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German Pages 476 [488] Year 2011
ei Ordnungssys. Bd.32
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Esposito · Mythische Moderne
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Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 32
Oldenbourg Verlag München 2011
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Fernando Esposito
Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien
Oldenbourg Verlag 2011
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-59810-0
Inhalt Vorwort............................................................................................................ 9 Einleitung ...................................................................................................... 11 1. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung ..................... 12 2. Theoretischer und methodischer Zugriff............................................ 17 3. Definition der zentralen Analysekategorien....................................... 23 a. Faschismus .................................................................................... 25 b. Faschismus und Moderne .............................................................. 33 c. Moderne ........................................................................................ 40 d. Mythos........................................................................................... 54 e. Faschismus – eine Arbeitsdefinition.............................................. 58 4. Aufbau der Arbeit .............................................................................. 62 I. Sehnsucht nach Ordnung ......................................................................... 65 1. Idea non vincit. Warburg und die Krise der liberalen Moderne ......... 67 a. Großbürger, Weltbürger, Bildungsbürger ...................................... 68 b. Warum Athen immer wieder aus Alexandrien zurückerobert sein will ......................................................................................... 77 c. Die Entzauberung der Schlange .................................................... 84 d. Idea vincit oder der Ausgang aus der Höhle.................................. 89 2. Aufstieg des Ikarus. D’Annunzio der fliegende Mythopoet ............ 102 a. Der Kriegsprophet vom Mai........................................................ 104 b. Eia! Eia! Alalà! D’Annunzio der Kriegsheld .............................. 110 c. Die Auflösung des Nomos und die politische Religion............... 126 d. Fiume und die Sakralisierung der Politik .................................... 131 3. Sehnsucht nach Ordnung – Zusammenfassung................................ 141 II. Brüchige Ordnung ................................................................................. 147 1. Don Quijote der Lüfte...................................................................... 149 a. Luftakrobaten oder Übermenschen. Die Flugschau von Brescia......................................................................................... 153 b. „Der Krieg zum Preis von einer Mark“. Authentizität als populäres Versprechen................................................................. 167 c. Die Medienarbeiter und die Genese der Mythen des Kriegsalltags................................................................................ 189 2. Die fliegenden Schwerter und der Maschinenkrieg ......................... 197 a. Die gesellschaftliche Konstruktion des Helden........................... 200 b. Das Auge des Heeres. Ein kurzer Umriss des Luftkrieges 1914–1918................................................................................... 208
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Inhalt
c. Die Geburt des Fliegerhelden aus dem Geist der Materialschlacht...........................................................................218 3. Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft ......244 a. Der Fliegerheld und die Einheit der kriegerischen Nation...........246 b. Der Fliegerheld und die Volksgemeinschaft ................................266 c. „Ich will ein Boelcke werden!“ Die Einschreibungen des Helden in die Gemeinschaft und das Leben der Nation...............298 4. Brüchige Ordnung – Zusammenfassung ..........................................308 III. Ewige Ordnung ......................................................................................313 1. Volare! Der faschistische Aufbruch in eine ewige Ordnung.............315 a. Jüngers monumentalische Erinnerung des Krieges und der Anfang der Zukunft......................................................................318 b. Der futuristische Aufbruch. Die Vernichtung der Geschichte aus der Luft ..................................................................................334 c. Aerovita, das aeroplanische Leben in einer neuen Zukunft .........352 d. Die Ausstellung des Mythos. L’Esposizione dell’Aeronautica italiana .............................................................383 2. Der Faschismus und die mythische Moderne...................................398 a. Die Zentralität des palingenetischen Mythos ...............................405 b. Der Mythos als Antwort auf die Krise der Vernunft ....................408 c. Der Mythos als Antwort auf die Krise des Historismus...............412 d. Ästhetisierung der Politik im und durch den Mythos ..................418 e. Die Komplementarität von Mythos und Moderne .......................426 Quellenverzeichnis ......................................................................................433 Edierte Quellen.................................................................................433 Archivalien .......................................................................................440 Periodika...........................................................................................442 Literaturverzeichnis .....................................................................................443 Abbildungsnachweis....................................................................................471 Register........................................................................................................473
Look out honey, ’cause I’m using technology. Search and Destroy, Iggy and the Stooges Big birds flying across the sky Throwing shadows on our eyes Leave us helpless, helpless, helpless Helpless, Neil Young
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im September 2009 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen und im Juli 2010 mit dem Promotionspreis ausgezeichnet wurde. Eine ganze Reihe von Personen und Institutionen hat dazu beigetragen, dass daraus schlussendlich tatsächlich ein Buch wurde. Zuvörderst ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken, die das Projekt im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit förderte und die Drucklegung ermöglichte. Den Gutachtern Anselm Doering-Manteuffel, Ewald Frie sowie Wolfgang Hardtwig danke ich für ihre wertvollen Kommentare, den Herausgebern Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit sowie für ihre Anmerkungen und Kürzungsvorschläge. Cordula Hubert vom Oldenbourg-Verlag und Judith Henning gilt mein Dank für die unkomplizierte und geduldige Zusammenarbeit während des Lektorats. Die Arbeit ist in den unterschiedlichen Phasen, die sie durchlaufen hat, auf diversen Podien präsentiert und diskutiert worden. Insbesondere die Teilnehmer des süddeutschen Kolloquiums zur Zeitgeschichte, der von Gabriele Metzler und Frank Reichherzer ausgerichteten Tagung Gesellschaft ohne Frieden an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie des Konstanzer Oberseminars von Sven Reichardt gaben mir wichtige Anregungen. Das gleiche gilt für die Vortragenden und Diskutanten bei den zahlreichen Kolloquien des Tübinger Sonderforschungsbereiches. Mein Dank gilt insbesondere: Dietrich Beyrau und Dieter Langewiesche, die sich im Rahmen des SFBs meines Projektes annahmen, den weiteren Sprechern des SFBs Georg Schild und Anton Schindling sowie Gertrud Bentele für ihre Hilfe. Gottfried Korff brachte mir die faszinierende Forscherpersönlichkeit Aby Warburg und dessen Idea vincit nahe und beflügelte mein „ethnologisches“ Faible. Bernhard Rieger kommentierte mein Projekt im Rahmen des Kolloquiums des SFBs und schärfte mein Bewusstsein für die Tücken des „reactionary modernism“ und der Modernisierungstheorie. Für seine Ermutigung und hilfreichen Kommentare bin ich zudem Roger Griffin verbunden. Die Mitarbeiter der von mir aufgesuchten Archive waren mir eine große Hilfe und haben mich stets kompetent beraten. Stellvertretend für alle seien an dieser Stelle die Hüterinnen der Warburg’schen Zettelkästen, Dorothea McEwan und Claudia Wedepohl, erwähnt. Diese Arbeit hat darüber hinaus sehr von den gemeinsamen Diskussionen mit den Kolleginnen, Kollegen und Freunden am Tübinger Seminar für Zeitgeschichte und in selbigem Oberseminar profitiert. Für Rat und Tat, die Ermahnungen, die Flieger auch nicht zu vergessen, sowie für Freude und
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Vorwort
Vergnügen sei vor allen anderen Julia Angster, Tobias Gerstung, Martin Kindtner, Silke Mende, Marco Schrof und Peter Tietze herzlich gedankt. Den Leidens- und Weggenossen in der Brunnenstr. 30, Julia Eichenberg, Frank Reichherzer und Claudia Schlager, gebührt ebenso inniger Dank. Insbesondere die beiden Letztgenannten standen oder besser saßen mir stets zur Seite, und das obwohl sie mein lautes Tippen und Denken ertragen mussten. Entscheidende Anregungen erhielt ich von Anselm Doering-Manteuffel, der auf subtile Art zu überzeugen und den Denkstil zu prägen vermag, obgleich er dieses gar nicht beabsichtigt. Erst durch seine besonnene Betreuung, kritisches, aber ergebnisoffenes Nachfragen und in der von ihm geschaffenen wissenschaftlich äußerst anregenden und menschlich wohltuenden Atmosphäre konnte diese Arbeit gedeihen. Vielen herzlichen Dank! Marco Schrof und Martin Kindtner haben wie auch Jörg Griesemann das Manuskript gelesen, kommentiert und korrigiert. Euch möchte ich nicht nur sehr herzlich danken, sondern mich auch für die vielen „Jenes“, „Vermochtes“ und „Jas“ entschuldigen, von denen noch einige erhalten geblieben sind. Daniela Schon und Susanne Raidt unterstützten mich jahrelang durch Literaturrecherche und -beschaffung. Zudem waren mir Nora Klose und Susanne Raidt bei der Drucklegung eine große Hilfe. Und nun zum privaten Paratext: Danken möchte ich meinen Eltern, die mir das Ordnungs-Thema gewissermaßen in die Wiege legten und deren Unterstützung ich mir stets sicher sein konnte. Meine langjährigen Freunde haben jeweils das Ihre dazu beigetragen, dass sich mein Horizont nicht allzu sehr einengte und dass für Ablenkung, Freude und weniger diesseitige Obdachlosigkeit gesorgt war. Insbesondere Dir, Vio Topalova, aber auch Euch, Christian Buck, Martin Koppenhöfer, Jörg Strobel, Bernd Waßmann sei dafür herzlichst gedankt. Keep on keeping on. Walter und Dorothea Lösel haben mich immer wieder aus luftigen Höhen auf die Erde zurückgebracht und ließen mich im Himbachtal heimisch werden. Dir, Anne Ulrich, zu danken, fällt am schwersten, denn es stimmt in diesem Fall schlichtweg nicht, dass kein Ding sei, wo das Wort gebricht. Meinem Vater, Pasquale Esposito, ’a catena, der starb, als dieses Vorwort eigentlich bereits geschrieben war, ist dieses Buch zur Erinnerung gewidmet. London, im Februar 2011
Fernando Esposito
Einleitung „Denn Verbrechen und Wahnsinn sind Objektivationen der transzendentalen Heimatlosigkeit; der Heimatlosigkeit einer Tat in der menschlichen Ordnung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und der Heimatlosigkeit einer Seele in der seinsollenden Ordnung des überpersönlichen Wertsystems.“1
In einer kürzlich erschienenen Schrift aus dem Nachlass des österreichischen Autors Thomas Bernhard, Meine Preise, heißt es, „mit der Klarheit nimmt die Kälte zu“.2 Dieser Satz bildete den Leitgedanken der Ansprache Bernhards zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bremen im Jahre 1965, und er bestimmt die in dieser Arbeit eingenommene Perspektive auf „die Moderne“. Bereits in der Romantik etablierte sich der Topos der Kälte und des „kalten Herzens“, so in Wilhelm Hauffs Erzählung, und diente fortan zur Beschreibung der neuen Zeit und des herrschenden Lebensgefühls.3 Doch im Unterschied zur Romantik ist der heutige Blick desillusionierter. Denn weder lenkt ihn ein Wunsch nach einer vermeintlich heileren, wärmeren Welt, noch leitet ihn eine Sehnsucht nach einer in der Vergangenheit angeblich existierenden „Heimat“ oder „Gemeinschaft“. Die Klarheit, so scheint es, hat zugenommen. Denn es ist deutlich, dass die Flucht aus der Kälte, aus der „transzendentalen Heimat-“ oder „Obdachlosigkeit“, aus dem Chaos in die Ordnung unmöglich ist.4 Diese Fluchten bringen jene Verbrechen und jenen Wahnsinn hervor, die der marxistische Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács (1885–1971) in seiner 1916 erstmals erschienenen Theorie des Romans als „Objektivationen der transzendentalen Heimatlosigkeit“ bezeichnete, und neue Kälte. So heißt es bei Bernhard auch, „mit der Kälte nimmt die Klarheit zu“.5 In seiner Dankesrede führte der misanthropische Dichter dann aus: „ich habe in einem langen Krieg leben müssen, und ich habe Hunderttausende sterben gesehen und andere, die über sie weggegangen sind, weiter; alles ist weitergegangen, in der Wirklichkeit; alles hat sich verändert, in Wahrheit; in fünf Jahrzehnten, in welchen alles revoltiert und in welchen sich alles verändert hat, in welchen aus einem jahrtausendealten Märchen die Wirklichkeit und die Wahrheit geworden sind, fühle ich, wie mir immer noch kälter wird, während aus einer alten eine neue Welt, aus einer alten Natur eine neue Natur geworden ist. Ohne Märchen zu leben, ist schwieriger, darum ist es so schwierig, im zwanzigsten Jahrhundert zu leben“.6
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Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied u.a. 1963² [Or. 1920], S. 59. Thomas Bernhard: Meine Preise, Frankfurt/M. 2009, S. 120. 3 Siehe hierzu Manfred Frank: Das Motiv des „kalten Herzens“ in der romantisch-symbolischen Dichtung, in: Ders.: Kaltes Herz, unendliche Fahrt, neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt/M. 1989, S. 11–49. 4 Zur „transzendentalen Obdachlosigkeit“ siehe: Lukács: Die Theorie des Romans, S. 35. 5 Bernhard: Meine Preise, S. 44. 6 Bernhard: Meine Preise, S. 117f. 2
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Einleitung
Dieser Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass das „Wissen“ um die Märchenhaftigkeit der Welt Segen und Fluch zugleich ist. Es bestimmt jene sogenannte condition postmoderne, die sich, von der Philosophie Friedrich Nietzsches ausgehend, in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ausbreitete.7 Diesem Wissen verdankt die Moderne die Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Dekonstruktion herrschender Ordnungen und zur erneuten Befreiung des Menschen aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“.8 Aus diesem Wissen folgen aber zugleich die Furcht vor der Anomie, vor dem Chaos und die Sehnsucht nach Ordnung. In diesem Wissen gründet die Dialektik von Freiheit und Ordnung, die Moderne selbst. Es ist dieser Sehepunkt, von dem aus auf den Faschismus geschaut wird. Der Faschismus wird als Versuch verstanden, dieses Wissen zu verdrängen und der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ durch einen Mythos zu entkommen, die Anomie durch einen Nomos,9 das Chaos durch Ordnung, die Kontingenz durch Notwendigkeit, die Ambivalenz durch Eindeutigkeit zu ersetzen.10 Der Faschismus entsprang der Moderne und war selbst modern. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die durch den Ersten Weltkrieg radikalisierte Sehnsucht nach und der faschistische Entwurf von Ordnung, sofern sie im Aviatikdiskurs ihren Ausdruck fanden.
1. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung Die Faschisten versuchten nach dem Ersten Weltkrieg, dem „Ausnahmezustand“ durch die Errichtung einer „perfekten“ Ordnung zu entkommen.11 Das Flugzeug und der Flieger dienten ihnen als Sinnbild des anvisierten Aufstiegs in eine ewige Ordnung und betonten die Dynamik ihrer Bewegungen. Das Flugzeug rief Bewunderung hervor und umgab die Fliegenden mit einer jugendlichen, vitalen und wagemutigen Aura des Aufbruchs. „Fliegen“, so Wulf Bley, Autor zahlreicher Luftfahrtbücher, im Jahre 1936, „ist mehr als Fortbewegung in der Luft. Das Flugzeug ist mehr als ein Mittel dazu. Fliegen ist höchste Steigerung des Lebens. Leben aber ist Bewegung und Bewegtwerden, Gestalten 7
Siehe hierzu Jean François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien 1993². Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, S. 53–61, S. 53. 9 Siehe zum Nomos: Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt/M. 1973. 10 Siehe hierzu Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005 [repr.]. 11 Zur „perfekten Ordnung“ siehe: Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003, S. 9. Zum Ausnahmezustand siehe: Carl Schmitt: Politische Theologie, München u.a. 1934² [Or. 1922]. Siehe hierzu: Michael Makropoulos: Haltlose Souveränität. Benjamin, Schmitt und die Klassische Moderne in Deutschland, in: Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Darmstadt 1994, S. 197–211, S. 200. 8
1. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung
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und Gestaltwerden. So wird der Flieger Gestalt einer neuen Zeit, der er seinen Stempel aufdrückt. […] der Flieger ist ein neuer Typus des Menschen. Nicht nur ist der deutsche Flieger ein neuer Typus des Deutschen, sondern der deutsche Fliegertypus hat als solcher seine gestaltende Wirkung in der Welt.“12
Bleys italienischer Kollege Guido Mattioli betonte in seinem Buch Mussolini aviatore, Der Flieger Mussolini: „Keine Maschine bedarf, um perfekt zu funktionieren, so sehr der Konzentration des menschlichen Geistes, der menschlichen Willenskraft wie die Flugmaschine. Der Pilot weiß wirklich, was es heißt zu regieren [governare]. Daher scheint zwischen der Aviatik und dem Faschismus ein notwendiger, inniger, geistiger Nexus zu bestehen. Jeder Flieger wäre ein geborener Faschist.“13
Die Arbeit fragt nach diesem „notwendigen, innigen, geistigen Nexus“ zwischen Faschismus und Aviatik.14 Sie ist geleitet von der Annahme, dass der 12
Wulf Bley: Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Deutschland zur Luft, Stuttgart 1936, S. 9. Guido Mattioli: Mussolini aviatore e la sua opera per l’aviazione, Rom 1935/36, S. 2. Seit dem Jahr 1926 galt in Italien der faschistische Kalender, der an den „Marsch auf Rom“ im Oktober 1922 erinnerte. Die Zählung des Kalenderjahres begann mit dem 29.10 und endete am 28.10 des folgenden Jahres. Dabei galt das Jahr zwischen dem 29.10.1922 bis zum 28.10.1923 als Jahr I der faschistischen Zeitrechnung. Wenn aufgrund dieser auch im Verlagswesen verwendeten Zeitrechnung, nicht eindeutig feststellbar ist, in welchem Jahr ein Buch erschien, werden in den bibliographischen Angaben beide Jahreszahlen genannt. Vgl. hierzu Luca Scuccimara: Era fascista, in: Victoria De Grazia/Sergio Luzzatto (Hrsg.): Dizionario del fascismo, Bd. 1, Turin 2002, S. 480–481. 14 Der Nexus zwischen Faschismus und Aviatik ist bisher allein von Mario Isnenghi, wenn auch nicht ausführlich und nicht im Kontext der Frage nach der Moderne, behandelt worden. In einem Kapitel seines 1996 erschienenen L’Italia del Fascio macht er darauf aufmerksam, wie die Entwicklung der Aviatik parallel zu jener des Faschismus gelesen werden könne, und nennt die zeitgenössische Aviatik sogar eine „Metapher des Faschismus“. Vgl. Mario Isnenghi: L’Italia del Fascio, Florenz 1996, S. 233–251, S. 233. Das Desiderat einer Untersuchung dieses Verhältnisses verdeutlichen die Arbeiten Peter Fritzsches und Robert Wohls, welche die herausragende Symbolkraft der Aviatik betonen: Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, MA 1992; Robert Wohl: A Passion for Wings. Aviation and the Western Imagination 1908–1918, New Haven, CT u.a. 1994; ders.: The Spectacle of Flight. Aviation and the Western Imagination 1920–1950, New Haven, CT u.a. 2005. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts lagen die Arbeiten Christian Kehrts und Stefanie Schüler-Springorums, welche diese Lücke erheblich schmälern, noch nicht vor: Christian Kehrt: Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Militärpiloten 1910–1945, Paderborn u.a. 2010 und Stefanie SchülerSpringorum: Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, Paderborn u.a. 2010. Zur Aviatik in der Sowjetunion siehe: Scott W. Palmer: Dictatorship of the Air. Aviation Culture and the Fate of Modern Russia, Cambridge 2006. Zum Zusammenhang von Aviatik und Moderne in Großbritannien und Deutschland siehe: Bernhard Rieger: Technology and the Culture of Modernity in Britain and Germany, 1890–1945, Cambridge 2005. Darüber hinaus sind insbesondere die Untersuchungen Aribert Reimanns und René Schillings zu nennen, welche die Faszinationskraft der Aviatik, die Bedeutung der Flieger als neue technische Helden und deren Einbettung in die zeitgenössischen Kontexte des Krieges thematisieren: René Schilling: „Kriegshelden“. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn 2002 sowie Aribert Reimann: Der große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkrieges, Essen 2000. Weitere Einblicke gewährt Detlef Siegfrieds Arbeit zu den Junkers-Flugzeugwerken: Detlef Siegfried: Der Fliegerblick. Intellek13
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Einleitung
zwischen Fliegerei und Faschismus hergestellte Zusammenhang als Versuch verstanden werden kann, eine alternative Moderne „Gestalt werden“ zu lassen. Um den Aufbruch in eine „andere Moderne“, deren Verheißungen und die Überlegenheit der eigenen Ordnung zur Schau zu stellen, bedienten sich die rivalisierenden Weltanschauungen der Aviatik.15 Die faschistische Kodierung der aviatischen Symbole wird in der vorliegenden Untersuchung vor dem Hintergrund einer idealtypischen liberalen Kodierung herausgearbeitet, als deren Gegenentwurf sie begriffen wird. Paul Fussells Feststellung über den Ersten Weltkrieg, „that such a mythridden world could take shape in the midst of a war representing a triumph of modern industrialism, materialism, and mechanism is an anomaly worth considering“, bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung.16 Sie gründet in der These, dass der Faschismus aus der sich im Ersten Weltkrieg radikalisierenden Sehnsucht nach Ordnung hervorging und dass er sich als Versuch verstehen lässt, diese Sehnsucht durch die Errichtung einer mythischen Moderne zu stillen. Ziel ist es, diesen Komplex zu beleuchten und die zugrunde liegenden Ordnungsvorstellungen herauszuarbeiten. Gegenstand der Arbeit tuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914–1934, Bonn 2001. Ein besonderer Stellenwert kommt den Ausführungen Modris Eksteins’ über Charles Lindbergh und dessen Wahrnehmung als „new Christ“ zu: Modris Eksteins: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age, New York, NY 2000 [repr.]. Eine Vielzahl an interessanten Beiträgen zur Luftfahrt während des Faschismus finden sich in dem von Massimo Ferrari 2005 veröffentlichten Sammelband: Massimo Ferrari (Hrsg.): Le ali del ventennio. L’aviazione italiana dal 1923 al 1945. Bilanci storiografici e prospettive di giudizio, Mailand 2005. Eine beachtenswerte Literaturgeschichte der Aviatik legte Felix Philipp Ingold vor, der wenige Jahre später Laurence Goldsteins Buch folgte: Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927, Frankfurt/M. 1980; Laurence Goldstein: The Flying Machine and Modern Literature, Bloomington, IN 1986. Die kunsthistorische Bedeutung der Fliegerei ist von Christoph Asendorf beleuchtet worden: Christoph Asendorf: Super Constellation. Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien 1997. Diverse Aufsätze, von denen an dieser Stelle die wichtigsten genannt seien, widmen sich einzelnen Aspekten: Yaron Jean: „Mental Aviation“ – Conquering the Skies in the Weimar Republic, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28/1999, S. 429–458; Christian Kehrt: „Schneid, Takt und gute Nerven“. Der Habitus deutscher Militärpiloten und Beobachter im Kontext technisch strukturierter Handlungszusammenhänge, 1914–1918, in: Technikgeschichte 72/2005, S. 177–201; John H. Morrow Jr.: Knights of the Sky. The Rise of Military Aviation, in: Frans Coetzee/Marylin Shevin-Coetzee (Hrsg.): Authority, Identity and the Social History of the Great War, Providence, RI 1995, S. 305–324; George L. Mosse: The Knights of the Sky and the Myth of the War Experience, in: Robert A. Hinde/Helen E. Watson (Hrsg.): War: A Cruel Necessity? The Bases of Institutionalized Violence, London 1995, S. 132–142; Michael Paris: The Rise of Airmen. The Origins of Air Force Elitism, 1890– 1918, in: JCH 28/1993, S. 123–141; Stefanie Schüler-Springorum: Vom Fliegen und Töten. Militärische Männlichkeit in der deutschen Fliegerliteratur, 1914–1939, in: Karen Hagemann/Dies. (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/M. 2002, S. 208–233. 15 Zur „anderen Moderne“ siehe: Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999. 16 Paul Fussell: The Great War and Modern Memory, New York, NY u.a. 2000 [repr.], S. 115.
1. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung
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ist der Aviatikdiskurs in etwa der Jahre 1909 bis 1939, jener um die 1910erDekade erweiterten „Krisenjahre der klassischen Moderne“, in Deutschland und Italien.17 Indes steht nicht die Fliegerei selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie wird vielmehr als Chiffre für jene mythische Moderne und Ordnung verstanden, die das erkenntnisleitende Interesse bestimmt. Im aviatischen Diskurs wird die Frage nach der Verfasstheit der Moderne, nach der zu errichtenden Ordnung der Gesellschaft, implizit und explizit verhandelt; implizit sofern jeder Text die Ordnung, aus der er hervorgegangen ist und die er aktualisiert, reflektiert.18 Da das Flugzeug und der Flieger von den Zeitgenossen jedoch als Symbol „der Moderne“ verstanden und instrumentalisiert wurden, wird diese im aviatischen Diskurs und in der Kodierung des Symbols auch explizit thematisiert. In diesem kollektiven Symbol stellten sich die modernen Gesellschaften selbst dar und verkündeten ihren Entwurf der Moderne. Daher können das Flugzeug und der Flieger als Totems der faschistischen, marxistischen und liberalen Moderneentwürfe verstanden und gelesen werden.19 Die Arbeit fragt nach den „Substrukturen des Denkens“, Deutungsmustern und Topoi, die den faschistischen Entwurf der Moderne bestimmten, und arbeitet sie am aviatischen Diskurs heraus.20 Der faschistische Ordnungsentwurf, seine Herkunft aus dem Krieg und seine Entwicklung in der Zwischenkriegszeit bestimmen ihren Fragehorizont. Die Arbeit untersucht die Ordnung der Zeit und die Ordnung der „Gemeinschaft“, die dem faschistischen Entwurf der Moderne zugrunde lagen. Diese chronopolitischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen werden an den aviatischen Heldennarrativen ebenso verdeutlicht wie die Vision des Neuen Menschen, welche der Faschismus durch eine „anthropologische Revolution“ zu verwirklichen trachtete.21 17
Der dieser Untersuchung zugrunde liegende Diskursbegriff wird in Abschnitt 1.2 Theoretischer und methodischer Zugriff näher erläutert. Die Jahreszahlen geben eine chronologische Richtschnur an, welche die Ausdehnung des untersuchten Diskurses grob umkreisen, der mit der Flugschau von Brescia im Jahr 1909 einsetzt und ungefähr mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf dem europäischen Schauplatz endet. Zu den „Krisenjahren der klassischen Moderne“ siehe: Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987. Zum Begriff der Krise und seinem Nutzen als Interpretament für die Weimarer Republik siehe: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. u.a. 2005. 18 Der Begriff des Textes meint hier jegliche lesbare Objektivierung von Sinn, also semiotische oder symbolische Systeme im weitesten Sinne. 19 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981 [Or. 1912], S. 284. Folgt man Durkheims Totem-Definition, wären der Flieger und das Flugzeug die „vergegenständlicht[e] und geistig vorgestellt[e] Gesellschaft“ selbst. Zur liberalen Kodierung und Instrumentalisierung der aviatischen Symbolik siehe Kapitel I.1 Idea non vincit. Zur sowjetischen Kodierung und Instrumentalisierung der Aviatik siehe: Palmer: Dictatorship of the Air. 20 Zu den „Substrukturen des Denkens“ siehe: Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 19992, S. 13. 21 Zur Chronopolitik siehe: Peter Osborne: The Politics of Time. Modernity and the Avantgarde, London 1995. Zur anthropologischen Revolution des Faschismus siehe u.a.: Emilio
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Einleitung
Es wird nach dem Entstehungsprozess dieser Entwürfe im Ersten Weltkrieg gefragt und deren Wandel in der Nachkriegszeit verfolgt. Die Arbeit zeigt die Kontexte auf, innerhalb derer sie einen Sinn erhielten und zeichnet die medialen Kanäle nach, welche diese Deutungsmuster verbreiteten und ihre Wirkung potenzierten. Die Heldenbilder werden als Prototypen verstanden, nach deren Vorbild das „Schreiben“ des eigenen Lebens vorgenommen werden sollte. Die medial transportierten Normen und Werte, welche die Helden verkörperten, wurden in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingeschrieben und die Welt nach den „vor-geschriebenen“ Mustern gedeutet. Zudem fragt die Arbeit, weshalb der faschistische Entwurf von Moderne unter den Zeitgenossen an Attraktivität gewann, während das liberale Menschen-, Gesellschafts- und Zukunftsbild zunehmend an Überzeugungskraft verlor. In dem Helden- und Kriegsbild, das die populären wie hochkulturellen Medien stifteten, zeigte sich, so eine Annahme, bereits während des Ersten Weltkrieges eine Disposition für ein Gesellschafts- und Zukunftsmodell, in dem für Emanzipations- und Fortschrittsnarrative kein Platz war; Ordnung, so scheint es, wurde in Deutschland und Italien Freiheit vorgezogen. Trotz aller Unterschiede zwischen dem Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus werden diese hier als ein einheitliches faschistisches Phänomen verstanden, das einen Gegenentwurf zur liberalen und marxistisch-stalinistischen Moderne darstellte.22 Es wird gezeigt, dass der Flieger und sein Flugzeug geradezu paradigmatische Symbole eben jener anvisierten mythischen Moderne waren, die den Fluchtpunkt dieser Untersuchung bildet. Was nach der modernisierungstheoretischen Lesart ein Paradoxon zu sein scheint, nämlich Mythos und Moderne zusammenzudenken, wird in dem kollektiven aviatischen Symbol harmonisiert. Das scheinbar Widersprüchliche gerinnt dort zur Einheit, das vermeint-
Gentile: Der Faschismus. Eine Definition zur Orientierung, in: Mittelweg 36 16/2007, S. 81–99, S. 94 sowie ders.: L’„uomo nuovo“ del fascismo. Riflessioni su un esperimento totalitario di rivoluzione antropologica, in: Ders.: Fascismo. Storia e interpretazione, Rom u.a. 2005, S. 235–264. 22 Siehe hierzu die im Abschnitt 1.3 Definition der zentralen Analysekategorien vorgenommene Definition von Faschismus. Im Rahmen dieser Arbeit konnte der marxistischstalinistische Moderneentwurf nicht berücksichtigt werden. Zu den Vergleichen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion sowie für einen Überblick zur Literatur: Robert Gellately: Lenin, Stalin, and Hitler. The Age of Social Catastrophe, London 2007; Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009; Richard J. Overy: The Dictators. Hitler’s Germany and Stalin’s Russia, London 2004. Wolfgang Schivelbusch hat hingegen Deutschland und Italien den Vereinigten Staaten gegenübergestellt: Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München u.a. 2005. Für einen Vergleich zwischen Deutschland und Italien siehe: Richard Bessel (Hrsg.): Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 2000 [repr.] sowie Armin Nolzen/Sven Reichardt (Hrsg.): Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005.
2. Theoretischer und methodischer Zugriff
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lich Ungleichzeitige erweist seine Gleichzeitigkeit, und das Nebeneinander verbindet sich in einer „Gestalt“.23 Die mythische Moderne gründete, so wird gezeigt, in einem palingenetischen Mythos der Nation oder des Volkes und wurde als Antwort sowohl auf die Krise der Vernunft als auch auf die Krise des Historismus wahrgenommen. Die mythische Moderne erfüllte jene Sehnsucht nach einer perfekten Ordnung und stillte das Bedürfnis nach einem sakralen und ästhetischen Nomos. Die Kontingenz und Ambivalenz pluralistischer Standpunkte, der aus dem Historismus hervorgehende Werterelativismus, die aus dem Rationalismus erwachsende Selbsthinterfragung und -kritik, die unsichere, kontextabhängige und zeitbedingte Welt sollten überwunden werden. An die Stelle der Orientierungslosigkeit und des Chaos sollte eine Ordnung treten, die ihr Zentrum in der Nation, im Volk oder der Rasse, jedenfalls in einem vermeintlich übergeschichtlichen, unverrückbaren und unhinterfragbaren Absoluten hatte.
2. Theoretischer und methodischer Zugriff Folgende Arbeit ist ein Beitrag zu einer neuen Ideengeschichte.24 Sie gründet theoretisch auf der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers25 und fußt methodisch auf der wissenssoziologisch informierten Erfahrungsgeschichte,26 der Diskursgeschichte27 sowie auf der Begriffs- und Metapherngeschichte.28 Im Mittelpunkt des Interesses dieser neuen Ideengeschichte stehen 23 Vgl. hierzu: Hans-Georg Soeffner: Der fliegende Maulwurf (Der taubenzüchtende Bergmann im Ruhrgebiet) – Totemistische Verzauberung der Realität und technologische Entzauberung der Sehnsucht, in: Ders.: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt/M. 1995², S. 131–156, S. 133. 24 Siehe: Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Ders./Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 11–27. 25 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 19906, S. 163–169. 26 Siehe: Nikolaus Buschmann/Horst Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges: Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Dies. (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 11–26. 27 Für einen Überblick zur Diskursgeschichte siehe: Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001; Jürgen Martschukat: Geschichte schreiben mit Foucault – eine Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 7–26 sowie Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003, S. 10–60. 28 Für einen Überblick zur Begriffs- und Metapherngeschichte siehe: Hans-Erich Bödeker (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002; Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, insbes. S. 7–36. Siehe zudem die „Gründungsschriften“ der deutschen Begriffsgeschichte: Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Ders.: Geschicht-
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„Substrukturen des Denkens“, symbolisch-semantische Verknüpfungen, Begriffs- und Konzeptverbünde oder eben Ordnungsvorstellungen und Ideen, mittels derer Wirklichkeit strukturiert und Sinn hergestellt wird. Sie ist getragen von der Annahme, dass die „Menschen“ zwar „ihre eigene Geschichte machen“, dass sie diese aber „nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen [machen]. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“29
Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Menschen ihre Geschichte unter der Last „aller todten Geschlechter“ machen, steht Sprache im Zentrum dieser Untersuchung. Sprache wird mit Hans-Georg Gadamer als „Sein, das verstanden werden kann“ begriffen.30 In der Sprache sind „die unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umstände“, „die Tradition“, das Wissen einer Gesellschaft, die kursierenden Weltwahrnehmungsweisen, die Wirklichkeitsordnungen der Zeitgenossen und die Konzepte, Vorstellungen, Regeln und Ideen, auf denen sie fußen, gespeichert. In der Sprache wird für den historischen Akteur ebenso wie für den Historiker Wirklichkeit erst verständlich.31 Denn die symbolisch-semantische Ordnung ist das Koordinatensystem, innerhalb dessen eine begreifbare Welt errichtet wird und in dem Interessen und Handlungen erst einen Sinn bekommen.32 In der Sprache wird also die Ordnung der Wirklichkeit tradiert, in die der Mensch hineingeboren und geworfen wird. Sie ist der gesellschaftliche Wissensspeicher, der sinnhafte Handlungen des historischen Akteurs bedingt und ermöglicht.33 Doch weder das Wissen noch dessen Speicher sind statisch, liche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII sowie Rolf Reichardt: Einleitung, in: Ders./Eberhard Schmitt (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Bd. 1/2, München 1985, S. 39–148. 29 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels: MEGA, I. Abt., Bd. II, Berlin 1985, S. 96–189, S. 97. 30 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 478. 31 Ebd., S. 447. Dort heißt es: „Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, daß sich in ihr die Welt darstellt.“ 32 Insofern stellt sich die Sprache tatsächlich als das „Haus des Seins“ dar. Siehe: Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“, in: Ders.: Wegmarken. GA 9, hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1978², S. 311–360, S. 311. 33 Siehe: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 19775, S. 39–41. Dort heißt es: „Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln. […] Als Zeichensystem hat sie Objektcharakter. Ich treffe auf sie als auf einen Tatbestand außerhalb meiner selbst,
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vielmehr sind sie einem stetem Wandel unterworfen, der im Zentrum des historischen Interesses steht. Denn in der Begegnung mit der Welt und durch den Gebrauch der Sprache und den Vollzug ihrer Regeln wird der Wissensspeicher nicht nur reproduziert, sondern zugleich an die sich verändernde Welt angepasst. Indem sie immer neue Objekte und Situationen integriert, wird Sprache als Träger des Wissens aktualisiert und verwandelt. Das Spiel und seine Regeln, so ließe sich in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein formulieren, passen sich an die Situation und an die Spieler an, die es spielen.34 Die Verwandlung der sprachlichen und mentalen Ordnung der Wirklichkeit oder der „vergesellschafteten Deutungskategorien“ im Umfeld des Ersten Weltkrieges wird in dieser Arbeit anhand einer Rekonstruktion und Dekonstruktion des Aviatikdiskurses nachgezeichnet.35 Doch was ist ein Diskurs und welche Aufschlüsse sind von seiner Untersuchung zu erwarten? Unter Diskurs wird in dieser Studie ein sprachlicher Kontext verstanden, in dem Handlungen eingelagert sind. Sie erhalten durch diese Einbettung in eine symbolisch-semantische Ordnung ihre Bedeutung oder ihren Sinn, und es ist dieser Sinn, den historische Akteure ihren Handlungen beilegen und in ihrer Welt erkennen, der im Zentrum ideengeschichtlicher Untersuchungen und ihre Wirkung auf mich ist zwingend. Sprache zwingt mich in ihre vorgeprägten Muster. […] Sprache versorgt mich mit Vorfabrikationen für die ständige Objektivation meiner zunehmenden Erfahrung. Sprache ist dehnbar genug, mir die Objektivation der ganzen Fülle von Erfahrungen möglich zu machen, die meinen Lebensweg kreuzen. Sprache typisiert die Erfahrungen auch, indem sie erlaubt, sie Kategorien zuzuteilen, mittels deren sie nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen Sinn haben.“ Das dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Geschichte wird auch in folgendem Zitat Algirdas Greimas’ deutlich: „Die Sprache ist ein globales System von Zeichen, das eine Kultur durchzieht und zum Ausdruck bringt. Sie ist nicht nur ein Repertoire von Wörtern, von denen nur einzelne als besondere Zeugnisse einer Geschichte gelten können, die sich ansonsten in einem Jenseits der Sprache abspielt; vielmehr ist sie als symbolisches System selbst der Ort, wo sich Geschichte abspielt. Sie bildet einen autonomen sozialen Raum, der über die Individuen hinausgeht und ihnen Gefühlsmodelle und Handlungsmuster aufdrängt. Die in strukturierten Ensembles – ‚Vokabularien‘ – organisierten Wörter definieren sich wechselseitig und bilden einen objektiven und zwangsläufigen Plan der Sprache, in dem der Historiker Mentalitätsstrukturen und Modelle der kollektiven Sensibilität entdecken kann […]. Das ist die Ebene, auf der die sozialen Rollen verteilt werden und die sozialen Rahmenbedingungen für Gefühlsmodelle und Moralitätsnormen entstehen.“ Algirdas J. Greimas: Historie et linguistique, in: Annales. Economies, Sociétés, Civilisations 13/1958, S. 110–114, S. 111 zit. nach: Peter Schöttler: Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 159–199, S. 163. 34 Siehe: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971. 35 Siehe: Buschmann/Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges, S. 18f. Dort heißt es: „Während sie [die Erfahrungen] aus der Sicht des Akteurs immer einzigartig und in ihrer zeitlichen Abfolge als individueller biographischer Verlauf erscheinen, liegen ihrer Interpretation vergesellschaftete Deutungskategorien zugrunde, deren gemeinsame Basis die Sprache als ‚positive Bedingung und Leitung der Erfahrung selbst‘ darstellt. Sprache ist insofern als Rahmenbedingung der Erfahrung zu betrachten, als sie den semantischen Apparat vorgibt, der Erfahrungen im Bewusstsein und in der Kommunikation erst ermöglicht.“
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steht.36 „Diskurse sind“, so Philipp Sarasin, „historisch eingrenzbare thematische Redezusammenhänge, die Möglichkeiten und Grenzen sinnvoller Rede und kohärenten sozialen Handelns bestimmen.“37 Ein Diskurs stellt also das Bezugs- und Verweissystem, den „Bewandtniszusammenhang“ dar, innerhalb dessen das Objekt, im vorliegenden Fall die Aviatik, das Flugzeug, der Flieger und das Fliegen, eingeordnet und dadurch überhaupt erst konstituiert werden.38 Indes stellt der Diskurs kein Ding in, über oder hinter der Welt dar, sondern er ist ein heuristisches Konzept, mit dessen Hilfe der Ort eines Objektes innerhalb des semantischen Netzwerks, sein Sinnzusammenhang, rekonstruiert werden kann. Es dient der Beantwortung der Frage, warum „zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt nur eine begrenzte Menge von Aussagen zu einem bestimmten Thema gemacht werden kann, obwohl rein
36 Zu Foucaults Diskursbegriff siehe insbesondere seine „Methodenschrift“: Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1997 [repr.]. Für diese Untersuchung soll folgende Definition des Soziologen Rainer Diaz-Bone zunächst leitend sein: „Man kann den Diskurs genauer als ein Aussagesystem spezifizieren, in dem die Sachverhalte, von denen die ‚Rede‘ ist, erst als Wissenselemente hervorgebracht werden. […] Erst dadurch, dass Sachverhalte nicht nur als Dinge verhandelt, sondern auch mit Wertungen verknüpft werden, in Klassifikationen untereinander relationiert und mit Begriffen verknüpft werden, erhalten sie einen Sinn und erhalten so im Diskurs den Wissensstatus von ‚Dingen‘, die Diskursgemeinschaften als vordiskursiv erleben, die aber genau eines nicht sind: einfach gegeben und naiv erfahrbar. Die Aussagen eines Diskurses weisen als Zusammenhang ein Regelsystem auf, das die Formation der ‚Begriffe‘, der ‚Objekte‘, der Sprecherpositionen und thematischen Wahlen erreicht. Die diskursive Ordnung ist damit eine die Wissensordnung generierende und in sich systematische Praxis. Das Aussagesystem ist für die einzelne Aussage ein Ermöglichungszusammenhang, umgekehrt reproduziert der Strom der Aussagen die Regelhaftigkeit des Diskurses. Mit einer bourdieuschen Formulierung kann man sagen: die diskursive Praxis ist eine (durch das Regelsystem) strukturierte Praxis und eine (die Wissensordnung sowie das Regelsystem) strukturierende Praxis.“ Siehe: Rainer DiazBone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, in: Historical Social Research 31/2006, S. 243–274, S. 251f. 37 Philipp Sarasin: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 131–164, S. 142. 38 Zum Bewandtniszusammenhang siehe: Martin Heidegger: Sein und Zeit. GA 2, hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1977, § 18 sowie ders.: Einleitung in die Philosophie. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1928/29. GA 27, hrsg. v. Otto Saame und Ina Saame-Speidel, Frankfurt/M. 1996, S. 81f. Dort heißt es: „Der Umkreis der nun jeweils faktisch durchscheinenden Bewandtniszusammenhänge, die Perspektive dessen, was uns gerade offenbar ist, ist aber veränderlich und ändert sich ständig: Wenn wir Kreide, Schwamm, Tafel und Hörsaal sagen, so zwingen wir uns gewissermaßen auf den Umkreis dieses bestimmten Raumes. Der Hörsaal selbst aber ist unmittelbar im Universitätsgebäude, dieses Gebäude an diesem Platz der Stadt, die Stadt Freiburg in einer bestimmten Umgebung unter dem Himmel, bei Tag, bei Nacht, bei einer bestimmten Witterung. Dieser ganze Zusammenhang ist unmittelbar verborgen uns gegenwärtig, wenn wir sagen, daß diese Kreide hier auf dem Katheder liegt. All diese Umkreise des Zusammenhangs von Seiendem haben keine festen Grenzen; sie sind nicht nebeneinander gelagert, sondern die weiteren scheinen je als Ganze durch die engeren durch und in diese herein.“
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2. Theoretischer und methodischer Zugriff
sprachlich gesehen eine unendliche Menge von möglichen Aussagen existiert.“39 Was beispielsweise der Flieger zu einem bestimmten Zeitpunkt „ist“, wird deutlich, wenn sein Ort innerhalb der semantischen Struktur herausgearbeitet worden ist. Mit welchen Begriffen und Konzepten wird er zu einem Zeitpunkt t1 von bestimmten Sprechern verknüpft und welche Bilder werden dadurch erzeugt? Wie wandeln sich diese Verknüpfungen und die Regeln, nach denen sie vorgenommen werden, und welche Vorstellungen liegen aufgrund dessen zum Zeitpunkt t2 vor? Was bedeutet es für das Verständnis des „Fliegers“, wenn sich die Bedeutung beispielsweise des Adelsbegriffs verändert? Das folgende Modell vermag, das Gesagte zu erhellen.
Weiblichkeit
Vergangenheit Leben
Rittertum
Männlichkeit
Ewigkeit
Flugzeug Ordnung
Gefahr
Kriegertum
Opfer
Adel Krieg
Flieger Masse
Nation
Abenteuer
Neuer Mensch
Technik Bewegung
Faschismus Zukunft
Elite
Geschwindigkeit
Abb. 1 Modell des Aviatikdiskurses zum Zeitpunkt tn.
Der Flieger erhält also seine „Identität“ und Bedeutung sowohl von all dem, was er nicht ist, also durch die Differenz, als auch von jenen Begriffen, in deren Kontext und strukturelle Nähe er eingeordnet wird. Dieser semantische Kontext und dessen Wandel werden in der Untersuchung herausgearbeitet. Das hat zweierlei zur Folge; es bedarf erstens ausführlicher Wiedergaben des sprachlichen Kosmos, innerhalb dessen die Aviatik positioniert wurde. Erst durch Darstellung dieses Rahmens wird deutlich, wie die aviatischen Symbole funktionierten. Damit geht zweitens einher, dass häufig nicht die Aviatik 39 Siehe: Landwehr: Geschichte des Sagbaren, S. 7. Bei Foucault lautet die Frage: „wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ Siehe: Foucault: Archäologie des Wissens, S. 42.
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selbst, sondern ihre Konnotationen, nicht der Flieger, sondern etwa die kursierenden Neuadelsvorstellungen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Symbole oder Metaphern stellen stets eine Verbindung her, sie bringen etwas als etwas zum Vorschein. Metaphorische Konzepte stellen, so George Lakoff und Mark Johnson, „Möglichkeiten dar, eine Erfahrung partiell in Begriffen einer anderen Erfahrung zu strukturieren.“40 Der dank dieser Verbindung entstehende Sinn sowie der „Erfahrungsraum“, aus dem er geschöpft wird, und der „Erwartungshorizont“, auf den er projiziert wird, stehen im Zentrum des ideengeschichtlichen Interesses.41 Damit also die zeitgenössische Wahrnehmung und Deutung der Aviatik überhaupt herausgestellt werden kann, müssen die „grenzpolizeiliche Befangenheit“ überwunden und die aviatischen Quellen durch unterschiedlichste Texte ergänzt werden.42 Daher ist das Quellenkorpus, einschließlich des dezidiert aviatischen Bestandteils, relativ heterogen. Es wurde ein möglichst breites und repräsentatives Spektrum aus der während des untersuchten Zeitraums schier unüberschaubaren Menge an Medialisierungen der Aviatik berücksichtigt. Dieses Hauptkorpus wurde wiederum durch eine Vielzahl an veröffentlichten und archivalischen Quellen erweitert, die dessen Verständnis vervollständigen oder überhaupt gewährleisten. Die Arbeit berücksichtigt diverse Flugillustrierten sowie einen Briefmarkenentwurf Aby Warburgs, Gemälde der futuristischen Aeropittura gleichermaßen wie Leni Riefenstahls Triumph des Willens oder die 1934 in Mailand gezeigte Luftfahrtausstellung Esposizione dell’Aeronautica italiana. Erzeugnisse der Hochkultur wurden ebenso beachtet wie die Produkte der Populärkultur. Einen zentralen Bestandteil des Quellenkorpus bilden darum die aviatischen Kriegsbücher, die in Deutschland im Zuge der literarischen Mobilmachung während des Ersten Weltkrieges erschienen.43 Es handelt sich um schichtübergreifende Lesestoffe der Massengesellschaft, die in Italien nicht zuletzt aufgrund der hohen Analphabetenrate keine gleichermaßen herausragende Rolle spielten und erst im Zuge der propagandistischen Anstrengungen des faschistischen Regimes an Einfluss gewannen. Große Bedeutung kommt den Schriften Gabriele D’Annunzios und der Futuristen zu, die ebenso wie die Texte Ernst Jüngers und Aby 40
George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 20086, S. 93. 41 Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 349–375. 42 Aby Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: Ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932, neu hrsg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers, in: Aby Warburg. Gesammelte Schriften. Studienausgabe hrsg. v. Horst Bredekamp u.a., Erste Abteilung, Bd. I.2, Berlin 1998, S. 459–481, S. 478. 43 Zur literarischen Mobilmachung siehe Kapitel II.1 Don Quijote der Lüfte sowie Marieluise Christadler: Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914, Frankfurt/M. 1978.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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Warburgs als paradigmatische Äußerungen verstanden werden. Die prominenten Sprecher im Diskurs vermochten, sich im symbolisch-semantischen Netzwerk gewandter zu bewegen, und ihren Aussagen wurde, nicht zuletzt aufgrund der (Deutungs-)Macht der Aussagenden, mehr Gehör geschenkt. Im Folgenden werden die zentralen Deutungskategorien Faschismus, Moderne und Mythos erläutert, welche die Analyse dieses Quellenkorpus leiten, und das Forschungsfeld umrissen, in dem die Arbeit zu verorten ist.
3. Definition der zentralen Analysekategorien In seinem 1984 erschienenen Buch machte Jeffrey Herf auf ein Paradox aufmerksam, das an jene bereits zitierte „Anomalie“ erinnert, die Paul Fussell erregt hatte.44 Das Paradox bestünde darin, dass der deutsche Nationalismus und in der Folge das nationalsozialistische Deutschland einerseits die „Moderne“, also die politischen Werte, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen seien, und die sozialen Wirklichkeiten, welche die industrielle Revolution hervorgebracht habe, abgelehnt und andererseits, trotz seiner antimodernen, romantischen und irrationalistischen Wurzeln, die moderne Technologie begrüßt habe.45 Herf zeigte, dass dieses Paradox von Technik und Antimodernismus mit Hilfe seines Interpretaments des „reactionary modernism“ wenn auch nicht auflösbar so doch denkbar sei und dass Deutschland und seine Intellektuellen an einem deutlichen Mangel an Vernunft, Liberalismus, Aufklärung, an „Moderne“ eben, gelitten hätten.46 Die mythische Moderne, nach der hier gefragt wird, verweist auf Herfs reaktionären Modernismus zurück und verwirft ihn zugleich. Die mythische Moderne kann in Einklang mit Herf als eine „cultural response to technological advance which incorporated technology into a romantic, fundamentalist revolt against processes of rationalization“ verstanden werden.47 Doch Herfs 44 Da der Forschungstand zu einzelnen Themen in den jeweiligen Kapiteln dieser Untersuchung Erwähnung findet, werden im Folgenden insbesondere jene Titel behandelt, welche die Arbeit in ihrer Gesamtheit betreffen. Da das Manuskript im Spätsommer 2009 abgeschlossen wurde, konnte danach erschienene Literatur nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. 45 Vgl. Jeffrey Herf: Reactionary modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge, MA 1984, S. 1. Siehe auch: Ders.: The Engineer as Ideologue. Reactionary Modernists in Weimar and Nazi Germany, in: JCH 19/1984, S. 631– 648; ders.: Der nationalsozialistische Technikdiskurs. Die deutschen Eigenheiten des reaktionären Modernismus, in: Wolfgang Emmerich/Carl Wege (Hrsg.): Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995, S. 72–93 sowie Thomas Rohkrämer: Antimodernism, Reactionary Modernism and National Socialism. Technocratic Tendencies in Germany, 1890–1945, in: Contemporary European History 8/1999, S. 29–50. 46 Herf: Reactionary modernism, S. 234. 47 Herf: The Engineer as Ideologue, S. 646. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Riccardo Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, S. 48–52.
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normative Feststellung, dass die Moderne mit Vernunft, Liberalismus und Aufklärung gleichgesetzt werden könne, wird widersprochen.48 Die in der Modernisierungstheorie gründende Annahme einer Moderne und eines einzig möglichen geradlinigen Verlaufs hin zu dieser liberalen, demokratischen, auf der Aufklärung und der Französischen Revolution fußenden Moderne westlichen Zuschnitts wird bestritten. Und eine Abweichung von diesem von Max Weber bis zu Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Habermas als gültig gesetzten Modernisierungspfad wird weder als Reaktion oder Sonderweg, noch als voroder antimodern begriffen. Während frühere, meist sozialgeschichtliche Untersuchungen um die Frage nach der Modernität des Nationalsozialismus oder Faschismus kreisten und die liberale Moderne als (normativen) Vergleichsmaßstab ansetzten, wird hier nach der faschistischen Moderne gefragt.49 Die Arbeit stützt sich vor allem auf jene Autoren, die, von der Fortschrittskritik und Moderneskepsis der 1970er Jahre inspiriert, den Faschismus und insbesondere die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten als genuinen Ausdruck einer janusköpfigen oder eben ambivalenten Moderne sahen.50 In seinem 2007 erschienenen 48
Vgl. hierzu: Rohkrämer: Eine andere Moderne, S. 15f. Für einen Überblick zur Frage nach der Modernität des Nationalsozialismus und Faschismus siehe neben dem bereits zitierten Buch von Riccardo Bavaj: Peter Fritzsche: Nazi Modern, in: Modernism/Modernity 3/1996, S. 1–21 sowie Stanley G. Payne: A History of Fascism 1914–1945, London 1997², S. 471–486. Einige der wesentlichen Etappen dieser Debatte seien an dieser Stelle bereits genannt: Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; David Schoenbaum: Hitler’s Social Revolution. Class and Status in Nazi Germany, 1933–1939, New York, NY 1966; Timothy W. Mason: Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934. Ein Versuch über das Verhältnis „archaischer“ und „moderner“ Momente in der neuesten Geschichte, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 332–351; Detlev J. K. Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; ders.: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Rainer Zitelmann: Hitler – Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1989; Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Ithaca, NY 1989; Michael Prinz/Rainer Zitelmann: Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991. Zum italienischen Faschismus und seiner Modernität siehe: Andrew Hewitt: Fascist Modernism. Aesthetics, Politics, and the Avant-Garde, Stanford, CA 1993; Emilio Gentile: The Conquest of Modernity. From Modernist Nationalism to Fascism, in: Modernism/Modernity 1/1994, S. 55–87; Walter L. Adamson: The Culture of Italian Fascism and the Fascist Crisis of Modernity. The Case of il Selvaggio, in: JCH 30/1995, S. 555–575; Timothy W. Mason: Italy and Modernization: A Montage, in: History Workshop Journal 25/1998, S. 127–147; Ruth Ben-Ghiat: Fascist Modernities. Italy, 1922–1945, Berkeley, CA u.a. 2004 [repr.]; Nicola Tranfaglia: Fascismi e modernizzazione in Europa, Turin 2001; Wolfgang Schieder: Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne, in: Christof Dipper (Hrsg.): Deutschland und Italien 1860–1960, München 2005, S. 159–179. 50 Siehe hierzu u.a.: Bauman: Modernity and the Holocaust; ders.: Moderne und Ambivalenz; Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde; ders.: Die Genesis der „Endlösung“ aus dem Geist der Wissenschaft, in: Ders.: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 102–121; sowohl Baumans als auch Peukerts Arbeiten stehen in der Tradition von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, gegen welche sich Herf dezidiert wandte: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philo49
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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Modernism and Fascism machte Roger Griffin in Anlehnung an Max Horkheimer, doch weit weniger dogmatisch, darauf aufmerksam, dass, wer von der Moderne nicht reden will, auch vom Faschismus schweigen sollte.51 Auch diese Arbeit ist getragen von der Annahme, dass, erstens, der Nexus von Faschismus und Moderne zentral ist und dass daher der Faschismus nur im Kontext der Moderne verstanden werden kann. Sie geht zudem davon aus, dass, zweitens, der Begriff des Mythos von größter Bedeutung für das Verständnis der Moderne(n) ist. Im Folgenden werden diese drei Begriffe eingegrenzt und geschieden. Da sie indes aufs Engste zusammengehören, werden sie am Ende der Untersuchung wieder zusammengeführt.
a. Faschismus Der Inhalt des Faschismusbegriffs hat sich in Einklang mit den Konjunkturen der Faschismusforschung gewandelt.52 Bisher lassen sich drei Phasen der vergleichenden Faschismusforschung voneinander unterscheiden, wobei sich die Grenzen zwischen der zweiten und der dritten Phase allerdings als fließend erweisen.53 Erst in dem für eine „Kulturgeschichte des Faschismus“ günstigeren Klima der neunziger Jahre konnten wichtige, bereits in den 1970er Jahren unter anderem von George L. Mosse oder von Emilio Gentile herausgearbeitete Aspekte zunächst im angelsächsischen Raum aufgenommen werden und eine größere Wirkung entfalten.54 sophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1981 [Or. 1947]. 51 Bei Horkheimer lautete der Satz: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Max Horkheimer: Die Juden in Europa, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Schriften 1936–1941, hrsg. v. Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1988, S. 308–331. Griffin hingegen konstatiert: „Less dogmatically, this book has argued that anyone not prepared to talk about modernity or modernism may by all means speak of fascism, but risks remaining oblivious of important aspects of its dynamics, and incapable of resolving the many paradoxes posed by its relationship to liberal capitalist modernity. In particular, it means underestimating the causal significance in its genesis and its appeal attributable to the crucial role played by the ‚disembedding‘, anomy-generating impact of modernization in fuelling countless revolts against ‚decadence‘ of which fascism was but one example – albeit one which changed the course of modern history in a way that cost millions of lives.“ Roger Griffin: Modernism and Fascism. The Sense of a New Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke u.a. 2007, S. 344. 52 Die folgenden Ausführungen sind keine erschöpfende Behandlung der Faschismusforschung, sondern dienen der Hinführung zu der in dieser Arbeit auf den Faschismus eingenommenen Perspektive und zu dem verwendeten Faschismusbegriff. 53 Siehe zu den Konjunkturen der Faschismusforschung und für eine einschlägige Besprechung der erschienenen Literatur: Sven Reichardt: Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung, in: Mittelweg 36 16/2007, S. 9–25 sowie ders.: Was mit dem Faschismus passiert ist. Ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung seit 1990, Teil 1, in: NPL XLIX/2004, S. 385–406. 54 Spiegelbildlich dazu kann festgestellt werden, dass die kulturgeschichtlich ausgerichtete angelsächsische Faschismusforschung der dritten Phase jene sozialgeschichtlich orientier-
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Die Beschäftigung mit dem Phänomen des Faschismus setzte mit dem Erscheinen des italienischen Faschismus selbst ein.55 Die marxistischen Theoretiker, die sich ihm zunächst zuwandten, sahen in ihm im Wesentlichen ein „Instrument des Monopolkapitals“. Die offizielle Definition des XIII. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) vom Dezember 1933 bezeichnete den Faschismus als die „offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“56 Die Bourgeoisie, so die These, bediene sich der faschistischen Bewegung, um ihr Eigentum vor dem revolutionären Proletariat zu schützen. Als verhängnisvoll erwies sich in diesem Zusammenhang die von der Komintern verbreitete Sozialfaschismusthese, welche die Sozialdemokratie mit dem Faschismus gleichsetzte, da beide „Kampfesmittel der großkapitalistischen Diktatur“ seien.57 Die These vom Faschismus als Agent des „Staatmonopolkapitalismus“ (Stamokap) überlebte jedenfalls den Zweiten Weltkrieg und wurde in der DDR, dem selbsternannten Hort des Antifaschismus, zur offiziellen Doktrin. Der Nexus von Kapitalismus und Faschismus, der auch von Max Horkheimer bereits 1939 konstatiert worden war, wurde in der BRD nochmals von den protestierenden Studenten, den „68ern“ aufgenommen.58 Derweil hatte in den 1960er Jahren infolge der Distanzierung von der auf konservativ-liberaler Seite entwickelten Totalitarismustheorie bereits eine zweite Phase der Faschismusforschung eingesetzt. Aufgrund ihrer exkulpierenden und relativierenden Konnotationen war die Totalitarismustheorie, wie Wolfgang Wippermann 1976 feststellte, zur quasioffiziellen Theorie der Bundesrepublik geworden.59 In den Konflikten der ten Studien größtenteils übersah, die von Wolfgang Schieder und seinem Umfeld seit den 70er Jahren veröffentlicht wurden, die unter anderem den Aspekt des Transfers zwischen dem italienischem Faschismus und dem Nationalsozialismus betonten. Siehe: Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008; Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998; Christof Dipper/Wolfgang Schieder (Hrsg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur, Köln 1998; Wolfgang Schieder: Die NSDAP vor 1933. Profil einer faschistischen Partei, in: GG 19/1993, S. 141–154; ders. (Hrsg.): Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976. 55 Vgl. zum Folgenden: Arnd Bauerkämper: Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006, S. 18–24; Renzo De Felice: Le interpretazioni del fascismo, Rom u.a. 2001 [repr.]; Payne: A History of Fascism, S. 441–450; Roger Griffin (Hrsg.): Fascism. Critical Concepts in Political Science, Vol. I. The Nature of Fascism, London 2004 sowie Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 19977, S. 11–57. 56 Protokoll des XIII. Plenums des EKKI, Dezember 1933, Moskau – Leningrad 1934, S. 277 zit. nach Wippermann: Faschismustheorien, S. 21. 57 Thesen und Resolutionen des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1924, S. 121 zit. nach Wippermann: Faschismustheorien, S. 17. 58 Vgl. Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, Bonn 2008, S. 84ff. 59 Wolfgang Wippermann: The Post-War German Left and Fascism, in: JCH 11/1976, S. 185–219, S. 193. Siehe auch: Abbott Gleason: Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York, NY 1995.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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1920er und 1930er Jahre beheimatet, war sie die konservativ-liberale Antwort auf die Herausforderung durch sowohl den Kommunismus als auch den Faschismus gewesen. Bolschewismus/Stalinismus und der Faschismus bedrohten beide gleichermaßen die Freiheit und suchten eine totalitäre Herrschaftsstruktur zu etablieren. Der Kalte Krieg sollte den politikwissenschaftlichen Totalitarismustheorien insbesondere Carl J. Friedrichs, Zbigniew Brzezinskis und Hannah Arendts Auftrieb verschaffen.60 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte der Totalitarismusbegriff, der in den 1960er Jahren an Erklärungskraft verlor, erneut eine Renaissance. In Verbindung mit Eric Voegelins Konzept der „politischen Religion“ bildet er insbesondere für Emilio Gentiles Faschismusdeutung ein zentrales Interpretament, das zum Verständnis des Phänomens erheblich beiträgt.61 Es komme nicht darauf an, ob das Regime tatsächlich eine totalitäre, also die Gesamtheit der Gesellschaft erfassende Herrschaft etabliere. Es gehe vielmehr darum, so Gentile, den Totalitarismus als ein „Experiment politischer Herrschaft“ zu verstehen.62 In seinem 1963 veröffentlichten Der Faschismus in seiner Epoche bestritt Ernst Nolte die Erklärungskraft des Totalitarismusbegriffs, da es nicht möglich sei, die „Abwandlung“ zu begreifen, „wenn sie unter den generellen Begriff gebracht wird.“63 Dennoch verstand Nolte bereits damals den Faschismus von seiner Bezogenheit auf den Marxismus beziehungsweise Bolschewismus her. Ohne Marxismus, so hieß es dort, gibt es keinen Faschismus. Die phänomenologisch gewonnene Faschismusdefinition Noltes lautete: „Faschismus ist Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung 60 Siehe hierzu u.a.: Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1999²; Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bde., Paderborn u.a. 1996– 2003; Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1998. 61 Zum Konzept der Politischen Religion und dem Zusammenhang mit dem Totalitarismus siehe Kapitel I.2 Aufstieg des Ikarus. Dort wird auch die einschlägige Literatur genannt. 62 Dieses Experiment werde, so Gentile, „von einer revolutionären Bewegung [verwirklicht], die in einer militärisch disziplinierten Partei mit einer integralistischen Auffassung von Politik organisiert ist, ein Machtmonopol anstrebt und, sobald sie dieses Monopol mit gesetzlichen oder außergesetzlichen Mitteln erlangt hat, die vorherige Regierungsform zerstört oder umwandelt und einen neuen Staat errichtet, beruhend auf einer Herrschaft einer einzigen Partei und mit dem Hauptziel einer Eroberung der Gesellschaft, das heißt: Unterwerfung, Integration, Homogenisierung der Beherrschten gemäß dem Prinzip der vollständigen Politisierung der individuellen wie kollektiven Existenz, die nun im Lichte der Vorstellungen, Mythen und Werte einer Ideologie nationaler Wiedergeburt gesehen wird, sakralisiert in der Form einer politischen Religion mit dem Anspruch, Individuum und Masse durch eine anthropologische Revolution zu formen, das menschliche Wesen zu erneuern und einen neuen Menschen zu schaffen, der mit Leib und Seele für die Verwirklichung der revolutionären und imperialistischen Pläne der totalitären Partei kämpft, um eine neue supranationale Ordnung zu errichten.“ [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.] Siehe: Gentile: Der Faschismus, S. 94. 63 Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus, München 20005, S. 34.
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von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie.“64 Im Anschluss an diese Definition bildete Nolte sein „faschistisches Minimum“, das aufgrund seiner reinen Negativität zwar kritisiert,65 dennoch aber immer wieder aufgegriffen wurde, nicht zuletzt von Stanley Payne, Roger Griffin und Roger Eatwell.66 Zentrale Kennzeichen des Faschismus waren für Nolte neben dem Antimarxismus der Antiliberalismus und Antikonservativismus, das Führerprinzip, die Parteiarmee und der Totalitätsanspruch, der in Gentiles Definition wiederkehrte.67 So einleuchtend dieses „faschistische Minimum“ schien, so rätselhaft und dunkel war die weitere, „mit philosophischen Begriffen exponiert[e]“ Faschismusdefinition des einstigen HeideggerSchülers Nolte. Auf der fundamentalsten Ebene erweise sich der Faschismus als „transpolitisches Phänomen“ und als „Widerstand gegen die Transzendenz“.68 Wie bereits Thomas Nipperdey in seiner Rezension in der Historischen Zeitschrift formulierte, war das Wort Transzendenz „nicht glücklich gewählt, weil es zu Mißverständnissen Anlaß gibt“, was Nolte selbst bereits eingeräumt hatte.69 Dennoch scheint gerade die Bestimmung des Faschismus als transpolitisches, also den Bereich der Politik übersteigendes, Phänomen die wegweisendere „Definition“ gewesen zu sein, als das notwendigerweise essentialistische faschistische Minimum. Transzendenz ist, so Nolte, „rückgewendeter begegnenlassender Ausgriff zum Ganzen“.70 Und Widerstand gegen eine so verstandene Transzendenz meint bei Nolte Widerstand gegen das Über-Sich-Hinausgreifen des Menschen zum Ewigen, das heißt gegen die „theoretische Transzendenz“ qua „Abstraktion des Denkens“. Zugleich versteht Nolte darunter den Widerstand gegen die „praktische Transzendenz“ qua „Abstraktion des Lebens“, und das heißt gegen den Entfremdungsprozess zwischen Mensch und Welt. Diesen Entfremdungsprozess begreifen die Faschisten und ihre Anhänger nicht mehr als „Befreiung und Wesensauszeichnung“, sondern empfinden ihn als „Qual und Fluch“, als Dekadenz- oder Verfallserscheinung.
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Ebd., S. 51. Siehe Payne: A History of Fascism, S. 5. Siehe Roger Eatwell: On defining the „Fascist Minimum“: The centrality of ideology, in: Journal of Political Ideologies 1/1996, S. 303–319 sowie Roger Griffin: The Nature of Fascism, London 1993 [repr.], S. 38. 67 Ernst Nolte: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen, München 1968, S. 385. 68 Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 515. 69 Thomas Nipperdey: Der Faschismus in seiner Epoche. Zu den Werken von Ernst Nolte zum Faschismus, in: HZ 210/1970, S. 620–638. Siehe Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 517. 70 Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 518. Dort (S. 520 u. S. 518) auch die folgenden Zitate. 65 66
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Durch Noltes „Widerstand gegen die Transzendenz“-These gerät bereits jene Dimension des Faschismus ins Visier, die hier mit Zygmunt Baumans Konzept der Moderne als Bewusstsein von Ordnung als Aufgabe in den Blick genommen werden soll.71 Der Entfremdungs- und Entzauberungsprozess hatte den Menschen nicht nur aus einer vermeintlich „naturwüchsigen“ und „gegebenen“ Ordnung entlassen, sondern den Zweifel in die Welt gesetzt, ob es eine solche Ordnung überhaupt gebe. Der Faschismus revoltierte gegen die Auflösung der „Naturwüchsigkeit“, gegen den „Fortschritt“, gegen jene Strömungen der praktischen und theoretischen Transzendenz, die den Menschen als Mittelpunkt der Ordnung postulierten, und das heißt gegen den Emanzipationsprozess des Wissens. Die Emanzipation des Menschen von der „göttlichen“ Ordnung hatte die „Märchen“ zerstört und zugleich eine Sehnsucht nach Ordnung und die dunkle Vorahnung ihrer Unmöglichkeit hinterlassen. Der Emanzipationsprozess hatte Kräfte geboren, die „sich dann gegen ihren eigenen Ursprung kehr[t]en“ und dennoch diesem Ursprung verhaftet blieben, insofern sie auch bloß ein menschliches Konstrukt, namentlich die Nation oder das Volk, zum Mittelpunkt der Ordnung erkoren.72 Zuspitzend ließe sich also behaupten, bei Nolte scheint vorweggenommen, dass der Faschismus als Widerstand gegen die „transzendentale Obdachlosigkeit“ zu verstehen ist, welche die Versuche der bürgerlichen Gesellschaft zur theoretischen und praktischen Transzendenz überhaupt erst veranlasste. Mehr oder weniger parallel zu der von Nolte eingeleiteten Konjunktur des Faschismusbegriffs erschien in den Vereinigten Staaten 1964 George L. Mosses The Crisis of German Ideology.73 Mosse, der hier an die völkischen Ursprünge der nationalsozialistischen Ideologie erinnerte, lenkte den Blick auf die religiöse Dimension der faschistischen Ideologie und Praxis, auf seinen politischen Stil, auf seine Ästhetik, Symbole, Riten, Mythen, Feiern und Bauten, die der Mobilisierung der Massen dienten. In seinem 1990 veröffentlichten The Fascist Revolution plädierte er dafür, den Faschismus als kulturelle – und somit „transpolitische“ – Bewegung und Revolution zu verstehen: „Fascism considered as a cultural movement means seeing fascism as it saw itself and as its followers saw it, to attempt to understand the movement in its own terms. Only then, when we have grasped fascism from the inside out, can we truly judge its appeal and its power. For fascism created a political environment which attempted to encompass the entire man or woman, to adress, above all, the senses and emotions, and at the same time to make the abstract concrete as something uplifting and familiar which can be seen and touched.“74
71 Dieses Konzept wird im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt. Siehe: Bauman: Moderne und Ambivalenz, insbes. S. 11–37. 72 Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 544. 73 George L. Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, London 1966 [repr.]. 74 George L. Mosse: The Fascist Revolution. Towards a General Theory of Fascism, New York, NY 1999, S. X.
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Im Mittelpunkt der Faschismusforschung hatten für Mosse folgende Punkte zu stehen: 1. die Wahrnehmung der Menschen und die Selbstrepräsentationen des Faschismus als Reflex dieser Wahrnehmungen, 2. der Nationalismus und der Rassismus als Glaubenssystem, 3. die Geburt des Faschismus aus dem Ersten Weltkrieg und die Betonung der Kriegserfahrung, der Kameradschaft und der Männlichkeit sowie 4. die Dialektik von Führertum und Volk.75 George L. Mosse nahm nicht nur die kulturgeschichtliche Wende vorweg, er etablierte mit seinen Arbeiten unter anderem zur Nationalisierung der Massen, zum Gefallenenkult und zur Konstruktion von Männlichkeit jene lohnende und auch hier eingenommene Perspektive auf den Faschismus, in deren Zentrum eben die Wahrnehmung und Deutung des Faschismus durch die Zeitgenossen stand.76 Die von Mosse ausgehenden Impulse wurden insbesondere von Emilio Gentile, Schüler des Mussolini-Biographen Renzo De Felice, gewinnbringend umgesetzt. Gentile hatte bereits 1975 in seinem Buch zu den Ursprüngen der faschistischen Ideologie auf die Zentralität der mythischen Konzepte der Erneuerung sowie des Neuen Menschen hingewiesen.77 In seinem 1993 erschienenen Buch Il culto del littorio zeigte er auf, wie die Faschisten die Politik ästhetisierten und sakralisierten und dass der Faschismus als politische Religion verstanden werden kann. Zudem hat Gentile in neueren Arbeiten stets die Modernität des Faschismus betont:78 „Born from the experience of the Great War, fascism was a manifestation of political modernism, an ideology that accepted modernization and thought it possessed the formula by which to give human beings, swept by the whirl of modernity, the power to face the challenges of history and create a new civilization. Fascism was not anti-modern, but rather had its own vision of modernity which opposed the visions of liberalism, socialism, and communism, and which claimed the right to impose its own form of modernity on the twentieth century.“79
Neben Mosse und Gentile hatte auch Stanley Payne eine Brückenfunktion zwischen der zweiten und dritten „Epoche“ der Faschismusforschung inne. Payne, der seit den frühen 1960er Jahren als Spezialist für den spanischen 75
Ebd., S. XI–XVII. Siehe insbesondere: George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von dem Napoleonischen Krieg bis zum Dritten Reich, Berlin u.a. 1976; ders.: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford u.a. 1991 [repr.]; ders.: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, Oxford u.a. 1998 [repr.]. 77 Emilio Gentile: The Origins of Fascist Ideology, 1918–1925, New York, NY 2005 [repr.]. 78 Siehe: Emilio Gentile: Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Rom u.a. 2005³; ders.: Storia del partito fascista, 1919–1922. Movimento e milizia, Rom u.a. 1989; ders.: The Conquest of Modernity; ders.: The Struggle for Modernity. Nationalism, Futurism and Fascism, Westport, CT 2003. 79 Emilio Gentile: The Myth of National Regeneration in Italy. From Modernist AvantGarde to Fascism, in: Matthew Affron/Mark Antliff (Hrsg.): Fascist Visions. Art and Ideology in France and Italy, Princeton, NJ 1997, S. 25–45, S. 41. 76
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Faschismus hervortrat, sollte mit seinem 1980 erschienenen Buch Fascism. Comparison and Definition und mit dem 1995 nachfolgenden, erheblich erweiterten A History of Fascism Noltes Versuch, ein „faschistisches Minimum“ zu bilden, wieder aufnehmen. Payne stellte ebenfalls einen Attributenkatalog zusammen, der den Vergleich der zahlreichen Ausprägungen des Faschismus ermöglichen sollte. Noltes faschistisches Minimum wurde um etliche Kategorien erweitert, um zu einer präziseren typologischen Beschreibung eines generischen Faschismus zu gelangen. Indes wollte Payne den Faschismus nicht als „monolithische, reifizierte, taxonomische Kategorie“, das heißt, nicht als quasi platonische Idee verstanden wissen.80 Den von ihm zusammengestellten Kriterienkatalog unterteilte er jedenfalls in die Kategorien 1. Ideologie und Ziele der Faschisten, 2. Negationen und 3. Stil und Organisation. Seine Faschismusdefinition lautete: „[A] form of revolutionary ultranationalism for national rebirth that is based on a primarily vitalist philosophy, is structured on extreme elitism, mass mobilisation, and the Führerprinzip, positively values violence as an end as well as means and tends to normatize war and/or the military values.“81 Diese Arbeitsdefinition ergänzte Payne zusätzlich, indem er in seiner „epignostischen Theorie des Faschismus“ die Umstände erhellte, aus denen gewichtige faschistische Bewegungen hervorgegangen waren. Zu den notwendigen Bedingungen für das Heranwachsen einer faschistischen Bewegung erklärte Payne „[a] strong influence from the cultural crisis of the fin de siècle in a situation of perceived mounting cultural disorientation; the background of some form of organized nationalism before World War I; an international situation of perceived defeat, status humiliation, or lack of dignity; a state system comparatively new that was entering or had just entered a framework of liberal democracy; a situation of increasing political fragmentation; large sectors of workers, farmers, or petit bourgeois that were either not represented or had lost confidence in the existing parties; and an economic crisis perceived to stem in large measure from foreign defeat or exploitation.“82
Bereits vier Jahre zuvor hatte Roger Griffin im Anschluss an George L. Mosse einerseits und an Emilio Gentile andererseits in seinem The Nature of Fascism den Faschismus folgendermaßen definiert: „[A] genus of political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism.“83 Die durch das Ende des Sowjetimperiums eingeleitete Verschiebung der ideologischen Frontkämpfe bildete den Hintergrund, vor dem sich die dritte Phase der vergleichenden Faschismusforschung abzeichnete, die Sven Rei-
80 Stanley G. Payne: Fascism. Comparison and Definition, Madison, WI 1980 sowie ders.: A History of Fascism, S. 465. 81 Payne: A History of Fascism, S. 14. 82 Ebd., S. 494. 83 Griffin: The Nature of Fascism, S. 26.
