignenden Geschichte. »Niemand hat das Recht zu sagen: ›Revoltiert für mich, dann werden alle Menschen endlich frei sein.‹ Aber ich bin auch nicht einverstanden, wenn man sagt, es sei unnütz, sich zu erheben, weil doch alles beim Alten bleibe. Einem Menschen, der sein Leben gegen eine Macht setzt, kann man keine Vorschriften machen. Ist es richtig zu revoltieren? Lassen wir die Frage offen. Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache.« 234

Geschichte verläuft nach Foucault nicht in einem evolutionären Prozess. Er sagt: »Eine Frage der Moral? Ganz sicher eine Frage der Realität. Daran ändern auch all die Enttäuschungen der Geschichte nichts. Weil es solche Stimmen gibt, hat die Zeit des Menschen nicht die Form der Evolution, sondern die der ›Geschichte‹.«235 Geschichte hat für Foucault Ereignischarakter und lässt sich 231 | Foucault 2003b: 987. Und weiter: »Für den Menschen, der sich erhebt, gibt es letztlich keine Erklärung. Ein Mensch muss sich losreißen und den Faden der Geschichte samt ihren langen Kausalketten durchtrennen, um die Todesgefahr ›wirklich‹ der sicheren Pflicht zum Gehorsam vorziehen zu können.« (Foucault 2003b: 987f.) 232 | Foucault 2003b: 989. 233 | Foucault geht auf den Zeichencharakter der Revolution bei Kant in seinen Vorlesungen von 1982/83 ein. Dort spricht er von der französischen Revolution als »Erinnerungs-, Hinweis- und Prognosezeichen eines ständigen Fortschritts«. (Foucault 2012a: 34) Hier bezieht sich Foucault auf Kants Text Streit der Fakultäten. In den Vorlesungen werden hinsichtlich der Kantrezeption die beiden Fragen »Was ist die Aufklärung? und Was ist die Revolution?« als gleichbedeutend betrachtet. (Vgl. Foucault 2012a: 38) Der Erfolg der Revolution ist für Kant nach Foucault nicht entscheidend. 234 | Foucault 2003b: 991. 235 | Ebd.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

nicht im Modus des Fortschritts deuten. So lassen sich auch keine bestimmten Strategien für ein Konzept der Weltverbesserung auffinden. Dies bedeutet aber nicht passives Hinnehmen, sondern wird mit Ad-hoc-Formen des gesellschaftspolitischen Handelns in individueller wie allgemeingesellschaftlicher Hinsicht verbunden. »Folglich führt meine Position nicht zur Apathie, sondern im Gegenteil zu einem pessimistischen Hyper-Aktivismus.«236 Macht in ihren unterschiedlichen Formen, insbesondere in der verfestigten Form der Herrschaft, muss nach Foucault Einschränkungen erfahren.237 Foucault geht es darum »neue Modi der Kritik, neue Modi der Infragestellung zu erarbeiten, etwas anderes zu versuchen.«238 Er fragt: »da ich in einem bestimmten Sinne ein Historiker des Denkens und der Wissenschaften bin, welche Wirkungen haben diese Beziehungen der Macht im Bereich der Erkenntnis?«239 Archäologische Kritik dient dem Auffinden der Wissen formierenden Episteme und Diskursregeln, genealogische Kritik untersucht das Geworden-Sein von Prinzipien des Denkens, Machtformen, Subjektivierungs236 | Foucault, Michel: »Zur Genealogie der Ethik: ein Überblick über die laufende Arbeit«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 465. 237 | »Die Regeln zur Begrenzung der Macht können gar nicht streng genug, die universellen Prinzipien, die ihr die Gelegenheit nehmen, deren sie sich bemächtigt, nicht strikt genug sein. Der Macht gilt es stets unüberschreitbare Gesetze und uneingeschränkte Rechte entgegenzusetzen.« (Foucault 2003b: 991) Seine Aufgabe als Intellektueller umreißt Foucault in diesem Zusammenhang folgendermaßen: »Ich bin ein Intellektueller. Wenn man mich fragte, wie ich mir mein Tun vorstelle, würde ich antworten: Wenn der Stratege jemand ist, der sagt, Tod, Leid und Erhebung spielten keine Rolle angesichts der Erfordernisse des großen Ganzen, und allgemeine Prinzipien scherten ihn nicht in der aktuellen Situation, dann ist mir gleichgültig, ob dieser Stratege ein Politiker, ein Historiker, ein Revolutionär, ein Anhänger des Schahs oder der Ayatollah ist, meine theoretische Moral sagt jedenfalls das Gegenteil. Sie ist ›antistrategisch‹. Sie respektiert das Besondere, das die Erhebung darstellt, und bleibt unnachgiebig, wenn die Macht das Universelle behindert. Eine einfache Wahl, die aber mühsame Arbeit bedeutet. Denn man muss ein wenig unterhalb der Geschichte suchen, was sie zerreißt und bewegt, und zugleich ein wenig hinter der Politik auf das achten, was ihr bedingungsloser Grenzen setzt. Das ist nun mal meine Arbeit, und ich bin weder der Erste noch der Letzte, der sie auf sich nimmt. Aber ich habe mich dafür entschieden.« (Foucault 2003b: 992) 238 | Foucault, Michel: »Der Intellektuelle und die Mächte«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.). Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 927. 239 | Foucault 2005a: 930.

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weisen und deren Zusammenwirken und ist damit historisch ausgerichtet, um ausgehend von einer Analyse der aktuellen Gesellschaft Kritik üben zu können, »philosophische Kritik der Gegenwart in genealogischer Form« im »Modus historischen Philosophierens«.240 In seinen Worten: »Ich möchte gern die Genealogie der Probleme, der Problematiken durchführen.«241 Weiter heißt es bei ihm: »Ich möchte ihnen gewissermaßen von der kritischen Haltung als Tugend im allgemeinen sprechen«, von einer »Haltung der Kritik«.242 Foucault präzisiert: »Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden. Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.« 243

Foucault kommt zu dem Schluss: »Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.«244 Diese Definition entspricht nach Foucault Kants Definition 240 | Saar, Martin: Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt, New York, (Campus), 2007, S. 159, 161. 241 | Foucault 2005a: 465. 242 | Foucault 1992a: 9, 8. »Schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: sie ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann.« (Foucault 1992a: 8f.) Weiter heißt es bei Foucault: »Vor allem aber sieht man, daß der Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist.« (Foucault 1992a: 14f.) Er führt aus: »[D]ann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.« (Foucault 1992a: 15) 243 | Foucault 1992a: 12. Foucault führt in Bezug auf die historischen Wurzeln dieser Haltung aus: »Die Kritik ist historisch gesehen biblisch.« (Foucault 1992a: 13) Sie ist des Weiteren im Rekurs auf das Naturrecht juridisch und wendet sich gegen Autoritäten. (Vgl. Foucault 1992a: 14) 244 | Foucault 1992a: 15.

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von Aufklärung, deren zentrales Moment wiederum die Kritik darstellt. Kant fokussiert den Aspekt der Unmündigkeit als Unfähigkeit, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung anderer zu bedienen, ohne von Autoritäten bestimmt zu werden. Zum einen betont er das Interesse der Leitenden und Regierenden, den Zustand der Unmündigkeit aufrecht zu erhalten, und zum anderen den Mangel an Mut der Betroffenen, diese Zustände zu ändern. Aufklärung ist bei Kant nach Foucault ein »Appell an den Mut.«245 Kritik im Sinne der Erkenntnis der Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten ist in dieses Kantische Projekt der Aufklärung eingebunden. Kant versteht Kritik als Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis, des Prinzips der menschlichen Moralität und der Begründbarkeit teleologischer Grundannahmen, auch im Hinblick auf die Berechtigung der Annahme eines Fortschritts der Menschengattung im geschichtlichen Entwicklungsprozess. Die drei Kritiken Kants sind nach Foucault Kernstück des Vorhabens und in das Projekt Aufklärung eingebunden. Er sagt: »Dennoch bleibt es wahr, daß Kant dem kritischen Unternehmen der Entunterwerfung gegenüber dem Spiel der Macht – als Prolegomenon zu jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung – die Erkenntnis der Erkenntnis auf bürdet.«246 Foucaults archäologische Suche nach dem historischen Apriori weist in der Ausrichtung hin auf die Frage nach den Bedingungen und Grenzen von Erkenntnis eine große Analogie zum Vorgehen Kants auf. Die Vernachlässigung des Kantischen Aufklärungsappells konstatierend formuliert Foucault sein Programm der Untersuchung von Macht: »anstatt über das Problem der Erkenntnis könnte diese über das Problem der Macht in die Frage der Aufklärung einsteigen; sie würde nicht als Legitimitätsprüfung vorgehen, sondern als Ereignishaftigkeitsprüfung oder Ereignishaftmachung.«247 Genau an dieser Stelle setzen die Methoden der archäologischen und genealogischen Kritik ein, die »Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen«248 untersuchen, »den Nexus von Macht-Wissen«.249 Dazu gehört auch die Suche nach den Akzeptabilitätsbedingungen.250 Foucault versucht so das Kantische Projekt der Auf245 | Foucault 1992a: 16. 246 | Foucault 1992a: 18. 247 | Foucault 1992a: 30f. 248 | Foucault 1992a: 31. 249 | Foucault 1992a: 33. »Im Gegensatz zur Zurückführung einer vielfältigen Nachkommenschaft auf eine einzige gewichtige Ursache handelt es sich hier um eine Genealogie: es handelt sich darum, die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt, sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen.« (Foucault 1992a: 37) 250 | Foucault 1992a: 35.

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klärung wiederaufzunehmen und in veränderter Form fortzuführen.251 Dabei stellt Foucault sich selbst und Kant in die Tradition der Parrhesia als einem mit Risiko verbundenen Sprechen der Wahrheit, das den Sprecher sowohl als Subjekt des Aussagens als auch als Subjekt des Auszusagenden konzipiert.252 Er analysiert die Genealogie der Parrhesia, wobei unterschiedliche Formen wie z.B. demokratische Parrhesia, monarchische Parrhesia als die politische und die philosophische Spielart von z.B. Sokrates, Diogenes, Epiktet und Seneca unterschieden werden, deren wichtigste Technik der Dialog ist. Außerdem untersucht er in seiner Geschichte des Denkens in der Krise des Wahrsprechens die antike Spaltung der Parrhesia »in ihrem positiven und negativen Sinn«,253 als Geschwätz und Schmeichelei, was mit der Kritik an der Demokratie verbunden ist, bzw. als echte und kritische Parrhesia – als deren Problematisierung. Das Problem der Redefreiheit wird zunehmend »mit der Wahl der Existenz, der Wahl seiner Lebensweise verbunden«254 und zu einer persönlichen Haltung von ethischer Dimension.255 251 | »Die Bewegung, welche die kritische Haltung in die Frage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung, welche das Unternehmen der Aufklärung in das Projekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich die Erkenntnis von sich eine richtige Idee machen wollte, diese Kippbewegung, diese Verschiebung der Frage der Aufklärung in die Kritik … müßte man nicht versuchen, jetzt diesen Weg wieder zu durchlaufen – aber in der anderen Richtung?« (Foucault 1992a: 41) Der Zusammenhang mit der Frage nach der Herrschaft wird in folgendem Zitat deutlich: »Und wenn man die Frage der Erkenntnis im Hinblick auf die Herrschaft aufzuwerfen hat – so doch wohl vor allem aufgrund eines entschiedenen Willens nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens – einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus seiner Unmündigkeit herauszutreten, wie Kant sagte. Eine Haltungsfrage.« (Ebd.) 252 | Vgl. Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit: Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin (Merve), 1996b, S. 11. 253 | Foucault 1996b: 75. 254 | Foucault 1996b: 67. Und weiter: »Und als Folge davon wird parrhesia im Fall von positiver und kritischer parrhesia mehr und mehr als eine persönliche Haltung, eine persönliche Qualität, als eine für das politische Leben der Stadt nützliche Tugend angesehen, oder im Fall von negativer, abschätziger parrhesia als eine Gefahr für die Stadt.« (Foucault 1996b: 68) 255 | In der sokratische Parrhesia steht die Sorge um sich im Mittelpunkt, die auch eine Harmonie zwischen Wort und Tat vorsieht und politische und ethische Parrhesia als zusammenhängend denkt. Sie gilt als Beginn der philosophischen Form der Parrhesia. Bei Platon hat sie einen reflektierenden Bezug zu Gesetzen und in der kynischen Tradition herrscht eine negativ, kritische Haltung gegenüber Institutionen vor. Parrhesia hat eine epistemische, eine politische und eine ethisch/ästhetische Rolle und ist primär als Praktik zu verstehen. (Vgl. Foucault 1996b: 105ff.) In der hellenistischen Phase lassen

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2.1.6.4 Projekt Zukunft. Gewalt, Kritik und Fortschritt bei Mbembe Auch Mbembe konstatiert Gewalt u.a. in Form von epistemischer Gewalt, so dass nach ihm eine Dekolonisation des Denkens notwendig wird, dies besonders »in a historical context in which violence has touched not only material infrastructures but psychological infrastructures too, through the denigration of the Other, through the assertion of the latter’s worthlessness.«256 Postkoloniales Denken stellt für ihn eine Kritik in Form der Dekonstruktion von Denkweisen und Bewertungen, der Analyse von Identitäts- und Subjektbildungsprozessen und der Auseinandersetzung mit dem europäischen Humanismus und Universalismus dar. Auf der anderen Seite bezieht sich Kritik bei Mbembe gleichermaßen auf den afrikanischen Diskurs: »And so, if you like, it’s a way of reflecting on the fractures, on what remains of the promise of life when the enemy is no longer the colonist in a strict sense, but the ›brother‹? So the book is a critique of the African discourse on community and brotherhood.«257 Der paratextuelle Anklang seines Werks Critique de la raison nègre an Kants Kritiken deutet das Vorhaben der Untersuchung der ›schwarzen Vernunft‹ in vermeintlich Kantischer Tradition an, stellt aber eine Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne dar – als diskursanalytische Fundierung von Kritik. Mbembe unterscheidet zwischen »material and mental war« und verdeutlicht, »that the colonial project was not reducible to a simple military-economic system, but was underpinned by a discursive infrastructure, a symbolic economy, a whole

sich parrhesiastische Techniken der Seelenführung beobachten, die später wie auch die kynische Praxis der Predigt vom Christentum aufgegriffen werden. (Vgl. Foucault 1996b: 116) Das kynische Wahrsprechen der Spätantike bevorzugt die Predigt, das skandalöse Verhalten und den provokativen Dialog. Der kynische Philosoph Diogenes gibt im Unterschied zum fragenden und ironischen Sokrates Antworten, der kynische Dialog zeichnet sich durch einen Wechsel von Freundlichkeit und Aggressivität aus. Das Wahrsprechen wird von Foucault grundsätzlich als Tätigkeit mit interpersonellen und kommunikativen Bezügen angesehen: in kleineren Gruppen, im Rahmen des Gemeinschaftslebens und im öffentlichen Leben. (Vgl. Foucault 1996b: 111) 256 | Mbembe, Achille: »What is postcolonial thinking? An interview with Achille Mbembe«. In: Eurozine. 2008, S. 8, online: www.eurozine.com/pdf/2008-01-09-mbembeen.pdf; zuletzt aufgerufen am 28.01.2018. 257 | Mbembe 2008: 11. Mbembe bezieht sich hier auf sein Buch On the Postcolony (2001). Das Projekt der Untersuchung des ›afrikanischen‹ Diskurses verfolgt er auch in seinem Buch Critique de la raison nègre (2013b).

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apparatus of knowledge the violence of which was as much epistemic as it was physical.«258 Ziel der Kritik ist es, alternative Formen des Wissens zu entwickeln und u.a. dadurch die Welt im Ganzen zu transformieren.259 Dabei ist nicht wie bei Kant die Institutionalisierung von Recht zentrale Grundlage der gesellschaftlichen Verbesserung, da für ihn Recht und Ungerechtigkeit in hohem Maße miteinander gekoppelt sind: »It was also the place where law had nothing to do with justice but, on the contrary, was a way of starting wars, continuing them and perpetuating them.«260 Nach Mbembe kann auch nicht zwischen good violence und bad violence unterschieden werden: »There is no ›good violence‹ that can follow on automatically from ›bad violence‹ and be legitimized by it. All violence ›good‹ or ›bad‹, always sanctions a disjunction. The reinvention of politics in postcolonial conditions first requires people to depart from the logic of vengeance, above all when vengeance wears the shabby garb of the law.« 261

Gewalt und Krieg nehmen nach Mbembe oft sie verbergende indirekte Formen an, Kritik wirkt in diesem Kontext entlarvend. Dabei geht es auch um die Analyse von Macht in ihren besonderen Wirkungen, wobei Mbembe zwischen power und force unterscheidet: »As a result it could be said of postcolonial thinking that it is not a critique of power as usually understood, but of force – a force that is incapable of transformation.«262 Zwingende, unterdrückende und mit Gewaltanwendung verbundene Formen der Macht stehen im Fokus der machttheoretischen Untersuchungen von Mbembe. Seine Analyse heutiger Formen von Macht und Gegenmacht führt ihn zur Konzeption der Nekropolitik,263 die Formen des Terrors, des Massakers und der Selbsttötung von Selbstmordattentätern mit einbezieht. Nekromacht wird als Kritik, Erweiterung und Aktualisierung des Foucault’schen Begriffs von Macht angesehen. Der Einsatz des menschlichen Körpers als Waffe z.B. beim Selbstmordattentäter verschafft 258 | Mbembe 2008: 6. »The cultural analysis of the discursive infrastructure and of the colonial imagination would gradually become the very subject of postcolonial theory and give rise to severe criticism from intellectuals«. (Ebd.) 259 | Vgl. Mbembe 2008: 3, 5. 260 | Mbembe 2008: 2. »In order to enable those who were on their knees not long before, bowed down under the weight of oppression, to arise and walk, justice must be done. So there is no escape from the need of justice.« (Mbembe 2008: 9) 261 | Mbembe 2008: 8. 262 | Mbembe 2008: 3. 263 | Vgl. dazu: Mbembe, Achille: »Nekropolitik«. In: Pieper, Marianne; Atzert, Thomas; Karakayali, Serhat; Tsianos, Vassilis (Hg.): Biopolitik – in der Debatte. Wiesbaden (VS Verlag), 2011, S. 63-96.

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eine Souveränität, die den Tod als Machtmittel gezielt einsetzt. Damit aktualisiert und erweitert Mbembe die Foucault’schen Machtformen wie Disziplinarmacht, Pastoralmacht und Biomacht, um aktuelle gesellschaftliche Situationen machttheoretisch angemessen erfassen zu können. Nach Mbembe kann heute nicht mehr zwischen Krieg und Frieden unterschieden werden, da kriegsähnliche Zustände von Gewalt omnipräsent sind. Des Weiteren stellt er fest: »It might be that we will have to live with violence. […] So, if you look from the historical point of view, there will never be a moment when we are at peace with ourselves and our neighbours, and that the kind of social, economic and political formations that are emerging in the continent and elsewhere too, will always be a mixture of civil peace and violence.« 264

Er fordert in diesem Zusammenhang in Bezug auf Afrika »the demilitarization of politics« und »the democratization of its politics«265 und kritisiert »the combination of militarism and mercantilism«.266 Mbembe spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Krise der Emanzipationstheorien: »All of this creates a terrible crisis in the foundational theories of emancipation we used to rely on in order to further a kind of politics of openness and equality.« 267 Er fordert deshalb die Imagination des Möglichen im Hinblick auf die Zukunft als kritisches Potential zur Veränderung: »So we wanted to recapture the category of the future and see to what extent it could be remobilized in the attempt at critiquing the present, and reopening up a space not only for imagination, but also for the politics of possibility.«268 Im Anklang an Kants kosmopolitisches Konzept der Weltbürgerschaft, des Völkerbundes und Gastrechts werden in Mbembes Konzeption des afropolitanism im Unterschied zu Kant die kosmopolitischen Überlegungen primär auf einen Kontinent, auf Afrika, bezogen, der sich allerdings zur Welt hin öffnet. »In any event the future, viewed from this angle, is not some sort of afro-centrism, but 264 | Mbembe, Achille: »Africa and the Future: An Interview with Achille Mbembe«. In: Swissfuture. 03/2013a, S. 3; online: http://africasacountry.com/2013/11/africa-andthe-future-an-interview-with-achille-mbembe/ zuletzt aufgerufen am 28.01.2018. 265 | Mbembe 2013a: 4. 266 | Mbembe 2013a: 3. 267 | Mbembe 2013a: 2. 268 | Ebd. Dazu heißt es: »In such an age the old division between subject and object is no longer as clear as it used to be and that in fact, if we look carefully at the operations of consumption world-wide today, we might observe that, many people want to become objects, or be treated as such, if only because becoming an object one might end up being treated better than as a human.« (Ebd.)

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what I’d call afropolitanism – a way of being ›African‹ open to difference and conceived as transcending race.«269 Die durch Verschleppung, Exil und Diaspora und heutige Formen des kosmopolitischen Nomadentums zu beobachtende Weltoffenheit der Afrikaner ist Ausgangspunkt seines kosmopolitischen Konzepts, in dem es darum geht, die Kategorie Rasse zu überwinden. Mbembe entwickelt in seinem afropolitanism die Vorstellung von Afrika als Zentrum seiner Selbst,270 das durch die Erleichterung von innerkontinentaler und weltweiter Mobiltät zum Anziehungspunkt für Menschen weltweit werden soll und kann. »As Europe closes its borders, Africa will have to open its borders.«271 Die Zentrierung auf Afrika wird somit mit einer Offenheit der Welt gegenüber verbunden, die zu einer Rückbewegung hin zu Afrika führen soll. Es geht ihm insbesondere um die Erleichterung von Grenzüberschreitungen, des Bleiberechts und des Erwerbs von Staatsbürgerschaften, um das weltweite Zusammenleben zu verbessern. Er spricht sich gegen Ausschließung und Abschottung aus und für die Bejahung von Diversität und Pluralität. In seinem neu konzipierten Humanismus sind die Menschen auf der Welt als Brüder anzusehen. In den afrikanischen Kosmopolitismus ist ein Fortschrittskonzept eingebunden, das sich vom europäisch-amerikanischen Verständnis insbesondere durch die Ablehnung der technisch-materiellen Ausrichtung und des damit verbundenen Paternalismus unterscheidet. Mbembe rekurriert in seiner politics of posssibility insbesondere auf den Begriff Zukunft – eine Zukunft, die Afrika bislang abgesprochen wurde.272 Foucault dagegen entwickelt kein Zukunftskonzept für die Welt, ihm geht es um kontextbezogene pragmatische Ad-hoc-Verbesserungen zur Schaffung einer Gesellschaft, in der eine als Kunstwerk verstandene selbstbestimmte Lebensform ermöglicht wird – eine kantisch inspirierte Vision einer zunehmenden individuellen Autonomie, die mit der Anwendung von Selbsttechnologien verbunden gedacht werden muss. Während Kant die Idee des ›ewigen Friedens‹ als Leitvorstellung imaginiert und im Sinne eines Vertragswerks rechtlichpolitisch untermauert, wobei er staatliche, zwischenstaatliche und überstaatliche Verfasstheit und Institutionalisierung, rechtliche Bestimmungen und teleologische Vorstellungen in Bezug auf die Natur dem moralisch-politischen Handeln der Menschen stützend zur Seite stellt, ist bei Mbembe der Mensch in dem Versuch der Realisierung primär auf seine Einsicht, seine Moralität und die Bereitschaft zum Austausch und zur Kooperation angewiesen. Er 269 | Mbembe 2008: 10. 270 | »The ultimate challenge, however, is for Africa to become its own centre.« (Mbembe 2013a: 4) 271 | Ebd. 272 | Mbembe 2013a: 2.

2.1 Perspektivierungen und Neuentwür fe

setzt in der Aufarbeitung der kolonialen und postkolonialen Geschichte auf die Auseinandersetzung mit Traumata, der eigenen Schuld, die Überwindung der Opferhaltung und die Kräfte des Verzeihens und strebt gesellschaftspolitische Umgestaltungsprozesse hin zu mehr Verantwortungsbewusstsein, Teilhabe, Gerechtigkeit und Austausch an. Nach Mbembe benötigen wir Kant in zweifacher Hinsicht auch heute noch: zum einen als Verfechter des Ewigen Friedens, der den Horizont einer Weltgemeinschaft eröffnet, eine Weltgesellschaft, die als eine Art Eigentümergemeinschaft anzusehen ist, zum anderen als Verfechter des Menschen als souveränes Vernunftwesen, das seine Leidenschaften und Affekte beherrschen kann und zu einem moralischen Urteil in der Lage ist.273

2.1.6.5 Zusammenfassende Betrachtung. Kritik, Gewalt und Fortschritt bei Kant, Foucault und Mbembe Kritik erweist sich in den drei philosophischen Konzeptionen von Kant, Foucault und Mbembe als Schlüsselbegriff. Während Kants erkenntnistheoretisches Vorhaben der Untersuchung der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens mit seinen Erkenntnisformen a priori die Grenzen der Vernunfterkenntnis auslotet, verbinden Foucault und Mbembe erkenntniskritische und machttheoretische Fragen und untersuchen deren zeitspezifische soziohistorische Ausformungen. Während Foucault das abendländische Denken im Ganzen im Hinblick auf die zugrundeliegenden Episteme bzw. Diskursregeln betrachtet, fokussiert Mbembe in seiner postkolonialen Theorie bzw. Philosophie die Analyse des afrikanischen und afro-diasporischen Diskurses und des hegemonialen abendländischen Diskurses primär in Bezug auf die Phasen der ersten und zweiten Kolonisation und die Globalisierung. Auch wenn beide Kants erkenntnistheoretischen Anspruch aufgegriffen haben, im Unterschied zu Kant aber von einer soziohistorischen Konstruiertheit der Erkenntnis ausgehen, bleibt der Anspruch mittels Kritik verändernd auf Gesellschaft einwirken zu können. Kritik ist für die Autoren gleichermaßen eingebunden in einen Prozess der Kultivierung und Moralisierung der Menschen, sie wird als Werkzeug der Veränderung von Gesellschaft verstanden. Im Unterschied zu Kant und Mbembe mit ihrer kosmopolitischen bzw. afro-kosmopolitischen Vision formuliert Foucault kein Fortschrittskonzept in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht, sondern verbleibt im individuellen Rahmen einer angestrebten Ästhetisierung bzw. Moralisierung des Subjekts und von dessen Entunterwerfung und bei einer Konzep-

273 | Vgl. Mbembe, Achille: »Was bleibt von Immanuel Kant?« In: ZEIT ONLINE. 2015, S. 1; online: www.zeit.de/2015/49/philosophie-immanuel-kant-vermaech​t nis-philoso​ phen; zuletzt aufgerufen am 28.01.2018.

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tion der Ad-hoc-Veränderung von Gesellschaft.274 Bei Kant wird Gewalt im politischen Kontext primär als Einschränkung der Freiheit anderer betrachtet, die mittels institutioneller und rechtlicher Einschränkungen und deren legitimen Zwangsmitteln verhindert werden muss, um Privateigentum und freien Handel zu ermöglichen, was wiederum die Grundlage einer staatlichen Verfasstheit bildet, die einen republikanischen Charakter und im Weiteren eine Tendenz zu einem weltweiten Völkerbund und der Realisierung des ewigen Friedens aufweist. Die universalistische Regelhaftigkeit des Rechts275 bindet nach Kant auch die Macht, die Kant im Sinne von Herrschaft versteht. Kant will physische Gewalt durch strukturelle Gewalt mit ihren Zwangsmitteln insbesondere im Sinne von Recht und politischer Institutionalisierung eindämmen. Foucault und Mbembe zeigen allerdings die Durchdringung des juristisch/juridischen Bereichs von hegemonialer Macht und dekonstruieren ihn so in seiner Funktion als positive Gegenkraft. Strukturelle Zwangsmittel im Allgemeinen sind für beide Philosophen obsolet geworden. Foucault und mit ihm Mbembe interessieren sich insbesondere für versteckte Formen von Gewalt wie z.B. epistemische Gewalt, die das Denken bestimmt und in Subjektwerdungsprozessen neben der Formung durch Körperpraktiken auch Einfluss auf Körper, Emotionalität und Begehren hat und in Wertungsprozesse eingebunden ist. Kritik soll diese Formen des Regiert-Werdens erkennbar machen und helfen verändernd tätig zu werden – im Sinne einer Zunahme von Autonomie. Hiermit gehen auch Prozesse veränderter Normierungen und Umwertungen einher. Die Selbstgestaltung des Individuums rekurriert bei Foucault dabei auf Technologien des Selbst wie Lesen, Schreiben etc., verbunden mit einer Konzeption von Leben als Kunst im Sinne eines ästhetisch-ethischen Werks. So erweist sich bei Foucault wie bei Kant Kritik als Schlüsselbegriff seiner Philosophie. Foucault wendet sie im Sinne der Erfahrung möglicher Grenzüberschreitung zu einer experimentellen Kritik. Mbembe geht es primär um Kritik als Auseinandersetzung mit Geschichte und erlebte Traumata und um Prozesse des Vergebens und Verzeihens. Er argumentiert im Unterschied zu Foucault weniger ästhetisch bzw. ethisch, sondern psychologisch und von einer humanistischen Grundposition getragen und fordert die Etablierung von Institutionen der historischen Aufarbeitung von erlittenem Unrecht und Leid. Gleichzeitig setzt er im Sinne des Kantischen Kosmopolitismus auf politische Maßnahmen, die Menschen aus verschiedenen Kulturen in Verbindung bringen und in dem gemeinsamen Projekt Zukunft – bei Mbembe primär bezogen auf Afrika – vereinen. Es zeigt 274 | Mit diesem Prozess verbindet Foucault allerdings durchaus die Hoffnung auf eine freiheitlichere Gesellschaft, die dem Individuum Entfaltungsmöglichkeiten bietet. 275 | »Progress in history is not measured by the happiness of the people but by the formal criterion of the rule of law and the scope of juridical freedom.« (Beck 1978: 181)

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sich dabei, dass Mbembes Afropolitanismus nicht frei von einem Afrozentrismus ist, Kant dagegen überwindet den Eurozentrismus seiner Philosophie durch die ihn letztlich transzendierenden Grundtheoreme der Weltbürgerschaft, des Völkerbundes und des Besuchsrechts. Foucaults Eurozentrismus erweist sich als Teil seines Projekts der Untersuchung der Dimensionen von Wissen, Macht und der mit ihnen verbundenen Subjektweisen in Abgrenzung vom Anderen. Diese Abgrenzung und Ausgrenzung – insbesondere im Hinblick auf den Orient – wird von Foucault herausgestellt, sichtbar gemacht und kritisiert. Es zeigt sich, dass Mbembes kosmopolitisches Denken im Hinblick auf eine bessere Zukunft Afrikas und der Welt aus einem kritischen Dialog mit Kant und Foucault interessante politische Lösungsansätze für Afrika im Weltkontext entwickelt.

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2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie Subjekt, Ethik und Ästhetik bei Foucault

2.2.1 E rkenne dich selbst. A nthropologische  P erspek tiven in   der  Ä sthe tik H egels und in F oucaults  Ä sthe tik bz w. E thik 2.2.1.1 Anthropologische Perspektiven und das ›Erkenne dich selbst‹ bei Hegel und Foucault Für Hegel stellt das Theorem des ›Erkenne dich selbst‹ das Grundprinzip seiner Philosophie des Geistes und der Erkenntnis des Menschen dar. Hierbei geht es um das Erfassen des Wahrhaften an und für sich und des Menschen als primär geistiges Wesen. In seiner Ästhetik legt Hegel die Entwicklung der Kunst als eine auf Materielles angewiesene Stufe im Fortschritt des Geistes in einer als Spiralbewegung gedachten Bewegung der Entäußerung und Rückkehr des Geistes zu sich selbst als Prozess der Zunahme des Geistigen bis hin zum Ende der Kunst dar. Das ›Erkenne dich selbst‹ als geistiges Prinzip geht von einer zunehmenden Vergeistigung des Entäußerten aus, auch als grundlegendes anthropologisches Moment, das das Erkennen des Geistigen als Geistiges durch Geistiges zunehmend besser ermöglicht − als Weg zum Wahren. Anthropologie findet bei Hegel im Prinzip des Geistes ihr zentrales Fundament. Foucaults Ästhetik bzw. Ethik versucht einen Weg der Selbstformung des Subjekts in der Analogie von Kunstwerk und Leben aufzuzeigen, um eine größere individuelle Autonomie denkbar zu machen. Dabei rekurriert er in seiner Kritik des ›Erkenne dich selbst‹ auf die griechisch/römische Selbstsorge mit ihrem Konzept der Selbsttechnologien. Für ihn ist der Mensch »ein Gesicht im Sand«1 und stellt die im geschichtlichen Prozess Denken und Sprechen strukturierende Episteme der Moderne dar. In diesem Zusammenhang

1 | Vgl. Foucault 92003a: 462.

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spricht Foucault vom ›Ende des Menschen‹.2 In seinem radikalen Konzept der Historisierung des Menschen stellt der Mensch für sich selbst unter Rekurs auf Kants Konzept von Aufklärung eine Aufgabe dar. Es gilt nach Foucault einen Lebensstil zu entwickeln, der der Kantischen Auffassung vom Ethos nahekommt und eine Befreiung aus der Heteronomie und eine Zunahme von Autonomie mit sich bringt. Foucaults Ästhetik wird so zu einer Art Ethik. Wie lässt sich das Prinzip des ›Erkenne dich selbst‹ – insbesondere im Hinblick auf ihre ästhetischen Überlegungen – bei Hegel und Foucault verstehen? Welche anthropologischen Perspektiven verbinden sich damit und wie bilden sie sich in Hegels Ästhetik und in Foucaults Ethik bzw. Ästhetik ab? Welcher Begriff von Anthropologie lässt sich in diesem Zusammenhang bei den Philosophen ausmachen? Welche Kunstauffassung liegt ihren Überlegungen zugrunde?

2.2.1.2 E rkenne dich selbst. Anthropologische Perspektiven in der Ästhetik Hegels Der absolute Geist, das Prinzip der Hegelschen Philosophie, macht gleichzeitig das Wesen des Menschen aus: »Hegels Prinzip ist der Geist. […] Dieser ist als das ›Absolute‹ auch das wahre und allgemeine Wesen des Menschen. Und nur unter Voraussetzung der ›inneren Allgemeinheit‹, welche der Geist ist, lassen sich auch die äußerlichen Besonderheiten der Menschen erkennen.«3 Hegel kritisiert die Fokussierung der Philosophie der Aufklärung auf den Menschen und die Menschheit.4 Anthropologische Überlegungen sind bei Hegel durch seine philosophische Grundidee und sein philosophisches Konzept und System nicht im Mittelpunkt des Denkens, sondern bekommen einen klar definierten Platz im Ganzen zugewiesen, der insgesamt betrachtet, von begrenzter Bedeutung ist. So finden sich die wichtigsten anthropologischen

2 | Vgl. Foucault, Michel: »Die Geburt einer Welt«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 1002. 3 | Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche: Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Hamburg (Meiner), 71978, S. 330. Löwith verweist hier auf Hegels Enzyklopädie § 384 und § 377. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III«. In: G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Band 10. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1976. 4  |  Vgl. Karl Löwith: »Ihr absoluter Standpunkt sei vielmehr ›der Mensch und die Menschheit‹. Die Philosophie könne jedoch bei dieser empirischen Menschheit und ihrer gehaltlosen Idealität nicht stehen bleiben und ›um der geliebten Menschheit willen‹ auf das Absolute verzichten. Was man gemeinhin den Menschen nennt, sei nur eine ›fixierte Endlichkeit‹, aber nicht ›der geistige Fokus des Universums‹.« (Löwith 71978: 330)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

Überlegungen5 bei Hegel eingebettet in den Teilbereich der Philosophie des Geistes thematisch bezogen auf die Untersuchung der menschlichen Seele im Kapitel ›Der subjektive Geist‹. Die Seele, die »der Möglichkeit nach Alles ist«, wird metaphorisch als Schlaf des Geistes bezeichnet, da sie »noch nicht Geist ist.«6 Die Naturbestimmtheit der Seele, zu der die physischen und geistigen Verschiedenheiten – Naturell, Temperament, Charakter 7 und Rasse,8 Volk und Nation9 – gehören, wird als »Abbild des Begriffs«10 verstanden.11 Anthropologie 5 | In der Rechtsphilosophie beschäftigt sich Hegel in konkreter Weise mit der gängigen Vorstellung vom Menschen als Person, Familienmitglied und Bürger in der bürgerlichen Gesellschaft. 6 | Hegel 1976: 43. Die Anthropologie beschäftigt sich mit den natürlichen Zuständen, wie diese Textstelle beispielhaft verdeutlicht: »Hier in der Anthropologie haben wir aber noch nicht die dem wachen Bewusstsein zuteil werdende Erfüllung, sondern das Wachsein nur insofern zu betrachten, als dasselbe ein natürlicher Zustand ist.« (Hegel 1976: 50) 7 | Zum Charakter heißt es bei Hegel: »Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, daß derselbe eine natürliche Grundlage hat, daß einige Menschen zu einem starken Charakter von der Natur mehr disponiert sind als andere. Aus diesem Grund haben wir das Recht gehabt, hier in der Anthropologie vom Charakter zu sprechen, obgleich derselbe seine volle Entfaltung erst in der Sphäre des freien Geistes erhält.« (Hegel 1976: 74) 8 | Der Unterschied der Rassen ist bei Hegel insbesondere geographisch und klimatisch begründet. Hegel unterscheidet die kaukasische, äthiopische, mongolische, malaiische und amerikanische Rasse und beschreibt in wertender und hierarchisierender Weise deren unterschiedliche Charakteristika. In der kaukasischen Rasse, zu der die Europäer gehören, kommt der Geist nach Hegel zur absoluten Einheit mit sich selbst; sie ermöglicht Selbstbestimmung und Entwicklung und bringt Weltgeschichte hervor. (Vgl. Hegel 1976: 61) »Die Neger sind als eine aus ihrer uninteressierten und interesselosen Unbefangenheit nicht heraustretende Kindernation zu fassen.« (Hegel 1976: 59) Auf der anderen Seite betont Hegel als gemeinsames Merkmal der Gattung die Vernünftigkeit aller Menschen: »Aus der Abstammung kann aber kein Grund für die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Menschen zur Freiheit und zur Herrschaft geschöpft werden. Der Mensch ist an sich vernünftig; darin liegt die Möglichkeit der Gleichheit des Rechtes aller Menschen, – die Nichtigkeit einer starren Unterscheidung in berechtigte und rechtlose Menschengattungen.« (Hegel 1976: 57f.) 9 | Zu den Unterschieden der Nationen siehe Hegel 1976: 64ff. 10 | Hegel 1976: 50. 11 | Es entsteht das Problem, »wie nun innerhalb der Philosophie des Geistes die Anthropologie als eine Philosophie der Leiblichkeit (der Seele) überhaupt dargestellt werden kann. Denn diese Anthropologie versteht Hegel als die Lehre vom Geist, insofern er natürlich ist – als die Lehre vom ›Naturgeist‹ (10.38/§387). Innerhalb dieser Anthropologie ist beispielsweise von natürlichen Qualitäten, natürlichen Veränderungen, na-

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im engeren Sinne umfasst demnach primär leibbezogene Erfahrungen12 und ist als »Darstellung des natürlichen Geistes«13 zu verstehen. Bei Hegel ist das Gebiet der Anthropologie damit eng gefasst, es umfasst nicht alle Bereiche des Menschlichen im Sinne einer umfassenden Betrachtung des Menschen und der Menschheit, wobei seine Wesensbestimmung durch den Geist – als sein Fundament und eine Art erweiterter Begriff zur Bestimmung des Menschlichen – den anthropologischen Charakterisierungen im Weiteren zugrunde liegt. »Der Mensch ist also nicht Träger des Geistes, sondern selbst Geist.«14 Der anthropologische Standpunkt ist nach Hegel nur bedingt, die metaphysischen Bestimmungen des Menschen gehen über ihn hinaus. »Wahrhaft verwirklicht sich dagegen die Gattung im Geiste, im Denken, diesem ihr homogenen Elemente. Im Anthropologischen aber hat diese Verwirklichung, da dieselbe am natürlichen individuellen Geiste stattfindet, noch die Weise der Natürlichkeit.«15 Hegel spricht diesbezüglich von der Einheit von Gattung und Vernünftigem.16 So wird die Bestimmung des Menschen als Geist nach ihm nicht anthropologisch, sondern theologisch bzw. metaphysisch verstanden im Sinne einer philosophischen Theologie, die sich auf das Unbedingte richtet. Bei Löwith heißt es dazu: »Dieser Satz [gemeint ist, dass der Mensch nur durch den Geist Mensch sei] steht auf der ersten Seite der Religionsphilosophie, was schon äußerlich darauf hinweist, daß Hegels Begriff vom Geist nicht anthropologisch, sondern theologisch, als christlicher Logos und mithin ›übermenschlich‹ gemeint ist.«17

Hegel bezieht sich hier auf die Menschwerdung Gottes. Der Mensch ist u.a. auch in dieser Hinsicht gleichzeitig Teil des Prozesses des Sich-Entäußerns der absoluten Idee in Form der Natur und der Rückkehr zu sich selbst in den Stutürlichen Zuständen die Rede und dann auch von Empfindung, Selbstgefühl, Krankheit usw., alles Bestimmungen, die schon innerhalb der Naturphilosophie im dritten Teil der ›Organischen Physik‹ thematisch waren.« In: Lomar, Achim: Anthropologie und Vernunftkritik: Hegels Philosophie der menschlichen Welt. Paderborn, München, Wien, Zürich (Schöningh), 1997, S. 222. 12 | Vgl. Lomar 1997: 245. 13 | Lomar 1997: 222. 14 | Lomar 1997: 205. 15 | Hegel 1976: 76. 16 | Vgl. ebd. 17 | Löwith 71978: 331. Löwith bezieht sich hier auf Hegel XI, S. 3. Löwith sagt weiter: »Die allgemeine Wesensbestimmung des Menschen ist und bleibt also in Hegels philosophischer Theologie, dass der Mensch christlich verstandener Geist (Logos) ist und nicht bloß irdisch bedürftiger Mensch.« (Löwith 71978: 332)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

fen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes, ein Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes. Der Mensch mit seinen unterschiedlichen Momenten ist in diesen Vorgang auf verschiedenen Stufen insbesondere als kulturschaffendes Wesen involviert – auch als Produzent und Rezipient von Kunst. Kunst ist zusammen mit Religion und Philosophie als eine der Formen des absoluten Geistes anzusehen, durch die der Mensch den Bereich des ›eng‹ Anthropologischen in Richtung hin auf eine Annäherung an das sein Wesen bestimmende Geistige überschreitet. Die Kunst als Bedürfnis des Geistes in ihren drei Kunstformen symbolisch, klassisch und romantisch ist Äußerungsform des absoluten Geistes bei der Rückkehr zu sich selbst. In der Kunst manifestiert sich die unmittelbare Einheit von Natur und Geist in der Anschauung insbesondere in der klassischen Kunst, in der sich Schönheit als Versöhnung zwischen Idee und Gestaltung in der Darstellung der menschlichen Gestalt im plastischen Gestalten der Griechen findet. In der Erhabenheit der symbolischen Kunst der Ägypter dagegen wird durch das Vorherrschen des Materiell-Stofflichen die Unangemessenheit von Idee und Gestaltung deutlich, die in anderer Weise insbesondere in der Poesie durch die zunehmende Entmaterialisierung der Kunst gleichermaßen in der romantischen Kunst vorherrscht. Die anthropologischen Perspektiven in der Ästhetik Hegels, die sich im engeren Verständnis auf das Naturhafte des Menschen und im weiterten Verständnis auf sein geistiges Wesen beziehen, sind eng mit dem Prozess des ›Erkenne dich selbst‹ verbunden. Selbsterkenntnis bezieht sich im KonkretMenschlichen primär auf die Erkenntnis der Geisthaftigkeit des menschlichen Wesens. Der Prozess der Entäußerung und Rückkehr des absoluten Geistes zu sich selbst muss insgesamt als Prozess der Selbsterkenntnis angesehen werden. »In der höheren spekulativen Betrachtung aber ist es der absolute Geist selber, der, um für sich das Wissen seiner selbst zu sein, sich in sich unterscheidet und dadurch die Endlichkeit des Geistes setzt, innerhalb welcher er sich absoluter Gegenstand des Wissens seiner selbst wird.«18

Gleichzeitig bildet Selbsterkenntnis sich aber auch im Konkreten dieses Prozesses im Hinblick auf den Menschen als Wissen involvierende Tätigkeit ab und manifestiert sich u.a. auch im künstlerischen Schaffen und in der Rezeption von Kunstwerken. Mittels der echten Originalität des Genies werden Kunstwerke geschaffen, die das sinnliche Scheinen der Idee im Ideal des Kunstschönen verkörpern, eine Versöhnung von Innerem und Äußerem bzw. von Materialität und Geistigkeit, die in der Rezeption von Kunst erfahrbar 18 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I: Werke in zwanzig Bänden, Band 13. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1970ff., S. 130.

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wird. So sind die Produktion und die Rezeption von Kunst in den Selbsterfahrungsprozess des Geistigen als eine Form der Selbsterkenntnis eingebunden, die allerdings in der weiteren Entwicklung durch die geist-betonteren Formen von Religion und Philosophie übertroffen werden. Die Bedeutung des künstlerischen Schaffens und des Rezeptionsprozesses für den Menschen besteht in der Versöhnung als Natur- und Geistwesen, der zunehmenden Überwindung des bloß Naturhaften. So kommt es in der Kunst selbst in ihrer Fortentwicklung zu einer Zunahme der Vergeistigung und Entmaterialisierung, insbesondere in der Poesie. Die Kunst wird insbesondere durch die Darstellung der menschlichen Handlung, des menschlichen Körpers und des menschlichen Empfindens beiden Seiten des Menschen gerecht und ist so Teil des Prozesses der zunehmenden Vergeistigung, in den der Mensch involviert ist. Kunst befördert die menschliche Freiheit und Selbstbestimmtheit durch die größere Loslösung aus materieller Gebundenheit und Notwendigkeit. Künstlerisches Schaffen und Rezipieren als Selbstzweck befördert den Geist als das Wesenhafte des Menschen. Kunst ist so in einer spezifischen Phase des geschichtlichen Entwicklungsprozesses in einer ganz besonderen Ausformung von herausragender Bedeutung. Hegels These vom Ende der Kunst bezieht sich auf die Notwendigkeit zur Überwindung der Stufe der Kunst im Entwicklungsprozess des absoluten Geistes. Sie stellt nicht mehr die wichtigste Realisation des Geistigen dar, ein faktisches Beenden der Beschäftigung mit Kunst ist nicht gemeint. Die Tendenz zur Metareflexion über Kunst und zur Konzeptualisierung und Theoretisierung von Kunst in der Kunst selbst und in der Kunsttheorie bzw. Philosophie der Kunst, die bei Hegel auch eine Geschichte der Kunst enthält, bildet die zunehmende Loslösung vom Sinnlich-Materiellen im Bereich Kunst ab und dokumentiert den sich vollziehenden Übergang zum stärker auf das Geistige bezogenen philosophischen Denken als adäquateste Form der Selbsterkenntnis des Geistigen. Hegels Ästhetik als Philosophie der Kunst spiegelt diese Entwicklung und kann selbst als Teil des Prozesses der zunehmenden philosophischen Abstraktion im Hinblick auf Kunst angesehen werden. Auch beschreibt Hegel in seiner Ästhetik die selbstreflexive Tendenz der modernen und zeitgenössischen Kunst durchaus angemessen, so dass mit Hegel über ihn hinausgehend weitergearbeitet werden kann.19 Hegels Verbindungen zwischen 19 | Dieses Vorhaben wird z.B. von Robert B. Pippin in seinem Werk Kunst als Philosophie verfolgt. Vgl. Pippin, Robert B.: Kunst als Philosophie: Hegel und die moderne Bildkunst. Berlin (Suhrkamp), 2012. Gethmann-Siefert unterscheidet in diesem Zusammenhang drei verschiedene Wege der Aktualisierung der Ästhetik Hegels: »[E]inmal die Reaktualisierung der Hegelschen Ästhetik als einer Theorie der Moderne, dann die Rettung zumindest einiger Restbestände der Hegelschen Konzeption als Hintergrund postmoderner Dekonstruktion und schließlich die Identifikation des Hegelschen Konzepts

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

Kunst einerseits und Anthropologie und Philosophie andererseits bleiben für die kunsttheoretische Auseinandersetzung relevant, wenn auch zumeist in kritischer Hinsicht.