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chardt mit Griffins Buch einsetzen lässt.84 Von dem Verdachtsmoment befreit, politische Legitimationsarbeit zu leisten, war es nunmehr möglich, sich des Faschismusbegriffs für eine Analyse des abgeschlossenen „Zeitalters der Extreme“ zu bemächtigen.85 Und so konnte Griffin im Einklang mit den Ergebnissen Emilio Gentiles bereits in den 1990er Jahren auf die Einbettung des Faschismus in der Moderne hinweisen.86 In seinem 2007 erschienen Modernism and Fascism charakterisierte er den Faschismus als politischen Modernismus. Der Faschismus sei „a form of programmatic modernism that seeks to conquer political power in order to realize a totalizing vision of national or ethnic rebirth. Its ultimate end is to overcome the decadence that has destroyed a sense of communal belonging and drained modernity of meaning and transcendence and usher in a new era of cultural homogeneity and health.“87 Der heuristische Gewinn dieses von der „Moderne“ her auf den Faschismus gerichteten Blicks ist bedeutend. Griffin zeigt im Anschluss an Peter Osbornes The Politics of Time, dass der Faschismus eine neue Ordnung der Zeit zu etablieren trachtete.88 Zudem verfügte er über eine zukunftsgerichtete Dynamik, die, so Griffin unter Rückgriff auf den konservativen Revolutionär Arthur Moeller van den Bruck, eine „Wiederanknüpfung nach vorwärts“ betrieb.89 Im Anschluss an Griffins Thesen wird in dieser Untersuchung gezeigt, dass weder die Glorifizierung einer mythischen Vergangenheit noch die Errichtung einer mythischen Moderne „reaktionär“ waren. Vielmehr dienten sie der „Verwurzelung“ einer orientierungslosen und transzendental heimatlosen Gesellschaft. Mit Nietzsche lässt sich zeigen, dass sich die Faschisten als „Thätige und Mächtige“ verstanden, welche die Vergangenheit in den Dienst des gegenwärtigen Lebens stellten. Die faschistische „monumentalische Historie“ diente der Palingenese der Nation oder des Volkes.90 Der Faschismus bot eine Neuinterpretation der Gegenwart als Zeit des Aufbruchs in die Zukunft einer erneuerten, ewigen Nation, die durch den Liberalismus verfallen war und deren innerer Zusammenhalt durch den Marxismus gefährdet 84
Reichardt: Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung, S. 11. Zum Zeitalter der Extreme siehe: Eric J. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 86 Siehe u.a. Roger Griffin: Introduction, in: Ders. (Hrsg.): International Fascism. Theories, Causes and the New Consensus, London 1998, S. 1–20, S. 14. 87 Griffin: Modernism and Fascism, S. 182. 88 Siehe: Osborne: The Politics of Time sowie Roger Griffin: „I am no longer human. I am a Titan. A God!“ The Fascist Quest to Regenerate Time, in: Ders.: A Fascist Century. Essays, New York, NY u.a. 2008, S. 3–23. 89 Griffin: Modernism and Fascism, S. 132 u. S. 177ff. 90 Zur „monumentalischen Historie“ siehe Kapitel III.1 Volare! sowie: Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders.: KSA Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873 hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999 [repr.], S. 243–334. Dort (S. 260) ist auch die Rede von den „Thätigen und Mächtigen“. 85
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schien. Daher wurde er von zahlreichen Intellektuellen, aber auch von den Massen, als eine Möglichkeit einer alternativen Moderne und als Beginn eines neuen Zeitalters begrüßt. Das Kernelement oder das Fundament dieser alternativen Moderne war die Nation oder das Volk, hierauf beruhte die neue Gemeinschaft. Bevor sich die Untersuchung dem Modernebegriff zuwendet, gilt es, nochmals den Kontext der Frage nach der Modernität des Faschismus beziehungsweise nach der faschistischen Moderne zu klären.
b. Faschismus und Moderne Obwohl sich der gemeinsame Nenner, der den zahlreichen Arbeiten der dritten Phase der vergleichenden Faschismusforschung zugrunde liegt, bislang nur undeutlich abzeichnet, können vier charakteristische Faktoren ausgemacht werden.91 Erstens bestimmt die Wende von der Sozial- zur Kulturgeschichte selbst jene Arbeiten, die den „cultural studies“ eher ablehnend gegenüber stehen.92 Zweitens scheinen die Arbeiten um eine Abkehr von essentialistischen Definitionen des Faschismus bemüht zu sein, obgleich diese nicht immer gelingt. Unabhängig davon, ob man nun den Faschismus wie Robert Paxton als dynamischen Prozess,93 wie Michael Mann soziologisch über seine Mitglieder,94 oder wie Sven Reichardt praxeologisch mittels einer Analyse der verübten Gewalt zu fassen sucht,95 es herrscht das faktische 91 Roger Griffin sprach in diesem Zusammenhang von einem „neuen Konsens“, mit dem allerdings nicht alle, die Griffin miteinbezog, einverstanden waren. Siehe: Griffin: Introduction sowie ders.: The Primacy of Culture. The Current Growth (Or Manufacture) of Consensus within Fascist Studies, in: JCH 37/2002, S. 21–43. Im Artikel aus dem Jahr 2002 wurde der Konsens auf folgende Formel gebracht (S. 24): „Fascism is a genus of modern politics which aspires to bring about a revolution in the political and social culture of a particular national or ethnic community. While extremely heterogenous in the specific ideology of its many permutations, in its social support, in the form of organization it adopts as an anti-systemic movement, and in the type of political system, regime, or homeland it aims to create, generic fascism draws its internal cohesion and affective driving force from a core myth that a period of perceived decadence and degeneracy is imminently or eventually to give way to one of rebirth and rejuvenation in a postliberal order.“ 92 Selbst Robert Paxton, der glaubt, dass „die Ideen, die den faschistischen Taten zugrunde liegen, […] sich am besten aus den Taten selbst herleiten“ ließen, und der den Faschismus als dynamischen Prozess zu fassen sucht, kommt um eine idealtypische Definition, die zahlreiche „kulturelle“, von Griffin in obengenanntem Konsenskatalog erwähnte Aspekte aufweist, nicht herum. Siehe: Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus, München 2006, S. 319f. 93 Paxton plädiert dafür, dem Prozesscharakter des Faschismus mehr Aufmerksamkeit zu schenken als seinem Wesen. Siehe: Paxton: Anatomie des Faschismus sowie ders.: Die fünf Stadien des Faschismus, in: Mittelweg 36 16/2007, S. 55–80 [erstmals erschienen als: The Five Stages of Fascism, in: JMH 70/1998, S. 1–23]. 94 Michael Mann: Fascists, Cambridge u.a. 2004 siehe auch ders.: Der Faschismus und die Faschisten, in: Mittelweg 36 16/2007, S. 26–52 [deutsche Übersetzung des ersten Kapitels von Manns Monographie]. 95 Zum „praxeologischen“ Zugang siehe: Sven Reichardt: Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl
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Einverständnis darüber, dass die zahlreichen Faschismen unterschiedlich und teilweise auch widersprüchlich waren und sie dennoch unter dem gemeinsamen Begriff gefasst werden können. Wie sich nun, nahezu zwanzig Jahre nach Beginn dieser Konjunktur, abzuzeichnen scheint, wurde es drittens angesichts des „Sieges“ des westlich-liberalen Systems und des Zusammenbruchs des Ostblocks möglich, die gesamteuropäische Dimension des faschistischen Phänomens neu in den Blick zu nehmen und auch die jeweiligen nationalen, antifaschistischen Widerstandsnarrative zu kontextualisieren. Viertens, und für diese Untersuchung am gewichtigsten, sind es die Veränderungen, die hinsichtlich des Verständnisses von Moderne eingetreten sind, welche die neue Perspektive auf den Faschismus prägen. Durch das Schwinden des Planungs- und Fortschrittsoptimismus, die Kritik an der Modernisierungstheorie und das Ende der Systemrivalität einerseits sowie dank einer erneuerten Rezeption von Horkheimer und Adorno, aber auch der Aufnahme der von den französischen Poststrukturalisten ausgehenden Impulse andererseits entstand zunächst im angelsächsischen Raum eine neue kritische Perspektive auf die Moderne insgesamt. Die Moderne selbst wurde zunehmend historisiert. Eine Hinterfragung des „Projekts der Moderne“ beziehungsweise eine Aufdeckung seines normativen Gehalts ist heute auch in der Bundesrepublik möglich, ohne in die konservative, oder gar rechte und revisionistische Ecke gestellt zu werden.96 Den Faschismus im Allgemeinen und den Nationalsozialismus im Besonderen in den Kontext der Moderne zu stellen, heißt weder in exkulpierender Absicht die deutsche oder italienische Geschichte zu „normalisieren“, noch den Holocaust zu relativieren. Im Gegenteil, wie Zygmunt Bauman bereits 1989 gezeigt hat, dürfe, wer vom Holocaust spricht, von der Moderne ohnehin nicht schweigen.97 H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129–153 sowie insbesondere Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u.a. 2002. Dort (S. 717) heißt es: „Nicht die Ideologie oder ein kohärentes politisches Programm machte den Faschismus zu einem eigenständigen und klar unterscheidbaren Phänomen, sondern die Kombination der Formen seiner politischen Praxis mit den politischen Einstellungen. […] Die Gewalttätigkeit, das Ordnungszeremoniell und Glaubenspathos waren allgemeine Kennzeichen der faschistischen Bewegung […].“ Folgende fünf Merkmale „im idealtypischen Sinn“ sind für Reichardt für die Aufstiegsphase des italienischen und deutschen Faschismus kennzeichnend: „1. Beide Bewegungen waren durch eine hohe Gewaltsamkeit und Militanz gekennzeichnet.“ (S. 719) „2. Beide Bewegungen charakterisierte, dass sie keine stabilen Organe zur innerparteilichen Willensbildung und keine bürokratische Parteistruktur entwickelten.“ (S. 720) „3. Beide Bewegungen beanspruchten das Monopol auf die männliche Jugend und verstanden sich als ‚organisierter Jugendwille‘, der sich gegen die ‚gerontokratischen‘ und ‚weibischen‘ Demokratien richtete.“ (S. 722) „4. Sowohl den italienischen wie den deutschen Faschismus kennzeichnete eine charismatische Form von Politik.“ (S. 722) und schließlich „5. Beide Bewegungen vermieden eindeutige programmatische Zielsetzungen.“ (S. 724). 96 Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Ders.: Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981, S. 444–464. 97 Bauman: Modernity and the Holocaust.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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Die faschistischen Verbrechen stellen, wie Detlev Peukert schon 1982 konstatierte, eine der „pathologischen Entwicklungsformen der Moderne“ dar.98 Der Nationalsozialismus baute, wie Peter Fritzsche 1996 betonte, eine totalitäre Version der Moderne, deren deutlichstes Artefakt jedoch nicht die Gasmaske darstellt, wie Fritzsche vorschlug, sondern das Flugzeug.99 Den Faschismus im Kontext der Moderne zu situieren, bedeutet, ihn als Produkt einer längerfristigen Entwicklung zu begreifen und ihn in einer zeitgeschichtlichen longue durée zu verankern. Der Nationalsozialismus war jedenfalls bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre von Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum und dann verstärkt im Laufe der 1980er Jahre auf seine „Modernität“ hin befragt worden.100 Da die Fragestellung von der Modernisierungstheorie und der Sonderwegsthese von Deutschlands abweichendem Pfad auf dem „langen Weg nach Westen“ geleitet war, erschien der Faschismus als antimoderner Rückfall. Doch weshalb? Die mit dem amerikanischen Ökonomen Walt W. Rostow verbundene Modernisierungstheorie war eine normative Theorie historischer Entwicklung. Sie entstand während des Kalten Krieges vor dem Hintergrund der Dekolonisation und der wachsenden Attraktivität des sowjetischen Modells.101 Die Modernisierungstheorie bot eine an dem geschichtlichen Verlauf in Großbritannien und den Vereinigten Staaten orientierte Blaupause, die den Weg zum Entwicklungsstand der westlichen Demokratien wies. Bestimmte Grundvoraussetzungen, beispielsweise ein freier Markt und eine bürgerliche Mittelschicht, mussten gegeben sein, damit der Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft gelingen könne. Letztere war allerdings nicht allein (hoch)industrialisiert, technisiert und wissensbasiert, noch fußte sie einzig auf wirtschaftlichem Wachstum, sondern sie war dezidiert als eine gemäß dem britischen und amerikanischen Muster funktionierende kapitalistische, demokratische, parlamentarische, liberale Gesellschaft konzipiert. Das liberale System der westlichen Demokratien wurde mit der „Moderne“ gleichgesetzt, es war das Ziel der teleologisch gedachten historischen Entwicklung. Der als Fortschritt gedeutete Verlauf insbesondere der angloamerikanischen Geschichte bildete den Maßstab für die „unterentwickelten“ Länder, aber auch für Deutschland, Italien und Japan. Dass dies ein höchst nor98
Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 296. Fritzsche: Nazi Modern, S. 17. 100 Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland; Schoenbaum: Hitler’s Social Revolution sowie Henry A. Turner Jr.: Fascism and Modernization, in: World Politics 24/1972, S. 547–564. Siehe hierzu: Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne sowie Payne: A History of Fascism, S. 471–486. 101 Zur Modernisierungstheorie im Kontext des Kalten Krieges siehe: Michael Latham: Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era, Chapel Hill, NC 2000. Zur Modernisierungstheorie als „Ordnungsmuster des Nachkriegskonsenses“ siehe Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 21–27, S. 60f. 99
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Einleitung
matives und euro-atlantisch zentriertes Modell war und ist, bedarf keiner weiteren Erklärung.102 Vor dem Hintergrund der Modernisierungstheorie war auch die Sonderwegsthese entstanden.103 Laut dieser waren das unterentwickelte deutsche Bürgertum, die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, der schwach ausgeprägte Liberalismus, die Vormachtstellung der traditionellen Eliten sowie der Überlegenheitsdünkel gegenüber der westlichen „Zivilisation“ ursächlich für Deutschlands Weg in die Katastrophe des „Dritten Reichs“. Jene Abweichungen von der westlichen „Norm“ hätten, so die Vertreter der Sonderwegsthese, zum Zivilisationsbruch des Holocaust geführt. Trotz der bürokratischen Planung und Organisation, des zugrunde liegenden sozialhygienischen und eugenischen Denkens und der industrialisierten Durchführung des millionenfachen Massenmords wurde die Shoah aus der Moderne ausgeklammert. Dabei hatte beispielsweise Geoff Eley bereits zu Beginn der 1980er Jahre überzeugend gegen die Sonderwegsthese argumentiert. Es schiene, so Eley, als seien die Ursprünge des deutschen Faschismus weniger in den vermeintlich „vorindustriellen Kontinuitäten“ des Kaiserreichs zu suchen, als vielmehr in den spezifischen Widersprüchen einer Gesellschaft, die eine beschleunigte kapitalistische Transformation erlebt hatte. Nicht eine „pre-industrial blockage of ‚modernization‘“ sei für die deutsche Anfälligkeit für den Faschismus verantwortlich, sondern im Gegenteil ein beschleunigter Einbruch der Moderne.104 Doch das Eingeständnis eines Nexus von Nationalsozialismus und Moderne hätte eine Infragestellung des mühsam erkämpften Selbstverständnisses der Bundesrepublik bedeutet, die trotz des Zivilisationsbruchs den „langen Weg nach Westen“ nun doch gemeistert zu haben schien.105 Dieses Selbstver-
102
Siehe hierzu: Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton, NJ 2000. Auf die Normativität des westlichen Fortschrittsmodells machte u.a. Claude Lévi-Strauss schon 1952 aufmerksam. Siehe: Claude Lévi-Strauss: Rasse und Geschichte, Frankfurt/M. 1972 [Or. 1952]. 103 Siehe dazu Thomas Mergel: Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Ders./Thomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 232 sowie Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975 sowie ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949–1990, München 2008. Dort (S. 782) heißt es, dass nicht Rostows Modernisierungstheorie entscheidend gewesen sei, sondern „jene von Adam Smith, Karl Marx, Max Weber und manchen anderen entfaltete Analyse und Deutung des in die westliche Moderne führenden Evolutionsprozesses“. 104 Geoff Eley: The British Model and the German Road. Rethinking the Course of German History Before 1914, in: David Blackbourn/ders.: The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984, S. 37– 155, S. 154f. 105 Zum „Sonderweg“ als bundesrepublikanisches master narrative siehe: Thomas Welskopp: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H.
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ständnis wurde seit den frühen 1980er Jahren indes ohnehin hinterfragt. Fand doch die Diskussion um die Modernität des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund 1. der geschichtspolitischen „Tendenzwende“ der Ära Kohl, 2. des um Ernst Noltes These vom „kausalen Nexus“ entbrannten Historikerstreits und schließlich 3. der Neuordnung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges statt. Da versuchte der Nolte nahestehende Rainer Zitelmann in seiner Dissertation, den „Revolutionär“ Hitler zu einem bewussten Modernisierer Deutschlands zu stilisieren.106 Und wenige Jahre später lief Zitelmann in dem gemeinsam mit Michael Prinz herausgegebenen Sammelband Nationalsozialismus und Modernisierung erneut Gefahr, einer Rehabilitierung des Nationalsozialismus Vorschub zu leisten.107 Doch sieht man von diesen möglicherweise politisch motivierten Versuchen zur „Modernisierung“ des Nationalsozialismus ab, erbrachte die Verankerung des Faschismus in den Kontext der Moderne einen deutlichen heuristischen Gewinn. Daher gilt es, noch kurz auf die wirkmächtigen Arbeiten Detlev Peukerts und Zygmunt Baumans sowie nochmals auf Jeffrey Herf einzugehen. In dem bereits zitierten Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde von 1982 machte Peukert, im Übrigen einer der ersten deutschen Historiker, die Michel Foucault rezipierten,108 darauf aufmerksam, dass „die terroristische Praxis des Nationalsozialismus“ auf die den gesellschaftspolitischen Konzepten der Jahrhundertwende innewohnende „repressive Seite sozialer Normierung und Disziplinierungen“ verwies. Zudem konstatierte er: „Der Nationalsozialismus entwarf in konsequenter ideologischer Wendung gegen das Erbe von 1789 eine in ihren Mitteln moderne Gesellschaft ohne die Leitbilder der staatsbürgerlichen Gleichheit, der Emanzipation und Selbstbestimmung und der Mitmenschlichkeit. Er führte den utopischen Glauben an die Allfälligkeit ‚wissenschaftlicher‘ Total-Lösungen für gesellschaftliche Probleme bis zu ihrer radikalsten Konsequenz der rassebiologisch begründeten bürokratischen Erfassung und schließlich Ausmerze alles Unangepassten und Irritierenden.“109
Jarausch (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 109–139. 106 Siehe Zitelmann: Hitler. 107 Siehe Prinz/Zitelmann (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. Zur Kritik an Prinz und Zitelmann siehe: Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne, S. 42ff. sowie Christof Dipper: Zwischen „Historikerstreit“ und der Debatte über „Nationalsozialismus und die Moderne“, in: Gertraud Diendorfer/Gerhard Jagschitz/Oliver Rathkolb (Hrsg.): Zeitgeschichte im Wandel, Innsbruck 1998, S. 110–121; Norbert Frei: Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: GG 19/1993, S. 367–387; Hans Mommsen: Nationalsozialismus und Modernisierung, in: GG 21/1995, S. 391–402; Axel Schildt: NS-Regime, Modernisierung und Moderne. Anmerkungen zur Hochkonjunktur einer andauernden Diskussion, in: Dan Diner/Frank Stern (Hrsg.): Nationalsozialismus aus heutiger Perspektive, Göttingen 1994, S. 3–22. 108 Siehe z.B. Detlev J. K. Peukert: Die Unordnung der Dinge. Michel Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M. 1991, S. 320–339. 109 Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 295f. Siehe zu Peukerts Verständnis der Moderne auch: Ders.: Die Weimarer Republik, insbesondere S. 266–271.
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Einleitung
Damit hatte Peukert nicht nur auf die „Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaft“ hingewiesen,110 sondern hatte den für ein angemessenes Verständnis der Moderne entscheidenden ersten Schritt zur Unterscheidung zwischen den „modernen Mitteln“ und den Leitbildern von 1789 vollzogen, auf die Max Weber schon in Wissenschaft als Beruf hingewiesen hatte.111 Während also Peukert erkannte, dass der Faschismus als „eine der Möglichkeiten moderner Zivilisation in der Krise“ zu verstehen sei112 und dass „moderne Mittel“ keineswegs zwangsläufig die begrüßenswerten „modernen“ Zwecke oder Werte der Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit und dergleichen mehr implizieren, ging der amerikanische Historiker Jeffrey Herf von der notwendigen Einheit von Mitteln und Zwecken aus. Sein breit rezipiertes Interpretament des „reactionary modernism“ war, wie bereits erwähnt, von einem normativen Modernebegriff getragen.113 Antimodernistisch oder eben reaktionär waren für Herf die Ablehnung der Ideale der Französischen Revolution, der ökonomischen und sozialen Ergebnisse der Industriellen Revolution sowie der Romantizismus, Antimaterialismus und -rationalismus der „konservativen Revolutionäre“ und Nationalsozialisten. Modernistisch hingegen war ihre Vereinnahmung der Technik. Den „reaktionären Modernisten“ sei es gelungen, die Verbindung zwischen der Technik und der „Zivilisation“ zu kappen. Sie ästhetisierten die Technik, deuteten sie als ein Mittel des Willens zur Macht und gelangten zu dem Schluss, dass Technik im sozialdarwinistischen Überlebenskampf unverzichtbar sei. Hierdurch sei es gelungen, die „modernistische“ Technik in die „reaktionäre“ Sphäre deutscher Kultur zu integrieren.114 Die „reaktionären Modernisten“ hatten also genau das getan, was Herf und andere, im Kontext der Modernisierungstheorie arbeitende Historiker, vermieden; sie unterschieden zwischen den Mitteln und den Zwecken.
110 Ders.: Max Webers Diagnose der Moderne, S. 102–121. Dort (S. 81f.) distanzierte sich Peukert auch deutlich von der Sonderwegsthese. 111 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Ders.: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919. Studienausgabe der MWG Bd. I/17, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, S. 1– 23, S. 12. 112 Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, S. 81 u. S. 104. 113 Siehe: Herf: Reactionary Modernism sowie ders.: Der nationalsozialistische Technikdiskurs. Dort (S. 72) heißt es: „Unter Moderne ist nicht ausschließlich und nicht hauptsächlich der wissenschaftliche und technische Fortschritt der letzten zwei Jahrhunderte zu verstehen. Sicherlich schließt sie diesen mit ein, doch ist sie viel mehr. Sie umfasst darüber hinaus: die Bildung von Nationen und Staaten, einen gewissen Begriff von der Würde des Menschen, unabhängig von dessen sozialem und ethnischem Status, wirtschaftliche Märkte, die durch ein stabiles rechtsstaatliches System reguliert werden, sowie konzeptionelle Ideen von individueller Freiheit, sozialer Gleichheit und liberaler Demokratie.“ 114 Ebd., S. 224f.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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Diese Unterscheidung stand auch im Zentrum des in der Denktradition Horkheimers und Adornos stehenden Soziologen Zygmunt Bauman.115 In seinem 1989 erschienenen Modernity and the Holocaust machte er gleich Peukert darauf aufmerksam, dass der Holocaust „a rare, yet significant and reliable, test of the hidden possibilities of modern society“ sei.116 Der ätiologische, das heißt „Gründungs“-Mythos der westlichen Gesellschaften, erzähle von deren Aufstieg aus der Barbarei.117 Gemäß dem „Mythos der Aufklärung“, der von soziologischen Theorien ebenso wie von historiographischen Narrativen gefestigt wurde, könne der Holocaust, so Bauman, nur als gescheiterter oder unvollendeter Zivilisationsprozess, als „unvollendetes Projekt der Moderne“ verstanden werden. Indes sei das Gegenteil der Fall: „The ‚Final Solution‘ did not clash at any stage with the rational pursuit of efficient, optimal goal-implementation. On the contrary, it arose out of a genuinely rational concern, and it was generated by bureaucracy true to its form and purpose. […] The Holocaust was not an irrational outflow of the not-yet-fully eradicated residues of pre-modern barbarity. It was a legitimate resident in the house of modernity; indeed, one who would not be at home in any other house.“118
Mit den Regeln der instrumentellen Vernunft, so Bauman, ließe sich ein Phänomen wie der Holocaust jedenfalls nicht verhindern: „there is nothing in those rules which disqualifies the Holocaust-style methods of ‚social engineering‘ as improper or, indeed, the actions they served as irrational. […] it was the spirit of instrumental rationality, and its modern, bureaucratic form of institutionalization, which made the Holocaust-style solutions not only possible, but eminently ‚reasonable‘ – and increased the probability of their choice.“
Es war nach Bauman der Geist instrumenteller Vernunft und der Moderne, der jenen Gärtnerstaat gebar, dem Natur und Gesellschaft als Objekte erschienen, die es zu beherrschen, zu verbessern und zu ordnen galt.119 Die genozidale Seite des faschistischen Gärtnerstaates wird in vorliegender Untersuchung nicht behandelt. Doch es gilt bereits jetzt festzuhalten, dass die Konstruktion des Neuen Menschen nur das andere Gesicht des modernen Januskopfes darstellte. Um bei Baumans Metapher zu bleiben, der gleiche Gärtner, der das „Unkraut“ vernichtete, züchtete eben auch die von ihm erwünschten „Nutzpflanzen“. Züchtung und Vernichtung waren zwei Seiten einer Medaille. 115
Siehe hierzu: Anson Rabinbach: Nationalsozialismus und Moderne. Zur Technik-Interpretation im Dritten Reich, in: Wolfgang Emmerich/Carl Wege (Hrsg.): Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart u.a. 1995, S. 94–113, S. 98: Rabinbach macht unter Verweis auf die Dialektik der Aufklärung darauf aufmerksam, dass für Bauman „eine Moderne, die durch die Rationalisierung der Mittel definiert wird, […] letzten Endes die Irrationalität der Zwecke“ voraussetzt. 116 Bauman: Modernity and the Holocaust, S. 12. 117 Ebd., S. 12. 118 Ebd., S. 17. Dort (S. 18) auch das folgende Zitat. 119 Siehe hierzu auch: Bauman: Moderne und Ambivalenz, sowie James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, NJ 1998.
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Einleitung
Bevor im Folgenden ausführlicher auf den mit Hilfe von Zygmunt Baumans Theorie der Moderne erarbeiteten Modernebegriff eingegangen wird, sollten die in den vergangenen Jahren erschienenen Spezialstudien erwähnt werden, die den Nexus von Faschismus und Moderne behandeln. Im Zentrum der Aufmerksamkeit dieser Untersuchungen stand die Frage nach der kulturellen Modernität insbesondere des italienischen Faschismus.120 So wurden die „modernistischen“, also die im engeren Sinn kulturellen Aspekte des Faschismus in den Blickpunkt gerückt, seine Verbindungen zur Avantgarde und weiteren Künstlern, die Selbstdarstellung des Regimes und der Umgang mit den Massenmedien121 sowie die Frage nach dem Charakter der faschistischen Kriege behandelt.122 Vergleichbare Untersuchungen zum Nationalsozialismus bleiben weiterhin ein Desiderat,123 wie Peter Fritzsches wegweisender und die Ausnahme darstellender Aufsatz Nazi Modern belegt.124
c. Moderne Was die Moderne sei, ob eine Haltung im Sinne eines ethos125 oder gar eine Epoche und wann diese begonnen oder gar geendet habe, ist eine Frage, der seit dem Ende des Nachkriegsbooms und dem Aufkommen der Rede von der 120
Einen Überblick bieten: Paul Betts: The New Fascination with Fascism: the Case of Nazi Modernism, in: JCH 37/2002, S. 541–558 sowie folgende Sonderausgaben: Fascism and Culture, Modernism/Modernity 3/1996; The Aesthetics of Fascism, JCH 31/1996 und Fascism and Culture, Stanford Italian Review (1990). Im Folgenden werden allein die wichtigsten, in dieser Arbeit berücksichtigten Monographien genannt. Weitere Literatur zum Thema findet sich in den einzelnen Kapiteln. 121 Siehe u.a.: Mark Antliff: Avant-Garde Fascism. The Mobilization of Myth, Art, and Culture in France, 1909–1939, Durham, NC 2007; Ben-Ghiat: Fascist Modernities; Emily Braun: Mario Sironi and Italian Modernism, New York, NY 2000; Patricia ChianteraStutte: Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931, Frankfurt/M. 2002; Simonetta Falasca-Zamponi: The Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, Berkeley, CA 2000 [repr.]; Claudia Lazzaro/Roger J. Crum (Hrsg.): Donatello among the Blackshirts. History and Modernity in the Visual Culture of Fascist Italy, Ithaca, NY u.a. 2005; Marla Susan Stone: The Patron State. Culture and Politics in Fascist Italy, Princeton, NJ 1998; Frank Vollmer: Die politische Kultur des Faschismus. Stätten totalitärer Diktatur in Italien, Köln u.a. 2007. 122 Siehe u.a.: Giulia Brogini-Künzi: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg, Paderborn u.a. 2006; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005. 123 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass seit Peter Reichels bereits 1991 erschienener Monographie oder Eric Michauds 1996 auf französisch erstmals veröffentlichter Studie kaum vergleichbare Arbeiten vorliegen. Siehe: Eric Michaud: The Cult of Art in Nazi Germany, Stanford, CA 2004; Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reichs. Gewalt und Faszination des deutschen Faschismus, Hamburg 2006 [repr.]. Eine Ausnahme ist: Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne, München 2009. 124 Fritzsche: Nazi Modern. 125 Zum Ethos der Moderne siehe: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1990.
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Post-, Spät-, der zweiten und der reflexiven Moderne verstärkt nachgegangen wird.126 In der Geschichtswissenschaft herrscht jedenfalls, wie erst kürzlich konstatiert wurde, trotz der Konjunktur des Begriffs Moderne keineswegs Klarheit über dessen Inhalt.127 Eine eindeutige und vor allem endgültige Antwort ist hier ebenso wenig wie im Falle des Faschismusbegriffs möglich, noch wird diese überhaupt angestrebt. Dennoch muss geklärt werden, wie der Begriff verstanden und verwendet wird. Diese Untersuchung stützt sich vornehmlich auf Zygmunt Baumans Theorie der Moderne, die auf den Begriff der Ordnung gründet, und ergänzt diese um eine temporale Dimension. Beim Begriff der Moderne handelt es sich zunächst einmal um eine Kategorie der Gesellschaftsbeschreibung, die sich aus dem Fragehorizont der klassischen Soziologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte.128 Es war die Verwandlung der „traditionalen“ Gesellschaften und die Frage nach den Merkmalen des neu Entstandenen, welche die soziologischen Theoretiker Marx und Weber, aber auch Durkheim, Simmel und Tönnies beschäftigte. Der variierende Merkmalskatalog, der „modernen“ Gesellschaften zugeschrieben wurde, fand dann in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts Einzug in die bereits erwähnte Modernisierungstheorie und deren teleologisches Narrativ der Entwicklung. Dieser Merkmalskatalog umfasste bestimmte „Basisprozesse“, die eine moderne Gesellschaft im Vergleich zur traditionalen auszeichneten, so zum Beispiel Rationalisierung und Säkularisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung sowie die Steigerung sozialer und räumlicher Mobilität, die Entstehung von Massenkultur und einer den Massen zugänglichen Öffentlichkeit.129 Dieser gewissermaßen ein „modernistisches Minimum“ umfassende Merkmalskatalog wird im Folgenden zwar mitbedacht, Ziel ist es jedoch, der Arbeit eine grundsätzlichere Definition von Moderne zugrunde zu legen, welche der Möglichkeit von „multiple modernities“ gerecht wird und Bestimmungen von
126
Siehe hierzu Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom, S. 118. Vgl. Ute Schneider: Spurensuche: Reinhart Koselleck und die „Moderne“, in: Lutz Raphael/Dies. (Hrsg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt/M. u.a. 2008, S. 61–71 sowie Christoph Cornelißen: Ein ständiges Ärgernis? Die Moderne in der (west-)deutschen Geschichtsschreibung, in: Ebd., S. 235–248. 128 Vgl. zum Folgenden Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hrsg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt/M. u.a. 2007. 129 Für ein „Dichotomien-Alphabet“ traditionaler und moderner Gesellschaften siehe: Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, S. 14f. Siehe auch: Ulrich Herbert: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: JMEH 5/2007, S. 5–21. Zur Kritik des Konzepts der Hochmoderne siehe: Lutz Raphael: Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ders./Ute Schneider (Hrsg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt/M. u.a. 2008, S. 73–91. 127
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Einleitung
Moderne umfasst, die von der westlich-liberalen Variante von Modernität und deren Narrativ abweichen.130 Die folgenreichste und zugleich umfassendste Deutung der Moderne oder der Verwandlung „traditionaler“ Gesellschaften geht auf Max Webers Theorie okzidentaler Rationalisierung beziehungsweise seine These der Entzauberung der Welt zurück.131 Der okzidentale Rationalisierungsprozess führte zur Überwindung magischer und mythischer Weltbilder, zur Säkularisierung „moderner Gesellschaften“ und zur Fähigkeit, „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen“ zu können.132 Auf diesem abendländischen Rationalisierungsprozess gründete auch die kapitalistische Wirtschaftsform.133 Trotz der bei Weber selbst vorhandenen Skepsis gegenüber dem okzidentalen Rationalisierungsprozess, seiner Reichweite und der Möglichkeit rationaler Legitimation ethisch-normativer Urteile wurde die webersche Diagnose der Verwandlung traditionaler Gesellschaften als Prozess der Rationalisierung zur Grundlage der normativen modernisierungstheoretischen Definition der Moderne. Die Modernisierungstheoretiker glaubten, das westliche, evolutionistische, auf einem Verständnis vermeintlich universeller (instrumenteller) Vernunft gründende Fortschrittsnarrativ fortschreiben und auf außereuropäische Gesellschaften übertragen zu können. Diese Haltung gipfelte in dem in den 1960er Jahren seinen Höhepunkt überschreitenden Glauben, die gesamte Welt ließe sich berechnen, planen und ordnen.134 Die modernisierungstheoretische Interpretation Webers wird in dieser Untersuchung nicht geteilt. Zwar wird die Infragestellung der „traditionalen“ metaphysisch-religiösen Weltbilder durchaus als Schwelle zur Moderne als Epoche verstanden, und es wird auch davon ausgegangen, dass die moderne Haltung durchaus eine Folge der „Entzauberung der Welt“ war. Indes werden die Rationalisierung und vor allem die Säkularisierung der Weltbilder als un130
Zum Konzept der „multiple modernities“ siehe: Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000 u. ders.: Multiple Modernities, in: Daedalus 129/2000, S. 1–29. 131 Siehe Max Weber: Vorbemerkung, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 19889, S. 1–16 sowie ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ebd., S. 17–205. 132 Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9. 133 Zum Prozess okzidentaler Rationalisierung bei Weber siehe: Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, S. 225–366 u. Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. 134 Siehe hierzu: Anselm Doering-Manteuffel: Konturen von Ordnung in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–64; Gabriele Metzler: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 777– 797 sowie Dirk van Laak: Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GG 34/2008, S. 305–326.
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abgeschlossener, wenn nicht sogar unabschließbarer Prozess betrachtet.135 Auch die modernen Ordnungen, so wird in dieser Arbeit gezeigt, blieben trotz ihrer „rationalen Apologetik“ im Metaphysischen verankert und in einem Transzendenten begründet. In diesem Sinne gilt es, Bruno Latour zuzustimmen, wenn er konstatiert, „wir sind nie modern gewesen.“136 Zygmunt Bauman knüpft über Horkheimer und Adorno an den von Max Weber hinterlassenen Faden an und verwebt ihn mit seinem Begriff der Moderne. Bevor die baumansche Definition jedoch erörtert wird, gilt es nochmals, die Bedeutung des eigenen Standpunktes hervorzuheben. Der Sehepunkt, von dem hier auf die Moderne geschaut wird, ist ein schwimmender und schwankender. Denn die Gegenwart ist, wie Bauman gezeigt hat, gekennzeichnet von der „Verflüssigung“ und „Verflüchtigung“ der Ordnung.137 Das Verhältnis zur Moderne ist ein zwiespältiges, und sie selbst war ambivalent, sofern sie sich sowohl durch das „Verdampfen alles Ständischen und Stehenden“ auszeichnete, so Bauman im Anschluss an Marx und Engels, als auch durch dessen Gegenteil, die Verfestigung. Die Moderne war (und ist) Aufbruch und Konsolidierung. Sie war und ist von der Dialektik von Freiheit und Ordnung geprägt. Freiheit. Die Schwelle zur Moderne als Epoche wurde überschritten, so ließe sich der Sachverhalt aus der kantianisch-weberschen Perspektive erläutern, als der Mensch aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ heraustrat und sich aus der überkommenen religiös-metaphysischen Ordnung befreite.138 Der „Geist der Moderne“ wandte sich gegen die vorherrschende Ordnung. Hierzu entweihte er „das Heilige“, verleugnete die Vergangenheit und entmachtete die Tradition. Doch „all das geschah nicht im Namen einer Kritik der soliden Ordnungen an sich; es geschah nicht, um sie aus der schönen neuen Welt für immer zu verbannen. Es sollten neue, verbesserte Ordnungen etabliert werden; die nicht funktionierenden, überkommenen Strukturen sollten beseitigt und durch andere, bessere, möglichst perfekte ersetzt werden, die, weil sie perfekt waren, nie mehr hätten verändert werden müssen.“
Der Wunsch nach Beseitigung der alten Ordnung sei, so Bauman weiter, sinnvoll erschienen, „weil alles irgendwie verrostet und verstaubt war und nichts mehr zuverlässig funktionierte. Die Moderne fand die Vormoderne bereits in einem ziemlich desolaten Zustand vor. Eines der stärksten Motive 135
Siehe hierzu u.a. Michael Burleigh: Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008 sowie für die Vereinigten Staaten: Michael Hochgeschwender: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt/M. 2007. 136 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995. Siehe auch: Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 22f. 137 Vgl. für das Folgende: Bauman: Flüchtige Moderne, insbes. S. 7–23. 138 Siehe: Kant: Was ist Aufklärung?, S. 53.
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Einleitung
für den Drang, das Alte aufzulösen, war der Wunsch, neue Stabilitäten zu entdecken oder zu erfinden“.139 Bauman hat bei diesen Ausführungen das Zeitalter der „Doppelrevolution“ vor Augen, jene Phase der Auflösung der alten Ordnung also, die in der Aufklärung und im Aufstieg des Kapitalismus gründete und in der Französischen und Industriellen Revolution gipfelte.140 Hier zeigt sich das zunächst positiv konnotierte Antlitz der janusköpfigen Moderne; das kritische Verhältnis zur Vergangenheit, das reflexive Verhältnis zur Gegenwart, die Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft. Ordnung. Doch ist die verkrustete Ordnung zerstört, die Vergangenheit vernichtet und der Aufbruch in eine andere Zukunft begonnen, wendet sich der Januskopf. Die erlangte Freiheit droht zur Erfahrung von Ambivalenz, Kontingenz und Anomie zu werden, und letztere wird mit Ordnung bekämpft. Ruft der Ordnung auflösende Geist also Chaos hervor, verliert er seine positive Konnotation, die auf den Anomie beseitigenden und Ordnung stiftenden Geist der Moderne übergeht.141 Ordnung wird zur Aufgabe: „Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus […]. […] Wir können uns die Moderne als eine Zeit denken, da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst und der Verbindung aller drei – reflektiert wird; ein Gegenstand des Nachdenkens, des Interesses, einer Praxis, die sich ihrer selbst bewusst ist, bewusst, eine bewusste Praxis zu sein und auf der Hut vor der Leere, die sie zurücklassen würde, wenn sie innehalten oder auch nur nachlassen würde.“142
Die Befreiung aus der Ordnung wirkt verunsichernd, da nunmehr kein Nomos vor dem „Terror“ oder „Absolutismus der Wirklichkeit“ schützt.143 Die Antworten auf die Fragen, was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, verlieren ihre vermeintliche Eindeutigkeit. Ambivalenz und Kontingenz verbreiten sich, rufen Desorientierung und Widerstand hervor. Es wächst das Bedürfnis nach Sinn, und das heißt nach Ordnung. Hinterlässt die 139
Bauman: Flüchtige Moderne, S. 9f. Siehe Eric J. Hobsbawm: The Age of Revolution. Europe 1789–1848, London 2005 [repr.]. Bauman weist an anderer Stelle auf die Unmöglichkeit hin, die Moderne zu periodisieren. Dennoch bezeichnet er mit Moderne jene „Periode […], die in Westeuropa mit einer Reihe von grundlegenden soziokulturellen und intellektuellen Transformationen des 17. Jahrhunderts begann und ihre Reife erreichte: (1) als ein kulturelles Projekt – mit dem Entstehen der Aufklärung; (2) als eine sozial vollendete Lebensform – mit dem Entstehen der industriellen (kapitalistischen und später auch kommunistischen) Gesellschaft.“ Siehe: Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 15f. 141 Letzterer wiederum wird negativ konnotiert, wenn die zu errichtende Ordnung als unmenschlich und/oder starr empfunden wird, was nicht zuletzt darin gründet, dass dort, wo Ordnung errichtet werden sollte, immer wieder neues Chaos entdeckt wird. Siehe: Bauman: Moderne und Ambivalenz, insbes. S. 28–32. 142 Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 16f. 143 Vgl. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, insbes. S. 22–26. Zum Absolutismus der Wirklichkeit siehe: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 2005 [repr.]. 140
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Auflösung der Ordnung Chaos, dann schlägt Aufklärung, wie es bei Horkheimer und Adorno heißt, in Mythologie zurück.144 Der Ordnung auflösende Geist der Moderne wird zum ordnenden Geist. Der offene Erwartungshorizont wird geschlossen und die Zukunft bestimmt. Die Gegenwart wird zum Ort der planenden Umsetzung des Ordnungsentwurfs, der Beseitigung der Ambivalenz und der Herstellung von Eindeutigkeit. Die Vergangenheit wird zum Reservoir, aus dem zur Verankerung und Legitimation des Ordnungsentwurfs und zur Stiftung von Traditionen beliebig Vergangenheiten herausgegriffen und ausgewählt werden können. Ob und wie der aufklärerische, liberale, entzaubernde Geist selbst mythologisch verzaubernd wurde, kann in dieser Studie nicht ausführlicher erörtert werden. Doch es soll gezeigt werden, wie der Faschismus, der zahlreiche vermeintlich antimoderne Strömungen der in etwa ab 1890 einsetzenden Hochindustrialisierung in sich bündelte, gegen die „gerontokratische“ und gescheiterte liberale Ordnung revoltierte und einen Aufbruch versprach, der jedenfalls in der Wahrnehmung zahlreicher Zeitgenossen positiv konnotiert war.145 Die Aviatik, so wird verdeutlicht werden, wurde zu einer Metapher dieses Aufbruchs wie auch der anvisierten Ordnung gemacht. Das Streben nach Ordnung und Verfestigung sticht beim Faschismus so deutlich hervor, dass sein Aufbruchsversprechen, seine revolutionäre, Ordnung beseitigende Dynamik meist außer Acht gelassen oder als Reaktion gedeutet wurde.146 Indes erfüllten die Faschisten durch die Negation der Vergangenheit und die Gestaltung der Gegenwart im Namen einer in ihren Augen „besseren“ Zukunft das wesentliche Kriterium von Modernität. Zahlreichen Zeitgenossen erschien die liberale Moderne chaotisch und sinnentleert. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg erwuchs der Wunsch nach Überwindung der bestehenden Ordnung, und zwar weil erneut „alles irgendwie verrostet und verstaubt war und nichts mehr zuverlässig funktionierte“. Die liberale Ordnung zeigte sich gleich der alten metaphysisch-religiösen Ordnung des Ancien Régime in einem „ziemlich desolaten Zustand“, und erneut war „eines der stärksten Motive für den Drang, das Alte aufzulösen, […] der Wunsch, neue Stabilitäten zu entdecken oder zu erfinden.“147 Sowohl der Kommunismus/Bolschewismus als auch der Faschismus versprachen eine stabile Ordnung und zwar eine, die, weil sie „perfekt“ und „endgültig“ war, „niemals hätte verändert werden müssen.“ Diese Sehnsucht nach einer ewig gültigen, stabilen Ordnung vermochte allein eine mythische Ordnung zu erfüllen, deren Mythizität im folgenden Abschnitt erläutert wird. 144
Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16. Siehe: Gunther Mai: Agrarische Transition und industrielle Krise. Anti-Modernismus in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: JMEH 4/2006, S. 5–37. 146 Die nennenswerteste Ausnahme stellt Roger Griffin dar. Siehe Griffin: Modernism and Fascism. 147 Bauman: Flüchtige Moderne, S. 9f. 145
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Einleitung
Es gilt jedenfalls, Bauman beim Wort zu nehmen, „Ordnung und Chaos sind moderne Zwillinge“.148 Der Ordnung generierende Geist ist ohne den Ordnung auflösenden Geist der Moderne, der erst den Blick für das Chaos hervorbringt und schärft, nicht denkbar. Dort wo das Chaos entdeckt ist, dort wo Ordnung bereits als Aufgabe begriffen wird, da ist der Geist oder das Ethos der Moderne in der Welt. Es gibt danach kein Zurück mehr. Der Mensch ist bereits aus der Ordnung herausgetreten und weiß um die Kontingenz der metaphysisch-religiösen Ordnung. Dieses Wissen um die Historizität der alten Ordnung und ihrer Fundamente vermag nur noch verdrängt und verleugnet, nicht aber vergessen zu werden. Einmal in der Welt erweist sich das historische Wissen als universell. Prinzipiell ist nichts vor der Historisierung geschützt. Diese Zwiespältigkeit brachte Nietzsche schon 1889 zum Ausdruck: „Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück, mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren …“149 Die Schwierigkeit war nun die, ein Un- oder Überhistorisches zu finden. Der Versuch, eine stabile und endgültige Ordnung zu errichten, ist demnach von der Sehnsucht getrieben, die Geschichtlichkeit und Kontingenz des Daseins zu vergessen und den Geist der Moderne zu verlieren. Doch diese Sehnsucht ist selbst wesenhaft modern, denn sie ist logisch eine Folge der Entdeckung des Chaos und der Ordnung als Aufgabe. Moderne erweist sich insofern als ein dialektischer Prozess der Ordnungsdelegitimation und -zerstörung mittels des historischen Denkens sowie der Ordnungssuche und Ordnungserrichtung auf der Grundlage eines vermeintlich Ewigen und Absoluten. Die Moderne ist gekennzeichnet von einer Dialektik von Freiheit von Ordnung, die den Keim der Radikalisierung in sich trägt, weil das Leben in Freiheit als chaotisch und sinnentleert wahrgenommen wird und weil die ersehnte Ordnung unmöglich ist. Das Bewusstsein des Chaos und der Ordnung als Aufgabe, das Wissen um die Nicht-Natürlichkeit der geltenden, „gottgegebenen“ Ordnung scheidet die Moderne von der Vormoderne.150 Und es sind der Glaube an die Möglichkeit der Ordnung an sich sowie die Hoffnung, die Ambivalenz mit Hilfe eines nicht historisierbaren Fundaments der Ordnung beseitigen zu können, welche die solide Moderne 148
Ders.: Moderne und Ambivalenz, S. 16f. Friedrich Nietzsche an Georg Brandes vom 4.1.1889, in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. KSA Bd. 8, Januar 1887–Januar 1889. Nachträge/Register, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 2003 [repr.], S. 573. Vgl. Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 17 u. S. 364ff. 150 Siehe Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 19: „Die Entdeckung, dass Ordnung nicht natürlich ist, war die Entdeckung der Ordnung als solcher. Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewusstsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer Obsession. Um es noch grober auszudrücken, Ordnung als Problem tauchte erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken. Die Erklärung der ‚Nicht-Natürlichkeit von Ordnung‘ stand für eine Ordnung, die bereits das Dunkel, die Nicht-Existenz und das Schweigen hinter sich gelassen hatte.“ 149
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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von der flüchtigen Moderne unterscheiden. Der Geist der flüchtigen Moderne ist von einem wahrhaft allumfassenden historischen Wissen gekennzeichnet, das selbst vor dem historisierenden Subjekt nicht halt macht – alles ist geworden und bedingt. Dieser Arbeit liegt die Hypothese zugrunde, dass dort, wo es nicht historisierbare Fundamente der Ordnung gibt, und das heißt, wo der Glaube an ein vermeintlich Un- oder Überhistorisches herrscht, der Mensch weiterhin in einem mythischen Horizont lebt. Zeugte es nicht von einer latenten Teleologie, ließe sich behaupten, dass die Moderne eine Zwischenphase darstellt, eingekeilt zwischen einer Welt, die das Problem der Ordnung und des Chaos nicht kennt, und einer Welt, die den Glauben an die Möglichkeit der Ordnung verloren hat, wenn auch die Sehnsucht nach Ordnung, trotz des Wissens um deren katastrophale Nebenfolgen, nicht geschwunden ist. Bevor nun diese Eingrenzung der Moderne um ihre temporale Dimension ergänzt wird, gilt es, nochmals festzuhalten, dass die Moderne eher als Geist, als Haltung oder als Ethos zu begreifen ist denn als Epoche. Letzteres wäre nur möglich, wenn der Geist der Moderne allumfassend gewesen wäre. Es ist aber vielmehr von einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auszugehen, die weder das Vorher noch das Nachher gegeneinander auf- oder abwertet. Das Wissen um beziehungsweise der Glaube an die Unmöglichkeit des Ordnung entwerfenden und Ambivalenz eliminierenden Projekts koexistiert mit demselben und mit dem Wissen um beziehungsweise Glauben an die „natürliche“, „gottgegebene“ Ordnung. Die Geburt des Problems der Ordnung als Beginn der Moderne oder des Zweifels an der Möglichkeit von Ordnung als dem Ende der Moderne151 lässt sich nicht eindeutig datieren, da es Überschneidungen gibt und sich die Haltungen zu Ordnung überlappen. Dennoch gibt es für den europäisch-atlantischen Raum feststellbare Konjunkturen des Geists der Moderne, von denen die auf die Aufklärung folgende Epoche sicherlich die deutlichste ist. Diese Definition „der“ Moderne soll um eine temporale Dimension ergänzt werden, indem Reinhart Kosellecks Ausführungen zur „Neu-“ beziehungsweise „Sattelzeit“, jener „Epochenschwelle zwischen 1770 und 1830“, integriert werden.152 Dass Koselleck hier nicht ausdrücklich von der Moderne spricht, sondern von der „Neuzeit“ als einer „Neuen Zeit“, ist kein Hinderungsgrund.153 Verkürzend lassen sich die koselleckschen Thesen darauf zuspitzen, dass sich die modernen Bewegungsbegriffe, darunter insbesondere 151
Siehe hierzu Gianni Vattimo: La fine della modernità. Nichilismo ed ermeneutica nella cultura post-moderna, Mailand 1987². Reinhart Koselleck: „Neuzeit“ – Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders.: Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 19953, S. 300–348, S. 337. Siehe zudem: Lynn Hunt: Measuring Time, Making History, Budapest 2008. 153 Siehe hierzu: Schneider: Spurensuche u. Christof Dipper: Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: HZ 270/2000, S. 281–308. 152
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Einleitung
jener des Fortschritts, zu dem Zeitpunkt herausbildeten, als sich zwischen dem „Erfahrungsraum“ und dem „Erwartungshorizont“ eine Kluft auftat, das heißt, als sich „die in die Zukunft erstreckenden Erwartungen von dem ablösten, was alle bisherigen Erfahrungen geboten hatten.“154 „Die bäuerliche Welt, in die vor 200 Jahren vielerorten in Europa noch bis zu 80 % aller Menschen eingelassen waren, lebte mit dem Kreislauf der Natur. […] die Erwartungen, die in der geschilderten bäuerlich-handwerklichen Welt gehegt wurden und auch nur gehegt werden konnten, speisten sich zur Gänze aus den Erfahrungen der Vorfahren, die auch zu denen der Nachkommen wurden. […] Solange freilich die christliche Lehre von den letzten Dingen – grob gesprochen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts – den Erwartungshorizont unüberholbar begrenzte, blieb die Zukunft an die Vergangenheit zurückgebunden.“155
Doch mit der Beschleunigung des Wandels löste sich diese alte Zeitordnung auf. In der Folge kam eine neue Erfahrung der Zeit auf, aus der auch eine neue Zeitordnung hervorgehen sollte, welche eben jene neue Zeiterfahrung einhegte und stabilisierte. Aus der neuen Zeiterfahrung oder neuen Zeitlichkeit des beschleunigten Wandels und des damit einhergehenden Erfahrungsund Vergangenheitsverlusts, so ließe sich der kosellecksche Gedankengang mit Bauman in Übereinstimmung bringen, ging das Bedürfnis hervor, auch die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu zu ordnen. Der Zusammenhang von moderner Zeiterfahrung, dem Entstehungsprozess „der“ Geschichte sowie des Historismus und der Ordnung der drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann hier nicht geklärt werden. Dieses komplexe Gewebe zu beleuchten, bleibt trotz Kosellecks Theorie historischer Zeiten ein drängendes Desiderat der Forschung. An dieser Stelle kann nur auf die Untersuchungen Reinhart Kosellecks, Lynn Hunts, Stephen Kerns und auf Peter Osbornes wenig beachtetes Buch The Politics of Time verwiesen werden.156 Osborne macht wie Koselleck darauf aufmerksam, dass sich die Moderne durch eine eigene Zeitlichkeit auszeichnet: „Modernity is a form of historical time which valorizes the new as the product of a constantly self-negating temporal dynamic.“ Moderne sei, so heißt es dort weiter, eine spezifische Weise der Verzeitlichung von Geschichte, „through which the three dimensions of phenomenological or lived time (past, present and future) are linked together within the dynamic and eccentric unity of a single historical view.“157 154
Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, S. 364. Ebd., S. 360f. 156 Siehe Hunt: Measuring Time; Stephen Kern: The Culture of Time and Space, 1880– 1918, London 1983 sowie insbesondere Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 19953; ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003; Osborne: The Politics of Time. 157 Osborne: The Politics of Time, S. XI u. IX. Vgl. auch: Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131. 155
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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Die Beschleunigung des Wandels führt zu einer Dislokation der drei Zeitdimensionen, das Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheint zerschnitten.158 Die permanente Verneinung und Absetzung von der Vergangenheit führt zu einem Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart und hat eine Entwertung der angesammelten Erfahrung zur Folge. Proportional zur fehlenden Erfahrung, so Koselleck, steigt die Erwartung an die kommende Zeit.159 Gleichzeitig steht aufgrund des beschleunigten Wandels für die Zukunft nur zu erwarten, dass sie anders sein wird als die Gegenwart. Daher ist auch das Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft gestört. Der sich verbreiternde Riss zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war verstörend, schuf aber auch die Gelegenheit zum Entwurf der Zukunft einerseits sowie zur Interpretation der Gegenwart im Lichte von unterschiedlichsten vergegenwärtigten Vergangenheiten andererseits. Die moderne Zeitlichkeit ist jedenfalls von Brüchen gekennzeichnet. Diese durch den Ordnung auflösenden Geist der Moderne hervorgerufene diskontinuierliche Zeitlichkeit ist desorientierend. Die moderne Zeiterfahrung, insbesondere in einer als krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart, ist ebenfalls eine Erfahrung von Chaos, das der Ordnung bedarf. Die Wirkung der schwindenden Gültigkeit „vergegenwärtigter Vergangenheit“ und der Offenheit der „vergegenwärtigten Zukunft“ changiert zwischen befreiend und bedrohend.160 Die Offenheit des Morgen wandelt sich zur Kontingenz des Heute. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedürfen einer Ordnung. Ordnung der Zeit wiederum bedeutet die Herstellung einer die Brüche überwindenden Kontinuität, welche das Handeln im Heute legitimiert. Diese Legitimation kann entweder durch Absetzung oder durch Herleitung aus dem Gestern erzielt werden, stets jedoch im Hinblick auf eine zu gestaltende Zukunft. Dabei folgt, so Hartmut Rosa, „die Verknüpfung der drei Zeitebenen […] stets narrativen Mustern“: „In solchen narrativen Entwürfen wird zugleich die Gewichtung und Bedeutung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch die Relevanz und Gewichtung von Tradition und Wandel bestimmt. Jede Gegenwart erscheint darin als aus einer Vergangenheit begründet und auf eine Zukunft bezogen. Durch das narrative Inbeziehungsetzen von Alltag, Lebens- und Weltgeschichte werden die kulturellen und institutionellen Formen des Wandels und der Beharrung legitimiert und gegebenenfalls kritisiert, wobei sich die Balance zwischen dynamischen und stabilisierenden Kräften, zwischen Bewegung und Beharrung historisch natürlich wandelt.“161
Rosa macht darauf aufmerksam, dass die Aufgabe der Verknüpfung der drei Zeitebenen oder der Herstellung eines „temporalen Einklangs“ mittels einer vierten Zeitebene, jener der Sakralzeit, gelöst wird: 158
Zur Beschleunigung siehe: Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005. Vgl. Koselleck: „Neuzeit“, S. 341. 160 Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, S. 354f. 161 Rosa: Beschleunigung, S. 35. 159
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Einleitung
„Diese ‚heilige Zeit‘ überwölbt die lineare Zeit des Lebens und der Geschichte, begründet ihren Anfang und ihr Ende und hebt Lebens- und Weltgeschichte in einer gemeinsamen höheren, gleichsam ‚zeitlosen Zeit‘ auf. […] Dieser temporale Einklang ist durchaus nicht immer schon gewährleistet, sondern muss in politischen und sozialen Auseinandersetzungen erst hergestellt werden.“162
Es kann hier nur vermutet werden, dass sich seit dem 18. Jahrhundert drei Perioden unterscheiden lassen, innerhalb derer die politics of time oder Chronopolitik eine herausragende Rolle spielten. Es zeichnen sich also mindestens drei Phasen ab, in denen um den temporalen Einklang gerungen wurde beziehungsweise in denen der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umkämpft war: 1. während der „Sattelzeit“, 2. während der „Krise der klassischen Moderne“, die sich ab 1890 anbahnte und nach dem Ersten Weltkrieg virulent wurde und 3. seit den 1970er Jahren. In diesen Phasen wird, wie es Koselleck für die Sattelzeit konstatiert, „die Zeit selber zu einem allseitig besetzbaren Legitimationsmittel“.163 In der liberalen Ordnung, die sich in der Folge der Aufklärung etablierte, war es der Historismus, der mit Hilfe des Fortschrittsnarrativs Kontinuität, temporalen Einklang und zeitliche Ordnung herstellte.164 Das Konzept des Fortschritts und der Glaube daran ordneten das Chaos, das durch die breiter werdende Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung entstanden war. „[D]er geistliche ‚profectus‘ [wurde] durch einen weltlichen ‚progressus‘ verdrängt oder abgelöst. Die Zielbestimmung einer möglichen Vollkommenheit, die früher nur im Jenseits erreichbar war, diente seitdem einer irdischen Daseinsverbesserung, die es erlaubte, die Lehre von den letzten Dingen durch das Wagnis einer offenen Zukunft zu überholen. […] Seitdem konnte die ganze Geschichte als ein Prozess andauernder und zunehmender Vervollkommnung begriffen werden, der, trotz aller Rückfälle und Umwege, schließlich von den Menschen selber zu planen und zu vollstrecken sei. Die Zielbestimmungen werden seitdem von Generation zu Generation fortgeschrieben, und die in Plan oder Prognose vorausgenommenen Wirkungen werden zu Legitimationstiteln politischen Handelns.“165
Der Fortschritt wurde zur zentralen Kategorie einer „säkularen Religion der Selbstgewissheit“, und zwar säkular insofern sie sich, „so vielfältig die Zusammenhänge zwischen einer christlichen Zukunftserwartung und dem Fortschritt geistesgeschichtlich sein mögen“, „auf eine aktive Verwandlung dieser Welt richtete, nicht auf ein Jenseits“.166 Die Historie mit ihren „narrativen Mustern“ wurde zum Hauptmedium, in dem und durch das die zeitliche Ordnung hergestellt wurde.167 162
Ebd., S. 35f. Koselleck: „Neuzeit“, S. 339. 164 Siehe hierzu auch: Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee, Göttingen 2009. 165 Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, S. 362f. 166 Koselleck: Fortschritt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Ders. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351–423, S. 411 sowie ders.: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, S. 364. 167 Siehe Koselleck: Fortschritt. 163
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Doch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geriet der zeitliche Einklang, der mittels des Fortschrittskonzepts des Historismus hergestellt worden war, nicht zuletzt infolge der Hochindustrialisierung zunehmend durcheinander. Der abermals beschleunigte Wandel verbreiterte die bereits bestehende Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung weiter, und es war der Erste Weltkrieg, der diese Kluft zu einem kaum überwindbaren Abgrund werden ließ. Der Krieg enttäuschte die Erwartung an die Vervollkommnung, an „den“ Fortschritt so tiefgreifend, dass das gesamte Konzept in Verruf geriet und mit ihm der Historismus, der bereits mit Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung aus dem Jahr 1874, die vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben handelte, ins Visier geraten war.168 Für die avantgardistischen Intellektuellen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die teilweise an Nietzsche anknüpften, erwies sich der Historismus, also die Einsicht in die Gewordenheit oder Historizität allen Seins und Denkens, insbesondere aller Werte, als fundamentales Problem. Ergab sich doch aus der Historizität die „Unmöglichkeit, substantielle Letztbegründungen des Wirklichen zu finden.“169 Zahlreiche dieser Intellektuellen, nicht nur aus dem rechten, sondern auch aus dem linken politischen Spektrum, wie das Beispiel Walter Benjamin zeigt, sehnten sich und suchten nach dem Kriege nach einem überhistorischen Fundament der Wirklichkeit und der Werte.170 Doch es scheint, als ahnten einige von ihnen bereits dunkel, dass jegliches Fundament einer Neuen Zeit und einer Neuen Ordnung prinzipiell gefährdet war. Der Geist der Moderne hatte das Überhistorische, das Transzendente prinzipiell
168
Zur Krise des Historismus beziehungsweise zum Komplex des Antihistorismus siehe u.a.: Anselm Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewusstsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119; ders.: Die antihistoristische Revolution im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Eine Fallstudie zu den Spielräumen und Erkenntnismöglichkeiten von ‚Ideengeschichte‘, bislang unveröffentlichtes Typoskript sowie Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Ders. (Hrsg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932 [Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 228], Göttingen 2007, S. 11–116. 169 Michael Makropoulos: Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989, S. 148 sowie ders.: Krise und Kontingenz. Zwei Kategorien im Modernitätsdiskurs der Klassischen Moderne, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M. 2005, S. 45–76. 170 Zu Walter Benjamin und seinen „antihistoristischen“ geschichtsphilosophischen Thesen siehe Osborne: The Politics of Time, S. 138–150. Vgl. hierzu auch Griffin: Modernism and Fascism, S. 177f. Dort (S. 178) heißt es: „[…] even though they remained poles apart in their reaction to Nazism, both these intellectual giants [Heidegger und Benjamin] applied their philosophical powers to the diagnosis of modernity’s all-consuming decadence after the cataclysm of the First World war with a view to transcending it, each looking to a mythicized past as the source of the inspiration needed to inaugurate a new, revitalized, nomic society.“
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zerstört und, so Nietzsche, Gott getötet und die obersten Werte entweiht.171 Obwohl die Masse der Zeitgenossen von den erkenntnistheoretischen Finessen des Zusammenhangs von Historizität und Relativismus nichts ahnten, war ihre Desorientierung nicht minder groß. Auch sie waren transzendental obdachlos geworden und auf einer alltäglichen Handlungsebene mit den Folgen des Bruchs in der zeitlichen Ordnung konfrontiert. Die Verbesserung des menschlichen Daseins, dessen Fortentwicklung und Vervollkommnung auf der Grundlage einer universalistischen, sich ausbreitenden Vernunft hatte sich jedenfalls als Illusion erwiesen. Der geschichtliche Verlauf seit der Aufklärung und der Französischen Revolution erschien in den Augen zahlreicher Zeitgenossen spätestens jetzt, nach dem Krieg, weniger als Fortschritt und Aufstieg denn als Dekadenz und Verfallsgeschichte. Die tatsächliche oder empfundene Niederlage zwang in Deutschland wie in Italien dazu, die Geschichte neu zu denken.172 Während jene Vergangenheit, welche in die nationale Niederlage geführt hatte, vernichtet werden sollte, galt es nun, an jene sich bereits in der Vergangenheit offenbarende Ewigkeit anzuknüpfen, die Sieg, Heil, Gemeinschaft und zukünftige Größe versprach. Die Gegenwart wurde als eine Werkstatt wahrgenommen, in der dieser Nexus zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, in der eine Kontinuität errichtet würde.173 Es galt, einen neuen zeitlichen Einklang, eine Neue Zeit herzustellen. Genau diese Forderung nach einer „Neuen Zeit“ sowie die Delegitimierung der herrschenden (zeitlichen) Ordnung und der Versuch, eine neue (zeitliche) Ordnung zu etablieren, sind per se modern. Denn es wird nämlich das Vergangene negiert und das Neue aufgewertet. Dass das zu etablierende Neue im Fall der Faschisten ein imaginiertes, Halt und Orientierung spendendes, in der Vergangenheit bereits aufscheinendes, vermeintlich Ewiges war, verdeutlicht nicht nur, wie tiefgreifend die Krise und wie fundamental das Problem der Historizität war, sondern zu welchen Paradoxa die temporale Dynamik der Moderne führen konnte. Als ließe sich Vergangenheit einfach hinwegfegen, glaubte man, erst durch einen Bruch mit der jüngsten Vergangenheit eine legitimierende Kontinuität wiederherstellen zu können. Peter Osborne hat diese der antihistoristischen Revolution zugrunde liegende temporale Logik in Abgrenzung zu Jeffrey Herf verdeutlicht:
171
Es war diese Ahnung der prinzipiellen Unmöglichkeit eines überhistorischen Fundaments, an welche die Denker der flüchtigen Moderne anschließen sollten, für die nun „endgültig“ feststand, dass alles Sein und Denken historisch war. 172 Siehe: Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze, in: Ders: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003, S. 27–77. 173 Siehe: Peter Fritzsche: Historical Time and Future Experience in Postwar Germany, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 141–164, S. 141.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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„as a counter-revolutionary ideology, conservative revolution is modernist in the full temporal sense […] of affirming the temporality of the new. Its image of the future may derive from the mythology of some lost origin or suppressed national essence, but its temporal dynamic is rigorously futural. […] Conservative revolution is a form of revolutionary reaction. It understands that what it would ‚conserve‘ is already lost (if indeed it ever existed, which is doubtful), and hence must be created anew. It recognizes that under such circumstances the chance presents itself fully to realize this ‚past‘ for the first time. The fact that the past in question is primarily imaginary is thus no impediment to its political force, but rather its very condition (myth).“174
Der Antihistorismus der Faschisten ist von den intellektuellen Höhenflügen einiger „konservativer Revolutionäre“ oder eines Walter Benjamin weit entfernt. Für die allergrößte Zahl der Faschisten in Italien und Deutschland war die mythische Vergangenheit und Ewigkeit, an welche sie wiederanzuknüpfen suchten, weder imaginiert noch konstruiert. Für einige unter ihnen handelte es sich vielmehr um „wissenschaftlich“ belegbare Realität. Für alle jedoch handelte es sich um wirkmächtige Realität.175 Gemeinsam war den Faschisten und den konservativ-revolutionären Intellektuellen, darunter Martin Heidegger, Ernst Jünger und Carl Schmitt, die Ablehnung des liberal gedachten Fortschritts und die Sehnsucht nach einer stabilen und nunmehr endgültigen Ordnung, die im Überhistorischen gründete.176 Das zielgerichtete Fortschreiten vom Alten in eine vernunftbestimmte Zukunft vermochte das eigene Handeln nicht mehr zu legitimieren. Hierzu bedurfte es einer in der Vergangenheit wurzelnden und auch zukünftig gültigen, zeitlosen Größe. Die Neuheit und aus der Historisierbarkeit hergeleitete Kontingenz ihres eigenen Ordnungsentwurfs blieb den meisten Faschisten verborgen. Sie glaubten daran, dass ihre Ordnung eine in der Vergangenheit verschüttete ewige Wahrheit freigelegt und wieder zur Geltung gebracht habe. Nur so schien es möglich, dem Kontingenzproblem zu entkommen und eine Ordnung zu etablieren, deren Legitimität scheinbar gesichert war. Gefunden wurde diese Größe, die einen Ausstieg aus dem alles relativierenden historischen Prozess versprach, in der Nation oder dem Volk. Diese vermeintlich überhistorische und absolute Größe wurde zum Zentrum einer stabilen, endgültigen und vollkommenen Ordnung erkoren. Die Nation oder das Volk galt es wiederherzustellen.
174
Osborne: The Politics of Time, S. 164. Vgl. hierzu Fritzsche: Nazi Modern, S. 16 sowie Griffin: Modernism and Fascism, S. 180f. 175 Siehe hierzu Frank Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1998. 176 Siehe zu Heideggers Sehnsucht nach Ordnung und seiner anfänglichen, aktiven Teilnahme am Aufbau einer nationalsozialistischen Ordnung das trotz Apologetik informative Buch: Phillipe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart 1990 sowie Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007. Zu Lacoue-Labarthe selbst siehe: Rabinbach: Nationalsozialismus und Moderne, S. 105–110.
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Einleitung
Die herbeigesehnte Wiedergeburt der Nation oder des Volkes hatte sich bereits im „Augusterlebnis 1914“ aber auch in den Gräben der Westfront wie an der Isonzo- und Alpenfront ereignet. Hier habe sich jener überhistorische Kern einer legitimen Ordnung offenbart, der jetzt wieder freigelegt werden sollte. Das Augusterlebnis, der maggio radioso und die Kriegsgemeinschaft stellen gewissermaßen jene Heilige Nacht dar, welche nun wieder gefeiert werden sollte. Die selektive Glorifizierung der Vergangenheit war keine Reaktion, sondern diente der „Verwurzelung“ einer orientierungslosen und transzendental obdachlosen Gesellschaft. Die Faschisten vergegenwärtigten solche Vergangenheiten, in denen das „überhistorische“ Fundament ihrer Ordnung aufschien. Sie nutzten als „Thätige und Mächtige“ im Sinne Nietzsches die Historie „monumentalisch“ mit dem Ziel der Wiedergeburt der Nation oder des Volkes. Die Faschisten stellten die Vergangenheit in den „Dienst des Lebens“ und errichteten damit einen zeitlichen Einklang, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verband und zudem in den Kontext einer höheren, sakralen Zeit eingliederte. Die vom Faschismus erstrebte Palingenese lässt sich unschwer mit der temporalen Dynamik der Moderne in Einklang bringen und zugleich lässt sie sich als Versuch deuten, diese zu überwinden. Die selbstnegierende temporale Dynamik, der Bruch mit dem Alten, aus dem man selbst hervorgegangen ist, wird durch die Neugeburt vollzogen. Danach ist, wie beim Weihnachtsfest, alles neu. Zugleich ist dieses Neue ein schon immer Dagewesenes und dadurch auch legitimiert. Das Mittel, in dem und durch den diese Legitimität von Ordnung hergestellt wurde, war der Mythos.
d. Mythos Der Begriff des Mythos und seine Derivate werden im Zusammenhang mit dem Faschismus häufig gebraucht, doch selten umfassend definiert.177 Selbst dort, wo Mythos nicht unpräzise verwendet wird, spielen die Bedeutung „falsche Erzählung“ , also der Gegensatz zwischen Mythos und Wahrheit und die Konnotationen des Primitiven und Archaischen, des Illusorischen und Instrumentellen, noch eine bedeutende Rolle. Ein solcher Gebrauch des Mythosbegriffs erweist sich jedoch als zutiefst normativ, denn zur „unwahren, primitiven Erzählung“ wird der Mythos nur gegenüber dem „Logos“. Da177
Auch Griffin widmet dem Mythosbegriff selbst nur wenige Seiten. Siehe: Griffin: The Nature of Fascism, S. 27–36. Emilio Gentile, der ebenfalls von einem mythischen Kern des italienischen Faschismus ausgeht, behandelt den Mythos in seinem vor wenigen Jahren erschienenen The Struggle for Modernity in einem kurzen Kapitel, doch auch hier werden Bedeutung und Funktion des Mythos als gegeben vorausgesetzt. Zudem erscheint der Mythos bei Gentile als ein demagogisches Instrument und nicht als Weise der Ordnung. Siehe: Gentile: The Struggle for Modernity, S. 77–88. Siehe zudem: Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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durch erfolgt eine Positionierung sowohl des Faschismus als auch des Autors und zwar außerhalb respektive innerhalb des Fortschrittsnarrativs der Aufklärung und der Modernisierungstheorie. Der Mythos gilt als das, was durch die Aufklärung, durch den Gebrauch der Vernunft, durch die Wissenschaft überwunden wurde.178 Hier wird eine andere, durch philosophische Mythentheorien fundierte Definition vorgeschlagen.179 Dieser Arbeit liegt ein funktionales Verständnis von Mythos zugrunde. Mit Hans Blumenberg lässt sich festhalten, dass der Mythos als ein Mittel zur Abwehr des „Absolutismus der Wirklichkeit“ fungiert.180 „Der Mythos dient“, so gibt Emil Angehrn die blumenbergsche Position wieder, „der Depotenzierung archaischer Ängste, indem er durch Benennung, Gliederung und Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar macht.“181 Auf dieser grundsätzlichen anthropologischen Ebene fungiert der Mythos „als eine Art historische Erinnerung, die ein Bild vom Gewordensein der Welt und der Herkunft einer Gemeinschaft entwirft; als eine Beschreibung der bestehenden Welt, die ein Verständnis der bestimmenden Kräfte und Gesetze ermöglicht; als eine Darstellung, die sowohl Konstitution wie Medium der Aneignung ist. Er ist als Weltbeschreibung nicht bloßes Abbild, sondern Gliederung und Systematisierung, er gibt der Welt ein bestimmtes Profil; als verstehende Durchdringung ermöglicht er Orientierung. Er ist als Weltinterpretation zugleich Welterzeugung und in eins damit Medium menschlicher Selbstbeschreibung und Selbstverständigung.“
Unter Mythos werden im Folgenden Erzählungen oder Narrative verstanden, welche eine gesellschaftlich relevante ordnungsstiftende Funktion erfüllen und die Wirklichkeit durch ein Überhistorisches fundieren.182 Eine mythische 178
Ein mythischer Faschismus wird im Anschluss an eine modernisierungstheoretische Deutung Webers zum primitiven, archaischen Anderen der Moderne. Er erweist sich als reaktionärer Rückfall und wird zum eigentlich bereits Überwundenen. Siehe Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet […] das Wissen davon oder den Glauben daran, […] daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.“ 179 Für einen Überblick philosophischer Mythentheorien siehe: Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt/M. 1996; Wilfried Barner/ Anke Detken/Jörg Wesche (Hrsg.): Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003; Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991. Fundierte Auseinandersetzungen mit dem Phänomen von Mythos und Moderne finden sich insbesondere bei: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/M. 1983; Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption [Poetik und Hermeneutik, Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe IV], München 1971; Christoph Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien, Frankfurt/M. 1999. 180 Siehe Blumenberg: Arbeit am Mythos. 181 Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 38. Dort (S. 37) auch das folgende Zitat. 182 Siehe hierzu und für das Folgende: Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1988, S. 15ff. Zum Mythos als Form der Aussage und als
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Einleitung
Ordnung ist die Gesamtheit dieser Narrative. Mythos ist eine soziale Praxis sprachlicher Natur: „Mythen dienen dazu, den Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft aus einem obersten Wert zu beglaubigen. […] Die oder eine Leistung des Mythos […] liegt im normativen Bereich und hat zu tun mit der Rechtfertigung von Lebenszusammenhängen in sozialen Zusammenhängen. […] In mythischen Erzählungen wird ein in Natur oder Menschentum Existierendes bezogen auf eine Sphäre des Heiligen und durch diesen Zusammenhang begründet. ‚Begründet‘ meint hier: hergeleitet von …, aber nicht im Sinne eines einfachen Kausalbezugs, wie es in den Naturwissenschaften der Fall ist, sondern im Sinne einer Rechtfertigung.183 ‚Etwas rechtfertigen‘ oder ‚beglaubigen‘ aber heißt: es auf einen Wert zu beziehen, der intersubjektiv unumstritten ist. Und zwischen Subjekten unumstritten ist in einem radikalen Sinne nur, was für heilig – für unanfechtbar, für allgegenwärtig und für allvermögend – gehalten wird.“184
Mythos ist also ein Narrativ, welches Gemeinschaft durch Chaos überwindende Ordnungsstiftung in einem Heiligen oder Überhistorischen konstituiert.185 Dies geschieht, indem das Wissen der Gemeinschaft in einen Bezug zum Heiligen, verstanden als das intersubjektiv Unumstrittene, gestellt und dadurch begründet und beglaubigt wird. Der Mythos ist eine „Beglaubigungsart“, durch welche Wissen legitimiert wird.186 Das Wissen einer Gemeinschaft, das also, was dieser als das Wahre, Gute, Gerechte und Schöne gilt, wird legitimiert, indem es mit einem höchsten Wert oder Wesen verknüpft wird. Hierdurch erhält es einen Kontext, innerhalb dessen es sich als
(sekundäres) semiologisches System siehe Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 2003 [repr.], S. 85–123. Siehe hierzu auch: Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. 183 Vgl. hierzu Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 264f. Dort heißt es: „Mythologie, Kosmologie, Religion, Naturwissenschaft, Historiographie bringen verschiedene Realitätsbereiche und verschiedene Formen der Verkettung des Besonderen in den Blick. Strenge Gesetzmäßigkeit ist nur eine Variante, auch wenn sie oft als die Idealfigur systematischen Begreifens hingestellt wird.“ 184 Frank: Gott im Exil, S. 16. 185 Vgl. hierzu Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 259–320. Zu den Parallelen zwischen diesem philosophischen Mythosbegriff und dem zeitgenössischen, vor allem bei Mussolini auf Sorel zurückführbaren Mythosbegriff siehe: Zeev Sternhell/Mario Sznajder/Maia Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999, S. 76–96 sowie Michael Tager: Myth and Politics in the Works of Sorel and Barthes, in: Journal of the History of Ideas 47/1986, S. 625–639. Dort (S. 626f.) heißt es: „A pragmatic rather than an analytical attitude characterized Sorel’s study of myth. What concerned him was not whether an event like the resurrection actually occurred but only its capacity to evoke sacrifice and heroism among its believers. […] Rather than examining the psychological or sociological aspects of myth, Sorel insistently asked a more immediate question: can it provoke a reformation of man and society?“ Der entscheidende Unterschied gründet also darin, dass Sorel in den Mythen instrumentelle, zur Manipulation der Massen einsetzbare Narrative sah. Siehe Georges Sorel: Über die Gewalt, Innsbruck 1928 [Or. 1906], S. 142. Dort heißt es: „Man muß also die Mythen als Mittel einer Wirkung auf die Gegenwart beurteilen“. 186 Hans-Georg Gadamer: Mythos und Vernunft, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8 Ästhetik und Poetik, Tübingen 1993, S. 163–169, S. 165. Zur Legitimierung des Wissens durch Narrative siehe: Lyotard: Das postmoderne Wissen, insbes. S. 87–122.
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sinnvoll erweist, ja seinen Sinn erst entfalten kann. Das Wissen erhält ein unverrückbares und unhinterfragbares Fundament, seine Richtung und sein Ziel. Der Mythos als eine Sprechweise oder Diskursform ist synthetisch. Er schafft eine ganzheitliche, „organische“ Ordnung, anstatt Ordnung in ihre einzelnen Bestandteile aufzulösen. Der Mythos ist, so ließe sich festhalten, induktiv, der Logos deduktiv, bedarf er doch allgemeiner Voraussetzungen als Ausgangspunkt. Der Mythos schafft hingegen, vom Einzelnen ausgehend, einen Deutungs- und Bewandtniszusammenhang, in welchem ein jedes durch seinen Bezug zum Heiligen, also zu einem nicht historisierbaren Absoluten, legitimiert oder delegitimiert wird.187 Das jeweils Heilige dient als archimedischer Punkt einer Ordnung, die aufgrund des Vorhandenseins dieses Absoluten stabil, dem Wandel oder Werden entzogen und daher „ewig“ und überhaupt erst möglich ist. Das im vorangegangenen Abschnitt erläuterte Streben nach einem anderen zeitlichen Einklang, in dem die selbstnegierende temporale Dynamik der Moderne zugleich vollzogen und aufgehoben wird, vermag die mythische Ordnung zu erfüllen. Der Mythos etabliert eine Ordnung, in welcher die (lineare) Zeit in einer sakralen Zeit aufgehoben wird, die zugleich neu und ewig ist. Der „Ursprung“ wird im Mythos wiederholt. Doch die mythische Erinnerung, so Emil Angehrn, „will nicht einfach ein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit stattgefunden hat, ver-gegenwärtigen, es als Gewesenes im gegenwärtigen Bewusstsein – im Bild, der Erzählung, der Geste – re-präsentieren. Vielmehr wird das Urgeschehen als aktuales Geschehen erlebt, die ursprüngliche Stiftung als ein hier und heute wirksamer Akt begangen, der ursprüngliche Konflikt als ein unabgeschlossener Konflikt neu ausgetragen. Nicht Ehemaliges wird vergegenwärtigt, sondern eine Tiefendimension des Jetzt wird erlebt, eine Tiefenschicht, in welcher das Jetzt seinen chronologischen Ort transzendiert, nicht mehr nur ein Augenblick in der Sukzession der Momente ist. Kennzeichen der mythischen Zeitvorstellung ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Kopräsenz in einer Zeit des Ursprungs. Die gegenwärtigen Menschen werden zu Zeitgenossen des Urgeschehens. Die heilige Geschichte durchdringt die säkulare Welt und bildet deren Fundament.“188
Das faschistische Streben nach einer Wiedergeburt der Nation entspricht diesem temporalen Schema. Die Nation oder das Volk, das wiedergeboren werden soll, ist nicht ein Ehemaliges, das nun vergegenwärtigt wird, sondern ein Ewiges, das wiederkehrt, das aus den vom Fortschritt hinterlassenen Trümmern wieder hervorgeholt wird.
187
Hinsichtlich des vorgestellten Diskursmodells bedeutet das, dass der Flieger durch seine Verknüpfung mit der Nation konstituiert wird, und das heißt erst seinen Sinn erhält. 188 Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 66f.
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Einleitung
e. Faschismus – eine Arbeitsdefinition In Abgrenzung zu weiteren, neueren Arbeiten zum Faschismus lässt sich nun der in dieser Arbeit verwendete Faschismusbegriff spezifizieren. Der Faschismus wird ideologisch gefasst. Ideologisch heißt hier jedoch nicht, dass der Faschismus, wie dies beispielsweise bei Zeev Sternhell der Fall ist, als ein kohärentes und konsistentes, mit dem Marxismus vergleichbares, geschlossenes, politisches Gedankengebäude oder eine Lehre begriffen wird.189 Es ist geradezu das Gegenteil der Fall. Der Faschismus wird in seinem Selbstverständnis als Bewegung ernst genommen, und das heißt, er wird, erstens, als fluide und wandelbare „Weltanschauung“ und, zweitens, in Einklang mit George L. Mosse, als „cultural revolution“ und als Ausdruck einer spezifischen Weise der Ordnung von Welt verstanden.190 Weltanschauung meint hier in Anlehnung an Heideggers Begriff des Weltbildes eine Vorstellung des Seienden im Ganzen.191 Ordnung hingegen wird mit Foucault als das verstanden, „was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. Und nur in den weißen Feldern dieses Rasters manifestiert es sich in der Tiefe, als bereits vorhanden, als schweigend auf den Moment seiner Aussage Wartendes.“192
Ordnung ist eine mittlere Ebene zwischen Praxis und Theorie, ein Mittelgebiet „zwischen dem bereits kodierten Blick und der reflektierenden Erkenntnis.“ Diese mittlere Ebene kann sich jedoch „als die fundamentalste erweisen, als den Worten vorangehend, vor den Perzeptionen und den Gesten liegend, die sie mit mehr oder weniger Genauigkeit oder Glück übersetzen 189 Sternhell/Sznajder/Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Siehe dazu: David D. Robert: How not to Think about Fascism and Ideology, Intellectual Antecedent and Historical Meaning, in: JCH 35/2000, S. 185–211. 190 Siehe: Mosse: The Fascist Revolution, S. xi. Dort heißt es: „Culture in our case must not be narrowly defined as a history of ideas, or as confined to popular culture, but instead understood as dealing with life seen as a whole – a totality, as indeed the fascist movement sought to define itself. Cultural history centers above all upon the perceptions of men and women, and how these are shaped and enlisted in politics at a particular place and time.“ Siehe zu Mosses Faschismusinterpretation als „cultural revolution“: Payne: A History of Fascism, S. 450f. 191 Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Ders.: Holzwege. GA Bd. 5, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1977, S. 75–113. Dort (S. 89f.) heißt es: „Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.“ 192 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 2003 [repr.], S. 22. Dort (S. 23f.) auch das folgende Zitat. Siehe hierzu: Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M. 1984, S. 138ff.
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sollen […]; fester, archaischer, weniger zweifelhaft, stets ‚wahrer‘ als die Theorien, die versuchen, ihnen eine explizite Form, eine exhaustive Anwendung oder eine philosophische Begründung zu geben. So gibt es in jeder Kultur zwischen dem Brauch dessen, was man die Ordnungscodes und die Reflexion über die Ordnung nennen könnte, die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen.“
Der Faschismus wird also als eine Denk- und Sichtweise oder als eine spezifische, den Aussagen und Handlungen vorgelagerte Ordnung der Welt verstanden, welche eben diese Aussagen und Handlungen bestimmt. Er wird im Gegensatz zu Sternhell einerseits weder als „Ismus“ oder politische Ideologie im strengen Sinne behandelt, noch, im Gegensatz zu Robert O. Paxton und Sven Reichardt andererseits, von seiner Herrschaftsetablierungs- oder Gewaltpraxis her begriffen. Es soll hier auch keine Soziologie faschistischer Bewegungen etabliert werden, wie dies Michael Mann versucht. Dass ein anderer, eben ideologischer oder ideengeschichtlicher Zugang im Anschluss an Mosse, Gentile und Griffin gewählt wurde, bedeutet allerdings keineswegs, dass Paxtons Entwicklungsmodell des Faschismus, Reichardts auf die Analyse der faschistischen Kampfbünde gründende praxeologische oder Manns erweiterte soziologische Bestimmung abgelehnt werden. Vielmehr wird dafür plädiert, von Absolutheitsansprüchen und essentialistischen Definitionen Abstand zu nehmen und stattdessen ein Nebeneinander divergierender Perspektiven anzustreben. Allein eine sich der Verabsolutierung verweigernde multiperspektivische Beleuchtung des Faschismus vermag diesem in sich selbst fluiden Phänomen gerecht zu werden. Denn der Begriff des Faschismus umfasst ein komplexes und in sich teils widersprüchliches Gemenge an Denkfiguren, Deutungsmustern und Begriffen, an Handlungsmotiven, Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten sowie deren jeweilige Aneignung, Interpretation und Objektivierung durch die einzelnen Faschisten. Es gab ebenso viele Faschismen wie es Faschisten gab.193 Der Faschismus stillte eine Sehnsucht, er war die Verheißung einer verständlichen, weil eindeutigen und 193
Auf diese „Pluralität“ des Nationalsozialismus machte der ehemalige Generalgouverneur Hans Frank, der „Schlächter von Polen“, aufmerksam: „Die Formel: Nationalsozialismus ist ausschließlich, was der ‚Soundso‘ sagt oder tut, wobei der jeweilige Repräsentant sich selbst meinte, trat an die Stelle der Voraussetzung des Parteiprogramms, wonach eben dieses und seine Erfüllung allein den Nationalsozialismus darstelle. In diese Formel preßten sich anfangs viele Namen: Hitler, Göring, Strasser, Röhm, Goebbels, Heß, Rosenberg und andere. Es gab grundsätzlich so viele ‚Nationalsozialismen‘ als es führende Männer gab [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.]. Vom 30. Januar 1933 ab trat dann durch das Entscheidende der Stellung Hitlers dessen Name in die Formel alleingültig ein, wenigstens offiziell. Von da an ging der Kampf darum, dem Führer die Formel bestimmen oder verkünden zu dürfen.“ Siehe: Hans Frank: Im Angesicht des Galgens. Deutung Hitlers und seiner Zeit auf Grund eigener Erlebnisse und Erkenntnisse. Geschrieben im Nürnberger Justizgefängnis, Neuhaus bei Schliersee 1955², S. 176f. Für den Hinweis auf Hans Franks Ausspruch danke ich Frank Reichherzer. Siehe hierzu auch: Frank Reichherzer: „Das Wehr-Denken ist deutsch, nationalsozialistisch.“ Zum Verhältnis von wehrwissenschaftlichem Denken und nationalsozialistischer Ideologie in der Zwischenkriegszeit, in: Käte Meyer-Drawe/Kristin Platt (Hrsg.): Wissenschaft im Einsatz, München 2007, S. 243– 267.
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nicht kontingenten Welt und keine Theorie. Darin gründete sein Erfolg in der Politik unter den Bedingungen der Massengesellschaft. Und nicht zuletzt deswegen lässt er sich nicht essentialistisch fassen. Die zeitgenössischen Vorstellungen dessen, was der Faschismus sei, waren sowohl synchron als auch diachron fluide. Nicht nur stellten sich zum gleichen Zeitpunkt unterschiedliche Faschisten Divergierendes unter dem Faschismus vor, auch die Vorstellung ein und desselben Faschisten variierte im Laufe der Zeit. Das zeitgenössische Verständnis dessen, was denn der Faschismus sei, resultierte aus dem Geflecht von Konzepten und Begriffen, in das er eingewoben wurde. Er ging aus den sich wandelnden Verknüpfungen zu den ihn umgebenden Vorstellungen und Bildern hervor. Diese den Faschismus konstituierenden Anrainerbegriffe waren für Filippo Tommaso Marinetti andere als für einen Großgrundbesitzer in der Po-Ebene. Und eben diese Begriffe wandelten sich selbst für jene „führenden Männer“ in Abhängigkeit davon, ob die Faschisten gerade versuchten, die Macht zu erringen oder die errungene Macht im Staate zu konsolidieren, ob sie gerade einen friedlichen Willen vortäuschten oder einen Vernichtungskrieg führten.194 Wie lässt sich dann aber der Faschismus trotz seiner mannigfachen Erscheinungen unter einen generischen Begriff subsumieren? Anstatt einen generischen Begriff als eine platonische Universalie zu denken, scheint es sinnvoller, ihn als heuristisches Konzept zu begreifen und als Ausdruck einer „Familienähnlichkeit“ zu verstehen.195 Diese „Verwandtschaftsbeziehungen“ zwischen den Faschismen innerhalb eines Landes und zwischen den zahlreichen nationalen Faschismen lassen sich als ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ denken oder eben als „Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“.196 Diese unterschiedlichen Faschismen lassen sich, um bei Wittgesteins erhellendem Bild zu bleiben, als einzelne Fasern verstehen, die zu einem Faden gesponnen werden: „Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander über194 Zu diesem prozessualen Verständnis des Faschismus siehe: Paxton: Anatomie des Faschismus. 195 Zu Ludwig Wittgensteins Begriff der „Familienähnlichkeit“ siehe: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, I 65ff. 196 Ebd., I 66 u. I 67. Dort (I 66) heißt es zudem: „Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.“ Und in I 67 heißt es: „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘: denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“ Um dies näher zu erläutern, greift Wittgenstein das Beispiel der Zahlen auf: „Warum nennen wir etwas ‚Zahl‘? Nun, etwa, weil es eine – direkte – Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen. Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen.“ Dort (I 67) auch das folgende Zitat.
3. Definition der zentralen Analysekategorien
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greifen. […] es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern.“ Eine Gemeinsamkeit, die zwischen der unter der Gattung subsumierten Artx, also beispielsweise dem Nationalsozialismus, und der Arty, der rumänischen Legion „Erzengel Michael“, besteht, mag in einem widersprüchlichen Verhältnis zu jener Gemeinsamkeit stehen, welche eine Subsumierung der Artw, dem italienischen Faschismus, und der Artz, der spanischen Falange, unter dem Gattungsbegriff berechtigt erscheinen lässt. Trotz dieses Widerspruchs besteht aber eine Nähe von Artz und Artx, die über die Überschneidungen der beiden mit Arta, so beispielshalber den ungarischen Pfeilkreuzlern, führt. Gleichermaßen verhält es sich mit den Definitionen des generischen Begriffs selbst. Die Stärke des Fadens liegt darin, „daß viele Fasern einander übergreifen.“ Diesem Verständnis generischer Begriffe liegt keineswegs ein übertriebener „postmoderner“ Relativismus zugrunde. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die „Erkenntnis“ umzusetzen, dass Weltbilder sowie soziale Realitäten noch weniger statisch sind als Texte. Es bedarf, um diese kontextgebundenen und nie in sich ruhenden Vorstellungen der Welt und gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu fassen, sowohl der „fluiden Begriffe“ als auch des Bewusstseins, dass Texte zwar Wandel und Bewegung festzuhalten suchen, zugleich aber daran scheitern müssen. Wenn nun dennoch eine Arbeitsdefinition des Begriffs Faschismus vorgenommen wird, so im Bewusstsein von deren begrenzter Reichweite und in Abhängigkeit vom eingenommenen Fragehorizont. Der Faschismus war ein metapolitisches Phänomen und eine kulturelle Revolution. Deren Ziel war es, der transzendentalen Obdachlosigkeit durch die Verwirklichung einer mythischen Ordnung zu entkommen, die in einer sakralisierten und verabsolutierten Nation oder einem ebenso gedachten Volk gründete. Der faschistische Entwurf einer mythischen Ordnung unterschied sich sowohl von den konservativen als auch von den liberalen und marxistischen Ordnungsentwürfen und zwar sowohl hinsichtlich der anvisierten Ordnung der Zeit als auch hinsichtlich des zugrunde gelegten „heiligen realissimum“.197 Zwar beruhten die Unterschiede zum konservativen Ordnungsentwurf auch in einem divergierenden Verständnis des heiligen realissimum und in der anvisierten Rolle der „Massen“. Doch es war vor allem die auf die Zukunft hin ausgerichtete temporale Dynamik des Faschismus, die ihn vom Konservativismus abhob. Die faschistische mythische Ordnung war zudem antimarxistisch und antiliberal, sofern sie die Vorstellung des Fortschritts verwarf, mittels derer der Liberalismus und der Marxismus die Zeit ordneten. An die Stelle des Fortschrittsnarrativs trat ein Ewigkeitsnarrativ, das die Dynamisierungs- wie Entschleunigungssehnsucht gleichermaßen stillte, so197
Zum „heiligen realissimum“ siehe: Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 32.
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fern es die Erneuerung der als Überhistorisches gedachten Einheit Nation oder Volk verhieß. Zudem unterschied die Absolutsetzung der Nation oder des Volkes die faschistische mythische Ordnung von den liberalen und marxistischen Ordnungsentwürfen, die von einem anderen archimedischen Punkt ihren Ausgang nahmen.
4. Aufbau der Arbeit Im Zentrum des Interesses dieser Arbeit, das dürfte deutlich geworden sein, stehen weder einzelne „Fliegerhelden“ oder der Prozess der Entstehung der Luftstreitkräfte noch der Aufbau der PNF oder der NSDAP. Sie widmet sich vielmehr anhand des Aviatikdiskurses den Ordnungsvorstellungen, Konzepten und Ideen, mittels derer vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg eine als chaotisch wahrgenommene Welt als eine sinnvolle strukturiert wurde. Diese vermeintlich sinnvolle, stabile und ewige Ordnung wird als mythische Moderne aufgewiesen. Die Untersuchung ist dreigeteilt. Im ersten Teil wird die weitverbreitete und im Ersten Weltkrieg radikalisierte Sehnsucht nach Ordnung behandelt. Anhand des paradigmatischen liberalen Intellektuellen Aby Warburg wird in Kapitel I.1 ein idealtypischer liberaler Ordnungsentwurf herausgearbeitet, vor dessen Hintergrund der faschistische Entwurf der Moderne entfaltet werden kann. Die von Warburg initiierte Briefmarke, die ein aufsteigendes, von der Inschrift idea vincit getragenes Flugzeug zeigt, ist eine verdichtete Objektivierung der im Fortschritt und der Vernunft gründenden liberalen Vision der Moderne. Ihr wird in Kapitel I.2 Gabriele D’Annunzios politisch-religiöse Enkodierung des Fliegers und die kriegerische Umdeutung des Ikarus-Mythos gegenübergestellt. Es wird gezeigt, wie D’Annunzio, der nicht zuletzt aufgrund seines Wienfluges 1918 selbst zu den populärsten Fliegerhelden Italiens gehörte, den Aviatiker in seine nationalistischen „Erlösungstheologeme“ integrierte und eine mythische Ordnung entwarf, in deren Mittelpunkt eine sakralisierte Nation stand.198 Der zweite Teil ist der Brüchigen Ordnung im Ersten Weltkrieg gewidmet. Von den Intellektuellen wandert der Blick auf die Massengesellschaft und auf jene Kanäle, mittels derer die mythische Ordnung und die von Paul Fussell konstatierte curious literariness of real life in sie hinein diffundierte.199 In Kapitel II.1 wird zunächst anhand der Flugschau von Brescia gezeigt, wie sich eine Deutung des Fliegers als Überwinder und Übermensch herausbil198
Zu D’Annunzios „Erlösungstheologemen“ siehe: Hans Ulrich Gumbrecht: I redentori della vittoria. Über Fiumes Ort in der Genealogie des Faschismus, in: Ders./Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 83–115. 199 Fussell: The Great War and Modern Memory, S. IX.
4. Aufbau der Arbeit
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dete, die sich sowohl in der Hoch- als auch in der Populärkultur etablierte. Darüber hinaus werden die Produktions- und Rezeptionsanleitungen der Massenlesestoffe des Ersten Weltkrieges in den Blick genommen, die sich aus der literarischen Mobilmachung ergaben. In Kapitel II.2 werden die in diesen Massenlesestoffen transportierten Heldenbilder und Deutungsmuster sowie deren Funktionen innerhalb des Kontexts des Ersten Weltkrieges erörtert. Der Fliegerheld kompensierte den industrialisierten und im Stillstand verharrenden Krieg am Boden und wurde zu dessen Gegenbild. Er stellte der Leserschaft eine heroische Matrix zur Verfügung, die es nachzuahmen galt. In Kapitel II.3 werden die Übersetzungsleistungen dieser Fliegerheldennarrative verdeutlicht. Es wird gezeigt, dass die Verschmelzung mit der Nation die Haupttugend dieser Helden bildete, trug sie doch zur Einheit der als geordnete Gemeinschaft gedachten Gesellschaft bei. Die aviatischen Helden waren Übergangsfiguren, welche die Überwindung der untergehenden, brüchigen Ordnung erleichterten und zur Verkörperung eines technisch versierten Neuen Adels der erneuerten Gemeinschaft wurden. Sie stellten ein Narrativ zur Verfügung, in welchem der Krieg, das Leiden, das Opfer und der Tod in einen Sinnhorizont eingebettet waren und die profane Zeit transzendiert wurde. Schließlich wird im dritten Teil die von den Faschisten anvisierte ewige Ordnung beschrieben. Wie der Krieg zum Anfang einer neuen Zukunft wurde, wird in Kapitel III.1 an Ernst Jüngers antihistoristischer Auffassung einer „monumentalischen Historie“ gezeigt. Der Krieg gegen die Vergangenheit wurde auch von den Futuristen geführt, die im Flieger nicht nur das Sinnbild des Aufbruchs sahen, sondern auch des Neuen Menschen, der an die heroische Matrix des Weltkrieges anknüpfte. An den Futuristen, aber auch an der Esposizione dell’Aeronautica italiana, der italienischen Luftfahrtausstellung des Jahres 1934, lässt sich veranschaulichen, wie die Aviatik zu einem technoiden Totem der faschistischen Ordnung wurde. Abschließend wird in Kapitel III.2 erklärt, inwiefern der faschistische, aus dem Krieg hervorgegangene Neuordnungsversuch als Mythos zu verstehen ist und wie dieser als eine Antwort sowohl auf die Krise der Vernunft als auch auf die Krise des Historismus fungierte. Die oben voneinander geschiedenen Begriffe des Faschismus, der Moderne und des Mythos werden wieder zusammengefügt und die Komplementarität von Mythos und Moderne wird aufgezeigt.
I. Sehnsucht nach Ordnung
1. Idea non vincit Warburg und die Krise der liberalen Moderne Vier Gründe legen es nahe, diese Untersuchung des Aviatikdiskurses und seines Nexus zu Krieg, Faschismus und Moderne mit dem Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg beginnen zu lassen. Warburg verdient, erstens, aus theoretisch-methodischen sowie aus wissenschaftshistorischen Gründen Aufmerksamkeit. Entscheidende Impulse für eine „Kulturgeschichte“, welche die „grenzpolizeiliche Befangenheit“1 der Disziplinen überwindet, können auf Warburg zurückgeführt werden.2 Zweitens findet man Warburg, im Kontext der hier zu behandelnden Frage nach der Beschaffenheit der Moderne, in einer Doppelrolle wieder, und zwar in der einer zweifachen Zeitgenossenschaft. Er ist einerseits ein zu befragender Gewährsmann der vergangenen Epoche, andererseits ragt er deutlich in das Heute hinein. Warburg beeinflusst als Wissenschaftler, der auf die Frage nach der Moderne selbst eine Antwort suchte, das der Untersuchung zugrunde liegende Verständnis von Moderne. Dies macht die Historisierung seiner Person ebenso dringlich wie die der von ihm empfangenen Impulse. Drittens ist Warburg, der einer bedeutenden jüdischen Bankiersfamilie entstammte und sich selber als „ebreo di sangue, Amburghese di cuore, d’anima Fiorentino“, also als „Jude von Bluts wegen, Hamburger im Herzen, florentinisch im Geiste“ bezeichnete,3 ein paradigmatischer Vertreter der liberalen Ordnung und Moderne. Zentrale Aspekte dieser liberalen Moderne lassen sich mit Hilfe Warburgs herausarbeiten und zu einem Idealtypus bündeln. Dieser dient zunächst als Hintergrund- und Kontrastfolie jener mythischen Moderne, deren Beschreibung das Ziel dieses Buches ist.4 1
Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, S. 478. 2 Siehe hierzu: Ulrich Raulff: Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut. Aby Warburg, Ernst Cassirer und die neue Kulturwissenschaft, in: GG 23/1997, S. 28– 43 sowie Bernd Roeck: Psychohistorie im Zeichen Saturns. Aby Warburgs Denksystem und die moderne Kulturgeschichte, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 231–254. Dass Warburg in Bonn unter anderem bei Karl Lamprecht studiert hatte, mag in diesem Kontext erhellend wirken. Es ist seine nomadenhafte, zuweilen durchaus exzentrische, vor allem aber seine sich dem Absoluten und Endgültigen verweigernde Methode, welche die derzeitige „Konjunktur“ Warburgs verursacht und ihm auch in folgender Untersuchung ein Nachleben beschert. Siehe zu Warburgs akademischem Werdegang: Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1984, S. 42–62; Karen Michels: Aby Warburg. Im Bannkreis der Ideen, München 2007, S. 27–34 und Bernd Roeck: Der junge Aby Warburg, München 1997, S. 41–53. 3 Vgl. Gertrud Bing: Aby M. Warburg. Vortrag, in: Dieter Wuttke (Hrsg.): Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden 1980, S. 455–464, S. 464. 4 Dass sich Warburg und sein Kreis als kontrastiver Hintergrund einer faschistischen mythischen Moderne eignen, stellte bereits Peter Gay in seinem Buch Die Republik der
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Warburg ist zudem, viertens, Sprecher im Aviatikdiskurs. Er entwarf 1926 eine Briefmarke, die er dem damaligen Außenminister Gustav Stresemann übergab. Ein Flugzeug, dessen Tragflächen das Motto idea vincit ziert, stellt das zentrale Motiv dieser Briefmarke dar. Sie wird als ein verdichtetes Symbol der liberalen Moderne gedeutet, wenn auch nicht streng im Sinne der Ikonographie Warburgs oder Panofskys. Dem Briefmarkenentwurf, der im Auftrag Warburgs von Otto Heinrich Strohmeyer ausgearbeitet wurde, sollte ebenso wie der Republik, die er repräsentieren sollte, kein Erfolg beschieden sein. Er ist aber insofern bedeutsam, als er eine jener Stimmen im Diskurs darstellt, denen kein Gehör mehr geschenkt werden sollte. Doch diese Geschichte soll nach und nach, wenn auch nicht immer chronologisch, erzählt werden.
a. Großbürger, Weltbürger, Bildungsbürger „Die Wirkung der Warburg-Bibliothek war zwar tief, aber nicht breit“.5 Wenn auch Warburgs Bekanntheit außerhalb der Kunstgeschichte seit dem ersten Erscheinen von Peter Gays Buch 1968 deutlich zugenommen haben mag, bedürfen er und seine Aussagen dennoch der Kontextualisierung. Der 1866 geborene Aby M. Warburg entstammte, wie bereits erwähnt, einer in Hamburg ansässigen deutsch-jüdischen Bankiersfamilie. Das Bankhaus M.M. Warburg & Co. wurde 1798 gegründet und war zu einer der führenden, international tätigen Privatbanken Hamburgs, ja ganz Deutschlands, geworden.6 Trotz des großbürgerlichen oder ganz spezifischen Milieus wilhelminischer Hochfinanz, dem er entstammte, entsprach Warburgs Habitus dem des Bildungsbürgers.7 Parallel zur oben wiedergegebenen Selbstbeschreibung des „jüdischen Blutes, hamburgischen Herzens und florentinischen Geistes“ könnte man daher sagen, Warburg sei von Bluts wegen ein Großbürger, im Außenseiter fest. Dort heißt es: „Der strenge Empirismus und die phantasiebegabte Gelehrsamkeit des Warburgstils waren das diametrale Gegenteil der brutalen Intellektuellenfeindlichkeit und des ordinären Mystizismus, welche die deutsche Kultur in den zwanziger Jahren mit Barbarei bedrohten. Hier zeigte sich Weimar von seiner besten Seite.“ Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt/M. 2004 [repr.], S. 56f. 5 Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 57. 6 Zum Bankhaus M.M. Warburg & Co. siehe: Eduard Rosenbaum/Ari J. Sherman: Das Bankhaus M.M. Warburg & Co., Hamburg 1978². Zur Familie Warburg siehe: Ron Chernow: Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin 1994. 7 Für einen Einblick in das Milieu der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg siehe: Boris Barth: Weder Bürgertum noch Adel – Zwischen Nationalstaat und kosmopolitischem Geschäft. Zur Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg, in: GG 25/1999, S. 94–122. Dort (S. 115) heißt es, die Hochfinanz habe „durch ihren demonstrativ aufwendigen Lebensstil auch eine Distanz zur aufstrebenden Schicht des Bürgertums betonen“ wollen. „Damit standen besonders in Preußen diejenigen Finanziers, die sich zum Judentum bekannten, sozial zwischen Adel und Großbürgertum, ohne aber gesellschaftlich integriert zu werden.“
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Herzen ein Weltbürger und im Geiste ein Bildungsbürger gewesen. Mit Hilfe dieser drei Begriffe wird eine soziale, insbesondere aber „erfahrungsräumliche“ Verortung Warburgs vorgenommen. Der Nexus zwischen Bürgerlichkeit, Bildung, Liberalismus, aber auch von Warburgs „Judentum“ und dem rationalen und fortschrittsgerichteten Weltbild kann hier an der Person Warburgs nur angedeutet, nicht aber in seiner vollen Tragweite herausgearbeitet werden.8 Im Zentrum des Interesses steht die Dominanz wissenschaftlicher Rationalität als Signum liberaler Ordnungsbestrebungen. Die Betonung des vernunftgeleiteten Weltzugangs entsprang der Aufklärung, die sich dadurch den Ausgang aus der, so Kant, „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ versprach.9 Auf individueller Ebene mündete dieser Impetus in ein Bildungsideal. Bildung wiederum, verstanden als das Projekt der Hervorbringung und Kultivierung eines mündigen „Menschen“, war Voraussetzung und Widerspiegelung des Fortschrittes in der Geschichte auf individueller Ebene. Diese aufklärerischen und liberalen Konzepte treffen in der Person Warburgs zusammen, und sein Briefmarkenentwurf ist deren Objektivierung.10 Der dreizehnjährige Warburg, so will es die Familienerzählung, verzichtete auf sein Erstgeborenenrecht. Der jüngere Bruder Max versprach als Gegenleistung, ihm „alle Bücher zu kaufen, die er brauchte.“11 Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (K.B.W.) wurde seit 1905 halböffentlich geführt und sie zählte, als sie im Dezember 1933 zusammen mit den Mitarbeitern des 1929 gestorbenen Warburg nach London emigrierte, über sechzigtausend Bände.12 Warburg trat zwar nicht in die Bank ein, doch die K.B.W., welche das warburgsche Denken sowohl verkörperte als auch 8
Trotz einer Überfülle an Literatur zum Bürgertum, handelt es sich um ein Desiderat der Forschung, den Zusammenhang von wissenschaftlicher Rationalität, Bildung, Fortschritt und Liberalismus empirisch fundiert und ideengeschichtlich gesättigt aufzuweisen. 9 Kant: Was ist Aufklärung?, S. 53. 10 Siehe: George L. Mosse: Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II. Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 168–180. Dort (S. 172) heißt es: „Aber auch die Wissenschaft trug zu der Fortführung des humboldtschen Bildungsideals bei, als ein Damm gegen die Zerstörung der Traditionen der Aufklärung. Hier möchte ich nur Aby Warburgs Bibliothek als ein Beispiel nennen. Diese Bibliothek, 1902 [sic] in Hamburg gegründet, war den Ideen der Aufklärung als Ideal verbunden […]. Hier wurde das Bildungsideal gegen die Irrationalität ausgespielt, gegen Mythen und Symbole, die den Verstand verdunkelten, gegen Feinde der Harmonie, Ordnung und der fortwährenden Bildung des Individuums.“ 11 Max Warburg: Rede zur Gedenkfeier am 5.12.1929, zit. nach: Gombrich: Aby Warburg, S. 38. 12 Siehe hierzu: Martin Warnke: „Ich bin ein wissenschaftlicher Privatbankier, dessen Credit so gut ist wie der der Reichsbank.“ Aby Warburg und die Warburg Bank. Vorwort, in: Karen Michels: Aby Warburg. Im Bannkreis der Ideen, München 2007, S. 11–19. Zur „Emigration“ der Bibliothek siehe: Dieter Wuttke: Die Emigration der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und die Anfänge des Universitätsfaches Kunstgeschichte in Großbritannien, in: Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 141–163.
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ermöglichte, hätte ohne die Bank niemals entstehen können. Man würde dem Verhältnis zwischen den Bankiers und dem Gelehrten allerdings nicht gerecht, wenn man Warburg als Bittsteller beschriebe. Es gehörte zu den Gepflogenheiten wilhelminischer Industrieller, Finanziers und sogenannter „Kaiserjuden“, sich sowohl sozial zu engagieren als auch als Mäzene und Förderer der Wissenschaft zu betätigen. Die K.B.W., so Ulrich Raulff, verschaffte dem jüdischen Bankhaus Legitimation, und mit dem Bankhaus im Rücken gelang es Warburg, sein „Modellinstitut“ aufzubauen und zu einer Heimstatt der modernen Kunst- und Kulturgeschichte auszubauen.13 Von dem großbürgerlichen Lebensstil seiner Brüder und deren „ostentative[m] Konsum“ distanzierte sich Warburg jedoch.14 Er war eben in seinem Selbstverständnis nur „von Bluts wegen“, also von seiner Herkunft her ein Großbürger. Da sich die Gebildeten oder Intellektuellen, so Ralf Dahrendorf, „nur mühsam im Haus der sozialen Schichtung unterbringen lassen“,15 scheint es ohnehin von größerer Bedeutung, Warburg im Kontext der wilhelminischen und Weimarer Intelligenz zu verorten. Warburg ist zwar sozioökonomisch in der Welt der wilhelminischen Hochfinanz verankert, doch es sind die weltbürgerlich-kosmopolitischen und bildungsbürgerlichen Aspekte, welche die zentrale Perspektive auf seine Aussagen eröffnen. Der Begriff des Weltbürgertums oder des Kosmopoliten erlaubt es, Warburg innerhalb der wilhelminischen und republikanischen Gesellschaft zu verorten. Denn in beiden Begriffen sind die größtenteils negativ konnotierte zeitgenössische Fremdzuschreibung wie auch das daraus resultierende Selbstverständnis aufgehoben. Wie bereits erwähnt, entstammte Warburg einem jüdischen Hause. Er selbst praktizierte, obwohl oder gerade weil er streng orthodox erzogen worden war, den jüdischen Glauben nicht und heiratete die Lutheranerin Mary Hertz. Sein Judentum bestand „allein“ in dem kulturellen Erbe, an welchem er dank seiner Erziehung teilhatte. In den Augen der deutschen Mehrheitsgesellschaft jedoch blieb Warburg schlichtweg „Jude“, oder bestenfalls „deutscher Jude“. Die Uneindeutigkeit solcher multipler Identitäten und daraus erfolgender Solidaritäten wurde als Gefahr wahrgenommen. Stellten doch derlei Ambivalenzen die erstrebte Homogenität, das heißt den Ausschließlichkeitsanspruch der nationalen Identität, in Frage.16 Diese scheinbare Gefährdung durch Uneindeutigkeit ging auch von den „ultramontanen“ Katholiken und den sozialdemokratischen „vaterlandslosen Gesellen“ aus. Doch spätestens mit der „Judenzählung“ des Jah13
Siehe: Raulff: Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut, S. 36f. Ebd., S. 37. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Sonderausgabe, München 1968, S. 114 zit. nach: Klaus Vondung: Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen, in: Ders. (Hrsg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 5–19, S. 9. 16 Siehe hierzu Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz sowie ders.: Modernity and the Holocaust. 14 15
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res 1916 trat der stets latente Antisemitismus im Topos des „Internationalismus“ offen zu Tage.17 Die mangelnde Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, Pluralität beziehungsweise Ambivalenz zuzulassen, zwang die Ausgeschlossenen zu einer positiven Umdeutung der ihnen auferlegten Nischenexistenz und -identität. Sie bekräftigten, ähnlich wie Friedrich Meinecke, die gegenseitige Ergänzung von Weltbürgertum und (deutschem) Nationalgefühl. Hatte Letzterer doch „den Trägern deutscher Bildung“ zugesprochen, „daß das wahre, das beste deutsche Nationalgefühl auch das weltbürgerliche Ideal einer übernationalen Humanität mit einschließe und daß es ‚undeutsch sei, bloß deutsch zu sein‘“.18 Allein die „gemeine Meinung“ sehe zwischen beidem einen Widerspruch. Und tatsächlich ergab sich daraus, wie das Beispiel Warburg deutlich zeigt, keinerlei Widerspruch. Für die assimilierten und akkulturierten, sich als Deutsche verstehenden Juden war der Vorwurf mangelnden Patriotismus’ eine unverzeihliche Kränkung und ohnehin haltlos. Es gab keinen Grund, an ihrem Patriotismus zu zweifeln.19 So schrieb Warburg am 6. Mai 1915, kurz vor seinem 49. Geburtstag also, seinem Schüler und zukünftigen Generaldirektor der staatlichen Museen zu Berlin, Wilhelm Waetzoldt: „Sollte sich wirklich Italien zum Verrat entschließen, so tritt an mich die Frage heran, ob ich mich irgendwie militärisch nützlich machen kann. Körperliche Untauglichkeit bedingt (Sie wissen, daß ich seit Jahren schwer leidend bin) nicht direkt frontale Verwendung; kann ich nicht das Dolmetscher Offiziersexamen machen um im Lande oder in Italien verwandt zu werden? Oder könnten meine erwiesenen italienischen Realien, mir dieses Examen ersparen, obgleich ich nur als U.O. (nicht qualifiziert selbstverständlich weil ungetauft) 1894 den einj. Dienst absolvierte? Am liebsten ginge ich in ein italienisches Gefangenenlager um dort zu predigen, aber nicht als U.O.“20
Zumindest bis 1918 war Warburg ein dezidierter Nationalist gewesen. Und er glaubte noch im Jahr 1917 eifrig an einen Siegfrieden.21 Warburgs Natio17 Zur „Judenzählung“ siehe: Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, S. 87–96. Zur Reaktion Warburgs auf die Judenzählung insbesondere und den Antisemitismus im Allgemeinen siehe: Charlotte Schoell-Glass: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik, Frankfurt/M. 1998. 18 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studie zur Genesis des deutschen Nationalstaats, München 19287 [Or. 1908], S. 20. Dort (S. 19) auch das folgende Zitat. 19 Zum Patriotismus, Nationalismus und dem Augusterlebnis der deutschen Juden siehe: Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, S. 53–87 sowie ders.: Jüdische Intellektuelle und die Krise der bürgerlichen Welt im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2000, S. 15. 20 WIA, GC, Aby Warburg an Wilhelm Waetzoldt, 6.5.1915. 21 Siehe: WIA, GC, Aby Warburg an Selma Fliess, 8.5.1917. Dort heißt es: „Der zeitweilige Triumph der Versklavung der Welt durch England durch die Phraseologie der französischen Revolution ist für mich bei weitem das satanischste Ereignis des Krieges. Daß Balfour und Viviani jetzt zusammen am Grabe Washingtons von der Freiheit reden, die Amerika sich doch durch den Aufstand gegen den englischen Tyrannen errang, gehört zu den tollsten Erfindungen der Wirklichkeit. Rußland wird aber zum Rächer der Lüge werden. Das versklavteste Volk soll nun trotz allem zeigen, daß dieser Krieg der Maschine in Wirklichkeit ein Krieg der Idee ist. Die nächsten Wochen werden, das glaube ich, die
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nalismus wurde jedoch nach dem Kriege milder. Er wurde, wie bei zahlreichen anderen jüdischen Intellektuellen, die angesichts des Krieges und des wachsenden Antisemitismus im Nationalismus zunehmend eine Sackgasse erkannten, zu einem Stolz, der deutschen Kulturnation anzugehören. Je spürbarer die Exklusionsbestrebungen wurden, desto deutlicher beschworen die deutschen Juden, stets auf Lessing, Goethe, Schiller und Humboldt verweisend, die liberalen, (neu)humanistischen und universalistischen Ideale der deutschen Tradition. Diese bürgerlich-universalistische Utopie bündelte Warburg zum Topos des Brückenbauers, der häufig in seiner Korrespondenz zu finden ist. In einem Brief an den Kunsthistoriker Gustav Pauli vom 10. Oktober 1918 heißt es: „Deutschland hatte eben bisher kein festes Bürgertum auf eigenen Beinen und mit eigener Kritik. Es fehlte als Führer der Aristokrat von Natur, der zugleich aus Temperament wider Willen freiheitsgläubig ist und der Brückenbauer waren zu wenige. […] Prinz Max ist seinem sittlichen Charakter nach ein solcher Brückenbauer. Wäre er nur eher gekommen! Die ser Pontifex Max wird aber ein Führer der Pontifice minimi der ArmenBrückenbauer sein, die uns retten sollen. Ich für mein armes Teil habe mir schon lange vor dem Kriege in diesem Sinnbilde den Rest meiner Lebensaufgabe wissenschaftlich und menschlich zurechtgelegt.“22
Warburgs Brücken waren wissenschaftlicher Natur und überwanden nicht allein disziplinäre, sondern auch nationale Gräben.23 So nahm Warburg, als Entscheidung zu unseren Gunsten bringen. Halten unsere unfaßbar tapferen Männer im Westen noch länger als Mauer aus, an der sich die Leiber der Feinde verbluten, und geht es mit der Räumung der See durch die Tauchboote so weiter, dann kann selbst der amerikanische Zuhälter der Kriegsfurie nichts mehr ausrichten. Ich gestehe Ihnen, daß mir die Zerstörung von Kunstwerken schon lange keinen Eindruck mehr macht. Jede Artillerie-Beobachtung, die die Feinde von dem Turm einer Kathedrale machen können, ist Frevel, wenn sie durch ein paar Granaten hätte verhindert werden können. Es geht jetzt doch um ganz etwas anderes als um Erinnerungen der Vergangenheit: siegt die Entente, so wird Deutschland bestenfalls eine Agentur im anglo-amerikanischen Menschenschlachthaus. Gewiß sind wir in Deutschland den Anfällen skrupelloser Machtpolitiker ausgesetzt, die auch bereits auf dem Wege waren, durch die Presse die Masse zu versklaven, aber der Kampf gegen diese wird aufgenommen und muß bestanden werden. Dabei im Verhältnisse meiner leider abnehmenden Kräfte uns helfen zu können, ist mein Hauptwunsch.“ 22 WIA, GC, Aby Warburg an Gustav Pauli, 10.10.1918. 23 Siehe zu Warburgs weitgestreuten wissenschaftlichen Kontakten: Heinz Paetzold: Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995. Paetzold zählt einige der sich um Warburg, seine Interessen und die K.B.W. sammelnden Gelehrten auf. Aus dem Umfeld der Hamburger Universität nennt Paetzold nebst Ernst Cassirer (S. 71f.): „Gustav Pauli und Erwin Panofsky (Kunstgeschichte), Karl Reinhardt (Klassische Philologie), Richard Salomon (Byzantinische Geschichte), Hellmut Ritter (Orientalische Sprache), später Bruno Snell (Klassische Philologie), Heinrich Junker (Indogermanistik).“ Es kamen aber auch weitere deutsche wie internationale Gäste hinzu: „die Klassischen Philologen und Religionshistoriker Franz Dornseiff, Franz Joseph Dölger, Robert Eisler, Eduard Fraenkel, Hugo Gressmann, Hans Leitzmann, Joseph Kroll, Eduard Norden, Richard Reitzenstein, Hans Heinrich Schaeder, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Karl-Ludwig Schmidt, die Kunsthistoriker Adolf Goldschmidt, Jaques Mesnil (Belgien), Wolfgang Stechow, Hubert Schrade und Julius von Schlosser, die Romanisten Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk, die Literaturwissenschaftler André Jolles (Niederlande),
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sein Bruder Paul im Oktober 1895 die New Yorker Bankierstochter Nina Loeb heiratete, die Gelegenheit wahr, die ihm die familiäre Verbindung über den Atlantik bot, um jene ethnologischen und kulturanthropologischen Studien bei den Hopi-Indianern vorzunehmen, die noch Gegenstand dieses Kapitels sein werden. Bevor er jedoch nach New Mexico reiste, trat er mit einigen „Pionieren der Eingeborenen Forschung“ in Verbindung, unter anderem mit Cyrus Adler und Franz Boas.24 Diese warburgschen Brücken verweisen einerseits als Spur auf jene Netzwerke, welche sich aus der jüdischen Diaspora ergaben und welche die Juden dem Vorwurf des Internationalismus aussetzten.25 Vor allem aber verweisen sie andererseits auf Warburgs Bekenntnis zum Universalismus der Wissenschaft. Ein Universalismus, dessen Kern darin bestand, Wahrheitsansprüche unabhängig von der Nationalität, Religionszugehörigkeit, Klasse oder „Rasse“ der Person, die sie geltend machte, zu überprüfen und bis zu ihrer Widerlegung anzuerkennen.26 Es war eine wissenschaftliche Gemeinde, die der Vernunft und dem Fortschritt huldigte, und nicht die jüdische, der sich Warburg zugehörig fühlte und wusste. In der Wissenschaft, so hatten viele deutsche Juden gehofft, würde das Individuum nach seinen Leistungen und Talenten und unabhängig von seiner Herkunft beurteilt.27 Warburg, wie auch zahlreiche weitere jüdische Wissenschaftler, vertraten daher die universalen Ideale eines vernunftgeleiteten und ergo vorurteilsfreien Weltbürgertums mit einer solchen Vehemenz, dass George L. Mosse in ihnen „einen Spiegel des aufgeklärten Bildungsideals“ sah. Sie hätten sich teilweise „als Wächter gerade dieses Bildungsideals“ verstanden, da ihnen die Bildung sowohl den Bruch mit dem jüdischen Glauben als auch die Assimilation ermöglichte.28 Bildung, WisClemens Lugowski und Arturo Farinelli (Italien), die Historiker Alfred Doren, Hubert Pruckner und Percy Ernst Schramm, die Astronomie- und Astrologiehistoriker Franz Boll und Wilhelm Gundel, der Orientalist Richard Hartmann und der Ägyptologe Hermann Kees.“ 24 Aby Warburg: Entwurf für den Kreuzlinger Vortrag, zit. nach: Gombrich: Aby Warburg, S. 117; vgl. Ulrich Raulff: Nachwort, in: Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1988 [Or. 1923], S. 63–94, S. 66–71. 25 Es ist im Übrigen, so Dan Diner, genau diese sich aus der Diaspora ergebende Transnationalität und -territorialität beziehungsweise die nichtterritoriale Verfasstheit des Judentums, welche die Geschichte der Juden zu einem neuen Paradigma europäischer Geschichtsschreibung im postnationalstaatlichen Zeitalter machen könnte. Siehe: Dan Diner: Geschichte der Juden. Paradigma einer europäischen Geschichtsschreibung, in: Ders.: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, S. 246–262. 26 Zum Universalismus als „institutionellem Imperativ“ der Wissenschaft siehe: Robert K. Merton: The Ethos of Science, in: Piotr Sztompka (Hrsg.): On Social Structure and Science, Chicago, IL 1996, S. 267–276, S. 268f. 27 Vgl. Shulamit Volkov: Soziale Ursachen des jüdischen Erfolgs in der Wissenschaft, in: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 146–165, S. 155. 28 Mosse: Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum, S. 168. Zum Folgenden siehe auch ders.: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus,
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senschaft und Vernunft stellen sich also als Verbindungsglieder, ja, als jene Brücken dar, die den Intellektuellen zum Mitglied einer universellen Gemeinschaft machten, und den deutschen Juden eine Integrationsmöglichkeit in die deutsche Gesellschaft boten. Durch den Wandel des Liberalismus im 19. Jahrhundert und die völkische Einfärbung und Radikalisierung des Nationalismus im wilhelminischen Kaiserreich löste sich jener ursprüngliche Zusammenhang von Liberalismus, Nation, Aufklärung, Emanzipation, Bildung und Fortschritt.29 Die Visionen einer kosmopolitischen Gemeinschaft der Vernünftigen und eines europäischen Humanismus standen nun im Schatten nationaler Homogenitäts- und Gemeinschaftsträume. Der Nationalismus, der nun erstarkte, suchte im Elementaren und Vitalen einen Halt und nicht in der Vernunft und der Bildung. An die Stelle der Entwicklung des Individuums zum Vernunftwesen und Weltenbürger trat die „Verwurzelung“ im Volk, die Bindung durch das „Blut“. Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft war den jüdischen Intellektuellen, denen man vorwarf, eine „bodenlose Existenz“ zu führen und „Luftmenschen“ zu sein, verwehrt.30 Nicht zuletzt auch deswegen hielten sie umso vehementer an den ursprünglichen aufklärerischen und bildungsbürgerlichen Idealen fest. Diese Ideale finden in Warburgs Wissenschaftler- und Gelehrtenleben ihren Ausdruck. Es treten jedoch auch zwei klassische Topoi und Sehnsuchtsorte des Bildungsbürgertums hinzu, welche dieses Gelehrtenleben bestimmten: Italien beziehungsweise die italienische Renaissance und die Antike. Wie sich noch zeigen wird, werden sowohl Italien als auch Warburgs antiker Bildungsschatz bei seiner Kodierung des Flugzeuges eine wesentliFrankfurt/M. 1992. Aus der Fülle der Literatur zum Bildungsbegriff im Allgemeinen siehe u.a.: Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. 1994; Reinhart Koselleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: Ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II. Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 11–46; Rudolf Vierhaus: „Bildung“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, Bd. l, S. 508–551. Zum Nexus zwischen Bildungsbürgertum und Liberalismus siehe: Dieter Langewiesche: Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV. Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 95–121. 29 Das Bürgertum wie auch der Liberalismus durchliefen im 19. Jahrhundert zahlreiche Wandlungsprozesse. Sie verlangten daher eine ausführlichere Differenzierung, als sie an dieser Stelle geleistet werden kann. Siehe hierzu u.a.: Geoff Eley: Liberalism, Europe and the Bourgeoisie 1860–1914, in: David Blackbourn/Richard J. Evans (Hrsg.): The German Bourgeoisie. Essays on the social history of the German middle class from the late eighteenth to the early twentieth century, London 1991, S. 293–317; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988; Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001; James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983. 30 Zur Luftmenschen-Metapher siehe: Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008.
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che Rolle spielen. Allerdings standen nicht das utopische Antikenbild winckelmannscher Prägung, sondern Nietzsches Antike und Burckhardts Renaissance bei Warburg Pate. Es waren das Nachleben der „dionysischen“ Leidenschaften und die fortwährende Suche nach deren „apollinischer“ Bändigung in den Ausdrucksformen, die Warburgs Aufmerksamkeit erregten. Warburgs Schüler Erwin Panofsky gelang es, dieses Interesse Warburgs in seinem Nachruf bündig zusammenzufassen. Da heißt es, Warburgs Lebensarbeit sei von dem Willen getragen worden, „die Geschichte der menschlichen Kultur als eine Geschichte der menschlichen Leidenschaften zu sehen, die sich in ihrer grauenvollen Einfachheit – Habenwollen, Gebenwollen, Tötenwollen, Sterbenwollen – in einer von der Zivilisation nur scheinbar überdeckten Daseinsschicht beständig gleichblieben, und die der formverleihende Geist – gerade deswegen – in immer neuen Kulturgebilden zugleich offenbaren und bändigen muß.“31
Diese Geschichte der menschlichen Leidenschaften, und eben nicht der menschlichen Vernunft, hätte Warburg nur schreiben können, weil er sich der Tatsache gewiss war, „daß die griechische Antike es gewesen sei, die jenen Doppelkampf des Geistes – den Kampf um die Offenbarung und die Bändigung der menschlichen Ur-Erregtheit – zum ersten Male völlig durchgekämpft habe […]. […] sowohl als Trägerin heiligen Ebenmaßes wie als dämonische Meduse, mußte die Antike immer wieder vergessen, immer wieder gewonnen und immer wieder überwunden werden.“
Der Konflikt von „Denken“ und „Erregungsfaktoren“, von „heiligem Ebenmaß“ und „dämonischer Meduse“, von Vernunft und Leidenschaft bestimmte Warburgs wissenschaftliches Werk wie seine eigene Existenz. Dieser Antagonismus ist es, der Warburg zu einem paradigmatischen Vertreter jener Epoche macht. Der Schluss, den Warburg aus diesem Konflikt zog, die Notwendigkeit nämlich, die Antike immer wieder zu vergessen, zu gewinnen und zu überwinden, war das Ergebnis einer Entwicklung, die noch erläutert wird. Ausgangspunkt des warburgschen Denkens war jedenfalls eine bildungsbürgerlich-liberale, an die Aufklärung rückgebundene Wissensordnung.32 Diese Ordnung des Denkens, Sagens und Handelns wurde bereits um die Jahrhundertwende brüchig. Mit dem Ersten Weltkrieg aber und spätestens während seiner Nachwehen wurden diese Brüche zu tiefen, scheinbar un31
Erwin Panofsky: A. Warburg, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. LI (1930), S. 1–4, S. 1f. Dort (S. 2) auch das folgende Zitat. Panofskys Nachruf erschien zuerst im Hamburger Fremdenblatt vom 28.10.1929. 32 Auch Warburgs enge Mitarbeiterin Gertrud Bing sah in ihm einen Aufklärer. So heißt es in ihrem anlässlich der Aufstellung einer Warburg-Büste in der Hamburger Kunsthalle 1958 gehaltenen Vortrag: „Warburg glaubte an die Macht der Vernunft; er war ein Aufklärer, gerade weil er das Vermächtnis der dämonischen Antike so gut kannte. Lessings Laokoon war der große Einfluß seiner Jugend gewesen, und er fühlte sich der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts verpflichtet.“ Siehe: Bing: Aby M. Warburg, S. 463.
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überwindbaren Klüften. Die Destruktion der liberalen Ordnung hinterließ jene weit verbreitete Sehnsucht nach Ordnung, die Gegenstand dieser Untersuchung ist. Zwei wesentliche Aspekte der bürgerlich-liberalen, aufklärerisch geprägten Ordnung sind für das Folgende relevant: Zum einen der Glaube an die einerseits befreiend-auflösende und andererseits ordnend-konsolidierende Macht der Vernunft qua Wissenschaft und ihre daraus abgeleitete Dominanz und Hegemonie gegenüber anderen Weltzugängen und -deutungen; zum anderen die daraus resultierende Auffassung eines fortschrittsgerichteten Zeitverlaufs. Beide Konzepte stellten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zentrale, quasi apriorische Glaubenssätze insbesondere des Bildungsbürgertums, aber auch des liberalen Bürgertums im Allgemeinen sowie der Arbeiterbewegung dar. Legitimierten sie doch die erwünschte Auflösung der ständischen Gesellschaft, die Abschaffung ererbter Privilegien, ebenso wie sie die Beurteilung des Individuums gemäß seiner Leistung begünstigten und die Entwicklung neuer Wissensbestände und Technologien ermöglichten. An die Stelle der überkommenen, im Religiös-Metaphysischen wurzelnden, ständischen Ordnung sollte eine allein in der Vernunft gründende, gerechtere und vollkommene Ordnung treten. Doch die „Vernunft“ wurde verabsolutiert, und der ordnungsauflösende Geist der Moderne wurde zu einem ordnungsgenerierenden. Dabei erwies sich der Glaube, alles durch „Berechnen beherrschen“ und das Chaos beseitigen zu können, ebenso als Trugschluss wie der fortschrittsgerichtete Verlauf der Geschichte.33 Als Bildungsbürger verstand Warburg sein eigenes Leben als Projekt vernunftgeleiteter Selbstentwicklung des Humanen und somit als Spiegelbild des geschichtlichen Fortschritts auf individueller Ebene. Die Zeitläufte, seine eigene psychische Erkrankung und insbesondere der Erste Weltkrieg veranlassten Warburg, wie im Folgenden gezeigt wird, zu einer Korrektur dieses Weltbildes, die auch in seinen wissenschaftlichen Werken Ausdruck fand. Die Erkenntnis, dass es mit den Errungenschaften des Fortschritts und der Ausbildung der Vernunft nicht weit her sei, dass sich vielmehr die „menschlichen Leidenschaften […] in einer von der Zivilisation nur scheinbar überdeckten Daseinsschicht beständig“ gleichgeblieben seien, führte bei ihm jedoch nicht zur Preisgabe des normativen Anspruchs, der seiner liberalen Ordnung der Welt zugrunde lag. Hierin unterschied er sich von der großen Mehrheit seiner Zeitgenossen.
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Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9.
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b. Warum Athen immer wieder aus Alexandrien zurückerobert sein will Große Teile des (Bildungs-)Bürgertums lösten sich im Zuge des Wandels des Nationalismus von ihren aufklärerischen Wurzeln.34 Die spezifische Bürgerlichkeit des deutschen (Bildungs-)Bürgertums schloss nicht zwingend eine liberale Gesinnung mit ein. Warburg hingegen wurde zu einem treuen Republikaner und, als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), zu einer Stütze der Weimarer Republik.35 Der Erste Weltkrieg, der den Vernunftoptimismus und Fortschrittsglauben endgültig erschütterte, brachte die Grundfesten auch seines Denkens ins Wanken. Doch Warburg gelang es, sein Geschichts- und Weltbild zu revidieren und dennoch an den Prinzipien der Aufklärung festzuhalten. Die Korrektur insbesondere seiner Vorstellung eines fortschrittsgerichteten Geschichtsverlaufs wird in diesem Abschnitt erläutert. Wie so viele seiner Zeitgenossen verlor Warburg durch den Weltkrieg seinen „Glauben“, bildete doch die Vorstellung eines „weltlichen progressus“, der den „geistlichen profectus“ verdrängt oder abgelöst hatte,36 wie Stefan Zweig es in seinen Erinnerungen schilderte, die „Religion“ jener Zeit:37 „[D]ieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ‚Fortschritt‘ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen Fortschritt schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. In der Tat wurde ein allgemeiner Aufstieg zu Ende dieses friedlichen Jahrhunderts immer sichtbarer, immer geschwinder, immer vielfältiger.“38
Als in Europa 1914, so der britische Außenminister Sir Edward Grey, die „Lichter ausgingen“, wurden zentrale Axiome jener liberalen Fortschrittsreligion erschüttert.39 Der geschichtliche Verlauf schien nunmehr alles andere als in eine bessere Zukunft zu führen und der Mensch keineswegs so vernünftig, wie man bislang angenommen hatte. So schrieb beispielsweise Sigmund Freud im Jahr 1915: „Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechts zugefallen ist, […] von diesen Völkern hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden, Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austrage zu bringen. […] Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege 34
Siehe: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 938–961. 35 Siehe Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 72f. 36 Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, S. 349–375, S. 362. 37 Zum Fortschrittsglauben siehe: Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. 38 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 200334 [Or. 1944], S. 17. 39 Edward Grey: Twenty-Five Years. 1892–1916, Bd. II, London 1925, S. 20.
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vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer.“40
Mit dem Begriff der „Enttäuschung“ suchte Sigmund Freud in seiner Schrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod aus dem Jahr 1915 die Desillusionierung, welche Europa ergriff, zu beschreiben. Doch die sachliche Schlichtheit des Begriffs sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Freud durchaus erfasste, wie tiefgreifend und verstörend die Ernüchterung war: „Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt.“
Warburg war eine unter vielen dieser „klarsten Intelligenzen“, welche der Krieg so gründlich verwirrte, und es war nicht zuletzt die „Bedeutung der Eindrücke“, die auch ihn erkranken ließen. Der Krieg untergrub seine bereits gefährdete Ordnung der Welt und stellte sie so grundsätzlich in Frage, dass die gesamte „Welt von Gestern“ für ihn einzustürzen schien. Doch bevor dieser Einsturz Warburg in unterschiedliche psychiatrische Kliniken und schließlich zu Ludwig Binswanger nach Kreuzlingen führte, versuchte er noch auf wissenschaftliche Weise Ordnung in das Kriegsgeschehen zu bringen.41 Hiervon zeugen seine breit gestreute Lektüre, seine Sammlungstätigkeit, das Kriegsarchiv und das in der Rivista objektivierte Bemühen, kraft des vermeintlich besseren Arguments und mit dem Licht der Idee den italienischen Kriegsbeitritt auf Seiten der Entente zu verhindern.42 Auch seine „Fragment“ gebliebene Schrift Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten aus dem Jahr 1920 und sein Schlangenritual-Vortrag, den er im April 1923 hielt, stellten Versuche dar, das vom Krieg hervorgerufene Chaos wissenschaftlich zu ordnen und Warburgs eigene Ängste zu bändigen. Zugleich können sie als Beiträge verstanden werden, den „Rückfall“ in irrationale Formen der Chaosbewältigung zu deuten. Insofern ist es nur folgerichtig, Warburg als wegweisend für die Interpretation des zeitgenössischen Europa während der Krise des Liberalismus zu betrachten. Diese „Krise des liberalen Systems“ hatte ihre Ursprünge unter anderem in dem Einsturz des Vernunft- und Fortschrittsaxioms, der auch Warburg selbst zutiefst er40
Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Ders.: Studienausgabe Bd. IX, Fragen der Gesellschaft – Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 1974 [Or. 1915], S. 33–60, S. 36ff. Dort (S. 35) auch das folgende Zitat. 41 Zur Krankheitsgeschichte Warburgs siehe: Davide Stimili (Hrsg.): Ludwig Binswanger. Aby Warburg. La guarigione infinita. Storia clinica di Aby Warburg, Vicenza 2005. 42 Siehe: Dorothea McEwan: Ein Kampf gegen Windmühlen. Warburgs pro-italienische publizistische Initiative, in: Gottfried Korff (Hrsg.): Kasten 117. Aby Warburg und der Aberglaube im Ersten Weltkrieg, Tübingen 2007, S. 135–163 sowie Peter J. Schwartz: Aby Warburgs Kriegskartothek. Vorbericht einer Rekonstruktion, in: Ebd., S. 39–69.
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schreckte.43 In der Luther-Schrift versuchte Warburg, wie noch deutlich werden wird, sich anhand der Beschäftigung mit einem entfernten und doch verwandten Phänomen, dem Nebeneinander von Dämonenfurcht und Mathematik, einen „Denkraum“ zu verschaffen, um die Situation, die der Krieg hervorbrachte, zu begreifen und damit zu bewältigen.44 Während seiner Krankheit reflektierte Warburg über seine grundsätzlichen Versuche, das Chaos intellektuell zu ordnen. In einem Brief an seinen Assistenten Fritz Saxl aus dem Jahr 1922 heißt es: „Aus diesen Zeiten [Warburgs Kindheit] stammt die Furcht, die durch unproportioniert, zusammenhanglose Bilderinnerungen oder Sinnesreize der Geruchs- oder Gehörorgane hervorgerufen wurden, die Angst, die das Chaos hervorruft, der Versuch, intellektuell Ordnung in dieses Chaos zu bringen – ein Versuch, der ja als der tragische Kindheitsversuch des denkenden Menschen überhaupt bezeichnet werden kann – begann also sehr früh und viel zu früh für meine nervöse Konstitution.“45
Warburgs „nervöse Konstitution“ ging über die zeittypische „Nervosität“ hinaus.46 Seine sich während des Krieges anbahnende, schwere psychische Erkrankung ist hier nur insofern von Interesse, als Warburg zwischen ihr und dem gesamteuropäischen Leiden eine Parallele herzustellen scheint; ebenso wie das kriegerische Europa vermochte auch er nicht mehr, mittels der Vernunft das Chaos zu ordnen und die Ängste zu bändigen. Warburg ging, so ließe sich das in aller Kürze schildern, davon aus, dass die Welt zunächst als chaotisch wahrgenommen wird.47 Chaos erzeugt Angst, und diese Angst treibt den Menschen zu kulturellen und intellektuellen Ordnungsleistungen an, die der Bewältigung der Angstursache dienen.48 Es gibt unterschiedliche Reaktionsformen auf die phobische Ursache, und das heißt spezifische Formen der Ordnung des Chaos, die jeweils einer Stufe der menschlichen Entwicklung entsprechen. 43
Nolte: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen. Warburgs einflussreichster Biograph, Ernst Gombrich, konstatierte im Zusammenhang mit der Luther-Schrift, dass Warburg „bewusst oder unbewusst“ einen Zusammenhang zwischen seinen Forschungen zur dämonenfürchtigen Reformation und seinen täglichen Erfahrungen an der Heimatfront hergestellt habe und dass ihn eine „tiefe Seelenverwandtschaft mit dem dargestellten Problem“ verbunden habe. Dass die Luther-Schrift in einem Zusammenhang mit Warburgs drohender und dann ausgebrochener psychischer Erkrankung steht, vor allem aber durch ein zeitbedingtes Interesse motiviert ist, scheint eine hermeneutische Selbstverständlichkeit. Vgl. Gombrich: Aby Warburg, S. 281 u. S. 293. 45 WIA, GC, Aby Warburg an Fritz Saxl, 5.10.1922. 46 Zur „Nervosität“ siehe: Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. 47 Vgl. zum Folgenden: Gombrich: Aby Warburg, S. 295ff. sowie Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 243ff. 48 Der warburgsche Ausgangspunkt weist zahlreiche Parallelen sowohl zu Hans Blumenbergs Konzept des mittels des Mythos zu bewältigenden „Absolutismus der Wirklichkeit“ auf als auch zu Ernst Cassirer, der den Ursprung kultureller Leistungen ebenfalls in dem Versuch sieht, das Chaos zu ordnen. Siehe: Blumenberg: Arbeit am Mythos sowie Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002 [Or.1946], S. 24. 44
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Zunächst befindet sich ein Objekt der Welt, wie Blumenberg in Anlehnung an Franz Rosenzweig schreibt, im „Chaos des Unbenannten“.49 Es löst Furcht aus, denn „als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden.“ Der Akt des Benennens bildet den ersten Schritt der noch teleologisch gedachten kulturellen Entwicklung, die in der rationalen Beherrschung der Welt und der Vorherrschaft des logischen Denkens gipfelt.50 Dem menschlichen Kindesalter, der „primitiven Kultur“ also, entspricht der Fetisch oder das Totem. Im Fetisch oder Totem ist die Angst unmittelbar vergegenständlicht. Fetisch und Totem sind Verkörperungen der Furcht. Der „Primitive“ hat seine ursprüngliche Angst vor dem Chaos und dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ in ein Objekt verbannt und gebannt.51 Es handelt sich um magische Objekte, denen die ursprüngliche Kraft der Furcht innezuwohnen scheint. Angst und Objekt sind noch verschmolzen. Da der „Primitive“ seine eigene gestaltende, welthervorbringende Wirkung nicht erkennt, steht er noch im Bann des Objektes, welches er gleichsetzt mit der ursprünglichen Angst. Er hat zur phobischen Ursache zwar nur eine geringfügige Distanz aufgebaut, aber zwischen sich und den Objekten immerhin einen Raum erzeugt, der eine rituelle Praxis der Beschwörung und Magie ermöglicht.52 Auf der ganz anderen Seite der kulturellen Skala, beim phylogenetisch „erwachsenen“ Menschen also, befindet sich, nach Warburg, der logische Reaktionstypus auf die phobische Ursache. Dieser Reaktion entsprechen als Objektivierungen der Begriff und die Zahl. Verband Warburg die „primitive“, magisch-mythische Reaktion mit dem „Greif-Menschen“, so verknüpft er die logische Reaktion mit dem „Denk-“ oder „Begriff-Menschen“.53 Bei Letzterem ist die Distanz oder der „Denkraum der Besonnenheit“ zwischen Subjekt und Objekt am größten. Der warburgsche „Denkraum“ lässt sich demnach als der durch Abstraktion gewonnene Abstand zum Objekt fassen, den der Logos schafft. Der Logos, nicht zuletzt in seiner abstraktesten mathematischen Form, macht die Welt erst wirklich zum Objekt und somit zum Gegenstand der Reflexion, aber auch von Manipulation und Planung.54 Zwischen dem Fetisch und dem Begriff gibt es noch die „mythische“, mittlere Entwicklungsstufe. Das Symbol und das Bild sind die dieser Stufe 49
Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 22ff. Dort (S. 40) auch das folgende Zitat. Vgl. Gombrich: Aby Warburg, S. 296. Zum „Absolutismus der Wirklichkeit“ siehe: Blumenberg: Arbeit am Mythos. 52 Für eine sehr verständliche „Übersetzung“ von Warburgs Konzepten siehe: Gombrich: Aby Warburg, S. 296. 53 Zu dieser Unterscheidung siehe: Warburg: Schlangenritual, S. 25. 54 Warburg denkt die Entzweiung von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt noch ganz positiv. Er begreift sie, im Gegensatz beispielsweise zu Heidegger, keineswegs als Entfremdung. Der Mythos, so sei an dieser Stelle vorweggenommen, galt zahlreichen Zeitgenossen als Möglichkeit, eben diese Entzweiung und Entfremdung von Mensch und Welt zu beseitigen, die Einheit von Subjekt und Objekt wiederherzustellen und somit die Verwerfungen „der Moderne“ zu überwinden. 50 51
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entsprechenden Formen. Der „symbolisch verknüpfende Mensch“ bildet das Bindeglied zwischen dem totemistischen „Greif-Menschen“ und dem abstrakt-logischen „Denkmenschen“.55 Bilder und Symbole sind, nach Warburg, gestaltete Affekte. Sie sind Speicher der phobischen Energie, die in ihnen weiterlebt. Zugleich aber schaffen sie eine Distanz zu ihrer Ursache. Die Angst ist objektiviert und geformt, die Angstursache benannt und somit auch wieder gebannt. Die Angst ist im Bild oder Symbol zwar präsent, im Unterschied zum Totem oder zum Fetisch setzt sie der Betrachter aber nicht mehr mit dem Objekt gleich. Das meint Warburg, wenn er sagt „Du lebst und tust mir nichts“.56 Das warburgsche Stufenmodell des Kulturprozesses ist von den evolutionistisch-teleologischen Kulturtheorien der vom Kolonialismus geprägten Anthropologie und Ethnologie des 19. Jahrhunderts stark beeinflusst.57 Der Erste Weltkrieg machte dessen Revision unvermeidlich, denn das Konstrukt einer linearen Entwicklung vom archaisch-magischen „Greif-Menschen“ über den mythischen, „symbolisch verknüpfenden Menschen“ zum rationalen, Wissenschaft und Technik generierenden und gebrauchenden Zivilisierten war äußerst fragwürdig geworden. Warburg sah sich zu dem Ergebnis gezwungen, dass sich, wie Panofsky es ausdrückte, die menschlichen „Leidenschaften“ eben „beständig gleichblieben“ und nur von einem zivilisatorischen Firnis überdeckt seien. An die Stelle des Glaubens an die Überwindung des archaischen, abergläubischen und von seinen Trieben geleiteten Menschen trat die Erkenntnis seiner Zeitlosigkeit. In seiner Luther-Schrift stellte Warburg daher fest, dass „die Epoche, wo Logik und Magie wie Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls) ‚auf einem Stamme geimpfet blühten‘ […] eigentlich zeitlos“ sei.58 Dieses „zeitlose“ Nebeneinander von Magie und Logik, von „Greif-“ und „Begriff-Menschen“ und von Mythos und Logos ist eine Grundvoraussetzung für das Verständnis einer mythischen Moderne. Diese wird nämlich erst dann plausibel, wenn das Nebeneinander von Mythos und Logos an die Stelle der normativen, weil teleologischen, „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ tritt.59
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Warburg: Schlangenritual, S. 25. So das Motto von Warburgs Fragmenten zu einer Psychologie der Kunst, zit. nach: Gombrich: Aby Warburg, S. 98. 57 Vgl. Raulff: Nachwort, S. 74f. Auch Warburgs Verständnis der Menschheitsentwicklung war, so Gombrich, im „optimistischen Evolutionismus verwurzelt. Fortschritt führte vom Zustand der Wildheit zu immer höheren Formen der Beherrschung, und die Kunst hatte an diesem Aufstieg ihren Anteil.“ Gombrich: Aby Warburg, S. 80. 58 Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, Heidelberg 1920, S. 6. 59 Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen siehe Wilhelm Pinder: Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926. Doch es war Ernst Bloch und nicht der Kunsthistoriker Pinder, der das Diktum bekannt machte. Siehe: Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935. 56
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Der Fortschritt verwandelte sich für Warburg von einer Tatsache zu einem normativen Imperativ. Insofern zog er aus der „ewigen Wiederkehr“ magischer und mythischer Denk- und Ordnungsweisen andere Konsequenzen als die Mehrheit seiner Zeitgenossen, unter denen das „Primitive“, das „Elementare“ und „Ursprüngliche“, das vitalistisch verstandene Leben eine bisher unbekannte Konjunktur erlebte. Von der Entdeckung des „Unbewussten“ begleitet, hatte sich das Europa des Fin de Siècle auf eine lange Reise in sein „inneres Afrika“ und auf die Suche nach dem „edlen Wilden“ begeben.60 Glaubte man bis zum Kriege Letzteren endgültig überwunden zu haben, schien es nun, da der „Wilde“ den dünnen zivilisatorischen Firnis, unter dem er sich verborgen hatte, ablegte und sich unverhüllt zeigte, als hätte man ihn die ganze Zeit schmerzlich vermisst. Nicht so Warburg. Die Gründe seiner Abneigung gegen das „Primitive“ und „Archaische“ mögen in seiner psychischen Erkrankung liegen. Gewiss erlebte er diese als Sieg irrationaler und dionysischer innerer Mächte über seine Vernunft. Er war gezwungen einzusehen, dass magische oder mythische Reaktionen auf Ängste neben den logischen Bewältigungsversuchen fortbestehen und nicht endgültig abgelöst werden können. Immer wieder forderten diese ihren Tribut, und die logische Ordnung der chaotischen Wirklichkeit musste ihnen aufs Neue mühsam abgerungen werden. Doch es scheint müßig, biographische Spekulationen anzustellen, wenn doch Warburg noch während des Krieges das Problem wissenschaftlich erörterte. Europa befand sich, diese Analogie scheint berechtigt, wie schon zur Reformationszeit in einem neuartigen „Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versuchte. Athen will eben immer wieder aus Alexandrien zurückerobert sein.“61 Wie ist das zu verstehen? Warburg sah sich angesichts der Realität des Krieges gezwungen, sein diachrones Stufenmodell des Kulturprozesses zu korrigieren. Der Krieg offenbarte, dass sich Wissenschaft und Magie, Logos und Mythos, technischer Fortschritt und zahllose Opfer fordernde Blutbäder nicht ausschlossen. Der verzauberte und in einem mythischen Nomos hausende Mensch des ägyptischen Alexandrien war nicht zurückgekehrt, er war nur nie endgültig überwunden worden. Daher waren der Krieg und die magischmythischen Praktiken, die er erzeugte, auch nicht als „Rückfall“ zu deuten. Der Unterschied zur Vergangenheit bestand indes darin, dass der neu-alte alexandrinische Mensch nunmehr mit einem ungeheuren Destruktionspotential ausgestattet war, welches erst die wissenschaftlich-technische Entwicklung hervorgebracht hatte, die von Sokrates’ Athen aus ihren Siegeszug angetreten hatte. 60 Jean Paul: Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele, in: Ders.: Sämtliche Werke, I. Abt, Bd. 6, hrsg. v. Norbert Miller, München 1996 [Or. 1827], S. 1105–1236, S. 1182. 61 Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, S. 70.