2.2.1.3 D as ›Erkenne dich selbst‹ und die Selbstsorge. Anthropologische Perspektiven in Foucaults Ästhetik bzw. Ethik Wie bei Hegel findet sich bei Foucault eine Kritik an der Überbetonung der Beschäftigung mit dem Menschen und der Menschheit in der Philosophie und anderen Wissenschaften. In seinem Werk Die Ordnung der Dinge arbeitet er als das Wissen strukturierende Prinzip in der Epoche der Moderne die Episteme ›Mensch‹ heraus.20 Foucault geht von der historischen Überwindung dieser Fokussierung und Strukturierung im Hinblick auf das zeitspezifische Wissen der Moderne aus. Foucault lehnt außerdem die christliche Form des ›Erkenne dich selbst‹ als ein Absehen von sich selbst vehement ab und rekurriert auf die platonische und stoische Form der Selbstsorge. Hierbei steht Selbsterkenntnis mit der Selbstsorge mittels der Anwendung von Selbsttechnologien in Zusammenhang und ist somit an das Handeln des Menschen gebunden. Die Selbstmit dem Kunstprojekt der Gegenwart.« In: Gethmann-Siefert, Annemarie: »Danto und Hegel zum Ende der Kunst – Ein Wettstreit um die Modernität der Kunst und Kunsttheorie«. In: Gethmann-Siefert, Annemarie; Nagl-Docekal, Herta; Rózsa, Erzébet; WeisserLohmann, Elisabeth (Hg.): Hegels Ästhetik als Theorie der Moderne. Berlin (Akademie), 2013, S. 17. Sie betont im Unterschied zu den angesprochenen Theorien und insbesondere in ihrer Kritik an Dantos Rekurs auf Hegel, einer ästhetischen Theorie der Avantgarde in einer Eigenwelt der Kunstkenner und Kunstkritiker, die Bedeutung der Kunst für die Alltagswelt des Menschen in Hegels Ästhetik, insbesondere mittels ihrer Funktion der Interpretation von Welt mit Handlungs-Orientierungs-Absicht in einem kommunikativen Gesamtzusammenhang, ihre ›aboutness‹. (Vgl. Gethmann-Siefert 2013: 26, 33) »Über die Anschauung soll Vernünftigkeit, Verantwortlichkeit und Freiheit vermittelt werden.« (Gethmann-Siefert 2013: 33) Heute habe Kunst nicht mehr die Aufgabe der Schaffung von Identifikation über vermittelte Inhalte, sondern sie bietet durch eine reflektierte Auseinandersetzung mit Welt-Anschauungsvorschlägen eine »formelle Bildung«. (Ebd.) Hierbei geht es um die Auseinandersetzung »mit Weltdeutungen und Orientierungsvorschlägen aus Vergangenheit und Gegenwart«. (Gethmann-Siefert 2013: 32) Sie betont die »reflexionsfördernde (also formell-bildende) Relevanz« von Kunst im Allgemeinen und spricht sich in ihrer Kritik an Danto dezidiert gegen die Vorstellung einer künstlerischen Sonderwelt aus, die nicht im Sinne Hegels sei. (Gethmann-Siefert 2013: 34) 20 | Foucault unterscheidet die Moderne mit der Episteme ›Mensch‹ von den Epistemen ›Ähnlichkeit‹ und ›Repräsentation‹ in der Renaissance und Klassik. (Vgl. Foucault 1971)

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erkenntnis ist dabei primär auf die Veränderung des Subjekts in ästhetischethischer Hinsicht bezogen und mit einem verantwortlichen Handeln im zwischenmenschlichen Bereich und im allgemein-gesellschaftlichen Rahmen – auch in politischer Hinsicht – verbunden. In Foucaults Untersuchung des Verhältnisses der Sorge um sich selbst (epimeleia heautou) als Haltung zu sich selbst, den anderen und der Welt gegenüber, die eine nicht-egoistische Ethik zur Folge hat,21 und dem ›Erkenne dich selbst‹ (gnothi seauton), verbunden mit einem Blick, der sich von außen nach innen wendet,22 hält Foucault fest, dass das ›Erkenne dich selbst‹ in der Antike zunächst nur die Vergegenwärtigung eigener Grenzen des Menschen bedeutet und somit in die Selbstsorge integriert zu denken ist. »Sie haben hier also eine dynamische Verflechtung: Gnothi seauthon und epimeleia heautou (Selbsterkenntnis und Selbstsorge) rufen sich gegenseitig auf den Plan.«23 Die Disqualifizierung des Prinzips der Selbstsorge und Rehabilitierung des Prinzips des ›Erkenne dich selbst‹ nach einer fast ein Jahrtausend währenden antiken Kultur der Selbstsorge bezeichnet Foucault verallgemeinernd als »cartesianische[n] Moment«,24 »Wahrheit in sich und allein mittels seiner Erkenntnisakte zu erkennen«.25 Foucault rehabilitiert die Selbstpraxis in der Form der Anwendung von Selbsttechnologien als »volle Entfaltung der Beziehung zu sich selbst«,26 als eine Ethik des Selbst.27 »Wäh21 | Vgl. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts: Vorlesung am Collège de France (1981/82). Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2004c, S. 30. Und weiter heißt es dort: »Sich um sich selbst sorgen und sich um die Gerechtigkeit sorgen ist dasselbe«. (Foucault 2004c: 101) 22 | Vgl. Foucault 2004c: 36f. 23 | Foucault 2004c: 97. Im platonischen Modell der Wiedererinnerung, der »Identifikation von Selbstsorge und Selbsterkenntnis« (Foucault 2004c: 319) und im hellenistischen Modell der Ethik des Selbst sind Selbstsorge und Selbsterkenntnis miteinander verwoben. Erst im christlichen Modell der Selbstexegese werden Selbsterkenntnis und Selbstverzicht miteinander verbunden. Foucault betreibt hier eine Genealogie des Subjekts: »Généalogie veut dire que je mène l’analyse à partir d’une question présente.« In: Foucault, Michel: »Le souci de la vérité«. In: Foucault, Michel: Dits et écrits II. 19761988. Defert, Daniel; Ewald, Francois (Hg.), Paris (Quarto Gallimard), 2001c, S. 1493. 24 | Vgl. Foucault 2004c: 31. 25 | Foucault 2004c: 35. 26 | Foucault 2004c: 169. 27 | »Und vielleicht ist die Vermutung begründet, daß es in dieser Reihe von Versuchen [hier sind insbesondere Stirner, Schopenhauer, Nietzsche und Baudelaire gemeint] zur Wiederherstellung einer Ethik des Selbst, in diesen mehr oder weniger gescheiterten und fruchtlosen Bemühungen und in jenem Gestus, sich ständig auf die Ethik des Selbst zu beziehen, so etwas wie die Unmöglichkeit liegt, heute eine Ethik des Selbst zu begründen, obwohl es doch eine dringende, grundlegende und politisch unabdingbare

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

rend sich die Theorie der politischen Macht als Institution gewöhnlich auf ein juristisch konzipiertes Rechtssubjekt bezieht, […] so scheint mir, daß der Analyse der Gouvernementalität – d.h. der Analyse der Macht als Ensemble reversibler Beziehungen – eine Ethik zugrunde liegen muss, die durch die Beziehung seiner selbst zu sich definiert ist.«28 Sie ist für ihn im Weiteren Teil der Lebenskunst als Kreation eines Lebensstils, wobei er das Leben analog zum Kunstwerk versteht. Selbsterkenntnis und ethisch-ästhetische Selbstsorge sind dabei im Verbund zu denken. Foucault verknüpft hier Ethik, Ästhetik und Politik. Die These von Habermas, Foucault sei wie Hegel29 primär an der Vergangenheit orientiert und vernachlässige so den möglichen kritisch-utopischen Blick auf die Zukunft, lässt sich nicht halten. Foucault geht es bei der Berücksichtigung des historisch Partikularen im Unterschied zu Hegel, der das Partikulare systematisiert und in einen Prozess der Entäußerung des absoluten Geistes und seiner Rückkehr zu sich einordnet, primär um die Gestaltung des zukünftigen Lebens ausgehend von der Formung des Selbst und der Gestaltung der spezifischen Lebensbedingungen im sozio-historischen Kontext einer Zeit, wobei die Selbsterkenntnis Teil der Selbstsorge ist. Ästhetik ist dabei mehr als ein Sonderbereich des kulturellen Schaffens der Menschen, sie umfasst den kreativen Prozess der Gestaltung des menschlichen Lebens in ethisch-politischer Hinsicht und stellt damit nach Foucault den Schlüssel zu einer praktisch-heterotopischen Veränderung von Selbst und Gesellschaft dar. Das Prinzip des ›Erkenne dich selbst‹ wird bei Foucault historisiert, relativiert und kritisiert. Bei Hegel bleibt es fundierendes Prinzip von Subjekt, Welt und Geschichtsprozess. Die Untersuchung des ästhetischen Denkens bei Hegel und Foucault verdeutlicht dies in besonderer Weise. Das ›Erkenne dich selbst‹ ist für beide Philosophen auch im ästhetischen Bereich von zentraler Bedeutung. Bei Foucault ist es im Unterschied zu Hegel der Selbstsorge untergeordnet, löst sich von der Tendenz des Absehens von sich selbst und erfährt eine ethische Ausrichtung. Die Gestaltung des Selbst orientiert sich am künstAufgabe wäre, eine Ethik des Selbst zu begründen, wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich.« (Foucault 2004c: 313) 28 | Foucault 2004c: 314. Bei Foucault heißt es: »Schematisch könnte man sagen, daß die Moralreflexion der Antike über die Lüste nicht auf eine Kodifizierung der Akte und nicht auf eine Hermeneutik des Subjekts abzielt, sondern auf die Stilisierung der Haltung und eine Ästhetisierung der Existenz.« In: Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste: Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1989a, S. 122. 29 | »Hegel was unable to free himself from the demands of his systematization to employ the appropriate elements of his system as critical instruments.« (Gallagher 1997: 146)

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lerischen Schaffen, das individuelle Leben soll zum Kunstwerk werden. Bei Hegel ist die Kunst nicht Zielpunkt des menschlichen Handelns, sondern in ihrer Wichtigkeit auf eine bestimmte Entwicklungsstufe des Menschen bezüglich der Materialisierung und Entmaterialisierung des Geistes in der Welt – als Entäußerung und Rückkehr zu sich selbst – bezogen. Es zeigt sich, dass Foucault von Hegel in der Tat ›eingeholt‹ wird bzw. von ihm lernt, wenn er Hegels Vorbehalte gegenüber der Anthropologie aufgreift, dezentriert und als im historischen Werden überholt betrachtet – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Die Vorbehalte gegenüber dem Anthropologischen im engeren Sinne sind bei Hegel insbesondere in systematischer Hinsicht von Bedeutung. Für Hegels Systemphilosophie ist der Mensch weder Ausgangspunkt noch Endpunkt des philosophischen Denkens. Anthropologie in einem weiter verstandenen Sinne geht bei Hegel in der Philosophie des Geistes und in der Philosophie30 im Ganzen auf.31 Bei Hegel ist der »Begriff des Geistes als Grundbegriff einer kritisch neuformulierten Anthropologie« zu sehen.32 Bei Foucault ist der Mensch zunächst insbesondere Teil der Wissensgeschichte und als dieser markiert er als Episteme der Moderne ein historisches Stadium der Organisation, Strukturierung und thematischen Fokussierung von Wissen. Foucault macht deutlich, dass neue Formationsregeln der Wissensdiskurse das Paradigma ›Mensch‹ ablösen werden. Die beiden anderen Bereiche der Philosophie Foucaults, die durch die Theoreme Macht und Ästhetik/Ethik näher bestimmt werden können, lassen den Menschen dagegen als Ausgangspunkt von Macht und Widerstand und als Subjekt der Anwendung von Selbsttechnologien wieder ins Zentrum rücken. Der Mensch avanciert so zum Träger eines Ethos, einer kritischen Haltung, in ethischer bzw. ästhetischer Hinsicht und steht somit als individuelles Subjekt wieder im Fokus des Denkens. Gesellschaftspolitische Veränderungen setzen sein aktives Handeln voraus. Bei Foucault ist Ästhetik durch das ›Erkenne dich Selbst‹ im Sinne einer Selbstsorge der Bereich, durch den menschliche Autonomie denkbar wird. Trotz der Konstruiertheit des Subjekts bleibt Selbstbestimmung und ein 30 | »Wir können also insgesamt davon sprechen, daß Hegel die traditionellen Vorstellungen konsequent immanentisiert (verweltlicht) […], indem er die logizistischen, ontologisch-metaphysischen, bewußtseinsphilosophischen Interpretationen der Vernunft kritisch auf ihre Sinnbedingungen hin analysiert. In diesem umfassenden Sinn verstehe ich es, wenn ich sage: für Hegel ist Philosophie überhaupt – gerade als Vernunftwissenschaft – Anthropologie.« (Lomar 1997: 131) Vernunftkritische Überlegungen sind nach Lomar zugleich anthropologische Überlegungen. (Vgl. Lomar 1997: 132) Lomar versucht in seinen Ausführungen, »Hegels Geistbegriff als Grundbegriff seiner anthropologischen Philosophie einzuführen.« (Lomar 1997: 219) 31 | Vgl. Lomar 1997: 22. 32 | Lomar 1997: 25.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

Potential zum verändernden Handeln möglich. Der Mensch kann seine Handlungsspielräume zur Gestaltung seiner selbst und der Gesellschaft mittels des Ästhetischen erweitern. Bei beiden Philosophen sind Selbsterkenntnis und Ästhetik miteinander verbunden. Allerdings verblasst bei Hegel die Bedeutung der Ästhetik gegenüber Religion und Philosophie als die dem Geist adäquateren Bereiche, währenddessen die Ästhetik bei Foucault an Bedeutung gewinnt. Die Verbindung von Ästhetik und Ethik ist bei Foucault der Garant für die Zunahme von menschlicher Freiheit. Bei Hegel ist es das Ende der Kunst und der Übergang zum philosophischen Denken, wodurch Freiheit bezogen auf den Menschen und über ihn hinaus gehend erst denkbar wird. Das Prinzip des ›Erkenne dich selbst‹ überwindet bei Hegel das Ästhetische, bei Foucault bleibt Ästhetik als Ethik primäres Mittel der praktischen Selbsterkenntnis mit der Selbstsorge als ästhetisch/ethische Selbstformung des Subjekts verbunden und steht im Kontext mit der philosophischen Haltung des Ethos. Bei Hegel geht das Anthropologische ins Spekulativ-Metaphysische über, das sich als angemessene Form der Erfassung des menschlichen Wesens erweist, wobei Ästhetik nur eine Phase im Prozess der Vergeistigung des Menschen darstellt. Das Wesen des Menschen ist bei Hegel damit in spezifischer Weise festgelegt. Foucault historisiert zwar wie Hegel die Formen der Selbsterkenntnis, sie erfahren allerdings keine Auflösung im Absoluten, sondern bleiben dem Pragmatischen verhaftet. Bei Foucault nimmt das Anthropologische die Form des Ästhetisch-Ethischen als Arbeit des Subjekts an sich selbst in der historischen Wandel- und Formbarkeit an und löst sich von der überzeitlichen Wesensbestimmung des Menschen. Die Fokussierung auf den Menschen, die bei Hegel transzendiert wird, nimmt bei Foucault eine neue, veränderte Form mit einem für das Selbst und die Gesellschaft emanzipatorischen Potential an.33

2.2.2 D ie leere F orm des H eils . D ie E thik des guten L ebens bei M ichel F oucault 2.2.2.1 Die Ethik des guten Lebens und das menschliche Glück Foucaults Ethik bzw. Ästhetik fällt durch die Abwesenheit der Beschäftigung mit der Frage nach dem menschlichen Glück auf, obwohl er die antiken Formen der Lebensführung und deren Techniken des Selbst intensiv studierte 33 | Hiermit möchte ich der von Gallagher unter Rekurs auf Habermas aufgestellten These widersprechen, Hegel und Foucault seien primär an der Vergangenheit orientiert und vernachlässigen so einen möglichen kritisch-utopischen Blick auf die Zukunft.

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und in der letzten Phase seiner Philosophie davon ausgehend eine Ästhetik bzw. Ethik des Selbst entwickelte. Auch stellt sich die Frage, welchen Status der subjekttheoretische Teil seiner Philosophie haben soll. Ist seine Ethik bzw. Ästhetik im Sinne einer aktuellen gesellschaftspolitischen Analyse im Hinblick auf die gegebenen Möglichkeiten zur partiellen Emanzipation des Individuums mittels der Befreiung von heteronomen Bestimmungen durch Selbsttechnologien zu sehen oder ist sein Konzept allgemeiner angelegt, so dass nur die jeweiligen Techniken des Selbst entsprechend der gegebenen soziohistorischen Bedingungen variieren, die grundsätzliche Ausrichtung aber gleichbleibt. Dieser Frage soll unter Rekurs auf den Begriff des Heils bei Foucault nachgegangen werden. Foucault konstatiert in der Hermeneutik des Subjekts im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der hellenistischen Philosophie »[d]ie leere Form des Heils« und spricht vom »Heil als Form und dem Inhalt, der dieser gegeben wird.«34 Nimmt der Begriff des Heils (salut) als teleologische Ausrichtung von menschlichem Handeln bei Foucault die Stelle des Glücksbegriffs (bonheur) ein? Wie lassen sich die beiden Begriffe voneinander abgrenzen und warum präferiert Foucault den Begriff des Heils? Lässt sich vom Heil haben, Heil empfinden oder Heil verfehlen bei Foucault sprechen oder bleibt es bei der behaupteten Leere? Welche Funktion hat der Begriff im Rahmen seiner philosophischen Konzeption? Philosophische Anthropologie im klassischen Sinne und das Absolut-Setzen des Menschen als Formierung von Wissen ist zwar obsolet, nicht aber das Nachdenken über menschliche Lebensführung und somit auch nicht die Frage nach dem menschlichen Wohl, nach seinem Heil und Glück. Foucault macht hier die Bedeutung des Ästhetischen stark, die eine Selbstformung des Subjekts verbunden mit der Lösung aus Fremdbestimmung, Foucault spricht vom Regiert-Werden, vorsieht, wobei das Ästhetische eine enge Verbindung mit dem Ethischen eingeht, der eine politische Relevanz zugesprochen wird. Momente wie Autonomie, Erprobung von Möglichkeiten in der Selbstformierung, Stil in der Lebensführung und eine ethische Grundhaltung dem Anderen gegenüber machen das menschliche Wohl aus. Wie ist der Zusammenhang von Ethik und Ästhetik mit der Frage nach dem guten Leben bei Michel Foucault aufzufassen?

2.2.2.2 D ie leere Form des Heils und die Frage nach dem Glück Die antiken Techniken des Selbst gelten Foucault als ein Beispiel für den Prozess der partiellen Befreiung aus der Heteronomie. »Sie [gemeint ist die Philosophie der Lebenskunst] ist das Projekt des sich selbst lenkenden und leitenden 34 | Foucault 2004c: 167.

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Menschen, der trotz aller Unwägbarkeiten und Fremdeinflüsse die autonome Verfügungsgewalt über sein Leben besitzt.«35 Die Vorstellungen vom guten Leben und objektive Kriterien des guten Lebens der antiken Konzeptionen werden nicht übernommen. An dieser Stelle ist meiner Meinung nach Foucaults Theorem der leeren Form des Heils zu lokalisieren. »Dieses Jonglieren zwischen universellem Prinzip, das nur von wenigen gehört werden kann, und dem selten zuteil werdenden Heil, von dem jedoch niemand a priori ausgeschlossen ist, wird, wie Sie wissen, im Mittelpunkt der meisten theologischen, geistigen, gesellschaftlichen und politischen Probleme des Christentums stehen. Diese Figur sehen Sie hier klar ausgedrückt und in der Technologie des Selbst artikuliert, besser gesagt – denn es geht hier nicht mehr nur um Technologie: Die griechische, hellenistische und römische Zivilisation hat eine echte Kultur des Selbst [culture du soi] hervorgebracht, die, wie ich meine, im 1. und 2. Jh. unserer Zeitrechnung beträchtliche Ausmaße annahm. Innerhalb der Selbstkultur ist diese – ich wiederhole – in unserer Kultur so grundlegende Figur von Universalität des Aufrufs auf der einen Seite und seltenem Heil auf der anderen voll wirksam. Auch der Begriff des Heils (sich retten, sein Heil erwirken) ist hier übrigens von zentraler Bedeutung.« 36

Foucault verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf Epiktet: »Sie sehen zudem, all das führt uns zu einer Heilsthematik, deren Figur klar und eindeutig in einem Text wie dem vorhin erwähnten von Epiktet formuliert ist. Ein Heil, dem zwar – wie gesagt – ein universeller Aufruf vorausgeht, das faktisch aber wenigen zuteil wird.«37 Diese Lebensform ist demnach nicht jedem zugänglich: »Diese Zielsetzung, dieser letzte Zweck des Lebens, ist zugleich eine seltene Lebensform. Letztes Ziel des Lebens für jeden Menschen, doch eine seltene, nur wenigen vorbehaltene Lebensweise: das ist gewissermaßen die leere Form der großen zeitlosen Kategorie des Heils.«38 In der Füllung dieser leeren Form des Heils wird nach Foucault historisch betrachtet insbesondere der Andere wichtig: »Die Frage nach dem anderen [autrui], nach dem Verhältnis zum anderen als Vermittler zwischen dem Heil als Form und dem 35 | Heidbrink, Ludger: »Autonomie und Lebenskunst: Über die Grenzen der Selbstbestimmung«. In: Kersting, Wolfgang; Langbehn, Claus: Kritik der Lebenskunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2007, S. 267. 36 | Foucault 2004c: 159. 37 | Foucault 2004c: 160. 38 | Foucault 2004c: 166. »Diese leere Form des Heils taucht innerhalb der antiken Kultur mit Sicherheit als Echo, in Abhängigkeit von und in einer noch genauer zu bestimmenden Verbindung mit den religiösen Bewegungen auf und nicht nur als seine Erscheinung oder ein Aspekt des religiösen Denkens oder der religiösen Erfahrung.« (Foucault 2004c: 166f.)

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Inhalt, der dieser gegeben wird.«39 Weiter heißt es dazu: »Der andere [Autrui, l’autre], ist unabdingbar für die Selbstpraxis, damit die Form, die diese Praxis definiert, tatsächlich ihr Ziel erreicht und sich mit diesem, dem Selbst, füllt. Damit die Selbstpraxis zu dem Selbst, dem sie zustrebt, gelangt, ist der andere unabdingbar«40 Und weiter: »Die Konstituierung eines Selbstverhältnisses verbindet sich ganz offensichtlich mit den Beziehungen seiner selbst zum anderen.«41 Dies fände sich schon bei Platon: »Die Sorge um sich selbst steht überall in diesem Text [gemeint ist Platons Alkibiades] eindeutig im Dienst der Sorge um die anderen.«42 Der Begriff des Heils wird in der Regel als christlich geprägter wahrgenommen und ist mit dem Übergang verbunden, dem vom Leben zum Tod, von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit, vom Guten zum Bösen, vom Unreinen zum Reinen. »Er ist also immer an der Grenze angesiedelt, ein Übergangsoperator.«43 Weiter ist das Heil dramatisch strukturiert: »Das Heil ist also an den dramatischen Charakter eines Ereignisses gebunden.«44 Die Rettung lässt sich nach Foucault aber auch außerhalb des Religiösen verorten: »Ich möchte hier, weil es mir für das, was ich sagen will, ganz wesentlich zu sein scheint, besonders hervorheben, daß dieser Begriff des Heils, welchen Ursprungs er auch sein mag, welcher Art auch die Verstärkung sein mag, die er durch die religiöse Thematik in der griechisch-römischen Epoche erfahren hat, tatsächlich und ganz homogen als 39 | Foucault 2004c: 167. 40 | Ebd. 41 | Foucault 2004c: 200. 42 | Foucault 2004c: 223. »Bei Platon hingegen sind das kathartische und das politische Moment nicht voneinander geschieden.« (Ebd.) Das wird in folgender Äußerung deutlich: »[I]ch wende die Kunst der Katharsis an, um ein politisches Subjekt zu werden.« (Foucault 2004c: 224) Und weiter heißt es: »Das Heil der Polis ist die Belohnung für die Sorge um sich selbst und gewährleistet diese zugleich. (Ebd.) Und: »Soweit, ganz grob, die Verbindung zwischen Sorge um sich und Sorge um die anderen bei Platon – eine im übrigen nur schwer lösbare Verbindung.« (Foucault 2004c: 225) Es lässt sich zunehmend die Dissoziierung dieser Momente beobachten, die im 1. und 2. Jahrhundert nach Foucault schon weit fortgeschritten ist. Die ›Sorge um sich Selbst‹ wird zu einem sich selbst genügenden Zweck. (Vgl. ebd.) »Das Selbst ist der letzte und einzige Zweck der Sorge um sich selbst.« (Ebd.) Dies lässt sich sowohl bei den Kynikern als auch bei den Epikureern und Stoikern beobachten. Nach Foucault entwickelt sich hieraus die christliche Geistlichkeit, die im asketischen, klösterlichen Leben eine Verlängerung der auf das Selbst bezogenen Kunst vornimmt. (Vgl. Foucault 2004c: 227) 43 | Foucault 2004c: 230. 44 | Foucault 2004c: 231.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie philosophischer Begriff und im Feld der Philosophie selbst funktioniert. Das Heil ist Ziel der philosophischen Praxis und des philosophischen Lebens geworden und erscheint als solches.« 45

Foucault erinnert an die weite Bedeutung des Begriffs: »In dieser Rettung, die ich griechisch-römisch nenne, in dieser Rettung der griechischrömischen Philosophie ist das Selbst Agens, Objekt, Instrument und Zweck der Rettung. Sie sehen, hier sind wir sehr weit entfernt von dem durch die Polis vermittelten Heil, dem wir bei Platon begegnet sind. Wir sind ebenfalls sehr weit entfernt von jener religiösen Heilsform, die sich zweipolig, durch eine Erinnerungsdramatik und durch die Beziehung zum anderen definiert, die dann im Christentum mit dem Verzicht auf sich selbst einhergeht. […] Die Rettung gewährleistet demgegenüber gerade den Zugang zu sich, einen Zugang, der in der Zeit und im Rahmen des Lebens überhaupt unauflösbar mit der Arbeit, die man selbst und mit sich selbst vollzieht, verbunden ist.« 46

Das Heil ist also dezidiert in einem Bezug zum Anderen verortet und nicht allein religiös konnotiert. Die Suche nach dem Heil ist in Foucaults Theorem des historischen Apriori im Moment der Arbeit mit sich selbst lokalisiert. Die leere Form des Heils wird bei Foucault zwar in Anlehnung an eine Kantische Denkfigur als verallgemeinerbare Form gedacht, sie ist aber im Sinne seines Theorems vom historischen Apriori aufzufassen. Hier zeigt sich die Übertragung der Denkfigur der Wissen strukturierenden Apriorität auf den Bereich der Subjektivierung mit dem ihr zugeordneten Bereich der Selbstpraktiken, also von der Philosophie des Wissens auf den im engeren Sinne subjektphilosophischen Teil seines Denkens. Die Frage nach dem Glück wird also bei Foucault eher indirekt gestellt, sie versteckt sich in seinen Überlegungen zum menschlichen Heil. Glück erscheint gegenüber dem Heil als ein konkret erfüllendes Erleben im jeweils aktuellen Lebensvollzug, während das Heil als philosophischer Begriff – in seiner Leere – nach Foucault die historische Offenheit fokussiert und gleichzeitig aus der Dimension des Zufälligen und der reinen Empfänglichkeit herausfällt. Er ist für Foucault ein zentraler Analysebegriff seiner historischen Rekonstruktion der Hermeneutik des Subjekts und ermöglicht ihm im Unterschied zum Glücksbegriff das Herausarbeiten verschiedener Formen der Subjektkonstitution über den Aspekt eines erfüllten individuellen Lebens hinaus. Die Frage nach dem Heil wird an historisch veränderliche Subjektweisen geknüpft, die die Frage nach dem Glück jeweils in unterschiedlicher historischer Form involviert. Leben als Kunst bzw. Ethik als Ästhetik kann als aktuelle Form des menschlichen Heils angesehen wer45 | Ebd. 46 | Foucault 2004c: 235f.

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den. Sie ist mit der Vorstellung von der Arbeit an sich selbst im Rahmen der Vorstellung von Leben als Kunst verbunden und kann als Heilsform des 20. ggf. des 21. Jahrhunderts betrachtet werden. Diese Konzeption geht von dem Gestaltungspotential des Einzelnen aus, das nach Foucault mit der Selbstformierung auch gleichzeitig eine gesellschaftspolitische Dimension beinhaltet und damit auch die Möglichkeit zur Realisierung des heterotopen Moments seiner Philosophie. Die Frage nach dem Heil manifestiert sich heute demnach mehr als persönliche Aufgabe der Selbstformung mit Auswirkungen für die Gestaltung menschlicher Beziehungen, des persönlichen Zusammenlebens, wie auch allgemein politischer Art. Der Kategorie des Heils kommt der Status einer Episteme zu, die in einer historischen Analyse die Aufschlüsselung der Gesellschaft im Hinblick auf zugrundeliegende Heilsvorstellungen erlaubt, die auch verschiedene Vorstellungen vom menschlichen Glück beinhalten. Die Ethik bzw. Ästhetik des Selbst erscheint bei Foucault als historisches Apriori, als aktuelle Form des menschlichen Heils. In der historischen Entwicklung scheinen jeweils neue Formen des menschlichen Heils auf,47 die, wie deutlich wurde, Momente vergangener Formen inkorporieren und mit dem Kampf um die menschliche Autonomie unter jeweils veränderten soziohistorischen Bedingungen in Zusammenhang stehen – als besondere Ausprägungen der leeren Form des Heils.

47 | So nennt Foucault als historische Ausformung des Heils u.a. die Gesundheit. Nach Foucault hat der Arzt im 19. Jahrhundert die Nachfolge des Priesters angetreten.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

2.2.3 Ä sthe tik des S piels und Techniken des S elbst. D er Z usammenhang von E thik und Ä sthe tik bei M ichel F oucault 48 2.2.3.1 Das Subjekt zwischen Heteronomie und Autonomie Im Mittelpunkt von Foucaults Philosophie steht die Frage nach dem Subjekt. Foucault beschäftigt sich in diesem Kontext mit »verschiedenen Verfahren, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden«.49 Foucault unterscheidet drei Bereiche der Subjektkonstitution: Verfahren des Wissens, Machtpraktiken und Techniken des Selbst. Das Subjekt ist danach sowohl Gegenstand der Fremdbestimmung als auch der Selbstbestimmung. Die These vom Tod des Subjekts bezieht sich in kritischer Intention auf die Bestimmung des Menschen durch rationalistische oder teleologische Ansätze in den anthropologischen Grundannahmen der Philosophie. Foucault sieht im Unterschied dazu den Menschen als ›Erfahrungstier‹, der in seiner Offenheit sozial-historischen Formierungen ausgesetzt ist, aber auch über die Möglichkeit zur Selbstformung verfügt. Das Subjekt ist nach Foucault heteronom bestimmt, aber auch durch seine Autonomie gekennzeichnet. Ausgangspunkt ist das Konstituiert-Sein des Subjekts, die Heteronomie. Autonomie muss in einem Prozess der Loslösung von Bestehendem, der Selbstgestaltung des Subjekts und der gesellschaftlichen Einflussnahme immer wieder erkämpft und errungen werden. In diesem Kontext sind Selbsttechnologien von entscheidender Bedeutung. Die Selbstformierung erlaubt es nach Foucault, aus sich ein Kunstwerk zu machen. Das Paradigma von Leben als Kunst versteht gleichzeitig das Ethische als individuelle Aufgabe der kreativen Gestaltung des Selbst, die Ästhetik des Selbst wird zur Ethik des Selbst. Ausgangspunkt ist die griechische und hellenistische Konzeption der Sorge um sich, die nach Foucault ein anregendes Repertoire von Selbsttechniken bereitstellt.50 Die An48 | Das Kapitel ist nur unwesentlich verändert veröffentlicht worden. Siehe: Rainsborough, Marita: »Ästhetik des Spiels und Techniken des Selbst. Der Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Michel Foucault«. In: Recki, Birgit (Hg.): Kongress-Akten der deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Band 3: Techne – poiesis – aisthesis. Technik und Techniken in Kunst und ästhetischer Praxis, IX. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 2015, S. 1-24; online: www.dgae.de/kongresse/techne-poiesis-aisthesistechnik-und-techniken-in-kunst-und-aesthetischer-praxis/ 49 | Foucault 1987: 243. 50 | Wolfgang Detel spricht in Bezug auf Foucaults Analyse antiker Texte von einer »kreativen Theorienbildung«, die den antiken Texten nicht in Gänze gerecht werde, z.B. vertrete er ein falsches Modell der Regulierung von sexuellem Begehren. Es handle sich um ein Begrenzungs-, nicht um ein Beherrschungsmodell, um ein »Modell der souverä-

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wendung der Techniken des Selbst löst das Subjekt nicht grundsätzlich aus bestehenden Machtstrukturen. In diesem Prozess geht es insbesondere darum, sich als moralisches Subjekt zu konstituieren. Foucault konstatiert hinsichtlich der aktuellen gesellschaftlichen Situation das Fehlen von Moral und fordert: »Und diesem Fehlen von Moral will und muß die Suche nach einer Ästhetik der Existenz antworten.«51 Ist der Begriff Kunst, der Foucaults Orientierung an der Ästhetik zugrunde liegt, dabei als regelgeleitetes Handeln im Sinne einer techne oder poiesis oder einer kreativen künstlerischen Gestaltung als ars zu verstehen? Weist der Begriff der Selbsttechnik auf ein Modell von Lebenskunst als Technik bzw. Handwerk hin? Lässt sich in diesem Zusammenhang auch eine kathartische Funktion der Selbsttechnologien ausmachen? Es gilt im Kontext der Auseinandersetzung mit diesen Fragen den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Foucault, der »das Kierkegaardsche Entweder-Oder«52 unterläuft, näher zu umreißen, der Frage nach »Einheit und Differenz des Ästhetischen und Ethischen«53 nachzugehen und Foucaults Ästhetik des Spiels im Hinblick auf ethische Implikationen zu untersuchen.

nen Einbettung in den Gesamthaushalt der höheren und niederen Lüste«. Auch spricht er von einem asketischen Platon-Verständnis bei Foucault. Diese Fehlinterpretationen führen nach Detel durch die Ausblendung epistemologischer und machtanalytischer Aspekte zu einer »unangemessenen Überbetonung des Aspekts der Stilisierung und Ästhetisierung«. In: Detel, Wolfgang: Foucault und die klassische Antike: Macht, Moral, Wissen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2 2006, S. 9ff. Auch wenn die Interpretation Detels teilweise zutreffend ist, wird Foucaults Gesamtargumentation davon nicht berührt, da Foucault die antiken Modelle nicht im Konkreten vorbildhaft für aktuelle Problemlösungen verwendet, sondern sie nur Ausgangspunkt seiner ethischen Überlegungen darstellen und inhaltliche Anregungen geben. Der grundsätzliche ethische Ansatz der Selbstsorge in der Antike, auf den Foucault primär rekurriert, wird auch von Detel nicht in Frage gestellt. Im Weiteren denke ich, dass Foucaults Verständnis der Beherrschung der Lüste im Sinne seiner Konzeption der Gouvernementalität letztlich durchaus mit einem Begrenzungsmodell vereinbar wäre. 51 | Foucault, Michel: »Eine Ästhetik der Existenz: Gespräch mit Alessandro Fontana.« In: Foucault, Michel: Von der Freundschaft: Michel Foucault im Gespräch. Berlin (Merve), o.J., S. 136. 52 | Gamm, Gerhard; Kimmerle, Gerd (Hg.): Ethik und Ästhetik: Nachmetaphysische Perspektiven. Tübingen (edition discord), 1990, S. 7. 53 | Gamm/Kimmerle 1990: 10.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

2.2.3.2 Techniken des Selbst und die Frage nach dem Subjekt Zu den Selbsttechnologien, die von Foucault im Kontext der Ethik betrachtet werden, gehören u.a. Askese, Ataraxie, Wahrsprechen, Diätetik, Meditation, Schweigen, Lesen und Schreiben. In seiner Geschichte der Moral unterscheidet Foucault zwischen moralischem Kodex, Taten und dem Selbstverhältnis. »In dem, was wir die Moral nennen, gibt es nicht einfach nur dieses wirkliche Verhalten der Leute, nicht nur Kodizes und Verhaltensregeln, es gibt auch dieses Selbstverhältnis, das […] vier Aspekte umfasst«.54 Diese sind nach Foucault: zum einen die ethische Substanz, der Anteil des Selbst wie z.B. die Gefühle, die betroffen sind, die Absicht oder die moralische Materie, und zum anderen der Subjektivierungsmodus wie z.B. das göttliche Gesetz, das natürliche Gesetz, das vernünftige Gesetz oder ein ästhetisches Existenzprinzip. Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Praxis des Selbst wie z.B. die Askese, der vierte auf die moralische Teleologie, der die Art des Seins, das durch moralisches Handeln erreicht werden soll, bestimmt. »Müssen wir zum Beispiel rein, unsterblich, frei, Herr unserer selbst usw. werden?«55 Diese Aspekte sind unabhängig voneinander zu denken, aber auf der anderen Seite bestehen auch Beziehungen zwischen ihnen.56 Foucault konstatiert im geschichtlichen Verlauf eine große Ähnlichkeit der moralischen Kodizes bzw. der Themen zwischen der griechischen und der christlichen Moral, aber starke Veränderungen hinsichtlich des Selbstverhältnisses, das er Ethik nennt.57 Hier – im Bereich Ethik – liegt der Schwerpunkt seiner Untersuchung. Es geht ihm in seinen philosophischen Ausführungen primär um das ethisch-moralische Subjekt. Der Begriff des Selbst tritt in diesem Kontext oft an die Stelle des Subjektbegriffs:58

54 | Foucault, Michel: »Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit«. In: Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz: Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2007, S. 205. Und weiter: »Es ist die Beziehung zu sich selbst, die es auszubilden gilt, dieses Selbstverhältnis, das bestimmt, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner eigenen Handlungen konstituieren muss. Es gibt in diesem Selbstverhältnis vier Hauptaspekte.« (Foucault 2007: 203) 55 | Foucault 2007: 205. 56 | Vgl. Foucault 2007: 206. 57 | Vgl. ebd. 58 | »Zunächst denke ich allerdings, daß es kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte. Einer solchen Konzeption vom Subjekt stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, daß das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. – auf autonomere Art und Weise – über Praktiken der Befreiung und der Freiheit. So geschah es in der Antike, und zwar ausgehend, wohlgemerkt, von einer gewissen An-

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Foucault heute »Die Stilisierung hat dort statt, wo es sich um Herstellung eines Selbst und nicht eines Subjekts im traditionellen Sinne handelt. Das Selbst besteht im Unterschied zum Subjekt in einer Kreisbewegung, die der sich um sich Sorgende beschreibt, im Ausgang von sich über ein anderes und der den Ausgangstatus modifizierenden Rückkehr zu sich. In der Beziehung zu sich wird nicht eine Seelensubstanz (und ebensowenig eine des Körpers) rehabilitiert, sondern ›nur‹ ein Bogen über eine Leere gespannt, die als solche nichts auszusagen hätte. […] Hier entsteht der Ort eines ständig sich wandelnden Selbstverhältnisses, dem nicht von den Strukturen der Macht- und Wissensformationen seine unwandelbare Gestalt zugewiesen wird.« 59

Techniken des Selbst stellen Freiheitspraktiken dar, die allerdings keine Herauslösung aus Machtkontexten bedeuten. Das ethisch/ästhetische Subjekt stellt eine Revision von Descartes’ Subjektvorstellung dar: »Für die Ästhetik der Existenz liegt das auf der Hand: Sie versteht sich ausdrücklich als Revision des von Descartes durchgeführten Versuchs, ›ein Subjekt, das durch Selbstpraktiken konstituiert war, durch ein Subjekt als Begründer von Wissenspraktiken zu ersetzen‹ (GE S.  290). Damit wird bei Descartes ›Askese durch Evidenz‹ (GE S. 291), praktisches durch theoretisches Selbstverhältnis ersetzt.«60 Menke charakterisiert Foucaults Verständnis von Subjektivität mit folgenden Worten: »Subjektivität ist dann das Selbstverhältnis von und zu Kräften. Und dieses Selbstverhältnis ist die Macht, etwas durch eigene Kräfte tun zu können.«61 Der Übung kommt hier wie auch schon im Kontext seines Machtkonzepts im Bereich der Disziplinarmacht eine besondere Bedeutung zu. Diese Gemeinsamkeit führt Menke auf die zugrundeliegenden Subjektbegriffe zurück, die ein praktisches, tätiges Subjekt voraussetzen. Dieser Subjektbegriff wendet sich gegen »die Gleichsetzung von Subjektivität mit Selbstbewusstsein«. Hier finden Foucaults Interesse an den antiken Techniken des Selbst im Rahmen der epimeleia heautou, der Sorge um sich, und seine Beschäftigung mit der technê tou biou, der Lebenskunst, zahl von Regeln, Stilen und Konventionen, die sich im kulturellen Bereich wiederfinden.« (Foucault o.J.: 137f.) 59 | Hebel, Kirsten: »Dezentrierung des Subjekts in der Selbstsorge. Zum ästhetischen Aspekt einer nicht-normativen Ethik bei Foucault«. In: Gamm, Gerhard; Kimmerle, Gerd (Hg.): Ethik und Ästhetik: Nachmetaphysische Perspektiven. Tübingen (edition discord), 1990, S. 230. 60 | Menke, Christoph: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«. In: Honneth, Axel; Saar, Martin: Zwischenbilanz einer Rezeption: Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 287. 61 | Ebd. Und weiter: »Subjektivität heißt Handlungsmacht, und Handlungsmacht ist eine doppelte, die zur Aus- und zur Selbstführung. In dieser doppelten Macht besteht Subjektivität.« (Menke 2003: 288)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

ihre theoretische Begründung. Üben strebt den Erwerb von Fertigkeiten und Fähigkeiten an und beinhaltet »ein Etwas-Ausführen- und ein Sich-FührenKönnen.«62 Menkes Ausführungen liegt die These zugrunde, dass »Foucault die Übungen einer Ästhetik der Existenz als normative Alternative zu den disziplinierenden Übungen verstanden hat.«63 Weiter heißt es: »Die Ästhetik der Existenz muß nicht nur ein in sich überzeugendes Modell für eine nicht-disziplinäre, freie Gestaltung von Subjektivität sein, sie muß auch in der Lage sein, Foucaults Kritik der Disziplinierung einzuholen.«64 Foucault geht es in seiner Ethik bzw. Ästhetik um einen Zuwachs an Autonomie für das Individuum. Zwischen disziplinarischem und ethisch/ästhetischem Subjekt macht Menke eine Gegnerschaft aus, die weniger im Inhaltlichen als im Formalen besteht; sie können nicht als gegenseitige Ergänzungen gesehen werden.65 62 | Menke 2003: 286. Weiter heißt es bei Menke: »Das primäre Selbstverhältnis ist nicht eines des Wissens, sondern der Selbstführung im tätigen Ausführen.« (Menke 2003: 287) Und: »Mit ihr ist zugleich eine zweite Einsicht verbunden, in der die Subjektbegriffe der Disziplinarmacht und einer Ästhetik der Existenz übereinstimmen: die Einsicht in den Primat des Könnens nicht nur vor dem Wissen, sondern dem Wollen.« (Ebd.) Menke konstatiert im Folgenden: »Die Konzeptionen des ästhetisch-existentiellen und des disziplinären Subjekts stimmen deshalb überein nicht nur in der Kritik am Theoretizismus und seinem Primat des transparenten Selbstbewusstseins, sondern auch am Voluntarismus und seinem Primat des freien Willens: Ich kann nur wollen, was ich kann – was auszuführen und wozu oder wobei mich zu führen ich die Macht, die Fähigkeit, das Vermögen habe. Haben-Können, also Macht kommt nicht nur vor Wissen, Handeln-Können, also Macht kommt auch vor Freiheit.« (Menke 2003: 288) Hier sieht Menke neben der Kritik an Descartes auch eine Kritik an Sartre: »Darüber hinaus weist Foucaults doppelte Kritik am Theoretizismus des Selbstbewusstseinsmodells und am Voluntarismus des Selbstbestimmungsmodells – namentlich: Foucaults doppelte Kritik an Descartes und Sartre – darauf hin, daß dies die fundamentale Weise ist, in der wir uns auf uns selbst beziehen.« (Menke 2003: 288f.) 63 | Menke 2003: 285. 64 | Ebd. Nach Menke bilden das disziplinäre und das ästhetisch-existentielle Subjekt eine ›Kippfigur‹. (Vgl. ebd.) 65 | »Daß zwischen dem disziplinären und dem ästhetisch-existentiellen Subjekt kein bloßes Verhältnis der Ergänzung, sondern eines der Gegnerschaft besteht, läßt sich zunächst im Gegenzug zu ihrer Auffassung als zweier Phasen im Prozess der Subjektivierung erläutern.« (Menke 2003: 294) Und weiter: »Autonomie besteht nicht allein in einer Selbstbestimmung des Guten meines Lebens angesichts meiner in Disziplinierungsprozessen erworbenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Autonomie beginnt vielmehr erst dort, wo das um das Gute seines Lebens besorgte Subjekt diese Möglichkeiten und Fähigkeiten, und zwar gerade auch auf ihrer elementaren Ebene, der der Führung des

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Foucault heute »Die Ästhetik der Existenz muß so verstanden werden und vollzogen werden, daß sie einen Begriff subjektiver Macht, Tätigkeit und Freiheit voraussetzt, der nicht in seinen Inhalten und Zwecken, sondern in seiner Form im Gegensatz zu der Normalisierung steht, die mit der Subjektkonstitution durch soziale Disziplinierung verbunden ist.« 66

So soll Selbstbestimmung auch nicht in einer teleologischen Überformung als Unterwerfung unter einen Lebensplan missverstanden werden, sie darf nicht zur Selbstunterwerfung verkommen. Damit bezieht Lebenskunst sich nicht auf das Leben als Produkt, sondern als Prozess. Lebenskunst muss dabei in pluralistischer Weise verstanden werden.67 In dieser Konzeption von einer persönlichen Lebensführung lassen sich normative Vorgaben wie die Orientierung an der Idee einer gelungenen Einheit eines Lebens, des Guten und der Schönheit, die Foucault nach Menke als ›starke Struktur‹ betrachtet, ausmachen.68 Foucault spricht von dem »Willen, ein schönes Leben zu leben und anderen das Gedächtnis an eine schöne Existenz zu hinterlassen (GE S. 266).«69 Ästhetik wird bei Foucault zu einem allgemeinen Modell individueller Lebensführung in der »Bewegung der Selbstüberschreitung«.70 Für diese Übung gibt es keine vorgegebenen Normen und Zielsetzungen. »Die persönliche Lebensführung gemäß einer ›Ethik ästhetischer Art‹ ist geprägt durch die ästhetische Freiheit zu Veränderungen und Prozessen, die keiner teleologischen Ordnung gehorchen.« 71 Dabei geht es um eine Haltung im Leben, eine »Haltung ästhetischer Freiheit«, eine »Freiheit zur Selbstüberschreitung«.72 eigenen Körpers, zu verändern versucht.« (Menke 2003: 295) Zum experimentellen Charakter dieses Prozesses heißt es: »Darin sind sie ›experimentell‹; […] sie erproben andere als die, zu denen wir diszipliniert und normalisiert wurden – Möglichkeiten und Fähigkeiten der Selbstführung im Hinblick nicht auf die gute, gar bessere Ausführung sozialer Praktiken, sondern die Führung eines guten Lebens.« (Ebd.) 66 | Vgl. Menke 2003: 296. 67 | Nehamas sagt dazu: »für die Lebenskunst, für die Kunst, die notwendigerweise nur im Plural auftreten kann.« In: Nehamas, Alexander: Die Kunst zu leben: Sokratische Reflexionen von Platon bis Foucault. Hamburg (Rotbuch), 2000, S. 293. 68 | Siehe Fußnote 10 in Menke 2003: 292. Menke macht hier darauf aufmerksam, dass Foucault die Beurteilung dieses Lebens von Anderen abhängig macht. 69 | Menke 2003: 291. 70 | Menke 2003: 298. 71 | Ebd. 72 | Menke 2003: 299. Und weiter heißt es bei Menke: »In ihr, in dieser Haltung ästhetischer Freiheit allein besteht, was die Übung einer Ästhetik der Existenz von den normalisierenden der Disziplinarmacht unterscheidet – was also die Übungen einer Ästhetik der Existenz davor bewahren kann, eine weitere, vielleicht letzte und subtilste Form disziplinierender Unterwerfung zu werden.« (Ebd.)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

2.2.3.3 D ie Ästhetik des Spiels bei Foucault Der Spielbegriff steht bei Foucault gleichzeitig im Zentrum von Literatur-, Kunst- und Subjekttheorie, Ästhetik und Ethik. Das Spiel als lebensweltliches, literarisch-künstlerisches und ästhetisch/ethisches Theorem leistet bei Foucault sowohl die Bestimmung der Spezifität des Ästhetischen als auch die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Lebensweltlichen, wie sie in der Verbindung von Ethik und Ästhetik im Transformationsprozess des Subjekts als seine ethisch/ästhetische Selbstgestaltung vorgenommen wird. Damit geht Foucault über die von Derrida in seiner Konzeption des Spielbegriffs vorgenommene Autonomisierung im Ästhetischen 73 hinaus und erhebt den Anspruch auf ethische Relevanz im Subjektivierungsprozess, die im Kern Prozesse der Macht und den Zusammenhang von Macht und Wissen betreffen. Foucaults Spielbegriff ist im Unterschied zu Schiller nicht als Spieltrieb konzipiert, der Disparates, den Stofftrieb und den Formtrieb des Menschen, vereinigt und somit Sinnlichkeit und Vernunft harmonisiert, um die ethische Vervollkommnung des Menschen im pädagogisch/politischen Prozess denkbar zu machen, sondern als Ermöglichungsraum für Neues, als ein Experimentierfeld. Hier rekurriert Foucault auf Nietzsche, der das Spielerische dem Kindlichen zuordnet. »Dazu gehört vielmehr ein Spieltrieb, wie ihn noch das Kind beseelt – so Zarathustra. Dieses Kind, das im Übermenschen nachhallt, das die Einzelne umtreibt und das manchmal verloren zu gehen droht, wenn sie Mutter oder Vater wird, nennt Georges Bataille 1944 den Willen zur Chance und nicht Willen zur Macht, stellt schließlich das Kind immer einen Neuanfang dar. Ähnlich interpretiert Hannah Arendt den Menschen aus der weihnachtlichen Perspektive als gebürtlichen und als Anfänger, und nicht aus der österlichen Perspektive als sterblichen. […] Doch auf solche spielerische Inspiration kommt es für die Einzelne an, um sich zu übersteigen.« 74

Der Neuanfang wird nicht ethisch-moralisch gebunden, sondern ist im Sinne der Überschreitung, die durchaus Züge des Wahns, des Rausches und der Ekstase annehmen kann, zu verstehen. »Denn aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, lässt sich nicht rational planen, sondern läuft auf ein Spiel mit den Lüsten, den Träumen, dem Wahn, dem Rausch, den Diskursen und der Macht aus [sic!].« 75 Dieser Prozess kennt sowohl die Reiteration als auch das

73 | Sonderegger, Ruth: Für die Ästhetik des Spiels: Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2000. 74 | Schönherr-Mann: Der Übermensch als Lebenskünstlerin: Nietzsche, Foucault und die Ethik. Berlin (Matthes & Seitz), 2009, S. 97. 75 | Schönherr-Mann 2009: 131.