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Der „Athener“ Warburg stellte also fest, dass phobische Ursachen immer wieder magische und mythische und nicht nur logische Reaktionen hervorrufen würden.62 Entzauberung war kein einmaliger Prozess. Der „BegriffsMensch“ musste sich immer wieder aus den Fängen des „Greif-Menschen“ befreien. Wenngleich der Krieg Warburg dazu zwang, sich von seinen phylogenetisch-teleologischen Vorstellungen zu verabschieden, so hielt er dennoch am hierarchischen Modell fest; der Logos war der Magie und dem Mythos überlegen, und das Telos der Menschheit war die Entwicklung der Humanität kraft der Vernunft. Dieser Fortschritt zum Humanen war aber als immerwährender dialektischer Prozess, als Imperativ zu begreifen, und nicht als einmalige Errungenschaft. Warburgs Korrektur betraf zudem auch die Wertung der vermeintlich „primitiven“ Praktiken. Hiervon zeugt das Goethe-Zitat, mit dem Warburg seine Luther-Schrift enden ließ: „Dunklen Zeiten sind solche Mißgriffe nachzusehen; sie gehören mit zum Charakter. Denn eigentlich ergreift der Aberglaube nur falsche Mittel, um ein wahres Bedürfnis zu befriedigen, und ist deswegen weder so scheltenswert, als er gehalten wird, noch so selten in den sogenannten aufgeklärten Jahrhunderten und bei aufgeklärten Menschen.“63 Diese Erkenntnis arbeitete Warburg, wie im folgenden Abschnitt noch deutlicher werden wird, in seinem Vortrag zum Schlangenritual weiter aus. Warburg lieferte dort einen weiteren Ansatzpunkt für das Verständnis jener Krise, die Europa erfasst hatte. Der Krieg an sich, der zivilisatorische Bruch, den er bedeutete, war sicherlich die Hauptursache des Chaos, welches nun der Ordnung bedurfte. Es gab jedoch eine weitere phobische Ursache, die erst bewältigt werden musste und die Warburg als Zerstörerin des Denkraums festmachte, nämlich die Technik: „Die Naturgewalten werden nicht mehr im anthropomorphen oder biomorphen Umgang gesehen, sondern als unendliche Wellen, die unter dem Handdruck des Menschen gehorchen. Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte. Der moderne Prometheus und der moderne Ikarus, Franklin und die Gebrüder Wright, die das lenkbare Luftschiff erfunden haben, sind eben jene verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörer, die den Erdball wieder ins Chaos zurückzuführen drohen.“64
62 Vgl. Peter Gay: Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, Hamburg 1986, S. 151. 63 Johann Wolfgang Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, zit. nach: Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, S. 71. 64 Warburg: Schlangenritual, S. 59.
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c. Die Entzauberung der Schlange Der „moderne Prometheus“, der „moderne Ikarus“ oder eben die Technik im Allgemeinen, schienen Warburg Zerstörer des Denkraums zu sein. Unter den deutschen Intellektuellen war Warburg mit dieser skeptischen oder besser ablehnenden Haltung gegenüber der Technik bekanntlich nicht allein.65 Doch Warburgs Einstellung war keineswegs so einseitig, wie es das gerade Zitierte nahezulegen scheint. Warburg betrachtete die Technik und ihre Folgen zwar kritisch, zugleich aber war er von ihr fasziniert. Hiervon zeugt unter anderem die Ausstattung der K.B.W.66 Auch Warburgs langjährige Faszination für die Aviatik und den „modernen Ikarus“ erhärtet diesen Eindruck. Warburg hegte eine große Begeisterung für den deutschen Luftschiffpionier Hugo Eckener, der im Oktober 1924 mit einem Zeppelin den Atlantik überquert hatte.67 Und der Kunsthistoriker Warburg hatte bereits im Jahr 1913 einen Aufsatz zu Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt veröffentlicht. Zwei „nordische Bildteppiche“ beziehungsweise Arrazzi, welche den Palazzo Doria in Rom schmückten, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Sie zeigen die Heldentaten Alexanders des Großen, der laut Legende in einem gläsernen Fass zum Meeresgrund und in einem von zwei Greifen gezogenen Metallgehäuse in den Himmel gefahren war.68 Bereits im Zusammenhang dieser wunderlichen, auf den Wandteppichen dargestellten Szenen hatte Warburg das Nebeneinander des mythologischen und wissenschaftlichen Weltbilds beziehungsweise „die Gegensätzlichkeit […] [des] seelischen Aufbaues“ des Renaissance-Menschen konstatiert. Vergleichbar mit Paul Fussells Verwunderung angesichts der Bedeutung des Mythos in dem industrialisierten und mechanisierten Krieg,69 beschäftigte auch Warburg das scheinbare 65 Siehe hierzu: Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1989 sowie Rohkrämer: Eine andere Moderne. 66 Der Bibliotheksneubau in Hamburg war mit einem Rohrpostsystem, einem Bücher- und einem Personenaufzug, Förderbändern und Hebetischen sowie zahlreichen Telefonanschlüssen für die Verbindung nach Außen wie auch für die Kommunikation innerhalb des Hauses ausgestattet. Siehe hierzu: Tilmann von Stockhausen: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg 1992. 67 Dies bestätigt beispielsweise ein Brief Warburgs an Felix von Eckhardt. Dort heißt es: „Wie Sie vielleicht wissen, habe ich mich sehr für den Gedanken erwärmt, daß Eckener Reichspräsident werden sollte und möchte daher gern wissen, ob die in Frage kommende Persönlichkeit, von der die Notiz auch sagt, daß sie in der letzten Zeit in Amerika ein großes Ansehen genösse, Eckener gewesen ist.“ WIA, GC, A. Warburg an Felix von Eckhardt, 2.9.1925. 68 Siehe: Aby Warburg: Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt, in: Ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932, neu hrsg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hrsg. v. Horst Bredekamp u.a., Erste Abteilung, Bd. I.1, Berlin 1998, S. 241–249, S. 245. Dort (S. 247) auch das folgende Zitat. 69 Fussell: The Great War and Modern Memory, S. 115.
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Paradoxon, dass nämlich unter den Zeitgenossen Philipps des Guten (1396– 1467) einerseits ein „kritiklose[r] Glaube an Greifen“ vorherrschte und ihnen andererseits die „Dienstbarmachung des feurigen Elements durch die burgundische Festungs-Artillerie“ gelungen war.70 Warburg stellte fest, „daß diese ‚burgundische Antike‘ ebenso wie die ‚italienische‘ ihren wesentlichen und eigenartigen Anteil hat an der Erzeugung des modernen, auf die Beherrschung der Welt gerichteten Menschen. Noch scheint ihm die Feuerregion, selbst für die dämonische Kraft orientalischer Fabelwesen, unnahbar, während er doch schon das Flammenelement in seinen Feuerschlünden gebändigt und dienstbar unter den Händen hält. Mir scheint es gar nicht so ‚lögenhaft to vertellen‘, wenn man dem modernen Aviatiker, der das ‚aktuelle‘ Problem des Motorkühlers studiert, verrät, daß sein geistiger Stammbaum über Karl den Kühnen, der mit feuchten Schwämmen die glühenden Füße seiner himmelstürmenden Greifen zu kühlen versuchte, in direkter Luftlinie hinaufreicht bis zum ‚grand Alixandre‘.“
Warburg empfindet 1913 das Nebeneinander von Logos und Mythos also noch als Anomalie. Während der moderne Aviatiker dem Problem des Motorkühlers vermeintlich allein mit seinem technischen Können und wissenschaftlichen Weltbild begegne, habe sein geistiger Vorfahre die Frage auf symbolisch-bildliche, ja auf mythische Art und Weise gelöst. Wie diese Arbeit indes noch deutlicher machen wird, war es keineswegs allein der moderne Mensch in statu nascendi, der von jener „Gegensätzlichkeit“ geprägt war, die keine ist. Zehn Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes und fast fünf Jahre nach dem Ende des Krieges hielt Warburg am 21. April 1923 zum Beweis seiner Genesung und Arbeitsfähigkeit seinen berühmt gewordenen Schlangenritual-Vortrag.71 Auch dieser „Reisebericht“, in welchem der Ethnologe Warburg jene Eindrücke schilderte, die er 27 Jahre zuvor bei den Pueblo-Indianern gesammelt hatte, handelte von jenem modernen, vermeintlich paradoxen Phänomen: „Was mich als Kulturhistoriker interessierte, war, daß inmitten eines Landes, das die technische Kultur zu einer bewundernswerten Präzisionswaffe in der Hand des intellektuellen Menschen gemacht hatte, eine Enklave primitiven heidnischen Menschentums sich erhalten konnte, das […] mit einer unerschütterlichen Festigkeit gerade für landwirtschaftliche und Jagdzwecke magische Praktiken betreibt, die wir nur als Symptom eines ganz zurückgebliebenen Menschentums zu verurteilen gewohnt sind. […] Uns erscheint dieses Nebeneinander von fantastischer Magie und nüchternem Zwecktun als Symptom der Zerspaltung“.72
Betrachtete Warburg in Luftschiff und Tauchboot das Zusammentreffen von Greifenglauben und Pyrotechnik im Europa des 15. Jahrhunderts, so verortete er in seiner Luther-Schrift die Gleichzeitigkeit von Dämonenfurcht und Wissenschaft im Europa der Reformation. Im Schlangenritual-Vortrag wurde das 70 Warburg: Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt, S. 247. Dort (S. 249) auch das folgende Zitat. 71 Siehe zum Kontext des Vortrags: Raulff: Nachwort, S. 63ff. 72 Warburg: Schlangenritual, S. 10.
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Nebeneinander von magisch-mythischem und wissenschaftlich-technischem Weltverhältnis auf den amerikanischen Kontinent verdrängt und den Ureinwohnern zugeschrieben. Es scheint fast, als habe Warburg versucht, die „Zerspaltung“ zu externalisieren. Wie aber in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird, war es weder nötig, den Ozean zu überqueren, noch sich vergangenen Zeiten zuzuwenden, um dieses Nebeneinander zu erleben. Alexandrien und Athen, Mythos und Aufklärung, der Ordnung generierende und Ordnung auflösende Geist der Moderne waren im zeitgenössischen Europa heimisch. Es scheint, als habe Warburg die Europa erfassende „Zerspaltung“ zwar seismographisch erspürt, aber dennoch weiterhin „dem Anderen“ zugeschrieben. Hierdurch eroberte er für sich den notwendigen „Denkraum der Besonnenheit“, um den zeitgenössischen Umgang mit dem Krieg, der Technik und dem Chaos zu verstehen. Das Nebeneinander von mythischer und wissenschaftlicher Praxis wurde besonders im Falle der Technik deutlich. Gerade diese „bewundernswerte Präzisionswaffe in der Hand des intellektuellen Menschen“ und handfestes Zeichen „nüchternen Zwecktuns“ war zu einer „zweiten Natur“ geworden, die den Menschen gleich der ersten, tatsächlichen Natur zu überwältigen drohte.73 Wie man der ersten Natur den Denkraum abgerungen hatte, galt es für Warburg nun, den Denkraum zwischen dem Menschen und der zweiten Natur zu erobern. Die Schlange, die im Mittelpunkt von Warburgs Vortrag stand, ist ein Symbol der ersten wie der zweiten Natur, wenngleich sie im Fall der Technik abstrakter als „Kupferschlange Edisons“ oder „im Draht gefangene[r] Blitz“ in Erscheinung tritt.74 Warburgs Reisebericht, dessen Schlangenthema zunächst also befremdlich und angesichts des im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Aviatikdiskurses nahezu abwegig scheinen mag, erweist sich nicht zuletzt aufgrund der Schlange als Technikmetapher sowie aufgrund der „Gegensätzlichkeit“ des bevorzugten Umgangs als zu verfolgende Spur. Sie führt direkt ins Zentrum der Frage nach der faschistischen, mythischen Moderne. Denn das bereits ausführlich erläuterte Nebeneinander von magisch-mythischer und wissenschaftlicher Weltanschauung wird hier aus einer weiteren Perspektive beleuchtet und zur Technik in Bezug gesetzt. Zudem wählte auch Ernst Jünger, der noch ausführlicher behandelt werden wird, das Bild der Schlange, um den Umgang mit der Technik zu thematisieren. Bei ihm heißt es: „O, du stählernste Schlange der Erkenntnis [Technik] – du, die wir verzaubern müssen, wenn du uns nicht erwürgen sollst.“75 Die stählerne Schlan73
Das Verständnis der Technik beziehungsweise aller kultureller Leistungen des Menschen als zweite Natur reicht von Hegel, Marx und Engels, über Klages bis zu Cassirer, Plessner und Gehlen. 74 Warburg: Schlangenritual, S. 58f. 75 Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, Berlin 1929, S. 224. Im Übrigen fährt Jünger direkt daraufhin (S. 224ff.) fort, seine Erlebnisse auf
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ge ließe sich, so Jünger, durch Berechnung allein nicht beherrschen und in die Lebenswelt integrieren.76 Um das von ihr ausgehende Chaos zu ordnen, bedürfe es anderer Mittel; jener Verzauberung eben, die der weberschen Entzauberung gegenübersteht.77 Während Warburg also die Angstursache Schlange/ Technik mittels logisch-wissenschaftlicher Objektivierung zu bändigen suchte, gedachte Jünger, und bei weitem nicht nur er, die stählerne Schlange durch mythische Verzauberung zu beschwören. Die Schlange als Blitzsymbol, so Warburg in seinem Vortrag, steht im Mittelpunkt der kultischen Verehrung der Pueblo-Indianer.78 Deren Überleben ist von der Maisernte abhängig, für die wiederum der spärliche Regen unabdingbar ist. Die Schlange, so Warburg, wird als Wettergottheit verehrt, da sie in ihrer „blitzförmigen Gestalt“ mit dem Blitz und ergo mit dem „segensreichen Gewitter“ magisch-kausal verknüpft wird. Die Tanzrituale, die Warburg beobachten konnte, deutete er als „soziale Lebensmittelfürsorge durch magische Praktiken“.79 Die lebenden Schlangen, die im Zentrum des Schlangenrituals der Moki-Indianer von Walpi und Oraibi stehen, werden „zum Botschafter umgewandelt und ausgesandt, um zurückgekehrt zu den Seelen der Verstorbenen, sodann in Blitzgestalt das Gewitter am Himmel zu erzeugen.“80 Warburg ging in seinem Vortrag dem Schlangensymbol in der Antike, in der Bibel und im Mittelalter nach, um schließlich im „technologischen Zeitalter“ anzulangen. Die Schlange, so beginnt sein Resümee, sei eben „ein internationales Antwortsymbol auf die Frage: Woher kommt elementare Zerstörung, Tod und Leid in der Welt? […] Wo ratloses Menschenleid nach Erlösung sucht, ist die Schlange als erklärende bildhafte Ursache in der Nähe zu finden.“81 Die Wahl des Schlangenbildes durch Jünger erweist sich also keineswegs als Zufall. Auch er versteht die Schlange als bildhafte Ursache für das im Krieg erfahrene „ratlose Menschenleid“ auf der Suche nach Erlösung. Wie aber, so fragt Warburg, habe sich der Mensch gelöst von „diesem zwangsmäßigen Verknüpftsein mit einem giftigen Reptil als Ursache?“82 einem Flugplatz zu schildern. Die Flieger werden dort als Bezwinger der Technik beschrieben. 76 Siehe hierzu Thomas Rohkrämer: Die Verzauberung der Schlange. Krieg, Technik und Zivilisationskritik beim frühen Ernst Jünger, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 848–874, S. 865. 77 Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9. 78 Warburg: Schlangenritual, S. 16. 79 Ebd., S. 24. 80 Ebd., S. 44. Die Schlangen sind also jene „geheimnisvollen unberechenbaren Mächte“, von denen Max Weber schreibt. Das von Warburg erläuterte Ritual stellt folglich genau das Gegenteil des von Weber beschriebenen Entzauberungsprozesses dar: „Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.“ Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9. 81 Warburg: Schlangenritual, S. 55. 82 Ebd., S. 55.
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Das technologische Zeitalter sei, so Warburg, auf das Schlangensymbol nicht mehr angewiesen, um den Blitz zu erklären und zu erfassen. Der Stadtbewohner fürchte sich nicht mehr vor dem Blitz und bedürfe auch nicht mehr des Gewitters, denn er habe seine Wasserleitung. „Die naturwissenschaftliche Aufklärung räumt mit der mythologischen Verursachung auf“, heißt es im Anschluss.83 Zum Ende des Vortrags hin zeigte Warburg ein Diapositiv, auf dem ein Amerikaner zu sehen war, „Onkel Sam mit dem Zylinder“. Warburg nennt ihn den „Überwinder des Schlangenkultes und der Blitzfurcht“. Doch „über seinem Zylinder zieht sich der elektrische Draht. In dieser Kupferschlange Edisons hat er der Natur den Blitz entwunden.“ Durch die technologische Beherrschung des Blitzes wurde die magische Kausalität obsolet. Das lebensnotwendige Gewitter wird nicht mehr durch den Schlangentanz erzwungen, die segensreichen Energiequellen werden vielmehr durch die Technik erschlossen. Zugleich erinnert Warburg aber daran, dass sich „das Verhältnis der Erlösungssucher zur Schlange […] im Kreislauf von kultischer Verehrung, von derbster sinnlicher Annäherung bis zur Überwindung [bewegt]. Sie war und ist bis auf den heutigen Tag, wie wir an diesen Kulten der Pueblo-Indianer sehen, ein sinnfälliger Maßstab für die Entwicklung von triebhaft-magischer Annäherung zur vergeistigenden Distanzierung, die das giftige Reptil als Symbol dessen bezeichnet, was der Mensch äußerlich und innerlich an dämonischen Naturkräften zu überwinden hat.“84
Warburg ging nunmehr also von der Wiederkehr magisch-mythischer Ordnungsversuche aus, die eben erneut überwunden werden müssten. Der Umgang mit der Schlange war ihm ein Anzeichen für die Positionierung einer Kultur innerhalb des „Kreislaufs“ von Magie über den Mythos zur Wissenschaft. Die Vorstellung eines fortschrittsgerichteten Zeitpfeils war jedenfalls einer zyklischen Ordnung der Zeit gewichen. Der Kampf zwischen Athen und Alexandrien würde sich in einem fort wiederholen. Bedeutsam ist hier vor allem Warburgs, wenn auch nur zögernde, Auflösung des evolutionistisch-teleologischen Kulturstufen-Modells. Der Übergang vom Mythos zum Logos war kein einmaliger Prozess, sondern musste immer wieder erkämpft werden, schlug doch Aufklärung, mit Adorno und Horkheimer gesprochen, immer wieder in Mythologie zurück.85 Diese Einsicht in die Gleichzeitigkeit und Dialektik von Mythos und Logos, oder besser des Ordnung generierenden und des Ordnung auflösenden Geistes der Moderne ist Voraussetzung für eine Verortung des Faschismus innerhalb der Moderne. Letzterer war kein reaktionärer Rückfall in eine Vormoderne, sondern ein genuines Ergebnis der Moderne, das deren Zerspaltung, jenen berühmten „Weltriss“, von dem Heine sprach, zu beseitigen trachtete.86 Der 83
Ebd., S. 56. Dort (S. 58f.) auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 57. 85 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16. 86 Heinrich Heine: Reisebilder. 3. Teil. Die Bäder von Lucca, in: Ders.: Reisebilder II, 1828–1831. Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, Bd. VI, bearb. v. Christa Stöcker, Berlin 1986, S. 83. 84
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Faschismus war eine Antwort auf neue phobische Ursachen und ein Versuch, das erneut hervorgetretene Chaos des Unbenannten zu ordnen. Warburgs Kulturtheorie hingegen ist sowohl als Teil des zeitgenössischen Diskurses der Weltkriegsepoche als auch als Bedingung der Möglichkeit der heutigen Perspektive auf das Geschehen zu begreifen. Warburgs Beteiligung am zeitgenössischen Diskurs zu Technik, Krieg und deren kultureller Bewältigung war allerdings nicht nur wissenschaftlicher Natur. Er war kein distanzierter Beobachter und Deuter, fernab jeglicher Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten. Ganz im Gegenteil: Sein Briefmarkenentwurf Idea vincit stellt einen Nexus dar zwischen Warburgs Kulturtheorie und seinem Engagement für die Weimarer Republik. Der Briefmarkenentwurf ist eine Kontrastfolie, vor der sich die in den weiteren Kapiteln behandelten Beiträge zum Aviatikdiskurs deutlich abheben. Denn Warburgs Kodierung des Flugzeuges ist Ausdruck seines Versuchs zur Entzauberung der stählernen Schlange. Mit Idea vincit wird die von Warburg angestrebte fortdauernde Aufklärung in ein Bild und ins technische Zeitalter übersetzt. Das Flugzeug, die Verkörperung des Triumphs des Menschen über die Natur und zugleich seiner akuten Bedrohung, wurde hier liberal-aufklärerisch kodiert und als Symbol des Sieges der Vernunft und des Fortschritts verwendet. Für Warburg war es die Vernunft, die den Menschen aus den „Niederungen“ magisch-mythischen Denkens hin zum Licht der Wahrheit herauszuführen vermochte. Darin bestand der Fortschritt. Doch die Tatsache, dass Warburg für seine rationalistische Botschaft ein Bild wählte, mag als ein Eingeständnis an die „bildhaft denkende“, „poetischmythologisch verankerte Seele“ gedeutet werden. Warburg war sich mittlerweile nämlich auch der Grenzen der Aufklärung bewusst.87 Sein Briefmarkenentwurf ist eine ikonische Verdichtung des liberalen Weltbildes, des Schlachtrufs eines Wissenschaftlers zur Wiedereroberung Athens und des Republikanismus. Zugleich ist es ein Eingeständnis, dass die Versuche, die Angst symbolisch-bildhaft zu bannen und das Chaos mythisch zu ordnen, fortdauern würden. Es galt aber, die Überwindung des „ewigen Indianertums“ immer wieder anzustreben.88
d. Idea vincit oder der Ausgang aus der Höhle Seit mehreren Jahren schon schlug sich Warburg mit der Idee herum, eine Kunstgeschichte der Briefmarke zu schreiben. So heißt es in dem Manuskript seines Vortrags zur „Funktion des Briefmarkenbildes im Geistesverkehr der Welt“, den er in der K.B.W. am 13. August 1927 hielt: „Persönliches Seit 87
Warburg: Schlangenritual, S. 56. Siehe hierzu Warburgs Notiz zu dem Vortragsentwurf zum Schlangenritual. Abgedruckt bei Gombrich: Aby Warburg, S. 304.
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1913 eine Kunstgeschichte d. Marke als Bedürfnis empf.“89 Und in einem Brief an Ludwig Binswanger vom 16.12.1926 ist zu lesen: „Ich habe enorm zu tun, bin geistig leistungsfähig bis sogar unternehmungslustig, so daß meine hochverehrte Psyche wirklich anfängt die letzten Ausläufer selbständigen Denkens aus der Vorkriegszeit getreulich wieder auszuspinnen. So packte mich zu meiner eigenen Verwunderung ein jugendlicher Enthusiasmus für die Freimarke, deren Kunstgeschichte zu schreiben, ich schon 1913 plante.“90
Die Briefmarken des faschistischen Italiens hatten seine Aufmerksamkeit erregt und er erkannte das massenpsychologische Potential dieser weit verbreiteten „Bildervehikel“.91 Er begriff die Briefmarken, so Ulrich Raulff, als „Embleme und Werbezeichen der Macht“,92 und daher ist sein Briefmarkenentwurf auch in einem politischen Kontext zu sehen, der mehrere Dimensionen hat. Die Briefmarke, als Repräsentant und Symbol des Staates im Inund Ausland, sei ein „Auffangspiegel“ der jeweiligen Kultur.93 So hieß es in den Hamburger Nachrichten, die über einen Vortragsabend zur „Briefmarke als Kulturdokument“ in der K.B.W berichteten, Warburg sei davon ausgegangen, „daß Zahlen, Wappen, Bildnisse des Landesherrn alles Hoheitszeichen sind, die den Träger eines solchen Zeichens entpersönlichen, ihn zum Instrument machen. Er wird der Träger einer Idee. So wird auch die mit Hoheitszeichen geschmückte Briefmarke zur Idee des Staatswesens und hat sich als solche mit Würde und Distanzgefühl zu benehmen. […] Professor Warburg nannte die Briefmarken die Bildersprache des Weltverkehrs und zeigt damit die große Bedeutung auf, die der Marke zukommt.“94
Warburgs Ausführungen an jenem Abend war ein Vortrag des Reichskunstwarts Edwin Redslob vorangegangen. Dieser stand qua seines Amtes im Mittelpunkt der Symbolpolitik der Weimarer Republik. Der Flaggenstreit, in dessen Folge der Reichskanzler Hans Luther am 12. Mai 1926 zurückgetreten 89
WIA, III, 99.1.1.1, S. 17. UAT 443/31, Bl. 44, Aby Warburg an Ludwig Binswanger vom 16.12.1926. 91 WIA, III, 99.1.1.2, S. 45. Dort (S. 57) heißt es auch: „Wenn d. K.B.W. ein Museum f. Gesch. und Psychologie d. kosmischen Orientierung ist, gehört d. Bfm. mit hinein, da sie das Wort magisch beflügelt, vom Träger loslöst und einem Dritten übermittelt.“ 92 Siehe Ulrich Raulff: Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee. „Idea vincit“: Warburg, Stresemann und die Briefmarke, in: Wolfgang Kemp u.a. (Hrsg.): Vorträge aus dem WarburgHaus, Bd. 6, Berlin 2002, S. 125–162, S. 130. Raulff fährt dort fort: „Doch er verkannte auch nicht die Lehre des Ersten Weltkriegs, der gezeigt hatte, dass nicht mehr die Politik allein das Schicksal der zeitgenössischen Welt war. Verbunden mit ihr und durch sie hindurch herrschte die moderne Technik. Noch im geringsten und alltäglichsten Bild, in dem die politische Macht sich präsentierte, in der Briefmarke, musste sich diese Moderne niederschlagen.“ 93 So Warburg in einem Brief an Franz Fuchs im Februar 1927, zit. nach Dorothea McEwan: IDEA VINCIT – „Die siegende, fliegende ‚Idea‘“. Ein künstlerischer Auftrag von Aby Warburg, in: Sabine Flach/Inge Münz-Koenen/Marianne Streisand (Hrsg.): Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München 2005, S. 121–151, S. 129. 94 Die Briefmarke als Kulturdokument. Vorträge von Reichskunstwart Dr. Redslob und Professor Warburg, in: Hamburger Nachrichten vom 15.8.1927. 90
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war, lag erst ein gutes Jahr zurück, und die Suche nach symbolischen Identifikationsangeboten mit der Republik war auch ansonsten eher erfolglos geblieben.95 Auch die symbolpolitische beziehungsweise künstlerische Beratung des Reichspostministeriums bei der Gestaltung neuer Briefmarken oblag dem Reichskunstwart Redslob. Er hatte zwar die Kompetenz, Vorschläge zu unterbreiten, konnte diese allerdings nicht durchsetzen.96 Warburgs Briefmarkenentwurf und seine Zusammenarbeit mit Redslob sind jedenfalls im Kontext des Symbolstreits der Weimarer Republik zu sehen. Warburg sah in der Idea vincit einen geeigneten Repräsentanten der Republik im In- und Ausland. War doch die idea ein Symbol des friedlichen und nicht des kriegerischen Deutschlands. Es galt, das Bild eines nicht militaristischen Deutschlands im In- und Ausland zu verbreiten und sich zudem vom faschistischen Italien und seinem„schizophrenen Machtfimmel“ abzugrenzen.97 Die idea vincit sollte dieses Bild, im zweifachen Sinn des Wortes, in die Welt tragen. Damit dies geschehe, nahm Warburg Kontakt zum Außenminister Gustav Stresemann auf. Es würde ihn sehr freuen, so schrieb Warburg seinem Bruder Max am 25. November des Jahres, „Stresemann, dessen kluge Unerschrockenheit ich im Laufe der Jahre doch sehr schätzen gelernt habe, meine Bibliothek zeigen zu dürfen.“98 Im Anschluss an die Bibliotheksführung gedachte Warburg, Stresemann seinen Briefmarkenentwurf zu schenken. So sollte es auch kommen, als der Außenminister im Dezember 1926 Hamburg und schließlich auch die K.B.W. besuchte. Der Entstehungsprozess von Warburgs Briefmarkenentwurf ist von Dorothea McEwan und Ulrich Raulff bereits ausführlich geschildert worden.99 Es mag daher an dieser Stelle genügen, den Zusammenhang auf der Grundlage von Warburgs Eintrag in das Tagebuch der K.B.W. vom 21. Dezember 1926 zu rekapitulieren: 95
Zum Flaggenstreit 1926 siehe: Bernd Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, S. 104–131. 96 Zu Redslobs Tätigkeit, zum Amt des Reichskunstwarts sowie zu den „Mühen der Briefmarkengestaltung“ siehe: Annegret Heffen: Der Reichskunstwart. Kunstpolitik in den Jahren 1920–1930. Zu den Bemühungen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik, Essen 1986, S. 132–139. 97 Im Tagebuch der K.B.W. heißt es dementsprechend: „Die Antike als Marke (fasces) führt in Italien zur Offenbarung des schizophrenen Machtfimmels: dagegen die ‚Idea Vincit‘ Strohmeyers ein Protest der ‚unpraktischen‘ Idee.“ Siehe: Eintrag Aby Warburg vom 29.12.1926, in: Ders.: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, hrsg. v. Karen Michels u. Charlotte SchoellGlass, in: Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hrsg. v. Horst Bredekamp u.a., Siebte Abteilung, Bd. VII, Berlin 2001, S. 39. 98 WIA, FC, Aby Warburg an Max Warburg, 25.11.1926. 99 Siehe hierzu: McEwan: IDEA VINCIT; Raulff: Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee sowie Karen Michels/Charlotte Schoell-Glass: Aby Warburg et les timbres en tant que document culturel, in: Protée 20/2002, S. 85–94.
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Abb. 2 Eine von Warburgs Skizzen, die Strohmeyer als Vorlage diente.100 „Ich erhielt von dem Maler-Radierer Alex Liebmann einen Hilferuf 4/XII aus München, den ich mit einem Auftrag beantwortete, mir eine neue deutsche Marke im Querformat erstmals zu zeichnen, die unten das Meer, darüber das steil auffliegende Flugzeug zeigen solle: mit der Inschrift Briand, Chamberlain, Stresemann. 3 banale allerdings sehr schnelle Probebogen waren die Antwort. […] Da das Essen für Stresemann verschoben war (vom 14. auf den 20.) und unterdessen den Nobelpreis erhalten hatten [sic] fiel mir ein, daß Strohmeyer der richtige Künstler sein dürfte, in dessen phantastisch-realer Statik ich immer (ohne viel Anklang zu finden) ein besonderes Instrument gesehen hatte. […] Ich zeigte ihm meine schäbigen Skizzen, nun nicht mehr für eine Briefmarke sondern für ein Blatt: aufsteigender Flug. Inschrift auf der Unterseite der Flügel und das Eisengestänge eines Bogens, das aber außerhalb der Bildfläche seine Höhe hatte. Er skizzierte in sein winziges Taschenbuch das Flugzeug.“101
Warburg beauftragte also zuerst den Freund Alexander Liebmann, der sich in finanziellen Schwierigkeiten befand, mit dem Entwurf einer Luftpostmarke. Als Stresemanns Besuch aufgrund der Nobelpreisverleihung verschoben wurde, wandte sich Warburg allerdings an einen weiteren ihm bekannten Graphiker, Otto Heinrich Strohmeyer, mit dem Auftrag für einen Linolschnitt, den dieser auf der Grundlage von Warburgs eigenen Skizzen entwickelte. Am 20. Dezember war es so weit, der Außenminister wurde durch die Bibliothek geführt:
100
WIA, IV.87, Umschlag ‚Liebmann Correspondence‘, 15.12.1926. Eintrag Aby Warburg vom 21.12.1926, in: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, S. 23f. 101
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Abb. 3 Der strohmeyersche Linolschnitt, der Stresemann übergeben wurde.102
„Stresemann mit Gefolge verspätete sich […]. Fühlte mich durch gröbliche Ermahnungen, kurz zu sein, bedrängt und konnte keine der vorgesehenen Nuancen anbringen. […] Allein das Geschenk in blauem Leder (Saxls Verdienst) rettet die Situation“.103 Warburg wurde in seinen Ausführungen gehetzt und war unzufrieden mit dem Empfang Stresemanns. Der als Geschenk überreichte strohmeyersche Druck half aus der misslichen Lage. So schrieb Warburg tags darauf an Strohmeyer: „Wie ich Ihnen schon telephonierte, hat Ihr Blatt dem Reichsminister Dr. Stresemann einen starken Eindruck gemacht: er hat sich wirklich sehr über Form und Inhalt des Blattes gefreut; wenn wir Ihr Kunstwerk nicht gehabt hätten, würde er die K.B.W. nicht in so guter Erinnerung behalten, da ich meinen Vortrag in Folge von Zeitbedrängnis ganz schauderhaft zusammenschneiden mußte.“104
Und im Tagebuch der K.B.W. notierte er: „Die Wirkung des Blattes auf Stresemann blieb nicht aus, schon Vormittags bei Drennig sah ich wie das Blatt einschlug […] Rat Merck sagte telephonisch, daß das Blatt Stresemann sehr gefallen habe. Mein Bruder Max stärkte mich auch im Glauben. Nachmittags 102
Idea Vincit, 1926. Linolschnitt von Otto Heinrich Strohmeyer, Harvard Art Museum, Fogg Art Museum, Gift of Paul J. Sachs, M3027. Eintrag Aby Warburg vom 20.12.1926, in: Ders.: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, S. 37. 104 WIA, GC, A. Warburg an Otto Strohmeyer, 21.12.1926. 103
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spat [sic] telephonierte Max an, daß Petersen mich antelephonieren werde um die Form zu finden, das Blatt an Briand und Chamberlain gelangen zu lassen.“105
Das strohmeyersche Blatt war ein Erfolg, und so bestellte Warburg 46 weitere Exemplare und verschenkte ungefähr 20 an zahlreiche Freunde, Bekannte und Familienmitglieder.106 Auch seinem Psychiater Binswanger, „dem Stammgast im Luftfahrzeug der Idea“ überreichte er ein Exemplar als Neujahrsgruß.107 Das Blatt zeigt ein schlichtes, neusachliches Flugzeug, welches einem Hangar entsteigt. Die Flügel tragen die Aufschrift „IDEA VINCIT“ und die Namen Briand, Chamberlain und Stresemann bilden den unteren Rand des Motivs. Den dreien war, gemeinsam mit dem Amerikaner Charles Dawes, für das in Locarno ausgehandelte Vertragswerk der Friedensnobelpreis verliehen worden. Deutschland hatte in Locarno die in Versailles festgelegten Westgrenzen anerkannt und sich verpflichtet, aufkeimende Konflikte gewaltfrei und unter Einschaltung des Völkerbundes zu lösen. Die drei Staatsmänner leiteten mit den Verträgen eine kurz währende Phase der Stabilisierung und Pazifizierung der europäischen Politik ein, in deren Verlauf Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wurde und Briand über die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu sinnieren begann. Warburg suchte, diesen „Geist von Locarno“ in seinem Geschenk an den von ihm verehrten Stresemann zu bündeln.108 Das lässt sich auch den Erklärungen entnehmen, die er jenen etwas verdutzten Bekannten gab, denen er eines der strohmeyerschen Blätter zugesandt hatte. So heißt es in einem Brief an Cyrus Adler vom 1. Februar 1927: „In dem Symbol der ‚Idea vincit‘ soll ausgedrückt sein, daß der Gedanke der Verständigung unter den europäischen Nationen – dem in der Konferenz von Locarno Briand, Stresemann und Chamberlain zu gehorchen begannen – schließlich doch einmal zu einer verlängerten Pause der Vernunft führen wird, kann, soll. Wenn man die politischen Verhältnisse in Europa kennt, dann wird man die anscheinende Selbstverständlichkeit, die in dieser scheinbar unkriegerischen Weisheit der Staatsmänner liegt, sehr hoch einschätzen, weil die Widerstände, die sich dagegen stemmen, noch unglaublich mächtig sind. Auch jetzt noch ist die Lage umstrittener als je; gerade darum haben wir von Hamburg aus, Stresemann in seinem Glauben an die Vernunft durch Zuspruch in diesem Symbol stärken wollen.“109
Allein der Sieg der Vernunft bereitete die Möglichkeit eines friedlichen und einigen Europa. „Die vereinigten Staaten von Europa liegen in der Luft“, schrieb Warburg an Felix von Eckhardt schon im September 1925.110 Wäh105
Eintrag Aby Warburg vom 21.12.1926, in: Ders.: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, S. 24. 106 Siehe: Eintrag Aby Warburg vom 26.12.1926, in: Ders.: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, S. 26. 107 UAT 443/31, Blatt 46. 108 Zum Vertrag von Locarno und der Stabilisierung der europäischen Beziehungen siehe: Ralph Blessing: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929, München 2008. 109 WIA, GC, Aby Warburg an Cyrus Adler, 1.2.1927. 110 WIA, GC, Aby Warburg an Felix von Eckardt, 10.9.1925.
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rend der kurzen Phase der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik schien dies eine erstrebenswerte und zukünftig sogar verwirklichbare Vision. Seinem Neffen Erich sandte Warburg am 18. August 1928 drei Exemplare des Blattes mit der Bitte, eines Frank Billings Kellogg zu überreichen: „Es soll mich freuen, wenn Mr. Kellogg Gelegenheit nehmen würde, dieses Motto als den Wahlspruch des Kommenden Deutschland zu publizieren, nur würde ich bitten darunter zu setzen: Linoleumschnitt von Strohmeyer 1926. Du kannst Mr. Kellogg gerne bei der Gelegenheit mitteilen, daß das Blatt dem Herrn Staatsminister Stresemann überreicht wurde, als er die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Hamburg besuchte.“111
Das war wenige Tage bevor der nach Briand und dem amerikanischen Außenminister Kellogg benannte Kriegsächtungspakt unterzeichnet wurde. Am 9. September 1928 hielt Warburg im Tagebuch der K.B.W. triumphierend fest: „Wir lesen in der Frankfurter Zeitung: […] ‚Reichsminister Stresemann hat einem französischen Blatt nach der Unterzeichnung des Kellogg-Paktes folgende Botschaft gegeben: ‚höher als die materielle Gewalt steht die Macht der Idee, die die Menschheit mit sich fortreißt.‘ […] Seht ihr wohl, er hat also ganz zu Recht 1926 die ‚Idea vincit‘ empfangen.“112 Doch trotz dieses Erfolges schienen die wenigsten Beschenkten etwas mit dem Bild anfangen zu können. Selbst der Kunstwissenschaftler Oscar Ollendorff schrieb an Warburg: „Nimm vielen Dank für das schöne Blatt! Du möchtest mein Urteil. Ungefähr in Kürze so: Es ist schneidige Bewegtheit. In diesem Sinne kann ich mich der künstlerischen Leistung bewundernd erfreuen. Der Zusammenhang aber mit dem Motto ‚Idea vincit‘ ist mir vorläufig schwierig trotz meiner Neigung zum Symbolischen.“113 Dabei scheint, nebst dem in der Briefmarke offensichtlich bekundeten Friedenswillen und Europagedanken, eine weitere Deutung des Bildes nahezuliegen, besonders dann, wenn eine Passage aus dem Schlangenritual-Vortrag hinzugezogen wird, die bereits angeschnitten wurde. Da heißt es: „Die naturwissenschaftliche Aufklärung räumt mit der mythologischen Verursachung auf. […] Der Ersatz der mythologischen Verursachung durch die technologische also nimmt ihr [der Schlange] den Schrecken, den der primitive Mensch empfindet. Ob sie durch diese Befreiung von der mythologischen Anschauung ihm auch wirklich hilft, die Rätsel des Daseins ausreichend zu beantworten, das wollen wir nicht ohne weiteres behaupten. Die amerikanische Regierung hat in wirklich bewundernswert energischer Weise Aufklärungsschulen […] zu den Indianern gebracht. Und ihr intellektueller Optimismus hat es anscheinend bewirkt, daß die Indianer-Kinder in artigen Anzügen und Schulschürzen zur Schule gehen und an die heidnischen Dämonen nicht mehr glauben. […] Gewiß mag dies Fortschritt sein. Aber ob die bildhaft denkende, wir wollen sagen, poetisch-mythologisch verankerte Seele der Indianer dabei zu ihrem Recht kommt, möchte ich nicht ohne weiteres bejahen. […] Wir aber wollen unsere Phantasie nicht unter dem Zwang des Schlangenbildes lassen, das zu den unterirdischen Primitiven führt. Wir wollen auf das Dach des Welt111
WIA, FC, Aby Warburg an Erich Warburg, 18.8.1928. Eintrag Aby Warburg vom 9.9.1928, in: Ders.: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, S. 340. 113 WIA, GC, Oscar Ollendorff an Aby Warburg, 16.1.1926. 112
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hauses steigen, den Kopf nach oben richten und denken, was auch Goethe gesagt hat: Wär’ nicht das Auge sonnenhaft – Die Sonne könnt’ es nie erblicken. In der Verehrung der Sonne trifft sich die ganze Menschheit. Und sie als das Symbol zu nehmen, das uns aus der nächtlichen Niederung nach oben führt, ist das Recht der Wilden wie des Gebildeten. Die Kinder stehen vor einer Höhle. Heraufbringen zum Licht ist die Aufgabe nicht bloß der amerikanischen Schule, sondern der Menschheit überhaupt.“114
Warburg wurde trotz seiner Skepsis von einer tiefen Hoffnung an den Sieg der Vernunft getragen, die auch dem stilisierten Flugzeug Auftrieb gab. Sein Briefmarkenentwurf ist also nicht nur als Ausdruck eines republikanischen, pazifistischen, europäischen und liberalen, sondern auch jenes aufklärerischen und wissenschaftlichen Geistes zu lesen, der zu Beginn des Kapitels geschildert wurde. Diesen Geist bündelte Warburg in dem Begriff der Idee, und es ist naheliegend, das Bild als aktualisierte Version des platonischen Höhlengleichnisses zu lesen. Dem Flieger gelingt, getragen und geleitet von der Idee, der Aufstieg aus dem an die Höhle erinnernden Hangar. Dass Warburg an eben diesen mittels der Vernunft zu beschreitenden Weg zum Licht, der in dem platonischen Höhlengleichnis dargestellt ist, gedacht haben mag, legt jener eben zitierte Abschnitt aus dem Schlangenritual-Vortrag nahe.115 Der dort geschilderte Weg führt aus der „nächtlichen Niederung“, aus dem magisch-mythischen Weltverhältnis zur Wissenschaft, zum „Dach des Welthauses“. Das „Heraufbringen zum Licht“ wird von Warburg zur Aufgabe der Menschheit erklärt. Warburg propagiert hier eine aufklärerische Teleologie. Es gilt, den Menschen aus der Höhle, aus der Welt der Schattenbilder zum Licht zu führen. Das ist Warburgs normativer Anspruch, den er in der ideavincit-Briefmarke verbildlichte. Sofern es noch eines bedürfte, gibt es ein weiteres Indiz, welches dafür spricht, den Briefmarkenentwurf als ein in die zeitgenössische Bildsprache übersetztes aviatisches Höhlengleichnis zu lesen. Sowohl Cassirer als auch Panofsky hatten sich in den vorausgegangenen Jahren im Dunstkreis der K.B.W. intensiv mit der platonischen Ideenlehre beschäftigt und versucht, ihre eigene Symbol- respektive Kunsttheorie im Verhältnis zur platonischen „Ästhetik“ zu positionieren.116 So hatte Cassirer in der K.B.W. einen Vortrag zu Eidos und Eidolon gehalten, der im Jahrbuch der Bibliothek erschien.117 Und im Anschluss daran spürte Panofsky die Verwandlungen der platonischen Idee auf und ging der Frage nach, wie denn gerade der Ideenbegriff des vermeintlich kunstfeindlichen Platon zu einem zentralen Konzept der Kunsttheorie werden konnte. Auch Panofskys Idea-Schrift wurde in der Schriften114
Warburg: Schlangenritual, S. 56f. Zur Höhlenausgangs- und Lichtmetapher siehe: Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt/M. 1989. 116 Siehe hierzu: Silvia Ferretti: Cassirer, Panofsky, and Warburg. Symbol, Art, and History, New Haven, CT u.a. 1989, S. 142–177. 117 Ernst Cassirer: Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 2, Leipzig 1924, S. 1–27. 115
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reihe der Bibliothek Warburg publiziert.118 Es lag in jenen Jahren in Warburgs Umfeld also viel Platon in der Luft. Es ist aber auch die in den Warburg-Nachrufen Panofskys und Cassirers verwendete Metaphorik, die eine Deutung der Idea vincit als Höhlengleichnis nahelegt. Der Lebensweg Warburgs, der am 26. Oktober 1929 starb, sein Forscherdasein werden als Aufstieg aus der Höhle zum Licht, ja, als ein Höhenflug zur Sonne gezeichnet. So ist in Panofskys Nachruf zu lesen: „[E]s ist das merkwürdige Ergebnis seines wissenschaftlichen Wirkens, daß all die dunklen Schächte, in die der Geist der Vergangenheit hinabgestiegen war und in die der Forscher ihm nachzufolgen wagte, sich schließlich immer wieder als abenteuerliche Wege zum Licht erwiesen.“119 Cassirer stellte bei seiner Grabrede Warburg als großen Wahrheitssuchenden dar. Warburg sei der „lebendige Mittelpunkt und der Brennpunkt der geisteswissenschaftlichen Forschung“ der Hamburgischen Universität gewesen, dessen Büchersammlung den „Eindruck einer großen Forscherpersönlichkeit und eines tiefgreifenden Forscherschicksals“ vermittelt habe.120 Warburgs großes Thema, so Cassirer, sei „der Gegensatz und die innere Spannung von Freiheit und Notwendigkeit“ gewesen. Und weiter heißt es dann: „Aus aller Unfreiheit und Gebundenheit heraus strebte er immer wieder ins Reich der geistigen Freiheit – in jenen ‚Denkraum der Besonnenheit‘, der ihm als das Letzte und Höchste galt, was menschliche Erkenntnis und menschliche Wissenschaft sich zu erringen vermag. […] Er wurde der Nacht, die tiefer-tief einzudringen drohte, Herr, weil in seinem Innern das helle Licht des Geistes leuchtete, das Licht des Suchers und Forschers, das ihn immer wieder in den Denkraum der Besonnenheit emporhob und rettete.“
Cassirer verglich Warburg abschließend mit Giordano Bruno, dem Warburgs letzte Studien gegolten hätten: „Und in der Tat gibt es Züge, in denen er [Warburg] sich gerade diesem Denker verwandt und nahe fühlen durfte. Denn Giordano Bruno ist der erste unter den Denkern der Renaissance, der ursprünglich noch ganz in der Sphäre des magischen Denkens gebunden, sich bewußt aus dieser Sphäre losringt. […] Ein bestimmtes, seelisch-geistiges Motiv ist es, das in Giordano Bruno’s [sic] philosophischen Werken und in seinen Dichtungen immer wieder anklingt: das Motiv des Fluges des endlichen Menschengeistes zur Sonne der einen unendlichen göttlichen Wahrheit. [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.] Der menschliche Geist weiß, daß er das Ziel nicht erreichen wird und kann, daß sein Flug zuletzt, gleich dem des Ikarus, mit dem Sturze enden muß – aber er wagt trotz allem diesen Flug, weil er nur in ihm seines ewigen Seins und seiner ewigen Bestimmung sich versichern kann. Denn besser ist der Sturz aus der Höhe, als das Haften am Boden, an den Niederungen des Daseins.“
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Erwin Panofsky: „Idea“. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig 1924. Panofsky: A. Warburg, S. 3. 120 Ernst Cassirer: Worte zur Beisetzung von Prof. Dr. Aby M. Warburg, in: Anonymus: Aby M. Warburg zum Gedächtnis, Darmstadt 1929, o. S. Dort auch die folgenden Zitate. 119
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Auch Cassirer bemüht also „ein gar wunderliches Bild“, wie es in der schleiermacherschen Übersetzung des Höhlengleichnisses heißt.121 Er setzt, gleich Warburg mit seiner Idea vincit, das ikarisch-aviatische Bild ein, um „das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge“, so das Höhlengleichnis, und den „Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis“ zu verdeutlichen.122 Cassirer sollte nach Warburgs Tod dessen Ringen um die „Wiedereroberung Athens aus Alexandrien“ aus dem englischen, schwedischen und schließlich amerikanischen Exil weiterführen. Hiervon zeugt sein 1946 posthum erschienenes Vom Mythus des Staates.123 Wie Warburg erkannte Cassirer, dass der Mythos nie gänzlich besiegt werden könne. Daher fragte er, was die Philosophie tun könne, „um uns in diesem Kampf gegen die politischen Mythen zu helfen.“124 Cassirer kam zu derselben schmerzlichen Erkenntnis, die Warburg gequält und das liberale Weltbild mit dem dazugehörigen Fortschrittsdenken insgesamt in eine Krise gestürzt hatte: „Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die wir sie hielten. Die großen Denker, Forscher, die Dichter und Künstler, die die Grundlagen für unsere westliche Kultur legten, waren oft überzeugt, daß sie für die Ewigkeit gebaut hätten. […] Unsere Wissenschaft, unsere Dichtung, unsere Kunst und unsere Religion sind nur die obere Decke einer viel älteren Schicht, die in die große Tiefe hinabreicht. Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können. […] Die Mächte des Mythus wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle und moralische, ethische und künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythus gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren beginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.“125
Der Erste Weltkrieg hatte jene von Cassirer beschworenen intellektuellen, moralischen, ethischen und künstlerischen Kräfte, derer es zu einem „Kampf gegen die politischen Mythen“ bedurft hätte, ihrer Wirkungsmacht und ihrer Glaubwürdigkeit beraubt. Durch den Krieg waren die bereits zur Jahrhundertwende deutlich gewordenen Risse in der liberalen Ordnung zu deutlichen Brüchen ausgeweitet worden. Insbesondere die temporale Ordnung, das Fortschrittsnarrativ hatte Schaden gelitten. Angesichts des maschinisierten Todes, des millionenfachen Leids und der auf den Krieg folgenden Umwälzungen schien eine Deutung der Geschichte als Fortschritt unmöglich. Liberale, wie Warburg und Cassirer, hielten an der dem Fortschritt zugrunde liegenden Vernunftteleologie fest. Die Vernunft blieb für sie jene norma121 Platon: Politeia, 515a. Im Folgenden zit. nach: Platon: Politeia. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, in: Ders.: Werke in 8 Bänden, Bd. 4, hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1990². 122 Ebd., 517b. 123 Zu Cassirer und dem Mythos siehe: Tobias Bevc: Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft. Ernst Cassirer und die Kritische Theorie, Würzburg 2005, S. 141–210. 124 Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 387. 125 Ebd., S. 389f.
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tive Leitidee, die es vermochte, aus dem Chaos herauszuführen. Obwohl sie selbst zur Dekonstruktion der kulturevolutionistischen Theorien, die das Fortschrittsnarrativ des 19. Jahrhunderts widerspiegelten, einen entscheidenden Beitrag geleistet hatten, konnten sie nicht umhin, den faschistischen, aus dem Weltkrieg hervorgehenden Versuch zur Ordnung des Chaos als Rückfall in eine frühere Stufe des Menschenalters wahrzunehmen.126 So heißt es in Cassirers Vom Mythus des Staates: „Das plötzliche Aufkommen der politischen Mythen im zwanzigsten Jahrhundert hat uns gezeigt, daß diese Hoffnungen Comtes und seiner Schüler [auf eine exakte Sozialwissenschaft] verfrüht waren. Politik ist noch weit davon entfernt, eine positive Wissenschaft zu sein, geschweige denn eine exakte Wissenschaft. Ich zweifle nicht, daß spätere Generationen auf viele unserer politischen Systeme mit denselben Gefühlen zurückblicken werden, mit denen ein moderner Astronom ein astrologisches Buch oder ein moderner Chemiker einen alchimistischen Traktat studiert. In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. Hier scheint keine klar verankerte kosmische Ordnung zu bestehen; wir sind immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht.“127
Cassirer beklagte, dass die Verwissenschaftlichung der Politik und des Sozialen noch nicht gelungen sei und dass daher weiterhin das „magische“ Denken vorherrsche:128 „Der Glaube, daß der Mensch durch geschickten Gebrauch magischer Formeln und Riten den Lauf der Natur ändern kann, hat Hunderte und Tausende von Jahren in der menschlichen Geschichte geherrscht. Trotz aller unvermeidlichen Mißerfolge und Enttäuschungen klammerte sich die Menschheit immer noch hartnäckig, gewaltsam und verzweifelt an diesen Glauben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in unseren politischen Handlungen und in unserem politischen Denken die Magie immer noch ihr Feld behauptet.“129
Der faschistische Versuch zur mythischen Ordnung des Chaos stellte für die meisten Liberalen die Wiederkehr eines vergangenen, überwunden geglaubten, „primitiven“ Zustandes der Menschheit dar. Der Logos oder eben das, was jene liberalen Aufklärer für das „Licht der Wahrheit“ hielten, war dem Mythos stets vorzuziehen. Der Mythos war für sie stets das Andere, denn die metaphysischen Grundlagen, die Mythizität und Geschichtlichkeit des eigenen Ordnungsentwurfs befanden sich ebenso im toten Winkel ihrer Wahrnehmung, wie die Tatsache, dass ihr Versuch zur Lösung der Aufgabe der Ordnung nur einer unter vielen war. 126
Zu den kulturevolutionistischen Theorien und ihrem Verhältnis zum Fortschrittsnarrativ siehe: Bernd Weiler: Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der „jungen“ Anthropologie, Bielefeld 2006. Im Mittelpunkt von Weilers Überlegungen zur Kritik der Cultural Anthropology an der Fortschrittsidee steht insbesondere Franz Boas, mit dem Warburg vor seiner Reise zu den Pueblo-Indianern im Smithsonian Institute in Washington zusammengekommen war. 127 Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 386. 128 Zur Verwissenschaftlichung des Sozialen siehe: Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22/1996, S. 165–193. 129 Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 386f.
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I. Sehnsucht nach Ordnung
Die zeitliche Hierarchisierung von Liberalismus und Faschismus, von Logos und Mythos ging auf das aufklärerische Denken zurück. Die Aufklärung hatte ihren auf der „Vernunft“ gründenden Ordnungsentwurf nicht zuletzt dadurch legitimiert, indem sie ihn vom Ordnungsentwurf der feudalen Ständegesellschaft absetzte. Der modernen Zeitlichkeitserfahrung entsprechend wurde der aufklärerische Entwurf zum Neuen und daher Besseren erklärt, der feudale hingegen wurde als verrostet, verstaubt und veraltet abgewertet. „Der Fortschritt“, so Reinhart Koselleck, „und seine Nachbarbezeichnungen artikulieren die Andersartigkeit der Vergangenheit – als schlechter – gegenüber der Neuartigkeit der Zukunft – als besser.“130 Dieses aus der Aufklärung stammende und in der Modernisierungstheorie fortwirkende zeitliche Modell ist mitursächlich für die jahrzehntelang gültige Unvereinbarkeit von Faschismus und Moderne. Setzt man Moderne mit dem „Prozess okzidentaler Rationalisierung“,131 das „Projekt der Moderne“ mit dem Projekt der Aufklärung gleich, so erscheint der Nexus zwischen Faschismus und Moderne selbstverständlich paradox.132 Doch die Kategorisierung des Faschismus als un- und antimodern, die in der Faschismusforschung noch lange Zeit vorherrschte, geht auf die normative Gleichsetzung der aufklärerisch-liberalen, „fortschrittlichen“ Ordnung mit der „Moderne“ zurück. Wie in der Einleitung gezeigt wurde, wird Moderne in vorliegender Untersuchung jedoch mit Bauman als Bewusstsein von Ordnung als Aufgabe begriffen. Der liberale Ordnungsentwurf mutiert dann zu einem Versuch zur Ordnung des Chaos unter anderen. Warburg gab zwar die Chronologie von Mythos als dem Früheren und Logos als dem Späteren preis, doch er hielt an seiner normativen Hierarchisierung von Mythos und Logos, an dem Vorrang der Vernunft, fest. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wurde zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichwertigen. Die idea, die den Philosophen aus der Höhle lockte, das Licht der Vernunft also, sollte der Leitstern sein, dem die europäischen Politiker und Bevölkerungen zu folgen hatten. Es würde zwar immer wieder, wie der Weltkrieg und die eigene psychische Erkrankung Warburg gezeigt hatten, Rückfälle geben – an dem Ziel eines vernunftgeleiteten Fortschritts der Menschheit zu wahrer Humanität sollte dennoch festgehalten werden. Wie unlängst auch Hartmut Böhme für die Gegenwart gezeigt hat, aber eben auch Warburg während des Ersten Weltkrieges schon feststellen musste, war es ein Trugschluss, die Vision der Aufklärung von der vollständigen Entzauberung und Rationalisierung der Welt auf die Wirklichkeit zu übertragen.133 Auch Sigmund Freud hatte dies deutlich erkannt. Und so heißt es bei
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Koselleck: Fortschritt, S. 389. Zum Prozess okzidentaler Rationalisierung siehe: Weber: Vorbemerkung, sowie ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 132 Zum „Projekt der Moderne“ siehe: Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. 133 Siehe: Böhme: Fetischismus und Kultur. 131
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ihm ganz nüchtern und lakonisch und im scheinbaren Einklang mit Bruno Latours „Wir sind nie modern gewesen“:134 „Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits einen Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchteten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten.“135
Nach dem Ersten Weltkrieg entfaltete sich nebst der liberalen und der marxistischen die faschistische Vision der Moderne. Während sich deren Wurzeln bis zur Romantik zurückverfolgen lassen, offenbarten sich ihre ersten Triebe in den sowohl ästhetischen als auch sozialen modernistischen Bewegungen der Jahrhundertwende.136 Diese modernistischen Bewegungen verunglimpften die Wissenschaft, die im Mittelpunkt der liberalen, aber auch der marxistischen Ordnung stand, als positivistisch, szientistisch, historistisch und daher lebensfeindlich. Sie stellten ihr die Kunst und das „Erhabene“ entgegen. Einer ihrer Vertreter war Gabriele D’Annunzio, dessen interventionistisches Gebaren im Mai 1915 Warburgs Aufmerksamkeit auf sich zog und seinen Zorn erregte. Die Auseinandersetzung zwischen Warburg und D’Annunzio, die im Folgenden geschildert wird, lässt sich als Personalisierung zweier konkurrierender Ordnungs- und Moderneentwürfe lesen.137 In der Gegenüberstellung ihrer jeweiligen Kodierung der Aviatik werden jene Risse bereits schemenhaft deutlich, welche die Epoche insgesamt prägen sollten. Ulrich Raulff sah die Idea vincit in „eine[r] polemische[n] Spannung“ zu dem „von Warburg gehassten Aviatiker und Dichter des Faschismus, d’Annunzio“.138 Es handle sich dabei, so Raulff weiter, um einen „Versuch der Gegen-Aneignung“ des Fliegermotivs. Wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, waren die d’annunzianischen Beiträge zum Aviatikdiskurs Warburgs Idea vincit in der Tat diametral entgegengesetzt. Die polemische Spannung zwischen diesen Entwürfen entlud sich entlang eines Bruchs in der tektonischen Ordnung Europas. Und während sich Warburg unermüdlich bemühte, diesen Bruch zu überbrücken, tat D’Annunzio sein Möglichstes, um ihn zu vertiefen. Es sollte ihm gelingen. Seit dem Mai 1915 wurde auch Italien von jenem Erdbeben erfasst, in dem die liberale, europäische Ordnung zerbrach. 134
Siehe: Latour: Wir sind nie modern gewesen. Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 44. Zur „geistigen Verwandtschaft“ von Warburg und Freud siehe: Georges Didi-Huberman: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002. 136 Zu den ästhetischen und sozialen modernistischen Bewegungen siehe: Griffin: Modernism and Fascism, S. 43–69 u. S. 130–159. 137 Vgl. hierzu: Fernando Esposito: Warburg und D’Annunzio – Antipoden?, in: Gottfried Korff (Hrsg.): Kasten 117. Aby Warburg und der Aberglaube im Ersten Weltkrieg, Tübingen 2007, S. 301–323. 138 Siehe hierzu Raulff: Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee, S. 147. Dort auch das folgende Zitat. 135
2. Aufstieg des Ikarus D’Annunzio der fliegende Mythopoet Der 1863 im abbruzzischen Pescara geborene Gabriele D’Annunzio ist sowohl der bekannteste als auch der kontroverseste italienische Dichter des Fin de Siècle. Er war nicht allein ein renommierter Lyriker, Dramatiker und Romancier, er war auch ein notorischer Lebemann und Dandy sowie ein Politiker und Kriegsheld.1 Nachdem er bereits 1924 vom britischen Journalisten Sisley Huddleston zum Johannes der Täufer Mussolinis gekürt wurde, schmähte man ihn nach 1945 aufgrund seiner Affinität zum Faschismus. Doch literarisch blieb D’Annunzio ein Referenzpunkt. Und sei es, weil man sich von seinem symbolistischen, besonders pathetischen Stil zu distanzieren suchte. Trotz des unbestrittenen Rangs seines Werkes stand il vate, der Dichter, wie er in Italien genannt wird, auch immer aufgrund seines extravaganten Lebens und seiner amourösen Abenteuer, die ihn bereits zu Lebzeiten zu einer medialen Ikone hatten werden lassen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die D’Annunzio nicht scheute, sondern selbst zu schüren wusste. Davon zeugt unter anderem seine Villa Il Vittoriale bei Gardone am Gardasee.2 Am 22. Dezember 1923 schenkte sie der Dichter den Italienern als Siegesdenkmal.3 Mussolini wiederum versicherte ihm 1924, es war sein Weihnachtsgeschenk an D’Annunzio, die Villa zu einem Nationaldenkmal erklären zu lassen. Der Dichter betrieb jedenfalls mit der Einrichtung der Villa die Musealisierung seiner Person. So zieren diverse Kriegsmaschinen, mit denen D’Annunzio agiert und agitiert hatte, die Villa und die dazugehörigen Parkanlagen. Am 17. Mai 1925 wurde die d’annunzianische Sammlung erweitert. Zu dem Bug des italienischen Kriegsschiffes Puglia, der SVA 10, mit der der Dichter nach Wien geflogen war, und dem Torpedoboot, mit dem er die sogenannte Beffa die Buccari, den Streich von Bakar, eine Flaschenpostaktion gegen die österreichisch-ungarische Marine im Kvarner Golf durchgeführt hatte, kam nun ein S16-Wasserflugzeug hinzu, dem D’Annunzio den Namen Alcyone gab. Doch D’Annunzio wird hier weder aufgrund seiner Egomanie noch wegen seiner Memorabilien- und Militariasammlung Beachtung geschenkt. Vielmehr ist 1
Siehe: John Woodhouse: Gabriele D’Annunzio. Defiant Archangel, Oxford 1998. Woodhouses Biographie ist unter den zahlreichen Veröffentlichungen zum Leben des Dichters die einschlägigste. Dort finden sich auch umfassende Angaben zu weiterführender Literatur. 2 Die Villa beziehungsweise das Museum beherbergt auch das D’Annunzio-Archiv. Siehe für einen Überblick: http://www.vittoriale.it sowie Wolfgang Ernst: Museale Kristallisation: Il Vittoriale degli Italiani, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 309–320. 3 Siehe hierzu und zum Folgenden: Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 353–380.
2. Aufstieg des Ikarus. D’Annunzio der fliegende Mythopoet
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er der prominenteste Sprecher im italienischen Aviatikdiskurs und ein Protagonist der mythischen Moderne. In diesem Kapitel wird der Kontext erörtert, in den D’Annunzio die Aviatik positionierte, und verdeutlicht, inwiefern er als Antipode Aby Warburgs und seines Ordnungsentwurfs verstanden werden kann. Bereits der Name Alcyone erweist sich als Spur. Im Jahr 1903 hatte Gabriele D’Annunzio das zweite und dritte Buch seiner Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi veröffentlicht, also seiner Lobgesänge des Himmels, des Meers, der Erde und der Heroen. Die einzelnen Bücher seiner Lobgesänge hatte er nach den Plejaden benannt: Maja, Elektra, Alcyone sowie Merope. Die Sterne trugen gemäß der griechischen Mythologie die Namen der Töchter des Atlas und der Plejone. Es handelte sich um jene Nymphen, die vor Orion in den Himmel geflüchtet sein sollen. Im dritten Buch, Alcyone, waren mehrere Gedichte der mythischen Gestalt des Ikarus gewidmet.4 In einem davon, L’ala sul mare, Der Flügel auf dem Meer, heißt es: „Wer wird sie einsammeln? / Wer mit stärkerem Bande / die verstreuten Federn zu vereinen wissen, / um erneut den tollen Flug zu versuchen?“5 D’Annunzio selbst sollte „die verstreuten Federn“ einige Jahre später, wie noch deutlich werden wird, mit einem mythischen Bande vereinen und sich am „tollen Flug“ versuchen. Bereits die von D’Annunzio bemühten mythischen Gestalten verweisen auf eine Verbindung zwischen dem italienischen Dichter und Aby Warburg, die beide von ihnen eingenommen waren. Letzterer hatte in der Nymphe das dionysische Element der Renaissance erkannt und an dem zu Luthers Zeit weiterblühenden Sternenglauben die Zerspaltung zwischen Magie, Mythos und Wissenschaft festgemacht.6 Doch weder die Nymphe noch die Astrologie stehen im Zentrum von Warburgs Gegnerschaft zu D’Annunzio. Vielmehr ist es auch hier der Erste Weltkrieg, an dem sich beide Geister entzündeten. Die geistigen Wege D’Annunzios und Warburgs kreuzten sich in den Monaten um den italienischen Kriegseintritt, den Warburg zu verhindern und D’Annunzio zu forcieren suchte. Der von Warburg sehr leidenschaftlich geführte Konflikt war eher einseitiger Natur. Denn D’Annunzio nahm von Warburgs Anstrengungen wohl kaum Notiz. Dennoch lohnt es sich, diese Auseinandersetzung zu betrachten, denn Warburgs Kampf wider D’Annunzio und das „Alexandrien“, welches er vertrat, ist paradigmatisch für jenen Antagonismus, der sich zwischen der liberalen und der entstehenden faschistischen Ordnung entspann. Denn D’Annunzio ist der geistige Vater des faschistischen politischen 4
Siehe zum Entstehungsprozess und zu den Bezügen der Ikarus-Gedichte, insbesondere des Ditirambo IV, di Icaro: Pietro Gibellini: Il volo di Icaro, in: Ders.: Logos e Mythos. Studi su Gabriele D’Annunzio, Florenz 1985, S. 119–132. Sofern nicht anders angegeben, sind im Folgenden alle Übersetzungen durch den Verfasser erfolgt, F.E. 5 Gabriele D’Annunzio: L’ala sul mare, in: Ders.: Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi, Libro Terzo Alcyone, Mailand 19567 [Or. 1903], S. 760. 6 Zu Warburgs Beschäftigung mit der florentinischen Nymphe siehe: Raulff: Wilde Energien, S. 17–47.
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I. Sehnsucht nach Ordnung
Stils und, nach seinen eigenen Worten, dessen Verkünder. So schrieb er in einem Brief an Mussolini vom 9. Januar 1923: „Wurde nicht das Beste in der Bewegung, die ‚faschistisch‘ genannt wird, von meinem Geist gezeugt? Wurde die heutige nationale Erhebung nicht von mir verkündet [annunziata] vor nun – oh weh – vierzig Jahren, und wurde sie nicht vom Condottiere von Ronchi gefördert? Sind mein knapper Befehl gegen den Deserteur Misiano und meine qualvolle Aufopferung während der Blutweihnacht nicht höchste Beispiele der ‚faschistisch‘ genannten Tat?“7
In diesem Kapitel wird dieser von D’Annunzio vorweggenommene, faschistische politische Stil, in dessen Zentrum der Mythos stand, beleuchtet. Damit wird zum einen die Mythosdefinition der Einleitung konkretisiert. Zum anderen wird eine Perspektive auf den Faschismus eröffnet, welche die Ursprünge dieses mythischen Ordnungsmodells im Ersten Weltkrieg verortet.
a. Der Kriegsprophet vom Mai Am 29. Juni 1915, also etwa einen Monat nach der italienischen Kriegserklärung an Österreich-Ungarn, schrieb Warburg an seinen Assistenten Saxl: „Nächstens will ich in d[er] Gesellschaft d[er] Bücherfreunde einen Vortrag über italienische Kriegslite[ratur] halten […]. Ich studiere augenblicklich die Type d’Annunzio, eigentlich doch sehr interessant; Jetzt ist er – der schon im Abendrot der 100 000 francs verglühen wollte, anstatt militärisch ein[zugreifen?] wieder nach Paris in seine Apachen Kaschemme zurückgekehrt und [lässt] die Rubinstein f[ür] sich verdienen. Er ist übrigens kein Jude; Rappaport sind anständige Leute; er wird wo[h]l in einer Matrosenkneipe von Pescara seine Unheilsketten zu suchen haben: da gab es Serapis und Isis Diener. Für mich ist der Kerl ein Archigallus redivivus, der die Ekstase der Gutmann der Vernunft mimte gegen gutes Honorar.“8
Der „Archigallus“, dessen Wiedergeburt D’Annunzio laut Warburg darstellte, war in der römischen Staatsreligion der kastrierte Oberpriester der Kybele.9 Warburg verunglimpft damit nicht nur D’Annunzio, sondern stellt eine Verbindung zu einem erst wenige Wochen zurückliegenden Ereignis her, welches Warburg Anlass zur Beschäftigung mit D’Annunzio gegeben haben wird, D’Annunzios Einweihung des Denkmals für die „Tausend“ Garibaldis am Felsen von Quarto.10 Kybele beziehungsweise die Mater Magna wurde als 7
Brief D’Annunzios an Mussolini vom 9.1.1923, in: Renzo De Felice/Emilio Mariano (Hrsg.): Carteggio D’Annunzio – Mussolini (1918–1938), Mailand 1971, S. 38. 8 WIA, GC, Aby Warburg an Fritz Saxl, 29.6.1915. 9 Siehe zum Archigallus und dessen Rolle beim Kybele-Kult in der Antike: Sarolta A. Takács: Eintrag: Kybele, in: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.): Der Neue Pauly, Bd. 6, Stuttgart 1999, Sp. 950–956. 10 Vgl. Esposito: Warburg und D’Annunzio – Antipoden? sowie Claudia Wedepohl: „Agitationsmittel für die Bearbeitung der Ungelehrten“. Warburgs Reformationsstudien zwischen Kriegsbeobachtung, historisch-kritischer Forschung und Verfolgungswahn, in: Ebd., S. 325–368. Siehe zudem: Bettina Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charisma-
2. Aufstieg des Ikarus. D’Annunzio der fliegende Mythopoet
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heiliger Stein verehrt, und der „Oberpriester“ D’Annunzio hatte am 5. Mai am Felsen von Quarto seine berühmte und an zukünftige Opfer gemahnende Rede gehalten. Diese Rede war der Auftakt zum sogenannten maggio radioso, dem „strahlenden Mai“ 1915, in dem die Interventionisten Italiens Kriegseintritt forcierten.11 D’Annunzio hatte die ihm gebotene Gelegenheit nicht nur zur Agitation für den italienischen Kriegseintritt auf Seiten der Entente genutzt, sondern zugleich seine Rückkehr aus dem wenig ruhmreichen französischen Exil inszeniert. In seinen Taccuini, den Tage- und Notizbüchern, lautet der Eintrag vom 7. März: „Gibt es eine großartigere Gelegenheit? Ich werde gehen und die garibaldinische Legion mit mir führen, die rote Welle. […] Von jedem Teil Italiens werden die roten Geister herbeieilen können. Eine ungestüme Macht wird sich an der ewigen Bronze zusammendrängen. Wo die Tausend die Anker lichteten, dort werden die neuen Tausend anlegen. Vom Felsen von Quarto aus wird sich das italienische Heer an die Grenzen begeben. Die Bewegung wird unwiderstehlich sein. […] Endlich der Lohn für mein geduldiges und so melancholisches Harren, für mein zu langes Exil. Eine poetische Vision vermag in militante Wirklichkeit übersetzt zu werden. Nach Quarto zu gelangen, nicht als gewöhnlicher Redner, sondern als Führer der Jugend, als Vermittler zweier Generationen. Das Tyrrhenische Meer in einem Schiff überqueren, geladen mit Blut, welches ungeduldig ist, vergossen zu werden. […] Es ist unmöglich, dass Italien, sei es auch blind und taub, das Zeichen nicht sehe, den Appell nicht höre, das eine wie das andere angeregt von diesem Felsen von Quarto, während zweitausend bewaffnete junge Männer – geführt vom Enkel des Helden – das feierliche Denkmal umstellen und hernach aufbrechen, um zu siegen und zu sterben.“12
Tatsächlich begann D’Annunzio an jenem 5. Mai 1915, seine poetische Vision in militante Wirklichkeit zu übersetzen. D’Annunzio vermochte es, Kunst und Politik in einem sakralen Mythos zu vereinen. Daraus ergab sich nicht allein ein neuer politischer Stil, der die folgenden Jahrzehnte prägen sollte, sondern es wurde zudem die religiöse Dimension des Politischen erweitert. Was in Quarto seinen Anfang nahm, sollte D’Annunzio bis zum fiumanischen Unternehmen perfektioniert haben.13 Die zukünftige faschistische Rhetorik und Gestik, die Inszenierung der Tat und die dazugehörige Semantik fanden in D’Annunzio ihre erste Objektivierung. Das reicht von dem von ihm eingeführten „römischen Gruß“ und dem Schlachtruf „Eia eia alalà“ bis zur tischer Führer, Frankfurt/M. 2004, S. 46–57 sowie Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 283–294. 11 Zum maggio radioso siehe u.a.: Mario Isnenghi/Giorgio Rochat: La grande guerra, Mailand 2004 [repr.], S. 133–136. Zu D’Annunzios Rolle im maggio radioso und seiner rhetorischen Brandstiftung siehe zudem: Mario Isnenghi: Le guerre degli italiani. Parole, immagini, ricordi 1848–1945, Bologna 2005, S. 44–52. 12 Gabriele D’Annunzio: Taccuini, hrsg. v. Enrica Bianchetti u. Roberto Forcella, Mailand 1965, S. 713–715. 13 Zu D’Annunzio in Fiume siehe: Vogel-Walter: D’Annunzio; Claudia Salaris: Alla festa della rivoluzione. Artisti e libertari con D’Annunzio a Fiume, Bologna 2002; Hans Ulrich Gumbrecht/Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996; darin insbesondere Gumbrecht: I redentori della vittoria sowie Michael A. Leeden: The First Duce, Baltimore, MD 1977.
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rednerischen Vereinnahmung der Masse, mit Vorliebe von einem Balkon aus, und der Inszenierung des „Marsches von Ronchi“. Seinen Höhepunkt findet es jedoch in der kaum zu überbietenden Sakralisierung der Nation und ihrer „Märtyrer“. Durch seinen politischen Stil wurde die Politik um jene ästhetische Dimension erweitert, die bereits Walter Benjamin als Signatur des Faschismus kennzeichnete.14 Diese ästhetische, aber auch sakrale Dimension d’annunzianischer Politik wird bereits in der Inszenierung von Quarto deutlich, in dem der erwünschte Kriegsbeitritt Italiens in Kontinuität zum Risorgimento und zu Garibaldi gestellt wurde.15 Gemäß der Hagiographie des Risorgimento brachen Garibaldi und seine circa 1000 Freiwilligen von einem dem Genueser Viertel Quarto vorgelagerten Felsen 1860 nach Sizilien auf, um die Einigung Italiens einzuleiten.16 Ein prädestinierter Ort also, um für den Krieg zu agitieren. Denn der nationalistische Interventionismus suchte den erwünschten Kriegsbeitritt Italiens auf Seiten der Entente in eben jene Tradition des Risorgimento zu stellen. Aus nüchterner Interessenpolitik wurde damit die Notwendigkeit, dem Nationsgedanken und der Geschichte gerecht zu werden. Denn die Interventionisten wollten den Krieg als Vollendung der italienischen Einigung durch die Befreiung der terre irredente, also der noch unter habsburgischer Herrschaft befindlichen „unerlösten Gebiete“, verstanden wissen und als Kampf für ein più grande Italia, für ein größeres Italien. 14 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1980, S. 471–508; dort (S. 506) heißt es: „Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. […] Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus“ [Hervorhebung im Or.]. Bei aller Betonung dieser ästhetischen Dimension der faschistischen Politik, die entscheidend für den neuen Stil war, sollte der zweite für diesen Stil entscheidende Faktor nicht unerwähnt bleiben, die Gewalt. Siehe hierzu: Reichardt: Faschistische Kampfbünde. 15 Es böte sich auch hinsichtlich der Frage eines spezifisch faschistisch antihistoristischen Geschichtsverständnisses ein interessanter Vergleich zu Mussolinis Einweihung des Anita (Garibaldi)-Monuments am 4.6.1932 zum fünfzigsten Todestag Garibaldis an. Hier stellte Mussolini die Schwarzhemden in die direkte Nachfolge der Rothemden Garibaldis. Siehe hierzu Claudio Fogu: Fascism and Historic Representation: The Garibaldian Celebrations, in: JCH 31/1996, S. 317–345. Hier wie dort wird Geschichte zur instrumentalisierbaren Verfügungsmasse. Das historistische Verständnis eines kontinuierlichen und linearen Geschichtsverlaufs wird aufgekündigt und mit ihm zugleich die liberale Vorstellung des Fortschritts. Eine nietzscheanische „monumentalische“ Historie tritt an dessen Stelle, die auf ihren Nutzen hin betrachtet und nur dann hervorgeholt und repräsentiert wird, wenn sie dem „Leben“ dienlich ist. Siehe zum antihistoristischen Diskurs in Deutschland und dessen Zusammenhang mit der Aufkündigung der liberalen Fortschrittskategorie: DoeringManteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. 16 Zu Garibaldi und seinem „Zug der Tausend“ siehe u.a.: Alfonso Scirocco: Garibaldi. Battaglie, amori, ideali di un cittadino del mondo, Rom u.a. 2001. Zum Kult um Garibaldi und seine Heroisierung siehe: Lucy Riall: Garibaldi. Invention of a Hero, New Haven, CT 2007.
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D’Annunzios Auftritt war somit eine nützliche Inszenierung und ein wirkungsmächtiger Akt symbolischer Politik, der nicht nur dem Poeten selbst und der Sache der Interventionisten diente, sondern ebenso der Regierung Salandra.17 Denn mit der Unterzeichnung des geheimen Londoner Protokolls am 26. April war Italiens Kriegsbeitritt bereits beschlossen.18 Nur hatte sich die Regierung noch nicht bequemt, sich dazu zu bekennen, geschweige denn es der italienischen Öffentlichkeit mitzuteilen. Dem divino poeta, dem göttlichen Dichter wie D’Annunzio auch genannt wurde, traute man zu, die Gemüter derart zu erhitzen, dass der Kriegsbeitritt im In- und Ausland als Erfüllung des Volkswillens erscheine. Und diese Rechnung ging teilweise auf. Seine weihevolle Rede von Quarto beendete der „Oberpriester“ D’Annunzio mit einer Bergpredigt ganz eigener Art. Dort heißt es: „Selig die Jungen, die es nach Ruhm hungert und dürstet, weil sie gesättigt werden. Selig die Barmherzigen, weil sie leuchtendes Blut stillen, strahlenden Schmerz verbinden werden. Selig, die reinen Herzens sind, selig, die mit Siegen zurückkehren, weil sie das verjüngte Antlitz Roms, die neu gekrönte Stirn Dantes und die triumphale Schönheit Italiens erblicken werden.“19
Der „Kriegsprophet vom Mai“, so Warburg an Emil Schaeffer am 7. März 1916, weihte weniger das Denkmal als vielmehr die Nation und den von ihm herbeigesehnten Krieg.20 Hier kommt die mythische Struktur der d’annunzianischen Agitation und damit sein Beitrag zur Sakralisierung und Ästhetisierung der Politik und zur Nationalisierung der Massen bereits zum Vorschein. Der Krieg und seine „Notwendigkeit“ werden nicht in der Sache begründet und rational hergeleitet. Vielmehr werden sie in Zusammenhang mit der Sphäre des Heiligen gebracht, und durch diesen Zusammenhang in ihrem Sein begründet. Der Krieg für die Nation wird der linearen Zeit enthoben und in eine heilige Zeit des Ewigen und Transzendenten gestellt. Dadurch wird er sowohl glorifiziert als auch naturalisiert. Durch die ästhetisierende Übersetzung in eine mythische Zeit werden die existentiellen Ängste, die der Krieg erzeugt, zwar nicht gänzlich gebannt, doch dem Kriegstod wird ein höherer und transzendenter Sinn verliehen. Der Krieg wird von D’Annunzio geheiligt und der Kriegstod wird zu einem Opfer für das (ewige) Leben der Nation. 17
Zu D’Annunzios Rolle im maggio radioso siehe: Mario Isnenghi: Il mito della grande guerra, Bologna 20025, S. 105–108. Zu den Verhandlungen und Beweggründen, die zu Italiens Kriegsbeitritt auf Seiten der Entente führten siehe: Gian Enrico Rusconi: Das Hasardspiel des Jahres 1915. Warum sich Italien für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg entschied, in: Johannes Hürter/Ders. (Hrsg.): Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, S. 13–52 sowie Holger Afflerbach: Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner. Ursachen und Folgen des italienischen Kriegseintritts im Mai 1915, in: Ebd., S. 53–69. 19 Gabriele D’Annunzio: Orazione per la sagra dei Mille, in: Ders.: Scritti giornalistici 1889–1938, Bd. 2, hrsg. und eingeleitet v. Annamaria Andreoli, Mailand 2003 [Or. 1915], S. 675–685, S. 684. Im Folgenden werden die aus den von Andreoli herausgegebenen Scritti giornalistici stammenden Reden und Artikel mit der Sigle SG angegeben. 20 WIA, GC, Aby Warburg an Emil Schaeffer, 7.3.1916. 18
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Seine vor versammelten Studenten in Genua am 7. Mai gehaltene Oration verdeutlicht dies weiter: „Heute Nacht, vor dem Tagesanbruch (und möge es ein Tagesanbruch sein, der in seinen morgenroten Fingern den Speer unseres römischen Gottes schwingt), heute Nacht werden viele von euch zu fernen Ländern aufbrechen, zu fernen Feuerstellen aufbrechen. O Botschafter des Glaubens, o Pilger der Liebe, es entflamme in eurer Brust jenes selbige Feuer, welches in der nächtlichen Jugend am Felsen von Quarto brannte! […] Heute Nacht, wie man in der homerischen Nacht von Berg zu Berg die den Sieg kündenden Scheiterhaufen sah, werden wir im Traum eure, entlang ganz Italien bis nach Marsala, bis zum Meer von Afrika laufenden Fackeln leuchten sehen. ‚Brecht auf, rüstet Euch, gehorcht‘ sagte der Priester des Mars zu den geweihten Bartlosen. ‚Ihr seid das Saatgut der neuen Welt.‘“21
D’Annunzio war nebst anderen prominenten Interventionisten wie Marinetti oder Mussolini Warburgs Hauptkontrahent im Kampf um die italienische Neutralität, denen dieser mit seiner Rivista etwas entgegenzustellen suchte.22 Als im Oktober 1917, nach der 12. Isonzoschlacht, die Truppen der Mittelmächte bis an den Piave vorgedrungen waren und die Niederlage Italiens kurz bevorzustehen schien, hielt Warburg seine Genugtuung nicht versteckt. Der Bündnisbruch der Italiener schien sich endgültig zu rächen. Am 14. November 1917, also knapp zwei Wochen nach dem Debakel von Caporetto, schrieb er an Frau Professor Bulle: „Die Ereignisse in Italien müssen natürlich für Sie sehr schmerzlich sein. Andererseits aber ist es doch für uns, die wir die Freunde Italiens sind, ein großer Trost, dass das Land Dantes nicht unter einem d’Annunzio siegreich in Rom einzieht. Ich hoffe noch immer, daß die italienischen Mütter, die ihre Kinder verloren haben, diesen Orpheus mit der französischen goldenen Zunge mit Knütteln totschlagen. Durch die Niederlage Italiens kommt erst ethischer Sinn in das europäische Schlachthaus.“23
D’Annunzio war ein Gegner, der allerdings nicht nur Warburgs Hass auf sich zog, sondern ihn auch faszinierte. Es handelte sich eben nicht nur um den „verruchtesten aller Seelenverderber in Italien“,24 so Warburg an Jacques Mesnil 1925, sondern eben auch um eine „interessante Type“. Dieses Interesse bestätigen die Akquisitionsbücher der Bibliothek. Zwischen dem 10. Mai, also fünf Tage nach Quarto, und dem 17. Juli 1915 wurden neunzehn Werke D’Annunzios und weitere acht über D’Annunzio sowie die italienische Einigung erstanden.25 Auch die Arbeitspapiere für den am 5. Juli 1915 21 Gabriele D’Annunzio: Parole dette nell’Ateneo genovese il VII di Maggio, ricevendo in dono dagli studenti una targa d’oro, in: Ders.: Per la più grande Italia, in: Ders.: Prose di ricerca, Bd. 1, hrsg. v. Annamaria Andreoli u. Giorgio Zanetti, Mailand 2005 [Or. 1915], S. 7–157, S. 27–30, S. 30. Im Folgenden werden die aus den von Andreoli und Zanetti herausgegebenen Prose di ricerca stammenden Schriften mit der Sigle PdR angegeben. 22 Zu Warburgs Rivista-Projekt siehe: McEwan: Ein Kampf gegen Windmühlen. 23 WIA, GC, Aby Warburg an Elise Bulle, 14.11.1917. 24 WIA, GC, Aby Warburg an Jacques Mesnil, 3.7.1925. 25 Das Akquisitionsbuch der K.B.W. vom 1.1.1905–28.9.1918 verzeichnet folgende Werke von und über D’Annunzio: Am 14.5.1915 werden von D’Annunzio die Contemplazione della morte sowie Il Piacere, am 4.6.1915 Il fuoco, Le vergini delle rocce, Le novelle della Pescara, Il ferro, Pagine disperse, L’innocente und La pisanella erstanden. Am 1.7. erwirbt
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gehaltenen Vortrag vor der Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg und die dort versammelten Typoskripte von Zeitungsausschnitten zu D’Annunzios Treiben zeugen davon, wie sehr dieser Warburg beschäftigte. Der Abend, so heißt es in dem Vortragstext, habe eine „eigenartige Augenblicksberechtigung, wenn man an ihm die in Italien seit Ausbruch des Krieges veröffentlichten oder verbreiteten Druckwerke an einzelnen Beispielen betrachtet. Denn die Massenverbreitung von Wort und Bild durch den Druck sind ebenso wie die wirklichen Waffen für den Nahkampf als mächtige Kampfmittel anzusehen in jenem Bürgerkrieg der Geister, den Italien um die Bewahrung der Neutralität im Winter 1914/15 zu führen hatte. Und diese Neutralität hätte Italien nie eingebüßt, wenn die Machthaber nicht durch eine Massenhypnose, die sich der Presse in der raffiniertesten Weise bediente, für einen Augenblick dem Volke hätte einreden können, daß es einen Verteidigungskrieg zur Rettung bedrohter Ideale zu führen hatte, während tatsächlich in unseren Augen Vittore [sic] Emmanuele ein Condottiere der englischen Milliarden ist, der im Auftrage seines Geldgebers seinen Bundesgenossen von gestern meuchlings überfällt, um bei der Verteilung der Siegesbeute einen möglichst großen Anteil zu erhaschen.“26
D’Annunzio, so lässt sich festhalten, war die mächtigste der italienischen Propagandawaffen. Seine pathetischen Reden, seine militärischen Leistungen ebenso wie seine sonstigen Abenteuer waren in der italienischen Presselandschaft bis zum Waffenstillstand und auch darüber hinaus omnipräsent. Diese Omnipräsenz verdankte D’Annunzio nicht zuletzt seinen engen Verbindungen sowohl zum Verleger seiner Prosa und Lyrik Emilio und später Guido Treves als auch zum Leiter des Corriere della Sera, Luigi Albertini.27 Treves, der zugleich die populäre italienische Illustrierte L’Illustrazione italiana herausgab, betrieb mit der bilderreichen Repräsentation von D’Annunzios Abenteuern auch Werbung für die im gleichen Verlag erscheinenden Werke. Und Albertini, der ebenfalls Dichtungen des Kriegspropheten verlegte, publizierte eine Vielzahl seiner kriegstreiberischen Reden auch aufgrund der eigenen interventionistischen Haltung. Während des Krieges selbst aber waren es insbesondere D’Annunzios aviatische Leistungen, welche dank der anhaltenden medialen Präsenz die größte Aufmerksamkeit erregten. Im folgenden Abschnitt gilt es, das Nebeneinander von wissenschaftlich-technischer „Zivilisation“ und mythischer „Kultur“ während des Krieges nochmals zu veranschauWarburg Magnins D’Annunzio et son rôle actuel am 10.7. Blemmerlasseds Gabriele D’Annunzio sowie D’Annunzios Römische Elegien, La Canzone di Garibaldi und offenbar einen Lyrikband von D’Annunzio, welcher in einer Reihe Neueste italienische Lyrik erschien. Am 15.7. kommen D’Annunzios Das Schiff, am 16.7. Per la più grande Italia sowie am 17.7. von Puttkammers D’Annunzio, D’Annunzios Lust, die Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi, Libro 3 Alcione, Laudi del cielo, del mare, della terra e degli eroi, Libro 4, Merope, I Malatesti (1) Francesca da Rimini und La Gioconda hinzu. Am 10.5.1915 sind im Akquisitionsbuch folgende Bücher festgehalten: Abba, Von Quarto zum Volturno, Melene, Garibaldi, Meerheimb, Von Palermo bis Gaeta und Rüstow, Der italienische Krieg 1860. 26 WIA, III.86.1 Italienische Kriegsliteratur (Vortragstext), Vortrag vor der Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg am 5.7.1915. 27 Siehe zu D’Annunzios Beziehungen zu seinen Verlegern, und insbesondere zu Treves sowie zu Albertini: Vito Salierno: D’Annunzio e i suoi editori, Mailand 1987.
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lichen. Zudem werden eine der deutlichsten Stimmen und einige der prägendsten Topoi des italienischen Aviatikdiskurses vorgestellt.
b. Eia! Eia! Alalà! D’Annunzio der Kriegsheld Am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg. Doch D’Annunzio ließ seine Bemühungen Per la più grande Italia, so der Titel der Sammlung seiner interventionistischen Reden, die noch 1915 bei Treves erschien, nicht bei der Agitation während jenes „strahlenden Mais“ bewenden.28 Im Morgengrauen des 25. Mai hielt D’Annunzio im privaten Kreis eine weitere Ansprache: „O Freunde, dieser Krieg, der ein zerstörerisches und abscheuliches Werk scheint, ist die fruchtbarste Schöpferin der Schönheit und der Tugend. […] [D]ie zehnte Muse, welche den Namen Energeia trägt […] liebt nicht maßvolle Worte, sondern Blut im Überfluß. Ihre Maße sind andere, anders auch ihre Maßstäbe. Sie zählt die Kräfte, die Nerven, die Opfer, die Schlachten, die Wunden, die Qualen, die Leichen; sie beachtet die Schreie, die Gesten, die Sinnsprüche der heroischen Todeskämpfe. Sie rechnet das niedergehauene Fleisch, die Summe der der Erde gebotenen Nahrung, damit sie diese, verdaut, in idealen Stoff umwandle, einen ewigen Geist daraus forme. Sie nimmt den horizontalen Körper des Mannes als alleiniges Maß eines weiten Schicksals. O Freunde, das ist nicht die Frostigkeit des Tagesanbruchs. Wir sind alle bleich. Das Blut beginnt aus dem Körper des Vaterlandes zu fließen. Spürt ihr es nicht? Das Blutbad beginnt, die Zerstörung beginnt. […] Das ganze Volk, das gestern auf den Straßen und Plätzen lärmte, welches mit lauter Stimme den Krieg verlangte, ist voller Venen, ist voller Blut, und dieses Blut beginnt zu fließen, dieses Blut dampft am Fuße einer unsichtbaren Größe, einer Größe, die größer ist als dieses ganze Volk. Ein erhabenes Mysterium, dem nichts im Universum gleicht. Hiervor erschauern wir, hiervor erbleichen wir.“29
Ob D’Annunzios Freunde nicht eher vor seiner pathetischen Sprache und seinen grausigen Bildern als vor jenem von ihm beschworenen Mysterium erschauerten, mag dahingestellt sein. Der „Kriegsprophet vom Mai“ meldete sich jedenfalls freiwillig beim 5. Kavallerieregiment, den Lancieri di Novarra. Das Kriegsministerium gestattete dem Zweiundfünfzigjährigen eine Ausnahme, und er diente fortan beim Duca d’Aosta, der ihm Zugang zur gesamten Front gewährte.30 Die Behörden gaben ihm einen Passierschein, weil sie ohnehin nicht glaubten, dass er sich an den Kriegshandlungen beteiligte. Jetzt wollte der Dichter aber unter anderem Flugblätter über den „unerlösten Gebieten“ abwerfen, und er wandte sich, als sich die Militärbehörden seinem Aktionismus widersetzten, direkt an den Premierminister Salandra: „Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mein großer, teurer Freund. Tun Sie etwas, damit das verhasste Veto aufgehoben werde. […] Ich bin kein verwirrter Jüngling. Ich habe in dieser Angelegenheit [dem geplanten Flug über Triest], wie in allen anderen, alle Wahrschein28
Siehe: Gabriele D’Annunzio: Per la più grande Italia, Mailand 1915. Gabriele D’Annunzio: Tacitum Robur. Parole dette in una cena di compagni all’alba del XXV maggio MCMXV, in: PdR Bd. 1, [Or. 1915], S. 61–65, S. 61f. u. S. 64f. 30 Vgl. Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 294ff. sowie Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 58–62. 29
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lichkeiten ernstlich bedacht, und habe die geeignetesten Mittel erforscht. […] Ich habe nicht gelebt, mein großer und teurer Freund, ich habe nicht gelebt, wenn nicht für diesen Augenblick.“31
Bereits am 7. August peilte D’Annunzio den anvisierten Sehnsuchtsort der Irredenta an, die habsburgische Hafenstadt Triest. Zusammen mit seinem Piloten Giuseppe Miraglia überflog er die adriatische Stadt und warf mit Sand und Flugblättern gefüllte Säckchen darüber ab.32 Die Botschaft an die italienischen Einwohner Triests lautete: „Mut, Brüder! Mut und Beharrlichkeit! Um euch schneller zu befreien, kämpfen wir ohne Atempause im Trentino, im Cadore, in Karnien, am Isonzo, täglich erobern wir Gebiete. […] In Kürze wird der gesamte Karst erobert sein. Ich sage es euch, ich schwöre es euch, Brüder: Unser Sieg ist sicher. […] Mut und Beharrlichkeit! Das Ende eures Martyriums steht bevor. Der Tagesanbruch unserer Freude steht bevor. Aus der Höhe dieser italienischen Flügel, geführt von meinem kühnen Miraglia, werfe ich euch diese Botschaft und mein Herz als Pfand, ich, Gabriele D’Annunzio in den Lüften des Vaterlandes, 7. August 1915.“33
Am 20. September, dem Jahrestag der Einverleibung Roms, also des verbliebenen Kirchenstaats in den italienischen Nationalstaat im Jahre 1870, überflog D’Annunzio zusammen mit Hauptmann Ermanno Beltramo das EtschTal und warf Flugblätter über Trient ab. Der Corriere della Sera berichtete am 26. September über den Flug. Der das kühne Unterfangen preisende Artikel, in dem in der dritten Person von D’Annunzio berichtet wurde, stammte ebenso wie das Flugblatt von D’Annunzio selbst.34 In diesem mehrseitigen Flugblatt, das erneut in kleinen trikolorefarbenen Sandsäckchen abgeworfen wurde, bemühte der Dichter erneut das Risorgimento sowie den Aufstand des Jahres 1848 gegen die Habsburger: „Trienter, unser Volk in Liebe und in Schmerz, Brüder im ewigen Dante, heute ist das erste römische Fest der echten Einigung Italiens, heute ist die festliche Weihe des größeren Italiens, des perfekten Italiens, gefeiert von dem entschlossenen Willen des gesamten Volkes in Waffen. Auf den Gebeinen der gefeierten Märtyrer und auf dem frischen im Wettstreit vergossenen Blut schwört heute der Wille des Volkes, dass das Trient unserer Berge, ebenso wie das Triest unserer Gewässer, eine italienische Stadt ist, italienisch und heilig wie die Brust Narciso Bronzettis, wie jene Trikolore, welche eure Frauen als Weihgabe nähten, und mit der sich jener Flüchtling aus Strigno das lebendige Fleisch einhüllte und sie für euch herüberrettete nach Peschiera zu Garibaldi. […] Diese Botschaften [die 31 Brief D’Annunzios an den Premierminister Salandra vom 30.7.1915, zit. nach: Saverio Laredo de Mendoza: Gabriele D’Annunzio. Aviatore di guerra, Mailand 1930, S. 99–104, S. 100 u. S. 103. 32 Siehe zu D’Annunzios Bemühungen, die Erlaubnis für den Flugblattabwurf zu erringen, sowie zum historischen Kontext der Flugblattpropaganda: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 72–85. 33 Flugblatt zit. nach: Laredo de Mendoza: Gabriele D’Annunzio, S. 105. 34 Dies ergibt sich durch einen Vergleich mit D’Annunzios Taccuini, deren Einträge sich zum Teil wortwörtlich mit dem Bericht überschneiden. Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber von D’Annunzios journalistischen Schriften: D’Annunzio: SG Bd. 2, S. 1693. Für den Artikel siehe: Gabriele D’Annunzio: Il volo di D’Annunzio su Trento, in: SG Bd. 2, [Or. 1915], S. 686–689.
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Flugblätter], umschlossen im Tuch unserer Fahne und mit zitternden Flammen versehen, sind der Zahl nach einundzwanzig, drei Mal sieben, in Erinnerung jener einundzwanzig Freiwilligen, die in Santa Massenza von der österreichischen Soldateska gefangengenommen und im Burggraben am 16. April 1848 erschossen wurden. Es möge eine davon auf dem Friedhof fallen, auf ihre Grabstätte, welche wir endlich rächen werden. Es ist notwendig, dass die Vorläufer aufgerüttelt werden und auferstehen, damit sie den Befreiern den Weg erhellen mögen.“35
Im Anschluss an den Flug berichtete der Corriere della Sera, die habsburgische Regierung habe ein Kopfgeld von 20.000 Kronen auf D’Annunzio ausgesetzt. Wenige Monate später, am 17. Januar 1916 überflog der zum himmlischen Verkündigungsengel der Befreiung mutierte Dichter erneut Triest. Tags zuvor hatten D’Annunzio und sein Pilot Luigi Bologna den Flug bereits schon einmal versucht. Dabei wurden sie von einem österreichischen Wasserflugzeug zu einer Notlandung bei Grado gezwungen. Hierbei stieß D’Annunzio mit dem vor ihm angebrachten Maschinengewehr so zusammen, dass sein rechtes Auge zu erblinden drohte.36 Der eitle, von wesentlich jüngeren Fliegern umgebene Dichter erfüllte am nächsten Tag seine Mission über Triest und verschwieg zunächst seine Verletzung. Doch am 21. Februar teilte ihm der Militärarzt mit, dass er Gefahr laufe, sein Augenlicht gänzlich zu verlieren. D’Annunzio wurde strengste Bettruhe verordnet und seine Augen wurden verbunden. Der Dichter zog sich in seine Casetta Rossa nach Venedig zurück, wo er trotz verbundener Augen mit der Niederschrift des Notturno, seiner autobiographischen und meditativen Nocturne begann.37 Selbstverständlich scheute sich D’Annunzio nicht, auch diesen Flug zur Heldentat zu stilisieren, und zwar nicht nur im Notturno selbst, das erst 1921 erscheinen sollte, sondern zugleich in dem autobiographischen Essay Licenza, das er der Erzählung Leda senza cigno hinzufügte und die im Mai 1916 von Treves veröffentlicht wurde. D’Annunzio vermochte, ebenso wie seine Verleger, seinen patriotischen Aktionismus und seine kriegsbedingte Popularität durchaus zugunsten der Verkaufszahlen seiner Werke einzusetzen.38 Es waren also zwei Fronten, an denen sich D’Annunzios Aktionen als wirksame Propaganda herausstellten. Sofern eine Steigerung des d’annunzianischen Pathos überhaupt möglich scheint, so ist sie mit dem Notturno erreicht. Hier fährt D’Annunzio fort, die 35 D’Annunzios Trienter Flugblatt vom 20.9.1915 zit. nach Laredo de Mendoza: Gabriele D’Annunzio, S.113–117, S. 113f. 36 Vgl. Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 298f. sowie Gianni Turchetta: Introduzione, in: Gabriele D’Annunzio: Notturno, hrsg. v. Gianni Turchetta, Mailand 20034, S. V–XLIII, S. VIIff. 37 Dank eines klugen Kunstgriffs vermochte D’Annunzio mit verbundenen Augen zu schreiben. Er bediente sich zahlreicher einzelner Papierstreifen und vermied so, in der Zeile zu verrutschen. Die „über zehntausend Zettel“ wurden dann von D’Annunzios Tochter Renata bearbeitet und zusammengefügt. Siehe: Gabriele D’Annunzio: Notturno, in: PdR Bd. 1, [Or. 1921], S. 161–410, S. 161 u. S. 395f. 38 Vgl. Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 60f.
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Nation, den Krieg und jene, die ihn ausfechten, zu weihen und zu heiligen. Und so heißt es zum 21. April, dem Karfreitag des Jahres 1916: „Auf welchem Kalvarienberg wird heute der Gottessohn geopfert? Der Gottessohn wird heute auf jenem wilden Berge gemartert, welcher seinen Namen vom Heiligen Michael, dem Schwertträger, hat, dem Berg der vier Gipfel und des viermaligen Wütens, im schatten- und wasserlosen Karst.39 Und für uns haucht der gallengedörrte Mund neuen Geist und neue Hoffnung. Die Infanteristen verewigen sich dort. […] Dann werden sie zu Zähnen des zornigen Steins. Sie beißen die Ewigkeit. Ich habe meine vier brüderlichen Kreuze. Giuseppe Miraglia ist an seinen Flügel gekreuzigt. Luigi Bàilo ist an seinen Flügel gekreuzigt. Alfredo Barbieri ist an seinen Flügel gekreuzigt.40 Luigi Bresciani ist an seinen Flügel gekreuzigt. Ich habe aber weder die Leinen des Jüngers aus Arimathäa noch die Balsame des Nikodemus.41 Dennoch habe ich ihnen ein neues Monument gegeben, ‚in das noch nie jemand gelegt worden war‘ [Joh. 19, 41].“42
Der Flieger als Gekreuzigter und als Erlöser sowie der sich opfernde Soldat als leidender Christus waren zentrale Motive jener mythischen Ordnung, in die der beflügelte Dandy den Luftkrieg, an dem er selber regen Anteil nahm, einspann. Diese mythischen Motive oder Topoi werden in folgender am 26. März 1918 im Corriere della Sera erschienener Rede D’Annunzios nochmals deutlicher. Bei dem Beitrag mit dem Titel Der Glaube an die italienische Luftfahrt handelte es sich um den Abdruck einer Rede, die D’Annunzio tags zuvor in der Mailänder Scala gehalten hatte. Anlass war ein von der Lega Aerea zu Ehren einiger Piloten organisiertes Bankett, auf dem unter anderem zu Spenden aufgerufen wurde, die dem Kauf weiterer Flugzeuge dienen sollten. Dort heißt es: „Da dringt der Krieg von Element zu Element, von der Erde und dem Wasser steigt er zur Luft empor. Die Nike fliegt wie im Mythos, doch nicht mit nur zwei Flügeln, sondern mit tausend, und tausenden und nochmals tausend Flügeln.“ D’Annunzio fährt fort, indem er auf die beispielhaften Spenden einiger Städte aufmerksam macht. Diese seien keine unbedeutende Gabe, vielmehr handele es sich um ein 39
D’Annunzio bezieht sich hier auf den Monte San Michele in der Nähe von Görz. Mit dem „viermaligen Wüten [quattro ire]“ nimmt er Bezug auf die zum Zeitpunkt der Niederschrift fünf (der insgesamt zwölf) Isonzoschlachten, die unter anderem um die Einnahme dieses Berges tobten. 40 Die vier „Gekreuzigten“, auf die D’Annunzio hier anspielt, waren allesamt bei Kriegsflügen gestorben. 41 Josef von Arimathäa, ein „heimlicher“ Jünger Christi, auf den D’Annunzio verweist, hatte Pilatus gebeten, ihm den Leib Jesu zu übergeben. Hierauf wickelte er ihn in ein Leinentuch und legte „ihn in sein eigenes neues Grab“ [Mt., 27, 59]. Nikodemus ist nach dem Neuen Testament ein Pharisäer, der den für die Grablegung Christi verwendeten Balsam gab [Joh. 19, 39]. 42 D’Annunzio: Notturno, S. 382. Das Bild des Fliegers als Gekreuzigter und Erlöser sollte von D’Annunzio noch oftmals bemüht werden. Er verwendete es bereits während seiner Rede bei der Begräbnisfeier seines Piloten Miraglia, die in der Gazetta di Venezia am 24.12.1915 abgedruckt wurde: „Dieser Gefährte, der in einem Alter ausgelöscht wurde, das jenes des Martyriums zu sein scheint, des Kreuzes, mit dreiunddreißig Jahren, an seine Flügel gekreuzigt.“ Siehe: Gabriele D’Annunzio: Le solenni esequie del tenente Miraglia. Il discorso di Gabriele D’Annunzio, in: SG Bd. 2, [Or. 1915], S. 869–870, S. 869.
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„Zeugnis des Glaubens. Die bescheidenste Spende ist ein Akt des Glaubens in jene Waffe, die allein den Krieg wird gewinnen können. […] Diese Helden wissen es. Die Lebenden wissen es, die Toten wissen es. Der Schatten der geflügelten Maschine ist dem Schatten des Holzes des Opfers und der Errettung ähnlich. Als ich, an einem nun längst vergangenen Tage, an einem Tage aus jenem anderen Krieg, auf dem düsteren, einem eingeebneten Kalvarienberg gleichen Feld von Gonars, das von Oreste Salomone geführte Flugzeug erblickte, mit seiner tödlichen Last und ganz vom Blute bespritzt, erschien mir die Ähnlichkeit. Seine beiden quer verlaufenden Flügel zwischen dem Bug und den Steuerrudern formten das blutige Kreuz. […] ‚O Schwinge Italiens, Du bist mein Glauben‘ beichten jene der Unseren, die zerrissen, die zerquetscht wurden, die als Holocaust landeten, um vom Geist des Feuers erneut in den Himmel entführt zu werden.“43
Welche Funktion erfüllten diese Gleichnisse und Metaphern? Warum wird der Schauplatz des industrialisierten Krieges als Kalvarienberg, warum ein Kriegerdenkmal als Auferstehungsgrab, der Schattenriss des Flugzeuges als Errettungs- und Opferkreuz, der Flieger als Christus und als Erlöser, warum die Luftstreitkräfte als Glaubensinhalt und gefallene Piloten als Brandopfer bezeichnet? Diese Fragen treffen den Kern dieser Untersuchung. Gerade der Fall D’Annunzio und die Weise, in der er Heroismus mit dem Opfer- und Erlösungsmotiv verknüpft, erlaubt eine erste Annäherung. Der Konstanzer Soziologe Bernhard Giesen hat vor wenigen Jahren auf den Nexus aufmerksam gemacht, der zwischen der kollektiven Identität einer Gesellschaft und ihren Opferritualen besteht.44 Und in ihrer wegweisenden Studie Der Kult um die toten Helden hat Sabine Behrenbeck auf die entscheidende Rolle der „sakramentalen Dimension des Opfers für den Heldenkult“ hingewiesen und daran erinnert, dass sich im jüdisch-christlichen Kontext Heldentum und Opfer häufig überlagern.45 Mit Cancik-Lindemaier erläutert Behrenbeck die Funktion der Opfermetapher im Krieg, sie leistete, erstens, die „Sakralisierung des Tötens und Getötetwerdens“, zweitens, die „Verherrlichung und Verehrung des Getöteten“ und, drittens, eine „Entlastung für die Tötenden und deren Nachfahren“.46 Doch der Zusammenhang zwischen Opfer und Gemeinschaft sowie zwischen Opfer und Heldentum ist komplex und wird durch diese Funktionsbeschreibung der Opfermetapher nicht erschöpfend geklärt. Das Opfer stellt einen Kern zahlreicher Religionstheorien dar und ist unter anderem von Peter L. Berger, Walter Burkert, Mircea Eliade und René Girard ausführlich behandelt worden.47 An dieser Stelle muss es genügen, mit Hilfe 43 Gabriele D’Annunzio: La fede nell’aviazione italiana, in: SG Bd. 2, [Or. 1918], S. 736– 738, S. 736ff. 44 Siehe: Bernhard Giesen: Triumph and Trauma, Boulder, CO u.a. 2004. 45 Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996, S. 71. 46 Hildegard Cancik-Lindemaier: Opfer. Religionswissenschaftliche Bemerkungen zur Nutzbarkeit eines religiösen Ausdrucks, in: Hans Joachim Althaus u.a. (Hrsg.): Der Krieg in den Köpfen. Beiträge zum Tübinger Friedenskongreß „Krieg – Kultur – Wissenschaft“, Tübingen 1988, S. 109–120 zit. nach Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 74. 47 Siehe: Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft; Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972; Mircea Eliade:
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Peter L. Bergers einen zentralen Aspekt wiederzugeben, der sich in D’Annunzios Erlösungs- und Opferrhetorik widerspiegelt. So heißt es bei Peter L. Berger: „Religion erhält […] die gesellschaftlich definierte Wirklichkeit durch die Legitimation von Grenzsituationen im Rahmen einer allumfassenden heiligen Wirklichkeit. Das ermöglicht es dem Individuum, das solche Situationen durchmacht, sein Leben in der Welt seiner Gesellschaft fortzusetzen – nicht, ‚als ob nichts geschehen wäre‘, was bei schweren Grenzsituationen psychisch kaum möglich ist, sondern im ‚Wissen‘, dass selbst solche Ereignisse oder Erlebnisse ihren Platz in einem sinnvollen Universum haben. Deshalb kann man sogar von einem ‚guten Tod‘ sprechen, wenn nämlich jemand bis zum letzten Atemzug in sinnvoller Beziehung zum Nomos seiner Gesellschaft steht – subjektiv sinnvoll für den Sterbenden selbst und objektiv sinnvoll für andere.“48
Berger macht darauf aufmerksam, dass Gesellschaften insbesondere zu Krisenzeiten, wie sie beispielsweise Kriege darstellen, kollektiv solche Grenzund entsprechend „ekstatische“ Situationen erleben. Während dieser Grenzsituation wird die zuvor als gegeben hingenommene Realität oder Ordnung in Frage gestellt und bedarf der Stabilisierung. Insbesondere dann, wenn eine Gesellschaft ihre Mitglieder zum Töten oder zum Einsatz des eigenen Lebens motivieren müsse, und sie also in eine äußerste Grenzsituation zwingt, würden religiöse Legitimationen bemüht: „Aus diesem Grunde begleiten religiöses Ritual und Zubehör seit altersher das Töten unter den Auspizien der legitimierten Herrschaft.“49 Wenn Berger hier lapidar „Zubehör“ schreibt, läuft er fast Gefahr, sich selbst zu widersprechen, sind doch D’Annunzios Sakralisierungen des Krieges, der Opfer und der „Helden“ keineswegs bloße Beigaben. Vielmehr handelt es sich um die sprachliche Verknüpfung zentraler Stränge jenes „nomischen“ Netzes, welches Gesellschaft zusammenhält und konstituiert. Und dessen eine Gesellschaft im Krieg besonders bedarf. Dieses nomische Netz, oder eben der Nomos qua „Sinnordnung“, wird diskursiv, also im Deuten und Handeln, erzeugt.50 Der Nomos oder die Ordnung agiert als „Schutz vor dem Terror“, als Abwehr der Gefahr der Sinnlosigkeit und der Desorientierung. Es handelt sich um einen weiteren Aspekt jenes Schutzes vor dem im vorangegangenen Kapitel behandelten „Absolutismus der Wirklichkeit“.51 Da gerade im Krieg die Gefahr der Sinnlosigkeit und die Destabilisierung der nomischen Ordnung zu einer akuten Bedrohung werden, bedarf der Nomos der Stabilisierung, Aktualisierung und der Anpassung an die durch die (Grenz-)Situation gegebenen Umstände.52 D’Annunzio betreibt Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/M. u.a. 1998; René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987. 48 Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 43f. 49 Ebd., S. 44. 50 Ebd., S. 20. 51 Ebd., S. 22. 52 Berger bezeichnet diese Gefahr der Sinnlosigkeit als „Nachtmahr [i.O. nightmare, also Alptraum] einer Welt der Unordnung, Sinnlosigkeit und des Wahnwitzes […].“ Siehe: Ebd., S. 23.
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durch seine Sakralisierung des Krieges, der Opfer und der „Helden“ daher eine „Arbeit am Nomos“. In der extremen Grenzsituation des Ersten Weltkrieges bedurften zum einen das Töten und das Sterben der Sinngebung und Legitimation. Zum anderen war es vonnöten, einen semantischen Raum zu schaffen, der eine Möglichkeit bot, die Begegnung mit der Fremde, dem Fremden sowie dem Unbekannten, welches die „moderne Welt“ für große Bevölkerungsteile darstellte, in den persönlichen und kollektiven Sinnhorizont zu integrieren. Der „Kult der gefallenen Soldaten“, den George L. Mosse so eindrücklich geschildert hat, diente eben einer solchen Sinngebung und Legitimation.53 Es handelte sich um ein semantisches Angebot, welches es erlaubte, sich das Erlebte und Erlittene anzueignen und womöglich Trost darin zu finden, dass das Ende des eigenen Lebens, jenes der Angehörigen oder der „Kameraden“ zum Leben der Nation beitrüge. Das Ende der profanen Zeit des Soldaten wurde in der ewigen heiligen Zeit der Nation aufgehoben. D’Annunzios Beitrag zu diesem semantischen Angebot war gewaltig und die Bedeutung seiner sprachlichen Hinterlassenschaft war für die italienische Deutung des Krieges enorm. Durch ihre gefallenen „Helden“ wurde die Nation, so Mosse, mit der Passion Christi assoziiert.54 Per analogiam reinigte das Opfer die Nation von ihren Sünden und, wesentlich zentraler, es schuf die Möglichkeit für deren ewiges Leben oder Wiedergeburt.55 Auch D’Annunzio stellte, wie deutlich geworden sein dürfte, diese Analogie her. Dazu brauchte er, dessen Bücher auf dem päpstlichen Index standen, nur auf das überaus präsente katholische Symbolreservoir und den Erfahrungshaushalt zurückzugreifen und die Inhalte der Situation anzupassen. Der elitäre Dichter rekurrierte auf einen Erfahrungsraum, an dem selbst die großenteils analphabetischen, eingezogenen Massen, worauf noch zurückzukommen sein wird, teilhatten. Andererseits bediente sich D’Annunzio selbstverständlich des humanistischen Bildungswissens und erneuerte die vorliegenden Bilder, indem er sie mit dem Kriegsgeschehen vermengte und somit mit neuem Sinn auflud. Das dabei entstehende Amalgam ästhetisierte den Krieg und hob ihn aus der alltäglichen in die ewige Zeit und aus der profanen in die sakrale Sphäre. So beschwor D’Annunzio anlässlich der für Gino Allegri, einen befreundeten, abgestürzten Flieger, gehaltenen Grabrede folgende Bilder.56 Er tauft Allegri um und nennt ihn in Anlehnung an einen wohl fiktiven Gefährten des Heiligen Franziskus, Frate Ginepro, also Bruder Juniper. Dieser mutiert in 53 George L. Mosse: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York, NY u.a. 1990. 54 Ebd., S. 76. 55 Siehe hierzu Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 71–76 sowie Klaus Latzel: Vom Sterben im Krieg. Wandlungen in der Einstellung zum Soldatentod vom Siebenjährigen Krieg bis zum II. Weltkrieg, Warendorf 1988, S. 65ff. u. S. 70ff. 56 Zu D’Annunzios Grabreden für die Flieger vgl.: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 89–92.
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der Eulogie zum „Klarsten der Mystiker dieses Krieges“ zum „arglosesten der bewaffneten Asketen“ und wird zu einem miles christi: „Wenn das erste Dröhnen seines Motors unter dem Schutzdach hervorklang, war es wie das Morgengeläut, welches die Pflicht des Gottesdienstes ankündigt. […] Mein Beschützer trat in den gewittrigen Nimbus seines Propellers. Und bei dieser Handlung erkannte ich nochmals, wie groß die Seelenverwandtschaft zwischen ihm und seinem Kriegsgerät war und wie sehr dieses mit ihm verwachsen war. […] Wie Francesco Baracca, wie jeder echte, große Held, war auch er ganz Schwinge des Krieges. Der Flügel musste mit ihm brechen, mit ihm verbrennen, sich mit ihm verzehren.“57
Erneut bemüht D’Annunzio den christlichen Opfergedanken und vermengt ihn mit dem ikarischen Mythos. Der Pilot mutiert dabei zu einem mit seiner Maschine verwachsenen Zwitterwesen, dessen Kriegseinsatz einem Dienst an Gott gleicht. Die Sakralisierung des Kriegstodes und der Nation, aber eben auch die Ästhetisierung des Krieges wird nochmals in D’Annunzios Rede vom 12. Dezember 1917 deutlich, die er vor den Rekruten des Jahrgangs von 1899 hielt. Sie wurde unter dem Titel Stimmen der Wiedereroberung in der Weihnachtsausgabe des Corriere della Sera abgedruckt: „In die Feuerzone hinein schreitend habt ihr, gebildete und ungebildete Jugendliche, ihr, die ihr in der allerersten Blüte seid, ihr, die ihr noch vom mütterlichen Atem warm seid, in einem Augenblick das vernommen, was einem Erwachsenen Jahre und Jahre geistigen Strebens nicht offenbaren. Das, was Dante zur Mitte seines Lebenslaufes zu begreifen glaubte, von einer Qual zur nächsten und von Licht zu Licht die drei Welten hindurch hinaufsteigend, das habt ihr in einem Wimpernschlag geahnt. Keine Macht, weder göttlich noch menschlich, kommt der Macht des Opferns gleich, welche sich in die Dunkelheit des Kommenden stürzt, um die neuen Bilder und die neue Ordnung hervorzurufen. […] Nun, da ist die Mutter, die Euch getragen hat, die Euch stillte, die Euch die ersten Tränen trocknete, die Euch das Sprechen lehrte, die Euch bei den ersten Schritten führte, die Euch riet, verzieh, tröstete, da gibt sie Euch dem Krieg, sie jagt Euch ins Feuer, sie schreit Euch an: ‚Geh und kämpfe. Geh und siege. Geh und sterbe.‘ Warum? […] Um einen Kranz der Alpen wiederzugewinnen, der Sichel eines Golfes wegen, eines ins Meer hängenden Traubenbündel Landes wegen [Istrien], einer Girlande von Inseln wegen, eines mit Edelsteinen besetzten Randes latinischen Strandes wegen? Ja, sicherlich, auch um dessentwegen. Aber der eigentliche Grund ist nicht der irdene Grund, es ist der Grund der Seele, der Grund der Unsterblichkeit.“58
D’Annunzio stiftet einen Sinnhorizont für den hunderttausendfachen Tod italienischer Soldaten in den Alpen, im Karst und am Isonzo und verspricht ihnen ein ewiges Leben. Dabei vermochte die nationalistische Ideologie, bei den größtenteils bäuerlichen Rekruten zunächst kaum Wirkung zu zeitigen,59 57 Gabriele D’Annunzio: I mistici della guerra. Morte di frate Ginepro, in: SG Bd. 2, [Or. 1918], S. 769–779, S. 771 u. S. 777. 58 Gabriele D’Annunzio: Voci della riscossa. Alle reclute del ’99, in: SG Bd. 2, [Or. 1917], S. 709–717, S. 709 u. S. 711. 59 Das Übergewicht der contadini an der Front, jener Bevölkerung also, die sowohl den Tagelöhner als auch den Kleinbauern umfasste, war ein zentrales Stereotyp der faschistischen Erinnerung an den Krieg. Die Faschisten suchten hiermit zwischen der ländlichen Bevölkerung und den Arbeitern, den sogenannten operai imboscati, einen Keil zu treiben. Letztere wurden der Drückebergerei in der Etappe bezichtigt, wurden sie doch der Auf-
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stieß doch das Konzept der Nation in den ländlichen Unterschichten Italiens, aus denen die Masse der Infanteristen stammte, kaum auf Resonanz. Das Leben eines lukanischen oder sizilianischen Tagelöhners war von der Gründung des Königreichs Italien nicht merklich beeinflusst worden. Seit jeher trat der ländlichen Bevölkerung „der Staat“, den sie mit „denen da oben“, den signori gleichsetzten, allein als Eintreiber von Abgaben oder als Macht entgegen, welche die Männer zum Militärdienst zwang und vom Boden wegriss. Von diesen stereotypen Einstellungen der contadini, der Bauern, dem Staat gegenüber ist noch die Literatur jener Antifaschisten geprägt, die in den 1920er und 1930er Jahren zum Teil ins italienische Exil, und das hieß, in die ländlichen Gegenden des Südens und der Inseln verbannt wurden.60 Das Konzept der Nation war dem contadino, aber nicht nur ihm, weitgehend unbekannt, bildeten doch Familie, Dorf und der padrone, der Gutsbesitzer, die Grenze seines Kosmos.61 Das immer wieder zitierte Bonmot Massimo D’Azeglios, Ministerpräsident des Königreichs Sardinien, hatte ein gutes halbes Jahrhundert nach der Einigung Italiens, nichts von seiner Gültigkeit verloren: Es gelte nun, nachdem Italien gemacht worden sei, die Italiener zu machen.62 Erst im Krieg selbst wurden die Massen, wenn auch zögerlich, „italianisiert“. Hatte doch die regierende liberale Elite zunächst keine Notwendigkeit zur Motivation der Soldaten und der Heimatfront gesehen. Italien führte unter dem Offizierskorps des Oberbefehlshabers Cadorna bis zur militärischen Katastrophe von rechterhaltung der industriellen Produktion wegen zum Teil vom Frontdienst befreit. Trotz der Instrumentalisierung dieses Gegensatzes zwischen Bauern und Arbeitern seitens der Faschisten, bestätigen die meisten Schätzungen und Statistiken das deutliche Übergewicht der Bauern an der Front und bei den Verlusten. Selbstverständlich ergibt sich dieses schon allein aufgrund der vergleichsweise geringen Industrialisierung Italiens. Bei der letzten italienischen Volkszählung vor dem Krieg (1911) waren weiterhin 58 % im primären Sektor, nur 23,7 % in der Industrie und 18 % im tertiären Sektor beschäftigt. Für Statistiken zur Zusammensetzung des italienischen Militärs und zu den Verlusten siehe: Antonio Gibelli: La grande guerra degli italiani, 1915–1918, Mailand 2001², S. 85–92. Zum Verhältnis der einfachen Bevölkerung zum Krieg siehe: Giovanna Procacci: Dalla rassegnazione alla rivolta. Mentalità e comportamenti popolari nella Grande Guerra, Rom 1999. 60 Siehe beispielsweise Carlo Levi: Cristo si è fermato a Eboli, Turin 1945; Ignazio Silone: Fontamara, Zürich 1933 u. Cesare Pavese: Il carcere, Turin 1949. 61 Von Marco Meriggi ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei dem sogenannten campanilismo, dem Lokalpatriotismus, und dem dazugehörigen Mangel an Nationalismus keineswegs nur um ein Unterschichtenphänomen handelte. Der campanilismo habe zusammen mit dem Monarchismus auch bei der Notabilität, also bei den eigentlichen politischen Akteuren, lange Zeit nach der Einigung Italiens gegenüber dem Nationalismus überwogen. Siehe: Marco Meriggi: Soziale Klassen, Institutionen und Nationalisierung im liberalen Italien, in: GG 26/2000, S. 201–218, S. 214f. 62 Das geflügelte Wort, im Original lautet es „fatta l’Italia bisogna fare gli italiani“, stammt in seiner bekannt gewordenen Form eigentlich vom einstigen italienischen Bildungsminister Ferdinando Martini, der den in den Erinnerungen D’Azeglios anders lautenden Ausspruch 1896 nach der italienischen Niederlage bei Adua etwas prägnanter formulierte und populär machte. Siehe hierzu: Simonetta Soldani/Gabriele Turi: Introduzione, in: Dies. (Hrsg.): Fare gli italiani. Scuola e cultura nell’Italia contemporanea. Bd. I. La nascista dello Stato nazionale, Bologna 1993, S. 9–34, S. 17.
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Caporetto einen weitgehend „dynastischen“ Krieg und war, so Richard Bosworth, die einzige europäische Großmacht, die ohne union sacrée in den Weltkrieg gezogen war.63 Der maggio radioso mit seiner nationalistisch aufgeheizten Stimmung war, ähnlich dem Augusterlebnis im wilhelminischen Kaiserreich, eine weitgehend urbane Angelegenheit von Teilen der Mittelschicht gewesen.64 Vor allem aber war er ein Anliegen einiger weniger intellektueller Interventionisten, das wenig Berührungspunkte zu den „italienischen“ Massen aufwies. Der Mangel an Italienern, den D’Azeglio ansprach, wird nicht zuletzt am Gebrauch der Nationalsprache deutlich.65 Das Italienische war vornehmlich eine Sprache der Gebildeten geblieben. Außerhalb der Toskana und Roms wurde es allein in der Schule, und auch dort nicht zwingend, gelernt und gesprochen. Doch es herrschten nicht nur die jeweiligen regionalen Dialekte vor. Vielmehr waren noch im Jahre 1901 schlichtweg 50 % der italienischen Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig.66 Dabei verweist die geringe Alphabetisierungsquote nicht allein auf die ausgebliebene Herausbildung der italienischen „Kulturnation“. Sie ist auch ein deutlicher Indikator für die „Schwäche“ und mangelnde Präsenz des italienischen Staates in weiten Teilen der Apennin-Halbinsel. Dem Staat war es schlichtweg nicht gelungen, unter anderem auch aufgrund des Vorbehalts des Klerus gegen den laizistischen Einfluss auf die Massen, die eingeführte Schulpflicht auch tatsächlich überall durchzusetzen.67 Erst durch den Krieg und durch die Begegnung mit der seit Caporetto forcierten staatlichen Propaganda68 etablierte sich auch in den unteren Schichten das sprachliche Instrumentarium, welches es ihnen überhaupt erst erlaubte, rudimentäre Formen patriotischer Identität heraus-
63 Richard J. B. Bosworth: Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945, London 2006 [repr.], S. 60ff. 64 Siehe Isnenghi: Il mito della grande guerra u. ders./Rochat: La Grande Guerra, S. 87– 137, insbes. S. 106–111. Zum Augusterlebnis siehe u.a.: Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 56–70; Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Benjamin Ziemann: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, S. 39–54. 65 Für das Folgende vergleiche Gibelli: La grande guerra degli italiani, S. 92–97. 66 Siehe hierzu Giovanni Vigo: Gli italiani alla conquista dell’alfabeto, in: Simonetta Soldani/ Gabriele Turi (Hrsg.): Fare gli italiani. Scuola e cultura nell’Italia contemporanea. Bd. I. La nascista dello Stato nazionale, Bologna 1993, S. 37–66. Neben der im internationalen Vergleich niedrigen Alphabetisierungsquote waren vor allem die regionalen Unterschiede enorm: Während im Jahre 1901 im Piemont 82 % der Bevölkerung alphabetisiert waren und in der Lombardei 78 %, konnten in Sizilien nur 29 %, in der Basilicata 25 % und in Kalabrien allein 21 % der Bevölkerung lesen und schreiben. Nur zum Vergleich wies Preußen zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits eine Alphabetisierungsquote von über 80 % auf und in England und Wales gab es zur Jahrhundertwende nur noch 3 % Analphabeten. 67 Vgl. Vigo: Gli italiani alla conquista dell’alfabeto, S. 58f. 68 Zur italienischen „Semianalphabeten“-Propaganda siehe: Mario Isnenghi: Giornali di trincea, 1915–1918, Turin 1977.
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zubilden und zu äußern.69 Welche Reichweite besaß dann aber die d’annunzianische Propaganda? Bei D’Annunzios Ansprachen und Texten handelt es sich unbestreitbar um ein Elitenphänomen. Doch die von D’Annunzio geprägten Topoi wurden umgeformt und übersetzt und fanden bis in die untere Mittelschicht hinein Anklang. Sie prägten Italiens politische wie auch mediale Landschaft auf entscheidende Weise. Der Diskurs der „kleinen Leute“, und das heißt in diesem Fall häufig der Analphabeten, bleibt insbesondere für den präfaschistischen Zeitraum nicht selten im toten Winkel der Historiographie.70 Ob D’Annunzios Wirkungskreis die einfachen Soldaten umschloss, lässt sich nicht klären. Doch es kann vermutet werden, dass die d’annunzianische Rhetorik, ja, der von ihm sprachlich erzeugte Furor und das stimmlich gewiss gesteigerte Pathos selbst jene ungebildeten Zuhörer, die er in seinen eben zitierten Stimmen der Wiedereroberung ansprach, nicht unberührt ließ. So bemerkt Giorgio Zanetti, einer der Herausgeber von D’Annunzios journalistischen Schriften, dass D’Annunzio, trotz der Überfülle an bildungsbürgerlichen Zitaten, mit der nicht allein diese Rede gespickt war, „nicht befürchtete, nicht verstanden zu werden, vertraute er doch mehr auf die einhüllende Macht des emotionalen Rhythmus als auf ein Verständnis konzeptioneller oder kultureller Art.“71 Zanetti verweist auf den Eintrag LXXXV in den Taccuini vom 17. Oktober 1915. D’Annunzio berichtet dort von einer Begegnung mit dem Militärkaplan Padre Semeria, der vor der Brigata Caltanissetta sprechen sollte:72 „Sie [die Soldaten] sehen kräftig und stolz aus. Sie gehören der sizilianischen Brigade an: dunkel, wild, manche ähneln Arabern oder Kaffern. […] Es beginnt die Messe […] ‚Auf die Knie!‘ brüllt der General. […] Es ist eine Masse von Schlachtvieh. […] Das Messopfer wird unterbrochen, damit Pater Semeria spreche. […] Er spricht mit einer einfachen und gewöhnlichen Beredsamkeit. Es ist keine Schönheit in seinen Worten. Auch er bekennt sich 69 Siehe: Gibelli: La grande guerra degli italiani, S. 151. Dort heißt es anschließend: „Die herrschenden Klassen setzten nicht nur Millionen Männer dem Massaker aus, sie boten den unteren Schichten zugleich die Wörter an und erlegten sie ihnen auf, um jenem einen Namen und einen Sinn zu geben, was in deren Augen keinen hatte. Das, was in der Hölle der Gräben geschah, war schließlich eine Zwangspenetration des patriotischen Wortschatzes, ein – wenn auch oberflächlicher und widersprüchlicher – Prozess der Italianisierung, der die blutige und traumatisierende Erfahrung begleitete. [Übersetzung durch den Verfasser, F.E.]. 70 Zumindest dann, wenn sie sich, wie hier, vornehmlich auf Textanalyse stützt. Allerdings haben gerade die bereits zitierten Isnenghi und Gibelli in den Neunzigern damit begonnen, diesen Winkel zu verkleinern; Isnenghi, indem er sich den reich bebilderten Grabenzeitungen sowie den Case del soldato widmete, den vom Militärgeistlichen Giovanni Minozzi gegründeten Freizeithäusern, in denen den Soldaten auch das Lesen und Schreiben beigebracht wurde, Gibelli, indem er sich der Feldpost der Illiteraten widmete. Siehe Isnenghi: Giornali di trincea; Gibelli: La grande guerra degli italiani sowie ders.: L’officina della guerra. La grande guerra e le trasformazioni del mondo mentale, Turin 1991. 71 D’Annunzio: SG Bd 2, S. 1700. 72 Der barnabitische Pater Giovanni Semeria, der auch für seine modernisierenden theologischen Schriften bekannt ist, gründete gemeinsam mit dem bereits erwähnten Don Minozzi nach dem Krieg die Opera Nazionale per il Mezzogiorno d’Italia, die sich der zahlreichen Kriegswaisen in Waisenhäusern und Schulen annahm.
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zu dem Fehler zu glauben, dass die geringen Herzen eine hohe und edle Eloquenz nicht zu verstehen wüssten.“73
D’Annunzio glaubte also zumindest daran, dass das „Schlachtvieh“ ihn verstand und dass es ein Fehler sei, sich inhaltlich auf das Niveau der „geringen Herzen“ herabzubegeben. Nicht der Inhalt, der Stil, der Auftritt, das Ansprechen des Irrationalen im Menschen war entscheidend.74 Das Verhältnis des Redners zu seinem Publikum nannte D’Annunzio ein „göttliches Mysterium“.75 In seinem Roman Il fuoco, Das Feuer, schildert D’Annunzios Protagonist, Stelio Effrena, das Verhältnis des Künstlers zur Menge: „Das außerordentliche Gefühl, das ihn mit Staunen erfüllt hatte, als er vom Throne der Dogen zum Volke gesprochen, nahm von neuem Besitz von ihm. In die Gemeinschaft seiner Seele mit der Seele der Menge hatte sich etwas Geheimnisvolles gemischt, etwas beinahe Göttliches. […] Heimlich verborgen schlummerte also in der Menge eine Schönheit, aus der nur der Dichter und der Held Blitze ziehen können. Wenn diese Schönheit sich durch eine plötzliche Kundgebung offenbarte, sei es im Theater, sei es auf dem Marktplatz oder im Kriegslager, dann schwoll in einem Strome von Freude das Herz dessen, der es verstanden hatte, sie durch seine Verse, durch seine Rede oder durch sein Schwert zum Leben zu erwecken. Das Wort des Dichters, zum Volke gesprochen, war also eine Tat wie das Vollbringen des Helden. Es war eine Tat, die aus dem Dunkel der begrenzten Seele mit einem Schlage Schönheit schuf, wie etwa ein wundervoller Bildhauer mit einem einzigen Griff seiner schöpferischen Hand aus einer Tonmasse eine göttliche Statue zu formen vermag.76 […] Auf den Stufen des neuen Theaters sah er die wirkliche Volksmenge, die ungeheuere, einmütige Menge, deren Witterung vorher zu ihm aufgestiegen war […] In den rohen und unwissenden Seelen hatte seine Kunst, obwohl unverstanden, vermöge der geheimnisvollen Macht des Rhythmus einen gewaltigen Aufruhr gezeugt […].“77
Stelio Effrena, dessen Ziel es im Übrigen ist, ein italienisches Bayreuth ins Leben zu rufen, ist D’Annunzios alter Ego.78 Das Zitat deutet nicht nur die Einheit von Kunst und Leben an, die D’Annunzios Dasein bestimmte, sondern verdeutlicht zugleich, wie sich der Kriegsbarde sein Wirken auf die „rohen und unwissenden Seelen“ vorstellte. Es galt, die chaotische Masse in eine 73
D’Annunzio: Taccuini, S. 793f. Siehe hierzu auch: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 85–97. Vogel-Walter bezeichnet die Frontreden als postmoderne Religion. Auf S. 87 heißt es: „D’Annunzio war davon überzeugt, dass die Ästhetik der Wortwahl dazu beitrage, die Menschen ‚zu erheben‘. Damit gibt er ganz deutlich zu erkennen, dass für ihn die Ästhetik, das heißt die äußere Form, über dem Inhalt stand.“ 75 Siehe hierzu George L. Mosse: The Poet and the Exercise of Political Power: Gabriele D’Annunzio, in: Ders.: Masses and Man. Nationalist and Fascist Perceptions of Reality, New York, NY 1980, S. 87–103, S. 93ff. 76 Das von D’Annunzio gebrauchte Bild der aus der Masse, beziehungsweise dem Ton, zu formenden „göttlichen Statue“ wurde auch von Mussolini wieder aufgenommen. Er verwendete es selbst, als er sich angesichts der sich häufenden militärischen Niederlagen Italiens über das „Material“ beklagte, das ihm zur Herstellung des Neuen faschistischen Menschen zur Verfügung gestanden habe. Siehe hierzu Kapitel III.2. 77 Gabriele D’Annunzio: Il fuoco, in: Ders.: Prose di romanzi, Bd. 2, hrsg. v. Niva Lorenzini, S. 195–518, S. 297f. Hier in der Übersetzung von Gagliardi: Gabriele D’Annunzio: Das Feuer, München 1900, S. 161f. 78 Vgl. Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 188. 74
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geordnete Menge zu verwandeln. Und durch diese Ordnung, so Mosse, Schönheit, das Endziel des Ästheten, hervorzubringen.79 Die Ordnung der Masse mittels (An-)Sprache bedurfte auch des richtigen Settings. Erst das Setting erzeugte den für Emotionen notwendigen Raum. Was zähle, sei, so Mosse, „die geteilte Atmosphäre“, die durch die umgebende Natur, „durch Musik, Tanz und lyrische Poesie“ sowie den Rhythmus erzeugt würde. Für den französischen Soziologen und Vater der Massenpsychologie Le Bon, aber offenbar auch für D’Annunzio waren zudem insbesondere die evozierten Bilder von Belang. Ja, es scheint, als habe D’Annunzio die Lehren Le Bons internalisiert. Die d’annunzianischen Bilder und gerade seine „hohe und edle Eloquenz“ sollten die Massen verzaubern. Bei Le Bon heißt es dazu: „Werden sie [die Worte und Redewendungen] kunstgerecht angewandt, so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht, die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben. Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervor und können sie auch besänftigen. […] Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden, die sie hervorrufen, und völlig unabhängig von ihrer wahren Bedeutung. Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten.“ 80
Die Massen würden, so Le Bon, „stets durch die wunderbaren und legendären Seiten der Ereignisse am stärksten ergriffen.“ Und auf die Frage, wie man ihre Phantasie erreiche, antwortet Le Bon: „dieser Zweck [wird] nie durch den Versuch erreicht […], auf Geist und Vernunft zu wirken.“81 Nicht die Vernunft, sondern die „Überzeugungen“ der Massen gelte es anzusprechen. Und diese Überzeugungen, so Le Bon weiter, wiesen eine besondere Form auf, „die ich nicht besser zu bezeichnen weiß als mit dem Namen religiösen Gefühls. Dies Gefühl besitzt sehr einfache Kennzeichen: Anbetung eines vermeintlich höheren Wesens, Furcht vor der Gewalt, die ihm zugeschrieben wird, blinde Unterwerfung unter seine Befehle, Unfähigkeit, seine Glaubenslehren zu untersuchen, die Bestrebung, sie zu verbreiten, die Neigung, alle als Feinde zu betrachten, die sie nicht annehmen. Ob sich ein derartiges Gefühl auf einen unsichtbaren Gott, auf ein steinernes Idol, auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet – sobald es die angeführten Merkmale aufweist, ist es immer religiöser Art. Das Übernatürliche und das Wunderbare sind überall darin wiederzuerkennen. […] In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Gefühl nie besiegt.“82
D’Annunzio sprach eben dieses „religiöse Gefühl“ an und rief es stets hervor. Hier gilt es jedoch festzuhalten, dass ein weiterer Faktor die Wirkung von D’Annunzios Worten bestärkte. Es war seine durch die rege Beteiligung am Krieg bewirkte Glaubwürdigkeit und Authentizität. 79 Mosse: The Poet and the Exercise of Political Power, S. 94. Dort (S. 93) auch das folgende Zitat. 80 Siehe Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, Stuttgart 198215 [frz. Or. 1895], S. 71f. u. S. 43f. Ein prägnantes, wenn auch nicht erwiesenes, Beispiel hierfür ist die „Zauberformel“ Hokuspokus, die angeblich auf dem von den Kirchgängern nicht verstandenen „Hoc est enim corpus meum“ beruhte. Siehe hierzu den Eintrag „Hokuspokus“, in: Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens, Stuttgart 2005, S. 218. 81 Ebd., S. 45. 82 Ebd., S. 47 u. S. 49.
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Die Tatsache, dass sich der über Fünfzigjährige an der Front aufhielt, mit Torpedobooten versuchte, der habsburgischen Marine einen Streich zu spielen,83 und mehrere Flugunternehmen initiierte, verstärkte die Wirkung seiner Worte erheblich. D’Annunzio war kein imboscato, kein „Drückeberger“, der aus der entbehrungsarmen und kriegsfernen Etappe zum Opfer für die Nation aufrief. Tatsächlich hätte ein solches Verhalten seinem Ansinnen widersprochen, wollte er sich doch als heldenhaftes Vorbild inszenieren. In seinen Augen war gerade er, das Dichtergenie und der Verkündigungsengel, zum Heldentum berufen. Ja, gerade er, der Nietzscheaner, der Künstler seines Lebens, verstand sich als Prototyp des nietzscheanischen Übermenschen, der immer höher hinauswollte. Nietzsches „Excelsior!“ wurde bei D’Annunzio zum ikarischen più alto e più oltre, noch höher und noch weiter!84 Zu jenem Übermenschen, als den er sich selber sah, wurde D’Annunzio nicht zuletzt durch seinen Wien-Flug am 9. August 1918. Es war die spektakulärste seiner Flugblattaktionen, die schon allein wegen der zurückgelegten Distanz Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. D’Annunzio jedoch wusste daraus ein avantgardistisches Gesamtkunstwerk zu machen, welches ihm umso mehr Beachtung und Verehrung bescherte. „Wiener! Lernt die Italiener kennen! Wenn wir wollten, wir könnten ganze Tonnen von Bomben auf eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden euch nur einen Gruß der Trikolore, der Trikolore der Freiheit.“85 So begann seine Flugblattbotschaft an die Einwohner der K.u.k.-Hauptstadt. Als sich infolge des Debakels von Caporetto bei der neuen militärischen Führung unter Armando Diaz die Erkenntnis durchsetzte, dass Propaganda zu einem entscheidenden 83 Dieser „Streich“ ging als die anfangs erwähnte „Beffa di Buccari“ in D’Annunzios Annalen ein. Im Februar 1918, als die italienische Moral aufgrund von Caporetto ihren Tiefpunkt erreicht hatte, drangen drei italienische Torpedoboote in die Bucht von Buccari (kroat. Bakar) ein und feuerten sechs Torpedos auf die vor Anker liegenden k.u.k. Schiffe ab, ohne jedoch irgendeinen Sachschaden anzurichten. Der Triumph war propagandistischer Natur, hatten doch die drei Boote bewiesen, wie verletzbar die habsburgische Küste und Marine war. Nach dem im Flugzeug bewährten Schema, warf D’Annunzio, der auf jenem M.A.S.-Boot mitfuhr, das später im Vittoriale aufgestellt werden sollte, drei trikolorene Flaschen in die Bucht, die eine satirische Botschaft an die österreichische Marine enthielten. Siehe hierzu: Bojan Budisavliević: D’Annunzios Torpedowesen. Instrument der Vorsehung und Geschicke des Meeres im Seekrieg um Fiume herum, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 227–259. 84 Vgl. Nietzsches Aphorismus 285 in der Fröhlichen Wissenschaft: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders.: KSA Bd. 3, Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999 [repr.], S. 343–651, S. 527f. Das Motto più alto e più oltre, das D’Annunzio sowohl während des Krieges als auch danach verwendete, erschien in einem im Corriere della Sera am 27.5.1917 veröffentlichten Artikel Il saluto di d’Annunzio agli aviatori prima della battaglia, D’Annunzios Gruß an die Flieger vor der Schlacht. Siehe: Gabriele D’Annunzio: Il saluto di d’Annunzio agli aviatori prima della battaglia, in: SG Bd. 2, [Or. 1917], S. 693– 694, S. 693. Siehe hierzu auch Kapitel III.1. 85 Das Wiener Flugblatt D’Annunzios vom 9.8.1918 ist abgedruckt in: Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant, S. 36.