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Andere, das Noch-Nicht. Dabei werden auch Werte verändert bzw. neue Werte geschaffen. Die Ästhetik des Spiels, die die Transformation des Subjekts insbesondere auch im Ethischen anstrebt, fokussiert den Aspekt der Loslösung, den der Selbstformierung und den Umgang mit dem Anderen neben der Verbindung zum Wahnhaften insbesondere ausgehend vom Gedanken der Gouvernementalität. Es geht dabei nicht mehr um die Erweiterung von Erfahrung im Ekstatischen, sondern »um die Möglichkeit, sich selber als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstituieren, das heißt, sich […] zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen.« 76 Der Begriff der Gouvernementalität leistet bei Foucault die Verknüpfung der Erkenntnistheorie, Ästhetik und Ethik mit der Politik. Gouvernementalität beinhaltet nicht nur regiert zu werden − Prozessen der Mikrophysik der Macht 77 unterlegen zu sein −, sondern auch selbst zu regieren, um im Kampf um Autonomie »nicht auf diese Weise regiert zu werden« 78 und darüber hinaus primär das gute Regieren als angemessenes Führen des Anderen, das einen bewussten Umgang mit sich selbst voraussetzt – das Führen des Selbst. An dieser Stelle wird Foucault eminent politisch: Das allgemein Lebensweltliche, Künstlerische und Ethische des Konzepts der Ästhetik schlägt ins Politische um. Damit wird es zur zentralen Gestaltungsform der Zukunft in politischer Hinsicht. Der Spielbegriff enthält demnach im experimentellen Erproben neben der Betonung der Möglichkeit zur Überschreitung und Erfahrungserweiterung durchaus auch die Disziplin und Askese erfordernde Selbstformung in einer ethisch/politischen Dimension.

2.2.3.4 D as Leben als Kunstwerk Foucault spricht der Ästhetik in seiner Philosophie allgemein eine zentrale Bedeutung zu. Er fragt: »Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollte die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser Leben?« 79 Nach Hesse kann Foucault sich diese Frage nur stellen, weil er nicht auf die Unterscheidung zwischen Handeln und Herstellen, Techne und Phronesis, rekurriert. Seine technologisch-strategische Wortwahl verdecke die einer ethischen Lebensführung zugrundeliegende her76 | Foucault 1989a: 178. 77 | Vgl. Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht: Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin (Merve), 1976. 78 | Foucault 1992a: 52. 79 | Hesse, Heidrun: »›Ästhetik der Existenz‹: Foucaults Entdeckung des ethischen Selbstverhältnisses«. In: Honneth, Axel; Saar, Martin: Zwischenbilanz einer Rezeption: Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003, S. 305f. Hesse zitiert hier aus Zur Genealogie der Ethik. (Vgl. Foucault 2007: 273)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

meneutische Leistung, die Foucault durchaus intendiere, wenn er von einer philosophischen Übung der Selbstveränderung spricht. Diese ist als eingebettet in einen praktischen Kontext zu sehen. Er versteht Leben insbesondere als kreative Gestaltung nach dem Vorbild künstlerischer Tätigkeiten, aber gleichzeitig auch als Technik und Handwerk. Foucault strebt die Transgression des Bestehenden an, was phantasievolles Probieren, Neukonzipieren und Experimentieren und – im weitesten Sinne – die Vorstellung von Leben als Werk voraussetzt. Die Kombination mit dem Spielerischen kennt darüberhinaus eine Nähe zum Wahn und zur Ekstase, in denen ein kathartisches Moment der Läuterung bzw. Befreiung angelegt sein könnte.80 Allerdings nimmt Foucault in seiner historischen Betrachtung des Phänomens der Katharsis von Platon bis zum Christentum keine aktuelle Bestandsaufnahme vor. Eine heutige Bedeutung des kathartischen Elements in veränderter historischer Ausprägung kann deshalb nur vermutet werden. Nehamas weist darauf hin, dass es in diesem Prozess der Lebensgestaltung im Sinne eines Kunstwerks nicht um Selbstfindung, sie würde ein Selbst als Gegebenes voraussetzen, sondern um Selbsterfindung geht: »Wichtiger noch ist, daß er die Sorge um sich nicht als Prozeß der Selbstfindung, sondern der Selbsterfindung begriff. Es geht nicht darum zu entdecken, wer man wirklich ist, sondern darum, zu erfinden und zu improvisieren, wer man sein kann. Foucaults Vorbild für die Sorge um sich ist der künstlerische Schaffensprozeß.«81 Und weiter: »Erst in dieser Form erhält die ethische Empfehlung eine spezifisch ästhetische Bedeutung, und ihr folgenreichster und – auf keinen Philosophen trifft dieses Attribut besser zu – wortgewaltigster Verkünder ist

80 | Foucault setzt sich mit der Geschichte der Katharsis von Platon bis zum Christentum auseinander. Während sie zunächst die Konstitution zum politischen Subjekt zum Ziel hatte, löst sie sich bei den Neuplatonikern vom politischen Kontext und wird allgemein zur Verwandlung des Selbst durch sich Selbst und im Christentum schließlich primär zur »Dechiffrierung des Innenlebens«. (Vgl. Foucault 2004c: 220ff., 371). Foucault löst den Begriff Katharsis in seinen Betrachtungen wie vor ihm in anderer Form z.B. auch Freud aus der verengten Interpretation als ästhetische bzw. dramatische Kategorie der Literaturwissenschaft unter Rekurs auf Aristoteles’ Dramentheorie (z.B. Lessing, Goethe, Lukács). 81 | Nehamas 2000: 281. Bei Foucault heißt es dazu: »Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein können, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt.« In: Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1983, S. 190.

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Nietzsche.«82 Auf dessen ethisches Konzept aus der Fröhlichen Wissenschaft rekurriert Foucault mit seiner Ästhetik bzw. Ethik des Selbst. Kunst lässt sich so verstehen als ›Künstlichkeit‹ und ›Kultur‹, Selbstbeherrschung mit dem Ziel der Vervollkommnung und darüber hinaus als ästhetischer Genuss. Dabei spielt Askese eine wichtige Rolle: Die Übung des Asketismus soll helfen, den Exzess zu meiden: »Der Asketismus ist nicht die Unterdrückung, sondern die Regulierung der Lust. Sein Ziel ist nicht die Verleugnung, sondern die Befriedigung. Das konventionelle asketische Ideal der Lustverleugnung ist kein natürlicher Tatbestand, sondern Ergebnis einer langen Tradition christlicher Auseinandersetzung mit diesem Thema.« 83

Und weiter: »Doch Askese ist etwas anderes: es ist die Arbeit, die man an sich selber leistet, um sich zu verwandeln oder jenes Selbst erscheinen zu lassen, das man glücklicherweise nie erreicht.« 84 Die Verbindung von Autonomie und Perfektion übernimmt Foucault von Nietzsche. Bei Beiden entdeckt Früchtl eine gewisse Ähnlichkeit zu Kant: »Er [gemeint ist hier Nietzsche und in Folge mit ihm Foucault] führt den Gedanken zu Ende, in dem Kant das Prinzip der Ethik entdeckt, daß nämlich Freiheit der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz sei. Er führt diesen Gedanken zu Ende, weil er ihn nicht nur unter der Perspektive der Allgemeinheit, sondern auch unter der des Individuums denkt; weil er ihn, schärfer akzentuiert nicht primär unter der Perspektive der Allgemeinheit, sondern umgekehrt unter der des Individuums denkt. Nietzsches Ethik formuliert eine ›individualistische Autonomiemoral‹.« 85

Wir finden bei Nietzsche und mit ihm bei Foucault eine individualistische und perfektionistische Bedeutung des Kunstbegriffs. Früchtl fasst zusammen: »Die individualistische Autonomiemoral ist eine ästhetische Autonomiemoral.« 86 Es geht darum, seinem Charakter Stil zu geben, das heißt u.a. Einheit, Harmonie im Spannungsvollen, Ordnung und Unverwechselbarkeit. Philosophie wird zur Theorie und Praxis des guten Lebens und verfügt dabei über eine Nähe zur Kunst.

82 | Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil: Eine Rehabilitierung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1996, S. 157. 83 | Nehamas 2000: 283. 84 | Foucault, Michel: »Von der Freundschaft als Lebensweise«. In: Foucault, Michel: Von der Freundschaft: Michel Foucault im Gespräch. Berlin (Merve), o.J., S. 88. 85 | Früchtl 1996: 159. 86 | Früchtl 1996: 161.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie »Künstlerisches Schaffen legt den Gedanken an geniales Schöpfertum, unbeschränkte Freiheit und absolute Spontaneität nahe – Vorstellungen, die Foucault sein Leben lang mit absolutem Mißtrauen betrachtete. Doch löst sich der Widerspruch schließlich auf, denn auch der künstlerische Schaffensprozeß ist immer historisch verortet. Nicht alles ist allezeit möglich, weil auch die Künstler im Rahmen bestimmter Traditionen arbeiten, innerhalb derer sie das Gegebene neu arrangieren und manipulieren. In ästhetischer Hinsicht ist das individuelle Leben diesem Schaffensprozess vergleichbar.« 87

Des Weiteren ist Kant für Foucault in diesem Prozess mit seiner Konzeption von Aufklärung und Kritik, seinem Aufruf zu einem ›Ausgang‹ aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und seiner Annahme der Notwendigkeit zur Herstellung von Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung. Kant propagiert eine Haltung des Muts, einen spezifischen Ethos der Selbstgesetzgebung. Foucault verbindet diese Kantische Haltung des Muts mit dem griechischen Mut des Wahrsprechens (parrhêsia), des ›Alles Sagens‹, das mit dem Risiko des Todes verbunden sein kann, den Sokrates nicht nur im politischen Rahmen fordert, sondern auch als allgemeine philosophische Aktivität versteht, die die Lebensweise der Individuen hin zu einem guten Leben verändern will.88 Auch Baudelaires Ausführungen über den Dandy stellen mit ihrer Betonung von Auflehnung, Mut, Selbstdisziplin und der angestrebten Originalität in einem Kult des Selbst für Foucault ein Beispiel der angestrebten Ethik bzw. Ästhetik des Selbst dar, die allerdings nicht in Egozentrik ausarten sollte. Dazu heißt es bei Früchtl: »Zugunsten einer perfektionsästhetischen Ethik argumentiert Foucault dabei spezifisch im Sinne der Vervollkommnung der Autonomie. In der eigenwilligen, aber nicht eigensinnigen Verbindung von Kant und Baudelaire und in der Tradition von Nietzsches individualistischer Autonomiemoral führt Foucault seine Konzeption durch.« 89

So verbindet Foucault Nietzsches Stilbegriff mit Baudelaires Konzeption des Dandy und Kants Streben nach Mündigkeit und Autonomie und seinem kritischen Ethos. Foucault vertritt demnach einen »sozial verantwortlichen Individualismus«.90 Er strebt keinen Hedonismus an: »Sowenig er auf Kierkegaard rekurriert, sowenig hat er als ethisches Ideal ein Leben des unreflektierten Genießens vor Augen.«91 Allerdings ist ihm nach Früchtl auch ein unreflektier87 | Nehamas 2000: 281. 88 | »Mut ist eine zentrale Eigenschaft des Foucault’schen Sokrates.« (Nehamas 2000: 266) Nehamas spricht in Bezug auf das Wahrsprechen von einer öffentlichen und einer privaten Praxis. (Vgl. Nehamas 2000: 263) 89 | Früchtl 1996: 27. 90 | Früchtl 1996: 148. 91 | Ebd.

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ter Anti-Hedonismus verdächtig, der körperlicher Lust und Individualismus feindlich gegenübersteht. »Hedonismus kann in dieser Form als eine mögliche Variante der ›Ästhetik der Existenz‹ angesehen werden.«92 Mit seinem Konzept der Freundschaft, die eine von der Struktur der Wechselseitigkeit geprägte Beziehung darstellt, versucht er einen Gegenpol zur Selbstbezogenheit des ästhetischen Konzepts zu begründen. Foucault denkt maximalistisch und perfektionsästhetisch.93 »Philosophisch personalisiert sich diese Spannung in Kant und Nietzsche. In Foucault selbst bleibt sie unaufgelöst, so daß man von einem kantianischen und nietzscheanischen, einem liberalen und einem anarchistischen […] Foucault reden kann.«94 Früchtl konstatiert im Hinblick auf Foucaults Nietzscherezeption die Gefahr einer totalisierten Mündigkeitskonzeption, die zu einer fundamentalästhetischen Ethik führe. Dieser Gefahr ist sich Foucault allerdings stets bewusst, sie wird insbesondere durch die Kantischen Elemente seiner Philosophie gebannt.

2.2.3.5 Z um Verhältnis von Ethik, Ästhetik und Politik Foucault vollzieht nach Davidson einen shift vom Du zum Ich und kritisiert: »since it is agreed by all that our duties to others are far greater in number, complexity, and even interest than our duties to ourselves.«95 Dennoch verliert das Du für ihn nicht an Bedeutung. Auch Sokrates, auf den Foucault insbesondere hinsichtlich seines Konzepts der Selbstsorge rekurriert, war nach Nehamas u.a. mit seinem dialogischen Verfahren gleichzeitig gemeinschaftlich orientiert, Ziel war zwar primär die Selbstsorge, sie wurde allerdings nur im Kontext der Polis bedeutsam. Bei Davidson heißt es dazu: »Foucault wanted to shift the emphasis to ›how the individual is supposed to constitute himself as a moral subject of his own actions‹, without, however denying the importance of either the moral code or the actual behavior of people.«96 Foucault stellt sich in diesem Kontext die Frage nach dem Ziel moralischen Verhaltens: »What is the goal to which our self-forming activity should be directed?«97 Die Kunst des Lebens ist nach ihm ohne die Gestaltung der ethischen Dimension in einer politischen Ausrichtung nicht denkbar, worin er das Ziel moralischen Verhaltens ausmacht. Er sagt: 92 | Ebd. 93 | Vgl. Früchtl 1996: 182. 94 | Früchtl 1996: 184. 95 | Davidson, Arnold I.: »Archaeology, Genealogy, Ethics«. In: Hoy, David Couzens (Hg.): Foucault: A Critical Reader. Oxford, Cambridge (Blackwell), 1996, S. 232. 96 | Davidson 1996: 228. Davidson zitiert hier Rabinow, Paul (Hg.): Foucault Reader. London (Penguin Books), 1991, S. 337. 97 | Davidson 1996: 229.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie »Und das heißt ganz einfach, daß im Rahmen des Analysetyps, den ich Ihnen seit geraumer Zeit hier darzulegen versuche, Machtverhältnisse/Gouvernementalität/Regierung-seiner-selbst-und-der-anderen/Beziehung-seiner-selbst-zu-sich, daß all das eine Kette, ein Raster, bildet und daß die Frage der Politik und die Frage der Ethik um diese Begriffe herum anzusiedeln sind.« 98

In dieser politischen Ausrichtung ist die Ethik sowohl an die Selbstformung des Einzelnen gebunden als auch darüber hinausgehend in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebunden, der den Anderen in besonderer Weise berücksichtigen muss. Seel bezeichnet Foucaults Ethik vom Ansatz her als einen Typus der agonalen Ethik und konstatiert: »Seine Ethik bleibt eine halbierte agonale Ethik – sie bleibt ohne Analyse des Streits der einander widerstreitenden Komponenten.«99 Er kritisiert: »Ohne einen positiven Begriff sozialer Moral, ohne einen Blick für das Problem der richtigen (gerechten oder solidarischen) Begrenzung eigener und fremder Interessen und Ansprüche bleibt die Renaissance der Individualethik eine unfruchtbare Geste.«100 Seel fehlt die Berücksichtigung der »gleichberechtigten Interessen der anderen Individuen«.101 Er fasst zusammen: »Eine agonale Ethik darf nicht allein Ethik der Existenz, sie muß zugleich Ethik der Rücksicht auf andere sein.«102 Nach Seel ist »eine agonale Ethik nur in der Form einer agonalen Moraltheorie möglich«,103 sonst »fehlt jede Dimension des Widerstreits, in dem das Individuum (oder auch ein Kollektiv) durch seine eigenen, zugleich ego- und alterzentrischen Orientierungen steht.«104 Seel vernachlässigt in seiner Kritik an Foucault allerdings den Gesichtspunkt, dass auch in der Sorge um sich, wie in Foucaults Analyse der antiken bzw. spätantiken Ethik deutlich wird, die Sorge um den Anderen einen wichtigen Stellenwert hat: »Die Sorge um sich ist ethisch in sich selbst, aber sie impliziert komplexe Beziehungen zu anderen in dem Maße, in dem dieses êthos der Freiheit auch eine Weise darstellt, sich um andere zu sorgen«.105 Die Rücksicht auf Andere ist in der Sorge um sich verankert. In diesen Prozess 98 | Foucault 2004c: 314. 99 | Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1999, S. 37. 100 | Ebd. 101 | Ebd. 102 | Ebd. Ausgehend von dieser Kritik betont Seel die Überlegenheit der ethischen Konzeptionen von Martha Nussbaum, Thomas Nagel und Bernhard Williams. 103 | Seel 1999: 46. 104 | Seel 1999: 47. 105 | Foucault 2007: 260. Im Christentum ist ein Absehen von sich Selbst vorgesehen, das als »eine Form der Eigenliebe, eine Form des Egoismus oder des individuellen Inter-

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sind konflikthafte Aushandlungsprozesse involviert. Seel übersieht des Weiteren, dass Foucault trotz seines Modells der historischen Offenheit der ›codeorientierten‹ Moral eine positive Konzeption vorlegt, die weniger im engeren Sinne moralisch ist, aber als gesellschaftlich-politisches Konzept moralische Komponenten beinhaltet und eine moralische Ausrichtung aufweist. Mit dem Modell der Freundschaft sieht Foucaults Philosophie die Einbeziehung der Interessen Anderer und ihren Anspruch auf ein gleichermaßen erfülltes Leben vor. Auch nach Foucault können individuelle Vorstellungen in Konflikt stehen zu den Lebensvorstellungen Anderer und bedürfen demnach individueller wie gemeinschaftlicher Aushandlung. Der Widerstreit ergibt sich bei Foucault nicht durch den moralischen Kodex, sondern durch die Position des Anderen mit seiner zum persönlichen Lebensstil gehörenden moralischen Ausrichtung. Die Art des Umgangs mit den gegebenen Konflikten bildet nach Foucault einen Bestandteil des persönlichen ethisch/ästhetischen Stils und hat gleichzeitig einen eminent politischen Charakter. Die Rücksicht auf Andere besteht bei Foucault entsprechend seiner Konzeption von menschlicher Autonomie, die im Zusammenhang mit seinem relationalen, strategischen Machtbegriff gesehen werden muss, in dem Freiheit logisch verankert ist, und die den Kern seiner Widerstandstheorie bildet, in der Notwendigkeit auch Anderen gleichermaßen Freiräume zur Gestaltung des Selbst zuzugestehen. Somit stößt die Freiheit der ethisch/ästhetischen Selbstgestaltung an Grenzen, die durch die Freiheit des Anderen bestimmt sind. Die hiermit verbundenen politischen Implikationen gilt es in das je individuelle ethisch-ästhetische Streben und in einer gemeinsamen Aufgabe in kreatives und widerständisches Verhalten zu integrieren, das in einer individuelle Freiheit gewährleistenden gesellschaftlichen Verfasstheit münden soll, die die Selbstformung des Einzelnen voraussetzt, beinhaltet und benötigt. Die Ich-Ethik impliziert das Wir.

2.2.3.6 Ethik und Ästhetik in Bezug auf das Subjekt Foucaults Rekurs auf die antike Philosophie der griechischen Klassik und der Stoa bildet zwar den zentralen Ansatzpunkt, wird aber bewusst nicht als Rezept verstanden. Der Bezug auf Ästhetik leistet insbesondere die Individualisierung und Kontextualisierung von Ethik. Foucault verweist in seiner Vorstellung vom Leben als künstlerisches Werk auf die Eigenständigkeit der Kunst. Distanz, Fremdheit und Differenz mit der Freiheit der Verneinung von Normen und zur Selbstreferenzialität stellen ihre besonderen Merkmale dar. Gerade in dieser Qualität des Ästhetischen sucht Foucault den Ausgangspunkt für seine Allianz des Ästhetischen und Ethischen. Er rekurriert dazu primär esses angeprangert« wurde. Wobei Foucault ein »Paradox der Sorge um sich« feststellt, da das Absehen von sich das Heil des Selbst verwirklichen sollte. (Foucault 2007: 257)

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auf die autonome Moderne und in geringerem Maße auch auf die zeitgenössische Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Foucault betont dabei insbesondere das Moment des Spielerischen, Kreativen und Experimentellen von Kunst.106 Er favorisiert einen Kunstbegriff, der sich am Innovativen, an Bruch und Transgression des Bestehenden ausrichtet, nicht an den in der Kunstgeschichte gleichermaßen zu beobachtenden Traditionen bewahrenden, gesellschaftlich-funktionalen oder mimetisch ausgerichteten Kunstbegriffen und weist somit eine normative Ausrichtung auf. Kersting spricht im Hinblick auf Foucaults Schönheits- und Werkbegriff fälschlich von einem »Subjektivismus der romantischen Ästhetik«.107 Foucaults Begriff der Schönheit, der von ihm allerdings nicht ausreichend bestimmt wird, muss im Sinne Foucaults entsprechend seines im Aufsatz Was ist ein Autor? entwickelten Werkbegriffs, den Foucault im Hinblick auf das Leben als persönliches Kunstwerk108 stark macht, historisch wandelbar gefasst werden. Der Werkbegriff wird bei Foucault wie der Autorbegriff historisch-funktional verstanden.109 Es geht ihm in seinen philosophischen Ausführungen weder um eine Moraltheorie noch um eine Theorie der Ästhetik im engeren Sinne. Seine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik ist von subjekt- und machttheoretischer Bedeutung und steht im Kontext seiner gesamtphilosophischen Ausrichtung mit ihrer politischen Dimension der Veränderung des Individuums und der Gesellschaft. »Die Ethik und die Politik sind […] keine getrennten Bereiche mehr.«110 Ästhetik leistet bei Foucault primär die Herleitung der Autonomie des Menschen. Ästhetik vermag der Heteronomie zu trotzen und zeigt, dass Selbstbestimmung möglich ist. Allerdings: »Aus dem Umstand, daß die Ästhetik zur Ethik des guten Lebens gehört, folgt nicht, 106 | Vgl. Welsch, Wolfgang: »Ästhet/hik: Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik«. In: Wulf, Christoph; Kamper, Dietmar; Gumbrecht, Hans U. (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin (Akademie), 1994, S. 12. 107 | Kersting, Wofgang: »Einleitung: die Gegenwart der Lebenskunst«. In: Kersting, Wolfgang; Langbehn, Claus (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2007, S. 28. 108 | Vgl. Foucault o.J.: 135. 109 | Vgl. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 1003-1041. Entsprechend der bei Foucault zu beobachtenden Tendenz zur Übertragung von in bestimmten theoretischen Kontexten gewonnenen Begriffen auf andere Bereiche möchte ich dies auch für den Werkbegriff geltend machen. 110 | Jambet, Christian: »Konstitution des Subjekts und spirituelle Praxis«. In: Ewald, François; Waldenfels, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1991, S. 239.

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daß jene in diese oder diese in jener aufzugehen habe.«111 Hebel spricht im Hinblick auf die Ästhetik bei Foucault vom Herstellen einer Balance: »Vielleicht jedoch wird sich bei genauerer Untersuchung zeigen, daß nur ein ästhetischer Wert es vermag, die Balance zwischen Ordnung und Freiheit zu halten, ohne in Verfestigung von Macht zu Herrschaft und Normierung einerseits oder in eine Entgrenzung ins Chaotische und Inhumane andererseits abzudriften.«112

Die Ästhetik des Spiels, die die Transformation des Subjekts anstrebt, fokussiert den Aspekt der Loslösung, den der Selbstformierung und den Umgang mit dem Anderen insbesondere ausgehend vom Gedanken der Gouvernementalität, der neben dem Führen anderer auch die Kunst des Regierens des Selbst umfasst. Foucault formuliert einen Appell an uns, uns der Aufgabe der individuellen Lebensgestaltung im Sinne des Kantischen Ethos der Kritik zu stellen und dabei sowohl uns selbst zu formen als auch unserer mitmenschlichen und politischen Verantwortung gerecht zu werden. »Ja, denn was ist Ethik anderes als die Praxis der Freiheit, die reflektierte Praxis der Freiheit?«,113 heißt es bei Foucault. Und weiter. »Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.« 114 Sie ist des Weiteren eminent politisch: »Die Freiheit ist also in sich selbst politisch.«115 Foucaults Ethik bzw. Ästhetik erweist sich somit als Pfeiler seiner politischen Konzeption, die eine Gesellschaft anstrebt, die eine größere Autonomie des Selbst ermöglicht. Foucaults Programm der Selbstformierung hat in seiner Offenheit, in seiner Forderung nach Selbstreflexivität und nach der Anwendung von Techniken und Praktiken der Gestaltung des Selbst, in seiner Vorstellung vom Leben als Werk in ästhetischer und ethischer Hinsicht und hinsichtlich seiner Suche nach einer engagierten, kritischen Lebensform der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortlichkeit einen fordernden und anspruchsvollen Charakter.

111 | Seel, Martin: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt (Suhrkamp), 1996, S. 12. 112 | Hebel 1990: 234. 113 | Foucault, Michel: »Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«. In: Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz: Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2007, S. 257. 114 | Ebd. 115 | Foucault 2007: 260.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

2.2.4 Ö konomie , K unst und A ffek t. A ffek tökonomie und deren G renzen im philosophischen K onzep t von M ichel F oucault 116 2.2.4.1 Ökonomie und Affekt bei Foucault Foucaults Interesse an der Ökonomie zieht sich mit größeren Unterbrechungen durch sein Schaffen, so untersucht er schon in seinem Werk Die Ordnung der Dinge das Wissen von den Reichtümern, um zugrundeliegende Episteme des 17. und 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten, und auch in der Geschichte der Gouvernementalität im Band Die Geburt der Biopolitik117 steht die Ökonomie im Fokus seines Denkens. Foucault konstatiert, dass in der liberalen und neoliberalen Regierungspraxis Erfolg oder Misserfolg an Stelle der Frage nach der Legitimität bzw. Illegitimität von Regierung tritt. Beim Liberalismus, dem neuen Typ der Rationalität der Regierungskunst, geht es mit dem Aufkommen der politischen Ökonomie um die Beschränkung bzw. maximale Begrenzung des Regierungshandelns und der Regierungspraktiken in einem minimalen Staat – Foucault spricht von einem begrenzenden Prinzip118 – zur Herstellung eines freien Marktes, der nach dem Prinzip des freien Wettbewerbs bzw. der Konkurrenz die Wahrheit der Preise verbürgt, was zu einer wechselseitigen Bereicherung führt.119 116 | Dieses Kapitel wurde nur unwesentlich verändert auf engisch veröffentlicht: Rainsborough, Marita: »Economy, art and emotion. Emotional economy and its boundaries in the philosophical concept of Michel Foucault«. In: Justo, José Miranda; Lima, Paulo Alexandre; Silva, Fernando M. F. (Hg.): Experimentation and Dissidence: From Heidegger to Badiou. Lissabon (CFUL), 2018. 117 | Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik: Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2004b. 118 | Vgl. Foucault 2004b: 42. An anderer Stelle spricht Foucault von einem »regulativen Prinzip einer genügsamen Regierung«. (Ebd.) 119 | Foucault weist auf die kollektive Bereicherung Europas hin. (Vgl. Foucault 2004b: 85) Er sagt weiter: »Diese Idee eines europäischen Fortschritts ist, glaube ich, ein grundlegendes Thema im Liberalismus, das, wie Sie sehen, die Themen des europäischen Gleichgewichts völlig umstürzt«. (Foucault 2004b: 85) Folge des freien Marktes als Regierungsprinzip ist nach Foucault des Weiteren eine Ausdehnung des Marktes, ein Weltmarkt und schließlich die Globalisierung. (Vgl. Foucault 2004b: 86) »Ich meine nur, daß sich Europa zum ersten Mal als Wirtschaftseinheit, als Wirtschaftssubjekt der Welt präsentiert oder sich die Welt so vorstellt, daß sie ihr Wirtschaftsgebiet sein kann und sein soll. Mir scheint, daß Europa sich zum ersten Mal selbst so sieht, als müsse es die Welt als unbegrenzten Markt haben. Europa ist nicht mehr einfach nur in einem Zustand der Begehrlichkeit gegenüber allen Reichtümern der Welt, die in seinen Träumen oder

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Foucault heute »Mit anderen Worten, der natürliche Mechanismus des Marktes und die Bildung eines natürlichen Preises werden gestatten – wenn man von ihnen ausgehend die Regierungshandlungen, die ergriffenen Maßnahmen, die erlassenen Regeln betrachtet –, die Regierungspraxis zu falsifizieren und zu verifizieren.«120

Und weiter: »Der Markt wird bestimmen, daß die gute Regierung nicht einfach mehr nur eine gerechte Regierung ist. Der Markt wird bestimmen, daß die Regierung sich jetzt nach der Wahrheit richten muß, um eine gute Regierung sein zu können.«121 Er bezeichnet den Markt als ›Prinzip der Veridiktion‹.122 Die Aufgabe des öffentlichen Rechts stellt sich unter diesen Bedingungen folgendermaßen dar: »Wie lassen sich der Ausübung öffentlicher Macht juristische Grenzen setzen?«123 Die damit verbundenen Verschiebungen finden in zwei Richtungen statt, zum einen auf der Basis des natürlichen Rechts ausgehend vom Grundgedanken der Nicht-Übertragbarkeit bestimmter Rechte im Sinne der Menschenrechte, Foucault nennt dies den revolutionären Weg, der eine Kontinuität zum Denken der Theoretiker des Naturrechts bedeutet, und zum anderen vom Prinzip der Nützlichkeit, der radikale Weg. »Die Grenze der Regierungskompetenz wird durch die Grenzen der Nützlichkeit einer Regierungsintervention bestimmt werden.«124 Foucault stellt in diesem Zusammenhang fest: »Der Utilitarismus ist eine Regierungstechnik«.125 Daraus folgen auch zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe: Freiheit als Ausübung von Grundrechten und Freiheit als Unabhängigkeit der Regierten gegenüber den Regierenden.126 Die sich daraus ergebenden Systeme sind heterogen und Wahrnehmungen verlockend aussehen.« (Foucault 2004b: 86) Er fährt fort: »Einerseits werden nämlich Europa und die Europäer die Spieler sein, und die Welt der Einsatz sein. Das Spiel findet in Europa statt, aber der Einsatz ist die Welt.« (Foucault 2004b: 87) Foucault glaubt hier weder den Anfang des Kolonialismus zu sehen, der schon früher anzusetzen ist, noch des Imperialismus, der erst im 19. Jahrhundert beginnt: »Wir können jedoch sagen, daß wir hier den Beginn eines neuen Typs von planerischem Kalkül in der europäischen Regierungspraxis vor uns haben. Ich glaube, daß man für dieses Erscheinen einer neuen Form der weltumspannenden Rationalität, für dieses Auftreten eines neuen Kalküls mit globalen Dimensionen viele Anzeichen finden kann.« (Ebd.) 120 | Foucault 2004b: 55. 121 | Foucault 2004b: 56. 122 | Vgl. Foucault 2004b: 57. Der Markt war zuvor ›ein Markt der Rechtsprechung‹. (Vgl. Foucault 2004b: 58) 123 | Foucault 2004b: 65. 124 | Foucault 2004b: 67. Und weiter. »Man stellt einer Regierung […] die Frage: Ist das nützlich, in welchen Grenzen ist es nützlich, aufgrund von was wird es schädlich?« (Ebd.) 125 | Foucault 2004b: 68. 126 | Vgl. Foucault 2004b: 69.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

diskrepant und führen zu einer Ambiguität des europäischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, dadurch dass die Logik der Strategie die Logik der Verknüpfung des Heterogenen erfordert.127 Dabei zeigt sich, dass der radikale Weg stärker als der revolutionäre der Menschenrechte war und sich in einem größeren Maße durchgesetzt hat: »Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist man in ein Zeitalter eingetreten, wo das Problem der Nützlichkeit immer mehr alle traditionellen Probleme des Rechts abdeckt.«128 Foucault bestimmt Tausch und Nützlichkeit als die beiden Ankerpunkte der liberalen Regierungstechnik: »Tausch im Hinblick auf die Güter, Nützlichkeit im Hinblick auf die öffentliche Gewalt: auf diese Weise artikuliert die gouvernementale Vernunft die Grundprinzipien ihrer Selbstbegrenzung, die zu einem minimalen Staat führen. Tausch auf der einen Seite, Nützlichkeit auf der anderen.«129 Und weiter: »Die Regierung interessiert sich nur für die Interessen.«130 Foucault konstatiert, »daß die Begrenzung ihrer Macht sich nicht aufgrund des Respekts vor der Freiheit der Individuen vollzieht, sondern einfach durch die Gewißheit der Wirtschaftsanalyse«.131 Neben der Herstellung von Freiheit geht es bei dieser Form der Gouvernementalität gleichzeitig auch um deren Begrenzung. Das Problem der Sicherheit ist eng mit der liberalen Regierungskunst verbunden: Schutz der individuellen Interessen als auch Schutz der kollektiven Interessen vor individuellen, so dass es zu einem »Wechselspiel der Freiheit und Sicherheit«132 kommt. Diese Tendenzen verstärken sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch, so dass das Sicherheitsdispositiv zu einem der wichtigsten gesellschaftliche Strukturierungen aufschlüsselnden Phänomen avanciert, Momente, die Foucault in seinem Werk Sicherheit, Territorium, Bevölkerung 133 analysiert. In diesem Zusammenhang entstehe im 19. Jahrhundert eine ›Kultur der Gefahr‹, die in einer ›Invasion alltäglicher Gefahren‹ und einer ›Aufstachelung der 127 | Vgl. Foucault 2004b: 69f. 128 | Foucault 2004b: 72. 129 | Foucault 2004b: 73. Weiter heißt es: »Die Regierung, jedenfalls die Regierung, die sich diese neue gouvernementale Vernunft zu eigen macht, ist etwas, das mit Interessen umgeht.« (Ebd.) 130 | Foucault 2004b: 74. 131 | Foucault 2004b: 95. 132 | Foucault 2004b: 100. Weiter heißt es: »Die zweite Konsequenz dieses Liberalismus und dieser liberalen Regierungskunst ist natürlich die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung, des Zwangs, die das Gegenstück und Gegengewicht der Freiheit bilden.« (Foucault 2004b: 102) 133 | Foucault, Michel: Die Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung: Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2004a.

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Angst vor der Gefahr‹ bestünde.134 Hierfür lässt sich u.a. das Entstehen des Genres der Kriminalgeschichte als literarisches Beispiel anführen. Deutlich wird dabei, dass Formen des Regierens die Subjektweise in je spezifischer Weise auch hinsichtlich ihrer Emotionalität und Affektivität konstituieren, wie z.B. beim Gefühl der Angst, bei Bedrohung und Unsicherheit. Die aufgeführten Charakteristika verstärken sich im Neoliberalismus noch und weiten sich aus: »Neoliberalism, according to Foucault, extends the process of making economic activity a general matrix of social and political relations, but it takes as its focus not exchange but competition (Foucault, 2008: 12). What the two forms of liberalism, the ›classical‹ and ›neo‹ share, according to Foucault, is a general idea of ›homo economicus‹, that is, the way in which they place a particular ›anthropology‹ of man as an economic subject at the basis of politics.«135

Das neoliberale Subjekt ist als homo oeconomicus auf Konkurrenz ausgerichtet und wird zunehmend zum Unternehmer seiner selbst. »As neoliberalism takes root as a widespread cultural discourse, the market-centric economic calculation – and all its attendant profit-seeking epistemologies and individualistic social ontologies – becomes the mode of rationality for self-reflection and the barometer for individual success.«136 Die Subjektweise des Neoliberalismus bezeichnet Foucault als ›subject of interests‹. »Foucault caracterizes these ›interests‹ as the bedrock for all decisions: ›[the] principle of an irreducible, non-transferable, atomistic individual choice which is unconditionally referred to the subject himself‹ (C-BB, 272). Interests are those irrational and sometimes ineffable connections, whether positive or negative, that we have to expe134 | Vgl. Foucault 2004a: 101f. Foucault erwähnt in diesem Zusammenhang die Entstehung von Kriminalromanen. Weiter heißt es bei Foucault: »Es gibt keinen Liberalismus ohne die Kultur der Gefahr.« (Foucault 2004b: 102) 135 | Binkley/Capetillo 2009: 4. 136 | Winnubst, Shannon: »The missing Link: Homo Economicus (Reading Foucault and Bataille Together)«. In: Falzon, Christopher; 0‘Leary, Timothy; Sawicki, Jana (Hg.): A Companion to Foucault. Malden, Oxford, Chichester (Wiley-Blackwell), 2013, S. 466. Und weiter: »The fundamental values of work and utility that are sanctified in the infamous Protestant work ethic are thus fading from prominence in the contempory milieu of neoliberalism. While we may still express allegiance to them, particularly, as in the US, as well-worn vehicles for xenophobic nationalism, we reserve our true admiration for those who achieve economic success with the smallest effort or labor: the great entrepreneurial innovation is great precisely because it grants success with minimal effort. ›Maximize interest, minimize labor!‹ This becomes the slogan of these neoliberal times‹.« (Ebd.)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie rience; they are the reasons we care about things; they are what psychoanalysis calls cathexes.«137

Diese Wahl steht in Zusammenhang mit der angestrebten Selbstoptimierung: »In the social rationality of neoliberalism, these ›interests‹ are unhinged from fulfilling any need or lack or desire: they are detached from any register of evaluation other than that of endless self-enhancement.«138 Der Neoliberalismus verbindet sich auch mit dem Exzess: »too much is never enough«.139 Bei Winnubst heißt es dazu: »It lays claim to excess as its central social value – and thus kills it.«140 Und weiter: »it also tells us the truth of neoliberalism: the excess is not, finally, what it claims to be. Indeed, as both Bataille and Foucault see so lucidly, forms of human living in the twentieth century know nothing of real pleasure, nothing of jouissance.«141 Das Wuchern der Affekte hat keinen befreienden Charakter, sondern bindet das Subjekt an bestehende Machtverhältnisse des Regiertwerdens. Für Foucault leitet sich u.a. aus diesen Beobachtungen das Konzept der Ästhetik bzw. Ethik des Selbst ab, in dem die Formung des Selbst durch das Selbst thematisiert wird, um der Ökonomisierung des Selbst im Subjektivierungsprozess entgegenzutreten. »Particularly in the rise of the neoliberalism that we are currently witnessing across the globe, this examination of economics is central to the shared Bataillean-Foucauldian projects of rethinking the possibilities for living meaningful lives – of rethinking ethics.«142 Hierfür ist die Beschäftigung mit dem Ökonomischen in seinen verschiedenen Dimensionen unerlässlich.

2.2.4.2 G renzen der Affektökonomie bei Foucault Foucault versteht den Begriff Ökonomie zum einen im engeren Sinne als Lehre vom Reichtum bzw. als Wirtschaft und zum anderen als Machtverhältnisse charakterisierender Vergesellschaftungsmodus, der insbesondere Disziplinierung, Normalisierung und Sexualisierung umfasst, Momente des Regiertwerdens des Subjekts. Nach Foucault ist sowohl von der ›Macht der Ökonomie‹ als auch von der ›Ökonomie der Macht‹ auszugehen, wobei ein »dezentrales Verständnis von Ökonomie und von Macht«143 vorliegt, eine »Mikro-Makro137 | Ebd. 138 | Winnubst 2013: 467. 139 | Ebd. 140 | Ebd. 141 | Ebd. 142 | Winnubst 2013: 468. 143 | Krämer, Thomas: Die Ökonomie der Macht: Zum Ökonomiebegriff in Michel Foucaults Spätwerk (1975-1979). Marburg (Tectum), 2011, S. 13.