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Faktor der Kriegsführung geworden war, erkannte man den Wert der d’annunzianischen Aktionen. D’Annunzio hatte das Potential erkannt, das in der Mobilisierung der, so Warburg, „Bild- und Wortvehikel“ lag. Vor allem aber hatte der Dichterheld erkannt, dass das Flugzeug ein „Leitfossil“ der Epoche, ein Zeichen der Macht und ein zentrales Symbol der technischen Moderne war, welches es im Sinne der eigenen Ziele und für den Ruhm der nationalen Sache zu instrumentalisieren galt.86 Von dem erfolgreichen Flug zurückgekehrt, hielt D’Annunzio eine Ansprache an seine Männer, die am 18. August ebenfalls im Corriere della Sera publik gemacht wurde. Das gelebte nietzscheanische „Excelsior“ wird hier mit kriegerischem Aktionismus und einer falschen Bescheidenheit verknüpft. Und natürlich ruft der comandante zu weiteren Opfern auf: „Das, was vollbracht wurde, zählt nicht mehr für den Kämpfer. Nichts zählt außer dem zu Vollbringenden. Wie freudig waren wir im feindlichen Himmel! Warum war aber ein jeder von uns traurig auf den Flugplatz zurückgekehrt? Wir hatten auf dem langen Flug eine neue Freude, eine volle Freude gekostet. Wir waren schon ungeduldig, wieder abzureisen. […] Wir spürten, dass endlich die wahre Freude unseres Krieges begann, weil unser Sieg wirklich begann. Wir spürten, dass es nun kein Leben für uns gab, wenn nicht in der Neuheit der Tat, in der fortwährenden Neuheit der Energie, die sich nicht unterbricht und sich nicht verlangsamt, im Gegenteil sie wächst und beschleunigt sich. […] Wie wir uns dem Ziel näherten, wie wir von Herzschlag zu Herzschlag das Schicksal und den Sieg herausforderten, erheiterte sich und erstrahlte jenes Antlitz [des schöneren Italiens]. Es war das Antlitz unserer Liebe selbst, dem wir alle ergeben waren, dem wir alle bis zum Opfer und darüber hinaus ergeben sind. Und die Liebe und der Tod und der Ruhm und das Vaterland waren uns, sind uns eine einzige Schönheit, die wir jedes Mal in unserer geweiteten Brust tragen werden, zwischen Flügel und Flügel, dort, wo alles Reinheit und Hoffnung ist. […] Fordern wir das Morgen und das Unbekannte heraus, o Freunde, mit unserem Schlachtruf: Eia! Eia! Alalà!“87
Der comandante sonnt sich und seine Mannschaft im schönen, von ihm selbst erzeugten Schein eines ästhetisierten Krieges. Doch bemerkenswert an dem Zitat sind der Aktionismus und Kult der Tat, der zu einem Signum des Faschismus werden sollte. D’Annunzio hatte sich über die gesamte Einwohnerschaft Wiens erhoben und hatte sie von seiner Gnade abhängig gemacht. Tatsächlich demonstrierte er mit dem Abwurf von Worten statt Bomben einen Überfluss an Macht. Und D’Annunzio schrieb mit seinem Wien-Flug die Macht über Mensch und Natur deutlich in das Flugzeug ein. Heldentum und vivere pericolosamente, gefährlich leben, Virilität und Avantgardismus gehörten fortan zu den zentralen Botschaften des Flugzeuges, das von einem zu einer zentralen Kategorie des Lebens stilisierten, essentialisierten Krieg zeugte. Das waren auch die
86 Zu Warburgs Verwendung des Begriffs des „Leitfossils“ siehe: Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1984, S. 349. 87 Gabriele D’Annunzio: Parole di G. D’Annunzio dopo il volo su Vienna, in: SG Bd. 2, [Or. 1918], S. 757–762, S. 759, S. 762.
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Abb. 4 Am 9. August 1918 warf D’Annunzio Worte statt Bomben auf die Hauptstadt der k.u.k. Monarchie ab.88
Topoi, welche die Faschisten im Anschluss an D’Annunzio und die Futuristen besetzen sollten, als sie sich ebenfalls des Flugzeuges als Symbol bedienten. Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert sprach im Zusammenhang von D’Annunzios zynischem Abwurf von Worten statt Bomben von „rhetorischem Douhetismus“.89 Poetischer Douhetismus scheint allerdings gleichermaßen zutreffend, setzt doch D’Annunzio das Bombardement als poetisches Mittel zur Katharsis der Wiener ein. Das aufgeführte aviatische Schauspiel sollte deren Läuterung bewirken, die sie selbst durch den Bruch mit der eigenen Regierung und den preußischen Generälen einzuleiten vermochten. D’Annunzio ließ es aber nicht beim poetischen Douhetismus bewenden, er 88 D’Annunzios Wiener Flugblatt abgebildet mit freundlicher Genehmigung der Archivi del Vittoriale, Archivio Iconografico. 89 Bernhard Siegert: L’Ombra della macchina alata. Gabriele D’Annunzios renovatio imperii im Licht der Luftkriegsgeschichte 1909–1940, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 261– 306, S. 291. Die Luftkriegstheorie des italienischen Generals Giulio Douhet (1869–1930) ist als Douhetismus bekannt geworden. In einer deutschen Ausgabe seines 1921 zuerst erschienenen Buches Il dominio dell’aria heißt es: „Der Krieg der Zukunft ist ein totaler Krieg. Douhets Leitgedanke ist: Verteidigung zu Lande und zur See, Massenangriff in der Luft! Ein Sieg zu Lande oder zur See erzwingt keine Entscheidung mehr, erst der Besitz der Luftherrschaft schafft die Möglichkeit, dem Feind mit Hilfe der wirksamen Offensive, der Luftoffensive, den eigenen Willen aufzuzwingen. Daher muß nach Douhet die Luftarmada die Herrschaft im Luftraum und den Sieg durch Vernichtung der feindlichen Luftstreitkräfte und ihrer Hilfsquellen durch gewaltsame Zerstörung der materiellen und geistigen Zentren, durch Großangriffe auf den gesamten Lebensraum des Gegners gewinnen.“ Hilmer Freiherr von Bülow: Vorwort, in: Giulio Douhet: Luftherrschaft, Berlin 1935, S. 5–9, S. 7.
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beabsichtigte auch tatsächlichen Douhetismus. So entwarf er Pläne für ein Flächenbombardement der Städte Wien und Pola. Das ist seiner dem Chef des italienischen Generalstabs des Heeres Cadorna zugesandten Denkschrift Über den Einsatz von Bombengeschwadern in den kommenden Operationen vom 11. Mai 1917 zu entnehmen: „Mit allem ausgerüstet, was für einen achtstündigen Flug erforderlich ist, trägt er [der Caproni-Dreidecker] eine Bombenlast von einer Tonne und mehr. Er trägt folglich tausend Kilo Sprengstoff nach Wien, aber über Pola wirft er zweitausend Kilo ab. Die ersten dieser Flugzeuge werden in der ersten Junihälfte bereitstehen. Wir werden bald dreißig davon haben. […] Auf den Hafen von Pola, wo man im Amphitheater das Gesicht Roms sieht, auf die großen österreichischen Schiffe, die mit Vorsicht gepanzert in ihrer mönchischen Abgeschiedenheit den kleinen Ruhm von Lissa anbeten, könnten wir mit einem Mal eine Bombenlast von mehr als sechzig Tonnen niederregnen lassen und dann Nachschub holen, um den brausenden Sturm mit wahrer römischer Ausdauer zu wiederholen.“90
Zum anvisierten Feuersturm kam es indes vorerst nicht. Das hinderte D’Annunzio aber nicht daran, das Motiv des kathartischen Feuers und des Feueropfers exzessiv zu verwenden. Die futuristische Variante des läuternden Feuers, der Krieg als „einzige Hygiene der Welt“, wird noch in einem späteren Kapitel ausführlicher behandelt werden.91 An dieser Stelle gilt es jedoch, nochmals zu festzuhalten, dass das Konzept des Feuers und des Feueropfers, das der Wiedergeburt der Nation vorausgeht, keine „bloße Rhetorik“ war.92 Es handelte sich vielmehr um einen ernstzunehmenden Akt der Sinngebung, der erhebliche Konsequenzen auch in der Praxis des Krieges nach sich ziehen sollte.
c. Die Auflösung des Nomos und die politische Religion Italien hatte 1918 circa 650.000 Kriegstote zu beklagen. Das waren in etwa 7,5 % aller Männer im Alter zwischen 15 und 49.93 Der hunderttausendfache Tod der Soldaten durfte nicht vergeblich gewesen sein. Daher bedurfte er der Einbettung in einen Sinnhorizont, ja der eschatologischen Verklärung. Und es war die christlich aufgeladene Semantik des Opfers für die Nation, die es vermochte, einem für den Kriegsausgang häufig sinnlosen und zudem zufälligen 90 USAM, R.A., cart. n. 77, D’Annunzio G. Deutsche Fassung zit. nach: Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant, S. 27–36, S. 28. 91 Siehe das Kapitel III.1. Dass der Krieg „die einzige Hygiene der Welt“ sei, war bereits dem ersten futuristischen Manifest, welches im Figaro vom 20.2.1909 erschien, zu entnehmen. Siehe: Filippo T. Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, in: Ders.: Teoria e invenzione futurista, hrsg. v. Luciano De Maria, Mailand 1983 [repr.], S. 7–14, S. 11. 92 Vgl. hierzu die bereits zitierte Ansprache D’Annunzios an die Studenten vom 7.5.1915 sowie „Der Glaube an die italienische Luftfahrt“. Siehe auch Mosse: The Poet and the Exercise of Political Power, S. 91f. 93 Vgl. Isnenghi/Rochat: La grande guerra, S. 471f.
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und „unheroischen“ Tod auf dem Schlachtfeld die Sinnlosigkeit zu nehmen.94 Mit der Aufopferung des Lebens für die Nation wurde der Tod transzendiert. Mochte das einzelne Leben nun auch zu Ende sein, diesem erloschenen Leben war es zu verdanken, dass das Kollektiv weiterleben oder wiedergeboren werden konnte. Das Ende der individuellen (Lebens-)Zeit erhielt seinen Sinn dadurch, dass dieses zum Grund der Teilhabe an der ewigen Zeit der Nation wurde. In Anschluss an George L. Mosse hat Emilio Gentile den Gefallenenkult des Ersten Weltkrieges beziehungsweise der Nachkriegszeit zur „ersten universellen, liturgischen Manifestation der Sakralisierung der Politik im 20. Jahrhundert“ erklärt.95 Der Gefallenenkult habe, so Gentile, der Heiligung der Nation einen neuen Antrieb beschert. Und für die Phase des Weltkrieges und der Besetzung Fiumes war D’Annunzio die treibende Kraft hinter der Konstruktion einer italienischen Nationalreligion.96 Es lohnt also, einen Blick auf das im Anschluss an den Krieg von D’Annunzio unternommene Abenteuer in Fiume zu werfen. Die von D’Annunzio betriebene Sakralisierung der Politik bildet den Kontext, innerhalb dessen die aviatischen Topoi erst ihren übergreifenden Sinn entfalten. Fiume stellt also nicht nur einen Epilog zum Krieg, sondern auch einen Prolog zur Errichtung der faschistischen Diktatur in Italien dar. Doch bevor der Blick zu jener kleinen istrischen Hafenstadt, deren kroatischer Name Rijeka lautet, wandert, ist es notwendig, das Konzept der „Sakralisierung der Politik“ und den Begriff der „politischen Religion“ in ihren hiesigen Verwendungen zu klären. Der Begriff der „politischen Religion“ ist nicht nur in unzähligen Publikationen behandelt worden, er ist seit dem Jahr 2000 sogar Gegenstand einer ihm eigens gewidmeten Zeitschrift, Totalitarian Movements and Political Religion.97 Bereits die Zeitgenossen des Faschismus verwendeten den Begriff, und obgleich der Politikwissenschaftler Eric Voegelin häufig als sein Schöpfer genannt wird,98 wurde der Terminus bereits während der Französischen Revolution von Condorcet gebraucht.99 Während das wiederholt mit der politischen Religion verwechselte Konzept der Zivilreligion von Jean Jaques Rousseau stammte, prägte Raymond Aron 1944 den Begriff der säkularen 94
Siehe zum Gefallenenkult in Italien: Oliver Janz: Zwischen privater Trauer und öffentlichem Gedenken. Der bürgerliche Gefallenenkult in Italien während des Ersten Weltkrieges, in: GG 28/2002, S. 554–573 sowie ders.: Monumenti di carta. Le pubblicazioni in memoria dei caduti della Prima Guerra Mondiale, in: Fabrizio Dolci/Ders. (Hrsg.): Non Omnis Moriar. Gli opuscoli di necrologio per i caduti italiani nella Grande Guerra, Rom 2003, S. 1–44. 95 Gentile: Il culto del littorio, S. 31, [Übersetzung durch den Verfasser, F.E.]. 96 Vgl.: Ebd., S. 30. 97 Für einen Überblick siehe: Emilio Gentile: Political Religion: A Concept and its Critics – A Critical Survey, in: Totalitarian Movements and Political Religion 6/2005, S. 19–32. 98 Siehe: Eric Voegelin: Die Politischen Religionen, München 1993 [Or. 1938]. 99 Siehe: Emilio Gentile: Le religioni della politica. Fra democrazie e totalitarismi, Rom u.a. 2001, S. 5.
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Religion.100 Hier genügt es, daran zu erinnern, dass George L. Mosse in den 1960er Jahren den Blick auf die religiösen oder pseudoreligiösen völkischen Fundamente des Nationalsozialismus lenkte und dass der Voegelin-Schüler Klaus Vondung den Begriff mit seiner Studie Magie und Manipulation erneut explizit in die Faschismusforschung einbrachte.101 Mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems entbrannte die Debatte um die politischen Religionen sowie um den Nutzen und Nachteil des Totalitarismusbegriffs erneut. Zentrale Beiträge lieferte das Umfeld des Münchner Politikwissenschaftlers Hans Maier.102 Es war aber vor allem Emilio Gentile, der mit seinem Buch zum Liktorenkult im faschistischen Italien zu einer heuristisch fruchtbaren Wiederbelebung des Konzepts der politischen Religion in der Faschismusforschung beitrug.103 Und vor wenigen Jahren zog Michael Burleigh dieses Konzept für seine Interpretation des Nationalsozialismus erfolgreich heran.104 Emilio Gentiles Definition der politischen Religion und des Prozesses der Sakralisierung der Politik bildet die Grundlage für das dieser Studie zugrunde liegende Verständnis. Laut Gentile löse eine politische Bewegung eine Sakralisierung der Politik aus, wenn sie „a) den Primat einer weltlichen, kollektiven Einheit heilig spricht und diesen in das Zentrum eines Systems von Überzeugungen und Mythen stellt, die Sinn und Zweck der sozialen Existenz definieren und die Unterscheidungskriterien zwischen Gut und Böse festlegen; b) dieses Konzept in einem Kodex von ethischen und sozialen Geboten formalisiert, die das Individuum an die sakralisierte Gemeinschaft binden, indem sie ihm die Treuepflicht und Ergebenheit auferlegen; c) ihre Kämpfer als eine Gemeinschaft der Auserwählten betrachtet und die eigene politische Aktion als eine messianische mit dem Ziel der Vollendung einer Mission interpretiert; d) eine politische Liturgie entwickelt für die Anbetung der sakralisierten kollektiven Einheit mittels des Kultes der Institutionen und der Bilder, in denen sie sich materialisiert, und mittels der mythischen und symbolischen Darstellung einer heiligen Geschichte, die von Zeit zu Zeit in einer rituellen Beschwörung der Heldentaten der Gemeinschaft der Auserwählten reaktiviert wird.“105
100
Siehe Gentile: Political Religion, S. 21. Siehe: Mosse: The Crisis of German Ideology sowie Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und Politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971. 102 Siehe: Hans Maier: Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995 vor allem aber: Ders. (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. I, Paderborn u.a. 1996; ders./Michael Schäfer (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. II, Paderborn u.a. 1997; ders. (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt/M. 2000 sowie ders. (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. III, Paderborn u.a. 2003. 103 Siehe Gentile: Il culto del littorio. 104 Siehe Michael Burleigh: National Socialism as a Political Religion, in: Totalitarian Movements and Political Religions 1/2000, S. 1–26; ders.: The Third Reich. A New History, London 2000; für eine Entwicklungsgeschichte der politischen Religion im langen 19. Jahrhundert siehe auch: Ders.: Earthly Powers. Religion and Politics in Europe from the Enlightenment to the Great War, London 2005. 105 Emilio Gentile: Die Sakralisierung der Politik, in: Maier (Hrsg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt/M. 2000, S. 166–182, S. 169. 101
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Politische Religion versteht Gentile wiederum als „eine Form der Sakralisierung der Politik, die einen ausschließenden und integralistischen Charakter aufweist; sie akzeptiert nicht die Koexistenz mit anderen Ideologien und politischen Bewegungen, verneint die Autonomie des Individuums gegenüber dem Kollektiv, schreibt die zwingende Einhaltung ihrer Gebote und Teilnahme am politischen Kult vor, heiligt die Gewalt als legitime Waffe gegen Feinde und Mittel der Erneuerung; sie nimmt eine feindliche Haltung gegen die institutionalisierten traditionellen Religionen ein, sucht sie zu vernichten oder ein Verhältnis symbiotischer Koexistenz zu ihnen zu errichten, sofern die politische Religion die traditionelle Religion in ihr eigenes System von Glaubensinhalten und Mythen einzuverleiben sucht und ihr eine untergeordnete und dienende Stellung einräumt.“106
Was versteht Gentile aber unter Religion? Nun, Religion ist das Ergebnis jenes Prozesses der Heiligung einer Entität. Und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eine transzendente oder immanente Entität handelt. Diese vielfach kritisierte Ausweitung des Religionsbegriffs findet sich bereits bei Voegelin.107 Er unterschied zwischen überweltlichen und innerweltlichen Religionen und sprach „jeder Absolutsetzung einer Wirklichkeit, die für das Denken, Fühlen, Wollen, Handeln und Sein eines Menschen sinnstiftend und letztentscheidend ist, ein religiöses Moment“ zu.108 Mag diese Absolutsetzung Religionswissenschaftlern auch nicht als hinreichendes Kriterium genügen, um ein Glaubenssystem als Religion zu qualifizieren, für eine Analyse totalitärer Ideologien ist es geeignet. Damit ist ein weiterer zentraler Begriff der Faschismusforschung gefallen, Totalitarismus. Seit dem Erscheinen von Hannah Arendts The origins of totalitarianism 1951 ist dieser Begriff ebenfalls heftig umstritten.109 Um eine langwierige Exegese zu vermeiden, scheint es auch in diesem Fall sinnvoll, eine plausible und heuristisch fruchtbare Definition zu wählen.110 Sie stammt ebenfalls von dem römischen Historiker Gentile.111 Für die hiesigen Belange 106
Gentile: Le religioni della politica, S. 208. Siehe Voegelin: Die politischen Religionen, S. 17. Da heißt es: „die Geistreligionen, die das Realissimum im Weltgrund finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen.“ 108 Mathias Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, in: Hans Maier/Michael Schäfer (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religion, Bd. II, Paderborn u.a. 1997, S. 249–269, S. 254, [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.]. Siehe zudem: Juan J. Linz: Der religiöse Gebrauch der Politik und/oder der politische Gebrauch der Religion. Ersatz-Ideologie gegen Ersatz-Religion, in: Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religion, Bd. I, Paderborn u.a. 1996, S. 129–154. Gentile geht von einer ebensolchen Absolutsetzung aus. Siehe: Emilio Gentile: Fascism, Totalitarianism and Political Religion. Definitions and Critical Reflections on Criticism of an Interpretation, in: Totalitarian Movements and Political Religions 5/2004, S. 326–375, S. 364. 109 Hannah Arendt: The origins of totalitarianism, New York, NY 1951. 110 Für einen Überblick über die Geschichte des Totalitarismusbegriffs siehe: Gleason: Totalitarianism; Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. 111 Siehe Emilio Gentile: Der Faschismus, S. 94. 107
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gilt es, insbesondere folgende Punkte festzuhalten: Der Totalitarismus ist ein „politisches Experiment“. Das heißt, es handelt sich um einen Anspruch, der unabhängig von dem erreichten Grad totalitärer Durchdringung der Gesellschaft durch das Regime besteht. Dieser Anspruch zielt auf eine „Eroberung der Gesellschaft“, um eine Palingenese und, damit zusammenhängend, eine „anthropologische Revolution“ einzuleiten, die einen Neuen Menschen hervorbringt.112 Sowohl der Begriff der politischen Religion als auch der des Totalitarismus machen also auf einen wesentlichen Aspekt der faschistischen Ideologie und Praxis aufmerksam. Es geht nicht allein um eine Ordnung des Politischen. Die Ziele des Faschismus betreffen den Menschen als Ganzes und nicht nur als zoon politikon. Mensch und Gesellschaft sollten neu erschaffen werden und eine neue Zeit soll ihren Anfang nehmen. Aufgrund dieses allumfassenden Anspruchs ist der Begriff der politischen Religion und auch der des Mythos geeignet, wesentliche Aspekte des Faschismus verständlich zu machen. Denn es handelte sich um eine „Weltanschauung“ im umfassenden Sinne des Wortes. Die faschistische Ideologie sprengt nämlich die Grenzen zwischen den einzelnen Gesellschafts- und Wertsphären, die sich infolge der Aufklärung etabliert hatten. Der politische Bereich ist religiös, und die religiöse Sphäre ist politisch und keine Privatangelegenheit des Individuums. Das hat seine konkreten historischen Wurzeln in der Romantik, gründet aber, wie Peter L. Berger gezeigt hat, auf anthropologischen „Konstanten“.113 Der Erste Weltkrieg destabilisierte nicht nur den herrschenden Nomos, er führte vielmehr zu dessen Auflösung. Das Ergebnis war eine Krise der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit, und das heißt auch jener vermeintlich festen Grundpfeiler, die Orientierung bieten und Handeln durch Legitimation erst ermöglichen.114 Einen Ausweg aus dem ubiquitären Relativismus, einen festen Standpunkt, vermochte also allein eine religionsäquivalente Weltanschauung zu bieten. Religion ist nämlich ein „Medium für Legitimierung“, das gesellschaftliche Wirklichkeit „wahrt und bewahrt“.115 Religion, so Berger, „gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der sozialen Welt das Fundament eines heiligen realissimum, welches per definitionem jenseits der Zufälligkeiten menschlichen Sinnens und Trachtens liegt.“ Hierdurch gelingt es, menschliche „Produkte in über- oder außermenschliche Faktizitäten“ zu verwandeln und den „Produktcharakter“ der von Menschen errichteten Welt zu verleugnen. Dadurch wird „menschlicher Nomos […] göttlicher Kosmos oder jeden112
Zum Begriff der Palingenese und zu seinem Zusammenhang mit dem Faschismus siehe: Griffin: The Nature of Fascism, S. 26 u. S. 32–36 sowie ders: Modernism and Fascism. 113 Siehe Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, S. 188–211. 114 Siehe Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. 115 Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 32. Dort auch das folgende Zitat.
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falls eine Wirklichkeit, die ihren Sinn von jenseits der menschlichen Sphäre herleitet.“116 Der Faschismus wird hier als Versuch gesehen, einen solchen menschlichen Nomos als eine „über- oder außermenschliche Faktizität“ zu denken und so dem Relativismus-Vorwurf zu entgehen, der sich nicht zuletzt im Zuge der Krise des Historismus ergeben hatte. Dem Relativismus entgingen die Faschisten, indem sie ein Immanentes, namentlich die Nation und/ oder das Volk, absolut setzten. Das Medium durch welches und in welchem dies geschah war der Mythos. Dieser Zusammenhang von politischer Religion, Mythos, Faschismus und Moderne wird in den folgenden Kapiteln anhand der Interpretation unterschiedlicher Aspekte des Aviatikdiskurses näher beleuchtet, zunächst durch eine Annäherung an die Besetzung Fiumes. Den Kontext für die Besetzung Fiumes stellt jene Phase radikaler Auflösung des bestehenden Nomos dar, die auf den Krieg folgte. Die liberale Ordnung war bereits während des Krieges in die Brüche gegangen, doch nun folgte, nicht zuletzt aufgrund der Auflösung der Imperien, der Revolutionen und der Neugestaltung des europäischen Staatensystems, die Bewusstwerdung des Zerfalls der alten Ordnung. Mit diesem Zerfall ging die Ausbreitung der Sehnsucht nach Ordnung einher und das Erstarken des Ordnung generierenden mythischen Denkens.
d. Fiume und die Sakralisierung der Politik Auf die militärische und „moralische“ Katastrophe von Caporetto, bei der es den Mittelmächten im Oktober 1917 gelungen war, die Südwestfront zu durchbrechen, die italienischen Truppen an den Rand der völligen Auflösung zu treiben und bis an den Piave, etwa 40 Kilometer vor Venedig, vorzudringen, folgt in der italienischen Hagiographie des Krieges der Sieg von Vittorio Veneto vom 4. November 1918.117 Erst in diesem Jahr zwischen den beiden Schlachten begann die patriotische Mobilisierung der Italiener, insbesondere weiterer Teile der Mittelschichten.118 Die Mobilisierung der Geister und Herzen war ein Ergebnis der infolge von Caporetto entstandenen bedrohlichen Situation. Der Zwang zur Abwehr des äußeren, nun aber auch des vermeintlichen inneren, Feindes führte zur Einsicht in die Notwendigkeit der Erzeugung nationaler Kohäsion. Und die Präsenz der „germanischen Barbaren“ auf italienischem Boden lieferte einen legitimen Grund zum Krieg, der selbst den nicht interventionistischen Sozialisten plausibel schien. Die Besetzung des Landes mobilisierte für einen Krieg, der bisher allein mit dem sacro egoismo,
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Ebd., S. 87. Für den Verlauf der beiden Schlachten und deren Konsequenzen siehe: Isnenghi/ Rochat: La grande guerra, S. 373–406 u. S. 466–471. 118 Vgl. Gibelli: La grande guerra degli italiani, S. 308–313. 117
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mit dem heiligen Egoismus der zu spät gekommenen, kleinsten der europäischen Großmächte begründet worden war. Während sich D’Annunzio bereits seit 1915 mit seinen interventionistischen Reden und mit seinen spektakulären und multimedial verbreiteten Kriegsaktionen der patriotischen Mobilisierung gewidmet hatte, veranlasste erst die drohende totale Niederlage die „liberalen“ Führungsschichten, sich des Phänomens „der Massen“ anzunehmen.119 Als Italien am 4. November 1918 in der Villa Giusti den Waffenstillstand mit dem Habsburgerreich schloss, endete der Krieg allein auf den Schlachtfeldern. Wie sich sehr bald zeigen sollte, galt es nicht nur, die Armee zu demobilisieren, die Wirtschaft auf Friedenswirtschaft umzustellen, die zerrütteten Staatsfinanzen zu stabilisieren120 und die durch den Krieg noch verschärften sozialen Spannungen zu lösen. Diese bereits herkulischen Aufgaben wurden übertroffen durch die Notwendigkeit, angesichts der gerufenen mobilisierten Geister, sich die im Londoner Pakt von 1915 versprochene Beute einzuverleiben.121 Mit dem amerikanischen Kriegseintritt im Jahr 1917 und der Proklamation von Wilsons 14 Punkten hatten sich allerdings unvorhergesehene Hürden auf dem Weg zur più grande Italia ergeben. Wilson war weder an den Londoner Pakt gebunden noch ließ sich letzterer mit dem proklamierten Ende der Geheimdiplomatie und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in Einklang bringen. Italien sah sich zudem von Seiten der übrigen Ententemächte, insbesondere Frankreichs, mit einer Geringschätzung seiner Kriegsanstrengungen konfrontiert. Der italienischen Delegation stellten sich also bei den Pariser Friedensverhandlungen schier unüberwindliche außenpolitische Konflikte, welche die kritische innenpolitische Lage zusätzlich verschärften.122 Dem nationalistischen Zauberlehrling Italien geriet die Lage außer Kontrolle. Es handelte sich um eine Krise, welche die liberale Ordnung des 19. Jahrhunderts in ihren Grundfesten erschütterte. Die liberale Notabilität, Italiens postunitarische Führungsschicht, war in sich zerspalten und den anstehenden Aufgaben nicht gewachsen. Jene liberale Ära, die mit dem Namen des fünf119
Ebd., S. 310f. Siehe hierzu: Douglas Forsyth: The Crisis of Liberal Italy. Monetary and Financial Policy 1914–1922, Cambridge 1993 sowie Charles S. Maier: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany and Italy in the Decade after World War I, Princeton, NJ 1975. 121 Um den Italienern den Kriegseintritt auf Seiten der Ententemächte schmackhaft zu machen, hatten diese Italien Gebietsgewinne zugesichert: das Trentino und Südtirol, die Brennergrenze, Triest und Istrien bis zur Kvarner-Bucht (Fiume war also nicht Teil des Handels), Dalmatien, eine Art Protektorat über Albanien, Souveränität über den Dodekanes sowie Anteile an der Konkursmasse des osmanischen Reiches und eine Klärung von Grenzfragen im Falle von Eritrea, Somalia und Lybien. Vgl. Nicola Tranfaglia: La prima guerra mondiale e il fascismo, Turin 1995, S. 46. 122 Zu den Verhandlungen in Paris, der „adriatischen Frage“ und der sich verschärfenden innenpolitischen Krise siehe: Ebd., S. 131–146 sowie: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 99– 119. Für einen allgemeinen Überblick zur Lage in Italien nach dem Ersten Weltkrieg siehe zudem: Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010. 120
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maligen Ministerpräsidenten Giolitti verschmolzen ist, schien an ihr Ende gelangt, denn es war nun nicht mehr wie bisher möglich, an den Massen vorbei zu regieren. Deren Mobilisierung für den Krieg und die Integration der Kriegsgegner hatte man nämlich nicht allein durch nationalistische Agitation erreicht. Vielmehr hatte man auch die Hoffnung geschürt, nach Kriegsende würden die Massen in einem stärkeren Maße sowohl am politischen Prozess als auch an den Produktionsmitteln, insbesondere dem landwirtschaftlichen Boden, beteiligt. Während die Erwartungen an eine Veränderung der Verhältnisse nach dem errungenen Sieg wuchsen, schwanden sowohl die Möglichkeiten als auch die Bereitschaft, die Versprechen einzulösen und die Erwartungen zu erfüllen. Doch es gab auch politische Alternativen zur althergebrachten liberalen Führungsschicht und es bildeten sich weitere heraus. Der Krieg hatte nämlich sowohl zu einer Vergrößerung der Machtbasis der Sozialisten und ihrer Gewerkschaftsorganisationen geführt als auch das Erstarken des politischen Katholizismus mit sich gebracht.123 1919 gründete Don Luigi Sturzo den Partito Popolare Italiano, die italienische katholische Volkspartei.124 Das Verhältnis zwischen dem Vatikan und dem laizistischen Staat hatte sich entspannt und das päpstliche Non expedit von 1874 wurde stillschweigend aufgehoben. Und nicht zuletzt bedrohte ein wachsender Nationalismus, der noch der Bündelung seiner unterschiedlichen Kräfte und Strömungen harrte, die Stabilisierung der ohnehin krisenhaften Situation.125 Als der Sieg in Sicht war, hatte D’Annunzio begonnen, das Opfermotiv immer häufiger direkt mit der Frage der Kriegsbeute zu amalgamieren.126 D’Annunzio, der nunmehr dazu übergegangen war, seine Reden dezidiert zu Predigten zu deklarieren, prägte im Oktober 1918 in seiner Preghiera di Sernaglia, in seiner Predigt von Sernaglia jene irredentistische Phrase, welche die nächsten Jahre bestimmen sollte: „Vittoria nostra, non sarai mutilata“,
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Zur Geschichte des italienischen Sozialismus und der Arbeiterbewegung siehe: Gaetano Arfè: Storia del socialismo italiano 1892–1926, Turin 1992; Zeffiro Ciuffoletti: Storia del PSI. I. Le origini e l’età giolittiana, Rom u.a. 1992. Zum biennio rosso, den beiden von Streiks, Landbesetzungen und Revolutionsfurcht geprägten Jahren 1919 und 1920 in Italien siehe: Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 232ff. u. S. 247ff. sowie Tranfaglia: La prima guerra mondiale, S. 180–192 sowie Elio Giovannini: L’Italia massimalista. Socialismo e lotta sociale e politica nel primo dopoguerra italiano, Rom 2001. 124 Für einen Überblick über den politischen Katholizismus in Italien und die Gründung des PPI siehe: Guido Formigoni: L’Italia dei cattolici. Fede e nazione dal Risorgimento alla Repubblica, Bologna 1998; Tranfaglia: La prima guerra mondiale, S. 165–171; Sergio Zoppi: Dalla rerum novarum alla democrazia cristiana di murri, Bologna 1991. 125 Zur Entwicklung des Nationalismus in Italien und dessen Verhältnis zum Faschismus siehe: Stefan Breuer: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 125–144; Alexander J. De Grand: The Italian Nationalist Association and the rise of fascism in Italy, Lincoln, NE u.a 1978; Emilio Gentile: La Grande Italia. Il mito della nazione nel XX secolo, Rom u.a. 2006 u. Tranfaglia: La prima guerra mondiale, S. 147–165. 126 Siehe zum Folgenden auch: Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 311ff.
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also „unser Sieg, du wirst nicht verstümmelt werden“.127 Und wenige Tage später legte er in seiner Preghiera di Aquileia ein Vaterunser ganz eigener Art vor: „O Tote, die ihr in der Erde wie im Himmel seid, geheiligt werden eure Namen, euer geistiges Reich komme, euer Wille geschehe auf der Erde. Unserem Glauben gebt das täglich Brot, und haltet in uns wach den heiligen Hass, wie auch wir niemals eure Liebe verleugnen werden. […] Wenn es nötig ist, werden wir kämpfen bis der gerechte Herrgott komme, um zu richten die Lebenden und die Toten. So soll es geschehen.“128
Die Sakralisierung der Politik, die der Demagoge betrieb, kannte weder Scham noch Grenzen. Im Zentrum seiner Rhetorik stand eine geheiligte Nation, deren Wiedergeburt und Erneuerung durch die Opfer im Krieg hervorgebracht werden sollte. In diesem Sinne stellt D’Annunzio ein unverzichtbares Bindeglied dar zwischen der von George L. Mosse beschriebenen Nationalisierung der Massen sowie dem Kult um die gefallenen Soldaten und der Etablierung einer faschistischen politischen Religion. Die von D’Annunzio beschworenen Opfer waren auf dem „Altar des Vaterlandes“ für die größere und erneuerte Nation dargebracht worden. Dabei handelte es sich keineswegs um eine bloß manipulative Rhetorik, sondern um einen notwendigen Akt der Sinngebung angesichts des millionenfachen Todes, den es in Europa zu verarbeiten galt. Eine Sinngebung, welche an bekannte Deutungsmuster anknüpfte, sie aktualisierte und dem situativen Kontext anpasste. Das geschah, man denke an das in der Einleitung abgebildete Diskursmodell, indem Verknüpfungen zwischen bisher unverbundenen Begriffen geschaffen, eine bereits bestehende semantische Nähe gesteigert oder minimiert und Relationen verschoben wurden. Der Tod auf dem Schlachtfeld mutierte in Italien wie in Deutschland, aber auch in den anderen Ländern Europas zur „Saat“ eines neuen Lebens und eines Neuen Menschen. Der Opfertod wurde zur Grundlage der Wiedergeburt der erneuerten Nation. Und wie folgender Ausschnitt aus Hans Schwarz’ Langemarck-Rede Die Wiedergeburt des heroischen Menschen aus dem Jahr 1928 zeigt, waren weder die d’annunzianischen Topoi noch sein Pathos singulär: „Die Toten von Langemarck aber sind wie ein neuer Adel, der uns wieder verheißen ist! Ihre Züge lassen sich meißeln, und wir müssen vor ihnen bekennen: sie starben nicht für Deutschland, um seine Idee zu retten – sie starben für eine neue Welt, um Deutschland zu retten! Hier pflanzen sie die Zeichen des Aufstandes unter den Völkern auf und werden zu Sendboten einer Verjüngung! Sie reißt ihr Andenken aus dem Dunkel des Grabes ins Licht der Auferstehung: sie machen auf menschliche Weise den Sinn des göttlichen Kreuzes wieder zur Wahrheit. Während sich im Westen ein Schemen mit dem fahlen Purpur des
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Gabriele D’Annunzio: La preghiera di Sernaglia, in: PdR Bd. 1, [Or. 1918], S. 593–599, S. 599. Gabriele D’Annunzio: La preghiera di Aquileia, in: PdR Bd. 1, [Or. 1918], S. 600–603, S. 600.
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Sieges bedeckt, steigen diese Jünglinge aus der neuen Erde und bejahen den Willen des Vaters, der niemand anderes war als der Krieg!“129
Die religiöse Aura, welche die Nation und ihre Gefallenen umgab, wurde im Falle Italiens, welches nun um die Früchte des Sieges bangte, noch zusätzlich durch die Rede von den unerlösten Gebieten gesteigert. Analog zur Passion Christi wurde eine Kausalität zwischen den Opfern und der Erlösung betont. Erst das Opfer gewährt die Erlösung, und die eintretende Erlösung verleiht dem Opfer wiederum einen Sinn. Angesichts des Verlaufs der Friedensverhandlungen im Jahr 1919 befürchtete man nun, dass die „Erlösung“ der terre irredente trotz der vielen Opfer ausbleiben würde. Blieb die Erlösung aus, verlor aber das Opfer seinen Sinn. Der Versuch, diesen Sinnhorizont zu erhalten, führte zur Radikalisierung der nationalistischen „Erlösungs-Theologeme“.130 Sichtbar wird diese Radikalisierung in der Intensivierung eines weiteren religiösen Motivs, nämlich dem der Reinigung. Hatte das Opfer nicht genügt, um die Erlösung einzuleiten, so war wohl noch Sühne erforderlich. Die Erlösung war ausgeblieben, weil die Nation noch unrein und mit Sünde behaftet war. Diese Logik des Opfers, der Reinigung und der Erlösung, dieser diskursive Mechanismus lässt sich erneut anhand eines bei D’Annunzio häufig wiederkehrenden Motivs verdeutlichen. Es handelt sich um das kathartische Feuer und den Holocaust im Sinne von Brandopfer.131 In einer im Oktober 1919 gehaltenen Grabesrede für die über Fiume abgestürzten und in der Stadt verbrannten Flieger Bini und Zeppegno heißt es: „An Pfingsten, als das Martyrium Fiumes die Grenze menschlichen Leidens erreicht hatte, wurde gesagt, Fiume erscheine als einzig lebende Stadt, einzig glühende Stadt, einzig beseelte Stadt auf dieser trüben Welt, ganz Hauch und Feuer, ganz Schmerz und Raserei, ganz Reinigung [purificazione] und Verzehr [consunzione]: ein Holocaust, der schönste Holocaust, der sich seit Jahrhunderten auf einem öden Acker dargeboten hatte. Und es wurde gesagt, der richtige Name der Stadt sei nicht Fiume, sondern Olocausta: vollkommen verzehrt vom Feuer ganz. […] Inmitten von Olocausta haben diese beiden jungen Italiener ihren Holocaust gezündet, inmitten des Landes der Glut haben diese beiden jun129 Hans Schwarz: Die Wiedergeburt des heroischen Menschen. Eine Langemarck-Rede vor der Greifswalder Studentenschaft am 11.11.1928, Berlin 1930, S. 13. 130 Zu den „Erlösungs-Theologemen“, auf die im Folgenden näher eingegangen werden wird, siehe: Gumbrecht: I redentori della vittoria. Zur Verdeutlichung des Zusammenhangs zwischen Opfer, Reinigung, Gewalt, Nation und politischer Religion siehe: Emilio Gentile: Der Liktorenkult, in: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wofgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 247– 261, S. 251. 131 „Holocaust“ wird hier und von D’Annunzio in jenem ursprünglich griechischen Sinne des Begriffs gebraucht, der erst Mitte der fünfziger Jahren auf die Shoah übertragen wurde und bis in die 1980er Jahre hinein trotz seiner religiösen Konnotationen des Brandopfers unangefochten blieb. Zur Verwendung des Begriffs Holocaust für die Ermordung der europäischen Juden siehe: Christoph Münz: „Wohin die Sprache nicht reicht …“ Sprache und Sprachbilder zwischen Bilderverbot und Schweigebot, in: Bettina Bannasch/Almuth Hammer (Hrsg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt/M. 2004, S. 147–166.
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gen Italiener den Scheiterhaufen ihres Opfers gezündet. […] Ruhm dem, der dem Feuer Feuer hinzufügte. […] Ruhm den beiden himmlischen Boten, die, im Ereignis ihres kurzen Lebens, unserem Geiste zeigten wie dieses von uns gelebte ein ewiges Leben zu sein vermag! Meine Piloten, bedeckt die beiden Särge. Vollführt den Ritus im Zeichen jenes Kreuzes, das die geflügelte Maschine ergibt mit ihren beiden Querflügeln zwischen dem Bug und den Rudern.“132
Erst das Feueropfer und der reinigende Brand, so die zugrunde liegende Logik, vermögen, neues, ewiges Leben und die Wiedergeburt der Nation hervorzubringen. Die Nation bedurfte der Katharsis, um erlöst und wiedergeboren zu werden. Der in Fiume propagierte Nexus zwischen Gewalt und Opfer, Reinigung und Erlösung, ewigem Leben und Wiedergeburt war für die faschistische politische Religion bestimmend. Doch es ist nicht allein D’Annunzios Opfer- und Erlösungsmetaphorik, die das fiumanische Abenteuer zu einem paradigmatischen Fall der Sakralisierung der Politik macht und die faschistische politische Religion in statu nascendi vor Augen führt. Auch weitere zentrale Topoi des Faschismus wurden hier etabliert. Es lohnt daher, noch kurz bei D’Annunzios Treiben nach dem Waffenstillstand zu verweilen. Am 9. Juli 1919 appellierte „il vate“ auf dem Flugfeld von Centocelle an die dort versammelten Flieger. Nach dem Waffenstillstand war ein Flugverbot erlassen worden, das nun aufgehoben wurde: „Wir sind nicht satt. Wir kehren nicht satt zurück aus dem Kriege. Unter allen Kämpfern sind wir privilegiert: wir können immer noch siegen, wir können immer noch sterben; wir wollen noch siegen und wir wollen noch sterben. Unsere Felder mutieren nicht zu Exerzierfeldern, sondern bleiben Felder des Kampfes und der Schlacht. […] Wie wir dem Krieg unsere Helden gaben, so haben wir sie dem Waffenstillstand gegeben, so werden wir sie dem Frieden geben. Man fliegt! Man fliegt. Italiens Schwinge ist befreit.“133
D’Annunzio beschwört hier den combattentismo, also den Geist und die Gemeinschaft der Frontkämpfer, wenn auch in einer spezifisch aviatischen Variante. Er fährt fort mit der Schilderung eines von Guido Keller,134 einem weiteren Flieger, der D’Annunzio nach Fiume begleiten sollte, in einem Käfig gehaltenen Adlers, der von einem Esel bemitleidet oder verspottet wurde: „Es ist das Bild unserer Fliegerei. Hierzu haben sie unsere Häupter, bis gestern, gemacht. Schlecht getarnte Feinde der Fliegerei und der Flieger: müde Alte oder ambitionierte Zurückgebliebene, mit den neuen Mitteln unerfahren und 132
Gabriele D’Annunzio: Il primo olocausto, in: PdR Bd. 1, [Or. 1919], S. 984–986. Gabriele D’Annunzio: L’Ala d’Italia è liberata, in: PdR Bd. 1, [Or. 1919], S. 879–894, S. 880. 134 Der naturbewegte Künstler, Esoteriker, Vegetarier und (Flieger) – „Ass der Herzen“ Guido Keller, gründete in Fiume unter anderem eine Yoga-Gruppe und praktizierte dort Freikörperkultur. Zudem flog Keller in gut d’annunzianischer und futuristischer Manier am 14.11.1920 Rom an und warf Rosen über dem Vatikan und dem Quirinalspalast sowie einen Nachttopf über der Abgeordnetenkammer ab. Siehe zu Guido Keller: Bettina Vogel: Guido Keller – Mystiker des Futurismus, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 117–132 sowie Salaris: Alla festa della rivoluzione. 133
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Gegner des göttlichen Instinkts, unfähig den Geist der Rasse zu verstehen, ihn zu unterstützen und anzuregen.“135 D’Annunzio bleibt beim Motiv der zwei Italien. Es gibt die althergebrachte, satte, verachtenswerte politische Klasse, die vor den übrigen Ententemächten ihr Haupt beugt und „es gibt auch ein Italien, das in die Höhe blickt, das in die Ferne zielt, […] und die zufluchtsortlose Ferne liebt. Dieses energische, kühne, abenteuerlustige Italien gibt es. Man braucht euch nur in die Augen zu schauen. […] Ein Teil jenes guten Stoffes wird dem Boden verbunden bleiben; aber ein Teil wird sich zum Flug, zum Abenteuer und zur Eroberung aufmachen, ein Teil wird sich Flügel setzen und die tausende und tausende blauen Wege betreten, […] wird die spurlosen Pfade und die kielwasserlosen Kurse gen Orient ansteuern […]. Befreien wir uns vom Okzident, der uns nicht liebt und der uns nicht will. […] Trennen wir uns vom degenerierten Westen, […] der zu einer riesigen jüdischen Bank im Dienste der erbarmungslosen transatlantischen Plutokratie geworden ist. […] Lasst uns unser Privileg als Kämpfer, die noch gewinnen können und noch gewinnen wollen, die noch sterben können und zu sterben wissen. Wenn die schwarzen Flammen, die grünen Flammen, die karmesinroten Flammen136 versprengt sein werden, werden sich die blauen Flammen dennoch versammeln, um ‚höher und weiter‘ ins Unbekannte zu gehen“.137
Die „jüdisch-transatlantische Plutokratie“, die „antriebslose, etablierte, politische Klasse des Gestern“, zahlreiche Feindbilder des Faschismus sind hier bereits versammelt. Vor allem schildert D’Annunzio aber auch das Gegenbild, es ist der dynamische, kampfbereite, risikofreudige, höher hinaus zielende Flieger. Dieser aviatische Menschentypus, der sich nicht scheut, neue und unbekannte Wege zu gehen, würde seine für die Erlösung der terre irredente gestorbenen Kameraden nicht verraten. Er würde verhindern, dass man Italiens Sieg verstümmelte. Und so wurde der Kampf um Fiume zu einem Symbol für diese zwei Italien stilisiert. Es war ein Kampf, den die glücklose und überforderte Regierung des Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando und sein Außenminister Sydney Sonnino weder daheim noch gegen Wilson gewinnen konnten. Und das, obwohl sie das Bild einer im Falle eines „verstümmelten Friedens“ drohenden Revolution an die Wand malten.138 Tatsächlich wurde die Lage in Italien zunehmend angespannter. Nationalisten diverser Couleur agitierten gegen die Regierung wie gegen die Sozia135
D’Annunzio: L’Ala d’Italia è liberata, S. 881. Die Arditi waren die italienischen Elite-Stoßtruppen, deren Uniform von einer Flamme geziert wurde. Wenn es sich um Arditi der Infanterie handelte, war die Flamme schwarz, wenn sie aus den Alpini-Einheiten stammten, war die Flamme grün und wenn sie aus den Bersaglieri-Einheiten stammten, war die Flamme karmesinrot. Zahlreiche Arditi sollten D’Annunzio nach Fiume begleiten. Sie gehörten zu den Gründungsmitgliedern der faschistischen squadre. Der schwarze Fez und die schwarze Flamme, die dann zur Uniform der faschistischen Miliz MVSN gehören sollten, stammten von den Arditi. Siehe zu den Arditi u.a.: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 189–202; Friedrich Kittler: Il fiore delle truppe scelte, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 205–225 sowie Giorgio Rochat: Gli arditi della grande guerra. Origini, battaglie e miti, Mailand 1981. 137 D’Annunzio: L’Ala d’Italia è liberata, S. 883 u. S. 887, S. 890. 138 Auch die Regierung hatte sich das d’annunzianische Bild angeeignet. Siehe: Tranfaglia: La prima guerra mondiale, S. 147. 136
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listen und beschworen die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes. Und der einstige Chefredakteur des sozialistischen Avanti! und mittlerweile des Il Popolo d’Italia, Benito Mussolini, rief am 23. März gemeinsam mit Futuristen, Syndikalisten, Arditi und anderen Veteranen auf der Mailänder Piazza San Sepolcro einen Fascio ins Leben. Mit dem Sturm des Avanti!-Gebäudes wenige Wochen später begann die Gewaltwelle der faschistischen Squadren gegen die Sozialisten, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1921 und 1922 haben sollte.139 Noch handelte es sich um eine kleine Minderheit, die sich auch in weiteren nord- und mittelitalienischen Städten zu Fasci di combattimento zusammentat. Gemeinsam waren dem äußerst disparaten Bündel der nationalistisch motivierte Aktionismus, eine aus dem Krieg stammende Gewaltaffinität, eine antibourgeoise und antisozialistische Haltung und die Verachtung der althergebrachten politischen Kaste und Praxis.140 Was jedoch ihre Faszination vor allem ausmachte, war die sie umgebende Aura eines dritten Weges und der Erneuerung. Zu diesem Zeitpunkt standen die Fasci allerdings noch nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese galt weiterhin D’Annunzio, der sich für eine Besetzung der nunmehr von der Regierung Nitti preisgegebenen Hafenstadt Fiume rüstete.141 Mussolini, der spätere Duce, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als dessen Adlatus.142 In der Nacht vom 11. auf den 12. September 1919 begab sich D’Annunzio auf seinen Marsch von Ronchi, einem Dorf bei Triest, in dem sich die aus Fiume verwiesenen sardischen Grenadiere aufhielten. Nebst den hinzuströmenden Arditi gehörten sie zum anfänglichen Kern von D’Annunzios „Legionären“. Auch mit dem „Marsch von Ronchi“ lieferte D’Annunzio eine Vorlage für das Kommende. Ähnlich wie Mussolini, der drei Jahre später mit dem Zug nach Rom kam, „marschierte“ auch D’Annunzio nicht zu Fuß, sondern im Auto. Mit über zweitausend Freiwilligen und regulären Truppen, die nach wenigen Tagen auf über zehntausend anschwellen sollten,143 besetzte der comandante die Stadt und proklamierte noch am gleichen Abend vom Balkon des Gouverneurspalastes die Annexion Fiumes. Der Dichter, so die Wahrnehmung nicht nur unter den italienischen Nationalisten und Faschisten, hatte die Stadt erlöst und das Leuchtfeuer des Risorgimento erneut entfacht. Der Marsch von Ronchi und seine Kontextualisierung als Tat des Risorgimento, der Kult der Tat überhaupt, der römische Gruß, die vom Balkon aus gehaltenen Reden, die Bezeichnung der Soldaten als Legionäre und nicht zu139
Siehe: Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 60ff. Zum frühen Faschismus von San Sepolcro siehe: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 104–154. 141 Zu den italienischen Verhandlungen und den Vorgängen, die zur Besetzung Fiumes führten siehe: Tranfaglia: La prima guerra mondiale, S. 132–146 u. S. 191–200. 142 So schreibt Ernst Nolte, Mussolini sei während dieser Zeit, die er „Mussolinis düsterstes Jahr nennt, „nichts anderes als der Leibjournalist D’Annunzios in Italien“ gewesen. Siehe: Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 244. 143 Siehe: Vogel-Walter: D’Annunzio, S. 131–154, differenzierte Schätzungen zu den in Fiume versammelten Soldaten liefert Vogel-Walter auf S. 149. 140
2. Aufstieg des Ikarus. D’Annunzio der fliegende Mythopoet
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letzt der Kult um den comandante selbst wurden in Fiume erfolgreich an den Massen erprobt. D’Annunzio schickte während seines fiumanischen Abenteuers zahlreiche Himmelskörper des faschistischen semantisch-symbolischen Kosmos bereits in ihre Umlaufbahn und nahm einen Großteil der liturgischen und rituellen Praxis des Faschismus vorweg. Doch De Felice und Leeden mahnten bereits in den 1970er Jahren, es wäre verkürzend, D’Annunzio vornehmlich als „Johannes den Täufer“ Mussolinis und das fiumanische Unternehmen allein als Geburtsstätte des Faschismus zu verstehen.144 Alceste De Ambris’ Carta del Carnaro, also die Verfassung Fiumes, sei von einem mazzinianischen Syndikalismus geprägt und habe mit dem Korporativismus der Faschisten wenig gemein. Auch linke Revolutionäre sympathisierten zeitweise mit dem Abenteuer, und es hatten sich, wie Claudia Salaris gezeigt hat, in Fiume eine Vielzahl an Bohemiens, Dadaisten und Futuristen, Esoterikern und Anhängern italienischer „Reformbewegungen“, ja allerlei kosmopolitische schräge Vögel versammelt und in einer Art „Hippie-Kommune“ avant la lettre versucht, eine andere Ordnung der Gesellschaft zu etablieren.145 D’Annunzios eigene politische Position habe, so Leeden, zwischen militaristischimperialistischem Hypernationalismus, der Begeisterung für die Befreiung „unterdrückter Völker“ und radikalem Syndikalismus changiert. Aber widerspricht das dem Befund, dass es sich bei Fiume um ein protofaschistisches Abenteuer gehandelt habe? Im Kontext eines gewandelten Verständnisses des Faschismus, also einer Perspektive, in der er keineswegs als reaktionäres, sondern vielmehr als modernes Phänomen und als „anderer Anfang“ gilt,146 erscheint Fiume gerade als protofaschistisches Unternehmen. Dem widerspricht weder die politische Polyphonie, noch, wie ja der deutsche Fall bestätigt, die dort versammelten „reformbewegten“ Künstler und Bohemiens. Im Gegenteil, versuchte man doch, die Wirren, die Auflösungserscheinungen und den Niedergang der Vorkriegswelt in jenen Aufbruch münden zu lassen, den gerade diese Kreise bereits zur Jahrhundertwende ersehnt hatten.147 Fiume war der Versuch eines zunächst auf eine Polis beschränkten dritten Weges und einer anderen Moderne. Wesentlich erscheint vor allem der „sense of a new beginning“, auf den Roger Griffin aufmerksam gemacht hat, also der Versuch einer nationalen Erneuerung oder Wiedergeburt, zu dessen Symbol der Flieger wurde. Und genau über die Notwendigkeit einer Palingenese oder renovatio waren sich D’Annunzio und Mussolini einig: „Ich glaube, dass ein Treffen unsererseits unserer gemeinsamen Sache dienlich wäre. Decken sich unsere Ideen doch in diesen fundamentalen Punkten 1. Der italienische Sieg darf nicht verstümmelt werden auch nicht durch den kroatisch ausgelegten demokratischen oder 144 145 146 147
Leeden: The First Duce; Renzo De Felice: D’Annunzio politico, Rom u.a. 1978. Salaris: Alla festa della rivoluzione. Vgl. Griffin: Modernism and Fascism. Siehe hierzu und zum Folgenden: Ebd., insbes. S. 130–146.
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I. Sehnsucht nach Ordnung
wilsonschen Vorwand 2. Es ist notwendig, vom Boden des Sieges aus und auf dem Boden des Sieges eine tiefgreifende Erneuerung [rinnovazione] unseres nationalen Lebens zu unternehmen. 3. Man muss den Saboteuren des Krieges den Weg versperren – weltlichen Priestern, Giollitianern und den Sozial-boches.“148
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Brief Mussolinis an D’Annunzio vom 1.1.1919, siehe Renzo De Felice/Emilio Mariano (Hrsg.): Carteggio D’Annunzio – Mussolini (1918–1938), Mailand 1971, S. 3.
3. Sehnsucht nach Ordnung – Zusammenfassung Im Zentrum der beiden vorangegangenen Kapitel standen zwei in der Person Warburgs und D’Annunzios versinnbildlichte Versuche, eine durch den Krieg aus den Fugen geratene, chaotische Welt zu ordnen. Diese Wahrnehmung der Welt als zu ordnendes Chaos, vor allem aber das Bewusstsein der Ordnung als Aufgabe ist mit Zygmunt Bauman als Charakteristikum der Moderne festgehalten worden.1 Warburgs und D’Annunzios Aussagen im aviatischen Diskurs, ihre sprachliche Ordnung also, und deren Kontextualisierung dienten einer idealtypischen Gegenüberstellung der liberalen und der faschistischen Ordnung. Die an Warburg herausgearbeitete liberale Ordnung bildet die Kontrast- und Hintergrundfolie für die faschistische, mythische Moderne, die im Zentrum der Untersuchung steht. Anhand des Kunstwissenschaftlers und Kulturhistorikers Aby Warburg wurde in jene Dichotomie eingeführt, die das Zeitalter der Weltkriege prägte aber auch jahrzehntelang zu einer Interpretation des Faschismus als reaktionär führte. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurde die historiographische Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf der Grundlage jener an Warburg verdeutlichten normativen Prämisse geführt, die Moderne sei mit der als Fortschritt verstandenen vermeintlichen „Entzauberung der Welt“ und dem Sieg des „Rationalismus“ gleichzusetzen. Warburgs Briefmarkenentwurf ist eine Objektivierung dieser Vision der Moderne, und das darauf dargestellte stilisierte Flugzeug ist Sinnbild des fortschrittsgerichteten Projekts der Aufklärung. Der Liberale Warburg strebte nach einer „vernunftgemäßen“ und „wissenschaftlichen“ Ordnung der Welt. Diese von ihm ersehnte „rationale“ Ordnung begriff er im Sinne der Aufklärung als Befreiung des Menschen aus den Fängen der Magie, des Aberglaubens und des Mythos. Das rationale Ordnen der Welt war die Bedingung der Möglichkeit des erzielten aber auch zukünftigen Fortschritts. Die Ordnung der Zeit als Fortschritt, oder eben das chronopolitische Narrativ der liberalen Aufklärer, mittels dessen diese versuchten, das beschleunigte Veralten des eigenen Erfahrungsraums in das eigene Leben integrierbar zu machen, wurde durch den Ersten Weltkrieg zutiefst erschüttert.2 Dieser hatte den Glauben eines vom Licht der Vernunft geleiteten Voranschreitens der Menschheit als einen solchen entlarvt. Der Erste Weltkrieg sowie Warburgs psychische Erkrankung führten auch bei ihm selbst zu einer Revision jenes kulturevolutionistischen, fortschrittlichen und eben auch historistischen Weltbildes.3 Warburg sah sich aufgrund 1
Siehe: Bauman: Moderne und Ambivalenz. Zur Chronopolitik siehe: Osborne: The Politics of Time. Siehe hierzu insbesondere: Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit; Wolfgang Hardtwig: Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik 2 3
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I. Sehnsucht nach Ordnung
der eigenen Erfahrungen nunmehr zu einer Differenzierung dieser Ordnung der Zeit gezwungen. Zum einen war der „Fortschritt“ vom Mythos zum Logos für Warburg nun keine historische Tatsache mehr, sondern wurde zum normativen Programm. Die Eroberung „Alexandriens“ durch das „Athen“ der Aufklärung musste sich immer wieder ereignen, denn die „Entzauberung der Welt“ war kein einmaliger Vorgang der Überwindung einer „primitiven“ Ordnung durch eine höherstufige. Vielmehr musste der durch die wissenschaftliche Ordnung erarbeitete Denkraum den Angstursachen immer wieder abgerungen werden. Warburg sah sich also damit konfrontiert, so ließe es sich mit Horkheimer und Adorno sagen, dass Aufklärung in Mythologie zurückschlägt.4 Zum anderen zeigte sich Warburg, dass der „Ersatz der mythologischen Verursachung durch die technologische“ die Welt zwar weniger furchteinflößend gemacht habe, da man sie nämlich durch „Berechnen beherrschen“ könne.5 Dass es sich aber „nicht ohne weiteres behaupten“ ließ, dass die „Befreiung von der mythologischen Anschauung“ dem „primitiven Menschen“ helfe, „die Rätsel des Daseins ausreichend zu beantworten.“6 Mit diesen „Rätseln des Daseins“ aber, dem Vergehen der Zeit, dem Sinn des Daseins und insbesondere dem Tod, sahen sich jene, die den Krieg, ob in der Heimat oder an der Front, erlebt hatten, nun massiv konfrontiert. Und sie vermochten es nicht, mittels einer rationalen Ordnung und der Deutung des Zeitverlaufs als Fortschritt den Ereignissen einen Sinn abzuringen. Warburg wurde, so scheint es, zunehmend klar, dass, so Claude LéviStrauss, „im mythischen Denken und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allezeit gleich gut gedacht hat. Der Fortschritt – falls dieser Begriff dann überhaupt angemessen ist – hätte nicht das Bewußtsein, sondern die Welt als Aktionsraum, in der eine mit konstanten Begabungen ausgestattete Menschheit im Laufe ihrer langen Geschichte mit immer neuen Objekten ringen mußte.“7
An dem normativen Anspruch, der mythischen Ordnung immer wieder den Denkraum abzuringen, durch den allein der Mensch frei sein könne, hielt Warburg dennoch fest. Der Dichter, „Kriegsprophet“ und „-held“ D’Annunzio wurde als Antipode Warburgs eingeführt. Die einseitige Fehde zwischen diesen beiden paradigmatischen Vertretern eines Ordnungsentwurfs entzündete sich, wie gezeigt wurde, im Mai 1915, als der Interventionist D’Annunzio für den italienischen Kriegseintritt auf Seiten der Entente agitierte und Warburg eben diesen und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 47–75; Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. 4 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16. 5 Vgl. Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9. 6 Warburg: Schlangenritual, S. 56. 7 Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, in: Ders.: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1977 [frz. Or. Paris 1958], S. 226–254, S. 254.
3. Zusammenfassung
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Kriegseintritt zu verhindern suchte. Doch die Dichotomie zwischen Warburg und D’Annunzio und ihren jeweiligen Ordnungen wurde insbesondere an deren divergierender Kodierung des Flugzeuges und des Fliegers deutlich. Ulrich Raulffs Vermutung, dass bei Warburgs „Wahl des Fliegermotivs auch eine polemische Spannung (der Versuch der Gegenaneignung) zu dem von Warburg gehassten Aviatiker und Dichter des Faschismus, d’Annunzio“8, nicht auszuschließen sei, hat sich insofern erhärten lassen, als die jeweiligen Kodierungen der aviatischen Symbolik einen diametral entgegengesetzten Sinnhorizont eröffnen. D’Annunzio verzauberte die von Warburg entzauberte Schlange Technik. Die „Rätsel des Daseins“ suchte er nicht mit ihrer vernunftgemäßen Durchdringung zu lösen, sondern durch ihre ästhetische Verklärung und Sakralisierung. Nicht zuletzt durch die Übertragung des Ikarus-Topos und christlicher Deutungsmuster auf das Flugzeug und dessen Piloten hatte D’Annunzio erheblichen Anteil an jenem italienischen „myth of the war experience“, durch den, laut George L. Mosse, der Krieg eine neue Dimension als Mittel zur nationalen und persönlichen Erneuerung bekam.9 Indem er selbst am Krieg teilnahm, gewann der den Krieg in einen Sinnhorizont integrierende Mythos des renommierten Dichters sowohl an zusätzlicher Wirkmacht als auch an Wirkungsbreite. Die kühnen Taten des alternden Poeten wurden ebenso wie seine diese begleitenden, pathetischen Narrative zu Italiens mächtigster Propagandawaffe. D’Annunzio weihte den technisierten Krieg sowie die Nation, in deren Namen er geführt wurde, und gab ihm dadurch einen Sinn. Der Tod auf dem Schlachtfeld wurde heroisiert, vor allem aber zu einem Opfer für die geheiligte Nation umgedeutet, deren Erneuerung und Leben durch das Opfer ermöglicht wurde. In D’Annunzios Texten wurde der Flieger zu einem Übermenschen und Neuen Menschen aber auch zu einem miles christi. Der Flieger wurde zu einem Heiland stilisiert, während das Flugzeug zum Kreuz der Erlösung mutierte. Diese von D’Annunzio auf den Flieger übertragenen „Erlösungstheologeme“ bildeten den Grundstock für die faschistische politische Religion und für den palingenetischen Mythos, der Letzterer zugrunde lag.10 D’Annunzio versuchte, dem Kriegsgeschehen, vor allem aber dem Kriegstod, mittels einer „mythologischen Verursachung“ einen „überhistorischen“ Sinn zu schenken und sie dadurch zu rechtfertigen. Im Einklang mit der in der Einleitung eingeführten Definition lässt sich festhalten, dass D’Annunzio einen Mythos stiftete, insofern seine Narrative das Chaos durch eine in einem Heiligen, der Nation, gründende Ordnung überwanden.11 Der Bezug zum Heiligen, das „intersubjektiv Unumstrittene“, rechtfertigte den Krieg im All8
Raulff: Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee, S. 147. Vgl.: Mosse: Fallen Soldiers, S. 159. Zu den „Erlösungstheologemen“ siehe: Gumbrecht: I redentori della Vittoria. 11 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Ausführungen zum Mythos in der Einleitung sowie: Frank: Gott im Exil, S. 16. 9
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I. Sehnsucht nach Ordnung
gemeinen sowie das Töten und das Sterben im Besonderen. Der Mythos diente sowohl der Abwehr des „Absolutismus der Wirklichkeit“, des Chaos und der Kontingenz als auch der Beglaubigung der Gemeinschaft und ihrer Werte. D’Annunzio, laut Michael Leeden der „first Duce“, nahm nicht nur den faschistischen politischen „Stil“ vorweg.12 Vielmehr bildete D’Annunzios „lyrische Ordnung“ die Grundlage der faschistischen, mythischen Ordnung, die von einer Sehnsucht nach einer „heiligen Zeit“ getragen wurde.13 Die „profane“, von den Liberalen als Fortschritt gedeutete Zeit, begriffen die Faschisten als Dekadenz.14 Und sie suchten diese profane Zeit, jene, so Mircea Eliade, „gewöhnliche Zeitdauer, in der sich die Ereignisse ohne religiöse Bedeutung abspiel[t]en“, zu transzendieren und durch eine heilige Zeit zu ersetzen.15 Die geheiligte Nation, die im Zentrum der faschistischen, mythischen Ordnung stand, war der Träger jener heiligen Zeit, die „ihrem Wesen nach reversibel“ ist und „wieder gegenwärtig gemacht“ werden kann.16 Durch die Verknüpfung des Kriegstodes mit der sakralisierten Nation wurde die profane, lineare und endliche Zeit überwunden, denn durch das Opfer für diese Nation hatte man an deren ewiger Zeit teil und vermochte den Tod durch deren Leben zu besiegen. Insofern mutierte der Krieg nicht nur aufgrund des von ihm ausgelösten Rausches, der Auflösung der Ordnung und der Umkehrung aller Werte zu jener von dem Futuristen Marinetti gepriesenen guerra festa, zum „Kriegsfest“.17 In dem mythischen Sinnhorizont, in den der Krieg integriert war, wurde er zu einem „Fest“, sofern er die Möglichkeit zur Erneuerung der Zeit und zum Wiedereintritt in die mythische, heilige Zeit der Nation bot.18 Das Töten und Sterben wurden zur rituellen Handlung am Altar des Vaterlandes, und das Kriegsopfer wurde zum sacrificium. Wie in einem späteren Kapitel insbesondere am deutschen Mythos des „Geistes von 1914“ noch verdeutlicht wird, lässt sich der Krieg in Analogie zum „religiösen“ Fest verstehen.19 Mircea 12
Siehe: Leeden: The First Duce. Siehe hierzu auch: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 152. 13 Zur „lyrischen Ordnung“ D’Annunzios, der Mussolinis „politische Ordnung“ gegenüberstand, siehe: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 134–154. 14 Siehe: Griffin: Modernism and Fascism, S. 221. 15 Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 40. 16 Ebd., S. 40. Vgl. zudem Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 35f. 17 Zu Marinettis Konzept der „guerra festa“ siehe Kapitel III.1 vor allem aber: Isnenghi: Il mito della Grande Guerra, S. 179–183; George L. Mosse: Futurismo e culture politiche in Europa: una prospettiva globale, in: Renzo De Felice (Hrsg.): Futurismo, cultura e politica, Turin 1988, S. 13–31. 18 Siehe: Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 40. Siehe zur Unterscheidung von profaner und heiliger Zeit zudem: Ders.: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Darmstadt 1976, S. 438–462. 19 Zum Mythos vom das Volk zur Gemeinschaft zusammenschweißenden Kriegsbeginn siehe: Verhey: Der „Geist von 1914“. Siehe zudem: Stefan Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Peter Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, München 1999;
3. Zusammenfassung
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Eliade, der bekanntlich vor den Verlockungen des Faschismus selbst nicht gefeit war und noch als Professor für Religionswissenschaft an der Universität von Chicago für die geistige Erneuerung des modernen Menschen plädierte,20 beschrieb den Zusammenhang von Fest, Vernichtung der profanen Zeit und Erneuerung der heiligen Zeit: „Die Teilnehmer des Festes werden zu Zeitgenossen des mythischen Ereignisses. Anders ausgedrückt: sie treten aus ihrer historischen Zeit heraus, der Zeit also, die sich aus der Summe der profanen, persönlichen und zwischenpersönlichen Ereignisse konstituiert, – und finden zurück in die uranfängliche Zeit, die immer dieselbe ist, die zur Ewigkeit gehört. Der religiöse Mensch mündet immer wieder in die mythische und heilige Zeit, findet die Zeit des Ursprungs wieder, die ‚nicht abläuft‘, weil sie an der profanen Zeitdauer nicht teilhat, weil sie aus einer unendlich oft erreichbaren ewigen Gegenwart besteht.“21
Der Krieg hatte die labile Ordnung der Wirklichkeit erschüttert. Er konfrontierte die Menschen mit zahlreichen Grenzsituationen, die man im „goldenen Zeitalter der Sicherheit“, so Stefan Zweig, dank des „Fortschrittes“ gebannt zu haben glaubte.22 Der Tod, der, so Peter Berger, „alle gesellschaftlich objektivierten Wirklichkeitsbestimmungen in die Schranken“ fordert, wurde jedoch wieder allgegenwärtig und bedurfte der Einordnung in einen übergreifenden Nomos.23 Die oben angeführte religiöse oder religionsanaloge Wirklichkeitsund Nomoskonstruktion D’Annunzios diente ebenso wie Warburgs Versuch, das Chaos durch eine in der „Vernunft“ verankerte Ordnung abzuwehren, der Stillung der weitverbreiteten und durch den Krieg radikalisierten Sehnsucht nach Ordnung. Der Unterschied dieser beiden Ordnungen war kein phylogenetischer, die faschistische Ordnung war nicht „primitiver“, „archaischer“ oder „reaktionärer“ als die liberale. Aber die in der sakralisierten und verabsolutierten Nation gründende mythische Ordnung sollte sich als wesentlich gewalttätiger erweisen.
Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 26–68. 20 Siehe hierzu: Douglas Allen: Myth and Religion in Mircea Eliade, New York, NY u.a. 2002, S. 291–331; Robert S. Ellwood: The Politics of Myth. A Study of C. G. Jung, Mircea Eliade and Joseph Campbell, Albany, NY 1999, S. 79–126. 21 Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 52. Vgl. hierzu: Ders.: Die Religionen und das Heilige, S. 443f. 22 Zum „goldenen Zeitalter der Sicherheit“ siehe: Zweig: Die Welt von Gestern, S. 15. Dort (S. 17) heißt es: „Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen. Jetzt aber war es nur noch eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde“. 23 Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 43.
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I. Sehnsucht nach Ordnung
II. Brüchige Ordnung
1. Don Quijote der Lüfte „Zuletzt, da es mit seinem Verstand völlig zu Ende gegangen, verfiel er auf den seltsamsten Gedanken, auf den jemals in der Welt ein Narr verfallen; nämlich es deuchte ihm angemessen und notwendig, sowohl zur Mehrung seiner Ehre als auch zum Dienste des Gemeinwesens, sich zum fahrenden Ritter zu machen und durch die ganze Welt mit Roß und Waffen zu ziehen, um Abenteuer zu suchen und all das zu üben, was, wie er gelesen, die fahrenden Ritter übten, das heißt jegliche Art von Unbill wiedergutzumachen und sich in Gelegenheiten und Gefahren zu begeben, durch deren Überwindung er ewigen Namen und Ruhm gewinnen würde.“1
So schildert Cervantes den verarmten Junker, der, auf dem alten Klepper Rosinante reitend, als Don Quijote in die Welt hinaus ziehen sollte. Den zahlreichen Ritterbüchern, die er gelesen hatte, entnahm der „Ritter der traurigen Gestalt“ jene Deutungsmuster und Formationen seines Denkens, mit denen er bei seinen Abenteuern der Wirklichkeit begegnen sollte. „Die Phantasie füllte sich ihm mit allem an, was er in den Büchern las, so mit Verzauberungen wie mit Kämpfen, Waffengängen, Herausforderungen, Wunden, süßem Gekose, Liebschaften, Seestürmen und unmöglichen Narreteien. Und so fest setzte es sich ihm in den Kopf, jener Wust hirnverrückter Erdichtungen, die er las, sei volle Wahrheit, dass es für ihn keine zweifellosere Geschichte auf Erden gab.“
Dem vermeintlichen „Narren“ Don Quijote sind seine Bücher eine Folie, durch welche er Wirklichkeit liest. Dadurch wird nicht nur die Wirklichkeit zum Buch, sondern auch das Buch zur Wirklichkeit. Das Buch ist, so Foucault in Die Ordnung der Dinge, Don Quijotes Aufgabe: „Unablässig muss er es konsultieren, damit er weiß, was er tun und sagen soll und welche Zeichen er sich selbst und den anderen geben kann, um zu beweisen, dass er gleicher Natur ist. Die Ritterromane haben ein für allemal die Vorschrift seines Abenteuers geliefert. Jede Episode, jede Entscheidung, jede Tat werden Zeichen dafür sein, dass Don Quijotte [sic] all diesen Zeichen, die er abgepaust hat, ähnlich ist. […] Die Herden, die Dienerinnen, die Herbergen werden erneut zur Sprache der Bücher in dem unwahrnehmbaren Maße, in dem sie den Schlössern, den Damen und den Armeen ähneln.“2
Cervantes’ Don Quijote, der häufig als archetypischer Roman der „Moderne“ bezeichnet wird,3 ist Ausdruck des tiefgreifenden Wandels, der die spanische Gesellschaft im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert ergriff. Mit dem „Ritter der traurigen Gestalt“ schuf Cervantes ein Sinnbild für die gesellschaftlichen Reaktionen auf bedrohliche Orientierungskrisen in Zeiten radikalen Umbruchs und beschleunigten Wandels. Die Tragikomik von Cervan1
Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, in der Übertragung von Ludwig Braunfels, durchgesehen von Adolf Spaemann, München 200215, Buch I, Kapitel 1. Dort auch das folgende Zitat. 2 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 78f. 3 Siehe Raymond Geuss: Die wirkliche und eine andere Moderne. Ordnungstiftende Phantasie im ‚Don Quijote‘, in: Mittelweg 36 14/2005, S. 49–67.