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Ökonomik der Macht«.144 Es lässt sich von einer »Dezentrierung der Ökonomie«145 und gleichzeitig auch von einer Dezentralisierung des Machtbegriffs sprechen, der Macht produktiv versteht, wobei sie nach dem Prinzip der Rationalität kalkulierend bzw. ökonomisch verfährt.146 Bei Krämer heißt es: »Damit dezentriert und ›entthronisiert‹ er den Ökonomiebegriff und stellt ihn in das komplexe Feld von Kräfteverhältnissen.«147 Er stellt fest: »Mit der Annahme der ›politischen Ökonomie des Körpers‹ erhält der Ökonomiebegriff bei Foucault die entscheidende Erweiterung um die Dimensionen der Disziplinierung und der Normalisierung. […] Er ›entthronisiert‹ die Ökonomie gewissermaßen, indem er sie aus ihrem bisherigen mit Arbeit, Warenproduktion und Marktgeschehen verbundenen Bedeutungsrahmen herauslöst und in das politisch brisante Feld von komplexen sozialen Kräfteverhältnissen stellt. […] Damit richtet sich Foucault gleichzeitig gegen eine zentralistische Auffassung einer kapitalistisch-ökonomischen Totalität als transzendente und ewig gültige Entität.«148

Und weiter: »›[D]ie kapitalistische Ökonomie‹ [ist] selbst etwas sozial Konstruiertes und ›Gewordenes‹ […], wobei sie dennoch ein neues Feld der Rationalität und des operativen Zugriffs politischer Intervention zu eröffnen vermag.«149 Formen der Gouvernementalität und der Prozesse der Subjektivierung stehen hierbei zunehmend im Fokus des Interesses von Foucault, die gleichermaßen die Konstituierung der Affektivität betreffen. »An der Domestizierung der Leidenschaften zeigt sich, daß schon die frühliberalen Entwürfe vorrangig auf die Formierung des Subjekts zielen. Das Subjekt erfährt einen Rationalisierungsschub.«150 Weiter heißt es: »Die erste wesentliche Neuerung des Neo144 | Ebd. 145 | Krämer 2011: 21. Krämer rekurriert hier auf William Walters. 146 | Aus machtstrategischer Perspektive können sich Verfahren auch als ›unökonomisch‹ erweisen. So kann durchaus auch von einer Effizienzsteigerung in Bezug auf die Anwendung von Machtstrategien gesprochen werden: »Die politische Ökonomie des Körpers versucht mittels der Mikrophysik der Macht und der politischen Anatomie dieses Verhältnis von Input und Output zu optimieren und zu rationalisieren.« (Krämer 2011: 37) Dabei ist von historisch unterschiedlichen Rationalitätstypen auszugehen. (Vgl. Krämer 2011: 99) 147 | Krämer 2011: 77. 148 | Krämer 2011: 20. 149 | Krämer 2011: 56. 150 | Michalitsch, Gabriele: Die neoliberale Domestizierung des Subjekts: Von den Leidenschaften zum Kalkül. Frankfurt, New York (Campus), 2006, S. 63. An anderer Stelle heißt es: »Die frühliberale Domestizierung der Leidenschaften zu Interessen wird nun zur reduzierten Abwägung von Kosten und Nutzen weiterentwickelt. Rationalität be-

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liberalismus besteht in der Entgrenzung des Marktes, die nicht nur den Staat, sondern auch das Subjekt erfasst.«151 Und: »Dieser frühe auf die Formierung von Subjektivität zielende Entwurf der Domestizierung der Leidenschaften wird im neoliberalen Kontext radikalisiert. Vernunft wird zum Kalkül reduziert. Leidenschaften – Zeichen des Unberechenbaren, Wider-Vernünftigen – werden nicht nur zu Interessen gezähmt, sondern gänzlich ausgeschaltet, denn Marktkalkül bestimmt wie sämtliche Lebensbereiche auch das Selbst-Verhältnis.«152

Andererseits wird Leidenschaft in wuchernder Weise zur Ware. Neoliberales Regieren präsentiert sich dabei als »eine freiheitsstiftende Form der Machtausübung.«153 Diesem Gewordensein des Subjekts stellt Foucault den Aspekt der Selbstformung mittels der Anwendung von Selbsttechnologien zur Seite. Das Konzept der Gouvernementalität erlaubt ihm ein Zusammendenken dieser Aspekte, so dass neben dem Regiertwerden zunehmend das Regieren seiner selbst, die Selbstführung, zum zentralen Gesichtspunkt der Philosophie

deutet nun am Markt orientiertes, nutzenmaximierendes Kalkül.« (Michalitsch 2006: 66) Und: »Das Kalkül bestimmt nun auch das Selbst-Verhältnis. Die Leidenschaften scheinen ausgelöscht, an ihre Stelle tritt die kalkulierte, im Hinblick auf ihre Marktfähigkeit simulierte Leidenschaft als Ware. Damit findet der Prozeß der Domestizierung in der Simulation ein vorläufiges Ende. Die Ökonomisierung des Sozialen mündet in die ökonomisierte Formierung von Subjektivität.« (Michalitsch 2006: 98) Und weiter: »Der Zugriff auf das Individuum erfolgt auf kognitiver, emotionaler und sozialer Ebene.« (Michalitsch 2006: 100) Die emotiven Auswirkungen beschreibt die Autorin mit folgenden Worten: »In emotionaler Hinsicht können Zusammenhänge von negativer Befindlichkeit und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht hergestellt werden. Verunsicherung, Zukunftsangst, Gleichgültigkeit und Resignation sind die Folge und führen zur Rücknahme von Emotionen oder verstärkter Aggressivität, die sich im Sozialen als Ausgrenzung, Konkurrenz und Entsolidarisierung manifestieren. (Vgl. Gerlach 2001, 173ff.).« (Ebd.) Und weiter heißt es bei ihr: »Selbstentfremdende Identifikationen, Entpolitisierung und Privatisierung individueller Existenz, Resignation, Gleichgültigkeit – insbesondere gegenüber Demokratie –, Entwicklung der als unbeeinflußbar wahrgenommenen Lebensrealität und Enthistorisierung gesellschaftlichen und individuellen Bewußtseins sind die Folge, stellen jedoch die Produktion verwertungsgerechten Humankapitals sicher.« (Ebd.) Und: »Erst diese Domestizierung der Leidenschaften erlaubt letztlich die Autonomisierung der Ökonomie.« (Michalitsch 2006: 148) 151 | Michalitsch 2006: 93. 152 | Michalitsch 2006: 149. 153 | Krämer 2011: 116.

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Foucaults avanciert.154 Der Aspekt der Selbstkonstitution tritt gleichbedeutend neben den der Fremdkonstitution des Subjekts: Ethik und Ästhetik treten in den Vordergrund. Hier werden die Grenzen der Affektökonomie im philosophischen Konzept Foucaults im Weiteren deutlich markiert. Kunst weist in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung auf.

2.2.4.3 A ffekt, Literatur und Kunst bei Michel Foucault Literatur zeigt im Gemurmel der Sprache eine Nähe zum Wahnsinn, der das Andere der Vernunft darstellt. Die Andersartigkeit der Literatur, die ihre Spezifität ausmacht, lässt Literatur zum Gegendiskurs werden. Literatur und Philosophie erweisen sich somit als Partner im Denken. Die Beschäftigung mit Literatur nimmt bei Foucault ihren Ausgangspunkt in der Sprachontologie, der Selbstreferentialität von Sprache, die er ausgehend von der Literatur Raymond Roussels aufzeigt, und deren Potential zur Überschreitung. Foucault rekurriert in diesem Zusammenhang auf Bataille, de Sade, Artaud, Blanchot etc., jeweils in spezifischer Hinsicht. Welche Bedeutung, welche Funktion und welche Position im Gesamtzusammenhang seiner Philosophie ergeben sich für die Literatur? Welcher Zusammenhang zwischen Affekt und Literatur lässt sich dabei konstatieren? Als Fokus seiner Ausführungen zu den unterschiedlichen Literaten erweist sich das Begehren in den fiktionalen Darstellungen von Literatur. Während es bei de Sade in seiner Überschreitung die Machtform Disziplinierung narrativ aufscheinen lässt, findet sich bei Bataille ein Begehren zur Selbstüberschreitung als Form der Ekstase in der sexuellen Erfahrung wie im Tod, bei Artaud steht das Gefühl von Körperlichkeit im Mittelpunkt, das an die Ausdrucksmöglichkeit des Körpers gebunden ist und im Schrei kulminiert, und bei Klossowski ein sexuell-mythisches Erleben. Literatur bewegt sich nach Blanchot auf den äußersten Punkt zu und stellt die Möglichkeit der Erfahrung von Unmöglichkeit dar, literarische Sprache verkörpert Widersprüchlichkeit, Unverständnis und Ungewissheit. Blanchots Raum der Literatur ist ein Raum der ›Enteignung‹ des Ich. Im Bereich der Visuellen Kunst nennt Foucault in entsprechender Weise die Kunst von Bosch und Goya. So sind Literatur und Kunst als Bereiche der ›Erfahrung des Draußen‹ anzusehen und ermöglichen damit Grenzerfahrungen – auch im Bereich des ver-rückten Sinns, des Wahnsinns. Das mit ihm verbundene Wissen ist nach Foucault bereits in den Meditationen von Descartes aus dem neuzeitlichen Denken ausgeschlossen worden. Deutlich wird in den verschiedenen Konzeptionen von Literatur bei Foucault zum einen die Möglichkeit zu anderen, neuen und ex154 | Bei Krämer heißt es: »Foucaults Analyse der Transformationsprozesse in unserer abendländischen Episteme zeigte, dass weder Freiheit noch Herrschaft unveränderliche Entitäten sind.« (Krämer 2011: 129)

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

zessiven Formen der Affektivität im Literarischen, zum anderen aber auch zur affektiven Subjektkonstitution durch involvierte Quasi-Diskurse, die eine Formung und Regulation der Gefühle mit sich bringt, die die Regierbarkeit des Subjekts stützen. Die moderne Kunst155 in ihren unterschiedlichen Bereichen wie Literatur und Malerei ist nach Foucault »Träger des Kynismus«, ein »Kynismus der Kultur, der sich gegen sich selbst wendet«,156 und wird damit als »Träger jenes Prinzips der Korrespondenz zwischen Lebensstil und Offenbarung der Wahrheit«157 in seine Analyse der Parrhesia eingebettet. Es geht darum, »das Elementare der Existenz zu entblößen, zu entlarven, freizulegen, auszugraben und gewaltsam zu ihm zurückzuführen.«158 Bei Foucault heißt es in diesem Zusammenhang: »Es gibt einen Anti-Platonismus der modernen Kunst, der Manets großer Skandal gewesen ist und der, ohne gegenwärtig jede mögliche Kunst zu charakterisieren, meines Erachtens eine tiefe Tendenz bildete, die Sie von Manet bis zu Francis Bacon, von Baudelaire bis zu Samuel Beckett oder Burroughs finden. Anti-Platonismus: Die Kunst als Einbruchsort des Elementaren, als Entblößung der Existenz.«159

Foucault stellt fest: »Gerade dadurch begründet die Kunst gegenüber der Kultur, den gesellschaftlichen Normen, den ästhetischen Werten und Kanons eine polemische Beziehung der Reduktion, der Verweigerung und Aggression.«160 Und weiter: »Auch wenn es nicht ausschließlich in der Kunst geschieht, so konzentrieren sich doch in der modernen Welt, vor allem in unserer Welt, in der Kunst die intensivsten Formen eines Wahrsprechens, das den Mut hat, das Risiko der Verletzung einzugehen.«161 ›Aggression‹ und ›Verletzbarkeit‹ wei155 | Foucault rekurriert hier insbesondere auf Künstler der klassischen Moderne wie Manet, Klee und Kandinsky. Mit der Analyse ihrer Kunst zeigt Foucault Brüche im Visuellen auf, in denen Unsichtbares sichtbar gemacht wird. Auch im Visuellen lassen sich mit dem Wechsel der Episteme bzw. Diskursregeln vergleichbare Phänomene beobachten. Dabei möchte Foucault diesem Bereich seine Eigenständigkeit lassen und ordnet ihn nicht in den Bereich des Unsagbaren ein. Magritte zieht Foucault bezüglich der Frage nach der Repräsentation von Kunst heran. 156 | Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit: Die Regierung des Selbst und der anderen II. Berlin (Suhrkamp), 2010b, S. 249. 157 | Foucault 2010b: 246. 158 | Foucault 2010b: 247. 159 | Foucault 2010b: 248. Des Weiteren spricht Foucault gleichermaßen von einem Anti-Aristotelismus der modernen Kunst. 160 | Ebd. 161 | Foucault 2010b: 249.

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sen auf eine im künstlerischen Wahrsprechen mobilisierte Emotionalität im Schaffens- wie im Rezeptionsprozess hin, die in existentieller Weise mit einer experimentellen Kritik verbunden wird und ein Auf brechen der Ökonomie der Affekte ermöglicht. Die These von der Parrhesia der modernen Kunst lässt sich als Wiederaufnahme und inhaltliche Zuspitzung von Foucaults Überlegungen zur Ontologie der Sprache und seinem Konzept von Literatur als Gegendiskurs verstehen. Kunst wird in diesem Kontext verstärkt zu einer besonderen Form des Wahrsprechens. Auch an dieser Stelle zeigt sich Foucaults Tendenz zur Wiederaufnahme eines inhaltlichen Fadens in einer prozessualen, erweiternden, verschiebenden, in größere Zusammenhänge einbettenden und präzisierenden Weise. Die Ontologie der Sprache wird bei ihm immer mehr in die Ontologie des Subjekts integriert. Moderne Literatur und Kunst als Form des Wahrsprechens verbindet die künstlerische Existenz, das Kreieren von Kunst und den Mut des Alles-Sagens im Sinne von Kritik und nimmt Foucaults Konzeption von Kunst als Gegendiskurs im Rahmen seiner subjekttheoretischen Überlegungen in der Verschiebung als Serie von Selbstpraktiken wieder auf, ohne Kunst in ihrer Funktion festschreiben zu wollen. Auch in der genealogischen Untersuchung der mit dem Wahrsprechen verbundenen Subjektivierungsformen im Rahmen der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst zeigt sich die methodologische Prämisse des historischen Apriori im Kontext eines Nexus von Wissen, Macht und Subjekt. In Bezug auf die Fotographie von Duane Michals betont Foucault die Bedeutung von Denken und Fühlen im Rezeptionsprozess von Visueller Kunst. Kunst soll nach Foucault Erfahrungen und das Vordringen in neue Erfahrungsbereiche ermöglichen. So heißt es bei ihm: »Die Zeit mag Veränderungen, Alter und Tod bringen, doch Denken und Fühlen sind stärker als sie. Nur sie vermögen ihre unsichtbaren Falten zu sehen und sichtbar zu machen.«162 Und weiter: »Er [gemeint ist Duane Michals] lädt ihn ein, die unbestimmte Rolle eines Lesers oder Betrachters zu übernehmen, und legt ihm Gedanken oder Gefühle nahe (denn die Gefühle bewegen die Seele und verbreiten sich spontan von Seele zu Seele).«163 In diesem Prozess soll Unsichtbares sichtbar werden. Foucault betont neben der Bedeutung von Denken deutlich das Fühlen als erkenntniserweiternde Dimension in der Produktion und Rezeption von Kunst. Im künstlerischen Erleben geht es unter besonderer Berücksichtigung von Empfindung, Gefühl und Affekt um die Transformation des Subjekts. In Bezug auf den Film fokussiert Foucault insbesondere das affektiv-körperliche Erleben, das Gesehene wird Teil unseres Körpers. Dies führt auch zu einem 162 | Foucault, Michel: »Denken, Fühlen«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 302. 163 | Foucault 2005a: 300.

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spezifischen Geschichtserleben, das über Wissen hinausgeht.164 Die besondere Wirkung des Films auf den menschlichen Körper im Rezeptionsprozess, die durch seinen Anwesenheitsmodus hervorgerufen wird, betrifft den Menschen in seinem Weltbezug in umfassender Weise und hat darüberhinaus eine handlungstheoretische Dimension. Wichtig ist auch der Bezug zum Träumerischen und Möglichen, so dass bei Foucault insgesamt von einer subjektbildenden Funktion des Films – verbunden mit einer subjektverändernden Wirkung – ausgegangen werden kann. Auch bei der Betrachtung einzelner künstlerischer Medien wird demnach der enge Zusammenhang zwischen Kunst, Körperlichkeit und Affektbildung bei Foucault deutlich. Foucault präferiert die Begriffe Affekt und Affektivität als Überbegriff für verschiedene Gefühlsarten und -intensitäten.165 Er bietet zwar keine Theorie der Gefühle im engeren Sinne, doch Affektivität ist in seinem philosophischen Konzept von entscheidender Bedeutung. Subjektwerdung und die Konstruktion von Emotionalität sind in einem engen Zusammenhang zu sehen und stehen in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext. Affekte implementieren Subjektpositionen im Zusammenhang mit der Anwendung von Machtpraktiken insbesondere in institutionellen Zusammenhängen und verankern sie im Körper des Einzelnen.166 Gefühle unterliegen einer ständigen ›Beschwichtigungsarbeit‹, wie es Foucault am Beispiel des Zorns und des Ressentiments deutlich macht. Hinsichtlich der Begierde spricht er von »the normalisation and domestication of pleasure«.167 Dennoch bleibt mit den Affekten ein Potential zum Widerstand verbunden, das von Foucault insbesondere mit der Selbstformierung von Affektivität durch die Selbsttechnologien – u.a. auch des Lesens und Schreibens – im Rahmen seiner Ethik bzw. Ästhetik des Selbst in Verbindung gebracht wird. Affekte sind demnach trotz ihrer Tendenz 164 | Bei Foucault heißt es: »[U]nd sie [gemeint ist die im Film gesehene Großmutter] ist nicht Teil von dem, was wir wissen, sondern Teil von unserem Körper, unserer Art zu handeln, zu tun, zu denken, zu träumen, und plötzlich haben wir diese kleinen rätselhaften Edelsteine, die in uns waren, vom Sand befreit.« In: Foucault, Michel: »Die Rückkehr des Pierre Rivière«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits III: 1976-1979. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2003b, S. 161. Und weiter: »Man kann dem Kino nicht die Frage nach dem Wissen stellen, es stünde ganz und gar auf verlorenem Posten.« (Ebd.) 165 | Mit dieser Präferenz steht Foucault in der philosophischen Tradition von der Antike bis zum 17. Jahrhundert. Siehe dazu Hübsch, Stefan: »Vom Affekt zum Gefühl«. In: Hübsch, Stefan; Kaegi, Dominic (Hg.): Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Heidelberg (Universitätsverlag C. Winter), 1999, S. 137-150. 166 | Foucault, Michel: »Pouvoir et corps«. In: Foucault, Michel: Dits et écrits I. D. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Paris (Quarto Gallimard), 2001b, S. 1622-1628. 167 | Winnubst 2013: 467.

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zum Festgelegtsein veränderbar und fähig zur Elaborierung. Ein Beispiel für diese Selbstformung im Sinne einer Entsubjektivierung und Entunterwerfung findet sich in Baudelaires Dandytum als Form der Stilisierung des Selbst im Lebensweltlichen wie im Literarischen. Affektivität wird von Foucault demnach als konstituiert verstanden und unterliegt der diskursiven und dispositiven Formung wie auch gleichzeitig einer möglichen Selbstformung. Dies gilt gleichermaßen für den Zusammenhang von Affektformung und Ökonomie. Affektökonomie ist somit zwar auch im Bereich Literatur und visueller Kunst anzutreffen, allerdings kann Bildende Kunst darüber hinaus als ein besonderer Bereich der Grenzen der Affektökonomie angesehen werden – als ein Bereich, der die Überschreitung von Grenzen und die Transformation des Subjekts ermöglicht. Insgesamt lässt sich von einem »gegenwartsdiagnostischen Potential der Foucault’schen Gouvernementalitätsstudien«168 sprechen. Foucault verbindet den Begriff Ökonomie stets »mit Formen der politischen Rationalität von Praktiken« und untersucht »Felder der Rationalität der Machtausübung«,169 wobei die besondere Rationalität des Neoliberalismus die Form des Wucherns der Affekte annimmt. Die Metapher der Affektökonomie bezieht sich auf Subjektwerdungsprozesse z.B. durch Disziplinierung und Biopolitik, in die auch die Bildung von Empfindungen, Stimmungen, Gefühlen und Affekten involviert sind. Die Formung des Subjekts durch mikro- und makrophysische Machtformen lässt das Subjekt u.a. durch die involvierten Affektbildungsprozesse als heteronom bestimmt erscheinen. Auch Literatur und Visuelle Kunst in ihrer diskursiven bzw. quasi-diskursiven Verfasstheit leisten in diesem Kontext einen Beitrag zur Ökonomie des Affekts und zur Ökonomie der Affektbildung. Die diskursive und dispositive Konstitution des Subjekts erfolgt auch durch Quasidiskurse in Literatur und Visueller Kunst und durch Kulturdispositive, andererseits setzen diese Bereiche aber in hohem Maße auch Möglichkeiten der Lösung aus Affektökonomien und zu deren Umbildung frei. Kunst wird bei Foucault sogar zum Maßstab der Lebensführung und zum Modell eines freiheitlich-selbstbestimmten Lebens in ethischer Verantwortung. Die Betrachtung von Literatur und visuellen Künsten steht mit Foucaults ethischästhetischer Auffassung in Zusammenhang, wonach Leben sich am Vorbild der Kunst ausrichten soll. »Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten, nämlich den Künst-

168 | Krämer 2011: 129. 169 | Krämer 2011: 123.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie lern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?«170

In Analogie zur Kunst und unter Rekurs auf sie stilisiert sich das Selbst mit Hilfe der Anwendungen von Selbsttechnologien zu einem autonomen ethischen Subjekt – auch in politischer Hinsicht. Foucault versucht damit einem politischen Desiderat näher zu kommen. Er konstatiert: »›Es gibt eine Wissenschaft des Regierens, aber keine des Nicht-regiert-werden-Wollens.‹«171 Diese gilt es zu entwickeln. Hierfür ist gleichermaßen das Wissen um die Weisen der Affektökonomie wie um deren Grenzen unerlässlich. Kunst und Ästhetik spielen dabei in einer ethisch-politischen Wendung hinsichtlich der Subjektbildung eine herausragende Rolle.

2.2.5 A ffek t. K örper . B egehren . E motionalität bei M ichel F oucault und J udith B utler 2.2.5.1 Subjekt und Affektkonstruktion Die Konstitution des Sujekts ist, wie deutlich wurde, in hohem Maße mit der Konstruktion von Affektivität verbunden. Sie spielt sowohl für die heteronome Formung des Subjekts als auch für die Anwendung von seine Autonomie befördernden Befreiungstechniken, die zu einer Veränderung der Subjektweise führen, eine entscheidende Rolle. Die Begriffe Emotion, Gefühl, Affekt, Stimmung und Empfindung sind nicht immer klar voneinander zu scheiden und werden in bestimmten theoretischen Zusammenhängen unterschiedlich definiert bzw. voneinander abgegrenzt. Entsprechend der gängigen Auffassung haben Gefühle im Unterschied zu Empfindungen in der Regel eine stärkere Subjektivität bzw. Subjektbezogenheit und Empfindungen beziehen sich eher auf die mit dem Aufnehmen von Sinnesdaten bezogenen Zustände. Stimmungen meinen im Unterschied dazu primär dauerhafte Tönungen des menschlichen Lebensgefühls. Emotionen werden im Allgemeinen als Erregungszustände angesehen und Affekte stellen starke Erregungen im Lebensgefühl des Menschen dar. Sie sind vorübergehende heftige Erregungen, die zumeist mit Bewusstseinseinengungen und körperlichen Ausdruckserscheinungen wie z.B. Fäuste ballen, Erröten und Weinen und mit unterschiedlichen Stadien im Verlaufsprozess verbunden sind. Foucault zeigt eine Präferenz für die Begriffe Affekt und Affektivität als Überbegriff für verschiedene Gefühlsarten und 170 | Foucault 2007: 201. 171 | Foucault in Krämer 2011: 121.

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-intensitäten. Er entwickelt zwar keine Theorie der Gefühle im engeren Sinne, doch Affektivität ist in seiner philosophischen Konzeption von entscheidender Bedeutung. Subjektwerdung und die Konstruktion der Emotionalität sind bei Foucault in einem engen Zusammenhang zu sehen und stehen in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext. Die Konstituierung des Subjekts mittels Diskursen in ihrer dispositiven Verfasstheit und mittels machtstrategischer Operationen, die auch eine Konstruktionsleistung des Einzelnen darstellt, bezieht sich gleichzeitig auf die Formierung von Affekten und Emotionen, auf deren Veränderbarkeit, auf die Art der Affektregulierung und die Inszenierung von Gefühlen. »Gefühle sind nicht nur ›subjektiv‹, sondern sind auch mitentscheidend für die Konstitution von Subjektivität«.172 Im Prozess der Subjektwerdung ist die Ausformung der Affekte und Gefühle mit angelegt. Sie sind für den Implementierungsprozess, in dem bestimmte in Diskursen angelegte Subjektpositionen im Zusammenhang mit der Anwendung von Machtpraktiken – insbesondere in institutionellen Zusammenhängen, die zumeist auch den Körper des Einzelnen einbeziehen – übernommen werden, verbunden und leisten dessen Verankerung im Individuum. Gleichzeitig bestimmen sie den Umgang mit dem Anderen in hohem Maße, der davon ausgehend abgelehnt, bewundert, mit Begehren, Ekel, Furcht etc. besetzt, missachtet oder glorifiziert wird. Kategorien der Klassifizierung, die das Geschlecht, die Rasse, die Ethnie, den sozialen Status, die Berufszugehörigkeit, das Alter etc. betreffen, sind affektiv besetzt und bekommen so ihre Wichtigkeit für den Einzelnen und über ihn hinaus. Die mit positiven oder negativen Gefühlen aufgeladenen Kategorien sind auch Grundlage der Selbstsicht des Individuums, haben demnach Einfluss auf Selbstachtung, Selbstzweifel oder Selbsthass. Nach Butler ist die Belegung bestimmter Namen, Kategorien etc., die im Prozess der Anrufung akzeptiert oder zurückgewiesen werden, mit der Formung von Emotionen verbunden und führt zur Etablierung eines Geflechts von Gefühlen, das mit der Subjektbildung einhergeht und ein bestimmtes Gefühlsmuster schafft, in dem bestimmte Affekte präferiert werden, bestimmte Intensitäten von Emotionen und auch das Zusammenwirken von Gefühlen angelegt sind. Foucault geht davon aus, dass Diskurse Leerstellen für das Subjekt bieten, die von diesem eingenommen werden und mit der Konstituierung von Affektivität verbunden sind. Diskurse sind als eingebettet in Dispositive zu betrachten, so dass Subjektformung und Affektkonstitution gleichzeitig auch durch außersprachliche Praktiken erfolgen. Gerade auf der Basis des Theorems der Affektkonstitution wird der Prozess der Verfestigung oder ggf. der Veränderung bei der Übernahme von Subjektpositionen verständlicher. Die Theorie der Kons172 | Henckmann, Wolfhart: »Über das Verstehen von Gefühlen«. In: Herding, Klaus; Stumpfhaus, Bernhard (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Berlin, New York (De Gruyter), 2004, S. 56.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

titution von Emotion, Affekt und Begehren wie auch von Wahrnehmung und Denken, Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom historischen Apriori, steht bei Foucault – und gleichermaßen bei Butler – in engem Zusammenhang mit der Neufassung des Subjektbegriffs unter besonderer Berücksichtigung des Körpers, in der die Frage der Subjektkonstitution in den Mittelpunkt rückt. An dieser Stelle wird die Besonderheit von Foucaults Interpretation des Kantischen Konzepts von Kritik, Aufklärung und von seinem Theorem der Entunterwerfung in hohem Maße deutlich. Er betont die affektive und körperliche Seite des Prozesses.

2.2.5.2 A ffekt, Körper, Begehren bei Foucault Affekte als primäre Modalitäten des Körpers und Ausdruck seelischer Affiziertheit und körperlich-seelischer Befindlichkeit sind bei Foucault nicht im Sinne einer naturhaften Ausstattung zu verstehen, sondern nehmen spezifische, gesellschaftlich und historisch bestimmte Ausformungen an, insbesondere entsprechend diskursiver Verfasstheiten und Körperpraktiken im Rahmen machtstrategischer Regularien. Der Körper nimmt in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung in seiner Theorie ein. »In reality, bodies are shaped by society: they are used and experienced in many different ways and their characteristics vary according to cultural practices. They are moulded by rhythms of work, eating habits and changing norms of beauty. They are concretely shaped by diet, exercise and medical interventions.«173

Foucault interessiert sich für »the essential intertwinement of body and power« und untersucht »how power operates through the manipulation of bodies«.174 Der Körper ist »an important anchorage point for power.«175 Die Analyse des Verhältnisses von ›body and power‹ ist ein zentraler Fokus seiner Arbeit: »[H]e 173 | Oksala, Johanna: »Freedom and bodies«. In: Taylor, Dianna (Hg.): Michel Foucault: Key Concepts. Durham (Acumen), reprinted 2013, S. 85. Oksala sagt: »[T]he body is completely shaped by history and culture.« (Oksala 2013: 86) Foucault überwindet damit die Dichotomie von Natur und Kultur. Mit seiner Vorstellung über den Zusammenhang von Macht und Körper rekurriert er auf Nietzsche. Zur Untersuchung der historischen Formungen wendet er ausgehend von Nietzsche die Methode der Genealogie an. Weiter heißt es: »Foucault aims to bring the body into focus of history by studying its connections with techniques and deployments of power.« (Ebd.) Obwohl Foucault den Körper als gesellschaftlich-historisch geformt ansieht, betont er die Möglichkeit zur transgressiven Veränderung insbesondere mittels Selbsttechnologien. 174 | Oksala 2013: 87. 175 | Oksala 2013: 92.

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wants to bring the body into focus of history and study history through it.«176 So hat auch das Begehren keine festgelegte Natur, sondern ist als soziohistorisch konstruiert aufzufassen. »Foucault challenges this view by showing how our conceptions and experiences of sexuality are in fact always the result of specific cultural conventions and mechanisms of power and could not exist independently of them.«177 Die Konstitution von Begehrenssubjekten hängt mit dem Denken in Kategorien wie z.B. Mann und Frau, der Vergeschlechtlichung von Verhaltensschemata und deren emotionaler Besetzung und der Koppelung von Emotionen an Sexualpraktiken zusammen. Sexualität wird nach Foucault durch das Sexualitätsdispositiv als begehrenswert konstituiert. Aktuell geht es dabei in seiner Analyse insbesondere um die Ausbeutung der Erotisierung, er spricht von einer ›contrôle-stimulation‹.178 Die Affektlagen haben eine Tendenz zum Festgelegtsein, sind aber auf der anderen Seite durchaus erweiterbar, veränderbar und fähig zur Elaborierung. So kann es u.a. zum Wandel von Intimität und Sexualität kommen.179 Begehren wird in sich verändernden Diskurspraktiken und darüber hinaus durch die Anwendung von Selbsttechnologien konstituiert. Foucault wendet sich gegen die Repressionstheorie der Sexualität, wie sie z.B. von Freud und Marcuse vertreten wird und betont den produktiven Charakter der Formung durch Machtpraktiken. Grundlage ist seine Konzeption des Subjekts, nach der das Subjekt nicht als Substanz, sondern als Form aufgefasst werden muss und sich Subjektformen in gesellschaftlich-historischen Kontexten verschieden ausbilden. »Les hommes s’engagent perpétuellement dans un processus qui, en constituant des objets, le déplace en même temps, le déforme, le transforme et le transfigure comme sujet.«180 Praktiken des Selbst ermöglichen es dem Subjekt, auch sich selbst unter Anwendung historisch variabler Selbsttechnologien zu formen, Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer Ästhetik bzw. Ethik des Selbst. »We constitute ourselves as subjects (we are enabled) by way 176 | Oksala 2013: 87. 177 | Oksala 2013: 90. 178 | Vgl. Foucault 2001b: 1623. 179 | In einer monogamen, heterosexuellen Verfasstheit des Begehrens ist die vorherrschende Gefühlskultur von Eifersucht, Gewalt zwischen den Geschlechtern und devianten Praktiken bestimmt. Das männliche Begehren ist z.B. in der Regel mit dem Wunsch nach Dominanz und Aktivität verbunden, das weibliche nach Unterworfen-Werden und Passivität, was die Gefühle von Individuen massgeblich bestimmt und Einfluss auf Verlangen und Befriedigung hat. Diese Art des Begehrens ist selbstverständlich nicht naturhaft zu verstehen. 180 | Foucault, Michel: »Entretien avec Michel Foucault«. In: Foucault, Michel: Dits et écrits II. D. Defert, Daniel; Ewald, Francois (Hg.), Paris (Quarto Gallimard), 2001c, S. 894.

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of various ›practices of the self‹, which include activities of writing, diet, exercise and truth-telling.«181 Dabei geht es Foucault um Praktiken der Befreiung, die mit dem Körper in Zusammenhang stehen: »In order to illustrate how the body is implicated in resistance and the practices of freedom«.182 In Foucaults Worten: »We must not think that by saying yes to sex, one says no to power; on the contrary, one tracks along the course laid out by the general deployment of sexuality. It is the agency of sex that we must break away from, if we aim – through a tactical reversal of the various mechanisms of sexuality – to counter the grip of power with the claims of bodies, pleasures and knowledges, in their multiplicity and their possibility of resistance. The rallying point for the counterattack against the deployment of sexuality ought not be sex-desire, but bodies and pleasures.«183

Foucault unterscheidet zwischen Lusterfahrungen, die der Körper ermöglicht, und Sexualität im engeren Sinne. »The body represents a dimension of freedom in the sense that its experiences are never wholly reducible to the discursive order.«184 Und weiter: »Bodies are capable of multiplying, distorting and overflowing their discoursive determinants and of opening up new and surprising possibilities that can be articulated in new ways.«185 So sieht Foucault den Körper gleichzeitig als Effekt von Macht und als Quelle von Freiheit: »Foucault’s conception of the body provides fruitful tools for theorizing the body both as an effect of power and as locus of resistance and freedom.«186 Der Körper mit seinen topischen, heterotopischen und utopischen Dimensionen bietet ein Potential zur Befreiung.

181 | Taylor, Dianna: »Practices of the self«. In: Taylor, Dianna (Hg.): Michel Foucault: Key Concepts. Durham (Acumen), reprinted 2013, S 173. Weiter heißt es bei ihr: »We therefore find ourselves confronted with the task of figuring out when and how we are enabled and when and how we are constrained, of determining ways in which existing practices have the potential to loosen constraints and thus resist normalization, and of employing those practices not only for that purpose, but also in order to develop new and different practices – new and different ways of relating to ourselves and others. We need, in other words, to be able to reflect critically on the very process of becoming a subject.« (Ebd.) 182 | Oksala 2013: 86. 183 | Foucault in Oksala 2013: 93. 184 | Oksala 2013: 94. 185 | Ebd. 186 | Oksala 2013: 97.

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2.2.5.3 Affektivität und Verletzbarkeit bei Judith Butler Butler hält diese Position Foucaults für nicht ausreichend begründet und entwickelt eine Theorie der Performanz, in der das transgressive und widerständige Potential des Körpers und des Begehrens und anderer Affekte theoretisch neu fundiert wird. Während bei Foucault das Begehren im Fokus seiner Beschäftigung mit den Affekten steht, erweitert Judith Butler den Blick, indem sie die soziale Produktion von Affektivität im Allgemeinen ausgehend vom Theorem der Anrufung und der These der Verletzbarkeit untersucht. Dabei verbindet sie Foucaults Herangehensweise mit der psychoanalytischen eines Freud und einer Melanie Klein. »We are already social beings, working within elaborate social interpretations both when we feel horror and when we fail to feel it at all. Our affect is never merely our own: affect is from the start, communicated from elsewhere. It disposes us to perceive the world in a certain way, to let certain dimensions of the world in and to resist others.«187

Sie stellt damit einen Zusammenhang von Affektivität und Macht her, denn durch das framing, die Rahmenbildung188 des Wahrnehmbaren, wie sie die sichtbare Seite des Diskursiven bezeichnet, wird ein Innen und Außen konstruiert, was affektregulierend wirkt. Hierbei Foucault’s Konzeption des Innen und Außen aufgreifend betont Butler im Unterschied zu Foucault durch den Begriff der Rahmung Bildlichkeit und Medialität. Butler spricht diesbezüglich auch von Interpretationsrahmen oder Deutungsmuster und kommt hier in die Nähe der kognitivistischen Theorie der Gefühle189 Allerdings geht das Gefühl bei ihr nicht gänzlich in diesem Theorierahmen auf, worauf das einschränkende Adverb ›teilweise‹ hinweist. »Gefühle strukturieren als Teil der Befindlich-

187 | Butler, Judith: Frames of War: When Is Life Grievable? London, New York (Verso), 2010a, S. 50. 188 | »If, as I have argued, norms are enacted through visual and narrative frames, and framing presupposes decisions or practices that leave substantial losses outside the frame, then we have to consider that full inclusion and full exclusion are not the only options. Indeed, there are deaths that are partially eclipsed and partially marked, and that instability may well activate the frame, making the frame itself unstable. So the point would not be to locate what is ›in‹ or ›outside‹ the frame, but what vacillates between those two locations, and what, foreclosed, becomes encrypted in the frame itself.« (Butler 2010a: 75) 189 | »[N]amely, that what we feel is in part conditioned by how we interpret the world around us; that how we interpret what we feel actually can and does alter the feeling itself.« (Butler 2010a: 41)

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keit die Situation [zwar] aus der Perspektive des Subjekts«,190 sind aber gleichzeitig sozial-historisch geformt. Butler interessiert sich dabei insbesondere für den Zusammenhang von Affekt und Moral – moralische Reaktionen äußern sich nach Butler zuerst in Form von Affekten. Die Schranke für die Wahrnehmbarkeit des gefährdeten Lebens soll aufgehoben werden – ein Problem, welches folglich für sie auch eine mediale Seite hat – um jedes Leben als wert anzusehen, betrauert werden zu können, und nicht nur bestimmte Leben. Dabei geht es ihr darum, sich der gegenseitigen Abhängigkeit und Verletzbarkeit bewusst zu werden und den Versuch aufzugeben, sich gegenüber der Verletzbarkeit durch eine spezifische Form der Subjektbildung als souveränes und/oder nationales Subjekt zu immunisieren.191 Bei Wils heißt es zu diesem Aspekt: »Angst vor Gefahr, Verletzung und Schmerz [ist] eine ebenso basale nicht-moralische Emotion […], anhand derer wir ebenso unmittelbar die Verletzbarkeit des anderen wahrnehmen können.«192 Verletzbarkeit kann in Folge moralisch bedeutsam werden. Für Butlers Ethik ist nicht der Prozess der Neutralisierung von Gefühl im Sinne der Bildung einer moralischen Urteilskompetenz entscheidend, sondern die emotionale Komponente der Moral, ein moralisches Empfinden. Wahrnehmungsprozesse spielen auf Grund der Interdependenz von Wahrnehmung und Emotionalität auch mit ihrer medialen Seite eine große Rolle wie auch die mit ihm in Verbindung stehenden Denkstrukturen, die moralische Urteile mitbestimmen. Ihrem Balancemodell in Bezug auf das Verhältnis verschiedener menschlicher Vermögen zueinander entsprechend ist Moral gleichermaßen von Affektivität, Wahrnehmung und Rationalität und deren Interdependenz bestimmt, wobei alle Momente einer gesellschaftlich-historischen Formung193 durch Machtprozesse unterliegen – Normenbildung ist als hierin 190 | Landweer, Hilge: »Normativität, Moral und Gefühle«. In: Landweer, Hilge (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion. Berlin (Akademie), 2007, S. 251. 191 | Bei Butler heißt es dazu: »It cannot be that the other is destructible while I am not; nor vice versa. It can only be that life, conceived as precarious life, is a generalized condition, and that under certain political conditions it becomes radically exacerbated or radically disavowed. This is a schism in which the subject asserts its own righteous deconstructiveness at the same time as it seeks to immunize itself against the thought of its own precariousness.« (Butler 2010a: 48) 192 | Wils, Jean-Pierre: »Emotionen in ethischen Begründungsverfahren«. In: Landweer, Hilge (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion. Berlin (Akademie), 2007, S. 221235. 193 | Wils sagt dazu: »Denn Emotionen sind keineswegs bloß private Zustände. Gerade weil sie über eine repräsentative Funktion verfügen, sind sie gleichsam betroffen von den Veränderungen, die sich in der kulturell geprägten Umwelt vollziehen.« (Wils 2007: 231) Bei Landweer heißt es dazu: »Die Vorstellung, dass Gefühle hochgradig individuell

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eingebunden zu betrachten –, aber auch über ein emanzipatorisches Potential im Prozess ihrer Performativität verfügen. Für Butler haben Emotionen eine welt- und selbsterschließende Funktion. Dies zeigt sich u.a. auch in der Bedeutung von Melancholie im Prozess der Subjektkonstitution, die auf schmerzliche Prozesse der Begrenzung und des Verzichts in der Subjektwerdung hinweist und somit indirekt auf Möglichkeiten und Potentiale. Melancholie als Gestimmtheit ist immer im zwischenmenschlichen Bereich verortet und weist zum einen auf Beziehungsdefizite, aber auch auf Desiderate hin. Emotionalität weist demnach bei Butler eine Orientierungs- und Bewertungsfunktion besonders auch in moralischer Hinsicht auf, sie kann aber durchaus auch destabilisierend wirken. »Die Stabilisierungsfunktion, über die Emotionen offensichtlich verfügen, weil sie repräsentionaler Natur sind, hat gleichzeitig die unerfreuliche Nebenfolge, dass ihre Repräsentationen auch das Einfallstor für kulturell bedingte Destabilisierungen sind.«194 Für Butler haben Gefühle zusätzlich auch motivierenden Charakter, Landweer spricht hinsichtlich dieser Funktion der Gefühle in allgemeiner Hinsicht von einer ›Motivationsthese‹.195 Als zugrundeliegendes Modell von Erkenntnis kristallisiert sich bei Butler die Vorstellung von Wahrnehmung als ›Modus des Erkennens‹ und Intelligibilität als »the general historical schema or schemas that establish domains of the knowable. This would constitute a dynamic field understood, at least initially, as an historical a priori.«196 Hierin rekurriert sie auf Foucaults erkenntnistheoretische Grundannahmen. Diese wandelbaren Schemata erzeugen nach Butler die Normen der Anerkennbarkeit. Butler betont im Unterschied zu Foucault, der von Grenze, Bruch, Passage, Transgression spricht, um den sich verändernden Charakter von Wahrnehmen und Erkennen auf der Basis des historisind, ist eine romantische Idee, die am Charakter von moralischen Gefühlen – um zunächst nur von diesen zu sprechen – vorbeigeht. Eine Rechtskultur wird vor allem durch den großen Bereich der selbstverständlich geteilten rechtlich-moralischen Gefühle zusammengehalten, auch wenn es außerdem in Bezug auf viele einzelne Rechtsfragen höchst unterschiedliche Gefühlsevidenzen und entsprechend verschiedene Normen geben mag.« (Landweer 2007: 244) Landweer spricht von einer ›Kommunikation mit Emotionen‹, die auf eine breite Übereinstimmung bei Emotionen hinweist. Nach Landweer sind insbesondere Scham und Empörung als Indikatoren in moralischer Hinsicht relevant. Diese Gefühle weisen auf die Verankerung von Normen im Habitus hin und der empfundenen Verbindlichkeit. (Vgl. Landweer 2007: 244f.) 194 | Wils 2007: 232. 195 | »Für jegliches Handeln, aber auch für moralisches Handeln und die dafür unabdingbare Anerkennung von Normen, sind, so die hier vertretene These, Gefühle als Motivation erforderlich. Dies kann als ›Motivationsthese‹ bezeichnet werden.« (Landweer 2007: 243) 196 | Butler 2010a: 6.

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schen Apriori zu verdeutlichen, die Verschiebung in der Iterabilität, ausgehend von sprechakttheoretischen Grundannahmen. In diesen Prozess ist die Konstitution der Affektivität einbezogen: »The conditions are set for astonishment, outrage, revulsion, admiration, and discovery, depending on how the content is framed by shifting time and place.«197 Rahmen oder Raster des Wahrnehmens und des intelligiblen Erkennens bilden Wirklichkeitsdeutungen, die mit Affektivität verbunden sind. Butler fragt sich weiter: »How is affect produced by this structure of the frame? And what is the relation of affect to ethical and political judgment and practice?«198 Grief und mourning 199 zeigen nach Butler »the interdependent nature of human existence.«200 In diesem Zusammenhang heißt es bei Lloyd: »She is interested in them only because they expose the precariousness of life and our vulnerability to the Other.«201 Und: »[F]or Butler the body is central to her conceptualisation of vulnerability since it is the body that exposes us or opens us up to the other: to their gaze, their touch, their violence (Butler 2004b: 21) – that human existence is explicitly exposed as one of interdependence. Vitally, it is this porosity to the other (a corporeal porosity) that is also the source of an ethical connection with the other.« 202

Die Konzeption des Körpers203 als offen, außer sich seiend und abhängig impliziert affektive Reaktionen, die als grundsätzlich vermittelt zu betrachten sind und bestimmte Deutungsrahmen ins Spiel bringen.204 Aus Verlust, Leid und Verletzbarkeit entsteht ethische Verantwortlichkeit. Ben-Ze’ev macht in Bezug auf die Verletzbarkeit des Menschen auf die Möglichkeit der Selbsttäuschung aufmerksam, der er hinsichtlich der Aufrechterhaltung eines wünschenswerten Selbstbildes auch eine positive Funktion zuspricht: »Emotions may be viewed not merely as an expression of our profound vulnerability but also as a way to cope with it. By attaching significance to specific, local changes in our 197 | Butler 2010a: 11. 198 | Butler 2010a: 13. 199 | Vgl. Butler, Judith: Precarious Life: The Powers of Mourning and Violence. London, New York (Verso), 2006. 200 | Lloyd, Moya: »Towards a cultural politics of vulnerabiity: Precarious lives and ungrievable deaths«. In: Carver, Terrell; Chambers, Samuel A. (Hg.): Judith Butler’s Precarious Politics: Critical encounters. London, New York (Routledge), 2008, S. 93. 201 | Ebd. 202 | Lloyd 2008: 94. 203 | Butler leitet von ihrer Körperkonzeption eine Sozialontologie ab. 204 | Vgl. Butler 2010a: 40.

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Foucault heute current situation, we ignore, in a way, the more profound type of change underlying our vulnerability; this is a type of self-deception. A certain measure of such self-deception is highly advantageous from an evolutionary point of view, as it enables us to protect our positive self-image and mobilize the required resources for facing daily changes. We deal with such changes as if our profound vulnerability is insignificant. This seemingly reduce our vulnerability, but it does not significantly change it.« 205

Selbsttäuschung spielt bei Butler bei der Bildung des souveränen Subjekts, in der die eigene Verletzbarkeit weitgehend negiert wird, eine andere Rolle, bei ihr wird sie negativ bewertet. Bei der Negierung der eigenen Verletzbarkeit geht es um die Bildung des souveränen oder nationalen Subjekts, das sich über andere Subjekte erhebt. Dadurch wird die Beziehungsqualität in moralischer und politischer Hinsicht im nationalen wie internationalen Kontext beeinträchtigt und gemindert. Butler verweist damit auf die eminent wichtige Rolle von Gefühlen im politischen Bereich. Basis der theoretischen Fundierung von Affektivität ist bei Butler eine Sozialontologie, in der aufgrund der allgemeinen Verletzbarkeit des Lebens von einer grundsätzlichen Interdependenz auszugehen ist.206 Butler legt in diesem Kontext »a rethinking of the subject as a dynamic set of social relations«207 vor. Sie hält dabei im Unterschied zu Foucault den Begriff der Performativität des Subjekts für nützlicher als den der Konstruktion.208 Damit fokussiert Butler von vornherein das handelnde Subjekt der Interaktion mit anderen, während Foucault den Ausgangspunkt zunächst beim Individuum nimmt, im Weiteren dann aber die Interaktion mit dem Anderen in sozialen Beziehungen mit einbezieht. Dem Affekt schreibt Butler insgesamt eine besondere Macht zu, die durch die vorgenommene Affektregulierung gelenkt, gemindert oder genutzt werden soll. »Whether we are speaking about open grief or outrage, we are talking about affective responses that are highly regulated by regimes of power and sometimes subject to explicit censorship.«209 Foucault spricht in diesem Zu205 | Ben-Ze’ev, Aaron: The Subtlety of Emotions. Cambridge, London (MIT Press), 2001, S. 17. 206 | Dabei lehnt Butler Anthropozentrismus ab und weist darauf hin, dass sich die ›Ontologie‹ des Menschen nicht von der des Tieres unterscheidet. Leben ist immer mit systemischen Beziehungen der Interdependenz verbunden. 207 | Butler 2010a: 162. 208 | »The idea of iterability is crucial for understanding why norms do not act in deterministic ways. And it may also be the reason why performativity is finally a more useful term than ›construction‹.« (Butler 2010a: 168) Weiter heißt es: »The ›break‹ is nothing other than a series of significant shifts that follow from the iterable structure of the norm.« (Butler 2010a: 156) 209 | Butler 2010a: 9.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

sammenhang von »tout ce lent travail d’apaisement qu’assure au jour le jour le discours ›vrai‹.«210 Dabei geht es um die Besänftigung der Affekte Wut, Zorn, gereizte Empfindlichkeit und Unduldsamkeit, die sich gegen die »grande machine théorique à produire des rationalités dominantes«211 bilden. Während Foucault den Fokus eher auf Versuche der Eindämmung durch Diskurse und Dispositive wie z.B. Wirtschaftsdiskurs, Räumlichkeit und Architektur legt, betont Butler insbesondere die Bedeutsamkeit des visuellen Managements bzw. den Bereich der Wahrnehmungssteuerung im Allgemeinen. »The tacit interpretive scheme that devides worthy from unworthy lives works fundamentally through the senses, differentiating the cries we can hear from those we cannot, the sights we can see from those we cannot, and likewise at the level of touch and even smell.«212 Sie betont dabei erneut die mediale Seite. An diesem Punkt verortet sich auch die Wahrnehmung und die Affektbildung und Affektregulierung im Bereich des Rassismus. Insgesamt betrachtet weist der Versuch der Affektregulierung mittels Macht nach Butler wie bei Foucault indirekt auf die latente Sprengkraft des Affekts und damit auch auf die Macht des Affekts hin.213

2.2.5.4 Subjektivität und Affektivität bei Foucault und Butler Foucaults Konzeption der Subjektivität ist zum einen theoretisch und zum anderen praktisch ausgerichtet, er entwickelt eine ›theory and practice of subjectivity‹.214 Der ethisch/ästhetische Lebensstil verbindet sich bei Foucault mit einem kritischen Ethos der Ad-hoc-Umgestaltung der gesellschaftlich/historischen Situation und der individuellen Lebensweise. Bei Foucault ist die Veränderung des eigenen Begehrens und der eigenen Affektivität im Prozess der Selbstgestaltung durch Selbsttechniken als Ausgangspunkt für emanzipatorische Veränderungen von entscheidender Bedeutung. Während Foucault die he210 | Foucault 2001b: 277. 211 | Ebd. 212 | Butler 2010a: 51. 213 | »[R]esponsiveness – and thus, ultimately, responsability – is located in the affective responses to a sustaining and impinging world. Because such affective responses are invariably mediated, they call upon and enact certain interpretive frames; they can also call into question the taken-for-granted character of those frames, and in that way provide the affective conditions for social critique. As I have argued elsewhere, moral theory has to become social critique if it is to know its object and act upon it.« (Butler 2010a: 34f.) 214 | Vgl. McGushin, Edward: »Foucault’s theory and practice of subjectivity«. In: Taylor, Dianna (Hg.): Michel Foucault: Key Concepts. Durham (Acumen), reprinted 2013, S. 127-142.