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II. Brüchige Ordnung
tes’ Helden resultiert daraus, dass seine Deutungsmuster Büchern entlehnt sind, welche die ohnehin bereits vergangene Welt verklärten. Im Kontext des Aviatikdiskures und der Herausbildung einer mythischen Moderne soll Don Quijote als Fingerzeig auf die Reflexivität von „Literatur“ und „Wirklichkeit“ dienen.4 Die weder quantifizierbare noch im strengen Sinne beweisbare „Wirkung“ der analysierten Texte wird in eben jenem kreisförmigen reflexiven Verhältnis von Literatur beziehungsweise Text und Wirklichkeit gesehen. Texte, das heißt, komplexe Zeichensysteme mit kommunikativer Funktion sind Interpretationen und Ordnungen von Wirklichkeiten und dienen wiederum den Lesern, geordnete Wirklichkeiten zu schaffen.5 Die ästhetische Dimension des faschistischen Mythos, seine sinnliche Erfahrbarkeit gründete nicht zuletzt darin, dass die mythische Ordnung vermittelt durch „Texte“ in die Gesellschaft diffundierte und deren Wahrnehmung und Gestaltung der Realität prägte.6 Die Texte verbreiteten Deutungsmuster und Ordnungsangebote, die halfen, die Wirklichkeit zu strukturieren und die Orientierungskrise zu meistern. In seinem nunmehr vor über dreißig Jahren erschienenen The Great War and Modern Memory machte der Literaturwissenschaftler Paul Fussell gleich Cervantes auf das zirkuläre Verweisungsverhältnis zwischen Fiktion und Realität in der Wahrnehmung des Krieges aufmerksam. Er habe, so vermerkte Fussell im Vorwort zu seiner Untersuchung der britischen Kriegserfahrungen an der Westfront während des Ersten Weltkrieges, versucht, „das simultane und gegenseitige Verhältnis“ zu beleuchten, „durch welches das Leben die Literatur speist, während die Literatur den Gefallen dadurch erwidert, dass sie [ihre] Formen auf das Leben überträgt.“7 Hätte er seinem Buch einen Untertitel gegeben, so Fussell, hätte dieser „An Inquiry into the Curious Literariness of Real Life“ gelautet. Diese curious literariness of real life lässt sich nur in Ego-Dokumenten und auch dort nur selten so deutlich wie in Raleigh Trevelyans Memoiren zur Schlacht von Anzio „nachweisen“: „We were jammed head to toe, completely immobile, with volleys of tracer like whiplashes a matter of inches overhead. 4
Es ist im Folgenden unabdingbar, die Trennung von Literatur und Wirklichkeit sowie zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten aufrechtzuerhalten. Damit soll eine Differenz im Verhältnis zur „Wirklichkeit“ angezeigt werden, die beispielsweise am Unterschied zwischen nichtfiktionalen Nachrichtentexten und fiktionalen Erzählungen deutlich zu werden vermag. Es wird hier selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich auch beim Nachrichtentext um eine diskursabhängige Konstruktion handelt, dessen Bezug zum „physischen“ Geschehen jedoch ein anderer ist und von anderen textstrukturierenden Regeln bestimmt wird als dies bei einem Roman der Fall ist. Beide Textgattungen können auf eine spezifische Art und Weise „wahr“ sein, doch nur der nichtfiktionale Text muss „sachlich richtig“ sein. 5 Der Begriff des Textes wird hier im breiten Sinne verwendet und umfasst keineswegs nur das geschriebene Wort, sondern ebenso Reden, Bilder, Filme und vieles andere mehr. 6 Die ästhetische Dimension des Mythos wird in Kapitel III.2 näher ausgeführt. 7 Fussell: The Great War and Modern Memory, S. IX, [Übersetzung durch den Verfasser, F.E.]. Dort auch das folgende Zitat.
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It was a complete All Quiet on the Western Front film set once more.“8 Gleichwohl beruht das Funktionieren von Kommunikation und von Diskursen auf eben dieser meist nicht bewusst vollzogenen Übernahme von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern aus Texten, welche die Diskursteilnehmer mit gemeinsamen (Sprach-)Bildern oder Ideen ausstatten.9 Die „seltsame Literarizität des echten Lebens“ bildet den Hintergrund für dieses Kapitel. Einerseits verweisen die analysierten Texte des Aviatikdiskurses auf die Wirklichkeit, aus der heraus sie entstanden sind und die sie zu ordnen versuchen. Andererseits liegt die Wirkung der Texte in der nicht quantifizierbaren oder „nachweisbaren“ und dennoch vorhandenen Prägung und Formung der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Leserschaft. Die Wanderbewegung von bestimmten Topoi zwischen unterschiedlichen Diskursen und Texten lässt sich nur selten nachzeichnen, denn die betretenen Pfade sind weder eindeutig noch klar markiert. Dieser Untersuchung liegt dennoch die Annahme zugrunde, dass es die curious literariness of real life und die „Wirkung“ von Büchern gibt.10 Im folgenden Abschnitt werden die anfängliche Einbettung der aviatischen Texte in die Kontexte der Massenunterhaltung, des Sports und des Wettbewerbs zwischen den Nationen dargelegt und die Medien erörtert, über welche sich die Fliegerbilder verbreiteten. Anhand der Flugschau von Brescia und des daraus 1910 hervorgegangenen Romans D’Annunzios, Forse che sì forse che no, Vielleicht – vielleicht auch nicht wird verdeutlicht, wie durchlässig die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit waren. D’Annunzio etablierte nämlich in seinem auf die Erlebnisse in Brescia rekurrierenden Roman eines der zentralen Motive des Aviatikdiskurses, den Topos des Übermenschen. Bereits in diesem Roman wurde eine Deutung des Fliegers postuliert, die in ihm einen heroischen Neuen Menschen sah, der das alte Leben hinter sich ließ. Der Flieger war Sieger über die Schwerkraft und sein Emporstreben wurde zu einem vielseitig einsetzbaren Zeichen. Der Flieger und sein Flugzeug als Sinnbild des Aufstiegs ließen sich im allgemeinen Kontext des Fort8
Ebd., S. 221f. Siehe zum Zusammenhang von Sprache, Geschichte, Tradition und Verstehen: Gadamer: Wahrheit und Methode. 10 Unlängst stellte Jörg Baberowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung polemisch fest: „Die Beschreibung von kausalen Beziehungen zwischen Ereignissen ist immer an die Vorstellung geknüpft, dass Ereignisse Ursachen haben. Aber wie können wir wissen, dass Ereignisse Ursachen haben? […] Wenn wir den Ausbruch der russischen Revolution auf elende Lebensverhältnisse zurückführen, dann behaupten wir, dass elende Verhältnisse Revolutionen verursachen. Nur wussten jene, die in diesen Verhältnissen lebten, überhaupt nicht, dass ihr Leben eine Ursache für ein zukünftiges Ereignis war. Dieses Wissen haben nur die Historiker, und zwar nur solche, die es gewohnt sind, Armut mit Revolutionen zu verknüpfen. Wir könnten mit den gleichen guten Gründen auch sagen, dass schlechte Laune oder schlechtes Wetter Revolutionen verursacht, weil in den Jahren vor dem Ausbruch der russischen Revolution viele Menschen schlechte Laune hatten und es im Herbst immer regnete.“ Siehe: Jörg Baberowski: Über die schöne Schwierigkeit, Geschichte zu schreiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.7.2009, Nr. 173, S. N3. 9
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II. Brüchige Ordnung
schritts im Sinne der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung durch den Menschen einsetzen oder wie bei Warburg als Sinnbild des aufklärerischen Narrativs der Überwindung von Magie, Aberglauben und Irrationalität durch die Vernunft. D’Annunzio hingegen stilisierte den Flieger im Kontext der Flugschau zu einem Überwinder des Selbst, des Anderen, der Massen und der bürgerlichen Lebenswelt sowie der menschlichen Natur als solcher. Das Bild des Fliegers als Übermensch fand hier einen Kristallisationspunkt und in D’Annunzio einen Verkünder, der diese Überhöhung des Fliegers auf den Kontext des Krieges übertrug. Bei diesem Übergang wurden allerdings nicht nur die Grenzen zwischen den Textgattungen Roman und Bericht oder Rede und ihren Authentizitätsansprüchen überschritten, es verschwanden auch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Krieg und Spiel. Die „seltsame Literarizität des echten Lebens“ zeitigte reale Folgen. Gleichzeitig präsentiert das folgende Kapitel die populären und massenmedialen Kanäle, durch welche der Mythos in die Gesellschaft diffundierte. Es wird verdeutlicht, wie Ereignisse und Erzeugnisse der Populärkultur als Urheber und Träger eines sich formierenden, gesellschaftlich relevanten Narrativs, dessen Leistung nicht zuletzt im normativen Bereich liegt, eines Mythos also, gelesen werden können.11 Es wird veranschaulicht, wie mittels der Populärkultur Topoi oder Ideen verbreitet, potenziert und in den Diskurs eingeschrieben werden können. Zudem werden die Rezeptions- und Produktionsweisen der populären Medialisierungen des Fliegers und des Luftkrieges in den Blick genommen, wie sie sich im Zuge der literarischen Mobilmachung während des Ersten Weltkrieges in Deutschland herausbildeten. Es wird gezeigt, wie die Paratexte dieser Bücher den Übergang von Deutungsmustern aus den sportlich-massenkulturellen sowie fiktional-hochkulturellen Kontexten in jenen des Krieges ermöglichten.12 Gleich wie im Don Quijote wurden hier Interpretamente auf eine Wirklichkeit übertragen, die mit der Wirklichkeit der Bücher nur wenig gemein hatte. Trotz der Kluft, welche die Kriege des 19. Jahrhunderts vom Ersten Weltkrieg trennte, wurden auch Deutungsmuster aus vergangenen Kriegen auf den Maschinen- und Massenkrieg übertragen. Doch es scheint, als habe die existenzielle Bedrohung, die der Krieg und der von ihm ausgehende Bruch mit der alten Ordnung darstellten, zu dieser Kontinuität „gezwungen“. Eine zunehmend orientierungslose Gesellschaft suchte nach Vor- und Leitbildern und fand diese, ebenfalls gleich dem Don Quijote, nicht zuletzt in den kursierenden Heldendarstellungen. Die ohnehin undeutliche und durchlässige Grenze zwischen „Fiktion“ und „Realität“ wurde verschwommener und reicher an Übergängen. 11 Vgl. hierzu die in der Einleitung angeführte Mythosdefinition sowie Frank: Gott im Exil, S. 15ff. 12 Zum Begriff des Paratextes siehe: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M. u.a. 1989. Der Begriff wird im zweiten Abschnitt ausführlich erörtert.
1. Don Quijote der Lüfte
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a. Luftakrobaten oder Übermenschen Die Flugschau von Brescia Im September des Jahres 1909 fuhr Franz Kafka gemeinsam mit den Brüdern Max und Otto Brod an den Gardasee.13 Am 10. September, nach wenigen Tagen in Riva, reisten die Prager Touristen weiter nach Brescia, der lombardischen Stadt am Rande der Po-Ebene. Von der dort stattfindenden Flugschau hatten sie in der Sentinella Bresciana erfahren: „Wir haben in Brescia eine Volksmenge wie noch nie, wie nicht einmal zur Zeit der großen Wettfahrten der Automobile, die Fremden aus Venetien, Ligurien, Piemont, Toskana, Rom, ja bis aus Neapel, die großen Herrschaften aus Frankreich, England, Amerika drängen sich auf unseren Plätzen, in unseren Hotels, in allen Winkeln der privaten Wohnungen: Alle Preise steigen ausgezeichnet; die Beförderungsmittel reichen nicht aus, um die Menge bis zum circuito aereo zu bringen; die Restaurationen auf dem Flugfeld können zweitausend Menschen vorzüglich bedienen, vor den vielen Tausenden müssen sie versagen, Militär wäre nötig, die Buffets zu schützen; auf den billigen Plätzen stehen fünfzigtausend Menschen den ganzen Tag.“14
Den überlaufenen und beschwerlichen Weg mitten in diese Masse zum circuito, zur Flugrundstrecke, legten die Drei mit einem „jämmerlichen Zug“ zurück. Beim Flugfeld in Montichiari angelangt, so Kafka in seinem Ende September in der Zeitung Bohemia veröffentlichten Bericht, bot sich ihnen folgendes Bild: „Eine künstliche Einöde ist hier eingerichtet worden in einem fast tropischen Lande, und der Hochadel Italiens, glänzende Damen aus Paris und alle andern Tausende sind hier beisammen, um viele Stunden mit schmalen Augen in diese sonnige Einöde zu schauen.“15 Und doch war auch Kafka vom Treiben im Aerodrom fasziniert und blickte erwartungsvoll in den Himmel. „Gott sei Dank, noch fliegt keiner!“16 Auch die drei böhmischen Urlauber hofften, hinter die Kulissen zu schauen und vielleicht einen Blick auf die Protagonisten zu erhaschen: „Wir kommen an den Hangars vorüber, die mit ihren zusammengezogenen Vorhängen dastehen wie geschlossene Bühnen wandernder Komödianten. Auf ihren Giebelfeldern stehen die Namen der
13
Siehe hierzu: Peter Demetz: Die Flugschau von Brescia. Kafka, D’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002; Ingold: Literatur und Aviatik, insbes. S. 19– 27 sowie Wohl: A Passion for Wings, S. 97–123. Ein bebilderter Eindruck dieses Urlaubs findet sich in: Hartmut Binder: Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen, Prag 2007, insbes. S. 39–84. 14 Kafkas Die Aeroplane in Brescia erschien in der Prager Bohemia, Nr. 269 am 29.9.1909. Obiges Zitat stammt aus einer etwas längeren, einen Vorspann, der nicht in der Bohemia erschien, enthaltenden, von Max Brod herausgegebenen Textausgabe: Franz Kafka: Die Aeroplane in Brescia, in: Ders.: Die Aeroplane in Brescia und andere Texte, Frankfurt/M. 1977, S. 7–25, S. 7 u. S. 10. 15 Im Folgenden wird Die Aeroplane in Brescia nach der Kritischen Ausgabe zitiert: Franz Kafka: Die Aeroplane in Brescia, in: Ders.: Drucke zu Lebzeiten hrsg. v. Wolf Kittler/ Hans-Gerd Koch/Gerhard Neumann, Frankurt/M. 1994, S. 401–412, S. 404. 16 Ebd., S. 401.
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Aviatiker, deren Apparate sie verbergen, darüber die Trikolore ihrer Heimat.“17 Die den „geschlossene[n] Bühnen wandernder Komödianten“ ähnelnden Hangars sollten bekanntlich wenige Jahre später flying circus genannt werden. Mit einem Zirkus hatte diese Veranstaltung freilich mehr gemeinsam als nur die Zelte. Denn mit den Fahrrad- und Automobilrennen und schließlich den Flugschauen war die populäre Unterhaltungs- und Massenkultur ins Maschinenzeitalter eingetreten.18 Die in Brescia, wie wenige Wochen zuvor in Reims, versammelten Flieger waren zeitgemäße Gaukler, Akrobaten und Sportler, die den Massen ein seltenes Spektakel darboten. Bei Kafka schien dieses allerdings zunächst wenig Begeisterung hervorzurufen. Auf dem staubigen Flugfeld gab es nichts, „was sonst auf Sportfeldern Abwechslung bringt.“19 Worin bestand dann aber der Reiz, der die Tausenden angezogen hatte? Zum einen war da das Ereignis an sich. Bereits die sich vor Ort tummelnden illustren Herren, die herbeigeströmte Hautevolee, waren für viele eine Attraktion.20 Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen allerdings die Flieger und ihre Apparate. Ein Jahr zuvor hatten die Gebrüder Wright in den USA und in Frankreich begonnen, Schauflüge zu veranstalten, und erst am 25. Juli hatte Blériot den Ärmelkanal überquert. Der „Traum vom Flug“ war realisiert worden und es galt, dieses greifbare Symbol des Fortschritts, die Apparatur, welche den technischen Sieg über die Natur ermöglicht hatte, mit eigenen Augen zu sehen.21 Und natürlich galt es, jene Männer zu erspähen, welche wiederum die Apparate beherrschten: „Und Blériot? fragen wir. Blériot, an den wir die ganze Zeit über dachten, wo ist Blériot? […] Wir drängen uns durch. Aber da steht ja auf dem Felde, ganz nahe, mit wirklicher gelblicher Farbe ein kleiner Aeroplan, den man zum Fliegen vorbereitet. […] An einen der zwei Flügel des Apparats gelehnt steht, gleich erkannt, Blériot und schaut, den Kopf fest auf dem Halse, seinen Mechanikern in die Finger, wie sie am Motor arbeiten.“22
Man bestaunte den Mann, der einige Wochen zuvor Englands Inselstatus relativiert hatte und dem die beachtliche und tollkühne Tat gelungen war, 38 Kilometer neblige Luft zu durchqueren. Blériot war für die in Brescia versam17
Ebd., S. 403. Zur populären Massenkultur und deren Wandel siehe: Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt/M. 1997. 19 Kafka: Die Aeroplane in Brescia [1994], S. 404. 20 Ebd., S. 407f. heißt es: „Man zeigt einander die Principessa Laetitia Savoia Bonaparte, die Principessa Borghese, eine ältliche Dame, deren Gesicht die Farbe dunkelgelber Weintrauben hat […] Von der Tribüne schaut über das Geländer das starke Gesicht Puccinis mit einer Nase, die man eine Trinkernase nennen könnte.“ 21 Siehe zum „Menschheitstraum vom Fliegen“: Wolfgang Behringer/Constance OttKoptschalijski: Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik, Frankfurt/M. 1991. 22 Kafka: Die Aeroplane in Brescia [1994], S. 403, S. 405 u. S. 16f. 18
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melten Massen bereits ein bekannter Held. Dennoch, aus Kafkas Bericht spricht eher die Skepsis: „und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie. […] Hingegeben sehn alle zu ihm auf, in keinem Herzen ist für einen anderen Platz. Er fliegt eine kleine Runde und zeigt sich dann fast senkrecht über uns. Und alles sieht mit gerecktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist 20m über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.“23
Der Kulturwissenschaftler Felix Philipp Ingold sieht in Kafkas Beschreibung der Flugschau eine „Manifestation damaliger Alltagsmythologie“, Letzteres wohl im Sinne Barthes’, und eine Vorwegnahme kommender sportlicher Schauspiele für die Massen.24 Tatsächlich waren hier all jene Elemente bereits versammelt, welche diese Großereignisse auch in Zukunft bestimmen sollten: Die Massen selbst, die populären Ikonen, zu denen sie hinaufschauten, der Wettbewerb der Nationen und die das Ereignis inszenierenden Medien.25 Die Medien, und das heißt zu diesem Zeitpunkt vornehmlich die Tageszeitungen, die Zeitschriften und Illustrierten, zeichneten nicht nur für die Berichterstattung über diese Ereignisse verantwortlich, sie riefen sie überhaupt erst ins Leben. Neben den sich allerorts formierenden und national zusammengefassten Aero-Clubs und Flugvereinen sowie der sich herausbildenden Luftfahrt-„Industrie“ waren es die Presseunternehmer, welche zunächst die Flugwettbewerbe initiierten.26 Lord Northcliffes Daily Mail hatte beispielsweise für die Kanalüberquerung einen Preis von eintausend Pfund ausgeschrieben und der Herausgeber des Corriere della Sera, Luigi Albertini, war Mitglied des Organisationskomitees der Flugschau von Brescia.27 An steigenden Auflagenzahlen und Leserbindung interessiert, gehörte es für die Zeitungsverleger zum Gebot der Stunde, den Lesern spannende und, wenn möglich, exklusive Geschichten zu bieten. Es war unter anderem der Flugsport, der es vermochte, das Sensationsbedürfnis des Publikums, dessen Durst nach Abenteuern und Gefahren, nach Kampf gegen die Natur, unter „richtigen Männern“ und unter den Nationen zu stillen. Da die Luftfahrergeschichten sowohl von Unfällen und Misserfolgen als auch von immer neuen Triumphen geprägt waren, kamen die Fortschrittsskeptiker und Zivilisationskritiker gleichermaßen auf ihre Kosten wie technikbegeisterte Optimisten und Utopisten. Von der Flugschau von Brescia jedenfalls berichteten über 60 Zeitungen und Zeitschriften.28 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 408f. Vgl. Ingold: Literatur und Aviatik, S. 23. Vgl. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 94f. Vgl. hierzu wie auch zum Folgenden: Wohl: A Passion for Wings, S. 99ff. Demetz: Die Flugschau von Brescia, S. 53. Ebd., S. 65.
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Die zahlreichen Flugwettbewerbe und -schauen, die zwischen 1909 und 1914 stattfanden, wurden jedoch nicht nur aufgrund des kommerziellen Interesses der Presseunternehmen veranstaltet. Auch die Vielzahl kleiner aufstrebender Luftfahrtunternehmen, ihre Zulieferer und verwandte Firmen waren darauf bedacht, ihre Produkte und Dienstleistungen in der Öffentlichkeit mittels der Flugschauen bekannt zu machen. Hiervon zeugt beispielsweise der Prospekt der Ende Mai 1912 in Berlin-Johannisthal abgehaltenen Flugwoche, die von der Flug- und Sport-Platz Berlin-Johannisthal GmbH veranstaltet wurde. Hier warben nicht nur die Flugzeughersteller Luft-Verkehrs-Gesellschaft AG und die Rumpler GmbH. Auch die Berliner Deuta Werke, die Umdrehungs- und Geschwindigkeitsmesser fertigten, und der Reifenhersteller Continental hatten im Prospekt Anzeigen geschaltet. Der Herrenausstatter S. Adam pries seine „Flieger-“, „Sport-“ und „Knabenkleidung“ ebenso an wie seine „Herren Mode Artikel“.29 Mit der „unter dem Protektorat des Berliner Vereins für Luftschiffahrt“, des Kaiserlichen Aero-Clubs, des Kaiserlichen Automobil-Clubs und des Reichsflugvereins stehenden Veranstaltung verfolgten unterschiedlichste Akteure zunächst einmal wirtschaftliche Ziele. Doch mit dem kommerziellen ging auch das nationale Interesse einher. „Händler und Helden“ waren enger miteinander verzahnt, als es Werner Sombart wenige Jahre später verkünden sollte.30 Spätestens mit Blériots Kanalüberflug wurden auch Regierungen und Militärs auf die Luftfahrt aufmerksam. Das Hauptaugenmerk deutscher „Luftpolitik“ galt zwar den Zeppelinen,31 doch nebst dem „Ehrenpreis Sr. Majestät des Kaisers und Königs“, einem mit des Kaisers Antlitz verzierten Pokal, hatte das Königliche Kriegsministerium 30 000 Mark als Preis auf der Johannisthaler Flugwoche ausgerufen.32 Die Verflechtung kommerzieller, nationaler sowie durchaus auch sportlicher Ziele verdeutlicht das Programm- und Regelheft des Deutschen Zuverlässigkeitsflug[es] am Oberrhein, der im Mai 1911 stattfand. Der „Zweck des Unternehmens“, das „unter dem Protektorate Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich von Preußen“ stand und vom Kartell der südwestdeutschen Luftschiffer-Vereine veranstaltet wurde, war vielschichtig: „der Hauptwert ist jetzt aber nicht nur auf besondere Rekorde an Schnelligkeit oder Erreichung großer Höhen zu legen, sondern auf die stetig zu erhöhende Zuverlässigkeit der Maschine und des Fliegers. Deutschland steht zur Zeit in Bezug auf den Bau der Flugmaschine, Leistungen in der Flugtechnik und Zahl der vorhandenen Flieger hinter anderen Ländern, insbesondere hinter Frankreich, weit zurück. Wir können den Vorsprung einholen. […] Durch die Veranstaltung soll ein Flugzeug gezüchtet werden, das mehrere Tage hintereinander in dauerndem Betrieb gehalten werden kann; die Flieger sollen in der schweren Kunst der Orientierung […] geübt werden. […] Der Flug soll endlich durch eine der 29 ADM, LR 000728-01, Prospekt Flugwoche Berlin-Johannisthal 1912. Dort auch das folgende Zitat. 30 Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München u.a. 1915. 31 Siehe Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 9–58. 32 ADM, LR 000728-01, Prospekt Flugwoche Berlin-Johannisthal 1912, S. 26f.
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schönsten und auch klimatisch für solche Veranstaltungen günstigsten Gegenden Deutschlands geführt werden und in weitem Bogen möglichst viele Städte berühren, um in möglichst weiten Kreisen Interesse und Opferwilligkeit für die Entwicklung unseres deutschen Flugwesens zu fördern.“33
Das kommerzielle Interesse der Medien, der Veranstalter, der entstehenden Luftfahrtindustrie und verwandter Unternehmen stand also durchaus im Einklang sowohl mit dem militärischen und nationalen Interesse als auch mit dem Streben nach Rekorden. Von einer Weiterentwicklung des „deutschen Flugwesens“ profitierten alle Akteure. Und dieser gegenseitige Gewinn stand keineswegs im Widerspruch zum sportlichen Geist des Wettbewerbs, der die Veranstaltungen beflügelte. Jene Rivalität zwischen den Nationen, die in Bälde auf den Schlachtfeldern ausgetragen werden sollte, äußerte sich 1909 nicht nur auf ökonomischem Gebiet und im Wettrennen um Kolonien und Einflusssphären, sondern durchaus auch im sportlichen Kräftemessen. Zehn Jahre nach dem Krieg, als Lindbergh und andere Flieger bereits den Atlantischen Ozean überquerten, und fast zwanzig Jahre nach der Flugschau von Brescia sollte Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Theobald Tiger in der Weltbühne ein Gedicht, das den Titel Meine Flieger – deine Flieger trug, veröffentlichen. Darin brachte er den hier angedeuteten Zusammenhang zwischen den nationalen Rivalitäten, den Medien, dem aviatischen Wettbewerb und der Luftfahrtindustrie zum Ausdruck. Das Phänomen stellte sich 1928 selbstverständlich ausgeprägter dar, und doch war die Konstellation bereits in Brescia gegeben. Es lohnt daher, das Gedicht in Gänze zu zitieren: „Unsere Flieger haben über den Ozean gemacht – / deutsche Energie! deutsche Energie! / Unsere Flieger hatten eine Schreckensnacht – / so was war noch nie! / Hier ihre Biographie! / Kikeriki – ! / Und wir brüllten, daß es durch die Straßen gellt: / ‚Unsere Flieger sind die ersten auf der Welt!‘ / Eure Flieger sind ganz nette Leute – / aber kleingedruckt, auf der zweuten Seute. / Unsere Flieger sind der Stolz des Landes! / Vive la France! Quelle rumeur! / Unsere Flieger sind der Gipfel ihres Standes – / Réception et la Légion d’Honneur! / Und dahinter stehn die Industrien, / und sie grinsen in Paris wie in Berlin … / Eure Flieger sind ja schließlich nur / eine kleine zweite Garnitur. / Unsere Flieger fliegen heut nach Mexiko! / Gods own country – our America! / Unsere Flieger halten das Niveau – / For the colonel: / Hip, Hip, Hurra! / Jede Zeitung hat uns das gesagt: / hat da einer einen Flug gewagt, / wächst er empor zum höchsten Firmament / noch der allerdümmste Abonnent. / – ‚Weil du, Landsmann, doch aus gleichem Holz bist, / bin auch ich ein Held, der johlend tanzt!‘ / Sage mir, worauf du stolz bist, / und ich sage dir, was du mir kannst. / Unsere Flieger! Unsere Flieger! / Die sind Sieger! Die sind Sieger! / Eure Flieger, gar nicht zu vergleichen, / können unsern nicht das Wasser reichen. / Will der Stammtisch aller Welt nicht ohne Lust sein –: / braucht er / Kino, Kirche und das Nationalbewußtsein.“34
Tucholskys satirischer Blick sollte allerdings weder den blutigen Ernst der Rivalitäten verdecken noch die Deutungsmacht und Finanzkraft bagatellisie33 ADM, LR 000728-01, Prospekt Deutscher Zuverlässigkeitsflug am Oberrhein 1911, S. 3f. 34 Kurt Tucholsky: Meine Flieger – deine Flieger, in: Weltbühne, Jg. 24, Nr. 18, 1.5.1928, I, S. 686, zit. nach: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 10. Texte 1928, hrsg. v. Ute Maack, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 191f.
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ren, welche die Medienunternehmen bereits innehatten und welche auch die Luftfahrtindustrie in der Zwischenkriegszeit in Ansätzen sammeln sollte.35 Bereits vor dem Krieg standen die ökonomischen Interessen diverser Akteure hinter der Popularisierung der Luftfahrt. Dieser Befund sollte indes nicht über die echte Begeisterung hinwegtäuschen, welche die Fliegerei auslöste. Er dient vielmehr als Hinweis einerseits auf die Kanäle, über welche sich die Begeisterung in der Gesellschaft verbreitete und andererseits auf die Interessenlagen, die zu ihrer Potenzierung führten. Wie Peter Fritzsche an dem in Deutschland florierenden Zeppelinkult gezeigt hat, führte die Verknüpfung von Nationalismus und Technikbegeisterung nicht nur zu einer schicht-unspezifischen Identifikation breiter Bevölkerungsteile mit der Nation, sondern auch zum Überleben des Zeppelins selbst.36 Am Dienstag, dem 4. August 1908, hatte sich das LZ 4 in Friedrichshafen mit dem Ziel über den Bodensee erhoben, die vom Reichskriegsministerium für den Kauf eines Luftschiffes gestellten Bedingungen zu erfüllen. Nach einer in Oppenheim erfolgten Notlandung nahm der „Luftlohengrin“ am nächsten Tag seinen Flug wieder auf, musste allerdings in Echterdingen erneut notlanden.37 Dort riss eine Windböe das Luftschiff in die Höhe, woraufhin es vornüber kippte, zu Boden fiel und sich in einem Meer von Flammen auflöste. Da die Konstruktion des Grafen Zeppelin die Bedingungen des Reichskriegsministeriums nicht erfüllt hatte, drohten ihm nun die Gelder auszugehen. Da meldete die Schwäbische Kronik: „Das Luftschiff ist verloren, aber die Idee lebt! Und ihr Graf Zeppelin. Das deutsche Volk wird ihm ein neues Schiff bauen! Des sind wir sicher!“38 Und tatsächlich waren am Tag nach dem Unglück bereits 5 359 Mark für den Grafen und dessen Idee gesammelt worden. Nach sechs Wochen waren es bereits fünf Millionen Mark und dank der Spende konnte die Friedrichshafener Luftschiffbau Zeppelin GmbH gegründet werden.39 Das „Wunder von Echterdingen“, wie die Spendenaktion genannt wurde, verdeutlicht nochmals die symbiotische Verknüpfung, welche zwischen einer aufstrebenden Luftfahrtindustrie, den Medien, den Veranstaltern von populären Großereignissen, dem großen und dem kleinen Unternehmertum, dem 35
Zur Luftfahrtindustrie in der Zwischenkriegszeit im Allgemeinen siehe: Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998. 36 Siehe auch für das Folgende: Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 9–22. Zum Verhältnis von Technik und Nation in Deutschland und Großbritannien siehe: Bernhard Rieger: Technology and the Culture of Modernity in Britain and Germany, 1890–1945, Cambridge 2005. Zur Zeppelinbegeisterung im Besonderen siehe zudem: Helmut Reinicke: Zeppelin, Karl May und die deutschen Auffahrten nach Dschinnistan, in: Dieter R. Bauer/Wolfgang Behringer (Hrsg.): Fliegen und Schweben. Annäherung an eine menschliche Sensation, München 1997, S. 317–343. 37 Zum Luftlohengrin als Bezeichnung für Graf Zeppelins Luftschiff siehe: Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 29. 38 Anonymus: Andere Berichte, in: Schwäbische Kronik vom 6.8.1908, Nr. 362, o. S. 39 Zur Geschichte der Zeppeline siehe: Guillaume de Syon: Zeppelin! Germany and the Airship, 1900–1939, Baltimore, MD 2002.
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„nationalen Interesse“ von Politik und Militär sowie den technikbegeisterten und sensationslüsternen Massen bestand. Der „grass-roots nationalism“,40 der sich in der Spende für die „fliegende Zigarre“ offenbarte, war auch auf den Flugschauen ein schichtenübergreifender integrierender Faktor. Siegte ein Landsmann, so wurde der Zuschauer selbst, dank der über das Nationalbewusstsein erfolgenden Identifikation, zu einem Bezwinger der Luft. Selbst als unbeteiligter Zaungast sonnte man sich gern in der „Modernität“ der gesamten Nation, die sich vermeintlich in dem Sieg des Piloten manifestierte. In den Worten Tucholskys lautete dieser Befund: „‚Weil du, Landsmann, doch aus gleichem Holz bist, / bin auch ich ein Held, der johlend tanzt!‘“41 Im Windschatten der Fortschrittseuphorie etablierte sich allerdings ein weiterer, zunächst verwandter und später, nach dem Kriege, gegen das Fortschrittsnarrativ eingesetzter Topos, jener des Übermenschen. Das im Konzept des Fortschritts angelegte Motiv der Überwindung richtete sich im Falle seiner Verwendung im Kontext der Aviatik zunächst vornehmlich gegen die Natur oder, wie im Falle Warburgs, gegen das „naturwüchsige“, abergläubische und mythische Denken. In dem sich nach dem Kriege formierenden faschistischen Mythos wurde das Motiv der Überwindung jedoch gegen jene Welt gewandt, aus der es stammte. Der Prozess, der einst als Fortschritt verstanden worden war, wurde nun als Verfall und Dekadenz interpretiert. Es galt nunmehr, jene „dekadente“ Welt zu überwinden, die einst ihre eigene Legitimation aus der Überwindung des Ancien Régime gezogen hatte. Dieser Verwandlungs- und Umkodierungsprozess des Fortschritts- oder Aufstiegstopos sowie die abweichenden Instrumentalisierungen des FliegerNarrativs waren möglich, weil der Flieger als Chiffre eine Grundstruktur aufwies, die für die unterschiedlichsten Kräfte attraktiv war und in mannigfachen, sich gegenseitig ausschließenden Kontexten wiederkehrte. Durch die Untersuchung des Aviatikdiskurses wird eine Metaebene freigelegt, in der diese Widersprüche und Überschneidungen erst sichtbar werden. Auf dieser Metaebene erweisen sich der Flieger und sein Flugzeug selbst als polyvalente Zeichen, deren Position sich im Netzwerk der Bedeutungen verschob. Daher konnten die Wahrnehmung und die Artikulation ein und desselben Ereignisses sich zugleich ähneln und divergieren. Als Kafka den „in einem Holzgestell verfangenen“ Menschen bestaunte, der „sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr“ wehrte und sich über die „unten ganz zurückgedrängt und wesenlos“ stehende und nach oben blickende Menschenmasse wunderte, begann der ebenfalls anwesende Gabriele D’Annunzio eine andere Sicht der Dinge zu etablieren und ein anderes Netz zwischen den Begriffen zu knüpfen. Das lag gewiss nicht zuletzt daran, dass D’Annunzio nicht nur, wie Kafka es schilderte, „schüchtern vor dem Conte Oldofredi“, einem der Organisato40 41
Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 15. Tucholsky: Meine Flieger – deine Flieger, S. 686.
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ren der Flugschau, tanzte.42 Dem divino poeta war es vielmehr vergönnt, zunächst bei Curtiss und daraufhin auch bei Calderara mitzufliegen. Von D’Annunzios Flug berichtete Luigi Barzini im Corriere della Sera: „Er saß auf einer winzigen Tafel, die Füße auf einer Bambus-Strebe gestützt, die Hände auf den Achsen des Gerüsts, in einer instinktiven und berechtigten Suche nach Halt, in einen Käfig aus sich kreuzenden Stahldrähten gesperrt, lächelte D’Annunzio ganz in Erwartung versunken.“43 Gespannt wartete man, so Barzini weiter, auf D’Annunzios Eindrücke von dem Flug. Als er wieder am Boden war, wurde er daher sogleich nach seinem Erleben gefragt: „Er strahlte vor Begeisterung. […] Es ist etwas Göttliches! – sagte er sogleich. Göttlich und noch unsagbar. Der Augenblick, in dem man die Erde verlässt, ist von unendlichem Liebreiz. In dem Augenblick spürt man die Geburt einer neuen Empfindung. Mein Herz ist noch ganz davon erfüllt. […] Es ist ein neues Bedürfnis, eine neue Leidenschaft.“ Eine neue Leidenschaft, der D’Annunzio wieder frönte, als sich kurz darauf die Gelegenheit ergab, mit Calderara nochmals in die Lüfte aufzusteigen. „Sich von der Erde lösend, scheint es, als ließe man die Materie hinter sich. Man fühlt sich dabei leicht, ätherisch, verklärt.“ Der Dichter, der auch hier, trotz gegenteiliger Aussage, keineswegs um Worte verlegen war, sollte das Erlebnis seinem im Januar 1910 erschienenen, ausschweifenden Roman Forse che sì, forse che no einverleiben: „Sie [die Maschine] gewann rasch an Höhe. […] Dann dreht sie in den Wind, mit oszillierenden Bewegungen, wie die Gabelweihe, wenn sie empor kreist, wie der Akrobat auf dem gespannten Draht. […] [die Maschine] flog rasch und gerade wie ein Pfeil die grüne Linie der Pappelallee von Ghedi hinab, […] schwebte im weißen Abglanz der Wolken, schön wie das Bild des Sonnengottes von Edfu, ganz nur Schwinge wie das Emblem über den ägyptischen Tempeln.“44
Doch D’Annunzio ließ es keineswegs bei den bereits behandelten göttlichen Verklärungen des Aviatischen bewenden. In Vielleicht – vielleicht auch nicht, dessen deutsche Übersetzung ebenfalls 1910 vorlag, findet sich nebst der Thematisierung des Rausches der Geschwindigkeit eine inhaltlich fast futuristisch anmutende Beschreibung eines mechanisch-organischen Hybriden, der Verschmelzung von Mensch und Maschine: 42
Kafka: Die Aeroplane von Brescia [1994], S. 407. Luigi Barzini: L’ebbrezza del volo, zit. nach Laredo de Mendoza: Gabriele D’Annunzio, S. 44–47, S. 45. Dort (S. 46 u. S. 47) auch die beiden folgenden Zitate. 44 Gabriele D’Annunzio: Forse che sì forse che no, zit. nach der deutschen Übersetzung von Karl Vollmöller aus dem Jahr 1910: Gabriele D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, Leipzig 19105, S. 77. Mit D’Annunzios Roman hält die Flugtechnik Eintritt in die Welt der Literatur. Es handelt sich gewissermaßen um den Gründungsakt der europäischen Flugdichtung – D’Annunzio brüstete sich, mit dem Roman 2000 Neologismen eingeführt zu haben – und ist daher bereits häufig thematisiert worden. Er wird von Ingold sowie von Wohl ausführlich behandelt. Siehe Ingold: Literatur und Aviatik, S. 28–49 sowie Wohl: A Passion for Wings, S. 114–122. Siehe zudem Woodhouse: Gabriele D’Annunzio. Defiant Archangel, insbes. S. 242–249. 43
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Abb. 5 Der in Curtiss’ Holz- und Drahtgestell verfangene und verklärte D’Annunzio.45 „Giulio Cambiaso hatte nie so wie diesmal die Zusammengehörigkeit zwischen der Maschine und seinem Körper gefühlt, zwischen seinem geübten Willen und dieser bezähmten Kraft, zwischen seinen instinktiven Bewegungen und den Bewegungen dieses Mechanismus. Von den Flügeln der Schraube bis zur Flosse des Steuers fühlte er dies ganze schwebende Gebilde wie eine organische Verlängerung und Bereicherung seines eigenen Seins. Wenn er sich über die Steuerung beugte, um einen Windstoß zu parieren, wenn er sich mit dem Körper gegen das Innere der Kurve neigte, um mit der Hüfte die Verwindung der Flügelenden zu betätigen, wenn er beim Anluven mit unfehlbarem Gefühl das Gleichgewicht wiederherstellte und von Zeit zu Zeit die Flugachse versetzte, hatte er die Empfindung, mit seinen beiden weißen trapezförmigen Schwingen durch lebendiges Gewebe verwachsen zu sein“.46
D’Annunzio fährt fort, den Flug der zwei brüderlichen Freunde Cambiaso und Paolo Tarsis zu schildern. Deren Freundschaft war „auf dem Deck eines Schlachtschiffes geschlossen worden“ und hatte „sich im Höllenraum der Unterseeboote gefestigt“.47 In den beiden „lebte schon der Hochmut der kleinen Aristokratie, die sich in der Masse der herzugelaufenen Flieger zu bilden
45 Abbildung D’Annunzios mit freundlicher Genehmigung der Archivi del Vittoriale, Archivio Iconografico. 46 D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, S. 77. 47 Ebd., S. 58.
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begann“,48 als sie sich in Montichiari zum Wettkampf sammelten. Dorthin, also auf das Flugfeld von Brescia, „strömte auch [die Menge] zum Schauspiel wie zur Verklärung des ganzen Menschengeschlechts.“49 Von der Technikgewandtheit und der Verschmelzung mit der Maschine, vom Rausch der Geschwindigkeit bis zur bündischen Männerfreundschaft, den entsprechenden virilen Attributen, der Misogynie, dem aristokratischen Gebaren und der Verachtung der Masse sind in dem Roman bereits bedeutende Topoi des kriegerischen Aviatiknarrativs versammelt, die in den faschistischen Mythos Einzug halten sollten. Zudem verbreitete der Roman mit den Figuren Cambiaso und Tarsis, ein weiteres Alter Ego D’Annunzios, auch des Dichters Vision vom nietzscheanischen Übermenschen. „Das neue Fahrzeug schien den Menschen über sein Geschick zu erheben, schien ihm nicht nur ein neues Reich, nein, auch einen sechsten Sinn zu verleihen. Wie die schnellen Wagen von Stahl und Feuer Zeit und Raum verzehrt hatten, triumphierten jetzt die dädalischen Flügel über beide Mächte und über die Schwere selbst. Die Natur senkte eine ihrer Schranken nach der anderen.“50 Mit dem Flugzeug feierte der Mensch einen Triumph über Raum, Zeit und Natur: „Die Seele der Menschheit hatte das Jahrtausend überschritten, die Zeit beflügelt, den Ausblick in die Zukunft vertieft, das neue Zeitalter begonnen. Der Himmel war jetzt zum dritten Reich geworden, nicht mit titanisch getürmten Blöcken erstürmt, sondern mit dem Blitz, der gefesselt und zum Sklaven geworden.“51 Hier befindet sich D’Annunzios Schilderung des aviatischen Prometheus prinzipiell noch im Einklang mit dem technisch-utopistischen Fortschrittsnarrativ. Doch er hat es bereits von seinen emanzipatorischen Komponenten entkoppelt. D’Annunzio beschreibt nicht den universalistischen Aufstieg „der Menschheit“, er zielt auf die Geburt eines Neuen Adels. Eines Adels, dem selbst nicht alle Flieger angehören: „‚Trotz allem‘, sagte Giulio Cambiaso, ‚diese Ikarusse sind mir noch lieber als die bezahlten Söldner da […].‘ Er meinte die Helden vom Automobil, die professionellen Sieger der großen Rennen, die die neue Maschine einfach als einen erleichterten Rennwagen ansahen […]. Sie waren von den Fabriken der Flugapparate engagiert und schlugen Geld aus ihren Knochen und aus ihrer professionellen Verwegenheit.“52
Die wahren Übermenschen, das waren Tarsis und Cambiaso, denn sie waren im Gegensatz zu jenen anderen Fliegern nicht des Geldes wegen zum Wettkampf angetreten, sondern um des Spieles mit dem Tod willen, denn der „Tod ist bei jedem Spiel, das wert ist, gespielt zu werden.“53 Mit Ardea, oder dem Reiher, wie die von den beiden erbauten Flugzeuge heißen, erhob sich Tarsis 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 62. Ebd., S. 56. Ebd., S. 55f. D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, S. 79. Ebd., S. 63. Ebd., S. 69.
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aus der Masse, die mit „tausend und tausend Stimmen“ Ardea rief.54 Tarsis und Cambiaso hatten die beiden „vollkommen gleiche[n]“ Maschinen, „deren Schatten dem des Reihers“ glich, zusätzlich so benannt, weil sie sie in Ardea, einem Schauplatz der Äneis, erbaut hatten, das „den Namen des Vogels trägt, der am höchsten fliegt.“55 Die Menge war „berauscht von diesem eleganten und gefährlichen Spiel“, denn sie hatte ästhetischen Anteil daran. Es gilt, zum einen auf die Motive aufmerksam zu machen, die in modifizierter Form während des Krieges auftauchen sollten. Der Schatten des Flugzeuges mutierte vom Reiher zum Kreuz des Erlösers, das vivere pericolosamente, das der Ablehnung der Welt der Sicherheit entwuchs, wurde zur Todesverachtung des Kriegers. Zum anderen aber soll die Geburt des d’annunzianischen Übermenschen kontextualisiert werden. Tarsis erhebt sich über die Menge, die ihn bewundert, aber auch aus dem profanen Alltag, von der Erde im metaphorischen Sinn: „‚Einsam sind wir nun, Bruder, frei, fern von der quälenden Erde […]. Wie groß und männlich der Himmel heute ist.‘ Er ließ alles hinter sich: den Wirbel seiner Leidenschaft, das erregende Lachen Isabellas, den fiebernden feindlichen Blick des jungen Bruders, die Eitelkeit der Freundinnen, die Banalität der Bekannten. Er fand seine Stille wieder, seine Einsamkeit, sein Werk.“56
Tarsis ist des saturierten, bourgeoisen Lebens überdrüssig. Mit seinem Protagonisten bringt D’Annunzio ein Gefühl zum Ausdruck, das die nachfolgende Generation von 1914, wie Robert Wohl gezeigt hat, wiederaufnehmen und radikalisieren sollte.57 Und es ist der Flieger, der symbolisch aufbricht, das Leben in Sicherheit hinter sich lässt und gegen ein dynamisches, abenteuerliches und gefahrenvolles Leben eintauscht.58 Dieser Aufbruch und Aufstieg fordert allerdings „unter dem Geschrei der Menge“ seine Opfer.59 „Lautlos“ liegt einer der abgestürzten Flieger in einem „Kreis des Schreckens, ein stummes Wrack über dem metallenen Herzen, das noch warm war und rauchte. Die erschreckte und lüsterne Menge beroch das Aas.“60 Ein weiterer Flieger stürzt brennend zu Boden und erneut brüllt die Menge auf, „bis in die Eingeweide gepackt, nicht von Mitleid für den Verwundeten, sondern von der Leidenschaft des tödlichen Spiels. […] Die blutige Lust am Zirkus54
Ebd., S. 78. Ebd., S. 61. D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, S. 77f. 57 Siehe Robert Wohl: The Generation of 1914, Cambridge, MA 1979. 58 Bei Ingold heißt es: „D’Annunzios Helden in ‚Vielleicht, vielleicht auch nicht‘ führen gleichsam die dramatisierten Ideen des Autors auf, es sind Menschen ohne sozialen Kontext, exemplarische und – im nietzscheanischen Sinn – vorbereitende Menschen: Prototypen. […] Entsprechend D’Annunzios zentraler Metapher (motorisierter Höhenflug als Verbildlichung übermenschlicher ‚verklärender‘ Elevation) ist dieser poetische Raum vertikaldialektisch disponiert, was ihn zugleich assoziativ an älteste religiöse Raumvorstellungen bindet.“ Siehe Ingold: Literatur und Aviatik, S. 35. 59 D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, S. 80. 60 Ebd., S. 81. 55 56
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spiel war in jeder Brust erwacht. Eine plötzliche Steigerung des Lebensgefühls wallte unter der drohenden Nähe des Todes auf.“61 Tarsis, „ein Bote des höchsten Lebens“, bleibt allein am Himmel und siegt. Währenddessen steigt der Freund Cambiaso neuerlich auf, um den Höhenrekord zu erzielen. Er kehrt zurück aus der „unberechenbare[n] Höhe“, wo er „gänzlich losgelöst von seinesgleichen“ weilte, als sich die Schraube von der Maschine löst und die Menschmaschine auf der Erde aufprallt. Und während sich die verachtete Menge, „lüstern nach dem Anblick“ und „voll Wildheit […] um das gräuliche Schauspiel stieß und schlug“, „klebte der Hinterkopf [des abgestürzten Cambiaso] am Motor derart, dass die sieben Zylinder mit ihren Kühlrippen eine Art von schauerlichem Strahlenkranz um sein Gesicht bildeten.“62 Der Strahlenkranz des Heiligen, der den toten Flieger ehrt und weiht, ist ein weiteres sakrales Motiv, das D’Annunzio bereits 1910 verwendet und das in seinen Reden und Schriften zur Aviatik während und nach dem Kriege häufig wiederkehren wird. Wesentlich scheint jedoch die Verwandlung des ikarischen Motivs.63 Der himmelstürmende Übermensch Cambiaso stürzt gleich Ikarus, der seine Grenzen überschritt, ab. Doch im Gegensatz zu Ikarus, der die ihm von Dädalus empfohlene mittlere Bahn zwischen Meer und Sonne überschreitet und seiner Hybris wegen fiel, wird Cambiaso gerade wegen seines Strebens und seiner Grenzüberschreitung geheiligt. Cambiaso wird mit dem Tode nicht bestraft, sondern geadelt. Gerade seine Lebensverachtung und sein Todesmut zeugen von seinem Übermenschentum. Das bestätigt sich auch am Ende des Buches. Tarsis bricht nochmals zu einem tollkühnen Flug über dem Meer „des Odysseus und des Äneas“ auf und „es genügte ihm, in der größten Distanz von der Küste auf dem Meere zu scheitern.“64 Doch es sollte anders kommen und Tarsis fragte sich, ob „der Tod sich in Leben wandeln [sollte]? Der Tag des Opfers zum Tag der Verklärung [transfigurazione] werden?“ Tarsis erreicht Sardinien „und sein Herz bebte, denn in ihm war die Lust zu leben neu erwacht, der Wille, zu leben um des Sieges willen.“ Auf die christlichen und palingenetischen Motive bei D’Annunzio ist bereits hingewiesen worden. Hier gilt es zu verdeutlichen, dass D’Annunzio das Spiel mit dem Tod zur Voraussetzung neuen Lebens macht. Erst die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, gewährt die Verwandlung zum Übermenschen. Tarsis gelingt der ikarische Flug in Sonnennähe, er stürzt nicht ab. Und dennoch hat sich auch Tarsis, wenn auch nicht an der Sonne, so doch den Fuß an den heißen Abgasen des Motors beim Anflug 61
Ebd., S. 81f. Ebd., S. 89f. 63 Für eine Übersicht zum Ikarus-Mythos siehe: Behringer/Ott-Koptschalijski: Der Traum vom Fliegen, S. 121–124. Die literarische Hauptquelle für den Mythos ist das 8. Buch von Ovids Metamorphosen. 64 D’Annunzio: Vielleicht – vielleicht auch nicht, S. 417. Dort (S. 412, S. 420f. sowie S. 422) auch die folgenden beiden Zitate. 62
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verbrannt. Als er landet gibt es „kein Geschrei, kein Triumphgetön, keine Menge mit bleichen Gesichtern und ausgestreckten Händen“, sondern nur „wildes Schweigen“ und „einsame[n] Ruhm.“ Die Verbrennungen haben zur Folge, dass er nur mit unaushaltbaren Schmerzen auftreten und gehen kann. Die Bindung zur Erde ist gekappt, der Übermensch hat die Erdenhaftung verloren. Abseits von den zahlreichen Anspielungen, der überquellenden Symbolik, den mythologischen und sakralen Motiven, die D’Annunzio in Vielleicht – vielleicht auch nicht miteinander verknüpfte, bleibt festzuhalten, dass er eine deutliche Dichotomie zwischen den zum Übermenschentum Bestimmten und der sensationslüsternen, ja „primitiven“ Masse aufbaut. Der Held ist ein einsamer Held und D’Annunzios Elitismus ist individualistisch. Diese individualistischen Züge des aviatischen Narrativs sollten im faschistischen Mythos noch geschleift werden. Der Elitismus hingegen blieb erhalten. Die elitäre Aussage des Buches steht in Einklang mit seinem Stil. Vielleicht – vielleicht auch nicht war keineswegs für die literarisch ungebildete Menge konzipiert, und es wurde auch nicht zu einem Buch für die Massen. Dennoch spielt es für die hier thematisierten medialen Kanäle des Mythos eine wesentliche Rolle. Denn bei D’Annunzios Roman handelte es sich um die erste ausführliche, künstlerisch-literarische Behandlung des noch neuen Phänomens der Fliegerei. Dem Dichter gelang es, die Fliegerei in einen Bedeutungskontext zu integrieren und bereits bestehende Topoi für die Interpretation der Aviatik zu besetzen, die in Zukunft stets wiederkehren sollten. Dies soll nicht bedeuten, dass die Etablierung dieses Sinnkontexts oder des Rahmens der Wahrnehmung der Fliegerei D’Annunzios Einzelleistung gewesen wäre. Selbstverständlich war auch er in diverse Diskurse eingebunden und schöpfte aus dem bestehenden nationalsprachlichen Erfahrungsraum und einem gesamteuropäischen Bildungskanon und Bilderschatz. Doch nicht zuletzt dank seiner Prominenz und medialen Ubiquität sollten diese für die Fliegerei eroberten Topoi zu tatsächlichen Gemeinplätzen werden. D’Annunzios Äußerungen stehen paradigmatisch am Anfang eines langen Prozesses der Wiederholung und Einschreibung, an dessen Ende eine mythische Ordnung stand. Die Thematisierung der Flugschau und des daraus hervorgegangenen Romans diente einerseits der Darlegung des anfänglich weitgespannten Rahmens der Auslegung der Aviatik. Andererseits sollten die unterschiedlichen Partizipationsvarianten am aviatischen Narrativ veranschaulicht werden. Das Beispiel Kafka verdeutlichte die polyphonen Interpretationen, welche die Aviatik hervorbrachte. Der Erste Weltkrieg schränkte die Vielfalt der Deutungen ein. Die Vielfalt der Teilhabe an dem Prozess der Sinnstiftung und (Ein-)Ordnung eines Phänomens blieb jedoch erhalten. Und diese Teilhabe an der Sinnstiftung reichte vom Entwurf einer Werbeanzeige für den Prospekt einer Flugschau über die Gestaltung des Plakats, die photographische „Abbil-
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dung“ des Ereignisses, bis zur Berichterstattung in der Presse und zur Autorschaft eines Romans der Hochkultur. Vor allem aber bestand die Teilhabe in der Rezeption der jeweiligen Erzeugnisse, und das heißt in der Übersetzung und Reproduktion des vermittelten Sinns in den eigenen Erfahrungshaushalt und in die eigene Lebenswelt. Am Sinn des aviatischen Narrativs partizipierten auch die vermeintlich passiven Zuschauer bei der Flugschau oder die Leser der Texte und nicht nur die Luftakrobaten und Textproduzenten. Unabhängig von der Rolle, die das Individuum dabei einnahm, stets wurde der Aviatikdiskurs aktualisiert und reproduziert. Diese Aktualisierung und Reproduktion des Sinns prägte die individuelle Wahrnehmung und das eigene Sprechen über das Phänomen der Aviatik. Selbst der passivste Zuschauer wurde zu einem „Autor“, der den Sinn erst erzeugte.65 Eine Überbetonung hochkultureller Erzeugnisse prominenter Autoren und ihrer Sinnkonstrukte lässt sich bei der Rekonstruktion des Diskurses selten vermeiden. Das gründet nicht zuletzt in den etablierten, historisch-methodischen Zugängen aber selbstverständlich auch in der Existenz und Überlieferung entsprechender Quellen. Dennoch, die Thematisierung prominenter Sprecher scheint auch aus diskurstheoretischer Sicht berechtigt, da ihre Sinnkonstrukte nicht als Leistungen autonomer, monadischer Subjekte verstanden werden. D’Annunzio und andere prominente Sprecher sind vielmehr als Sinnmultiplikatoren zu verstehen. Sie bilden Knotenpunkte im Netzwerk der Sinnerzeugung, die Einschreibungen in den Diskurs, also Wiederholungen gewisser Aussagen und der Etablierung von Topoi, Vorschub leisten. Die Sinn(re)produktion des „kleinen Mannes“ lässt sich hingegen nur in seltenen Fällen untersuchen. In den folgenden Abschnitten soll durch die Thematisierung der aviatischen Massenlesestoffe des Ersten Weltkrieges zumindest ein Schritt in diese Richtung versucht werden. Selbst diese Trivialliteratur spiegelt die Sinnangebote, die den untersten Schichten zur Verfügung standen, nicht wider. In Italien waren diese, wie bereits geschildert, des Lesens und Schreibens teils gar nicht mächtig.66 Und selbst in Deutschland, wo man sich der hohen Ausgaben für das Schulwesen, der geringen Analphabe-
65 Zum Leser als „Schöpfer“ des „Sinns“ siehe: Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193. Dort (S. 192) heißt es: „Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt […].“ 66 Siehe hierzu: Antonio Gibelli: „Letteratura di illetterati“ nella Grande Guerra. Lineamenti di un percorso storiografico, in: Massimo Bacigalupo/Roberto De Pol (Hrsg.): Grande Guerra e letteratura, Genua 1997, S. 37–50.
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tenquote und der beträchtlichen Buchproduktion propagandistisch brüstete,67 steht nicht zu vermuten, dass die untersuchten Kriegsbücher unter Gelsenkirchener Kumpels oder gar pommerschen Tagelöhnern große Resonanz fanden.68 Ihre Wahrnehmung des aviatischen Phänomens, ihre Sinnkonstrukte und Ordnungsversuche bleiben daher vorwiegend im toten Winkel historiographischer Forschung. Die Analyse der Massenlesestoffe stellt jedoch zumindest eine Annäherung an die Sinn(re)produktion und an die Partizipationsmöglichkeiten jener dar, die nicht zu den kulturellen Eliten gehörten. Wie die Analysen des nächsten Kapitels verdeutlichen werden, unterschieden sich die Massenlesestoffe zwar in Form und Stil von den Erzeugnissen der Hochkultur, doch der Kontext des Krieges führte zu einer Vereinheitlichung der Deutung der Aviatik. Bestimmte Topoi und Sinnkonstrukte gewannen an Relevanz, andere hingegen gerieten in den Hintergrund oder verschwanden, da sie es nicht vermochten, den chaotischen Krieg zu ordnen und dem erfahrenen Leid einen Sinn zu geben. Im folgenden Abschnitt wird der Rahmen der Entstehung sowie des Konsums und der Rezeption der kriegerischen „Mythen des Alltags“, soweit fassbar, rekonstruiert. Es werden jene Paratexte vorgestellt, welche die donquijotehafte Übertragung literarischer Interpretamente auf die Wirklichkeit förderten.
b. „Der Krieg zum Preis von einer Mark“ Authentizität als populäres Versprechen Zunächst gilt es, ein Korpus von annähernd 50 populären deutschen Kriegsbüchern aus den Jahren 1914 bis 1918 zu kontextualisieren, in denen der Flieger und der Krieg in der Luft repräsentiert wurde.69 Das mythische aviatische Narrativ, das sich in diesen Kriegsbüchern formierte, erreichte über diesen Kanal weite Teile der Gesellschaft. Werden im nächsten Kapitel die vermittelten Bilder und Deutungsmuster erörtert, so werden hier der Ort des Korpus innerhalb der Medienlandschaft des deutschen Kaiserreiches zur Zeit des Ersten Weltkrieges bestimmt, die Rahmenbedingungen seiner Rezeption erläutert und die Produktion der Bücher thematisiert. Es soll vornehmlich gezeigt werden, wie die curious literariness of real life von den Büchern selbst gefördert wurde. 67
Siehe das von Louis Oppenheim entworfene und von der Dr. Selle und Co. GmbH während des Ersten Weltkrieges gedruckte Plakat „Sind wir die Barbaren?“, http://www.dhm.de /lemo/objekte/pict/pl002758/index.html, eingesehen am 3.4.2008. 68 Zum Leseverhalten der „kleinen Leute“ siehe u.a.: Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin u.a. 2004. 69 Zum „Krieg zum Preis von einer Mark“ siehe: Thomas F. Schneider: Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hrsg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, 3 Bde., Osnabrück 1999, S. 101–114, S. 105.
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Die Kriegsbücher reihen sich in eine Entwicklung ein, die parallel zum Wandel des Krieges zu einem technisierten Massenkrieg verläuft. Der desorientierende, die Heimatfront mobilisierende Weltkrieg rief ein erhöhtes Informations- und Orientierungsbedürfnis hervor, auf das die mit neuartiger Technik ausgestatteten und Massenware produzierenden Verlage reagierten. Literatur war im Verlauf des 19. Jahrhunderts und verstärkt um die Jahrhundertwende zu einem kommerzialisierten Massenprodukt geworden.70 Die Kriegsbücher sind als Ergebnis der Kommerzialisierung des Büchermarktes und der Entstehung einer konsumorientierten Unterhaltungsindustrie zu verstehen.71 Das Buch war eine Ware, die von einer „Kulturindustrie“ hervorgebracht wurde, die sich ihrerseits ausdifferenzierte und unterschiedlichsten Bedürfnissen und Anforderungen, vom Groschenroman bis zu den Klassikern, von der Illustrierten bis zur seriösen Tageszeitung, gerecht zu werden versuchte.72 Anstatt jedoch von einer Manipulation der Leserschaft „von oben“ auszugehen, scheint es sinnvoller, sich ein symbiotisches Verhältnis vorzustellen, das sich aus der Nachfrage der Heimatfront nach „authentischen“ Berichten vom Krieg, dem Bedürfnis der Kriegsteilnehmer und -beobachter, das Erlebte schriftlich zu verarbeiten, und dem finanziellen wie auch patriotischen Interesse der Verlage ergab, die Nachfrage mittels eines entsprechenden Angebotes zu stillen.73 So wurden in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 beileibe nicht nur die Streitkräfte mobilisiert. Auch die Verleger, Lektoren, Redakteure, Autoren, Setzer und Drucker leisteten ihren Dienst am Vaterland. In einem arbeitsteiligen Krieg mutierten Worte wie Medienarbeiter zu Waffen und Soldaten,74 so dass Marieluise Christadler treffend von einer „literarischen Mobilmachung“ sprach.75 Die Medienlandschaft wurde von einer Flut hurrapatriotischer Gedichte, Prosa und Berichte überschwemmt, welche die selbsternann-
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Zur sogenannten Leserevolution siehe: Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10/1969, S. 945–1002. 71 Zur Entwicklung und Kommerzialisierung des Buchmarktes siehe: Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 1. Die Kriegsbegeisterung von 1914: Ursprünge – Denkweisen – Auflösung, Konstanz 1994, S. 35–60 u. Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Darmstadt 1997, S. 227–233. 72 Zur Popularisierung der Literatur und zur Herausbildung eines „Lesestoffs der kleinen Leute“ siehe: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hrsg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001; Peter Nusser: Trivialliteratur, Stuttgart 1991; Rudolf Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Studien zur populären Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, München 1976. 73 Siehe: Thomas F. Schneider: Endlich die ‚Wahrheit‘ über den Krieg. Zu deutscher Kriegsliteratur, in: Text und Kritik 124/1994, S. 38–51, S. 47. 74 Siehe: Joachim S. Heise: Sprache im Dienste des Völkerringens. Linguistische Perspektiven zum Ersten Weltkrieg, in: Krieg und Literatur – War and Literature, V/1999, S. 37– 54. 75 Siehe: Christadler: Kriegserziehung im Jugendbuch.
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ten Dichter, Denker und Berichterstatter sogleich zu verfassen begannen.76 Ebenso wie im Falle des „Augusterlebnisses“ darf aber auch die mediale Hypertrophie des Krieges nicht zwangsläufig als Kriegsbegeisterung gedeutet werden.77 Wie Helmut Fries gezeigt hat, muss die „massenhafte Anfertigung kriegsbejahender Literatur durch Laien […] als ein Akt der psychischen Entlastung, als Versuch einer positiven Sinnfindung für das trotz aller HurraStimmung doch auch sehr beunruhigende Ereignis Krieg“ verstanden werden.78 Der Krieg bedrohte nicht nur den gewohnten Gang des Alltags, er führte zu einem abrupten Ende des „Zeitalters der Sicherheit“.79 Die Medien versuchten daher, zu informieren und einen Damm gegen das hereinbrechende Chaos zu errichten.80 Da weder der Heeresbericht noch die Zeitungs- und Zeitschriftenartikel dieses Informations- und Orientierungsbedürfnis stillen konnten, es darüber hinaus lukrativ war und der vaterländischen Gesinnung entsprach,81 reagierten die Verlage auf die Nachfrage. Bald nach Kriegsbeginn sollten sich zwei nicht fiktionale literarische Genres auf dem Büchermarkt etablieren, die es vor dem Krieg nicht gab, der Feldpostbrief und der Kriegsbericht.82 Neben 76 Siehe: Helmut Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 825– 848, S. 827; Thomas F. Schneider/Hans Wagner: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam u.a. 2003, S. 11–16, S. 12. 77 Siehe: Verhey: Der „Geist von 1914“ sowie Ziemann: Front und Heimat. 78 Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, S. 827. 79 Zum „goldenen Zeitalter der Sicherheit“ siehe: Zweig: Die Welt von Gestern, S. 15. 80 Zum Themenkomplex Medien und Krieg ist in den vergangenen Jahren eine große Anzahl an Publikationen erschienen. Einen Überblick über die Forschung bieten: Jörg Becker: Bibliographie zum Thema ‚Krieg und Medien‘, in: Ulrich Albrecht/Ders. (Hrsg.): Medien zwischen Krieg und Frieden, Baden-Baden 2002, S. 267–279; Christian Filk: Im Bann der Live-Bilder. Krisenkommunikation, Kriegsberichterstattung und Mediensprache im Informationszeitalter. Studien nach dem Ende der Ost/West-Konfrontation. Mit einer Auswahlbibliographie, Siegen 2006. 81 Gerade im Falle der deutsch-jüdischen Verleger Mosse und Ullstein lässt sich beispielsweise vermuten, dass der „enorme Loyalitätsdruck, der […] auf den Juden als einer exponierten Minderheit lastete“ sowie „die Möglichkeit, die Verbundenheit mit dem Vaterland [endlich] unter Beweis zu stellen“ das verlegerische Engagement für den Krieg erhöhte. Siehe: Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, S. 61. 82 Zusätzlich zu den bereits zitierten Werken zum Phänomen Literatur und Erster Weltkrieg siehe: Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 2. Euphorie – Entsetzen – Widerspruch: die Schriftsteller 1914–1918, Konstanz 1995; Bernd Hüppauf (Hrsg.): Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein i.Ts. 1984; Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; Thomas F. Schneider: Zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktion. Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918, Eine Ausstellung des Museums für Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“, 17.5.–23.8.1998, Katalog, Bramsche 1998, S. 142–153; Uwe Schneider (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000; Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und
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der großen Anzahl an Memoiren, Anthologien, Chroniken, Bildbänden, Regiments- und Schlachtengeschichten wurden zahlreiche Feldpostbriefsammlungen, Tagebücher und Erlebnisberichte publiziert, in denen der Leserschaft das Kriegserlebnis vorgeblich hautnah vermittelt wurde. Thomas F. Schneider hat in akribischer Kleinarbeit unlängst einen Korpus an Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg für die Jahre 1914 bis 1939 erfasst und 7973 Werke ermittelt.83 Dabei wurden allein jene Texte berücksichtigt, „die sich thematisch primär mit der Kriegserfahrung des Individuums oder Gruppen von Individuen an der Front, in der Etappe oder in der ‚Heimat‘ beschäftigen.“84 Für die Jahre 1914 bis 1918 handelt es sich immerhin um 3585 Bücher.85 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen insbesondere die tagebuchähnlichen Kriegsberichte der Fliegertruppe, obwohl das zu analysierende Korpus auch Fliegerberichte enthält, die Kriegsanthologien und -geschichten entnommen wurden.86 Diesen unterschiedlichen Textgattungen war, außer dem Thema (Luft-)Krieg, eines gemeinsam, nämlich das erhobene Wahrheitspostulat. Und es war eben dieses Wahrheitspostulat, welches die Vermischung fiktionaler und nichtfiktionaler Interpretamente beschleunigte. Zwischen Tagebuch und Journalismus sowie zwischen Literatur und Propaganda balancierend wurde in Buchform über den Krieg berichtet.87 Diese Bücher zeichneten sich durch die beanspruchte Authentizität, Ereignisnähe und Augenzeugenschaft aus und hoben sich auch dadurch von den Texten und Stilen der Vorkriegszeit ab. Die Berichterstatter waren von einem histori(sti)schen Bewusstsein geprägt. Sie wollten Zeugnis ablegen von einer „großen Zeit“ und der Nachwelt bedeutsame Quellen hinterlassen. Ziel war es „den erlebten Krieg“ zu beobachten und ihn „naturalistisch“ zu beschreiben. Von dieser Haltung zeugt beispielsweise Georg Wegeners Vorwort zu Der Wall von Eisen und Feuer:
Medien seit 1914, Darmstadt 2003, insbes. S. 15–34; Jörg Friedrich Vollmer: Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung, http://www.diss.fuberlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000001060, eingesehen am 6.8.2008. 83 Einen Überblick über den kaum überschaubaren Korpus an deutscher Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg für den Zeitraum 1914 bis 1939 bietet seit Kurzem: Thomas F. Schneider/Julia Heinemann/Frank Hischer/Johanna Kuhlmann/Peter Puls: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch, Göttingen 2008. 84 Ebd., S. 8. 85 Ebd., S. 9. 86 Um ein vollständigeres Bild der verwendeten Topoi zu erhalten, wurden zudem publizierte Feldpostbriefsammlungen und Romane berücksichtigt, sofern sie auch Briefe von Fliegern enthielten beziehungsweise vom Luftkrieg erzählten. 87 Für einen Überblick über die Kriegsberichterstattung im Allgemeinen siehe: Ute Daniel (Hrsg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006 sowie Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005.
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„‚Ich soll hinausgehen zum Kriegsschauplatz, einer der wenigen Begnadeten, denen außer den Kämpfern selbst dies gestattet ist, und soll von den Geschehnissen berichten. Wie soll ich das anfassen? Wie soll ich dem Ungeheuren gerecht werden? Ich denke, ich bin am wahrhaftigsten, wenn ich einfach erzähle, was gerade ich sah und erlebte und empfand.‘ Diese Worte schrieb ich, als ich im August vorigen Jahres als Kriegsberichterstatter der ‚Kölnischen Zeitung‘ ins Feld ging. […] Ein Kriegsbuch mitten im Kriege kann noch keine umfassende, kühl abwägende Darstellung nach historischen Urkunden, es kann nur selbst eine Urkunde sein. So ist denn das Nachfolgende eine schlichte Wiedergabe dessen, was ich als Berichterstatter auf dem westlichen Kriegsschauplatz sah.“88
Da man das Erlebte „einfach erzähle[n]“ wollte, verloren auch die literarischen Maßstäbe der Vorkriegszeit zunehmend an Gültigkeit. Die Forderung nach „künstlerischer Qualität“ wurde vom Verlangen nach Authentizität verdrängt.89 Hierauf gingen die Verlage bereitwillig ein, denn das Risiko war gering. Waren die Autoren auch literarische Dilettanten, durch die Heeresberichte und die Presse waren ihre Namen und „Ruhmestaten“ bereits bekannt, und die Leserschaft wünschte mehr von ihnen zu erfahren. Insbesondere der Ullstein, aber auch der Scherl Verlag vermochten es, rasch auf die aktuellen Ereignisse an den Fronten mit der Publikation eines entsprechenden Buches zu reagieren, in welchem Akteure oder „Augenzeugen“ vom Geschehen berichteten. So bekam das informationshungrige Lesepublikum beispielsweise bereits wenige Wochen nach der Seeschlacht am Skagerrak oder der Proklamation des uneingeschränkten U-Bootkrieges einen ausführlicheren Augenzeugenbericht zu lesen, als ihn die Zeitungen, Illustrierten und offiziellen Lageberichte zu geben vermochten.90 Die Bücher zielten auf eine realistische Beobachtung und Abbildung der Wirklichkeit. Dabei wurde eine allgemeine Entwicklung in der deutschen Literatur um 1900 weitergeführt, die man als Journalisierung oder als das „Zeitalter der Zeugenschaft“ bezeichnen könnte.91 Diese Entwicklung mündete in der neusachlichen Reportage der 1920er Jahre, die wie die Kriegsbücher von einem, so der Publizist Siegfried Kracauer, „Hunger nach Unmittelbarkeit“ getragen wurde.92 Kracauer stellte zudem 1929 fest: „Seit mehreren Jahren genießt in Deutschland die Reportage die Meistbegüngstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf.“ 88 Georg Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer. Ein Jahr an der Westfront, Leipzig 1915, o.S. 89 Vgl. Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 13f. 90 Vgl. hierzu Schneider: Zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktion, S. 146f. 91 Zur Journalisierung der deutschen Literatur zwischen 1871 und 1914 siehe: Fries: Die große Katharsis, Bd. 1, S. 4–9. Zum Begriff des Zeitalters der Zeugenschaft siehe Ingold: Literatur und Aviatik, S. 232. Dort heißt es: „Das vom Ersten Weltkrieg eröffnete ‚Zeitalter der Zeugenschaft‘ hat […] zur Förderung subliterarischer Genres (Tagebücher, Korrespondenzen, Reportagen, Erinnerungen) beigetragen […].“ 92 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt/M. 1971 [Or. 1929], S. 15. Dort (S. 15f.) auch die folgenden Zitate.
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Aus der Begeisterung für die vermeintlich genuine „Reproduktion des Beobachteten“ speiste sich auch der Erfolg der Kriegsbücher. Daher kann vermutet werden, dass nur wenige von Kracauers Zeitgenossen seine kritische Haltung zu deren Wirklichkeitsgehalt teilten: „Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. […] Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiss muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.“
Dass der Anspruch, „die“ Wirklichkeit „abzubilden“, aus konstruktivistischer Sicht ebenso illusorisch erscheint wie die Erwartung eines Großteils der Leserschaft, in den Kriegsbüchern „die Wahrheit“ über den Krieg zu erfahren, darf keineswegs zu dem Anachronismus führen, diesen Anspruch und diese Erwartung nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil, wie im Folgenden gezeigt wird, waren es gerade die Wirklichkeits- und Wahrheitspostulate, die diese Bücher charakterisierten. Die unterschiedlichen Haltungen, die Leser zu Büchern und ihrem Inhalt einnehmen, wird ebenfalls von Cervantes’ Roman Don Quijote beleuchtet, mit dem dieses Kapitel begann: „‚Bedenket, guter Freund‘, hub der Pfarrer wieder an, ‚dass es auf der Welt weder einen Felixmarte von Hyrkanien gegeben hat noch einen Don Cirongilio von Thrazien noch andre Ritter der Art, von denen die Ritterbücher erzählen. Denn all dieses ist Dichtung und Erfindung müßiger Geister […] Ich schwör Euch in allem Ernste, nie hat es auf der Welt dergleichen Ritter gegeben, nie sind auf der Welt dergleichen Heldentaten und Ungereimtheiten vorgekommen.‘“ Darauf entgegnet der Wirt: „‚Da wollen mir Euer Gnaden weismachen, was diese herrlichen Bücher enthalten, sei Unsinn und Lüge, da doch alles, mit Erlaubnis der Herren vom Königlichen Rate gedruckt ist. Als ob das die Leute dazu wären, so viel Lug und Trug allzusammen drucken zu lassen und so viel Schlachten und so viel Verzauberungen, dass es einem schier den Verstand nimmt.‘“93
Begegnet man dem analysierten Korpus sogleich mit der distanzierten und ungläubigen Haltung des Pfarrers aus dem Don Quijote und spürt in ihnen nur „Unsinn und Lüge“ auf, wird man der massenhaften Produktion dieser Lesestoffe und ihrem Erfolg nicht gerecht. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, weshalb sich „der Schankwirt“ weder vorstellen kann, dass „mit Erlaubnis der Herren vom Königlichen Rate“ Unsinn gedruckt werde, noch dass die „herrlichen Bücher“ Lügen enthalten könnten. Die Glaubwürdigkeit dieser Bücher beruhte zum einen auf der Autorität des gedruckten Wortes an sich. Bereits die Materialität eines Buches verleiht dem Inhalt eine gewisse Überzeugungskraft. Zum anderen aber wurde die offiziöse und testimoniale, das heißt, von Autoritäten oder von der Augenzeugenschaft ausgehende Aura, welche diese populären Kriegsbücher ausstrahl93
Cervantes, Don Quijote, Buch I, Kapitel 32.