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teronome Formung des Subjekts in den Bereich der Institutionen, des Diskurses und des Dispositivs verlegt, sieht Butler Interaktionen bei der Anrufung im Zentrum des Prozesses der Subjektwerdung, die gleichzeitig die Konstitution der Affektivität beinhaltet. Während Foucault die individuelle Selbstformung, die Entunterwerfung, primär als individuelle Aufgabe, als Ethos, betont, fokussiert Butler die soziale Interaktion und die Interdependenz des menschlichen Lebens. Ausgangspunkt von Ethik und Politik ist das Theorem der Verletzbarkeit des Lebens. Die Erfahrungen von Schmerz und Melancholie hängen eng mit Zorn und Empörung zusammen und motivieren ethisches und politisches Handeln. Butler favorisiert die Einflussnahme auf die Wahrnehmung und die Wahrnehmungssteigerung des fremden und des eigenen Leidens unter besonderer Berücksichtigung der Medialität, ein Aspekt den Foucault unter die Begriffe Diskurs und Dispositiv subsumiert sieht, als ethisch/politische Aufgabe. Für Butler ist das Ethische, vermittelt über Wahrnehmungssteuerung, primär emotional begründet und setzt ein Gewahrwerden der Verletzbarkeit des Anderen voraus. Sie beruht demnach auf einem Akt des Einfühlens in das Leid anderer. Foucault dagegen verortet Ethik in einer individuellen Lebensweise, die den Anderen mit seinen Lebensbedürfnissen respektiert und berücksichtigt. Grundlage dafür ist zum einen seine Machttheorie, nach der die gegenseitigen Begrenzungen der Anwendung der Machtstrategien durch Andere entsprechend der der Macht inhärenten Logik erfolgt, und sein Modell der Freundschaft als gegenseitige Rücksichtnahme. Verbunden damit ist auch eine Selbstkonstitution der eigenen Affektivität im Prozess der Loslösung von bestehenden Gefühlsmustern. Ethik ist nach Foucault Gestaltung des Selbst in einer auch zwischenmenschlich verantwortlichen Weise. Foucault und Butler stellen demnach sich ergänzende Konzeptionen des Körpers, der Körperlichkeit, des Begehrens und der Affektivität bereit, setzen allerdings unterschiedliche Ansatzpunkte für die relationale Bezüglichkeit des Menschen. Während Butler die gegenseitige Verletzbarkeit als eine Art anthropologische Konstante stark macht und damit emotionale und physische Aspekte in den Mittelpunkt rückt, wird die Relationalität bei Foucault primär machtlogisch begründet. Affektivität avanciert bei Butler zum Zentrum ihrer philosophischen Argumentation und erhält damit einen besonderen Stellenwert. Bei Foucault bleibt Affektivität hauptsächlich Teil der Theorie der Subjektkonstitution und somit eines bestimmten Bereichs seiner Philosophie. Beide wenden sich gegen die Dichotomie von Emotion und Kognition, ganz im Sinne der These von Wils, frei nach Kants Diktum: »Ohne Emotionen sind Kognitionen leer, ohne Kognitionen sind Emotionen blind.«215 Affektivi215 | Wils 2007: 232. Wils bezieht sich auf Kants Aussage: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (Kant, KrV, B 76, 77/A 52) Er macht gleichzeitig auf den begrenzten Charakter seiner These aufmerksam.

2.2 Zwischen Autonomie und Heteronomie

tät schließt nach Foucault und Butler kognitive, motivational-voluntative und physische Anteile ein und ist als grundsätzlich konstruiert zu betrachten. Deutungsmuster erzeugen nicht nur Wirkungen auf Affekte, sondern können darüber hinaus gehend die Form von Affekten annehmen.216 Sie werden nicht nur von Interpretationen bestimmt und strukturiert, sondern haben auch Wirkungen auf Interpretationen.217 Es geht darum: »to query the conditions of responsiveness by offering interpretive matrices«.218 Beide betonen trotz der Konstruiertheit des Subjekts im Allgemeinen und seiner Affektivität im Spezifischen das emanzipatorische Potential der Affekte im Rahmen der Subjektbildung. Bei Butler heißt es ähnlich wie bei Foucault. »Open grieving is bound up with outrage, and outrage in the face of injustice or indeed of unbearable loss has enormous political potential.«219 Taylor spricht in diesem Zusammenhang von »the development of new, emancipatory forms of subjectivity.«220 Bei Foucault gehören nach Taylor »refusal, curiosity and innovation«221 zu den Techniken des Selbst, die verändernden Charakter haben. Foucault zeige: »how engaging in refusal, curiosity and innovation facilitates new modes of self-constitution«.222 Wie bei Foucault ist auch bei Butler die Praxis der Kritik von zentraler Bedeutung. Butler spricht der sich wiederholenden, sich verschiebenden Praxis der Performativität und den Praktiken des Gegen-Sprechens emanzipatorisches Potential zu. In diesen Prozessen sind menschliche Dispositionen der Wahrnehmung, Affektivität und Intelligibilität, die durch Machtprozesse geformt sind, betroffen. Emotionen sind bei beiden Philosophen sowohl durch ihre erkenntnisleitende, selbst- und welterschließende223 als auch durch die 216 | Vgl. Butler 2010a: 56. 217 | Vgl. Butler 2010a: 73. 218 | Butler 2010a: 52. 219 | Butler 2010a: 39. Weiter heißt es bei ihr: »Whether we are speaking about open grief or outrage, we are talking about affective responses that are highly regulated by regimes of power and sometimes subject to explicit censorship.« (Ebd.) Nach Butler nehmen moralische Reaktionen zunächst die Form des Affekts an. (Vgl. Butler 2010a: 41) 220 | Taylor 2013: 174. 221 | Taylor 2013: 182. 222 | Taylor 2013: 183. 223 | Auch Landweer spricht von der Erschließungsfunktion der Gefühle. »Diese Erschließungsfunktion haben Gefühle nicht nur in den Fällen, wo Rationalität nicht möglich ist oder versagt; sie springen nicht bloß ersatzweise für eine rationale Sicht der Dinge ein. […] vielmehr möchte ich dafür argumentieren, dass die Befindlichkeit jede Situationswahrnehmung und –interpretation begleitet.« (Landweer 2007: 251) Weiter heißt es bei ihr: »Doch eine solche Distanzierung entfernt uns nicht vollständig von unserer leiblich-affektiven Gebundenheit an die Situation, wir bleiben weiterhin situierte, leibliche Wesen mit bestimmten Befindlichkeiten und den in ihr verankerten

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motivierende Funktion Fundament des ethischen Handelns mit gesellschaftspolitischer Relevanz. Ohne Berücksichtigung der Affektivität des Menschen ist sowohl nach Foucault als auch nach Butler eine emanzipatorische Praxis im ethischen und politischen Sinne zum Scheitern verurteilt.

Überzeugungen und Werten. Insofern kann Rationalität tatsächlich als Distanzierung aus unmittelbarer leiblich-affektiver Befindlichkeit und damit auch von Emotionen verstanden werden, aber eine, die sich als eine quasi-theoretische Einstellung derivativ zu der Verstrickung in die Situation verhält. Die distanzierte Rationalität bewegt sich nicht in einem ortlosen Niemandsland; sie ist notwendigerweise an die Situation und damit an die sie fundierenden Selbstverständlichkeiten, in anderen Worten: an ihren kulturellen Kontext gebunden.« (Landweer 2007: 252) Und weiter: »Nie aber kann sich Rationalität vollständig von ihrer Verankerung in der Befindlichkeit losreißen.« (Landweer 2007: 253) Nach Landweer sind Emotionalität und Rationalität auf einem Kontinuum angesiedelt: »Gefühl und Rationalität werden in diesem Modell durch den Begriff der Explikation vermittelt; von ihr ist das rationale Urteilen unmittelbar abhängig.« (Ebd.) Landweer spricht von einer ›integrativen Vernunft‹, »die auch jene Gefühle, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, zu integrieren vermag.« (Ebd.)

2.3 Subjekt und Macht Foucaults Konzept von Macht und Widerstand im globalen Kontext

2.3.1 M acht und G renzen der M acht. W iderstand und A utonomie bei M ichel F oucault1 2.3.1.1 Foucault und die Frage nach der Macht Der Aspekt Macht steht im Zentrum der Philosophie von Foucault: »Im Grunde habe ich nichts anderes geschrieben als eine Geschichte der Macht.«2 Macht zählt zu den drei zentralen Theoremen von Foucaults Philosophie, die er mit Wissen, Macht und Subjekt angibt. Seine Theorie der Macht, die dabei ganz unterschiedliche Formen annimmt, betont ihren strategischen Charakter: »[D]as war die Macht. Und nicht nur die Staatsmacht, sondern diejenige, die im Inneren des Gesellschaftskörpers ausgeübt wird, über ganz unterschiedliche Kanäle, Formen und Institutionen.«3 Diese unterschiedlichen Formen – verbunden mit einer diskursiven und dispositiven Bestimmtheit und damit einhergehenden spezifischen Strategien – untersucht Foucault in historischsozialen Kontexten. Er setzt sich von traditionellen Machtkonzeptionen ab, wie z.B. von Freuds repressiver Machttheorie, die vom repressiven Charakter der Kultur ausgeht.4 Macht soll nach Foucault nicht in Form des Verbots als Ins1 | Das Kapitel ist fast unverändert veröffentlicht in: Rainsborough, Marita: »Macht und Grenzen der Macht. Widerstand und Autonomie bei Michel Foucault«. In: Roth, Phillip H. (Hg.): Macht: Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M., New York (Campus), 2016, S. 109-129. 2 | Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Gespräch mit Ducio Trombadori. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1996a, S. 98. 3 | Ebd. 4 | Foucault sagt: »Ich bin wahrhaftig nicht der Erste, der den Versuch macht, das Freud’sche Schema zu umgehen, das einen Gegensatz zwischen Trieb und Triebunterdrückung, Trieb und Kultur herstellt.« In: Foucault, Michel: »Die Maschen der Macht«.

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tanz des »Du darfst nicht«5 aufgefasst werden, der der Einzelne in Freuds Konzeption unterworfen ist und die als Ergebnis von Machtprozessen im Gewissen internalisiert wird. Auch die soziologische Machttheorie Durkheims und auf Durkheim auf bauende Konzeptionen wie die von Lévi-Strauss kritisiert Foucault. Soziale Tatbestände, kollektive Ziele, Anschauungen, Normen, Pflichten und Sitten, die als etwas Überindividuelles gelten, werden in diesen als emergente Eigenschaften sozialer Systeme angesehen und verfügen wie Gesetze oder Doktrinen über einen Macht- und Zwangscharakter. »In unserer eigenen Gesellschaft unterziehen wir die Macht also immer einer rechtssoziologischen Betrachtung und bei fremden Gesellschaften betreiben wir eine Ethnologie, die vor allem auf Regeln und Verbote schaut. Von Durkheim bis Lévi-Strauss taucht in den ethnologischen Studien immer wieder dasselbe Problem auf: die Frage nach den Verboten und vor allem nach dem Inzestverbot.« 6

Schon Rousseaus gesellschaftlicher Körper als Souverän entsteht nach Foucault durch Abtretung oder Aufhebung individueller Rechte und durch die Formulierung gesetzlicher Verbote. »[I]m Westen hatte man nie ein anderes System der Repräsentation, Formulierung und Analyse von Macht als das System des Rechts und der Gesetze. […] Ich glaube, von diesem juristischen Verständnis von Macht […] müssen wir uns nun befreien«.7 Foucault wählt im Unterschied zu Max Weber,8 der neben dem juristischen Verständnis auch andere Formen von Macht kennt, nicht primär den Aspekt In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Daniel Defert; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 224. Weiter heißt es bei ihm: »Wir dürfen uns den Trieb nicht als naturgegeben vorstellen, sondern als etwas schon Elaboriertes, als komplexes Wechselspiel zwischen Körper und Gesetz, zwischen dem Leib und den kulturellen Mechanismen, die eine Kontrolle des Volkes sicherstellen.« (Foucault 2005a: 224f.) Begehren ist danach kein gleich bleibender menschlicher Grundtrieb, sondern wird in gesellschaftlich-historischen Prozessen konstituiert. 5 | Foucault 2005a: 225. 6 | Foucault 2005a: 225f. 7 | Foucault 2005a: 228. 8 | Nach Weber dagegen ist Macht »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« In: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen (Mohr), 41956 [1921/22], S. 28. Herrschaft als Sonderfall von Macht bedeutet die Chance auf Gehorsam. Max Weber unterscheidet zwischen drei Formen der Herrschaft, der legalen, der traditionellen und der charismatischen Herrschaft, die über jeweils andere Legitimationsstrategien verfügen. Während die lega-

2.3 Subjekt und Macht

der Herrschaft und deren Legitimation, sondern versteht Macht im Sinne von historischen Machtpraktiken, vielfältigen Kräfteverhältnissen und strategischen Situationen. Macht ist als Funktion der Welt- und Subjektkonstitution, der Begründung von Individualität und Identität anzusehen und formt Wissen, Diskurse, Körper und Lust. Macht verfährt produzierend, es gibt in diesen Prozessen kein Außen von Macht. Als Vorbilder für Foucaults Machttheorie können die philosophischen Konzepte von Marx und Nietzsche gelten. Marx’ Konzeption von Macht ist für Foucault insbesondere durch dessen Annahme lokaler und regionaler Machtformen anregend. »Im zweiten Buch des Kapital […] sehen wir in erster Linie, dass es nicht nur Macht im Singular gibt, sondern Mächte, das heißt Formen der Herrschaft und Unterdrückung, die lokal funktionieren, zum Beispiel in der Fabrik, in der Armee, in einem Eigentum nach Art der Sklaverei oder einem Eigentum, in dem es Knechtschaftsbeziehungen gibt. Alles das sind lokale und regionale Formen von Macht, die ihre eigene Funktionsweise, eigene Verfahren, eine eigene Technik besitzen. Diese Formen von Macht sind heterogen.« 9

Weiter heißt es bei Foucault: »Marx hat zum Beispiel das Problem der Disziplin in Armee und Fabrik ausgezeichnet analysiert.«10 Auch diese Untersuchungen der disziplinarischen Machtform setzt Foucault fort. Ausgehend von Nietzsche untersucht Foucault in seiner Genealogie darüberhinaus die Entstehung von Machtformen. Nietzsche geht insbesondere in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral11 auf die Herkunft moralischer Denkweisen ein, wobei er zwischen der Herrenmoral als Haltung der Herrschenden und der Sklavenmoral als Haltung der Elenden, Armen und Ohnmächtigen unterscheidet. Er spricht von einem Hass auf die ›Vornehmen‹, der zur Moralentwicklung führe. In seiner Kritik der Moral im Allgemeinen und der christlichen Moral im Speziellen fordert er die Umwertung aller Werte. Nietzsches Theorem der Macht konstatiert le Herrschaft – als Beispiel dieser Form von Herrschaft nennt er den demokratischen Rechtsstaat und als ihre reinste Form die Bürokratie – Gehorsam gegenüber Satzungen und Gesetzen einfordert, unpersönlich auftritt und gleiche Chancen und Lastenverteilung verspricht, legitimiert die traditionelle Herrschaft sich z.B. durch den Glauben und die Heiligkeit von Ordnungen, Beispiele hierfür sind die patriarchalische Herrschaft und Monarchien. Die charismatische Herrschaft ist an eine Person mit charismatischer Ausstrahlung gebunden, Beispiele hierfür sind Sekten und religiöse Gruppen. Generelles Prinzip von Herrschaft ist die Gewährleistung von Überleben und/oder Wohlergehen als Gegenleistung für Unterwerfung. 9 | Foucault 2005a: 228. 10 | Foucault 2005a: 229. 11 | Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Berlin (Akademie), 2004 [1887].

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den Willen bzw. die vielen Willen zur Macht. Foucault greift seine Gedanken der Dezentralisierung, Pluralisierung und Historisierung von Macht auf, übernimmt aber nicht seine amoralische bzw. immoralische Position. Foucaults Analyse der Macht ergibt ein Repertoire verschiedener Machtformen in unterschiedlichen sozio-historischen Kontexten wie zum Beispiel Souveränitätsmacht,12 Disziplinarmacht,13 Normalisierungsmacht, Biomacht,14 12 | Die Souveränitätsmacht lässt sich durch ihre Tendenz zur Demonstration von Macht über Leben und Tod kennzeichnen. Foucault gibt z.B. folgendes Beispiel: »Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, ›vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte zu tun‹, wohin er ›in einem Stützkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Grève-Platz sollte er dann im Stützkarren auf einem dort errichteten Gerüst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, […]‹.« (Foucault 1994: 9) 13 | »Auf der einen Seite haben wir die Technologie, die ich als ›Disziplin‹ bezeichnen möchte. Disziplin ist im Grunde der Machtmechanismus, über den wir den Gesellschaftskörper bis hin zum kleinsten Element, bis hin zu den sozialen Atomen, also den Individuen, zu kontrollieren vermögen. Es handelt sich um Techniken der Individualisierung von Macht. Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung steigern, seine Fähigkeiten verbessern? Wie kann man ihn an den Platz stellen, an dem er am nützlichsten ist? Darum geht es bei der Disziplin.« (Foucault 2005a: 233) An anderer Stelle heißt es bei Foucault: »Die zunehmende Disziplinarisierung der europäischen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert bedeutet natürlich nicht, dass die Individuen innerhalb dieser Gesellschaften immer gehorsamer würden. Und auch nicht, dass die Gesellschaften nun bald Kasernen, Schulen oder Gefängnissen glichen, sondern dass man dort nach einer immer besser kontrollierten – immer rationaleren und ökonomischeren – Abstimmung zwischen den produktiven Tätigkeiten, den Kommunikationsnetzen und den Machtbeziehungen strebte.« In: Foucault, Michel: »Subjekt und Macht«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 284. 14 | Biomacht stellt eine Normalisierungsmacht dar, ihre Wirkung ist homogenisierend, massenkonstituierend, die Norm ist für sie zentraler als das Gesetz. Sie arbeitet mit regulierenden Techniken der Biopolitik, statistischen Erfassungen, demographischen Erhebungen z.B. der Geburtenraten, Sterbeziffern, Häufigkeiten von Krankheiten, öffentlichen Hygiene, der Gauss’schen Normalverteilung und trägt oft das Gesicht der Selbstsorge. »Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Men-

2.3 Subjekt und Macht

Probe,15 pastorale Macht,16 juristische Macht17 auf der Ebene der Mikrophysik und ausgehend vom Begriff der Herrschaft und des Dispositivs auch der Makrophysik. Er stellt fest: »Es stimmt nicht, dass es in einer Gesellschaft Leute gibt, die die Macht haben, und unterhalb davon Leute, die überhaupt keine Macht haben. Die Macht ist in der Form von komplexen und beweglichen strategischen Relationen zu analysieren, in denen niemand dieselbe Position einnimmt und nicht immer dieselbe behält.«18

schen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Bevölkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.« (Foucault 2005a: 235) Foucault spricht auch von der Politik des Lebens: »Die Sexualität ist das Bindeglied zwischen anatomischer Politik und Biopolitik; sie liegt am Kreuzungspunkt der Disziplinierungs- und Regulierungsformen, und in dieser Funktion wird sie Ende des 19. Jahrhunderts zu einem erstrangigen politischen Instrument, das es ermöglicht, die Gesellschaft in eine Produktionsmaschine umzuwandeln.« (Foucault 2005a: 237) 15 | Die Probe hat Ähnlichkeit mit einem Duell und ist eine Machtform der archaischen griechischen Gesellschaft und des Mittelalters und liegt den Rechtsformen des alten Germanischen Rechts zugrunde. Der Rechtsstreit gleicht einem Zweikampf, einer ritualisierten Weiterführung von Streit und Krieg ohne Interesse an der Feststellung von wahren Tatbeständen oder wirklichen Schuldverhältnissen und ohne vermittelnde Instanzen. Reste lassen sich in der feudalen Rechtsprechung ausmachen. Sie stellt eine Kraftprobe dar und fasst herrschende Machtunterschiede als Kriterium für die Entscheidung auf. Es gilt das Vor-recht des Stärkeren. 16 | Pastorale Macht lässt sich durch die Fähigkeit, Anderen als Hirte zu dienen, die Aufopferung für das Leben der Herde, die permanente Sorge um den Einzelnen und das Ausgerichtet-Sein auf das Seelenheil charakterisieren. In diesem Prozess geht es um die Erforschung der intimsten Geheimnisse des Einzelnen. 17 | Recht ist nach der Analyse Foucaults ursprünglich als Instrument der monarchischen Macht gegen Feudalmächte gerichtet und ist von seiner Entstehung her primär Macht des Staates. Die monarchische Machtform stellt in der historischen Entwicklung zunehmend ein gemeinsames System zur Repräsentation der Macht von Bourgeoisie und Monarchie dar. In bestimmten historischen Situationen entledigt sich die Bourgeoisie der monarchischen Macht wiederum mit Hilfe des juristischen Diskurses. Im Zentrum der juristischen Macht steht das Verbot. 18 | Foucault, Michel: »Der Stil der Geschichte«. In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits IV: 1980-1988. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2005a, S. 805f.

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Herrschaft ergibt sich aus relativ konstanten Machtkonstellationen, die aber einen instabilen Charakter aufweisen und in ihrer Existenz ständig bedroht sind, so dass es zu permanenten Umschichtungen kommt. Einer aktuellen Analyse der Gesellschaft seiner Zeit zufolge konstatiert Foucault in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Zusammenspiel von Normalisierungsmacht und pastoraler Macht – letztere wird in veränderter Form auf das Handeln des Staates bezogen. Außerdem untersucht er den Neoliberalismus in Ökonomie und Politik als spezifische Machtform mit aktueller Relevanz. Seine Untersuchungen haben auch für die heutige Gesellschaft ihre Bedeutsamkeit behalten.

2.3.1.2 Freiheit und Macht bei Foucault Foucaults Konzeption von Freiheit im Rahmen des Subjekt-Wissen-MachtKomplexes kann als Ad-hoc-Theorie der Freiheit verstanden werden, in der Freiheit nicht im Gegensatz zu Macht steht, sondern eng mit ihr verbunden ist  – als andere Seite der Macht und Voraussetzung der Machtausübung. In seiner relationalen Auffassung von Macht ist die Handlungsmacht aller Beteiligten stets vorausgesetzt. »It’s clear that power should not be defined as a constraining act of violence that represses individuals, forcing them to do something or preventing them from doing some other thing. But it takes place when there is a relation between two free subjects, and this relation is unbalanced, so that one can act upon the other, and the other is acted upon, or allows himself to be acted upon.«19

In Foucaults produktiver, nicht repressiver Theorie ist Freiheit zur Veränderung im Handeln, die im Gegensatz zur metaphysischen Freiheit eher politisch konzipiert ist, immer angelegt, um »nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden«.20 Foucault nennt diesen Prozess, der immer auch eine politische Dimension hat, bekanntermaßen Entunterwerfung. Der Begriff der Freiheit kann bei Foucault negativ im Sinne des Befreiens von, als Freisetzung von Einschränkungen, und positiv als Praktik der Freiheit verstanden werden, wobei der Akt der Befreiung unter Umständen als Voraussetzung für das Ausüben der Freiheitspraktiken angesehen werden kann. »Freedom can be practiced in resistance, insubordination, counter-conduct, as well as ethical subjectivation.«21 In diesem Prozess geht es immer wieder neu 19 | Taylor 2011: 5. 20 | Foucault 1992a: 52. 21 | Simons 2013: 314.

2.3 Subjekt und Macht

um das Aufspüren von Bruchlinien, die Transformationen erlauben, es gibt dafür keine fertigen Konzepte oder Verfahren. Hier ist auch die Konzeption einer Ethik bzw. Ästhetik des Selbst mit den sich im historischen Prozess verändernden Formen der Selbstformung zu verorten, nach der das Subjekt die Möglichkeit zur Selbstgestaltung hat. Die Technologien des Selbst erlauben in einem Spannungsfeld zwischen Macht und Freiheit eine Formierung des Selbst. Das Subjekt löst sich dabei nicht aus historisch variablen Wissens- und Machtverhältnissen, sondern versucht auf ihnen fußend in einer partiellen Befreiung von den Prozeduren der Unterwerfung eine Selbstgestaltung vorzunehmen. Neben der Entwicklung eines Lebensstils geht es Foucault dabei auch um die Entwicklung einer moralischen Haltung des Subjekts. In diesem Prozess müssen bei Foucault alle drei Weisen des Subjekts im Zusammenhang gedacht werden: Das Subjekt des Wissens, der Macht und der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst. Auch Foucaults Theorie der Gouvernementalität als Kunst des Regierens bezieht sich unter anderem auf den Umgang mit sich selbst. Der Begriff der Gouvernementalität leistet bei Foucault die Verknüpfung von Erkenntnistheorie, politischer Philosophie, Ästhetik und Ethik. Gouvernementalität beinhaltet nicht nur regiert zu werden − Prozessen der Mikrophysik unterlegen zu sein −, sondern insbesondere selbst zu regieren und darüber hinaus primär das gute Regieren als angemessenes Führen des Anderen, das einen bewussten Umgang mit sich selbst voraussetzt – das Führen des Selbst. Es geht dabei »um die Möglichkeit, sich selber als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstituieren, das heißt, sich […] zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen«.22 Hier setzt Foucault mit seinen Untersuchungen der Selbsttechnologien der Antike und des Christentums an, die als konkrete Beispiele für historisch-gesellschaftliche Ausformierungen der Selbsttechnik angesehen werden können. Auch diese primär ästhetischen Formierungen des Lebensstils verfügen gleichzeitig über einen ethischen und politischen Charakter. Byung-Chul Han23 kritisiert Foucaults Theorem der Selbstsorge als ethisches Prinzip: »Die Selbstsorge wird bei Foucault zu einem ethischen Prinzip erhoben, wobei ihr ein Vorrang vor der Sorge um die Anderen zuerkannt wird«.24 Das Jenseits des Selbst stellt bei Han die Freundlichkeit dar, ein Absehen vom Selbst, als eine »extrinsische Qualität, die nicht der Macht zuzurechnen wäre«.25 Sie stellt für Han entsprechend seines Nietzsche-Verständnisses 22 | Foucault 1989a: 178. 23 | Byung-Chul Han entwickelt seine Machttheorie in folgenden Werken: Han, Byung-Chul: Was ist Macht? Stuttgart (Reclam), 2005a; Han, Byung-Chul: Hegel und die Macht: Ein Versuch über die Freundlichkeit. München (Fink), 2005b; Han 2011. 24 | Han 2005a: 131. 25 | Han 2005a: 135.

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eine Art Über-Macht dar, das Verschenken in der Freundlichkeit.26 Nach Han präsentiert Foucault »ein Machtkonzept, in dem bereits eine gewisse Kritik der Macht enthalten ist.«27 Weiter heißt es bei ihm: »Foucaults neues Machtkonzept entspringt einem Ethos der Freiheit.«28 Und: »Ein Ethos der Freiheit wacht also darüber, daß die Macht nicht zur Herrschaft erstarrt, daß sie ein offenes Spiel bleibt.«29 Han gibt zu, dass Machtbeziehungen aus machtlogischen Gründen bei Foucault eine minimale Freiheit voraussetzen, wirft ihm aber vor, »den Begriff ›Freiheit‹ in einem emphatischen Sinne«30 zu nutzen. Foucault entfernt sich damit nach Han vom realen Machtgeschehen.31

2.3.1.3 Autonomie und Widerstand Foucault geht in seiner Philosophie ausgehend von seinem Machtkonzept und seinem Freiheitsbegriff immer auch vom Vorhandensein der Möglichkeit zum Widerstand aus, das Subjekt als Zentrum verändernden Handelns bleibt für ihn immer denkbar. Mit seiner sozial und historisch verankerten Auffassung von Freiheit gelingt es ihm trotz seiner Subjektkritik, das emanzipatorische Potential im menschlichen Handeln zu sichern. »Freedom for Foucault is not a state we occupy, but rather a practice that we undertake. Specifically, it is the practice of navigating power relations in ways that keep them open and dynamic and which, in doing so, allow for the development of new, alternative modes of thought and existence.«32 In seiner Konzeption von Freiheit wird »freedom as ›ongoing work‹«33 verstanden. »Das führt zu einer vollständigen Revision des Postulats, dem zufolge die Entwicklung des Wissens einen Garanten der Freiheit darstellt.«34 Freiheit muss immer wieder in konkreten Situationen erobert werden. Widerstand kann als eine Praxis der Freiheit bezeichnet werden. »The practice of freedom, then, is not the same as the occurrence of resistance, as the latter occurs even under domination while the former remains limited. However, the practice of resistance is also the practice of liberty, a practice directed

26 | Dieses Verhältnis der Freundlichkeit zum Anderen steht nach Han im Gegensatz zu Lévinas’ Ethik des Für-den-Anderen. (Vgl. Fußnote 55 in Han 2005a: 143) 27 | Han 2005a: 127. 28 | Han 2005a: 128. 29 | Ebd. 30 | Ebd. 31 | Vgl. Han 2005a: 129. 32 | Taylor 2011: 4f. 33 | Taylor 2011: 6. 34 | Foucault 1996a: 111.

2.3 Subjekt und Macht

towards expanding freedom.«35 Autonomie als Selbstbestimmung im Handeln auf der Grundlage von Freiheit und der Möglichkeit zum Widerstand werden in Foucaults Konzeption des Politischen mit der Auffassung von der Konstruktion des Subjekts in diskursiven und dispositiven Formationen zusammengedacht. Widerstand zeigt sich an den Rändern, in den Zwischenräumen und Schwellen. Ein wichtiger Teil der Motivation für sein philosophisches Arbeiten besteht insbesondere darin, dem Einzelnen diese Möglichkeit immer wieder vor Augen zu führen.36 Foucaults Widerstandsbegriff muss dabei als sehr weit gefasst angesehen werden: »Foucaults Pathosformel von der Allgegenwärtigkeit des Widerstands enthält jedoch (noch) keinerlei Verweise auf Herrschaft, auf Legitimität oder gar Normativität und scheint somit selbst über die letzten Haltepunkte eines weit gefassten Widerstandsbegriffs hinauszutreiben. Bleibt die Eingangsfrage: Was qualifiziert eine Macht unter Mächten, eine Macht gegen eine andere, eine Gegenmacht zum Widerstand? Was ist Widerstand für Foucault?« 37

Hechler/Philipps beschreiben verschiedene Widerstandsformen im Sinne Foucaults: »Widerstände und auf die Verhinderung von Herrschaftszuständen abzielenden [sic] Freiheitspraktiken lassen sich somit sowohl in konfrontativer, kriegerischer Auseinandersetzung, in Flucht, Verweigerung und Entzug wie in Versuchen der autonomen Selbstgestaltung identifizieren.«38 Bei Foucault selbst heißt es: »mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände«.39 In verschiedenen sozio-historischen Situationen bilden sich jeweils unterschiedliche Wider-

35 | Simons 2013: 315. 36 | »In Foucaults Verständnis sind Subjekte durch die Diskurs- und Machtverhältnisse ihrer Zeit geformt und gleichwohl selbstreflexiv und handlungsfähig und dadurch fähig, sich ihren heteronomen Konstitutionsbedingungen partiell zu entziehen.« In: Hauskeller, Christine: Das paradoxe Subjekt: Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault. Tübingen (Perspektiven), 2000, S. 21. 37 | Hechler, Daniel; Philipps, Axel: »Einleitung«. In: Hechler, Daniel; Philipps, Axel (Hg.): Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld (transcript), 2008, S. 10. 38 | Hechler/Philipps 2008: 11. 39 | Foucault 1983: 96.

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standsformen aus, Kastner spricht von einer »Flexibilität des Gegen-Verhaltens«.40 Zu diesen gehören auch politische Revolten und Widerstandskämpfe. »Ich habe zu zeigen versucht, dass es im Ausgang von Foucault durchaus eine Möglichkeit gibt, politischen Widerstand zu denken, und zwar gerade aus der Immanenz des Diskurses heraus, d.h. auf der Basis einer diskursiven Trennung zwischen zwei Feldern: dem immanenten Feld einer im Diskurs, im Gesellschaftskörper, im Machtgefüge in bestimmter Weise geregelten, d.h. sagbaren Beziehung von binären, aber sich in Wahrheit überschneidenden Polen (z.B. Regierenden und Regierten, Autonomie und Heteronomie), und dem zu dieser Immanenz transzendenten Feld, einem unsagbaren Jenseits dieser Bestimmtheit, das sich aber im immanenten Feld stets als Möglichkeit einer anderen Bestimmtheit, einer völligen Umstrukturierung oder gar als Auflösung der binären Beziehung zeigt und geltend macht.« 41

Dies begründet der Autor durch die Idee der immanenten Transzendenz, »eines im Sagbaren implementierten Unsagbaren«, die im Begriff der Transgression mitgedacht ist.42 Han kritisiert Foucaults Allgegenwärtigkeit des Widerstandes in dessen Widerstandskonzept.43 Er behauptet Machtverhältnisse seien nicht grundsätzlich an Widerstandsmöglichkeiten gekoppelt: »Nicht nur in der unendlichen Gewalt, sondern auch in der unendlichen Macht findet kein Widerstand statt. So gibt es durchaus ein Machtverhältnis ohne Widerstand. Diese Konstellation erkennt Foucault offenbar nicht.«44 Bei Han bildet

40 | Kastner, Jens: »(Was heißt) Gegen-Verhalten im Neoliberalismus?« In: Hechler, Daniel; Philipps, Axel (Hg.): Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld (transcript), 2008, S. 49. 41 | Kupke, Christian: »Widerstand und Widerstandsrecht. Ein politik-philosophischer Versuch im Ausgang von Foucault«. In: Hechler, Daniel; Philipps, Axel (Hg.): Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld (transcript), 2008, S. 80. 42 | Ebd. 43 | Widerständigkeit wird wie Macht bei Han auf das Prinzip des Lebendigen, hier rekurriert er auf Nietzsche, zurückgeführt, das immer die »Fähigkeit zur eigenständigen Antwort« hat. (Han 2005a: 12) In seiner Konzeption von Widerstand verzichtet Foucault gänzlich auf den Rekurs auf die Metapher des Organismus, die bei Han eine zentrale Rolle in der Begründung seiner Argumentation einnimmt. Foucaults Begründung fällt dagegen funktional aus und kann eher mit dem zweiten Argument der Herleitung von Widerständigkeit bei Han verglichen werden. Die Komplexität des Machtgeschehens, das auf Interdependenzen und Reziprozität beruht, heißt es bei Han, schaffe eine Abhängigkeit des Machtausübenden vom Machtunterlegenen, wobei »Ohnmacht in Macht umschlagen« könne. (Han 2005a: 13) 44 | Han 2005a: 126f.

2.3 Subjekt und Macht

tiefe Müdigkeit den Gegensatz zur Macht.45 Mit ihr erlahmt nach ihm jede Widerständigkeit. Hans Vorstellung von einer unendlichen Macht ist nach Foucaults historisch-konkreter Ausrichtung in der Analyse des Phänomens Macht allerdings als abstraktes Konstrukt zu begreifen, sie kann deshalb Foucaults Theorie nicht entkräften. Intensiv und tiefgreifend setzt sich auch Klass mit Foucaults Widerstandskonzept auseinander, das in der Formel »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« 46 kulminiert. Klass bietet eine Reihe von Umschreibungen dieser Formel an: »Wo es Macht gibt, gibt es Möglichkeiten des Widerstands«,47 »Wo es Herrschaft gibt, soll Widerstand sein«,48 »Wo es die Machtform ›Herrschaft‹ gibt, da ist Widerstand zwar erschwert, niemals aber unmöglich«,49 »Bitte vergeßt, wenn ihr der Machtform ›Herrschaft‹ begegnet, nicht euer ›aufklärerisches‹ Ethos, dieser Machtform Widerstand entgegen zu setzen!«50 Widerstand wird hier als der Herrschaft entgegenstehende Gegen-Macht verstanden, die teilweise einen normativen Charakter annimmt. Die durch die Umformulierungen vorgenommene Kritik von Klass an Foucaults These der Allgegenwärtigkeit von Macht und Widerstand vernachlässigt allerdings die Vielschichtigkeit des Widerstandsbegriffs bei Foucault, der ein sozio-historisches Changieren kennt, das von der schlichten Gegen-Macht als die der Macht gespiegelte Macht – eine gleiche, aber nie identische Form der Macht – über andersartige Formen der Macht bis hin zum Widerstand im Sinne von Revolte und seiner PathosFormel reicht. »Foucault’s political theory is a ›tool kit‹ not for revolution but for local resistance«, heißt es bei Walzer.51 Widerstand ist zunächst nur eine sich der Macht entgegensetzende Macht, wobei die eine einen aktiven und die andere einen reaktiven Charakter aufweist. Vorausgegangen ist dabei, wie Klass zutreffend annimmt, eine Wahl zwischen Nachgeben und Sich-Entgegenstellen. Widerstand beginnt demnach schon mit der Form der Gegen-Macht, endet 45 | Han 2005a: 89. Han rekurriert hier auf Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1992, S. 75. 46 | Foucault 1983: 96. 47 | Klass, Tobias N.: »Foucault und der Widerstand: Anmerkungen zu einem Missverständnis«. In: Hechler, Daniel; Philipps, Axel (Hg.): Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld (transcript), 2008, S. 158. 48 | Klass 2008: 160. Ähnlich formuliert Klass auf S. 165: »Wo Herrschaft ist, soll Widerstand sein«. 49 | Klass 2008: 164. 50 | Klass 2008: 165. 51 | Walzer, Michael: »The Politics of Michel Foucault«. In: Hoy, David Couzens (Hg.): Foucault: A Critical Reader. Oxford UK, Cambridge USA (Blackwell), 1996, S. 55. Foucault äußert allen umfassenden Programmen zur gesellschaftlichen Veränderung gegenüber ein tiefes Misstrauen.

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aber nicht mit ihr.52 Klass behauptet des Weiteren, Foucault lehne Herrschaft ab bzw. wolle Herrschaftszustände verhindern, da sie seinem Machtbegriff widersprechen. Foucault geht es aber nicht um eine generelle Ablehnung von Herrschaft, sondern nur um eine besondere Ausgestaltung von Herrschaft, aufgefasst als Kunst des angemessenen Regierens. Der Widerstandsbegriff ist bei Foucault deshalb nicht nur im Sinne des Kampfes gegen Herrschaft anzusehen und Macht lässt sich nach Foucault im Unterschied zur Kraft allgemein als Konfrontation mit einer Gegen-Macht verstehen.53 Interessant ist auch Klass’ Hinweis auf Foucaults Problem des unmerklichen, nicht ausgewiesenen Übergangs vom Deskriptiven ins Normative, von der deskriptiven Formel zur Pathos-Formel des Widerstands, was, wie oben deutlich wurde, auch von Han kritisiert wird. Dies wird seit Hume als ›SeinSollen-Fehlschluss‹ bezeichnet. Dieser Aspekt wirft die grundsätzliche Frage auf, wie das Normative in Foucaults Theorie gefasst wird. Es zeigt sich, dass Normatives bei Foucault machttheoretisch begründet wird. »This inquiry, however, is never neutral. The price of Foucauldian methodology is that there is no objective, transcendental, capital-T Truth out there that adjudicates between warring forces. […] There is no neutrality or universality.«54 Weiter heißt es bei Stone: »Unlike the disinterested observer with ›a view from nowhere‹, the modern historico-political thinker ›cannot, and is in fact not trying to, occupy the position … of a universal, totalizing, or neutral subject … the person who is speaking … is inevitably on one side or the other‹ (C-SMD, 52).«55 Auffallend ist in diesem Zusammenhang bei Foucault zumeist ein Fehlen der unterschiedlichen Ebenen von Deskription und Präskription, beide Ebenen fallen auf Grund seiner Annahme der Konstruiertheit von Wissen in Machtkontexten

52 | In diesem Prozess verändert sich auch die Macht selbst und weist u.U. Formen der Gegen-Macht auf bzw. wird zur Gegen-Macht. Diese Sichtweise ergibt sich, wenn man den relationalen, agonalen und dynamischen, historisch variablen Charakter von Macht und Gegen-Macht wirklich ernst nimmt. Es kommt immer wieder zum Wechsel der Positionen von Macht und Gegen-Macht, auch in Kontexten von Herrschaft, in denen Gegen-Macht deshalb immer auch die Form von punktuellem und sich verfestigendem Widerstand – individuell gedacht oder in Kooperation mit Anderen – annehmen kann. 53 | Klass schreibt mit seiner Deutung Foucaults variabel gedachten Widerstandsbegriff, der historisch unterschiedliche Formen umfasst und mögliche zukünftige Formen offen lässt, fest. 54 | Stone, Brad Elliott: »Power, Politics, Racism«. In: Falzon, Christopher; O’Leary, Timothy; Sawicki, Jana (Hg.): A Companion to Foucault. Chichester (Wiley-Blackwell), 2013, S. 357. 55 | Ebd. Stone zitiert hier aus Foucault, Michel: Society must be defended: Lectures at the Collège de France 1975-1976. New York (Picador), 2003c.

2.3 Subjekt und Macht

zusammen, in denen Sollens-Aussagen entstehen.56 In den Begriffsrastern, den Interessen und Absichten der Sprechenden, der Autorisierung der Sprechenden, die auf der Basis von Formationsregeln Aussagen bilden, wird schon auf der deskriptiven Ebene versteckt normativ operiert. Dabei bleiben Wertungen zumeist verborgen, sind aber durch archäologische und genealogische Verfahren durchaus der Analyse zugänglich.57 Foucault argumentiert auch hinsichtlich des Ethos der Kritik als Grundlage der Pathosformel des Widerstands streng historisch, wenn er sagt, das aufklärerische Ethos sei als moralische und politische Denkungsart im 18. Jahrhundert entstanden und somit nicht universell. Kritik soll bei ihm aus diesem Grund auf keinen Fall die Funktion eines Gesetzes annehmen. Sein Engagement für die Bewahrung des kritischen Ethos kann deshalb auch nur als eine philosophische Position angesehen werden, die er im Kampf um Macht und Widerstand in die Waagschale wirft. »Auch wenn Foucault sich nicht so explizit und polemisch ›jenseits von Gut und Böse‹ stellt wie Nietzsche, so ist doch klar: eine überhistorische, universell gültige Moral, die dem Phänomen der Macht vorzuordnen ist, gibt es auch bei ihm nicht mehr.«58 Der Ausgang des emanzipatorischen Kampfes bleibt nach Foucault ungewiss.

2.3.1.4 Byung-Chul Hans kritische Rezeption der Machttheorie von Michel Foucault Hans primär auf Hegels Machttheorie basierendes Konzept von Macht weist durchaus Ähnlichkeiten zu Foucaults Machtkonzeption auf, wenn er sagt: »Eine höhere Macht ist nämlich die, die die Zukunft des Anderen bildet, und nicht die, die sie blockiert.«59 Auch Han versteht Macht als produktiv und relational und nicht primär im Sinne von Zwang. Darüber hinaus verbinden Han und Foucault die Gedanken der Reziprozität von Macht,60 der Relationalität61 und der Vereinbarkeit von Macht mit Freiheit: »Hartnäckig hält sich die Mei56 | In den Beschreibungen sind nach Foucault bereits Wertungen enthalten, es gibt nach ihm keine wertfreien Beschreibungen. Das, was sein soll, entscheidet sich in einem Kampf der Kräfteverhältnisse und bestimmt das Sein, es erscheint in naturalisierter Weise als natürlich bzw. wirklich. Befehle werden in diesem Prozess zu Normen. 57 | Wertungen können allerdings auch deutlich sichtbar sein, dann enthalten sie einen mehr oder weniger direkten Verweis auf ihre diskurs- und machtheoretischen Verankerungen. 58 | Klass 2008: 159. 59 | Han 2005a: 11. 60 | »Und komplexe Interdependenzen sorgen für die Reziprozität der Macht.« (Han 2005a: 13) 61 | »Die Macht ist aber ein Verhältnis.« (Han 2005:34)

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nung, die Macht schließe die Freiheit aus. Dies ist jedoch nicht der Fall.«62 Macht haben heißt nach Han, sich der Freiheit des Anderen bedienen: »Wer eine absolute Macht erreichen will, wird nicht von der Gewalt, sondern von der Freiheit des Anderen Gebrauch machen müssen. Sie wird in dem Moment erreicht, in dem die Freiheit und die Unterwerfung ganz zusammenfallen.«63 Trotz der Ähnlichkeiten kritisiert 64 Han Foucaults Machtkonzeption in grundlegender Weise, dieser orientiere sich am Paradigma des Kampfes,65 wodurch er dem Phänomen Macht nicht gerecht werden würde. Han dagegen geht vom Gedanken der dialektischen Versöhnung im Sinne Hegels aus, wodurch sein Theoriemodell sowohl die Auffassung von Macht als Zwang als auch die von Macht als Freiheit subsumieren könne.66 Außerdem verleite die Zerstreuung der Macht »Foucault offenbar dazu, die Macht ›nicht-subjektiv‹, d.h. rein strukturell als eine ›Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen‹ zu definieren, die ›ein Gebiet bevölkern und organisieren‹.«67 Han definiert Macht ausgehend vom Gedanken der Kontinuitätserzeugung des Macht ausübenden Ego: »Die Macht befähigt Ego dazu, im Anderen bei sich selbst zu sein. Sie erzeugt eine Kontinuität des Selbst. Ego realisiert bei Alter seine Entscheidungen.«68 Auf dieses Gefühl der Kontinuität des Selbst geht nach Han die Lust an der Macht zurück. Der Gewinn eines Mehr an Raum69 und Zeit ist nach ihm für Macht konstitutiv. Weiter heißt es bei Han: »Ganz unmöglich ist es aber, die Macht außerhalb jedes Herrschaftsverhältnisses, außerhalb jeder hierarchischen Gesellschaftsordnung zu denken. Ferner setzt die Macht notwendig eine Subjektivität, eine subjektive Intentionalität voraus.« 70 Hans Rekurs auf Hegel lässt ihn Macht als 62 | Han 2005a: 14. 63 | Ebd. 64 | Han kritisiert die Machtkonzeption von Hannah Arendt als formal bzw. abstrakt, weil sie Macht auf das Zusammenhandeln zurückführt und damit wie Habermas, der sich auf Arendt bezieht, ein kommunikatives Modell der Macht vorlegt. (Vgl. Han 2005a: 102ff.) Des Weiteren konstatiert Han innere Brüche in ihrer Theorie, insbesondere hinsichtlich der strategisch-polemologischen Dimension der Macht. (Vgl. Han 2005a: 106) Han zufolge vernachlässigt Habermas das Kampfmodell der Macht gegenüber dem Konsensmodell. Nach Han handelt es sich um bedeutsame unterschiedliche Ausprägungen von Macht, die gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. (Vgl. Han 2005a: 112) 65 | Han 2005a: 46. 66 | Han 2005a: 30. 67 | Han 2011: 111. 68 | Han 2005a: 14. 69 | Im Sinne Carl Schmitts Auffassung geht Han auch von Nebenräumen der Macht aus. (Vgl. Han 2005a: 96f.) Machträume können nach Han territorial, aber auch digital sein. (Vgl. Han 2005a: 121) 70 | Han 2011: 111f.

2.3 Subjekt und Macht

Mechanismus von Veräußerlichung und erneuter Verinnerlichung im Sinne einer Einverleibung denken. Er rekurriert hier auf die Metaphorik des Verschlingens und der Verdauung. Er denkt vom Ausübenden der Macht her das Machtverhältnis als Okkupation durch Raum- und Zeitbesetzung durch das Macht ausübende Subjekt, in dem die freiwillige Unterwerfung mehr Macht beweist als die gewaltsame Unterdrückung. In seiner Kritik vernachlässigt Han allerdings Foucaults Theorie der Gouvernementalität, in der es um die Kunst des Regierens des Anderen und des Selbst geht. An dieser Stelle denkt Foucault Macht wie Han konkret vom Machtausübenden her als Führen und Lenken durch Intentionalität. Während dieses Verhältnis bei Han als Überwältigung, Ausdehnung und Einverleibung gedacht wird, wird es bei Foucault als Kunst aufgefasst. In diesen Vorgang bezieht er bewusst ein Selbstverhältnis mit ein, das ein Veränderungspotential hinsichtlich des Denkens und Agierens in Machtprozessen beinhaltet. Hier sind nach Foucault gleichzeitig auch Herrschaftsverhältnisse als relativ stabile Machtverhältnisse theoretisch verankert, indem sich die Kunst des Führens von Menschen temporär stabilisiert. Han kritisiert an Foucaults Machtkonzeption außerdem die Vernachlässigung des Aspekts der Sinnhaftigkeit 71 von Macht durch Symbole und der Bedeutung des Sozialen, hier verweist Han auf Bourdieus Habitusbegriff. Han übersieht an dieser Stelle, dass gerade die symbolische Wirkmacht von Macht im Zentrum des Foucault’schen Denkens steht, wenn er die das Denken bestimmenden Episteme und Formen des historischen Apriori verbunden mit den im Diskurs angelegten Subjektpositionen und die Praktiken und Einrichtungen, die die Dispositive bereitstellen, herausarbeitet. Diese verborgenen, Wahrheit strukturierenden Formen, die das Denkbare, Sagbare und Sichtbare ausformen, wirken auf der symbolischen Ebene als Codes und weisen einen Naturalisierungseffekt auf. Gerade hierin sind verborgene Machtstrategien zu verorten. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von Macht-Wissen-Komplexen. Auch die soziale Ebene wird bei Foucault nicht ausgespart, ist im Gegenteil insbesondere durch den Begriff des Dispositivs im Sozialen verankert. Allerdings lässt – hier ist Han zuzustimmen – die Anwendung des Bourdieu’schen Habitusbegriffs Verdichtungen im sozialen Verhalten des Individuums im sozialen Raum deutlicher in den Blick fallen. Han kritisiert des Weiteren auch den hedonistischen Machtbegriff des späten Foucault, bei dem Macht einen spielerischen Charakter zugesprochen be71 | »Die Macht hätte er auf ihr semantisches Potential hin analysieren müssen«. (Han 2011: 46) Bei Han heißt es: »Macht stiftet Sinn.« (Han 2011: 39) Als Beispiel nennt Han Nationalkulturen mit ihren Symbolen und Erzählungen. (Vgl. Han 2011: 58) Die Sinnstiftung findet sich auch in der Formensprache, Han spricht von der »Macht-Beredtsamkeit [sic] in Formen«. (Han 2011: 42)

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kommt. »Die Macht mag zum Spiel gehören. Sie mag auch mit Spielelementen ausgestattet sein. Sie beruht aber nicht auf dem Spiel.« 72 Die von Han vorgenommene Gewichtung des Gesichtspunkts lässt nicht deutlich werden, dass Foucault hier einen weiteren Aspekt der Macht ausleuchtet, der nicht mit dem Anspruch verbunden wird, den gesamten Charakter der Macht erfassen zu wollen. In spezifischen Kontexten kann Macht nach Foucault aber durchaus einen spielerischen Charakter aufweisen, z.B. im sexuell/erotischen Bereich. Spiel ist bei Foucault des Weiteren im Kontext seiner Machtkonzeption primär im agonalen Sinne als Wettkampf bzw. kriegerische Auseinandersetzung, was Han zwar hinsichtlich von Foucaults Machtkonzeption konstatiert, aber nicht auf seinen Spielbegriff bezieht, gedacht und nicht ausschließlich mit der von Han implizierten Leichtigkeit als Loslösung von Bestehendem gleichzusetzen. Auch mahnt Han die Vernachlässigung der Erzeugung von Lust als Wirkmechanismus von Macht an. Doch dadurch dass Wissen-Macht-Komplexe nach Foucault auch die Affekte der Individuen ausbilden und im Körperlich-Seelischen Subjektivität konstruieren, ist die Einschreibung ins Begehren durchaus auch bei Foucault mit hedonistischer Wirkmacht verbunden und wird durch die Selbstverständlichkeit dieser Prozesse, die zumeist nicht wahrgenommen werden, als naturhaft aufgefasst. Der Vergleich mit Hans Machtkonzeption verdeutlicht in besonderer Weise den theoretischen Gewinn von Foucaults komplexer Machtheorie für die aktuelle Auseinandersetzung mit der Machtfrage. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Hans Neukonzeption des Phänomens Macht die Aussagekraft und Bedeutung der Machtphilosophie Foucaults nicht schmälern kann.

2.3.1.5 Zur Vielschichtigkeit des Machtbegriffs bei Foucault Die Grenzen der Macht sind in Foucaults produktiver, relationaler, dynamischer, agonaler und strategieorientierter Machtkonzeption theoretisch schon angelegt. Machtausübungen werden nicht statisch aufgefasst, sondern basieren auf der Anwendung von Handlungsstrategien, die in einem permanenten wechselseitigen Prozess gegenseitigen Strategieeinsatzes auf der Basis diskursiver und dispositiver Möglichkeiten gedacht werden müssen. Jedes Individuum wird davon ausgehend als Ausgangspunkt von Macht konzipiert. Die handelnden Individuen sind zwar zum einen durch Machtpraktiken konstituiert, gleichzeitig sind sie allerdings als Zentren von Handlungsmacht, die ihrerseits Macht ausüben, zu begreifen. Zwar ist für das Individuum keine gänzliche Herauslösung aus den bestimmenden Wissens-Machtkomplexen denkbar, in denen Subjekte konstituiert werden, andererseits besteht aber die Möglichkeit zu Kritik und Entunterwerfung. »Ein derart Eigenes zu werden, ist ein enormer 72 | Han 2005a: 65f.

2.3 Subjekt und Macht

politischer Akt, ja vielleicht ist es der politische Akt überhaupt, da er die Demokratie als politische Assoziation mündiger Bürger konstituiert.« 73 Auf der Basis der Analyse des Geworden-Seins der Subjekte und des Herausarbeitens der apriorischen Formen des Wissens im Diskursiven, der spezifischen Machtformen einer Zeit und der Anwendung von Selbsttechnologien ist dem Einzelnen eine Erweiterung seines Denk-, Gefühls- und Handlungshorizontes möglich. In diesen Prozessen werden Veränderungen des Selbst und der Gesellschaft als möglich gedacht und theoretisch fundiert. Der zugrundeliegende Freiheitsbegriff ist nicht im Sinne einer völligen Loslösung aus den Subjekte konstituierenden Bestimmungen zu denken, sondern als Freiheit auf der Basis der bestehenden Konstituierungen im gegebenen gesellschaftlich-historischen Kontext. Freiheit ist zum einen mit Prozessen der Befreiung, Umdeutung und Umgestaltung von bestehenden Formen des Wissens und der Macht und zum anderen mit einer Umgestaltung des Selbst – Prozesse, die ineinandergreifen – verbunden und somit auch die Grundlage für möglichen Widerstand. Der Freiheitsbegriff fundiert im Theoretischen keine absolute, sondern eine als relativ konzipierte Autonomie. Foucaults Freiheitsbegriff umfasst sowohl den Aspekt der Freiheit von Bestehendem als auch den der Freiheit zu einer möglichen Veränderung im emanzipatorischen Sinne – einer Veränderung des Selbst, der Beziehung zu Anderen und der Gesellschaft. Freiheits- und Machtbegriff hängen bei Foucault demnach eng miteinander zusammen. Foucaults Machtbegriff selbst bestimmt die Grenzen der Macht. Macht und Grenzen der Macht sind im strategischen Spiel inkorporiert. Genau hier liegt auch die theoretische Fundierung für Widerstand. Freiheit, Autonomie und Widerstand sind bei Foucault im Machtbegriff logisch verankert. Der in diesem Kontext bei Foucault häufig zu beobachtende Umschlag vom Deskriptiven ins Normative muss im Zusammenhang mit seiner Auffassung des grundsätzlichen Ineinander-Übergehens von Deskription und Präskription gesehen werden. Gerade die Vielschichtigkeit des Machtbegriffes bei Foucault überzeugt, da er die verschiedenen Facetten der Macht aufscheinen lässt. Foucault verdeutlicht den Charakter von Macht als System von relational gedachten Kräfteverhältnissen, die Naturalisierung durch erkenntnistheoretisch bedeutsame Formen des historischen Apriori, durch Praktiken und dispositive Rahmenbedingungen wie Institutionen, Architektur etc., den hedonistischen Charakter der Macht, ihre unterschiedlichen Formen und Herrschaftsverhältnisse, ihre möglichen Umschreibungen, Selbstverhältnisse und Verhältnisse zum Anderen und die Erscheinungsweisen auf den verschiedenen gesellschaftli73 | Brieler, Ulrich: »Foucault und 1968: Widerspenstige Subjektivitäten«. In: Hechler, Daniel; Philipps, Axel (Hg.): Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld (transcript), 2008, S. 33.

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chen Ebenen wie z.B. Religion, Ökonomie und Politik. Seine philosophische Konzeption bietet der politischen Theorie eine überzeugende Möglichkeit, die Phänomene Macht und Grenzen der Macht theoretisch zu fassen – gerade durch die machtlogische Verankerung von Freiheit und Widerstand in seinem Machtkonzept – und darüber hinaus auch in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu untersuchen. »Das Systemische und das Eigene, das Heteronome und das Autonome müssen in der historischen Dimension ihrer widersprüchlichen Symbiose befragt werden.« 74 Seine Konzeption des spezifischen Intellektuellen,75 der Politisierung der Subjektivität und des Ethos als Haltung der Kritik lässt seine Theorie gerade nicht als ethikfreie Machtkonzeption erscheinen, insbesondere die Theoreme Autonomie und Widerstand zeigen die Verbindung von Macht und Ethik in Foucaults Philosophie: Seine Ethik ist Politik 76 und seine Politik ist Ethik – bzw. soll Ethik ermöglichen. Foucault präsentiert uns innerhalb seiner Machttheorie eine Ethik der Macht.77

74 | Ebd. 75 | Mit der Figur des spezifischen Intellektuellen kritisiert Foucault Sartres Vorstellung vom Schriftsteller als universalen Intellektuellen. Der spezifische Intellektuelle dagegen ist kein Sprecher für alle Menschen, sondern Sprecher für spezifische Probleme im politischen Feld, somit nimmt Foucault eine Professionalisierung des Intellektuellen vor. Spivak dagegen setzt auf subversives Zuhören der Intellektuellen, die die Subalternen am Sprechen hindern würden. Vgl. dazu Foucault, Michel: »Die politische Funktion des Intellektuellen.« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits III: 1976-1979. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M (Suhrkamp) 2003b, S. 145-152. 76 | Bei Brieler heißt es vergleichbar: »Seine Ethik ist mithin Politik.« (Brieler 2008: 24) Auch Jens Kastner spricht in Bezug auf Foucault von einer »ethischen Dimension des Politischen.« (Kastner 2008: 49) Bei Han dagegen heißt es: »Die Politik ist also eine Praxis der Macht und Entscheidung.« (Han 2005a: 117) Dabei geht es nach Han nicht um Konsens, sondern um einen »Kompromiß als Machtausgleich«. (Ebd.) Han spart hier die ethische Dimension des Politischen aus. 77 | Den Begriff Ethik der Macht in Bezug auf Foucaults Machttheorie übernehme ich von Han: »Foucaults Ethik der Macht beruht auf einer Ethik der Selbstsorge.« (Han 2005a: 131) Damit ergibt sich eine klare Position hinsichtlich der von Hechler/Philipps geäußerten Alternative: »Dabei ergeben sich zwei Standpunkte: Die einen sehen den Widerstandsbegriff bei Foucault von sämtlichen moralischen Implikationen bereinigt und damit in der Nähe einer nietzscheanischen Bejahung der Macht, während die anderen die Legitimität von Widerstand in Foucaults Rekurs auf Kritik und Aufklärung nachzuweisen suchen.« (Hechler/Philipps 2008: 11f.) Nach Foucault kann Macht unterschiedliche Formen annehmen, dennoch kann bei ihm von einer Ethik der Macht gesprochen werden.

2.3 Subjekt und Macht

2.3.2 F oucaults M achtkonzep tion aus S icht der post -  und dekolonialen Theorien von M bembe und M ignolo 2.3.2.1 Foucaults Machttheorie und das post- und dekoloniale Denken Der afrikanische Philosoph Mbembe weist auf den blinden Fleck Foucaults hin, der in dessen Konzentration auf das abendländische Denken besteht, eine Aussparung, die Foucault die koloniale Plantage als Wurzel und Experimentierfeld für disziplinarische Techniken übersehen lässt. Neben Mbembes Kritik der Vernachlässigung des Post/kolonialismus in Foucaults Machtkonzeption – insbesondere im Hinblick auf die Disziplinarmacht – wird eine radikale Kritik an dessen machttheoretischem Denken sichtbar, in der die Notwendigkeit einer Erweiterung und Ergänzung seiner Theorie der Macht gefordert wird. In der postkolonialen Situation verbinden sich nach Mbembe Disziplinierung, Biopolitik und Nekropolitik. So entwickelt Mbembe das Konzept der Nekromacht, um die Anwendung aktueller Machttechniken im Massaker und in den weltweit praktizierten Terrorformen theoretisch fassbar zu machen. Auch der argentinische dekoloniale Denker Mignolo kritisiert vehement Foucaults Machtkonzeption und fordert das Einbeziehen geographischer Wissenskonstruktionen und Machttechniken, er spricht von geopolitics and bodypolitics, die den Körper als rassistisches Objekt berücksichtigen. Foucault fokussiere nur den Staatsrassismus, sein Blick auf das Phänomen des Rassismus müsse ausgeweitet werden. Es geht nach Mignolo dabei insbesondere um das decolonial thinking, das mit Klassifizierungen und Umwertungen verbunden sei und Identitätskonstruktionen betreffe. Michel Foucaults Konzept der Biopolitik müsse deshalb um die Aspekte Geopolitik und Körperpolitik erweitert werden. Im Zusammenhang mit dieser Kritik stellt sich die Frage nach der Relevanz von Foucaults Machtkonzeption für das post- und dekoloniale Denken und nach der Aktualität seiner Theorie? In welcher Form wird Foucaults Konzept von Macht in der postkolonialen bzw. dekolonialen Philosophie bzw. Theorie von Mbembe und Mignolo aufgegriffen? Ist Foucaults Machtkonzeption – ggf. in modifizierter Form – im Rahmen der post- und dekolonialen Theorien nach wie vor von Bedeutung oder müssen Machtformen und -strategien heute unter Berücksichtigung post- und dekolonialer Forschung neu konzipiert werden, um die aktuelle gesellschaftspolitische Situation im weltweiten Kontext angemessen erfassen zu können? Welche Relevanz haben Foucaults Machtformen wie z.B. die Disziplinarmacht und Biomacht im aktuellen Kontext? Und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang heute das Konzept des Panoptikums bzw. Panopticons aus seinem Werk Überwachen und Strafen?

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2.3.2.2 Foucaults Überwachen und Strafen und seine Konzeption von Macht Foucault untersucht in seinem Werk Überwachen und Strafen, in dem er »eine Geschichte der Gegenwart« schreiben möchte,78 die Zieländerung der Strafe von der Marter, die sich mittels Schmerztechniken an den menschlichen Körper wendet, hin zu einer auf die Beeinflussung der Seele 79 ausgerichteten Technik des Bestrafens, die mittels der Überwachung durch den panoptischen Blick eine Kontrolle des Individuums anstrebt, wobei es nach wie vor um eine »›politische Ökonomie‹ des Körpers« 80 geht. Hiermit verändert sich auch die mit einem richterlichen Urteil verbundene Wahrheitsfrage. Im Zentrum steht nicht mehr die Frage nach der Tat, sondern die Frage nach ihrem Ursprung im Täter.81 Mit der Verurteilung sind ›Normalitätsabschätzungen‹ 82 verbunden, die mit der Entwicklung der Humanwissenschaften Hand in Hand gehen. Diese Strafmechanismen sind als Machttechniken anzusehen, die im Kontext politischer Taktik verortet werden können und mit den gesellschaftlichen Produktionssystemen in Beziehung stehen.83 Sie richten sich auf den Körper. Bei 78 | Foucault 1994: 43. 79 | Foucault erläutert: »In dieser Seele wäre also nicht ein wiederbelebtes Relikt einer Ideologie zu erblicken, sondern der aktuelle Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht über den Körper.« (Foucault 1994: 41) Und weiter: »Historische Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zu der von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nicht schuldbeladen und strafwürdig geboren wird, sondern aus Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung, des Zwangs geboren wird.« (Foucault 1994: 41f.) Er spitzt weiter zu: »Eine ›Seele‹ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.« (Foucault 1994: 42) 80 | Foucault 1994: 36. 81 | »Eine ganze Reihe von abschätzenden, diagnostischen, prognostischen, normativen Beurteilungen des kriminellen Individuums ist in die Apparatur des Gerichtsurteils eingezogen.« (Foucault 1994: 29) 82 | Vgl. Foucault 1994: 31. 83 | »Rusche und Kirchheimer haben in dieser Perspektive die verschiedenen Strafsysteme mit den Produktionssystemen in Beziehung gesetzt, in welchen sie ihre Wirkungen ausüben: in der Sklavenwirtschaft haben die Strafmechanismen die Aufgabe, zusätzliche Arbeitskraft herbeizuschaffen – und damit eine ›zivile‹ Sklaverei neben der durch Krieg und Handel sichergestellten zu schaffen; mit dem Feudalzeitalter und seiner geringen Entwicklung von Geld und Produktion nehmen die körperlichen Züchtigungen stark zu – der Körper ist ja häufig das erreichbare Gut; das Zuchthaus (Hôpital générale, Spinhuis oder Rasphuis), die Zwangsarbeit, die Strafmanufaktur erscheinen mit der

2.3 Subjekt und Macht

Foucault heißt es dazu: »[Z]u einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist.« 84 Foucault spricht diesbezüglich von einer »Mikrophysik der Macht«, der das Modell einer immerwährenden Schlacht zugrunde liegt.85 »Die Umwälzung dieser ›Mikromächte‹ gehorcht nicht dem Gesetz des Alles oder Nichts. Sie wird nicht ein für allemal durch eine neue Kontrolle über die Apparate erreicht, ebensowenig wie durch ein Erneuerung oder Zerstörung der Institutionen; vielmehr besteht sie aus einzelnen Episoden, die jeweils in ihr Geschichtsnetz verflochten sind.«86 Bestrafungstechniken stehen nach Foucault somit stets in einem spezifischen gesellschaftspolitischen Kontext und sind als »Kapitel der politischen Anatomie« in die »Geschichte dieses politischen Körpers einzuordnen.«87 Foucault spricht von einem »System permanenter Kontrolle der Individuen« in der Disziplinargesellschaft, für die Überwachen und Strafen kennzeichnend sind. Er sagt: »Es ist eine Untersuchung, bei der das Individuum a priori unter Generalverdacht steht. Man kann diese ununterbrochene, stufenförmige, akkumulierte Untersuchung als eine Prüfung (examen) bezeichnen, […] die eine fortwährende Kontrolle und einen ständigen Entwicklung der Tauschwirtschaft. Da jedoch das industrielle System einen freien Markt der Arbeitskraft verlangt, geht im 19. Jahrhundert der Anteil der Zwangsarbeit innerhalb der Strafmechanismen zurück; an ihre Stelle tritt eine Internierung mit dem Ziel der Besserung.« (Foucault 1994: 35f.) 84 | Foucault 1994: 37. 85 | Foucault 1994: 38. Und weiter: »Diese Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet; nicht so sehr das erworbene oder bewahrte ›Privileg‹ der herrschenden Klasse, sondern vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen – eine Wirkung, welche durch die Position der Beherrschten offenbart und gelegentlich erneuert wird. Andererseits richtet sich diese Macht nicht als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ›sie nicht haben‹; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch, sie stützt sich auf sie, ebenso wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, daß sie von der Macht durchdrungen sind.« (Foucault 1994: 39) In seinen Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1972 und 1973 spricht Foucault auch vom Modell des Bürgerkrieges, um Machtprozesse zu verdeutlichen. Er sagt: »Die tagtägliche Machtausübung muss man als einen Bürgerkrieg betrachten können: Macht auszuüben ist eine bestimmte Art, Bürgerkrieg zu führen, und all die Instrumente, die Taktiken, die man hier ausmachen kann, müssen in den Begriffen des Bürgerkriegs zu analysieren sein.« In: Foucault, Michel: Die Strafgesellschaft: Vorlesung am Collège de France 1972-1973. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2015, S. 53. 86 | Foucault 1994: 39. 87 | Foucault 1994: 40.

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Foucault heute Druck gestattet, die erlaubt, dem Individuum in all seinen Bemühungen zu folgen, zu sehen, ob es geregelt oder ungeregelt, solide oder disziplinlos, normal oder anormal ist.« 88

Es geht dabei insbesondere um die Kontrolle über die Zeit: »Man geht von der örtlichen Bindung zur zeitlichen Beschlagnahme über.« 89 Foucault spricht von einer Überwachungskultur und in Bezug auf das 19. Jahrhundert vom ›Zeitalter des Panoptismus‹.90 Panoptismus kann basierend auf einem architektonischen Prinzip struktureller Überwachung, das zur Selbstkontrolle führt, als gleichzeitige Okkupation des Raumes und der Zeit angesehen werden und beinhaltet eine »Asymmetrisierung der Blicke« und eine »Inversion der Hierarchie der Sichtbarkeit«.91 Kammerer spricht von einer »Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit der Macht« 92 und dem »Effekt des Überwachtwerdens« bzw. von einer »Inszenierung einer unerreichbaren Omnipräsenz«.93 Weiter heißt es bei ihm: »Der Zwang wird unsichtbar, wo die Zwangsmittel einen Zustand völliger Sichtbarkeit etablieren.«94 Foucault bezeichnet den Panoptismus als Gesellschaftsform: »Doch die Gefängnis-Form ist weit mehr eine Gesellschaftsform denn eine Architekturform.«95 Überwachung führt nach Foucault auch »zu einer neuen Form des Wissens.«96 Die panoptischen Tendenzen sind in modifizierter Form gleichermaßen auch in den folgenden Jahrhunderten zu beobachten. Auch heute noch kann von einer »surveillance society«97 gesprochen werden, die insbesondere das »dataveillance«, »social sorting« und »Risikomanagement«,98 insbesondere auf der Basis des Sammelns und Verarbeitens personenbezogener Daten über technische Medien, vorsehen. Begriffe wie Superpanopticon, Omnicon, Ban-opticon und Hyperpanoptics illustrieren den Versuch der Rettung und 88 | Foucault 2015: 170f. 89 | Foucault 2015: 291. 90 | Foucault 2015: 350. 91 | Kammerer, Dietmar: Bilder der Überwachung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2008, S. 115. 92 | Kammerer 2008: 117. 93 | Kammerer 2008: 120. Bei Kammerer heißt es: »Das Panopticon ist eine Maschine, die die Einbildungsmacht in ihre Operationen einbaut« (Kammerer 2008: 121). 94 | Kammerer 2008: 114. Und weiter: »Fortan war die Macht in ein Dunkel getaucht, während das Individuum ins Licht der Bühne gezerrt wurde.« (Kammerer 2008: 118) 95 | Foucault 2015: 308f. 96 | Foucault 2015: 309. 97 | Kammerer 2008: 46. Kammerer rekurriert auf David Lyon, z.B. Lyon, David: Surveillance society. Monitoring Everyday Life. Buckingham (Open University Press), 2001. Kammerer bezieht den Ausdruck primär auf Bildmedien wie Überwachungskameras. 98 | Vgl. Kammerer 2008: 85ff.

2.3 Subjekt und Macht

Übertragung der Foucault’schen Machtform des Panopticons auf das ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert.99 »An dieser neuerlichen ›Erfolgsgeschichte‹ des Panoptischen muss vor allem verwundern, wie umstandslos die Prinzipien einer zentralistisch organisierten Machtarchitektur aus dem 18. Jahrhundert auf die dezentralen Netzwerk-Verhältnisse des ausgehenden 20. Jahrhunderts übertragen werden. […] Der Erfolg hat das Konzept überstrapaziert.«100 Nach Kammerer zeichne sich aber »kein neues Paradigma ab.«101 Er fordert ergänzend den Rekurs auf den Begriff der Kontrollgesellschaft, den Deleuze stark gemacht hat. »Nach Foucault schickt sich nun Gilles Deleuze an, zum neuen Stichwortgeber der Surveillance Studies zu werden. […] Unter ›Kontrollgesellschaft‹ versteht der französische Philosoph eine Reihe von sozialen und technischen (Trans-)Formationen, die am Werk sind, die ›Disziplinargesellschaft‹ abzulösen. […] Deren Einschließungsmilieus – die Gefängnisse, Hospitäler, Schulen, Kasernen und Fabriken – befinden sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in Auflösung.«102 Gleichzeitig ist auch eine Zunahme des Sicherheitsbedürfnisses zu verzeichnen. »Inzwischen sind die allermeisten von uns offenbar geradezu süchtig nach Sicherheit. Wir haben eine Weltanschauung verinnerlicht, die auf der Allgegenwart der Gefahr und der unausweichlichen Notwendigkeit ständigen Mißtrauens und Argwöhnens beruht und sich das Zusammenleben einer Nation nur noch unter dem Schutz ständiger Wachsamkeit vorzustellen vermag – und damit sind wir davon abhängig geworden, daß Überwachungsmaßnahmen durchgeführt werden und daß wir es auch mitbekommen.«103

In den heutigen Gesellschaften sind Beweglichkeit und Mobilisierung nach dem Prinzip des »governing by freedom«104 maßgeblich, die mit einer kontinuierlichen Kontrolle verbunden sind.105 Foucault hat diesen Typus des Regierens in seiner Untersuchung des Liberalismus und Neoliberalismus schon aufgezeigt. »Überwachung wird nicht (in erster) Linie durch Zwang, sondern durch

99 | Vgl. Kammerer 128. Er bezieht sich hier auf Haggerty. Vgl. Haggerty, Kevin: »Tear down the walls. On demolishing the panopticon«. In: Lyon David: Theorizing Surveillance. The panopticon and beyond. Cullompton (Willan), 2006, S. 23-45. 100 | Kammerer 2008: 127. 101 | Kammerer 2008: 128. 102 | Kammerer 2008: 131. Gleichermaßen ist ein Rückgriff auf Deleuze Begriff des Gefüges zu beobachten, z.B. in ›Überwachungsgefüge‹. (Vgl. ebd.) 103 | Baumann, Zygmunt; Lyon, David: Daten, Drohnen, Disziplin: Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin (Suhrkamp), 2014, S. 131. 104 | Kammerer 2008: 134. 105 | Vgl. Kammerer 2008: 132.

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Verführung erreicht.«106 Diese Entwicklung macht Foucaults Erkenntnisse über den Panoptismus allerdings nicht überflüssig. Es heißt bei Kammerer: »Doch ausgerechnet in einer maximal medialisierten Hightech-Überwachung, in der menschliche Augen durch Algorithmen und smarte Kameras abgelöst werden sollen, wird das alte architektonische Prinzip Benthams, der disziplinierende und kontrollierende Zugriff aufs Subjekt durch die Konfiguration des Raumes, aufs Neue entscheidend. Am Anfang stand der Rundturm – nun scheint die Rolltreppe der privilegierte Ort des panoptischen Blicks zu sein.«107

Gebäude und bauliche Arrangements, steuernde Räume, die Bewegungen lenken und regulieren, »werden in Zukunft zunehmen.«108 Auch die 360°-Kameras und Aufkärungsdrohnen verkörpern noch das panoptische Prinzip. Kammerer sagt: »Insofern ist das Benthamsche Prinzip erst in den intransparenten und panoptisch runden Gehäusen der Dome-Kameras voll verwirklicht.«109 Sie »erlauben den vollen 360°-Rundumschwenk.«110 Videoüberwachung als Kontrolltechnik kann über die Funktion der Überwachung und der Erhöhung der Sicherheit hinaus z.B. unter Einbeziehung ihrer Entertainmentfunktion als generelles »kulturelles Phänomen unserer Zeit«111 angesehen werden. Hierin manifestiert sich die Durchdringung des Gesellschaftskörpers im Ganzen mit diesen Machttechniken. Auch Baumann betont die Aktualität des Modells Panoptikum: »So wie ich es sehe, erfreut sich das Panoptikum bester Gesundheit«.112 Er spricht davon, dass jeder sein »persönliches Panoptikum« hervorbringt und »auf dem eigenen Buckel« mitschleppt.113 In den Zeiten der ›flüchtigen Überwachung‹ könne es allerdings nicht mehr »als universelles Muster beziehungsweise die universelle Strategie der Herrschaft, wie zur jeweiligen Zeit dieser beiden Autoren [gemeint sind Bentham und Foucault], und nicht einmal mehr ihr vornehmstes oder am häufigsten praktiziertes Mittel«114 an106 | Kammerer 2008: 134. Jede Überwachung zeigt den »Lynchen Doppelaspekt von care and control«. (Kammerer 2008: 227) 107 | Kammerer 2008: 210. 108 | Ebd. 109 | Kammerer 2008: 232. 110 | Ebd. Ergänzend verweist Kammerer hier auf Cusanus. (Vgl. Kammerer 2008: 233f.) 111 | Kammerer 2008: 268. 112 | Baumann/Lyon 2014: 74. 113 | Baumann/Lyon 2014: 78. 114 | Baumann/Lyon 2014: 74. Auch die Techniken des Zwangs sind in diesen Veränderungsprozess involviert. Sie sind zunehmend durch Verlockung und Verführung ersetzt worden. (Vgl. Baumann/Lyon 2014: 76f.)

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gesehen werden. Es erfahre jeweils spezifische Veränderungen.115 Es zeigt sich, dass Foucaults Überlegungen aus Überwachen und Strafen auch heute noch stark diskutiert, auf ihre aktuelle Relevanz hin untersucht und in verschiedener Hinsicht modifiziert werden. Auch die post-/dekolonialen Denker Achille Mbembe und Walter Mignolo setzen sich kritisch mit Foucaults Machtkonzeption auseinander. Welche besonderen Erkenntnisse werden im post- und dekolonialen Denken im Hinblick auf Foucaults Theoreme entwickelt?

2.3.2.3 Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft und sein Machtkonzept Mbembe beschwört in seiner Schrift Kritik der schwarzen Vernunft die Gefahr des ›Schwarzwerdens‹ der Welt. »Transnationalisierung der conditio nigra ist daher ein konstitutives Moment der Moderne«.116 Schwarze Vernunft kann als ein in ein Dispositiv eingebetteter Diskurs des Ausschließens des rassischen Subjekts, in dem es gleichermaßen um dessen Konstituierung geht, verstanden werden: »In diesem Zusammenhang bezeichnet schwarze Vernunft ein Ensemble aus Diskursen wie auch Praktiken – die alltägliche Arbeit, die darin bestand, Formeln, Texte, Rituale zu erfinden, zu erzählen und zu wiederholen, und das alles mit dem Ziel, den Neger als Rassensubjekt und wildes Außenstehendes hervortreten zu lassen, das als solches moralisch abgewertet und praktisch instrumentalisiert werden konnte.«117

Der in Anlehnung an Kant provokativ gewählte Titel weist zum einen auf die auf der Basis einer konstruktivistisch ausgerichteten Erkenntnistheorie vorgenommene Analyse der mit Praktiken verbundenen rassischen Diskurse118 insbesondere westlicher Provenienz hin – mit moralischen, sozio-politischen und 115 | Hierzu zählt auch der »von Wacquant beschriebene ›wohlfahrtsstaatliche Panoptismus‹«. (Baumann/Lyon 2014: 79) Didier Bigo entwickelt die These des ›Bann-optikums‹, das Fernhalten von Externen aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus, und spricht hinsichtlich des Panoptismus im Allgemeinen von einem heterogenen und fragmentarischen Dispositiv. (Vgl. Baumann/Lyon 2014: 81ff.) Auch die Schaffung von Durchgangs- bzw. Flüchtlingslagern ist in diesem Kontext zu betrachten. (Vgl. Baumann/Lyon 2014: 84ff.) In diesem Zusammenhang ist auch der von Mathiesen geprägte Begriff des ›Synoptikums‹, nach dem viele wenige beobachten, als Veränderung bzw. Ergänzung zu Foucaults Begriff des Panoptikums zu sehen. (Vgl. Baumann/Lyon 2014: 89ff.) 116 | Mbembe 2014: 37. 117 | Mbembe 2014: 62f. 118 | Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert konstatiert Mbembe die Gefahr einer neuen Variante des Rassismus, die mit einem Rückgriff auf die Genetik

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ökonomischen Auswirkungen – als auch darüberhinaus auf die Untersuchung des ›schwarzen‹ Denkens, der Ausführungen der Theoretiker des Panafrikanismus, der Négritude-Bewegung und der postkolonialen Theorie, die sich mit der Thematik – zumeist verbunden mit einem »Appell an die Rasse«119 – kritisch auseinandersetzen. Die rassische Untergliederung und die darauf aufbauende Bewertung der Rassen lässt sich nach Mbembe mit dem von Foucault in Die Ordnung der Dinge konstatierten, nach Gattungen und Arten klassifizierenden Denken in Verbindung bringen. Nach Foucault sind, wie Mbembe deutlich macht, Rasse und Rassismus »die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft«. Er verweist auf Foucault: »Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der BioMacht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.«120 Es zeigt sich, dass Mbembe explizit auf Foucaults diskursanalytisches und historisch/genealogisches Vorgehen in dessen empirischer Konkretheit und seine biopolitischen Überlegungen zum Rassismus rekurriert. Andererseits kritisiert er Foucaults Philosophie tiefgreifend, z.B. hinsichtlich des Übersehens der Plantage und der Kolonie bei seiner Untersuchung der disziplinarischen und biopolitischen Machttechniken. Außerdem vernachlässigt Foucault nach Mbembe bei seiner Analyse der gleichzeitigen Herstellung und Zerstörung von Freiheit im Liberalismus121 die Tatsache, »dass die Versklavung des Negers den Höhepunkt dieser Zerstörung der Freiheit darstellt.«122 Nach ihm ist die Plantagenwirtschaft123 ökonomische und soziale Grundlage der Moderne. In der Plantage, die als eine Art Experimentierfeld betrachtet werden könne, entwickeln sich Techniken des Strafens und Disziplinierens, was von Foucault in verbunden ist, bei der auf Grundlage von molekularbiologischen Techniken Leben nach rassischen Kriterien umgestaltet werden kann. 119 | Mbembe 2014: 75. 120 | Mbembe 2014: 72. Mbembe verweist hier auf Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975-1976. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1999, S. 295ff. 121 | Mbembe rekurriert auf Foucault, Michel: Die Geschichte der Biopolitik II. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2004b, S. 98. »Die Herstellung der Freiheit hat also einen Preis, dessen Berechnungsgrundlage Sicherheit und Schutz sind. Mit anderen Worten, die dem Liberalismus und der gleichnamigen Demokratie eigene Machtökonomie beruht auf dem Wechselspiel zwischen Freiheit, Sicherheit und Schutz vor den allgegenwärtigen Bedrohungen, Risiken und Gefahren.« (Mbembe 2014: 155) 122 | Ebd. Es heißt bei Mbembe weiter: »Diese Gefahr ist der Negersklave.« (Mbembe 2014: 156) 123 | Nach Mbembe entsteht »die eigentliche Plantagengesellschaft«, die zur Aufspaltung in Kolonialherren und multirassischen Unterjochten führt, zwischen 1630 und 1680. (Vgl. Mbembe 2014: 45)

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seiner Analyse der Disziplinarmacht, die Institutionen wie Gefängnis, Militär, Fabrik und Schule fokussiert, übersehen werde. »Die Plantage verwandelt sich schrittweise in eine ökonomische Institution disziplinierenden und strafenden Charakters.«124 Die dort gewonnenen Erfahrungen wurden auf andere Bereiche übertragen. Dieser Prozess werde vom Gebrauch von Sicherheitsinstrumenten und von einer gesetzgeberischen Arbeit, deren Ziel die »Konstruktion der Rechtsunfähigkeit« der Sklaven ist, begleitet.125 Er steht im Zusammenhang mit dem Aufschwung und der Expansion des Kapitalismus. Entgegen der Behauptung von Mbembe geht Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen im Rahmen der Untersuchung der Folter durchaus auf die Praxis der Sklavenmartern ein. Er sagt: »Tatsächlich ist die Praxis der Folter uralt: sie geht nicht nur auf die Inquisition, sondern weit darüber hinaus auf die Sklavenmartern zurück«.126 Des Weiteren geht er auch von einem Zusammenhang zwischen Strafpraxis und Produktionssystem aus. Es heißt bei ihm: »in der Sklavenwirtschaft haben die Strafmechanismen die Aufgabe, zusätzliche Arbeitskraft herbeizuschaffen«.127 Mbembes Vorwurf der Vernachlässigung von Kolonialismus, Sklaverei und Plantagenwirtschaft lässt sich also in dieser Schärfe nicht aufrechterhalten. Schon im Vorwort von Wahnsinn und Gesellschaft128 spricht Foucault von der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes, die aus der Abgrenzung gegenüber dem Orient entstanden sei. Auch betont er die mit der Kolonialisierung verbundene Konstitution von Wissen, den Zusammenhang von Wissen und Macht und die damit einhergehende Ausbeutung und Gewalt: »Maybe could we also say that in order to know other cultures – non-Western cultures, so-called primitive cultures, or American, African, and Chinese cultures etc. – in order to know these cultures, we had not only to marginalize them, not only to look down upon them, but also to exploit them, to conquer them and in some ways through violence to keep them silent?«129

Festzustellen ist allerdings, dass Foucault diese Phänomene nicht in detaillierter Weise allumfassend untersucht, sondern primär deren kontextuelle Orte 124 | Ebd. 125 | Mbembe 2014: 51, 45. 126 | Foucault 1994: 54. 127 | Foucault 1994: 35f. 128 | Foucault 1973. 129 | Diese Äußerung Foucaults stammt aus einem lange verschollenen Interview aus dem Jahre 1971, das in seiner Pariser Wohnung aufgenommen wurde. Siehe: Foucault, Michel: The lost interview. Paris, 1971; online: https://www.youtube.com/ watch?v=qzoOhhh4aJg; zuletzt aufgerufen am 28.01.2018.

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markiert. Hier füllt Mbembe eine wichtige Lücke, indem er die Sklaverei verbunden mit der »Struktur des Plantagensystems« sowohl als Experimentierfeld für Disziplinartechniken als auch »eines der ersten Beispiele des biopolitischen Experimentierens« untersucht, deren Ausgangspunkt die selection of race darstellt.130 In der aktuellen weltpolitischen Situation lässt sich nach Mbembe die Kombination von Biopolitik mit der Machtform Disziplin, mit den Techniken aus dem Kampf gegen Aufständische in der Epoche der Entkolonialisierung und aus den ›schmutzigen Kriegen‹ des Ost-West-Konflikts und dem ›Kampf gegen den Terror‹, mit der Massenüberwachung zur Gewinnung von Daten – neben der biopolitischen131 eine Art ›digitaler‹132 Macht – beobachten, bei der es zur Kriegsführung aus der Ferne und zur »Gleichschaltung der zivilen, polizeilichen, militärischen und geheimdienstlichen Sphäre«133 kommt.134 Mbembe entwickelt in diesem Kontext zusätzlich das Konzept der Nekromacht, eine »Terrorformation«,135 und Nekropolitik, um die Anwendung aktueller Machttechniken im Blitzkrieg, im Massaker und in den weltweit praktizierten Terrorformen theoretisch fassbar zu machen. Nekromacht wird als Herrschaft über Leben und Tod verstanden. Hierzu gehört auch die Inszenierung öffentlicher Opfer wie insbesondere Enthauptungen, bei denen »identifizierbare Individuen einer ritualisierten, einem vorgegebenen Ablauf folgenden Zeremonie des gewaltsamen Todes unterworfen werden«.136 Der terroristische Märtyrer 130 | Mbembe 2011: 72. Mbembe charakterisiert die Plantage näher als Verknüpfung von Biomacht, Ausnahmezustand und Belagerungszustand. (Vgl. Mbembe 2014: 73) 131 | Z.B. Abdrücke der Finger, der Iris, der Netzhaut, der Gesichtsform und der Stimme. 132 | Z.B. digitale Abdrücke der Telekommunikation, der Internetnutzung und der Videoüberwachung. 133 | Vgl. Mbembe 2014: 53. 134 | »Die neuen Sicherheitsinstrumente greifen nicht nur Elemente früherer Regime wieder auf (Disziplinierungs- und Strafregime im Rahmen der Sklaverei, Elemente der kolonialen Eroberungs- und Okkupationskriege, juristisch-gesetzlicher Ausnahmeregelungen), die auf nanozellularer Ebenen im Rahmen von Taktiken des Genomzeitalters und des ›Kriegs gegen den Terror‹ eingesetzt werden, sondern auch Techniken aus den in der Epoche der Entkolonialisierung gegen Aufständische geführten Kriegen, aus den ›schmutzigen Kriegen‹ des Ost-West-Konflikts (Algerien, Vietnam, südliches Afrika, Burma, Nicaragua) und den Erfahrungen bei der Institutionalisierung räuberischer Diktaturen unter dem Druck oder mit Hilfe westlicher Geheimdienste in aller Welt.« (Mbembe 2014: 51) 135 | Mbembe 2011: 78. 136 | Appadurai, Arjun: Die Geographie des Zorns. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2009, S. 26. Der Autor spricht von einer »Rückkehr zu einer der elementarsten Formen religiö-

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ist »kein passiver Märtyrer, sondern ein aktiver, gefährlicher, explodierender – kurz: ein mörderischer Märtyrer.«137 Das Sicherheitsdispositiv erfährt in diesem Kontext aktuell eine Zunahme an Bedeutung und eine Ausdifferenzierung durch neue Machttechniken biopolitischer und digitaler Art. Nach Foucault, auf den Mbembe hier rekurriert, sind der Liberalismus und der Neoliberalismus, die eine Freiheit des Marktes voraussetzen, historisch und politisch immer schon eng mit der Frage nach der Sicherheit verbunden. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer ›Kultur der Angst‹. Die Zunahme der Sicherheitstechniken in der aktuellen Situation nennt Baudrillard provokativ ›Sicherheitsterror‹. Bei Mbembe heißt es dazu im Hinblick auf den Aspekt Rasse: »Die Folge dieser Angst war stets, wie Foucault anmerkt, die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung und des Zwangs, die keineswegs Verirrungen darstellen, sondern das Gegenstück der Freiheiten bilden. Die Rasse und insbesondere die Existenz der Negersklaverei waren eine treibende Kraft bei der geschichtlichen Herausbildung dieser Gegenstücke.«138 Auch hier weist Mbembe, Foucaults Ausführungen ausweitend, auf die Bedeutung des Rassismus für die Ausformung der Kontrollpraxis, die im Zusammenhang mit der Konstitution von Angst stehe, und dessen psychologische Dimension hin.139 Im Sinne eines Ban-opticons lassen sich nach Kammerer rassistische Momente z.B. auch bei Gesichtserkennungsprogrammen zur Analyse von Videomaterial der Überwachungskameras erkennen. Bei ihm heißt es: »Das Ergebnis: Algorithmen sind keineswegs farbenblind. In einem ersten Testablauf wurden Nicht-Weiße von den Systemen durchgehend leichter identifiziert als Weiße. […] ›Weiß-Sein‹ [wurde] vom System auf eine andere Weise ›bevorzugt‹, als die Forscher dies erwartet hatten.«140 Mbembe geht außerdem von der These aus, dass aktuelle staatliche Machtformen nach wie vor auf rassistische Unterscheidungen auf bauen, im Sinne des von Foucault untersuchten Staatsrassismus.141

ser Gewalt, dem Opfer«. (Ebd.) Sie sind »Pendants der Selbstmordattentäter«. (Appadurai 2009: 27) »Diese Körper zeugen von dem verzweifelten Versuch, wieder ein religiöses Element in die Zonen des Todes und der Zerstörung einzuführen, die so unvorstellbar abstrakt geworden sind.« (Ebd.) 137 | Appadurai 2009: 95. 138 | Mbembe 2014: 156. 139 | Foucault bezieht sich hier auf Fanons Ausführungen in Fanon, Frantz: Peau noire, masques blancs. Paris (Éditions Points), 1971. 140 | Kammerer 2008: 101. Deutlich wird hier, dass Fanons Erkenntnisse in modifizierter Form immer noch aktuell sind. 141 | Vgl. Mbembe 2014: 72. Siehe dazu auch: Foucault, Michel: »Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus: Vorlesung von März 1976«. In: Reinfeld,

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Mbembes Überlegungen stellen – insgesamt betrachtet – eine Ausdifferenzierung, Erweiterung und Umschichtung bzw. eine andere Schwerpunktsetzung hinsichtlich einzelner Machtstrategien und/oder innerhalb bestimmter Machtformen bei Foucault dar, so z.B. hinsichtlich der Biopolitik und der Disziplinarmacht, die er verstärkt unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle betrachtet, die sich zu einer Art Kontrollmacht verstärkt, die z.B. auch neue gentechnische und digitale Strategien – eine sogenannte ›digitale‹ Macht – berücksichtigt. Diese müssen in ihrer jeweiligen Spezifität untersucht werden. Zum anderen stellt die Machtform ›Nekromacht‹ eine Ergänzung zu den Machttechniken Foucaults dar. Sie weist zwar mit der Souveränitätsmacht bei Foucault Ähnlichkeiten auf,142 hat aber durch den möglichen Einsatz des eigenen Körpers als Waffe doch einen grundsätzlich anderen Charakter. Appadurai kennzeichnet diesen Typus der Macht indirekt als zellular143 und spricht von einer neuen »Logik der Zellförmigkeit«.144 Vergleichbar, aber doch andere Akzente setzend, spricht Baudrillard in Bezug auf die Macht von einer »viralen Natur«, was die rasante Ausbreitung und den Gedanken der Ansteckung fokussiert.145 Zu beobachten ist weiterhin, dass Mbembe in seinen Ausführungen die Bedeutung der pastoralen Macht als eine Machtform der Fürsorge übersieht, die im ausgehenden 20. Jahrhundert nach Foucault insbesondere in der Kombination mit Sebastian; Schwarz, Richard (Hg.): Bio-Macht. DISS-Texte, Nr. 25, Duisburg, 1992b, S. 27-50. 142 | Foucault spricht vom terrorisierenden Charakter der Souveränitätsmacht hinsichtlich ihrer Strafpraxis: »[U]nd diese bemächtigt sich nun – vermittelt ihrer Beauftragten – des Körpers des Verurteilten, um ihn gebrandmarkt, besiegt, gebrochen vorzuführen. Die Strafzeremonie ist also ›terrorisierend‹.« (Foucault 1994: 65) 143 | Appadurai unterscheidet vertebrale Systeme, zu denen er den Nationalstaat zählt, und zellulare Systeme. (Vgl. Appadurai 2009: 35) Der globale Kapitalismus ist nach ihm sowohl vertebral als auch zellular organisiert. Zellförmigkeit charakterisiert sowohl das Kapital als auch den internationalen Terror. (Vgl. Appadurai 2009: 41) »Der von zellularen Netzwerken organisierte Terror läßt die vertebralen Strukturen des Staates vor Angst erstarren und verwischt die Grenzen zwischen inneren und äußeren Feinden.« (Appadurai 2009: 127) Auch Appadurai verweist auf die Kolonialgeschichte, um aktuelle politische Erscheinungen zu analysieren. 144 | Appadurai 2009: 45. 145 | Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. Wien (Passagen), 2 2011, S. 16. »Das vierte Stadium sind die Viren [er unterscheidet vier Phasen: Wölfe, Ratten, Käfer und Viren], sie bewegen sich praktisch in der vierten Dimension. Gegen Viren kann man sich viel schlechter verteidigen, denn sie sind im Herzen des Systems.« (Baudrillard 2 2011: 86) Und weiter: »Der Terrorismus ist nicht einfach die Antithese des Systems, er ist etwas anderes, eine Andersheit, die sich nicht integrieren oder assimilieren lässt.« (Baudrillard 2 2011: 88)

2.3 Subjekt und Macht

der Biomacht und Disziplinarmacht anzutreffen ist. Pastoralmacht ist auch im 21. Jahrhundert noch von großer Bedeutung und spielt insbesondere bei der Frage der Legitimation von Macht eine entscheidende Rolle. Sie bildet sich, was sich u.a. aus der Aussage von Baumann/Lyon schließen lässt, auch in der Ambivalenz von Sorge und Kontrolle ab: »Ich behaupte seit langem, daß Überwachung zwar oft vom Wunsch zu kontrollieren ausgeht – und immer mit Macht zu tun hat –, daß dies jedoch nicht ausschließt, daß es Möglichkeiten gibt, sie in den Dienst der Sorge um den Anderen zu stellen.«146 Diese Sorge hat neben einer möglichen moralischen Komponente gleichzeitig eine machttheoretische Dimension. Mbembe leistet – von Foucault ausgehend – eine Untersuchung und Kritik der historischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen des transatlantischen Sklavenhandels und der Plantagenwirtschaft in Bezug auf die moderne und postmoderne gesellschaftspolitische Situation im globalen Kontext und bietet darüberhinaus mit seinem humanistisch fundierten Modell des afropolitanisme einen Lösungsansatz zur Bewältigung aktuell anstehender Probleme als Entwurf einer Zielkonzeption für menschliches Handeln.

2.3.2.4 Mignolos dekolonialer Kosmopolitismus als Zukunftskonzept und die Frage nach der Macht Mignolo betont wie Mbembe immer wieder den Zusammenhang von Modernität und Kolonialität und spricht in Bezug auf den Kolonialismus von der dunklen, verschwiegenen und verdrängten Seite der Moderne, die andererseits deren Grundlage bilde. Der Rekurs auf die Theoreme Rationalität, Totalität und Universalismus führt zum Ausschluss des Anderen. Die Universalität des westlichen Wissens wird bei ihm in Frage gestellt und als im Grunde regional verortet charakterisiert. Auf der Basis dieser Überlegungen entwickelt Mignolo das Konzept der trans-modernity.147 Die Kritik der postmodernen Denker an den genannten Kategorien wird von ihm als intern ausgerichtet und somit als begrenzt kritisiert. Das dekoloniale Denken geht nach Mignolo weit über das postmoderne und auch über das postkoloniale Denken von z.B. Said, Bhabha und Spivak, das auf poststrukturalistischen Erkenntnissen von Foucault, Der146 | Baumann/Lyon 2014: 122. Weiter heißt es an dieser Stelle: »Das entscheidende Problem hier ist, wie wir unserer Verantwortung gegenüber anderen, mit denen wir durch Medien vermittelt in Kontakt treten, gerecht werden können.« (Ebd.) In diesem Zusammenhang stellt sich nach den Autoren auch das Problem der Adiaphorisierung. (Vgl. Baumann/Lyon 2014: 119) 147 | Mignolo, Walter D.: »Delinking the Rhetoric of Modernity, the Logic of Coloniality and the Grammar of De-coloniality«. In: Mignolo, Walter D.; Escobar, Arturo (Hg.): Globalization and the Decolonial Option. London, New York (Routledge), 2010, S. 353.

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rida und Lacan auf baue, hinaus, indem es ein de-linking aus hegemonialen Wissensbezügen, die mit der Ausübung von hegemonialer Macht verbunden sind, voraussetzt. Mignolo geht im Hinblick auf mögliche Veränderungen der geopolitischen Situation vom Konzept der Befreiung aus, dem er die Vorstellung von Emanzipation beiordnet, somit von einem gemeinsamen Kampf der Unterdrückten, der im Weiteren von individueller Emanzipation begleitet werden soll. Hierbei ist nach Castró-Gomez von einer Wir-Identität der Unterdrückten auszugehen, deren Konzeption gleichermaßen auf dem Subjektbegriff der Moderne beruht und nur eine Variation des transzendenten Subjekts darstellt.148 Foucault spricht dagegen von Entunterwerfung als einem Konzept der Emanzipation und damit von der Notwendigkeit einer individuellen Arbeit an sich selbst durch die Anwendung von Selbsttechnologien. Den Erfolg politischer Umwälzungen z.B. durch Revolutionen sieht er als gefährdet an, wenn er nicht gleichermaßen mit einer Veränderung der Subjektweise verbunden ist. Foucault ist damit nach Mignolo einer »Ego-logical politics of knowledge and understanding«149 verhaftet. Der decolonial shift kann nach Mignolo nicht als epistemischer Bruch oder Paradigmenwechsel im Sinne Foucaults oder Kuhns aufgefasst werden, da er zu einem anderen Ort gehöre, er nennt es »an-other paradigm«.150 Dieser Auffassung muss im Hinblick auf Foucault allerdings widersprochen werden, da es entsprechend des Innen und Außen von Wissen bei Foucault gerade Umschichtungen dieser Bereiche sind, die zu einem Wechsel der Episteme bzw. der Regeln von Diskursen führen, die gleichermaßen geopolitische Momente inkorporieren. Mignolo entwickelt ausgehend von seinen Theoremen border gnoseology, epistemic disobedience und civil disobedience ein kosmopolitisches Konzept, den Critical bzw. Dialogical oder Decolonial Cosmopolitanism.151 Der involvierte soziopolitische Prozess beinhaltet die Bildung von »democratic, just, and non-

148 | Vgl. Castro-Gómez in Martin Alcoff, Linda: »Enrique Dussel’s Transmodernism«. In: Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World. 1(3), 2012, S. 60. Martin Alcoff versucht Dussels Philosophie gegen den Vorwurf zu verteidigen. 149 | Mignolo 2010: 314. 150 | Vgl. Mignolo 2010: 339, 347. 151 | Mignolo spricht davon, das diese Formen des Kosmopolitismus als regulatives Prinzip verstanden werden können. Siehe Mignolo, Walter: »The Many Faces of Cosmopolis: Border thinking and Critical Cosmopolitanism«. In: Beckenridge, Carol A.; Pollock, Sheldon; Bhabha, Homi K.; Chakrabarty, Dipesh: Cosmopolitanism. Durham, London (Duke University Press), 2002, S. 182.

2.3 Subjekt und Macht

imperial/colonial societies«,152 »decentered networks«153 und eine Aufwertung des Lebens im Allgemeinen: »(to) place human lifes and life in general first«.154 Diese Art des Kosmopolitismus kann als cosmopolitan localism bezeichnet werden.155 Mignolo strebt in diesem Zusammenhang einen »de-colonial epistemic shift«, den Anschluss an »other epistemologies, other principles of knowledge and understanding«156 und eine andere Form von Universalität, die als eine »pluri-versality as a universal project«157 im Sinne einer »non-hierarchical and non-dependent pluriversality of all existing civilizations«158 and »[d]iversality as a universal project«159 verstanden werden soll, an: als »universality of the pluri-versal«.160 Mignolo betont den anspruchsvollen Charakter dieses Projekts: »Pluri-versality as a universal project is quite demanding.«161 Es geht dabei in einem globalen Kontext insbesondere um das decolonial thinking,162 das mit neuen Klassifizierungen und Umwertungen verbunden ist und Identitätskonstruktionen betrifft, denn »knowledge is also colonized«.163 Dabei ersetzt er den 152 | Mignolo, Walter D.: »Epistemic Disobedience, Independent Thought and De-Colonial Freedom«. In: Theorie, Culture & Society. Vol. 26, Los Angeles, London, New Dehli, Singapore (SAGE), 2009, S. 1. Er spricht des Weiteren von cooperative leadership und non material compensations anstelle des vorherrschenden Konkurrenzgedankens und der Erfolgsorientierung. Vgl. Mignolo, Walter D.: »Border Thinking, Decolonial Cosmopolitanism and Dialogues Among Civilizations«. In: Rovisco, Maria; Nowicka, Magdalena (Hg.): The Ashgate Research Companion to Cosmopolitanism. Farnham, Burlington (Ashgate), 2011, S. 340. 153 | Mignolo 2011: 331. 154 | Mignolo 2009: 20. 155 | Mignolo 2011: 331. Der Critical Cosmopolitanism dürfe kein Kosmopolitismus from above sein. (Vgl. Mignolo 2002: 184) Er spricht »from the exteriority of modernity (that is, coloniality)«. (Vgl. Mignolo 2002: 160) Auch Menschenrechte und Weltbürgertum wie auch die Idee des Kosmopolitismus selbst und das Konzept der Weltgeschichte sollen kritisch durchdacht und auf ihre historischen Bedingungen hin hinterfragt werden. (Vgl. Mignolo 2002: 161ff.) Kosmopolitismus kann nach Mignolo »a benevolent form of control« annehmen. (Vgl. Mignolo 2002: 179) Auch die Demokratie als Regierungsform dürfe nicht einfach als blueprint angesehen werden. (Vgl. Mignolo 2002: 182) Andere Konzeptualisierungen dieser Phänomene müssen denkbar bleiben. 156 | Mignolo 2010: 307. 157 | Ebd. 158 | Mignolo 2011: 335. 159 | Mignolo 2002: 181. 160 | Mignolo 2010: 354. 161 | Ebd. 162 | Hier bezieht er sich nach eigener Aussage auf Thiong’o. (Vgl Mignolo 2010: 304) 163 | Ebd.

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Begriff der Epistemologie durch den der Gnoseologie, da diese andere, bisher vernachlässigte oder unterdrückte Wissensformen miteinbeziehe. Westliches Denken charakterisiert er als strukturiert durch »theo-, ego- and organo-logical principles«.164 Es geht Mignolo insgesamt um eine neue Art des weltweiten Umgangs miteinander, eine neue »inter-cultural communication«165 und einen »dialogue among equals«.166 Für die Analyse der aktuellen Machtformen und die Ausrichtung des angestrebten Veränderungsprozesses müsse Michel Foucaults Konzept der Biopolitik um die Aspekte Geopolitik,167 den Kontext von Wissen und Macht ausgehend von geopolitischen Verortungen, und Körperpolitik, den Zusammenhang von Wissen und Macht im Hinblick auf den Aspekt der Ethnizität, erweitert werden. Die von Mignolo geforderte Einbeziehung einer body politics in den Bereich der Bio-Macht ist bei Foucault in seiner Konzeption der Disziplinierung des Körpers im Hinblick auf die Disziplinierungsmacht und auf Grund seiner grundsätzlichen Überzeugung der Verschränkungen unterschiedlicher Machtformen in bestimmten soziohistorischen Situationen bereits angelegt, wird allerdings von Mignolo unter Einbeziehung von Fanons Überlegungen sinnvoll in psychologischer und soziologischer Hinsicht weiterentwickelt und machttheoretisch in post-/koloniale Zusammenhänge gestellt. Auch Foucault integriert Körperpolitik in den Bereich Biopolitik, rekurriert allerdings schwerpunktmäßig auf das Sexualitätsdispositiv. Es handelt sich bei Mignolos Machtform body politics um einen Rekurs auf alle den Körper betreffenden Machtformen ausgehend von kolonialen und postkolonialen Erfahrungen hinsichtlich des Aspekts der Ethnizität. »Thus, body-politics is the darker side and the missing half of bio-politics: body-politics describes de-colonial technologies enacted by bodies who realized that they where considered less human at the moment they realized that the very act of describing them as less human was a radical un-human consideration.«168

Es lässt sich feststellen, dass Mignolo in vielerlei Hinsicht dem von ihm kritisierten Denken Foucaults verbunden bleibt. Seine Theorie kann insgesamt 164 | Mignolo 2010: 317. 165 | Mignolo 2010: 307. 166 | Mignolo, Walter D.: »De-colonial cosmopolitanism and dialogues among civilizations«. In: Delanty, Gerard (Hg.): Routledge Handbook of Cosmopolitanism Studies. London, New York (Routledge), 2012, S. 94. 167 | Hierin rekurriert er auf Enrique Dussels Filosofía de la liberación aus dem Jahre 1977. Siehe die englische Ausgabe: Dussel, Enrique: Philosophy of Liberation. Eugene (Wipf & Stock Publishers), 2003. 168 | Mignolo 2009: 16. Insbesondere Frantz Fanons Werk Peau noire, masques blancs wird in diesem Zusammenhang von Mignolo herangezogen.

2.3 Subjekt und Macht

durch ein indirektes Verhaftetsein mittels des Versuchs der zwanghaften Abgrenzung im Prozess des delinking gekennzeichnet werden. Auch der Aspekt der Geopolitik stellt letztendlich eine Verschiebung in der Akzentuierung der Foucault’schen Grundannahme dar und betont geopolitische Klassifizierungen, Normierungen und Wertungen mit den damit verbundenen politischen, ökonomischen und militärischen Konsequenzen im Kontext von post-/kolonialen Erkenntnissen und Erfordernissen – verbunden mit der Forderung nach politischen Veränderungen, die zu einer Neukonzeption globaler Zusammenhänge in geopolitischer Hinsicht führt. Dies betrifft besonders den Zusammenhang von Wissen und Macht aus geopolitischer Sicht, z.B. hinsichtlich der Vorstellung von Zentrum und Peripherie. Mignolo spricht demgegenüber von einer polycentric world.169 Mignolos Kritik an Foucault ist entgegen seiner eigenen Einschätzung nicht als grundsätzlich zu betrachten, sein Denken basiert trotz seiner scharfen Kritik an ihm auf dessen Grundannahmen wie z.B. dessen Raumtheorie des Wissens, der Konstruktivität von Wissen und der Konstitution des Subjekts durch Wissen und Macht. Allerdings rücken seine machttheoretischen Theoreme der Körper- und Geopolitik und damit die Aspekte der ethnischen und geopolitischen Verortung des Zusammenhangs von Wissen und Macht deutlicher als bei Foucault in den Vordergrund, sie stellen somit eine wichtige Erweiterung seiner Ausführungen dar. Seine Konzentration auf die machttheoretischen Aspekte der bio- und geopolitics macht eine Ergänzung seiner Ausführungen im Sinne der Erkenntnisse Mbembes – insbesondere im Hinblick auf digitale Macht und Nekropolitik – notwendig, um die aktuellen gesellschaftspolitischen Veränderungen angemessen erfassen zu können.

2.3.2.5 Zur Aktualität Foucaults im post- und dekolonialen Denken Mbembes Rekurs auf Foucault betrifft die analytisch-historische Herangehensweise der Diskurs- und Dispositivanalyse und die Genealogie als historische Analyse der Machtformen als methodische Instrumentarien und dessen Konzept der Subjektkonstitutierung. Er erweitert Foucaults Erkenntnisse insbesondere hinsichtlich der Prozesse des transatlantischen Sklavenhandels, der Plantagenwirtschaft und der Kolonialwirtschaft im Allgemeinen, indem er die Kritik der schwarzen Vernunft mit der Untersuchung der dazugehörenden Praktiken, Strategien und Institutionen vornimmt und mit Fragen nach der afrikanischen Identität verbindet. Mbembe nimmt in seiner Philosophie eine Verschiebung der Schwerpunkte vor, arbeitet von Foucault bereits aufgezeigte Zusammenhänge detaillierter auf und entwickelt darüberhinaus auch ein neu169 | Mignolo 2010: 353. Die polycentric world sei aber nicht innerhalb einer westlichen Ausrichtung des Lebens zu verstehen, sondern sprenge diese.

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es Instrumentarium zur Erfassung der aktuellen weltpolitischen Situation. Die Schwerpunktverlagerung hin zu Themen wie Kolonialismus und Postkolonialismus, Sklaverei und Rassismus und deren Genealogie und der Bezug auf aktuelle weltpolitische Zusammenhänge führt mit dem Konzept der digitalen Macht und der Nekromacht bzw. Nekropolitik zu neuen theoretisch-begrifflichen Instrumentarien der Analyse und zu neuen Zielvorstellungen für menschliches Handeln auf der Basis einer politischen Vision eines afrikanischen Humanismus verbunden mit dem Konzept des afropolitanisme und des Rekurses auf menschliche Hoffnung. Die Tatsache, dass der in Überwachen und Strafen analysierten Disziplinarmacht andere Machttechniken wie z.B. die digitale Macht zur Seite stehen und diese ggf. dominieren, entspricht der Foucault’schen Grundannahme, dass jeweils mehrere Machtstrategien ineinandergreifen und neue Machtformen in einem Prozess der Umschichtung, Relevanzverschiebung, Hierarchisierung und Erneuerung – ganz im Sinne seines Grundgedankens der Produktivität der Macht170 – hinzukommen. Im Unterschied zu Mbembe, der sich selbst in der Theorie der Postkolonialismus verortet und diese auch in der heutigen gesellschaftspolitischen Situation nach wie vor für relevant hält, versucht Mignolo aus anderen Kulturkreisen wie z.B. Südamerika kommende theoretische Bezüge wie u.a. die Philosophie von Dussel als Fundament für seine Theorie heranzuziehen. Doch erweisen sich diese in ihrer Verabsolutierung einer Wir-Identität im Sinne eines subalternen Subjekts, wie gezeigt wurde, durchaus auch als in der abendländischen Subjekttheorie verfangen. Mignolo überholt Foucaults Denken nicht. Im Gegenteil es wird deutlich, dass er in vielerlei Hinsicht auf dem Denken Foucaults basiert, wobei seine Theoreme body- und geopolitics brauchbare Instrumente der Gesellschaftsanalyse darstellen. Mignolos Konzept des Critical Cosmopolitansism verkörpert ein utopisches Modell der Hoffnung auf weltweite Verständigung, erreichbar durch einen Prozess des de-linking und einer auf Austausch und einem vielfältigen Nebeneinander verschiedener Denk-, Handlungs- und Lebensmodelle basierenden interkulturellen Kommunikation, bei der auf universelle Geltungsansprüche, wie sie auch den aktuellen religiösen Fundamentalismen zugrunde liegt, verzichtet wird. Es zeigt sich, Foucaults Machtkonzeption bildet – wenn auch in modifizierter und erweiterter Form – im Rahmen der post- und dekolonialen Philosophie nach wie vor ein entscheidendes theoretisches Fundament und bleibt auch von herausragender Bedeu170 | »Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 1994: 250)

2.3 Subjekt und Macht

tung für die Analyse und Bewältigung der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation im globalen Kontext.

2.3.3 Thinking resistance . K ritik und W iderstand bei F oucault, B habha und M ignolo 171 2.3.3.1 Kritik und Widerstand bei Foucault Während Foucault Kritik und Widerstand in Kantischer Tradition als allgemeine Aufgabe des Subjekts bei der Transformation des Selbst und der Gesellschaft im historischen Prozess als Entunterwerfung begreift, entwickeln post- und dekoloniale Theoretiker Konzeptionen von Widerstand und Kritik, die koloniale und postkoloniale Situationen in besonderer Weise aufgreifen und zum einen ein analytisches Instrumentarium und zum anderen konkrete Handlungsmodelle bereitstellen. Homi Bhabhas Konzept des third space, der Hybridität, der Mimesis und der Migration und Walter Mignolos Theorie des border thinkings, der pluriversality und des epistemischen Ungehorsams versuchen Kritik und Widerstand neu zu denken. Gelingt es diesen Denkern der Besonderheit der post-/kolonialen Situation stärker gerecht zu werden? Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus findet bei Foucault an verschiedenen Orten statt, sie kann zwar als Ausgangspunkt seiner Analyse der Vernunftkonzeption des Abendlandes angesehen werden, steht aber nicht im Zentrum seiner Philosophie. Im Vorwort der ersten Ausgabe von Wahnsinn und Gesellschaft (1961) betont Foucault, dass die kolonisatorische Vernunft des Abendlandes aus Abgrenzung gegenüber dem Orient entstanden sei. »In der Universalität der europäischen ratio gibt es die Teilung, welche der Orient darstellt, gedacht als der Ursprung, geträumt als der schwindeln machende Punkt, aus dem die Sehnsüchte und Verheißungen einer Rückkehr geboren werden, der Orient, dargeboten der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes, aber unendlich unzugänglich, denn er bleibt stets die Grenze: als Nacht des Beginns, in der das Abendland sich gebildet, in die es jedoch eine Teilungslinie eingezogen hat, ist der Orient für das Abendland alles das, was es nicht ist, obgleich es gerade in ihm auf die Suche gehen muss nach 171 | Das Kapitel ist in nur leicht veränderter Form auf englisch veröffentlicht worden: Rainsborough, Marita: »Thinking resistance. Critique and resistance in the philosophical concepts of Foucault and in the postcolonial and decolonial theories of Bhabha and Mignolo«. In: Beushausen, Wiebke; Brandel, Miriam; Farquharson, Joseph; Littschwager, Marius; McPherson, Annika; Roth, Julia (Hg.): Practices of Resistance in the Caribbean: Narratives, Aesthetics and Politics. London, New York (Routledge), 2018, S. 264-279.

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Foucault heute dem, was seine ursprüngliche Wahrheit ist. Man wird eine Geschichte dieser großen, über den gesamten Werdegang des Abendlandes hinweg reichenden Teilung erschaffen müssen, man wird sie in ihrer Kontinuität und in ihren Wechseln verfolgen, man wird sie aber auch in ihrem tragischen hieratischen Charakter erscheinen lassen. (WG 10 […], frz. 1. Aufl., IV)«.172

In seinem Radiovortrag Die Heterotopien173 geht er auf den heterotopen Charakter von Kolonien ein, in denen neben dem wirtschaftlichen Nutzen, den sie erbrachten, Erprobungsfelder für Reglementierungstechniken und bevölkerungstechnische Maßnahmen entstanden, aber auch die Realisierung ›vollkommener Gesellschaften‹ angestrebt war. Foucault betont die damit verbundene Ausbeutung und Gewalt. Hinsichtlich der Widerstandspraktiken in kolonialen und postkolonialen Kontexten unterstreicht Foucault neben der Bedeutung der Praktiken174 der Befreiung die Wichtigkeit der Praktiken der Freiheit: »Wenn ein kolonialisiertes Volk sich von seinen Kolonialherren befreien will, dann ist dies gewiss im strengen Sinne eine Befreiungspraxis. Aber in diesem übrigens sehr präzisen Falle weiß man sehr genau, dass diese Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die in der Folge nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen für sich annehmbare und akzeptable Formen ihrer Existenz oder der politischen Gemeinschaft definieren können. Deshalb insistiere ich mehr auf den Praktiken der Freiheit als auf den Prozessen der Befreiung, die, um es noch einmal zu sagen, ihren Stellenwert haben, mir aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage zu sein scheinen, alle praktischen Formen der Freiheit zu bestimmen.«175

Die Praktiken der Freiheit haben für Foucault eine ethische Dimension und werden im Kontext seiner Ästhetik bzw. Ethik der Existenz genauer durchdacht. Sie sind mit der Anwendung von Techniken des Selbst zur Formung des Selbst verbunden. Bei Foucault heißt es: »Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtbeziehungen, die es durch Praktiken der Freiheit zu kontrollieren gilt.«176 172 | Jambet 1991: 229. Die Erfahrung des Orients gleicht nach Jambet der der Unvernunft. Dieser Grundgedanke wird von Edward W. Said in seinem Werk Orientalismus aufgegriffen. Siehe Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt a.M. (Fischer), 2010 [1978]. 173 | Vgl. Foucault 2005c. 174 | Praktiken der Befreiung schließen Revolten ein. Foucault sagt zu deren moralischer Bewertung: »Ist es richtig, zu revoltieren? Lassen wir die Frage offen. Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache.« (Foucault 2003b: 991) 175 | Foucault 2007: 255. 176 | Foucault 2007: 256.

2.3 Subjekt und Macht

Die Auseinandersetzung mit dem Rassismus nimmt im Foucault’schen Denken insbesondere im Rahmen seiner Machtkonzeption eine zentrale Stelle ein. Foucault stellt sich die Frage, »wie ist Rassismus in der abendländischen Kultur verwurzelt«?177 Rassismus ist nach ihm mit der allgemeinen abendländischen Wissens- und Subjektkultur verbunden. »An diesen Gedanken – Rassismus sei eine Art Schnittstelle zwischen vormodernen und modernen Machtsystemen – knüpft Foucault […] an.«178 Dabei verweist er auf einen historischen179 und einen biologischen Gebrauch des Begriffs Rasse: Zum einen bezieht Rasse sich auf Gruppen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion und in diesem Kontext auf Niederlagen, Unterdrückungen, Eroberungen etc., drückt also historisch-politische Spaltungen aus, zum anderen basiert er auf der ›Symbolik des Blutes‹ und wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts im biologisch-medizinischen Sinne verstanden. Die mit ihm verbundene Spaltung geht dabei auch mitten durch die Gesellschaft. Rassen werden einerseits zur ›wahren‹ und andererseits zur ›anderen‹ Rasse. Erst diese Auffassung ist nach Foucaults Verständnis rassistisch. Hiermit wird auch der Gedanke der ›Reinigung‹ verbunden. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von ›Rasse im Singular‹. Die binäre Spaltung verändert sich zunehmend zum Bild von Einheit und Parasit und wird zum ›Staatsrassismus‹, der Staat als Beschützer der Norm. »Modern racism results from a decision (albeit ›anonymous‹ since it is an operation of power) about who can die, either directly (the Holocaust and other ethnic cleansing practices) or indirectly (perhaps not as heinous, but definitely more common than the direct forms). These indirect forms of ›letting die‹ include decisions about whose crime and mortality rates can be higher, who needs medical insurance, and whose actions need more or less disciplinary control.«180

Es wird zwischen ›staatserhaltender‹ und ›staatsfeindlicher‹ Rasse unterschieden. Foucaults Verbindung des Rassediskurses mit der Machtform Biopolitik 177 | Magiros, Angelika: Foucaults Beitrag zur Rassismustheorie. Hamburg (Argument), 1995, S. 10. Die Autorin verweist im Zusammenhang mit der Rassismusproblematik auf drei Texte von Foucault: ›Der Wille zum Wissen‹, ›Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte‹ und ›Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus‹. 178 | Magiros 1995: 105. 179 | Nach Foucault richtet sich dieser Typus der Geschichtsschreibung gegen die sogenannte ›Juppiterhistorie‹, in der die Einheit und die Bedeutung des Rechts betont wird, und Recht als unterjochendes Recht, das Spaltung manifestiert, verstanden wird. 180 | Stone, Brad Elliott: »Power, Politcs, Racism«. In: Falzon, Christopher; O’Leary, Timothy; Sawicki, Jana: A Companion to Foucault. Chichester (Blackwell), 2013, S. 364.

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integriert das Sexualitätsdispositiv. In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer Biologisierung des Krieges. »Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch den Rassismus.«181 Bei Foucault heißt es dazu: »What in fact is racism? It is primarly a way of introducing a break into the domain of life that is under power’s control: the break between what must live and what must die … It is a way of separating out the groups that exist within a population. It is, in short, a way of establishing a biological type caesura within a population that appears to be a biological domain. This will allow power to treat that population as a mixture of races, or to be more accurate, to treat the species, to subdivide the species it controls, into the subspecies known, precisely so, as races.«182

Der dem Nazismus zugrundeliegende Rassismus wird als Kombination von Souveränitätsmacht und Biopolitik angesehen. Foucault sagt: »How can one both make a biopower function and exercise the rights of war, the rights of murder, and the function of death, without becoming racist? That was the problem, and that, I think, is still the problem.«183 Des Weiteren schreibt Foucault Biologie und Medizin als Wissenschaften allgemein eine Beteiligung an der Entstehung von Rassismus zu, da sie von Begriffen wie ›normal‹ und ›pathologisch‹ ausgehen. Der zeitgenössische Rassismus hat nach Foucault hierin seine Ursachen. Er spricht sich gleichzeitig dezidiert gegen eine Psychologisierung des Rassismus aus184 und fordert das Anerkennen der Andersheit des Anderen.185 Foucault lehnt in diesem Kontext universalistische Theorien vom Menschen, die zum Ausschluss des Anderen führen, ab und verzichtet auf eine allgemeine Definition des Menschen. Er sagt: »Es handelt sich um eine meiner tiefen Überzeugungen, und sie geht auf all die schlechten Dienste zurück, die diese Idee des Menschen uns seit vielen Jahren erwiesen hat.«186 181 | Foucault 1992b: 43. 182 | Foucault in Stone 2013: 365. Bei Stone heißt es dazu: »Racism is a necessary part of biopolitics because it allows society to take on the right to kill that once belonged to the sovereign.« (Stone 2013: 366) 183 | Stone 2013: 366. Stone zitiert Foucault 2003c: 366. Den Beginn des mit der Biopolitik verbundenen Rassismus lokalisiert Stone von der Klassischen Epoche an: »If biopower is necessary racist, we can say that the beginning of the Classical Age marks the start of racist age.« (Stone 2013: 366) 184 | Magiros 1995: 115. 185 | Magiros 1995: 116. 186 | Foucault, Michel: »Wer sind Sie, Professor Foucault?« In: Foucault, Michel: Dits et Ecrits: Schriften: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits I: 1954-1969. Defert, Daniel; Ewald, François (Hg.), Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001a, S. 789.

2.3 Subjekt und Macht

Allgemein geht Foucault von historisch unterschiedlichen Formen des Rassismus und von historischen Überlagerungen aus und nimmt eine Historisierung des Rassebegriffs vor. Es wird deutlich, dass Foucault, auch wenn er den Kolonialismus nicht dezidiert als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum Rassismus genommen hat, wichtige Aspekte dieser Thematik wie z.B. die Ausgrenzung des Orientalen aus der kolonialen Vernunft und den Begriff der Biopolitik herausgearbeitet hat, die zur Analyse der kolonialen und post-/ kolonialen Situation geeignet sind. Seine Unterscheidung zwischen Praktiken der Befreiung und Praktiken der Freiheit weist darauf hin, dass auch nach der Befreiung von kolonialen Machtstrukturen die Sicherung der Freiheit eine besondere Aufgabe darstellt, die mit der Formung des Selbst in Zusammenhang steht.

2.3.3.2 Bhabhas widerständische Formen Bhabha legt die Untersuchung verschiedener Widerstandsformen auf der Basis einer Kulturtheorie des third space vor, die der historischen und aktuellen Analyse kolonialer wie postkolonialer Situationen zu Grunde liegt. Er macht deutlich, dass auch mimetische Formen der Anpassung als Praktiken des Widerstands verstanden werden können. Mimikry als Verhalten der Kolonalisierten löst bei den Kolonialherrn Angst aus und wird als spöttische Kritik interpretiert. Es beruht gleichermaßen auf Gleichheit und Differenz: »as a subject of a difference that is almost the same, but not quite«.187 Dem Kolonialherrn wird so ein Spiegel vorgehalten, in dem er sich als »democrat and despot«188 erkenne und sich darüber bewusst werde, dass er seine Ideale weit hinter sich gelassen habe. Er betont die Möglichkeit der Unterdrückten zum Widerstand: »Nun stellt sich die Frage: wie funktioniert man als Handelnder, wenn die eigene Möglichkeit zu handeln eingeschränkt ist, etwa weil man ausgeschlossen und unterdrückt wird? Ich denke, selbst in dieser Position des Underdogs gibt es Möglichkeiten, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen.«189

187 | Bhabha in Sieber, Cornelia: »Der ›dritte Raum des Aussprechens‹ – Hybridität – Minderheitendifferenz. Homi K. Bhabha: ›The Location of Culture‹«. In: Reuter, Julia; Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden (Springer VS), 2012, S. 105. Sieber zitiert Bhabha, Homi: The Location of the Culture. London, New York (Routledge) 1994, S. 86. 188 | Sieber 2012: 106. Sieber zitiert Bhabha 1994: 97. 189 | Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Wien, Berlin (Turia + Kant), 2012, S. 13.

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Und weiter: »Sie konnten nun auch ihre eigene subalterne Autorität geltend machen und Raum für sich aushandeln. In diesem Kontext einer nicht einfach identitären, sondern einer komplexen Vorstellung einer kollektiven, nicht-identischen Handlungsfähigkeit, konnten sie die Handlungsfähigkeit einer Subjektivität konstituieren, wobei es gerade der Mangel an Subjektivität war, der diesen Dritten Raum eröffnen konnte.«190

In Bhabhas Konzept des third space 191 wird Migration als Metapher verstanden: »It insists – through the migrant metaphor – that cultural and political identity is constructed through a process of othering.«192 In Zwischenräumen bilden sich Hybriditäten193 aus, die Erfahrung der Differenz194 ermöglichen, eine Differenz, die nicht als einordnende Angleichung an hegemoniale Vorstellungen zu verstehen ist und nicht den Verzicht auf eigene ethnische, kulturelle Zugehörigkeiten im Prozess der Konstruktion von Identität voraussetzt. »Metaphor produces hybrid realities by yoking together unlikely traditions of thought.«195 190 | Bhabha 2012: 65. Nach Bhabha steht der Begriff der Hybridität bzw. der Hybridisierung in diesem Kontext. 191 | Vgl. Bhabha in Rutherford, Jonathan: »The Third Space: Interview with Homi Bhabha«. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference. London (Lawrence and Wishart), 1990, S. 207. An anderer Stelle heißt es bei Bhabha: »Dabei sollten wir immer daran denken, daß es das ›inter‹ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt.« In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen (Stauffenburg), 2000, S. 58. 192 | Bhabha in Rutherford 1990: 219. 193 | Ha weist immer wieder darauf hin, dass Hybridität nach Bhabha nicht im Sinne von kulturellen oder rassisch/ethischen Vermischungen gedacht werden soll, sondern als politisches Konzept der Veränderung von Wissen und Macht, in dem die kulturelle und ethnische Differenz insbesondere auch im Selbst lokalisiert und eine »Deplazierung bzw. Neuverortung einer hegemonialen Erzählung« vorgenommen werden soll. In: Ha, Kien Nghi: Ethnizität und Migration Reloaded: Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin (Wissenschaftlicher Verlag), 2004, S. 164. Vgl. dazu auch Ha 2004: 158ff. Ha zeigt auf, dass der Begriff in postmodernen und spätkapitalistischen Diskursen oft vereinnahmt wird und zum Modebegriff geworden ist. Vgl. dazu auch: Ha, Kien Nghi: Hype um Hybridität: Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld (transcript), 2005. 194 | Mit seinem Begriff der Differenz basiert Bhabha auf Étienne Balibar. Siehe dazu Balibar, Étienne: Die Grenzen der Demokratie. Hamburg (Argument), 1993, S. 119. Balibar entwickelt das Konzept einer ›Gleichheit-in-Differenz‹. 195 | Bhabha in Rutherford 1990: 212.

2.3 Subjekt und Macht

Die Metapher Migration wählt Bhabha mit Bezug auf den literarischen Kontext.196 Dabei geht es auch um die Konstruktion von Formen der Solidarität. »The fragmentation of identity is often celebrated as a kind of pure anarchic liberalism or voluntarism, but I prefer to see it as a recognition of the importance of the alientation of the self in the construction of forms of solidarity.«197 So kann Migration als Widerstandsform interpretiert werden, die zu neuen Formen des Miteinanders führt.198 Bhabha geht vom Konzept der Ambivalenz199 und Hybridität von Sprache aus. In Bezug auf eine bestimmte Situation und ein bestimmtes Gegenüber ergibt sich ein in einem performativen, dialogischen Prozess auszuhandelnder Bedeutungsspielraum, der sich als dritter Raum des Aussprechens, als sogenannter third space, der sich innerhalb einer Kultur oder auch zwischen Kulturen aufspannt, verstehen lässt, wobei er auch eine zeitliche Dimension beinhaltet.200 Kultur201 ist demnach kein homogener oder homogenisierender Raum, sie ist nach Bhabha durch Hybridität gekennzeichnet – als Raum dazwi196 | Insbesondere Salman Rushdie ist sein literarischer Bezugspunkt. »To think of migration as metaphor suggests that the very language of the novel, its form and rhetoric, must be open to meanings that are ambivalent, doubling and dissembling.« (Bhabha in Rutherford 1990: 212) 197 | Bhabha in Rutherford 1990: 213. 198 | Die Metapher Migration verdeutlicht den Gegensatz zwischen den westlichen Idealen der civitas und ›civilisation‹, dem Diskurs der Rechte und dem diskriminierenden rechtlichen wie kulturellen Status von Migranten und Flüchtlingen. (Vgl. Bhabha in Rutherford 1990: 218f.) 199 | »Zum Ende meines Vortrages möchte ich freilich darauf hinweisen, dass die Lehren der Ambivalenz nicht beim standhaften Aushalten Halt machen. Die Erfahrung der Ambivalenz beinhaltet auch den Ansporn zu sprechen, den Drang, sich zu äußern, eine Form, das Ungelöste und Widersprüchliche durch-zuarbeiten, um das Recht auf Erzählen zu erhalten. Die extremsten Formen der Ambivalenz – ›Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.‹ [Bhabha zitiert hier Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1961, S. 271f.] – sind gerade jene Momente, die das standhafte Aushalten dahin treiben, die Handlungsmacht der Adresse und Unterredung einzufordern.« (Bhabha 2012: 51f.) 200 | Bhabha spricht sich gegen eine Überbewertung des Räumlichen gegenüber dem Zeitlichen aus, wie er sie z.B. bei Foucault ausmacht. (Vgl. Bhabha 2012: 68) 201 | »Das Kulturelle wird bei Bhabha nicht als die ›Quelle des Konflikts – im Sinne differenter Kulturen‹ aufgefasst, ›sondern als Ergebnis diskriminatorischer Praktiken – im Sinne einer Produktion kultureller Differenzierung als Zeichen von Autorität‹.« In: Babka, Anna; Posselt, Gerald: »Vorwort«. In: Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Wien, Berlin (Turia + Kant), 2012, S. 14. Die Autoren des Vorworts zitieren hier Bhabha 2000: 169.

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schen, als Raum zwischen Zeichenkörper und Zeicheninhalt, in dem sich hybride Subjekte entwickeln. »[A]ll forms of culture are continually in a process of hybridity. But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge.«202 Hybridisierung ist dabei als Prozess aufzufassen: »Hybridisierung ist folglich für mich ein Prozess, eine Bewegung und dreht sich nicht um multiple Identitäten – ein Begriff übrigens, für den ich nicht viel übrig habe.«203 Der third space erweist sich in dieser performativen Kulturtheorie als ein space of translation. In ihm soll das Aushandeln von Lösungen angestrebt werden. Daraus ergibt sich nach Bhabha auch ein neues Verständnis von Theorie, die sich auf die Untersuchung konkreter Situationen hinsichtlich der Konstellation von Subjektpositionen und nicht auf kategorisierende und abstrahierende Verfahren beziehen soll. Translation kann nach Bhabha auch die Form des Widerstands annehmen. Bhabhas Theorie stellt gleichzeitig ein Angebot des Umgangs mit zeitgenössischen Problemen im globalen Kontext dar. Das Subjektmodell der Hybridität favorisiert ein Aushandeln unterschiedlicher Ich-Modelle, Lebensformen, Werte und Zielvorstellungen der verschiedenen Kulturen, die an sich schon als hybride Konstruktionen verstanden werden müssen und nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. »The time for ›assimilating‹ minorities to holistic and organic notions of cultural value has passed – the very language of cultural community needs to be rethought from a postcolonial perspective.«204 Demnach gibt es keine an sich höherwertigen Kulturen. Kulturen sollen in einen Austausch treten, diese dialogischen, dynamischen Prozesse sind prinzipiell unabschließbar. Im Unterschied zum Multikulturalismus, der von der Sonderstellung einer bestimmten Kultur ausgeht und eine Toleranz andersartigen Kulturen gegenüber einfordert, betont Bhabha die Notwendigkeit des bruchstückhaften Neben- und Miteinanders, das Plurales nebeneinander bestehen lässt: pluriversality. Kulturelle Differenz soll nicht als kulturelle Diversität verstanden werden. Er fordert ein Aushandeln der Differenz im in between des third space ein, das von der Grundthese kulturelle Hybridität ausgeht, die nicht als Mangel oder Bedrohung empfunden wird. Sowohl Identifizierung als auch Differenz in Bezug auf verschiedene Identitätsfaktoren mache hybride Subjekte aus.205 Bhabhas Starkmachen von Diversität mündet in 202 | Bhabha in Rutherford 1990: 211. 203 | Bhabha 2012: 66. 204 | Bhabha in Rutherford 1990: 219. Bhabha verweist in diesem Kontext auf die sprachlichen Veränderungen im Bereich gender. 205 | Bhabha macht deutlich, dass er Hybridität nicht identitätslogisch versteht, sondern in Bezug auf die »Konstitution des Subjekts im Spannungsfeld von Macht und Autorität«. (Bhabha 2012: 9) Die Autoren des Vorworts Anna Babka und Gerald Posselt

2.3 Subjekt und Macht

einem Ansatz für ein Konzept eines »›critical and dialogical cosmopolitanism‹, wherein diversity itself might become a universal project.«206 Widerstand ist bei Bhabha im Sinne von negotiation207 zu verstehen: »[W] e are always negotiating in any situation of political opposition or antagonism. Subversion is negotiation; transgression is negotiation; negotiation is not just some kind of compromise or ›selling out‹ which people too easily understand it to be.«208 Weiter heißt es bei ihm: »Similarly we need to reformulate what we mean by ›reformism‹: all forms of political activity, especially progressive and radical activity, involve reformations and reformulations. With some historical hindsight we may call it ›revolution‹, those critical moments, but what is actually happening if you slow them up are very fast reforms and reformulations.« 209

Er spricht dem Subjekt grundsätzlich eine transformational power zu.210 Grundlage seiner Widerstandstheorie ist die Überzeugung, dass die vereinfachte Unterscheidung von Herrscher und Beherrschtem vermieden werden müsse: » [T]hen you avoid that very simplistic polarity between the ruler and the ruled: any monolithic description of authoritative power (such as ›Thatcherism‹), based on that kind of binarism, is not going to be a very accurate reflection of what is actually happening in the world.«211 Es geht ihm in seiner Theorie der Macht und der Autorität um die Aushandlungsprozesse von Autorität im Kontext von Machtfragen, um Momente der Autorisierung und De-Autorisierung. Ausgangspunkt ist dabei sein Konzept der »ambivalent nature of that rezitieren hier Bhabha 2012: 62. Weiter heißt es: »Der Begriff der Hybridisierung nimmt zwar Bezug auf die Verfasstheit des Subjekts, es geht dabei aber nicht um die Konstitution von Subjektivität als solcher«. (Bhabha 2012: 9) 206 | Pollock, Sheldon; Bhabha, Homi K.; Breckenridge, Carol A.; Chakrabarty, Dipesh: »Cosmopolitanism«. In: Breckenridge, Carol A.; Pollock, Sheldon; Bhabha, Homi K.; Chakrabarty, Dipesh: Cosmopolitanism. Durham, London (Duke University Press), 2002, S. 13. 207 | »Eine Verhandlung, die erkennt, dass die Ebenen des Konflikts bzw. der Antagonismus sehr nah sind, nicht einfach polarisiert, sondern viel näher und chaotischer sind.« (Bhabha 2012: 71f.) Die polarisierende Perspektive strebt nach Bhabha nur eine Umkehrung von Macht an. (Vgl. Bhabha 2012: 72) 208 | Bhabha in Rutherford 1990: 216. 209 | Ebd. 210 | Vgl. Bhabha, Homi K.: »DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation«. In: Bhabha, Homi K.: Nation and Narration. London, New York (Routledge), 1990, S. 299. 211 | Bhabha in Rutherford 1990: 220f.

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lationship«.212 Er konstatiert einen Zusammenhang zwischen negotiation and hybridity: »So I think that political negotiation is a very important issue, and hybridity is precisely about the fact that when a new situation, a new alliance formulates itself, it may demand that you should translate your principles, rethink them, extend them.«213 Er beklagt Traditionalismus und Unbeweglichkeit im Denken und fordert eine Umschreibung der Geschichte des Westens, in der die Geschichte des Kolonialismus als Gegen-Geschichte einbezogen werden müsse. Für Bhabha hängen Modernität des Westens und Kolonialität unmittelbar zusammen.214 »The other point I’m trying to make is not only that the history of colonialism is the history of the West but also that the history of colonialism is a counter-history to the normative, traditional history of the West.«215 Auch diese Art der Geschichtsschreibung kann als Form widerständischen Verhaltens gelten. Es lässt sich feststellen: »Bhabhas Wendungen des Begriffs der Hybridität, wie auch des Begriffs der Ambivalenz oder der Mimikry, können, zusammenfassend und allgemein betrachtet, als Denkfiguren gelesen werden, über die sich die Widerständigkeit und die Handlungsfähigkeit der Kolonialisierten gegenüber dem Anspruch der KolonisatorInnen auf kulturelle Autorität theoretisieren und diskursivieren lassen.« 216

Ähnliches lässt sich über die Begriffe Translation und Migration sagen. Bhabhas Repertoire von Widerstandspraktiken bezieht sich gleichermaßen auf koloniale wie postkoloniale Praktiken. Sichtbar wird bei ihm ein Konzept von 212 | Bhabha in Rutherford 1990: 221. 213 | Bhabha in Rutherford 1990: 216. 214 | »I think we need to draw attention to the fact that the advent of Western modernity, located as it generally is in the 18th and 19th centuries, was the moment when certain master narratives of the state, the citizen, cultural value, art, science, the novel, when these major cultural discourses and identities came to define the ›Enlightenment‹ of Western society and the critical rationality of Western personhood. The time at which these things were happening was the same time at which the West was producing another history of itself through its colonial possessions and relations. That ideological tension, visible in the history of the West as a despotic power, at the very moment of the birth of democracy and modernity, has not been adequately written in a contradictory and contrapuntal discourse of tradition. Unable to resolve that contradiction perhaps, the history of the West as a despotic power, a colonial power, has not been adequately written side by side with its claims to democracy and solidarity.« (Bhabha in Rutherford 1990: 218) Und weiter: »The material legacy of this repressed history is inscribed in the return of post-colonial peoples to the metropolis.« (Ebd.) 215 | Ebd. 216 | Babka/Posselt 2012: 13f.

2.3 Subjekt und Macht

Widerstand, bei dem der Unterschied zwischen Reform und Revolution nur als graduell betrachtet wird. Gewalt – als mögliche Form der Aushandlung – wird in seiner Konzeption abgelehnt.217

2.3.3.3 Mignolos Konzept von Kritik und Widerstand Bei Mignolo beginnt Widerstand mit dem Auf brechen kolonialer und postkolonialer Denkstrukturen. Er rekurriert in diesem Kontext von Mudimbe ausgehend auf den Begriff der Gnoseologie, der der Komplexität des Wissens in seinen unterschiedlichen Formen besser gerecht werde als der der Epistemologie. Gnosis umfasst sowohl alternative Wissensformen als auch doxa und episteme. Mignolo fordert eine intellectual decolonization und border thinking: »Border gnoseology is a critical reflection on knowledge production from both the interior borders of the modern/colonial world system […] and the exterior borders«218 und ein political and epistemic de-linking und decolonial knowledges, um Kategorien der Betrachtung und Bewertung zu verändern, und eine geo- und body politics of knowledge. Er kritisiert die Vorstellung eines neutralen Subjekts des Wissens: »Once upon a time scholars assumed that the knowing subject in the disciplines is transparent, disincorporated from the known and untouched by geo-political configuration of the world in which people are racially ranked and regions are racially configured.«219 Das Subjekt des Wissens ist nach ihm nicht universal wie in Descartes’ Konzeption, in Anlehnung an Castro-Gomez spricht Mignolo diesbezüglich von der hubris of the zero point, sondern eingebunden in geo- und körperpolitische Konfigurationen. »By setting the scenario in terms of geo- and body-politics I am starting and departing from already familiar notions of ›situated knowledges‹. Sure, all knowledges are situated and every knowledge is constructed. But that is just the beginning. The question is: who, when, why is constructing knowledges«.220 Ausgangspunkt dieses dekolonialen Denkens ist nach Mignolo die colonial wound. »[T] he de-colonial path has one thing in common: the colonial wound, the fact that regions and people around the world have been classified as underdeveloped economically and mentally.«221 Foucault habe zwar einen vom Grundsatz 217 | Seine Haltung zur Gewalt wird deutlich in seinem Vorwort zu Fanons The Wretched of the Earth. Vgl. Bhabha, Homi K.: »Foreword: Framing Fanon by Homi K. Bhabha«. In: Fanon, Frantz: The Wretched of the Earth. New York (Grove Press), 2004, S. VII-XLI. 218 | Mignolo, Walter D.: Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton, New Jersey (Princeton University Press), 2000, S. 11. 219 | Mignolo 2009: 1. 220 | Mignolo 2009: 2. 221 | Mignolo 2009: 3.

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her ähnlichen Ansatz und untersuche die Konstruktion des Wissens, er berücksichtige aber die Verbindung der Geschichte der Modernität mit der des Kolonialismus nicht ausreichend, ihm fehle die koloniale und postkoloniale Erfahrung. »I would surmise, following Chatterjee’s argument, that what Foucault did not have was the colonial experience and political interest propelled by the colonial wound that allowed Chatterjee to ›feel‹ and ›see‹ beyond both Kant and Foucault.«222 So interpretiere Foucault Kants Aufsatz ›Was ist Aufklärung‹ nur unzureichend, da er seine Lokalisierung im europäischen Konzept des Menschen übersehe. Im Zentum dieser säkularen Version des theologischkosmologischen Rahmens des Wissens stehe das Vernunftkonzept westlicher Philosophie mit den Vernunftauffassungen des ego/mind und der transzendentalen Vernunft ihrer Hauptvertreter Descartes und Kant. In deren ego-politics of knowledge wird Wissen nur im Geist angesiedelt und Momente wie Körper, Emotion, Begehren, Erniedrigung etc. blieben ausgeklammert. Des Weiteren müssten Michel Foucaults Konzept der Biopolitik um den Aspekt der Körperpolitik erweitert werden und koloniale Techniken verstärkt in den Blick geraten. »Body-politics is a fundamental component of de-colonial thinking, de-colonial doing and the de-colonial option.«223 Immer wieder rekurriert Mignolo in diesem Kontext auf Fanon, der in seiner Soziogenese Klassifizierungen des Menschen aufzeige und die »formation of the modern/colonial world that placed Negros on the lower scale of the Renaissance idea of Man and Human Beings.«224 Hier betont Fanon die Formierung von schwarzer Identität durch den Blick des Weißen. Mignolo konstatiert: »This consideration shifts the geography of reason and illuminates the fact that the colonies were not a secondary and marginal event in the history of Europe but, on the contrary, colonial history is the non-acknowledged center in the making of modern Europe.«225 Mignolo spricht anstelle des Foucault’schen historischen Apriori bzw. der Episteme von frames and super-frames, die Wissen strukturieren, und von »transformation of the frame of mind and the organisation of knowledge, the disciplines and institutions«.226 Die Idee der Rahmung rekurriert indirekt auf das Foucault’sche Innen und Außen und seine Konzeption der Ausschließungs222 | Mignolo 2009: 12. 223 | Ebd. 224 | Mignolo 2009: 17. 225 | Mignolo 2009: 16. 226 | Mignolo 2009: 6. Damit zeigt Mignolo eine Ähnlichkeit zu Judith Butler, die gleichermaßen vom framing spricht, ohne allerdings von übergeordneten super-frames auszugehen. Letztere sind mit Foucaults Epistemen vergleichbar. Vgl. Butler, Judith: Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt, New York (Campus), 2010b, S. 40. Auch Foucault kennt Strukturierungsprinzipien, die auf verschie-

2.3 Subjekt und Macht

prozeduren, seine Raumtheorie des Wissens. Mignolo stellt fest: »[T]he first World had indeed the privilege of inventing the classification and being part of it.«227 Weiter macht er auf den Zusammenhang von Identität und Erkenntnis aufmerksam: »[Y]ou get the idea of the interrelations between the politics of identity and epistemology.«228 Mignolo betont: »There are many kinds of ›our modernity‹ around the globe – Ghanian, Indian, Maori, Afro Caribbean, North African, Islamic in their extended diversity – while there is one ›their‹ modernity within the ›heterogeneity‹ of France, England, Germany and the United States.«229 Von diesen Überlegungen ausgehend ruft Mignolo zu epistemic disobedience auf, der in civil disobedience münden soll: »Epistemic disobedience is necessary to take on civil disobedience (Gandhi, Martin Luther King) to its point of non-return.«230 Er fordert dazu auf, in den ehemaligen Kolonien vor Ort neue Theorien zu entwickeln und die eigene Kultur und Geschichte zu reflektieren. Sein Konzept des Critical bzw. Decolonial Cosmopolitanism macht deutlich, dass Mignolo trotz aller Kritik an Kants Kosmopolitismus231 am kosmopolitischen Konzept an sich festhalten will. Mignolo warnt aber vor einer kosmopolitischen Weltordnung, die über »all the features of global imperial designs« verfügt und als »dictated from above« empfunden werden muss.232 Er präferiert kommunale Organisationsformen und eine Veränderung ausgehend von der Basis. Das border thinking betont das Plurale und Verschiedenartige

denen Ebenen operieren und eine unterschiedliche Wichtigkeit, Dimension und Ausbreitung aufweisen. 227 | Mignolo 2009: 8. 228 | Mignolo 2009: 14. 229 | Mignolo 2009: 15. 230 | Ebd. 231 | Für ihn ist Kants kosmopolitisches Vorhaben mit dem Projekt der Christianisierung vergleichbar: »Kant’s cosmopolitanism was it’s secular version.« (Mignolo 2012: 87) Das kosmopolitische Projekt sei weder »a natural course of history« noch ein rein rechtliches Projekt. (Ebd.) Auch sei die Überwindung des Nationalstaats nicht wünschenswert. Mignolo vernachlässigt in seiner Kritik des Kantischen Denkens allerdings dessen Skepis gegenüber einem Weltstaat, weshalb Kant für einen freiwilligen Völkerbund optiert, wobei er durchaus die Souveränität der Nationalstaaten voraussetzt. Für Mignolo ist Kants Kosmopolitismus im Zusammenhang mit dem Projekt der Moderne zu sehen, das im Kontext mit den post-/kolonialen Vorhaben des Westens betrachtet werden müsse. Mignolo kritisiert hegemoniale Formen des Wissens, zu denen er Kants Theorie zählt, die er aufbrechen will. Damit reduziert er Kants Projekt auf eine bestimmte Form des abendländischen Wissens. 232 | Mignolo 2012: 85.

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der Weltgemeinschaft als Gegenentwurf zum Konzept der Globalisierung,233 das nach Mignolo teilweise auf kosmopolitischem Denken basiert. Mignolo fordert eine »reinscription of spirituality in socio-economic organization.«234 In seinem Kosmopolitismus möchte er Denkkategorien, die sich auf Glaubensvorstellungen und Lebensweisen beziehen, die Respekt gegenüber den natürlichen Lebensbedingungen voraussetzen, heranziehen. Er will den traditionell westlichen Denkrahmen aufsprengen: »It is first and foremost to re-inscribe in the present and toward the future categories of thought, ways of living and believing, the human respect for life that Westerners labeled ›nature‹ and which became detached from the ›human and culture‹.«235 Mignolo bezeichnet seine Form des Kosmopolitismus als transmodern: »De-colonial cosmopolitanism is, in a nutshell, transmodern cosmopolitanism.«236 Deutlich wird, dass Mignolos Konzeption von Widerstand insbesondere im Verändern von Denkkategorien, Einbeziehen anderer Wissenskulturen und Umschreiben von Geschichte besteht. Widerstand nimmt seinen Ausgangspunkt im verändernden Denken, führt zu ›Ungehorsam‹ und in Folge auch zu politischen Veränderungen.

2.3.3.4 Resümierende Betrachtung der Konzepte von Foucault, Bhabha und Mignolo Foucault, Bhabha und Mignolo geht es gleichermaßen um das Auf brechen bestehender Denkstrukturen, die ausgrenzenden und normalisierenden Charakter haben. Alle drei verwenden in diesem Kontext räumliche Metaphern: Foucault spricht in seiner Raumtheorie des Denkens vom Innen und Außen und der Heterotopie, Bhabha vom third space und Mignolo von Rahmungen, die Ausschließungen konstruieren. Widerstand und Denken hängen bei den drei Denkern eng zusammen. Bhabha betont die Wichtigkeit des hybriden Denkens, das ein Denken der Differenz darstellt. »Diese Unfähigkeit, Widerspruch, Ambivalenz und Alterität auszuhalten, ist der Ort, so meine Interpretation, an dem die Banalität des Bösen hineinkommt.«237 Ausgehend von der Feststellung: »Man kommt immer zu spät zur Verabredung mit dem Nachbarn«,238 fordert Bhabha eine Ethik der Nähe.239 Seine Widerstandsformen wie 233 | In die kritische Analyse sollte auch der Prozess der Globalisierung, »the project of homogenizing the world under the will and desires of Western civilization«, einbezogen werden. (Ebd.) 234 | Mignolo 2012: 87. 235 | Ebd. 236 | Mignolo 2012: 90. 237 | Bhabha 2012: 76. 238 | Bhabha 2012: 77. 239 | Vgl. Bhabha 2012: 76.

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insbesondere Mimesis, Migration und translation sind Beispiele der negotiation als zumeist reformerischer, nur in Ausnahmefällen revolutionärer Tätigkeiten. Seine Konzeption von Widerstand präferiert Aushandlungsprozesse gegenüber Praktiken des Widerstands durch Gewalt. Mignolo entwickelt eine post- und dekolonial ausgerichtete Erkenntnistheorie bzw. Gnoseologie auf der Basis des Foucault’schen Konstruktivismus, die das Verständnis der Moderne entscheidend erweitert. Auch wenn Mignolo Foucault in vielen Punkten kritisiert, verlässt er dessen Theorierahmen nicht in Gänze, was z.B. die Grundlegung der Erkenntnistheorie mit den Kategorien frame und super-frame zeigt. Mignolo verzichtet aber auf die Anwendung der archäologischen und genealogischen Verfahren Foucaults und rekurriert auf hermeneutische Methoden der Textauslegung und sozio-historische Analysen, die allerdings mit derselben Zielsetzung der Herausarbeitung zugrundeliegender Paradigmen ausgeführt werden. Mignolo fordert eine pluridimensionale und multidimensionale Hermeneutik 240 und die kritische Reflektion von wissenschaftlichen Disziplinen, in deren Rahmen Verstehensprozesse angesiedelt sind, um das Dilemma der colonial semiosis241 aufzubrechen. So arbeitet er zum einen das theologische und zum anderen das säkulare kosmologische Grundprinzip heraus, »theopolitically and ego-politically founded«,242 die westliches Denken seit der Renaissance strukturieren und den Zielsetzungen, Verfahrensweisen und Legitimationen der Kolonialisierungsprozesse zugrunde liegen. Im Unterschied zu Bhabha setzt Mignolo in seiner Kritik des Kolonialismus und der konstatierten Verbindung von Kolonialität und Modernität bereits in der Renaissance an und nicht erst mit der Epoche der Aufklärung und dem 19. Jahrhundert. Rassismus wird bei Mignolo im Rekurs auf Fanon insbesondere auf hierarchische Wahrnehmungs- und Denkstrukturen hegemonialer westlicher Kulturen zurückgeführt und im Unterschied zu Foucault psychologisch gedeutet. Foucault verortet den Rassismus gesellschaftlich-historisch bzw. kulturell und verdeutlicht seine Funktion als »Mechanismus der Homogenisierung der Gesellschaft und zur Verschleierung gegensätzlicher Interessen der gesellschaftlichen Gruppen«.243 Rassismus ist nach beiden Autoren mit den Strategien politischer Macht verbunden. Mignolo rekurriert hier auf Foucaults Begriff der Bio-Macht. Die von Mignolo in seiner Kritik an Foucault geforderte Einbeziehung einer body politics in den Bereich der Bio-Macht ist in Foucaults Konzeption der Disziplinierung des Körpers im Rahmen seiner Aus240 | Mignolo, Walter D.: »Colonial and Postcolonial discourse: Cultural Critique or Academic Colonialism?« In: Latin American Research Review. 28/3, 1993, S. 128. 241 | Mignolo 1993: 126. 242 | Mignolo 2009: 18. Mignolo spricht von »Theo-and ego-politics of knowledge«. (Mignolo 2009: 19) 243 | Magiros 1995: 145.

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einandersetzung mit Disziplinierungsmacht bereits angelegt, wird allerdings durch Mignolo unter Einbeziehung von Fanons Überlegungen sinnvoll weitergedacht. Auch Foucault integriert Körperpolitik in den Bereich Biopolitik, rekurriert allerdings insbesondere auf das Sexualitätsdispositiv. Foucault denkt Machtformen immer in Kombination und Verschränkung miteinander. Der besondere Fokus von Foucaults Untersuchung des Rassismus liegt auf dem Staatsrassismus, hier muss über ihn hinausgegangen werden. Er betrachtet den Rassismus primär »als Diskurs, Funktion oder Struktur […] und läßt so die Frage offen, wie die konkreten Subjekte dazu kommen, eine solche Struktur mitzutragen.«244 Magiros konstatiert diesbezüglich eine Lücke bei Foucault, die insbesondere den Rassismus unterer Klassen und das rassistische Subjekt betrifft. Stone dagegen stellt fest, dass nach Foucault Rassismus ein genereller Aufruf zum Widerstand bedeute: »In Foucault’s account of racism, everyone is affected. Thus, it becomes everyone’s problem, opening the possibility of resistance to anyone, regardless of whether they are the alleged victims of racism or not. Everyone is a victim of racism insofar as its operations go forth without critical reflection and resistance.« 245

Und weiter: »Foucault offers us important ways to rethink power and politics that help us not to be deceived by false understandings of power at play in experience, which in turn leads to more effective strategies of resistence.«246 Der Umschlag von erkenntnistheoretischen Überlegungen in praktisches Handeln wird bei Bhabha und Mignolo im Unterschied zu Foucault vorausgesetzt und nicht näher begründet. Foucault entwickelt eine Theorie der Selbstpraktiken, in der die Dimensionen des Körpers und des Verhaltens miteinbezogen werden. Ihm zufolge reicht eine Veränderung des Denkens für widerständiges Verhalten allein nicht aus. Es lässt sich konstatieren, dass Foucault zwar das hegemoniale Denken des abendländischen Kulturraums mit seinen Epistemen, Kategorien und Werten immer wieder scharf kritisiert und eine Theorie des Rassismus insbesondere des Staatsrassismus vorlegt, doch es gelingt ihm nicht, den besonderen Anforderungen einer Analyse der kolonialen und postkolonialen Situation in Gänze gerecht zu werden. Ihm fehlt, wie Mignolo es nennt, in weiten Teilen eine Geopolitik des Wissens, geopolitics of knowledge, auch wenn sie bei ihm vom Grundsatz her angelegt ist. Dennoch kann festgestellt werden, dass der Foucault’sche Theorierahmen dem Denken der beiden postkolonialen bzw. dekolonialen Denker teilweise zugrunde liegt oder als mit ihm kompatibel betrach244 | Vgl. ebd. 245 | Stone 2013: 366. 246 | Stone 2013: 366f.

2.3 Subjekt und Macht

tet werden kann. So rekurriert Mignolo auf Foucaults erkenntnistheoretische Grundannahme der Konstruiertheit des Wissens in Machtkontexten und des Denkens des Innen und Außen und sein Konzept der Biopolitik. Auch seine Betonung der Körperpolitik ist ganz im Sinne Foucaults. Die Erweiterung der Erkenntnistheorie in Richtung Gnoseologie findet bei Foucault eine Entsprechung in der Würdigung des Wahnsinns als andersartige Erkenntnisart und seiner Kritik am Ausschluss des Wahnsinns seit Descartes. Beide betonen die Notwendigkeit von Kritik und Widerstand. Allerdings geht Mignolo durch die Forderung eines dekolonialen Kosmopolitismus247 – wie auch Bhabha mit seinem nur im Ansatz entwickelten dialogisch-kritischen Kosmopolitismus248 – deutlich über Foucault hinaus, da dieser keine konkreten politischen Konzepte für die Veränderung der Welt im globalen Kontext vorlegt. Foucault geht in seiner Phase der Ausarbeitung der Ethik bzw. Ästhetik des Selbst den Weg der Betonung der Notwendigkeit der Selbstformung des Individuums für die Veränderung hin zu einer Gesellschaft, in der insbesondere Freiheit, Freundschaft und Verantwortung von Bedeutung sein sollen und die Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit möglich ist. Foucault hält hierbei eine pragmatische Ausrichtung der Politik angetrieben durch widerständische Kritik für sinnvoll. Bhabhas postkolonialer Ansatz unterscheidet sich von Foucault insbesondere durch das am Hypertext orientierte Kulturverständnis, nach dem Kultur grundsätzlich einen hybriden Charakter aufweist, während Foucault insbesondere den Gegensatz zwischen Natur und Kultur in Frage stellt und die unterschiedlichen sozio-historische Ausformungen von Kulturen betont, die jeweils durch diskursive und dispositive Strukturen bestimmt sind, die sich in Machtkontexten bilden. Beide haben allerdings ein ähnliches Verständnis von Gegenmacht bzw. Widerstand, der grundsätzlich immer möglich ist, auch für die sogenannten Machtlosen und Beherrschten. Beide Theoretiker legen einen relationalen Machtbegriff zugrunde, der Umbenennungen, Umwertungen und leichte Handlungsabweichungen als Widerstandsformen einschließt. Bhabhas Anliegen ist es, das Zusammenleben verschiedener Kulturen in postkolonialen Kontexten bezogen auf die zeitgenössischen Anforderungen des Miteinanderauskommens in globalen Zusammenhängen zu durchdenken, während Foucault den Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Ermöglichung 247 | Mignolos critical oder decolonial cosmopolitanism ist ein Kosmopolitismus, der nicht durch die Schaffung supra- oder transnationaler Institutionen oder die Veränderung der Menschenrechte von oben aus initiiert und gestützt werden soll, sondern von unten her. Die genauere Ausarbeitung dieses Konzepts wäre allerdings wünschenswert. 248 | Bei Bhabha und seinen Mitautoren findet sich die Betonung des Dialogischen, Kritischen und der Diversität. Das Autorenteam spricht von der Relevanz kosmopolitischer Praktiken. Siehe: Pollock, Bhabha, Breckenridge, Chakrabarty 2002.

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des Auslebens unterschiedlicher Lebensformen im weitesten Sinne, z.B. hinsichtlich des Genderaspekts, durch Kritik und Widerstand setzt. Allerdings legt Foucault keine konkrete Analyse der kolonialen und postkolonialen Situation vor, auch wenn er das abendländische Denken einer rigorosen Kritik unterzieht. Hier kann und sollte Foucaults Theorie durchaus weitergedacht werden – mit ihm und über ihn hinaus. Dieses Weiterdenken wäre ganz in Foucaults Sinne.

3. Resümee

Die Kantischen Wurzeln von Foucaults Philosophie sind in hohem Maße für seine Zielkonzeption von Bedeutung, insbesondere für den Anspruch mit Philosophie eine Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Situation leisten und darüber hinaus auch durch philosophische Erkenntnisse auf die Gestaltung von Zukunft Einfluss ausüben zu können – in einem emanzipatorischen Gestus bezogen auf die Virtualität einer möglichen Welt. Der Rekurs auf Kant lässt die primäre Zielsetzung des kritischen Philosophierens von Foucault hervortreten: die Befreiung aus Macht- und Herrschaftsbezügen und die partielle Wiedergewinnung der Autonomie des Individuums. Foucault spricht diesbezüglich von Entsubjektivierung und Entunterwerfung. Diese aufdeckende, entlarvende, befreiende und Mut erfordernde Form der Kritik, die Foucault genealogisch in seiner Untersuchung der Parrhesia herleitet, will Latour durch eine neue Form der Kritik ersetzen,1 die von einer realistisch-materiellen Grundhaltung in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie ausgehend eine gemeinsame Bewegung hin zu den Dingen von Belang anstrebt. Ein Gestus einer sich den Dingen zuwendenden Kritik, der sie sprechen lässt, nicht zerstörerisch arbeitet und eine umsorgende Tendenz hat. Von Foucault ausgehend lässt sich die Sorge um Dinge von Belang durchaus als Erweiterung der Sorge um sich und Andere denken. Für ihn bestünde der Ansatzpunkt allerdings in der Einübung von Praktiken, integriert in einen Lebenstil, der die Sorge um die Dinge von Belang mit der Selbstsorge – im Kontext der Sorge um Andere – verbindet. Sie könnte allerdings, würde man von Foucault aus denken, nicht von einer archäologischen und genealogischen Analyse und dem kritischen Blick auf sie selbst ausgenommen gedacht werden. Kritik führt bei Foucault nicht zu Relativismus und Beliebigkeit, sondern zu Engagement und mutigem Einsatz. Nach Foucault ist die Attitude der Kritik grundsätzlich wandelbar, wie es insbeson1 | »Um zum Kern dieses Gedankens vorzustoßen, darüber bin ich mir klar, müßte man auch neu definieren, was es heißt, ein Konstruktivist zu sein, aber ich habe genug gesagt, um anzudeuten, in welche Richtung die Kritik gehen müßte, nicht weg vom Sammeln, sondern hin zum Sammeln, zum Thing.« (Latour 2007: 55f.)

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dere die Genealogie der Parrhesia gezeigt hat, da sich historisch immer wieder neue Formen der Kritik entwickeln. Diese Offenheit der Kritik hat in ihrem gesellschaftlich-kulturellen Bezug einen experimentellen Charakter. Eine Form der Parrhesia, die die Sorge um Dinge von Belang einschließt, ist mit Foucault demnach gut denkbar. Foucault stellt die Frage nach der Erkenntnis einer Welt unabhängig vom Menschen nicht, obwohl er den Anthropomorphismus überwinden möchte. Deutlich wird, dass Foucault zwar die Kantische Konzeption des Apriori aufgreift, aber nicht die Unterscheidung von Dingen für uns und Ding an sich. Eine vom Menschen nicht erkennbare, von ihm unabhängige Welt wird von Foucault ausgeklammert. Wie für Kant die Dinge für uns haben für ihn ›apriorisch‹ strukturierte Diskurse auch in materieller Hinsicht Realität und sind nicht allein geistige Konstruktionen. Foucault geht von einer Materialität des Kulturellen aus und vertritt damit die Auffassung eines ontologisch ausgerichteteten Konstruktivismus, der gleichermaßen von der Materialiät und Realität geistiger und sozialer Prozesse und Produkte ausgeht.2 Foucault konstatiert: »Es schien mir, dass der Tatsache, dass die Diskurse schließlich existieren, nie genügend Beachtung geschenkt wurde. Die Diskurse sind nicht nur eine Art transparenter Film, durch den hindurch man die Dinge sieht, sie sind nicht einfach nur der Spiegel dessen, was ist, und dessen, was man denkt. Der Diskurs hat eine eigene Konsistenz, seine Stärke, seine Dichte, sein Funktionieren. Die Gesetze des Diskurses existieren wie die ökonomischen Gesetze. Ein Diskurs existiert wie ein Monument, existiert wie eine Technik, existiert wie ein System sozialer Beziehungen usw.« 3 2 | »Die hier dokumentierte internationale Diskussion ist freilich nur ein Ausschnitt aus einer viel umfassenderen Debatte, die schon deswegen dringend nötig ist, weil die Geisteswissenschaften zu lange von einem überzogenen Antirealismus bzw. den verschiedenen Spielarten eines postmodernen Konstruktivismus dominiert wurden. Dabei gerieten der Begriff des Geistes sowie der Begriff des Menschen dauernd ›unter Verdacht‹, was wohl dazu geführt hat, dass man heute vorsichtig lieber von ›Kultur‹ oder ›Kulturen‹ spricht. Doch damit verdeckt man nur, dass die Frage nach dem Realismus auch und vor allem für die Geisteswissenschaften von höchster Bedeutung ist, nachdem deutlich geworden sein sollte, dass man die menschliche Zivilisation mit ihren historischen Errungenschaften und ästhetischen Blüten nicht einfach für eine biochemisch induzierte kollektive Halluzination halten kann, die überdies nur einen Macht- oder Überlebenskampf kaschiert.« In: Gabriel, Markus (Hg.): Der Neue Realismus. Berlin (Suhrkamp), 3 2015, S. 15. Und weiter: »Man sollte die Wirklichkeit unseres Geistes nicht allzu voreilig unterschätzen«. (Gabriel 3 2015: 16) 3 | Foucault 2012b, 37. Foucault sagt weiter: »Ich aber versuche das Funktionieren des realen Diskurses und die Weise seines Auftretens zu hinterfragen, die Dinge die tatsächlich gesagt worden sind.« (Foucault 2012b: 38)

3. Resümee

Und weiter heißt es bei Foucault: »Es geht mir um eine Analyse der gesagten Dinge, insofern sie eben Dinge sind.«4 Allerdings zeigt sich in der Untersuchung, dass Foucaults materieller Konstruktivismus Naturphänomene und Materielles letztlich ins Kulturelle einschweißt. Damit kann seine theoretische Bewegung als gegensätzliches Pendant zum neuen Realismus betrachtet werden, insofern als auch bei diesem in anderer Hinsicht der Versuch, der Materialität und Dinglichkeit größere Bedeutung zukommen zu lassen, vorherrscht. Im neuen Realismus führt die radikalisierende Umwendung des Konstruktivismus allerdings in umgekehrter Richtung von der Tendenz her zur Auflösung des Kulturellen in die Natur bzw. ins Materielle, obwohl mit dem Versuch der Auf hebung des dualistischen Denkens in beiden Theorien Ähnliches angestrebt wird. In Foucaults Konstruktivismus wie auch in den Theorien des neuen Realismus zeigt sich gleichermaßen der Versuch des Zusammendenkens von Geist und Materie, der Aufhebung der Gegensätze von Kultur und Natur und der Überwindung von Humanismus und Anthropozentrismus. So fordert z.B. der posthumanistische und performative Ansatz Barads die Anerkennung der »dynamischen Kraft der Materie« und möchte zu einer »erhellende[n] Vorstellung des Kulturellen und des Natürlichen« vordringen.5 »Was häufig als getrennte Entitäten (und getrennte Menge von Anliegen) mit scharfen Rändern erscheint, impliziert in Wirklichkeit überhaupt keine Beziehung absoluter Äußerlichkeit. […] Es handelt sich nicht um eine statische Bezüglichkeit, sondern um eine Tätigkeit – das Inkraftsetzen von Grenzen –, die stets konstitutive Ausschlüsse und daher auch unerläßliche Fragen der Zurechenbarkeit impliziert.« 6

Barad entwickelt eine relationale Ontologie, nach der »eine Relationalität zwischen spezifischen materiellen (Re-)Konfigurationen der Welt durch die Grenzen, Eigenschaften und Bedeutungen auf unterschiedliche Weise in Kraft gesetzt werden. (d.h. Diskurspraktiken in meinem posthumanistischen Sinne), und spezifischen materiellen Phänomenen (d.h. unterscheidende Relevanzmuster).« 7 Der Begriff der Intraaktion soll diese Art der eingreifenden Relation charakterisieren. »Die Grenzen und Eigenschaften der Bestandteile von Phänomenen erlangen durch spezifische agentielle Intraaktionen Bestimmtheit, und bestimmte Begriffe (d.h. bestimmte materielle Gliederungen der Welt) erlangen durch diese Int4 | Ebd. 5 | Barad 2012: 11. »Tatsächlich werden durch solche Praktiken die unterschiedlichen Grenzen zwischen Menschen und Nicht-Menschen, zwischen Kultur und Natur, zwischen der Wissenschaft und dem Gesellschaftlichen erst konstituiert.« (Barad 2012: 21) 6 | Barad 2012: 12. 7 | Barad 2012: 18.

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raaktionen ihre Bedeutung.« 8 Dabei kommt es nach Barad zu einem agentiellen Schnitt zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹.9 Sie bezeichnet ihren Ansatz als »agentiell- realistische Ausarbeitung der Performativität.«10 Dabei greift Barad den Gestus des Foucault’schen Denkens auf,11 betont im Unterschied zu ihm aber besonders die Performativität der Natur, die Foucault unterschlägt, um den Dualismus zu vermeiden. In Bezug auf eine adäquate Darstellung der Beziehung zwischen Diskurspraktik und materiellen Phänomenen kann festgestellt werden, dass Foucault zwar den materiellen Charakter des Diskurses selbst, nicht aber die Materialität des vom Diskurs Konstituierten wie z.B. des Körpers berücksichtigt, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Barads Kritik, Foucault würde die »Eigenart technisch-wissenschaftlicher Praktiken und ihre tiefgreifenden produktiven Wirkungen auf menschliche Körper sowie die Art und Weise, wie diese Praktiken tief in die Konstitution des Menschseins und allgemeiner in die Wirkungsweise von Macht einbezogen sind«,12 nicht beachten, trifft allerdings nicht zu. Es zeigt sich, dass eine weitere Verschiebung hin zur Natur, zu den materiellen Dingen – vergleichbar der hin zum Subjekt – im Foucault’schen Denken im Sinne einer Realität des Objekts als ›Widerständigkeit‹ der Natur notwendig wäre, eine Verschiebung, die in Foucaults Materialismus angelegt ist, aber nicht in der notwendigen Konsequenz

8 | Barad 2012: 19. 9 | Vgl. Barad 2012: 20. 10 | Barad 2012: 13. 11 | So würde Foucault sicher folgender Behauptung von Barad zustimmen: »Phänomene sind für die Wirklichkeit konstitutiv. Die Wirklichkeit besteht nicht aus Dingen-ansich oder Dingen-hinter-den-Phänomenen, sondern aus Dingen-in-den-Phänomenen. Die Welt ist ein dynamischer Prozess von Interaktivität und Materialisierung durch die Inkraftsetzung bestimmter kausaler Strukturen mit bestimmten Grenzen, Eigenschaften, Bedeutungen und Muster von Markierungen auf Körpern.« (Barad 2012: 21) Und weiter: »[D]ie Welt ist ein offener Prozeß der Materialisierung und Relevanzbildung durch die Realisierung verschiedener Handlungsmöglichkeiten [...]. Zeitlichkeit und Räumlichkeit entstehen in dieser prozeßhaften Geschichtlichkeit.« (Ebd.) »Wort und Welt« sind auch nach Foucault eng miteinander verbunden. (Vgl. Barad 2012: 27) Barad rekuriert auf Foucaults Auffassung von Diskurspraktiken, auch ihr Verständnis von Apparaten als materiell-diskursive Praktiken entspricht im Grunde Foucaults Vorstellung. Allerdings betont Foucault die mit ihnen initiierte Rekonfiguration von Welt in der »Raum-Zeitmaterie als Teil der fortlaufenden dynamischen Kraft des Werdens« nicht ausreichend. (Barad 2012: 24) Er löst die Betonung des Kulturellen nicht auf. Eine weitere Gemeinsamkeit im Denken von Barad und Foucault liegt in der Vorliebe für eine naturwissenschaftliche Begrifflichkeit. 12 | Barad 2012: 30.

3. Resümee

berücksichtigt wird. Diesbezüglich würde sich das Theorem der Problematisierung bei Foucault anbieten. Er sagt: »Angesichts einer bestimmten Problematisierung können Sie nur verstehen, warum diese Art von Antwort auftaucht als Erwiderung auf einige konkrete und spezifische Aspekte der Welt. Es gibt eine Beziehung zwischen Denken und Realität im Prozeß der Problematisierung. Und aus diesem Grund denke ich, daß es möglich ist, eine Analyse einer spezifischen Problematisierung als die Geschichte einer Antwort vorzunehmen – der ursprünglichen, spezifischen und einzigartigen Antwort des Denkens auf eine bestimmte Situation. Und diese Art von spezifischer Beziehung zwischen Wahrheit und Realität versuche ich in den verschiedenen Problematisierungen der parrhesia zu analysieren.«13

Genau in dieser methodologischen Präzisierung könnte auch der mögliche Zugang zu Natur und Materie bei Foucault verankert sein. Die mit ihnen verbundenen Problematisierungen, die sich z.B. aus Naturkatastrophen, materiellen Hindernissen im menschlichen Gestalten von Welt, in denen sich z.B. natürliche, materielle, technische Gegebenheiten dem menschlichen Planen und Handeln entgegenstellen, und von geschaffenen Apparaten, digitalen Produkten, Robotern etc. ausgehenden Implikationen ergeben, lassen das Reale der Welt als mit der Kultur verbunden und gleichzeitig als eigenständige agentielle Kraft ins Blickfeld rücken. Der Foucault’sche Ansatz bleibt allerdings bei der Untersuchung einzelner Problematisierungen stehen und versucht weniger die vom Menschen unabhängige Realität in allgemeiner Weise theoretisch fassbar zu machen. Diese scheint nur an der sich ständig verschiebenden Grenze auf. Eine Ausweitung und Differenzierung des Theorems Problematisierung könnte das Agentielle der Natur ins Blickfeld rücken und einen ausbaubaren Ansatz zu einer theoretischen Berücksichtigung ausgehend von Foucault darstellen. Der Vergleich mit den utopischen Geschichtsauffassungen von Kant und Hegel zeigt, dass Foucaults pragmatische Ausrichtung einer Ad-hoc-Veränderung der Gesellschaft dem Modell einer heterotopen Geschichtskonzeption entspricht – unter Anlehnung an Foucaults Begriff der Heterotopie. Foucaults Philosophie impliziert eine Gesellschaftsvision, in der die Freiheit einzelner Individuen gewährleistet ist, so dass unterschiedliche individuelle Lebenstile realisierbar bleiben. Es geht dabei um ein Modell des Aushandelns und Ausbalancierens in kommunikativen Situationen. Sein Modell der Freundschaft setzt gegenseitige Akzeptanz, gegenseitigen Respekt, gegenseitiges Wohlwollen und gegenseitige Unterstützung voraus. Auch in der dialogischen bzw. relationalen Situation der Parrhesia ist/sind der Andere oder die Anderen als kritisches Gegenüber unverzichtbar. In realpolitischer Hinsicht macht Foucault 13 | Foucault 1996b: 180f.

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allerdings keine konkreten Vorschläge, weder auf der institutionellen und/oder staatspolitischen Ebene in nationaler Hinsicht noch auf der inter- und supranationalen Ebene. Hier gehen sowohl Kant und Bloch als auch die untersuchten post- bzw. dekolonialen Denker jeweils in verschiedener Hinsicht – zumeist in Form von kosmopolitischen Konzepten – über Foucault hinaus. Er betont in hohem Maße die Bedeutung der individuellen Beschaffenheit in ethisch/ ästhetischer Hinsicht und der Qualität des menschlichen Umgangs miteinander, die politische Veränderungen erst tragfähig machen. Die in den politischen Bewegungen angestrebten befreienden Umwälzungen können nach ihm erst dann tatsächlich umgesetzt werden und dauerhaft erfolgreich sein. So kann von einer besonderen Bedeutung der subjektphilosophischen Überlegungen bei Foucault gesprochen werden. Mit ihnen verbindet sich die menschliche Hoffnung in Foucaults Projekt Zukunft, die wie im vorgenommenen Vergleich mit Kant und Hegel einen pragmatischen Ad-hoc-Charakter in einer emanzipatorischen Ausrichtung deutlich werden lässt und mit seinem Interesse an Bloch in Zusammenhang steht. Die Analyse der Gegenwart legt vermittelt über einen archäologischen und genealogischen Zugang Dimensionen des Möglichen, des Noch-nicht, der Virtualität offen. Diesen Weg will Foucault mittels seiner Philosophie der Kritik als Aufforderung zur Verschiebung und Überschreitung der Grenze und zur permanenten Transformation beschreiten – ein Weg, der in der Kombination von Theorie und Praxis Erfahrung, praktisches Erleben und Experimentieren voraussetzt. Die Ontologie der Gegenwart bedarf der genealogischen Analyse des Gewordenseins des Heute in seiner Ereignishaftigkeit und gleichzeitig der Diagnose des zukünftig Möglichen – eines anderern Wissens, anderer Arten des Regierens und Regiertwerdens und anderer Selbstverhältnisse. Die Ebene des Nicht-Mehr und Noch-Nicht, die sich zumeist bereits zeigt, eröffnet in ihrer Offenheit für das Subjekt den Horizont der Freiheit und ist Garant seiner möglichen Autonomie als permanente Arbeit auch und besonders an sich selbst im Prozess des Erkennens und Handelns. Die Dimension der Virtualität bei Foucault ist bereits mit dem Aufgreifen und der Historisierung von Kants Konzepts des Apriori als Disposition und dessen Konzeption einer kritischen Haltung als philosophischer Ethos, einer Ausübung von Freiheit im Sinne einer Grenzhaltung gegeben. Sie erhält durch den Rekurs auf Kants Denkfigur des Herausarbeitens von gegenwärtigen Zeichen für die Moralität des Menschen und damit für die Möglichkeit zum Fortschritt14 aus seinen geschichtsphilosophischen Schriften, die wir im Sinne des Bloch‘schen Vorscheins bei Foucault z.B. in der Analyse der Iranischen Revolution wiederfinden, die gleichermaßen Dispositionen und Dimensionen künftiger Andersartigkeit deutlich wer14 | Hier ist konkret Kants Deutung der Französischen Revolution als ein Zeichen für die »moralische Anlage im Menschengeschlecht« gemeint. (Vgl. Kant, SF, 07: 85)

3. Resümee

den lässt, eine visionäre Dimension. Allerdings unterscheidet sich Foucaults Denken durch das Fehlen einer bestimmten Zukunftsvision und eines festgelegten Weges hinsichtlich der Realisierung des virtuell Möglichen, wie gezeigt wurde, deutlich von Kant und Bloch. Das Virtuelle15 bleibt bei Foucault immer in der Schwebe, bewegt sich zwischen Grenze und Überschreitung und fokussiert die Möglichkeit der Befreiung des Subjekts.16 Kritik als experimentelle Kritik bleibt auch im Sinne einer permanenten Selbstkritik immer in Bewegung. Der subjekttheoretische Teil der vorliegenden Analyse verdeutlicht die argumentative Stellung der Ethik bzw. Ästhetik im Gesamtzusammenhang von Foucaults Theorie. Die vorgenommene Schwerpunktsetzung erlaubt sowohl ein Verständnis der Besonderheit der Ethik Foucaults in ihrer ästhetischen Dimension, wobei deren gesellschaftspolitische Ausrichtung deutlich wurde, als auch – mittels des Theorems der leeren Form des Heils – deren Bezug zum Konzept des historischen Apriori, das eine Einbettung des ethisch-ästhetischen Denkens in das archäologisch-genealogische Verfahren der historisierenden Analyse möglich macht. Somit zeigt sich auch an dieser Stelle, dass die subjekttheoretische Phase seiner Arbeit keinen grundsätzlichen Bruch bedeutet, sondern in methodologischer und thematischer Hinsicht eine Aufarbeitung einer sich im Bereich Diskurs- und Machtanalyse ergebenden theoretischen Lücke und somit eine Weiterentwicklung seines Denkens darstellt. Die Untersuchung der Bedeutung der Affektkonstitution im Rahmen der Philosophie von Foucault, lässt deutlich werden, dass Foucault die Gefühlsausstattung des Individuums und seine Körpererfahrungen als für die Veränderung des Subjekts, für seine Befreiung aus Machtkonstellationen, in besonderer Weise für entscheidend hält, denn gerade die Gefühle und die Körperlichkeit des Menschen sind es, die das Verhaftetsein in Subjektweisen bewirken. Die Emanzipation des Subjekts muss also mit Veränderungen im Bereich des Affekts im Kontext von Körpererfahrungen Hand in Hand gehen. Butlers Kritik an Foucault kann in vielerlei Hinsicht als Weiterarbeit am Konzept Foucaults interpretiert werden, so z.B. hinsichtlich des Aspekts der Medialität. Durch das Theorem der Anrufung und der mit ihr verbundenen Verletzbarkeit des 15 | »Das Virtuelle ist also nicht angelegt auf eine Realisierung des Potentiellen, durch die dieses zum Aktuellen würde; vielmehr ist Virtualität zu verstehen als beständige Aktualisierung, durch die das Virtuelle zwar niemals vollständig im Aktuellen aufgehoben wird, dieses jedoch stets disponiert.« (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 354) 16 | Bei Foucault heißt es dazu: »[D]as der kritischen Ontologie unserer selbst eigene philosophische ethos als eine historisch-praktisch Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind«. (Foucault 2005a: 702) Und weiter: »als Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung«. (Ebd.)

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Individuums kann sie Subjektbildungsprozesse in konkreter Weise in ihrer ethischen Dimension verstehbar machen. Die kontrastierende Gegenüberstellung mit Macht- und Widerstandskonzepten postkolonialer bzw. dekolonialer Denker wie Mbembe, Mignolo und Bhabha und mit der aktuellen Machttheorie von Han, der primär von Hegel ausgeht und wie Mbembe den Fokus auf das Herausarbeiten und die Untersuchung neuer Machtstrategien wie z.B. die digitale Machtform legt, lässt sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Foucault’schen Machtkonzeption deutlich werden. Han erweist sich als schärfster Kritiker Foucaults, indem er den Boden der Machttheorie Foucaults verlässt. Allerdings rekurriert er in einer kritischen Weise auf Foucault und baut dessen Überlegungen über mikrophysische Formen von Macht – von einer veränderten theoretischen Grundlage ausgehend – in sein Machtkonzept ein. Des Weiteren erweitert er das Spektrum der aktuellen Machtformen in vielfältiger Hinsicht und nennt z.B. die virale Macht und die Macht der Transparenz als für die Analyse aktueller gesellschaftspolitischer Zustände bestimmend. Auch die Anwendung von Foucaults machttheoretischer Konzeption auf koloniale und postkoloniale gesellschaftspolitische Besonderheiten stellt einen Prüfstein für die Frage nach der aktuellen Relevanz des Foucault’schen Denkens dar. Auch für postkoloniale und dekoloniale Denker sind heute andere Formen der Macht zentral. Mignolo betont insbesondere Machtformen der body- und geopolitics, Mbembe die digitale wie die Nekromacht als zentral für die heutige Machtanalyse. Sichtbar wird, dass post- bzw. dekoloniale Denker Foucaults Theorie zwar in kritischer Weise modellieren und erweitern, ihn aber nicht ganz hinter sich lassen, sondern nach wie vor insbesondere in Bezug auf die Aspekte Subjekt, Wissen, Macht und Widerstand und in methodologischer Hinsicht von Foucault ausgehen. Dieser Nexus ist gerade in postkolonialen Situationen und Kontexten von entscheidender Bedeutung für die Analyse und Bewältigung anstehender Probleme, obwohl Foucault sein theoretisches Rüstzeug und seine Verfahren nicht in diesem Bereich entwickelt und angewandt hat. Oft dient er auch als Reverenzpunkt für eine kritische Abgrenzung, ohne dass es gelingt, seine Theoreme gänzlich überflüssig zu machen. Gerade der postkoloniale Kontext bedarf der kritischen Untersuchung des Komplexes von Subjekt, Wissen und Macht, allerdings in einer diesen modellierenden und transzendierenden Weise. Foucault bleibt also hinsichtlich der Entwicklung von Fragestellungen, Verfahrensweisen und Problemlösungsansätzen eine wichtige Inspirationsquelle. Es zeigt sich, Foucaults Denken ist nach wie vor von herausragender Bedeutung für die Entwicklung von Ansätzen zur Lösung aktueller Probleme – auch im globalen Kontext.

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Philosophie Andreas Weber

Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz 2017, 140 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3527-0 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3527-4 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3527-0

Jürgen Manemann, Eike Brock

Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist April 2018, 218 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4152-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4152-7

Gerald Posselt, Tatjana Schönwälder-Kuntze, Sergej Seitz (Hg.)

Judith Butlers Philosophie des Politischen Kritische Lektüren Januar 2018, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3846-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3846-6

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Philosophie Franck Fischbach

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