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ten, zusätzlich verstärkt. Das ausdrückliche Wahrheitspostulat, das die Bücher erhoben, wurde durch die Betonung der Augenzeugenschaft des Autors und des militärischen Kontexts des Buches untermauert. Das Erleben des Autors und meist auch sein militärischer Rang bürgten für die Authentizität der Berichte. Sie waren eine Quelle ihrer Überzeugungskraft und Garanten der Wahrheit des Ausgesagten. Diese Aura der Bücher wie auch deren institutionelle Verstärkung wird nun mit Hilfe der von Roger Chartier insbesondere aber von Gérard Genette empfangenen Anregungen aufgezeigt.94 Die Schilderung des von den Büchern selbst ausgehenden Rezeptionsrahmens dient ihrer weiteren Kontextualisierung. Das vom französischen Strukturalisten Genette in den 1980er Jahren entwickelte Konzept der Paratexte erlaubt es, den Rahmen der Rezeption der Bücher zu umreißen.95 Genette stellte fest, dass sich ein Text „selten nackt, ohne Begleitschutz“ präsentiert.96 Das „Beiwerk“ des Textes mache diesen erst präsent und lenke seinen Konsum und seine Rezeption. In den Worten Philippe Lejeunes, der ein ähnliches Konzept im Sinn hatte, handelt es sich dabei um „Anhängsel des gedruckten Textes, die in Wirklichkeit jede Lektüre steuern.“97 Da sich meistens auch der Leser den Kriegsbüchern über diese „Anhängsel“ näherte, scheint es sinnvoll, das Korpus mittels dieser vorzustellen. Zunächst wird die Steuerung seiner Lektüre mittels der „Anhängsel“, die Genette Paratexte nennt, verdeutlicht, im Anschluss wird die Textproduktion thematisiert. Genette unterteilt die Paratexte in Peritexte und in Epitexte. Peritexte sind all jene Paratexte, die sich „im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes“ befinden.98 Ein Epitext ist hingegen „jedes paratextuelle Element, das nicht materiell in ein und demselben Band als Anhang zum Text steht, sondern gewissermaßen im freien Raum zirkuliert“. Zu den Epitexten zählt Genette unter anderem Besprechungen in der Presse oder Interviews des 94
Siehe u.a.: Roger Chartier: Die geschriebene Botschaft und ihre Rezeptionen. Vom Codex zum Bildschirm, in: Neue Rundschau 106/1995, S. 117–131; ders.: Laborers and Voyagers: From the Text to the Reader, in: diacritics 22/1992, S. 49–61; ders.: Texts, Prints, Readings, in: Lynn Hunt (Hrsg.): The New Cultural History, Berkeley, CA 1989, S. 154–175. 95 Genette: Paratexte. Siehe auch ders.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993. Genette erläuterte hier (S. 11) erstmals den Begriff des Paratextes folgendermaßen: „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet.“ 96 Genette: Paratexte, S. 9. 97 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994, zit. nach Genette: Paratexte, S. 10. 98 Genette: Paratexte, S. 12. Dort (S. 328 u. S. 117f.) auch die folgenden Zitate.
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Autors. Zentral ist, dass, laut Genette, die Rezeption des Textes von der „illokutorischen Wirkung“ und dem „funktionalen Charakter“ dieser Paratexte beeinflusst wird. Wie im Folgenden anhand einzelner und in unterschiedlichsten Kriegsbüchern verstreuter Paratexte gezeigt wird, bestand die „illokutorische Wirkung“ der Paratexte gerade darin, ein Wahrheitspostulat zu erheben und den Authentizitätsanspruch der Bücher zu untermauern. Die Paratexte signalisierten zum einen, hier ist der Krieg, wie er wirklich war, zum anderen aber kündigten sie Abenteuer, Heldentum und Unterhaltung an. Der Leser begegnete den Kriegsbüchern beispielsweise durch Auszüge aus dem Buch, Berichte über den Autor in einer Illustrierten oder durch Anzeigen. Diese stellen paradigmatische verlegerische Epitexte dar, Texte also, die vom Verlag außerhalb des Buches selbst platziert wurden. Sie positionierten das Buch und sollten mögliche Leser ansprechen, deren erster Eindruck von eben diesem Paratext geprägt wurde. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Verleger Treves durch die zahlreichen in der Illustrazione Italiana veröffentlichten Berichte über D’Annunzios Abenteuer Werbung für die im selben Verlag erscheinenden literarischen Werke des Dichters machte. Die illustrierten Artikel über D’Annunzios kriegerische Agitation lenkten also die Wahrnehmung von Per la più grande Italia, das bei Treves erschien. Der Ullstein Verlag verfuhr auf ähnliche Weise. Neben der äußerst erfolgreichen Ullstein-Kriegsbücher-Reihe erschien auch die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ) bei Ullstein. Selbstverständlich nutzte auch der Berliner Verlag die Gelegenheit, seine anderweitigen Publikationen zu propagieren. So wurde in der BIZ vom 18. März 1917 ein photographisch bereicherter Auszug aus einem der Kapitel des Buches Die Abenteuer des Ostseefliegers von Leutnant zur See Erich Killinger abgedruckt. Der Auszug wurde von einer Zusammenfassung eingeleitet: „Leutnant z. See Killinger wurde mit Oberleutnant z. See von Gorissen auf einem Fluge abgeschossen. Die beiden Flieger fielen in die Ostsee und wurden von den Russen gefangen. Man behandelte sie barbarisch, brachte sie zuerst in unterirdische Verließe der berüchtigten Peter-Pauls-Festung und dann nach Sibirien. Unterwegs sprang Leutnant Killinger aus dem fahrenden Zug, gelangte unter unsäglicher Mühe nach China von hier nach Japan, machte eine Hetzjagd durch Amerika und wagte schließlich als Vollmatrose die Fahrt über England nach Norwegen. Leutnant Killinger hat, gleich dem Kapitänleutnant Plüschow, die Schilderung seiner äußerst spannenden Abenteuer in einem soeben erschienenen Buche (Preis 1 M., Verlag Ullstein & Co.) niedergelegt. Wir geben hier den Teil des Kapitels ‚Britische Menschenjagd auf hoher See‘ wieder.“99
Die illustrierte Kostprobe handelte davon, „wie Leutnant Killinger als Vollmatrose Jean Pâhu auf einem norwegischen Dampfer fuhr und die englische Untersuchungskommission täuschte.“ Der Epitext in der BIZ kündigte de facto eine „Räuber und Gendarm“- beziehungsweise „Spionage“-Geschichte an. Die Tatsache, dass es sich hier um einen deutschen Offizier und Marine99
Erich Killinger: Die Abenteuer des Ostseefliegers, in: Berliner Illustrirte Zeitung Nr. 11 vom 18.3.1917 (Jg. 26), S. 149–151, S. 149. Dort auch das folgende Zitat.
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piloten handelte, verlieh dem weltumspannenden Abenteuer, das vom Himmel über der Ostsee bis in tiefe russische Kerker und nach China, in die USA und wieder zurück reichte, jedoch ein großes Maß an Seriosität. Scheinen sich Killingers Abenteuer auch hart an der Grenze zur Trivial- oder Schundliteratur zu bewegen, sein militärischer Rang und die Aufnahme des Buches in die Ullstein-Kriegsbücher-Reihe garantierten dessen Würde und Historizität. Indes lebten Killingers Abenteuer weniger von seinen heroischen Taten als Fliegeroffizier, diese endeten nämlich bereits nach wenigen Seiten mit seiner Gefangennahme, als von der Exotik seiner Erlebnisse. Durch den Verweis auf Kapitänleutnant Plüschow wurde nochmals betont, dass es sich um eine Fliegergeschichte aus fernen und fremden Ländern handelte. Im vorangegangenen Jahr waren bereits dessen Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Meine Erlebnisse in drei Erdteilen als Nr. 23 der Ullstein-KriegsbücherReihe erschienen. Und die BIZ hatte auch von den Abenteuern Plüschows, die in der deutschen Kolonie Kiautschou ihren Anfang nahmen, Auszüge abgedruckt.100 Plüschows Bestseller aus dem Reich der Mitte erreichte bis Kriegsende eine Auflage von 500 000 und bis 1939 sogar eine Auflage von insgesamt 700 000.101 An dessen Erfolg sollte Killingers Erlebnisbericht anschließen, was auch tatsächlich geschah, denn bis 1939 erlebten Die Abenteuer des Ostseefliegers eine Auflage von 420 000.102 Doch der Erfolg der Kriegsbücher lag bei weitem nicht allein in derlei Exotik begründet. Was bei Plüschow und Killinger tatsächlich eher am Rande eine Rolle spielte, stand beim Großteil der anderen Bücher im Mittelpunkt, das Soldatische und der Krieg einerseits und das Faszinosum Technik andererseits. Dies schloss Exotik, wie folgende Ankündigung für Leutnant Hans Henkelburgs Als Kampfflieger am Suez-Kanal des August Scherl Verlags zeigt, keineswegs aus: „Das Buch zeigt unsere deutschen Flieger in der fremdartigen Welt des Orients. Man versteht die Aufregung, die das erste deutsche Flugzeug in Jerusalem hervorrufen musste, und man versteht auch die Empfindungen des Fliegers, der im modernsten aller Beförderungsmittel über den altehrwürdigen Stätten Palästinas schwebt. Hart auf hart geht es im 100
Gunther Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Meine Erlebnisse in drei Erdteilen, in: BIZ Nr. 50 vom 10.12.1916, Jg. 25, S. 757–760. Dort (S. 757) heißt es: „Kapitänleutnant Plüschow war der einzige Flieger in Tsingtau. Er flog vor dem Fall der Feste mit wichtigen Dokumenten nach China. Von China fuhr er als ‚amerikanischer Millionär‘ über Japan nach Amerika, und von Amerika als ‚Schweizer Schlossergeselle‘ nach Europa. In Gibraltar wurde er nach schlecht bestandener Prüfung im ‚Schwyzer Dütsch‘ von den Engländern gefangen und nach England transportiert. Er entwich dort aus dem Konzentrationslager und entkam endlich auf wunderbare Weise nach Deutschland. Mit atemloser Spannung liest man die Schilderung seiner Erlebnisse, die soeben in Buchform (Preis 1 M., Verlag Ullstein & Co.) erschienen ist. Wir geben hier Teile des Kapitels ‚Die Flucht aus der englischen Gefangenschaft‘ wieder.“ 101 Siehe Schneider: Zur deutschen Kriegsliteratur, S. 106 sowie ders. u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 10. 102 Schneider u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 11.
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Kampf gegen die Engländer, und die deutschen Flieger haben manch schweren Strauß mit dem auch in der Luft zähen und tüchtigen Gegner auszufechten. Die Schilderungen dieser Kampfflüge erregen in ihrer packenden und lebendigen Darstellung umsomehr unser Interesse, als die Arbeit im Wüstensand und Sonnenglut, fern von allen Hilfsmitteln der Kultur, ganz ungeheuere Schwierigkeiten mit sich bringt und an die Anpassungsfähigkeit der Flieger unerhörte Anforderungen stellt.“103
Der technologische Aspekt selbst spielte jedoch eine Nebenrolle. Von den „modern wonders“ der Technik scheint eine gewissermaßen „fetischistische“ Anziehungskraft ausgegangen zu sein, und das heißt, dass es gar nicht das Technische an der Technik war, das die Leserschaft interessierte.104 Zu den erfolgreichsten Büchern zählten jedenfalls nebst den Fliegerbüchern stets auch solche, die von Kriegsschiffen oder U-Booten handelten.105 Der C.F. Amelangs Verlag aus Leipzig platzierte auf den letzten Seiten von Adolf Viktor von Koerbers Luftkreuzer im Kampf eine Anzeige für ein weiteres Buch desselben Autors. Die Anzeige bestand im Wesentlichen aus Auszügen aus den Besprechungen des Buches in diversen Zeitungen. Der Epitext für die zweite Auflage von Feldflieger an der Front lautete: „Adolf Victor v. Koerber, der unter dem Namen Dolf v. Korb auch als Bühnenschriftsteller bekannt geworden ist, schildert in seinem vortrefflichen Büchlein, das den Titel der ersten Skizze trägt, das Soldatenleben des Fliegers mit einer Feinheit und Kernwirkung, wie es nur der zu bieten vermag, der selbst mit Leib und Seele dabei ist. K. Langenbach in der Tägl. Rundschau, Berlin. Wer sich einen Begriff davon machen will, was ‚fliegen‘ heißt, was der Feldflieger für herrliche Taten draußen vollbringt, dem sei das Werk wärmstens empfohlen. Der Laie wird in dem Buche in einer ebenso gründlichen wie fesselnden Weise aufgeklärt, und der Fachmann wird mit Genugtuung feststellen, daß es ein ‚Kollege‘ ist, der diese reizvollen Bilder von Feldfliegern entrollte, und wird vieles lernen können oder seine eigene Erfahrung bestätigt finden. A.V.v. Koerber – selbst mit dem Eisernen Kreuz geschmückt – hat denen da draußen, die jede Minute, jede Stunde, Tag und Nacht ihr Leben in die Schanze schlagen, ein bleibendes Denkmal gesetzt, wie es schöner nicht sein könnte. Dr. Dietrich Helfenberg im Dresdner Anzeiger […] Das Büchlein ist so famos, so frisch und packend geschrieben, daß man es gerne immer wieder zur Hand nehmen wird. Berliner Lokal-Anzeiger.“106
Hier findet sich eine andersgeartete Steuerung des Lesers wieder. Anstatt wie in den vorherigen Epitexten auf die Anziehungskraft des Fremden zu setzen, machte der Verlag auf die Nähe zu den Feldfliegern aufmerksam. Der Epitext umriss auch den möglichen Leserkreis; hinter der Andeutung, dass der Autor auch als Pseudonym verwendender Bühnenschriftsteller tätig und dabei dennoch „mit Leib und Seele“ beim Soldatenleben sei, lässt sich der Hinweis vermuten, dass das Buch durchaus literarischen Ansprüchen genüge, ohne jedoch ins Schöngeistige abzugleiten. Das Lob des Dietrich Helfenberg hingegen sprach den sachlich interessierten Leser an. Das Buch informiere den 103
Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 84, Nr. 71 vom 26.3.1917, S. 2141. Zu den „modern wonders“ siehe: Rieger: Technology and the Culture of Modernity. Vgl. die Tabelle bei Schneider u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 10ff. 106 Adolf-Victor von Koerber: Luftkreuzer im Kampf, Leipzig 1916, o.S. 104 105
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Laien „gründlich“ und selbst der „Fachmann“ werde sich auf „reizvolle“ Weise bestätigt finden. Der Auszug aus dem Berliner Lokal Anzeiger deutet wiederum auf das Preis-Leistungs-Verhältnis hin. Das Buch, das in der „leicht kartonierten“ Ausgabe zwei Mark und in der „in Leinen gebundenen“ Ausgabe drei Mark kostete, sei so „packend“, dass man es gleich mehrmals lese. Von Koerbers Buch war also erschwinglich und genügte sowohl sachlichen als auch „literarischen“ Ansprüchen. Vor allem aber klärte es auf „gründliche und fesselnde Weise“ über die Feldflieger auf. Ein Garant dafür war die Tatsache, dass der Autor selbst mit dem Eisernen Kreuz „geschmückt“ war. Es war nicht zuletzt diese militärische Legitimation, auf der das Erfolgsrezept der Verlage beruhte. Selbst wenn die Autoren literarische Dilettanten gewesen sein mögen, was bei dem „Bühnenschriftsteller“ Adolf Viktor von Koerber bestritten wurde, so waren sie doch immerhin hochdekorierte Offiziere, die unmittelbar von der Front berichteten. Wie anhand der in den Büchern selbst vorkommenden Peritexte gezeigt wird, ist es die Spannung zwischen Seriosität und Trivialität, zwischen militärisch-offiziösem Bericht und populärkulturellem Produkt, welche die Kriegsbücher prägt und welcher sie ihren Erfolg verdankten. Sie befriedigten die Abenteuergelüste und das Unterhaltungsbedürfnis der Leser ebenso wie sie ihren Informationshunger stillten und ihnen eine Teilhabe am Krieg ermöglichten. Der Nachfrage nach „Sensationen“ und militärischen „Sternchen“ entsprach das Angebot der Verlage ebenso wie der Nachfrage nach seriösen Vorbildern, soldatischen Ikonen und nationalem Geltungsbedürfnis. Nationalistisch und soldatisch aufgeladenes Heldentum und „Schund“ schlossen sich keineswegs aus. Vielmehr scheint es, als könne man von einer Aktualisierung und „Modernisierung“ des Nationalismus im Laufe des Ersten Weltkrieges sprechen, der sich auch über innovative populärkulturelle Kanäle verbreitete. Eine pauschale Kategorisierung dieser Bücher als „Propagandaerzeugnisse“ wäre demnach irreleitend, denn für die traditionellen Eliten in Staat und Militär war Propaganda zu sehr mit dem Ruch des Amerikanischen und Demokratischen behaftet, als dass sie sich dafür hätten erwärmen können. Man bedurfte nicht der Zustimmung des Volkes. Selbst nach den von der 3. Obersten Heeresleitung unternommenen Anstrengungen, die von der Einsicht geleitet wurden, Propaganda sei ein wichtiges Instrument, um die Loyalität der Massen zu sichern und diese zu disziplinieren, waren die „amtliche Kommunikationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit“ und die „staatliche Meinungslenkung“ noch weit davon entfernt, einem Propagandaapparat im Stile von Goebbels’ Ministerium für Volksaufklärung zu gleichen.107 Wie jedoch noch 107
Zur deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg siehe: Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918, Göttingen 2003; Ulrike Oppelt: Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2002, insbes. S. 99–118; Anne
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deutlich werden wird, nahm beispielsweise die Presseabteilung der Luftstreitkräfte durchaus erheblichen Einfluss auf einige Publikationen. Die Bücher wurden auch allesamt zensiert. Doch die Kategorisierung als Propaganda lenkt von der spontanen und autonomen Entstehung dieser Kriegsbücher ab. Die Kriegsbücher waren nicht das Produkt einer von oben oktroyierten Informationspolitik, sondern entstanden aus einem grass roots nationalism heraus, den sie ebenso aktualisierten wie den vorherrschenden militaristischen Diskurs, der nun durch den Krieg radikalisiert wurde.108 Es handelte sich, um es nochmals zu betonen, um die Erzeugnisse eines auf den Konsum ausgerichteten Verlagswesens einerseits und patriotischer Dilettanten-Schriftsteller, Kriegsbeobachter und Soldaten andererseits. Die Verbindungen zu militärischen Institutionen und Würdenträgern wurden indes herausgestrichen, erhöhten diese Bande doch den offiziösen Charakter der Bücher und untermauerten ihren Authentizitätsanspruch. Die institutionelle Verstärkung des Wahrheitspostulats, die weit über die Nennung des militärischen Ranges des Autors hinausging, findet sich ebenfalls in den Peritexten. So heißt es beispielsweise in der Widmung von Oberleutnant Heydemarcks Doppeldecker „C 666“: „Meinem alten Abteilungsführer Herrn Hauptmann Mohr gehorsamst gewidmet.“109 Das Buch Der Luftkrieg 1914 – 1915. Unter Verwendung von Feldpostbriefen und Berichten von Augenzeugen, das im Leipziger Verlag Hesse & Becker 1915 erschien, war nicht nur „dargestellt von einem Flugtechniker“, sondern „mit Genehmigung des Königlich Preußischen Kriegsministeriums und des Kaiserlichen Reichsmarineamts“ gedruckt worden.110 Für das 1917 erschienene Jahrbuch des Luftfahrerdank e.V. Unsere Luftwaffe zeichnete der Hauptmann a.D. Funk als Schriftleiter verantwortlich. Der letzten Seite des Buches war zu entnehmen, dass es die Aufgabe des Vereins sei, „verunglückte Flieger und Luftschiffer sowie deren Hinterbliebene“ zu unterstützen, und zwar „ergänzend zur staatlichen Fürsorge“. Das Buch machte auf die Bedeutung dieser Aufgabe aufmerksam und diente wohl, so Schmidt: Belehrung – Propaganda – Vertrauensarbeit. Zum Wandel amtlicher Kommunikationspolitik in Deutschland 1914–1918, Essen 2006; David Welch: Germany, Propaganda and Total War, 1914–1918. The Sins of Omission, New Brunswick, NJ 2000. 108 Für einen Überblick zum Militarismus siehe: Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914, München 1990; Wolfram Wette (Hrsg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871–1945, Berlin 2005. Zur Radikalisierung des Nationalismus im wilhelminischen Kaiserreich siehe: Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007. Zur Entwicklung des Nationalismus während des Ersten Weltkrieges siehe u.a.: Sven Oliver Müller: Die umkämpfte Nation. Legitimationsprobleme im kriegführenden Kaiserreich, in: Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller (Hrsg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, München 2002, S. 149– 172. 109 Georg Heydemarck: Doppeldecker „C 666“. Als Flieger im Westen, Berlin 1916, o. S. 110 Anonymus: Der Luftkrieg 1914–1915. Unter Verwendung von Feldpostbriefen und Berichten von Augenzeugen dargestellt von einem Flugtechniker, Leipzig 1915, o.S.
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legt es der Peritext nahe, als Spendenaufruf und möglicherweise als Beitrag zu „dieser großen nationalen Aufgabe des Luftfahrerdank […]. Darum sei es die Pflicht eines jeden Deutschen, hier helfend einzugreifen und mitzuwirken, daß doch ein Teil jener ungeheuren Dankespflicht abgetragen wird, die wir schuldig sind unseren Fliegern und Luftschiffern, die im Krieg aus Wolkenhöhen heldenhaften Mutes schirmende Wacht halten über uns und unser geliebtes Vaterland“.111
Dieser Paratext umgab das auf Unterhaltung ausgerichtete, mit zahlreichen Illustrationen und Photographien versehene Buch mit einer offiziösen und gewichtigen Aura und ergänzte die bereits im Vorwort erläuterten hehren Absichten desselben: „Wenn heute zahlreiche Bestrebungen darauf abzielen, unsere heranwachsende Jugend für spätere Zeiten waffentüchtig zu machen und zu erhalten, so wird auch der Inhalt dieses Buches dazu beitragen; denn woran könnte die Jugend sich mehr aufrichten zur Stählung für den fernen Lebenskampf“.112 Die Bücher lieferten der Jugend Vorbilder, denen sie nacheifern sollte. Dies legen auch die Mottos der beiden Bände von Heldentum im Weltkriege. Berichte von Heldentaten nahe, die gleich den weiteren hier erwähnten Peritexten gewissermaßen als Gebrauchsanweisung für die Kriegsbücher dienten. Dr. Johann Nieden, der die Berichte zusammenstellte, gab seinen Lesern ein Schiller-Zitat „zum Geleit“: „‚Ein großes Muster weckt Nacheiferung / Und gibt dem Urteil höhere Gesetze.‘“113 Ob nun aus dem Wallenstein oder aus dem antiken Zitatenschatz schöpfend, für Nieden und die anderen Autoren war klar, aus welchem Interesse und zu welchem Behufe ihre Bücher gelesen werden sollten: „Worte belehren, Beispiele aber reißen hin.“ Die Helden dienten der Jugend als Exempel, das ihr zukünftiges Handeln bestimmen sollte. Dies bestätigt auch das Vorwort zu Vom Jäger zum Flieger. Tagebuchblätter und Briefe von Leutnant Schäfer des August Scherl Verlages: „Mögen diese Blätter das Andenken an den so früh Gefallenen im Herzen des deutschen Volkes erhalten und unsere heranwachsende Jugend anspornen, es ihm gleichzutun.“114 Wie im Falle Carl Emil Schäfers zeichnete häufig der Vater oder ein enger Vertrauter für die Vorworte zu den Aufzeichnungen gefallener Fliegerhelden verantwortlich. Es gehörte offensichtlich zum guten Ton hervorzuheben, dass der Held nur widerwillig seine Erlebnisse geschildert habe. Zugleich wies man jedoch auf die Authentizität des publizierten Materials hin: 111 (ohne Vornamen) Funk: Unsere Luftwaffe. Jahrbuch des Luftfahrerdank e.V. 1917, Leipzig o.J., o.S. 112 Funk: Unsere Luftwaffe, o.S. 113 Johann Nieden: Heldentum im Weltkriege 1914. Berichte von Heldentaten, Straßburg i. E. 1914, o.S. Ebd. auch das folgende Zitat. 114 Emil Schäfer: Vom Jäger zum Flieger. Tagebuchblätter und Briefe, Berlin 1918, S. 7f. Dort (S. 7) auch das folgende Zitat.
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„Wiederholt hatte ich meinen Sohn, wenn er auf Urlaub weilte und von seinen Erlebnissen im Felde und seinen Luftkämpfen erzählte, aufgefordert, seine Berichte schriftlich niederzulegen. Die Antwort, die ich stets erhielt, war: ‚Ich habe im Kriege keine Zeit, Bücher zu schreiben.‘ Als ich nach dem Tode meines Sohnes seinen Nachlass ordnete, bemerkte ich, daß meine Worte doch haften geblieben waren. Ich fand Aufzeichnungen, aus denen ich ersah, daß er sich mit dem Gedanken getragen hatte, seine Erlebnisse zu sammeln und später, vielleicht erst nach dem Kriege, zu veröffentlichen. Ich habe nun seine Briefe und Tagebuchblätter lose, nur in zeitlicher Folge aneinandergereiht.“
Der August Scherl Verlag machte im Vorwort zu Max Immelmanns Meine Kampfflüge. Selbsterlebt und selbsterzählt darauf aufmerksam, dass es sich bei der Veröffentlichung der „Briefe […], die Oberleutnant Max Immelmann während des Krieges an seine Mutter gerichtet hat“, um die Erfüllung „eine[s] der letzten Wünsche des unvergeßlichen Fliegeroffiziers“ handele. Und es wurde ein Brief Immelmanns zitiert, in dem dieser der Schilderung seiner „Flieger-Erlebnisse“ letztlich doch zustimmte, da dasjenige, „was man den Lesern durchschnittlich als ‚Luftkämpfe und Fliegerbriefe‘ vorsetzte, […] vielfach unverantwortlich“ war und nicht „aufklärend“ wirkte.115 Das Angebot auf dem Büchermarkt war groß, und so galt es, durch die Betonung der Authentizität das eigene Buch gegenüber den vielen anderen herauszuheben. Ob der zeitgenössische Leser an der Echtheit von derlei Beteuerungen und „Belegen“ zweifelte, bleibt im Unklaren. Die Authentizität der Erlebnisberichte und des Erlebten wurde jedenfalls fast zwanghaft bekräftigt. Dies geschah nicht nur in den Peritexten, sondern auch in den Texten selbst beispielsweise durch den Abdruck von Photographien. Besonders beliebt waren Bilder abgeschossener Feindflugzeuge. Die Bildunterschriften lauteten dementsprechend „das von Immelmann abgeschossene fünfzehnte Flugzeug“,116 in den Schilderungen Ernst Udets hieß es etwas persönlicher, „mein dritter Sieg“,117 in jenen Manfred von Richthofens hingegen nüchterner „der Dreißigste!“ oder „der Vierzigste!“.118 Ein weiterer Faktor steigerte die Glaubwürdigkeit der Bücher und machte aus dem Leser einen geschmeichelten Mitwisser. Die Namen der Kombattanten und Vorgesetzten wurden abgekürzt und die Ortsangaben zuweilen verschleiert. Hierdurch gewann der Leser den Eindruck, ihm würde ein Einblick in militärische Geheimnisse gewährt, allerdings nur in einem solchen Maße, welches beteiligten Personen und militärischen Stellen noch den notwendigen Schutz gewährte, sollte das Buch sozusagen „in feindliche Hände fallen“. Wurde einerseits alles unternommen, um den Büchern die Aura des Authentischen und Offiziellen zu geben, vermieden es die Verlage andererseits, den Eindruck zu erwecken, hier würde auf trockene Weise belehrt oder unterrichtet. Vielmehr handelte es sich um spannende Abenteuer und lebendige 115
Max Immelmann: Meine Kampfflüge. Selbsterlebt und selbsterzählt, Berlin 1916, S. 5f. Ebd., S. 112. Ernst Friedrich Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde. Jagdflüge des Leutnants Ernst Udet, Berlin 1918, S. 128. 118 Manfred Freiherr von Richthofen: Der rote Kampfflieger, Berlin 1917, S. 96f. 116 117
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Abb. 6 Einbandillustrationen von Kriegsbüchern der Verlage Ullstein und Scherl.
Kriegsgeschichte. Hiervon zeugt auch das Format der Bücher, das Genette auch zu den das Publikum steuernden, verlegerischen Peritexten zählt. Das Format und auch die übrige äußere Erscheinungsform eines Buches lenken selbstverständlich dessen Rezeption. Zahlreiche Kriegsbücher und gerade die Ullstein-Kriegsbücher-Reihe erschienen im kleinen Oktav-Format, also mit einem circa 16 cm hohen Buchrücken. Es handelte sich um Taschenbücher. Doch zusätzlich zum Format deuteten vor allem die Einbände der Bücher wenn nicht auf Schundliteratur und Kolportageromane hin so doch auf das amerikanische Phänomen der pulp fiction. Die Einbände oder Umschläge zahlreicher Kriegsbücher waren bunt, reißerisch und plakativ. Die Illustrationen auf den Einbänden der Ullstein-Kriegsbücher wie auch auf jenen des Berliner August Scherl Verlags stachen hier eindeutig heraus. Ikonographisch scheinen sie, bereits in die Zukunft des Pop zu weisen. Insbesondere der Einband von Plüschows Abenteuer des Fliegers von Tsingtau zeugt nicht nur von einem menschenverachtenden, imperialistischen Überlegenheitsgefühl, sondern von der Ästhetik des Comics. Der Killinger-Einband
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verweist gleich der Illustration auf dem Plüschow-Buch auf die zu erwartende Exotik. Ansonsten sind es die Flugzeuge, welche das Interesse des Lesers wecken sollen. Und während Richthofens roter Doppeldecker nach erfolgreichem Abschuss des Gegners zu einem erneuten Aufstieg ansetzt, stürzen sich die übrigen Flugzeuge gleich dem Greifvogel, der auf Immelmanns Beinamen „der Adler von Lille“ verweist, in den Kampf. Die Einbände versprachen jedenfalls spannende Abenteuer, faszinierende Technik und deren tollkühne Beherrschung in heldenhaften Kämpfen, kurz, Unterhaltung. Den Ullstein-Kriegsbücher-Einbänden war auch der Preis aufgedruckt. Den Krieg gab es hier bereits zum Preis von einer Mark. Die Kriegsbücher des August Scherl Verlages kosteten „geheftet“ eine und „elegant gebunden“ zwei Mark. Der Krieg in der Luft aus der Reihe Deutsche Kriegsbücher für die Jugend vom Julius Beltz Verlag in Langensalza war sogar schon für 30 Pfennig erhältlich. Wer nun diese Bücher las, lässt sich nicht ermitteln. Es lässt sich jedoch vermuten, dass es hauptsächlich die männliche, bürgerliche Jugend war. Beim Preis von einer Mark wären die Kriegsbücher prinzipiell auch den „unterbürgerlichen Volksschichten“ zugänglich gewesen und zwar selbst dann, wenn diese sie hätten erwerben müssen.119 Es mag jedoch bezweifelt werden, dass städtische und ländliche Unterschichten angesichts von Teuerung, Mangel und Unterernährung das knappe Geld für Bücher ausgaben. Anzunehmen ist jedoch, dass auch das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft über Tauschund Lesebünde, Leihbibliotheken und Nebenerwerbs-Leihbibliotheken Zugang zu derlei Lesestoff erhielten.120 Wie im Folgenden gezeigt wird, zählten diese Kriegsbücher trotz ihrer Aufmachung und ihres Preises keineswegs zur sogenannten „Schundliteratur“, deren Gegner während des Krieges keineswegs ruhten.121 Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel wies zu Beginn des Jahres 1917 auf zwei Bücher hin, die sich dem Kampf gegen die „Kriegsschundliteratur“ widmeten. Gerade weil die Jugendlichen „vielfach der väterlichen Ge119
Als Vergleichsmaßstab sei der Brotpreis erwähnt: In Berlin betrug dieser im Jahr 1910 für Weizenbrot 54 Pfennig pro Kilogramm, für Roggenbrot mussten im Jahr 1913 30 Pfennig pro Kilogramm aufgebracht werden. Siehe: Ashok Valji Desai: Real Wages in Germany 1871–1913, Oxford 1968, S. 128f. Mit einem Preis von einer Mark waren die Kriegsbücher der Ullstein-Reihe auch relativ zu anderen Büchern besonders günstig. Gemäß der 1908 ermittelten Durchschnitts-Ladenpreise kosteten kunst- und musikwissenschaftliche Werke 9,22 Mark, Jugendschriften 1,48 Mark, religiöse Werke 2,06 Mark und literarische 2,22 Mark. Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 297. 120 Siehe Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 324. Dort heißt es: „Eine Vielzahl von Statistiken und zeitgenössischen Äußerungen läßt vermuten, daß überhaupt Lektüre ohne Buchbesitz relativ weit verbreitet war – sogar auf dem Lande.“ 121 Siehe: Kasper Maase: ‚Schundliteratur‘ und Jugendschutz im Ersten Weltkrieg – Eine Fallstudie zur Kommunikationskontrolle in Deutschland, in: kommunikation@gesellschaft 3/2002, http://www.uni-frankfurt.de/fb03/K.G/B3_2002_Maase.pdf, eingesehen am 7.8.2008; Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute, S. 78–104.
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walt“ entzogen seien, erweise sich in Kriegszeiten die „Frage der Schundund Schmutzliteratur“ als umso dringlicher.122 Was nun zur Schundliteratur zu zählen sei und was nicht, war allerdings weitgehend unklar. Der Autor des Buches Die Kriegsschundliteratur und ihre Bekämpfung, Wilhelm Tessendorf, schloss sich daher der vagen „Erklärung der Jugendschriftwarte von 1914 an, wo es heißt: ‚Allen Schundheften ist jeder literarische und künstlerische Wert abzusprechen. Sie erscheinen als Massenware, und ihre Verbreitung ist einzig Geschäft. Sie wollen nicht veredeln, sondern wenden sich an die niedrigsten Instinkte des Lesers.‘ Der letzte Satz müsste besonders unterstrichen werden, denn es gibt genug Erscheinungen des Büchermarktes, die, ohne literarischen und künstlerischen Wert zu besitzen, als Massenware und aus rein geschäftlichen Gründen vertrieben werden, gleichwohl aber nicht zum Schunde gerechnet werden dürfen. Man sieht auch hier wieder deutlich, wie schwer es ist, den Begriff ‚Schund‘ richtig und treffend zu umschreiben.“123
Der Großteil der zum Korpus gehörigen Kriegsbücher zählte jedenfalls keineswegs zur „Kriegsschundliteratur“. Hiervon zeugt unter anderem der Umgang mit ihnen durch die Königliche Universitätsbibliothek Tübingen. Diese legte ab 1914 eine umfangreiche Sammlung an Kriegsliteratur an. Unterstützt wurde sie dabei von dem aus einer Pfullinger Papierfabrikantenfamilie stammenden Privatier Louis Laiblin, der sich in seiner Heimatstadt und deren Umgebung als Mäzen hervortat.124 Am 20. Januar 1915 teilte der Tübinger Oberbibliothekar Dr. Carl Geiger dem Königlichen Rektoramt mit, „daß mir Herr Laiblin in Pfullingen als Ergänzung seiner Schenkung vom Juli v. Js., aus der ich mit seinem Einverständnis schon einen größeren Teil zur Anschaffung der Kriegsliteratur verwendet habe, weitere 500 M.- speziell zur Erwerbung der über den Krieg erscheinenden deutschen und ausländischen Literatur überwiesen hat.“125 Zwischen 1914 und 1919 sollte Laiblin der Universitätsbibliothek mehrmals eine Summe zwischen 500 und 2000 Mark zum Erwerb von Kriegsliteratur stiften. Fortan wurden die Innenseiten der Einbände der Kriegsbücher mit einem Ex libris beklebt, dem, nebst der Jahreszahl des Erwerbs, zu entnehmen war, dass es sich um „Kriegsliteratur aus der Schenkung Louis Laib122
Kurt Loele: Rezension zu Elisabeth Süersen, Die Stellung der Militär- und Zivilbehörden zur Schundliteratur, Berlin 1916 und Wilhelm Tessendorf, Die Kriegsschundliteratur und ihre Bekämpfung. Mit einem Verzeichnis empfehlenswerter Schriften, Halle 1916, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Jg. 84, Nr. 1 vom 2.1.1917, S. 3–4, S. 3. 123 Wilhelm Tessendorf: Die Kriegsschundliteratur und ihre Bekämpfung. Mit einem Verzeichnis empfehlenswerter Schriften, Halle 1916, S. 4. Siehe zudem: Anonymus: Rezension zu: Paul Samuleit: Kriegsschundliteratur. Vortrag, gehalten in der öffentlichen Versammlung der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schundliteratur zu Berlin am 25.3.1916, Berlin 1916, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 83, Nr. 156 vom 8.7.1916, S. 900. 124 Siehe Hermann Taigel: Louis Laiblin, Privatier. Ein schwäbischer Mäzen, Pfullingen 2005. Taigel hat ermittelt, dass Laiblin der Universitätsbibliothek Tübingen zwischen dem 18.4.1905 und dem 27.3.1919 11 Stiftungen im Gesamtwert von 19 000 Mark machte, 13 000 allein für die Kriegsliteratur. Siehe ebd., S. 113 u. S. 120. 125 UAT 167/172, Bl. 9, 20.1.1915.
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lin“ handelte. Auch das Ex libris ist als Peritext zu sehen, der den „offiziösen“ Charakter der Bücher erhöhte. Der Briefwechsel zwischen dem Oberbibliothekar, dem Stifter und dem akademischen Rektoramt zeugt ebenfalls von der Bedeutung, die diesen Kriegsbüchern beigemessen wurde, und deutet zudem auf jene an Heinrich Manns Untertan gemahnende Mentalität, die in der schwäbischen Provinz herrschte. So schrieb Laiblin am 28. September 1916 an den Oberbibliothekar Geiger: „Bezugnehmend auf unsere heutige Besprechung möchte ich Ihnen anlässlich des Regierungsjubiläums Seiner Majestät des Königs eine weitere Stiftung für Ihre so verdienstvolle und für die Allgemeinheit wertvolle Sammlung von Kriegsliteratur überweisen. Ich erlaube mir daher, Ihnen zu diesem Zweck anbei einen Check über Weitere [sic]: M. 2000- zu übermitteln.“126 Die Kriegsliteratursammlung der Bibliothek war eine wichtige Angelegenheit, der sich auch das königliche und nach der Revolution nur noch Württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens widmete: „Die Annahme der Schenkung des Geheimen Hofrats Laiblin in Pfullingen im Betrag von 1000 M. zum Abschluss der Kriegsliteratursammlung der Universitätsbibliothek wird gerne genehmigt. Dem Schenker wolle das akademische Rektoramt auch den wärmsten Dank des Ministeriums für diese neue Zuwendung und für die tatkräftige Unterstützung übermitteln, die er der Kriegssammlung durch seine Zuwendungen erwiesen hat.“127
Dem großzügigen Spender Laiblin wurde erst nach über fünf Jahren der gebührende Dank zuteil. Am 23. Dezember 1924 wurde er zum Ehrensenator der Universität Tübingen ernannt.128 Wie wichtig dem Oberbibliothekar Geiger die Kriegsliteratursammlung war, geht aus folgendem Brief vom 12. Mai 1915 hervor, den er an den Spender sandte: „Das, was ich mit unserem ganzen Volk in jenen Augusttagen des Jahres erlebt habe, was als größtes Ereignis unserer deutschen Geschichte mit ungeheurer Wucht auf mich einstürmte, das stand bald auch als amtliche Aufgabe für meinen Beruf u. mein Institut vor meiner Seele. Die Urkunden dessen, was wir erlebt haben, sollten, womöglich von Anfang an planmäßig u. so reichlich u. vollständig als irgend möglich, auch für unsere Bibliothek u. unsere Hochschule zu Nutz u. Frommen der Gegenwart u. der Zukunft gesammelt werden. Hatte mir doch die kleine Ausstellung, die ich im Herbst 1913 zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig u. das Jahr 1813 mit den Mitteln unserer Bibliothek veranstaltet hatte, fast handgreiflich gezeigt, wie wertvoll später einmal die kleinste Broschüre, das kleinste Bildchen als Zeugnis u. Urkunde einer großen Zeit werden kann!“129
Zumindest darin, dass die „kleinste Broschüre“ einen Quellenwert besitzt, sollte der Oberbibliothekar recht behalten. Die Kriegsbücher wurden jedoch nicht aufgrund ihres ideengeschichtlichen Quellenwertes gesammelt, sondern weil sie als Abbild des Krieges oder eben als „Zeugnis u. Urkunde einer gro126 127 128 129
UAT 167/172, Bl. 17, 28.9.1916. UAT 167/172, Bl. 27, 10.4.1919. UAT 117/291a, Bl. 30. Brief Geigers an Laiblin vom 12.5.1915 zit. nach: Taigel: Louis Laiblin, Privatier, S. 118.
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ßen Zeit“ galten. Der Oberbibliothekar war, wie folgender Brief vom 12. April 1919 zeigt, dem Spender jedenfalls äußerst dankbar, und er war überzeugt, dass die reiche Kriegssammlung von großem Nutzen sein würde: „ich habe zu meiner großen Freude, gerade auch in den letzten Tagen wieder, erfahren dürfen, wie gut die Sammlung jetzt schon benützt wird u. wie überrascht man in Hochschulkreisen über die Fülle des Vorhandenen ist. Unsere Kriegssammlung wird nach unserer Schätzung etwa 10 000 Bände umfassen u. jeder Band trägt den Namen des Gebers. So wird gerade die große Kriegssammlung mit ihren Tausenden von Bänden […] Ihren Namen als eines großen Wohltäters unserer Bibliothek allezeit bei zahllosen Benützern unseres Instituts lebendig erhalten u. künftigen Generationen mit der Erinnerung an den Weltkrieg, seine Heldentaten und seinen tragischen Ausgang übermitteln. Eine spätere Zeit, des bin ich felsenfest überzeugt, wird mit heißem Verlangen sich darüber unterrichten wollen, wie es 1914/18 tatsächlich zugegangen ist.“130
Auch die den Büchern verliehenen Signaturen, die ebenfalls zu den Peritexten zählen, legen nahe, dass die Bücher als Quellen von großem historischen Wert eingeschätzt wurden und dass man keineswegs befürchtete, dass diese Werke der Weckung „niedrigster Instinkte“ dienten. Die Erlebnisberichte Boelckes, Plüschows und von Richthofens beispielsweise erhielten nebst zahlreichen weiteren Büchern aus dem Korpus die Signatur „Fo XIIa …“. Diese Signatur war gemäß der Systematik der Königlichen Universitätsbibliothek Tübingen Büchern vorbehalten, welche der „Geschichte und Geographie der einzelnen Länder und Völker“ (Fo) galten, in diesem Fall „Allgemeines“ (a) zu Deutschland und Österreich (XII).131 Die Signatur „Kg“ hingegen, welche den Boelcke-Büchern Anton Luebkes und Rudolf Oskar Gottschalks sowie dem von Ernst Friedrich Eichler verfassten Erlebnisbericht Ernst Udets beispielsweise verliehen wurden, war „Biographien und Briefe[n] Autographen“ vorbehalten. Weitere Kriegsbücher, so Heydemarcks Doppeldecker „C 666“, Killingers Abenteuer des Ostseefliegers oder Julius Schoenthals Flieger über London. Eine Erzählung aus den Spätherbsttagen 1915 trugen die Signatur „Dk XI …“. Entsprechend der Systematik der Universitätsbibliothek galten diese Bücher als „Schöne Literatur“ (Dk), in diesem Fall eben „germanisch i. A., deutsch“. Es dürfte nun deutlicher geworden sein, wie die Zeitgenossen diese Kriegsbücher bewerteten. Die Signaturvergabe „Fo XIIa“ durch die Universitätsbibliothek war eine institutionelle Verstärkung des von den Büchern selbst erhobenen Authentizitätsanspruchs und ihres Wahrheitspostulats. Wenngleich es sich bei den Signaturen, die auf dem Buchrücken und auf dem Inneneinband vermerkt wurden, nicht um eine bewusst vorgenommene Leserlenkung handelte, so steuerten diese Paratexte gewiss die Rezeption. Und mag auch der Oberbibliothekar Dr. Geiger dem Stifter Laiblin möglicherweise bloß ge130 StAPf, Nachlass Laiblin, Stift II., Brief Geigers an Laiblin vom 12.4.1919 zit. nach: Taigel: Louis Laiblin, Privatier, S. 121. 131 Die Systematik der Altbestände der Universitätsbibliothek lässt sich mit Hilfe der Eingangsbücher ermitteln.
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schmeichelt haben, anscheinend wurde die Sammlung „gut benutzt“. Doch selbst der Hinweis, dass die Bücher wohl auch von der Tübinger Studentenschaft gelesen wurden, vermag noch keine präzise Antwort auf die Frage nach den Lesern zu geben. Die Rezipienten und Rezeption von Werken und Ideen verbleiben im toten Winkel historiographischer Forschung. Eine weitere Eingrenzung der hypothetischen Leserschaft gestattet allerdings ein Blick in das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Der Frage „was liest der Frontsoldat?“ widmete das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel mehrere Artikel. Ein Beitrag mit eben diesem Titel erschien am 16. Februar 1917. Verfasst wurde er von einem sich „im Felde“ befindenden K. Imwolde, der offenbar dienstlich die Gelegenheit hatte, eine Statistik über das Ausleihverhalten in der „Bücherei und Lesehalle eines Feld-Rekruten-Depots“ durchzuführen, und auf dieser Grundlage, „einige Anregungen zu geben und einige Mängel der Zusammenstellung der fahrbaren Bücherei zu beleuchten“ wünschte.132 Die Aussagekraft der Statistik ist zwar beschränkt, wurde sie doch in einer einzigen „fahrbaren Bücherei“ über die Dauer von nur sechs Wochen am Ende des Jahres 1916 durchgeführt, dennoch lohnt es, kurz darauf einzugehen. Von den entliehenen 1393 Büchern „entfielen 1048 allein auf die Rubrik Erzählungen und Romane“. Von den verbleibenden 345 Büchern bezogen sich weitere 275 auf die Gebiete „Humor, Dichtung, Kunst und Wissenschaft“. „Biographisches“ wurde „18mal, Kriegsliteratur 43mal und religiöse Schriften gar nur 7mal ausgegeben.“133 Der Autor betonte, dass „schwere geistige Kost“ von den Soldaten nicht verlangt werde. Bei zukünftigen Erwerbungen gelte es daher darauf zu achten, dass „der Soldat […] zum Lesen leichte Kost [brauche], die ihn anregt, ihm Erheiterung schafft und die ihm ein Spiegelbild des wirklichen, tatsächlichen Lebens zeigt. Das geben z.B. zum Teil die Ullsteinbücher, und darum werden sie von den Soldaten so viel verlangt. Selbst eine sog. Räubergeschichte schadet nichts, denn die Gefahren der Schundliteratur, die uns früher vor diesen Büchern warnen ließ, fallen hier in der Hauptsache fort.“134
Ob nun Imwolde damit auf die Kriegsbücher des Ullstein Verlages zielte, lässt sich nicht feststellen. Vermutlich meinte er eher die Romane aus dem Verlagsprogramm. Imwoldes Urteil bestätigt auch Dr. Faaß, Leiter einer weiteren fahrbaren Kriegsbücherei. Der Soldat suche „Unterhaltung allenfalls auch Humor und in wenigen Fällen Natur“.135 Ein Offizier, der an der Ost132
K. Imwolde: Was liest der Frontsoldat?, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 84, Nr. 39 vom 16.2.1917, S. 149–150, S. 149. Ebd., S. 149. 134 Ebd., S. 150. 135 Siehe (ohne Vornamen) Faaß: Lesestoff fürs Feld, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 84, Nr. 189 vom 15.8.1917, S. 969–970, S. 969. Weiter heißt es dort: „Abenteuer- und Kriminalgeschichten, die einen schlichten Geist in Spannung und Aufregung halten und Heimweh und trübe Gedanken nicht aufkommen lassen, Heiteres und Lustiges, das die ernste Not des Herzens betäubt, Geschichten von starker, inniger Liebe 133
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front „Gelegenheit hatte, sich mit den Feldbuchhandlungen und ihrem Absatz eingehend zu befassen“, teilte Folgendes mit: „Mit Broschüren, auch sogen. aktueller Natur, ist auffallender Weise wenig zu machen, erst recht nicht, wenn sie irgendwie Bezug auf den Krieg haben. Davon wollen die Leute nichts lesen; sie erleben selber Krieg genug.“136 Andererseits berichtete ein Mitglied des Börsenvereins, der zum „Batallions-Bücherwart“ ernannt wurde, dass die „Beratung durch den Bücherwart“ bei der „Auswahl des gebotenen Lesestoffs durch die Leser […] eine wichtige Rolle“ spiele.137 „Bücher, die den gegenwärtigen Krieg behandeln“, wurden anfänglich „ganz abgelehnt“, doch „wo es dem Bücherwart gelang, dieses anscheinende Vorurteil zu besiegen, zeigte sich, daß die Ablehnung aller auf den Landkrieg bezüglichen Schriften aufrecht erhalten wurde, während jeder Leser eines Buches über deutsche Taten zur See (Emden, Möwe, U-Boote usw.) dankbar und begeistert war und alle einschlägigen bzw. verwandten Werke der Bücherei in der Folgezeit nacheinander entlieh.“138
Teilweise gehörten also auch die Soldaten zur Leserschaft der Fliegerbücher, denn diese gehörten durchaus zur „leichten Kost“, sie waren unterhaltsame und spannende „Räubergeschichten“ und hatten mit dem Krieg am Boden reichlich wenig zu tun. Gleich den Büchern über die „deutschen Taten zur See“ lebten die Fliegerbücher nicht nur von der Faszinationskraft des technischen Geräts, sondern von der Tatsache, dass sie ein Bild des Krieges zeichneten, der den Prätexten des Krieges entsprach. Das Don-Quijotehafte an diesen Büchern bestand gerade in der Tatsache, dass sie ein Bild des Krieges zeichneten, in dem es noch Heldentum und die Möglichkeit zu individueller Bewährung gab. Der Soldat am Boden, so eine Hypothese, griff also gerade dann zu einem dieser Kriegsbücher, wenn er eine zumindest geistige Flucht aus dem Krieg suchte, wie er in den Gräben „tatsächlich war“. In der Hauptsache bildeten jedoch die Scharen der Heranwachsenden, die Schuljungen, für die der Weltkrieg den äußeren Rahmen ihrer ersten bewussteren Erfahrungen abgab, die Leserschaft dieser Bücher. Deren Informationshunger, deren Bedarf nach Vorbildern und auch deren Verlangen nach „Ritterbüchern“ scheinen die Kriegsbücher am ehesten gestillt zu haben. Hiervon zeugt auch Sebastian Haffner. Er vermag in seinen populär gewordenen Meund von gewaltigen Schicksalen, die der zwischen zehrenden Gefühlen schwankenden Seele Wege weisen und zum teilnehmenden Mitschwingen Gelegenheit geben, und dann und wann einmal ein ernstes Buch sachlicher Belehrung, das möglichst leicht verständlich den Kreis der im Zivil-Beruf nötigen Kenntnisse auffrischt und erweitert: das sind die weitaus häufigsten und dringendsten Wünsche des Landsers.“ 136 Was verlangen die Feldgrauen zum Lesen?, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 84, Nr. 144 vom 23.6.1917, S. 748. 137 Anonymus: Unsere Feldgrauen beim Lesen. Erfahrungen und Erlebnisse eines Batallions-Bücherwarts, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 83, Nr. 190 vom 17.8.1916, S. 1086–1087, S. 1086. 138 Ebd., S. 1087.
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moiren, etwas von der Stimmung zu vermitteln, welche diese Bücher einerseits schürten und aus der sich andererseits auch ihr Erfolg nährte: „Der Vergleich mit dem Fußball-Enthusiasten trägt sehr weit. Tatsächlich war ich damals, als Kind, ein Kriegsenthusiast wie man ein Fußballenthusiast ist. […] [W]as zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball oder ‚Punkte‘ beim Boxen. […] [E]s war ein dunkles, geheimnisvolles Spiel […] ich und meine Kameraden spielten es den ganzen Krieg hindurch, vier Jahre lang, ungestraft und ungestört.“139
Ein solches Spiel war der Krieg für zahlreiche Jugendliche, und die Kriegsbücher lieferten ihnen Abschusszahlen, personalisierten die Spielfiguren, gaben ihnen Gesichter und umgaben sie mit Glanz. Für die jugendlichen Leser waren die Männer, die ihnen in den Büchern begegneten, Vorbilder und nahmen eine identitätsstiftende Rolle ein, die in der Zukunft seltsame Früchte tragen sollte: „Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. […] Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im ‚Fronterlebnis‘, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. […] Die eigentliche Generation des Nazismus […] sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben.“
Dass der Krieg von der „Kriegsjugendgeneration“ als ein „aufregend-begeisterndes Spiel“ wahrgenommen wurde, davon zeugen beispielsweise auch die Tagebucheinträge des 1900 geborenen Heinrich Himmler:140 „Mit Falk Schild und Schwert gespielt. Diesmal mit 40 Armeekorps u. Russland, Frankreich u. Belgien gegen Deutschland und Österreich. Das Spiel ist sehr interessant. Sieg über die Russen in Ostpreußen (50 000 Gefangene).“141 Bei dem jungen Himmler, so sein Biograph Peter Longerich, verschwammen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit und zahlreichen seiner Altersgenossen erging es wohl ebenso. Die Kriegsbücher hatten hieran einen erheblichen Anteil, stellten sie doch, wie noch gezeigt werden wird, den Krieg als einen spielerischen Wettkampf dar. Dass dies auf das Kriegsbild und die Weltanschauung der in der Heimat nachwachsenden Generation Auswirkungen zeitigte, scheint unweigerlich. Die Kriegsberichte untermauerten jene Illusion des Heroischen im Krieg, das die Schuljungen bereits aus den Prätexten des Krieges kannten. Gemäß 139
Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2002, S. 21f. Dort (S. 22f.) auch das folgende Zitat. 140 Zur Kriegsjugendgeneration siehe: Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996³. 141 Tagebuch Himmler, Eintrag vom 29.8.1914 zit. nach Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 28.
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seiner Darstellung in den Fliegerbüchern bot der Krieg Gelegenheit zur Bewährung, zu Ruhm, zum Abenteuer und zum Nachweis der eigenen Männlichkeit. Das waren die Sinnstiftungsangebote dieser Literatur, die den Krieg als glorreiches Ereignis erscheinen ließ und eine Wahrnehmung des Krieges, vor allem aber des Tötens als viriles Spiel veranlasste. Die untersuchten Kriegsbücher trugen den Verhältnissen der technisierten Schlachterei nicht Rechnung und verzauberten einen entzauberten Krieg, indem sie das im Krieg erfahrene Leid und die erbrachten Opfer durch die Nation legitimierten. Das Chaos wurde durch ein mythisches Denken überwunden. Bevor der von diesem Denken generierte Sinn behandelt wird, bleibt noch zu klären, wer die Autoren waren und wie die Kriegsbücher entstanden.
c. Die Medienarbeiter und die Genese der Mythen des Kriegsalltags Am 26. Juni 1917 wandte sich Willi Hackenberger, Autor und Ingenieur bei dem Flugzeughersteller Albatros, an Dr. Proskauer von der Oberzensurstelle des kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte mit folgender Bitte: „Ich möchte Sie persönlich bitten, Ihren Einfluss doch dahin geltend zu machen, daß mir das Buch freigegeben wird. Ich habe nicht große Lust meine Zeit und Mühe und die immerhin bedeutenden Geldkosten für diese Sache nutzlos geopfert zu haben. Vaterländische Interessen liegen doch eigentlich gegen die Veröffentlichung dieses Buches nicht vor. Es kann sich doch sicherlich nur um Meinungsverschiedenheiten handeln, über den Erfolg des Buches. Es ist gerade auf dem Gebiet der Kriegs-Bücher soviel Minderwertiges erschienen, daß sicherlich dieses Buch mit einem anderen Maassstab [sic] gemessen werden müsste. Wenn einige Berichte nicht so interessant sind, so liegt das doch weiß Gott nicht an mir“.142
Hackenbergers Manuskript Die Helden der Lüfte, das im Freiburger Militärarchiv leider nur in einer Version des Jahres 1935 vorliegt, fand offenbar, so ist dem oben zitierten Brief zu entnehmen, nicht die Zustimmung des Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte und der Presse-Abteilung derselben. Diese teilte Hackenberger im Juli 1917 mit, „daß der Veröffentlichung des geplanten Buches als rein privater Angelegenheit zugestimmt wird. Jedoch darf weder in dem Buch noch in den dafür erforderlichen Anpreisungen und Besprechungen ein Hinweis auf eine Förderung oder Unterstützung des Werkes von Seiten des Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte erfolgen. Das bisherige Vorwort muß fortfallen. Vor Veröffentlichung ist das Manuskript im druckfertigen Zustand nochmals hier zur Zensur vorzulegen.“143
Die Tatsache, dass der kommandierende General der Luftstreitkräfte seine Schirmherrschaft über das Buch zurückzog, und Hackenbergers Versuche, 142
BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Willi Hackenbergers an Dr. Proskauer vom 26.6.1917. BA-MA, MS g 170/10-6, Brief der Presse-Abteilung der Luftstreitkräfte an Hackenberger vom 3.7.1917.
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dies zu verhindern und die „Meinungsverschiedenheiten“ auszuräumen, verdeutlichen den Wert, den die Paratexte besaßen. Hackenbergers Brief verdient jedoch auch aus einem weiteren Grund Aufmerksamkeit. Denn Hackenberger vermutete, er müsse „auf eine Förderung oder Unterstützung des Werkes“ verzichten, weil das Buch nicht so interessant sei. Die Gründe hierfür lägen aber schlichtweg darin, dass „die Herren“, gemeint waren besagte Helden der Lüfte, entweder „nicht viel Interessantes erlebt haben“ oder davon nicht zu erzählen gewusst hätten.144 Hackenberger jedenfalls weigerte sich, den Fliegern „Heldentaten anzudichten, die sie vielleicht gar nicht erlebt haben.“ Gehörte Letzteres womöglich zur gängigen Praxis der Kriegsbuchautoren? Gänzlich „erlogen“ waren die Kriegsbücher gewiss nicht – die behandelten Personen existierten, die Luftkämpfe, Abschüsse und Bombenflüge fanden statt. Doch wurden die Schilderungen „der Herren“ überarbeitet, wurde etwa literarisch nachgeholfen, und, zur Not, das Erlebte ein wenig ausgeschmückt? Diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Denn hierzu müssten die Beiträge der Flieger selbst, ihre Tagebucheinträge, Briefe oder Erlebnisberichte, das von dem Autor oder den Medienarbeitern überarbeitete Manuskript und zudem das daraus hervorgegangene Buch vorliegen. Ein solcher Fund liegt dieser Untersuchung nicht zugrunde. Doch auf der Grundlage der überlieferten Korrespondenz zwischen Hackenberger und der Presse-Abteilung sowie weiterer Funde im Archiv des Ullstein Verlages und des Deutschen Technik Museums lässt sich die Entstehung der Fliegerbücher zumindest teilweise rekonstruieren. Fest steht jedenfalls, dass die Kriegsbücher trotz aller – oder gerade aufgrund der – darin vorkommenden Authentizitätsbekundungen keineswegs als Egodokumente behandelt werden können. Selbst wenn die Medienarbeiter keine „Heldentaten“ hinzugedichtet hätten, das Tagebuch oder Ähnliches hätte auf jeden Fall zum druckfertigen Manuskript überarbeitet werden müssen.145 Das Erlebnis des Kriegsteilnehmers ist selbst im Falle eines originären Egodokuments uneinholbar, liegen doch zwischen dem Erlebten und dem Geschriebenen sowohl die kursierenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als auch die sprachlichen Konventionen des jeweiligen Genres. Ein Text, der darüber hinaus noch von einem „Ghostwriter“ überarbeitet und von einem Lektor druckfertig gemacht wurde, ist von der „Wahrheit“ über den Krieg weit entfernt. Und dennoch, selbst wenn das Erlebnis des Krieges eine historiographische Chimäre bleibt, die Kriegsbücher sind bezüglich der „Medialisierung des Krieges“ und hinsichtlich der „Geschichte des Sagbaren“ aussagekräftige Quellen. 144
BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Willi Hackenbergers an Dr. Proskauer vom 26.6.1917. Von einem solchen Vorgehen zeugt auch ein Schreiben der Inspektion des Militär-Luftfahrtwesens. Siehe BayHStA-KA, Iluft 211, Entwurf eines Schreibens der Inspektion des Militär-Luftfahrtwesens an sämtliche Kommandeure der Fliegertruppen und diejenigen Fliegerabteilungen, in denen sich bayr. Flieger befinden, vom April 1918.
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Der Luftfahrtenthusiast Hackenberger hatte jedenfalls bereits 1915 den Bildband Deutschlands Eroberung der Luft veröffentlicht, den er „Sr. Exzellenz dem Grafen Ferdinand von Zeppelin ehrfurchtsvoll gewidmet“ hatte.146 Unter der Überschrift „Über alles in der Welt!“ hieß es dort: „Deutsche legen in der Luft von einem Erdteil zum anderen Strecken zurück, wie keine andere Nation zuvor; Deutsche überfliegen die höchsten Gebirgszüge und weitesten Wasserflächen. Auf in den Kampf, deutscher Aar, schüttle im Zorn dein Gefieder, recke die Flügel zur Sonne empor, zum Licht, zur Freiheit! Nun ist es Zeit! Nimm in die Fänge das Schwert, halte durch gegen Sturm und Ungewitter und dein wird sein der Sieg in der Luft!“
Gegen eine Förderung von Hackenbergers neuem Manuskript dürften wohl kaum „vaterländische […] Interessen“ gesprochen haben. Hackenberger hatte offenbar im September 1916 bei der Inspektion der Fliegertruppen um Hilfe bei der Veröffentlichung eines weiteren Fliegerbuches gebeten. Der Chef des Generalstabes der Luftstreitkräfte, Hermann von der Lieth Thomsen, erklärte sich bereit, die Herausgabe des geplanten Buches zu unterstützen. Er habe bereits, so Thomsen, „eine Reihe von Offizieren und Unteroffizieren der Fliegertruppe und Luftschiffertruppe in Aussicht genommen, die infolge ihrer hervorragenden Leistungen es besonders verdienen, in der Öffentlichkeit bekannt zu werden.“147 Darüber hinaus schlug Thomsen vor, dass „die Beiträge der Herren“ ihm zur Prüfung vorgelegt werden müssten, ja selbst die „einzelnen Aufforderungen an die Herren“ seitens Hackenbergers, für die ihm Thomsen wohl einen Vordruck zuschickte, seien zuvörderst an ihn zu richten: „Ich schlage vor, mir den Text eines Briefes, in welchem die Herren – etwa nach anliegendem Muster – zur Beteiligung aufgefordert werden, im Umdruck in 100facher Ausfertigung zu senden. Ich werde dann die Adressen ausfüllen und mir die Beiträge unmittelbar einreichen lassen.“ Hackenberger plante offenbar, nur kurze Lebensbeschreibungen von Deutschlands „Helden der Lüfte“ samt Bild zu veröffentlichen. Doch Thomsen schlug ein anderes Konzept vor, nicht zuletzt da „der Kreis der Mitarbeiter aus gewichtigen Gründen beschränkt werden“ müsse. Infolge würde „der Umfang eines Werkes, wie Sie es herauszugeben beabsichtigen, nicht erreicht werden“. Thomsen riet daher, „kurze Schilderungen aus den Erlebnissen der Mitarbeiter nach meiner Auswahl in das Buch aufzunehmen.“ Er glaubte sogar, „hiermit den Wünschen des Leserkreises entgegenzukommen“. Der Generalstäbler schien an alles zu denken, denn er sprach auch die finanzielle Seite des Buchunternehmens an: „Ich nehme an, daß nicht beabsichtigt wird, die Mitarbeiter an dem Ertrage des Buches zu beteiligen. Dage146
Siehe Willi Hackenberger: Deutschlands Eroberung der Luft. Die Entwicklung deutschen Flugwesens an Hand von 315 Wirklichkeitsaufnahmen. M. Geleitw. v. Hellmuth Hirth, Siegen 1915. Dort (S. 22) auch das folgende Zitat. 147 BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Thomsens an Hackenberger vom 17.10.1916. Dort auch das folgende Zitat.
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gen bin ich bereit, einen Teil des Ertrages den bei der Inspektion der Fliegertruppen und der Inspektion der Luftschiffertruppen bestehenden Fonds für die Hinterbliebenen von Angehörigen der Fliegertruppe bezw. Luftschiffertruppe zuzuführen“.148 Offenbar stimmte Hackenberger dem allem zu, denn das Manuskript lag, so ist einem Schreiben der Presse-Abteilung zu entnehmen, im April 1917 bereits dem Großen Hauptquartier zur Durchsicht vor. Bevor diese Durchsicht überhaupt vorgenommen wurde, äußerte man bereits den Wunsch, dass „die Bilder von Exzellenz Höppner [der kommandierende General der Luftstreitkräfte] und Oberstleutnant Thomsen […] aus dem Buch herausbleiben, da sie nicht zu den ‚Helden der Lüfte‘ gehören.“149 Die Eingriffe der Presse-Abteilung beziehungsweise des kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte und seines Stabes waren erheblich. Es mag allerdings bezweifelt werden, dass die Presse-, und das heißt „Propaganda“Abteilung, in den Produktionsprozess aller Fliegerbücher gleichermaßen involviert war. Hackenberger war ein Sonderfall. Der kommandierende General der Luftstreitkräfte sollte ja als Förderer des Werkes erwähnt werden und war von Hackenberger direkt angesprochen worden. Ansonsten musste das Vorhaben, einen „Heldenbericht“ oder Ähnliches zu verfassen, wohl genehmigt und dann die Kriegsbuch-Manuskripte vor der Publikation zur Zensur eingereicht werden. Das heißt, die Presseabteilung verhinderte, so darf vermutet werden, dass Missliebiges, gegen dessen Publikation „vaterländische Interessen“ vorlagen, gedruckt wurde, und strich ansonsten hier eine Orts- oder Zeitangabe oder die Nennung des Stationierungsabschnitts eines bestimmten Regiments, dort womöglich ein unrühmliches Kapitel heraus. Einem Brief Hackenbergers vom 21. Juni 1917, in dem er dem kommandierenden General Höppner die der Ablehnung vorangegangenen „Missverständnisse“ erläutert, sind weitere Einzelheiten der Entstehung des geplanten Kriegsbuches zu entnehmen wie auch die Vorkommnisse, die zu dessen Ablehnung führten: „Als ich seinerzeit durch die Inspektion der Fliegertruppen meinen Antrag auf Genehmigung eines Werkes ‚Biographien erfolgreicher Flieger‘ als 2. Band meines Montanus-Buches ‚Deutschlands Eroberung der Luft‘ richtete, geschah dies in dem Bestreben, den Leserkreis mit unseren Helden der Luft näher bekannt zu machen. Auf Wunsch Ew. Exzellenz wurden an alle erfolgreichen Flugzeugführer Rundschreiben erlassen, die aber nicht den erwünschten Erfolg zeitigten, da nur eine beschränkte Anzahl der infrage kommenden Herren interessante Schilderungen ihrer Flüge einsandten. […] Ich schicke voraus, daß ich alle Berichte bereits zensiert erhalten habe und ursprünglich von der Meinung ausging, es solle an der Fassung der Berichte nichts geändert werden, um das Persönliche der Schriften zu wahren.“150
148
BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Thomsens an Hackenberger vom 17.10.1916. BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Proskauers an Hackenberger vom 10.04.1917. BA-MA, MS g 170/10-6, Brief Hackenbergers an Höppner vom 21.06.1917. Ebd. auch die folgenden Zitate. 149 150
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Genau hierin sollte sich Hackenberger aber getäuscht haben, denn offenbar sah man genau darin seine Aufgabe: „Auf Veranlassung der Oberzensurstelle, überreichte ich erstmalig das damals vorliegende Material unverändert zur Prüfung, wollte dieses aber nicht als zensurreifes, fertiges Manuskript angesehen haben.“ Das „unfertige[ ] und ungeordnete[ ] Material“ wurde seitens des Großen Hauptquartiers, an das es weitergereicht worden war, natürlich abgelehnt. Hierauf machte sich Hackenberger „auf Veranlassung der Oberzensurstelle an eine freie Bearbeitung des Materials“, und dennoch erhielt er „zum zweiten Male das Buch zurück mit einer glatten Ablehnung“. Dies schien Hackenberger ganz und gar unverständlich. Trotz der widrigen Umstände sei doch das Buch „so interessant […], daß es wohl eine gute Auflage erleben dürfte, da der Luftfahrerdank den Verlag übernehmen will. Ullstein & Co. hatte mich an einen bestimmten Ablieferungstermin gebunden, den ich nicht einhalten konnte, da das Material nur spärlich und langsam einging.“ Es half alles nichts. Das „Material“, also die Hackenberger zugesandten und offenbar weder besonders interessanten noch gut geschriebenen Fliegerberichte, sollte er zurückschicken. Das konnte Hackenberger aber nicht mehr, denn er hatte die „Originalberichte […] bei der redactionellen Durcharbeitung auseinander geschnitten und teilweise nach Abschrift vernichtet“. Und obwohl Hackenberger betonte, dass er „die Herausgabe des Buches nicht als ein Geschäft betrachte“, sondern „nur Freude an der Sache selbst habe“, sollte es bei der Ablehnung bleiben. Mangels Ausschmückungen und literarischer Nachhilfe war das Buch wohl nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Ein ähnliches Schicksal sollte, wenn auch aus anderen Gründen, Dr. Emil Leimdörfers Buch über den österreichisch-ungarischen Flieger Gottfried Alois Freiherr von Banfield beschieden sein. Am 31. Oktober 1918 sah sich der Ullstein Verlag von den „Umständen“ gezwungen, dem Autor des erhalten gebliebenen Typoskripts folgende Absage zu erteilen: „Das Manuskript Banfield haben wir erhalten, es ist recht interessant und spannend geschrieben. Sie haben aus dem Stoff durch sorgsame Arbeit alle Möglichkeiten herausgeholt. Unter anderen Umständen würde das Buch eine wertvolle Bereicherung unserer Kriegsbücher-Serie gewesen sein, aber gegen die Weltgeschichte können wir nicht an.“151 Offenbar war nicht nur der Presse-Abteilung der Luftstreitkräfte daran gelegen, dass ein recht freier Umgang mit den „Originalberichten“ gepflegt wurde. Auch beim Ullstein Verlag herrschte offensichtlich ein recht flexibler Maßstab, denn es war nicht nur erlaubt, sondern es scheint sogar erwünscht oder gängige Praxis gewesen zu sein, bei den Kriegsberichten, Tagebüchern, Briefen etc. ein wenig „nachzubessern“. Dies bestätigen auch die im Archiv des Ullstein Verlages überlieferten Verträge. 151
DTM I.4.045 NL Willy Stiasny/Typoskript Banfield/Brief an Leindörfer vom 31.10.1918.
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1917 erschien als Nummer 29 der Ullstein-Kriegsbücher-Reihe 300 000 Tonnen versenkt! Meine U-Boots-Fahrten von Kapitänleutnant Max Valentiner. Als Autor des Buches firmierte der hochdekorierte Kapitän von U38. Im Vorwort war Folgendes zu lesen: „Rund dreihunderttausend Tonnen Schiffsraum hatte allein ‚U38‘ versenkt, als ich mich zum Schreiben niedersetzte. […] Aus militärischen und anderen Gründen habe ich mir in Bezug auf Personennamen, Ort- und Zeitangaben gewisse Freiheiten erlauben müssen. Im Übrigen aber halte ich mich streng an die Wahrheit und berichte nur eigene Erlebnisse.“152 Geschrieben hatte das Buch freilich ein anderer, namentlich der Vielschreiber und ehemalige Schiffsoffizier Reinhard Roehle.153 Im Archiv des Ullstein Verlages liegt auch eine Abschrift des Vertrages zwischen Max Valentiner und Roehle vom 21. März 1917 vor. Darin hieß es: „Herr Roehle übernimmt die Ausarbeitung eines Buches im Umfang der bekannten Scherl’schen Kriegsbücher auf Grund der ihm zur Verfügung gestellten Tagebücher über die Fahrten des ‚U 38‘. Das druckfertige Manuskript wird an Herrn Kapitänleutnant Valentiner abgeliefert, der das Recht hat, es unter seinem Namen zu veröffentlichen. […] Die Arbeit ist sofort in Angriff zu nehmen und sofort nach Abliefrung [sic] einem geeigneten Verleger anzubieten. Herr Kapitänleutnant Valentiner behält sich das Recht vor, das Manuskript nach Belieben zu ändern.“154
Das Manuskript wurde also auf der Grundlage von Tagebüchern von einem „Ghostwriter“ verfasst. Als Valentiners Ullstein-Kriegsbuch erschien, hatte es 155 Seiten. Offenbar nahm Roehle in der Tat „die Arbeit sofort in Angriff“, denn beim Ullstein Verlag lag bereits am 25. Mai 1917 eine „Notiz zum Vertrag Reinhard Roehle“ vor: „Herr Roehle hat das Valentiner Manuskript geschrieben und ist zu der Verlagsabmachung vom Verfasser autorisiert.“155 Valentiner war zwar „Verfasser“, doch Roehle hatte das Manuskript geschrieben und bekam von den vertraglich vereinbarten 20 000 Mark, die Valentiner für das Buch erhielt, immerhin 4 000 Mark. Die Kriegsbuchschreibe152
Max Valentiner: 300 000 Tonnen versenkt! Meine U-Boots-Fahrten, Berlin 1917, S. 9f. In Thomas F. Schneiders bio-bibliographischem Handbuch sind von Reinhard Roehle 6 Bücher vermerkt, die er unter eigenem Namen zwischen 1915 und 1917 veröffentlichte. Roehle spezialisierte sich offenbar auf Marine-Kriegsbücher. Zu seinen Veröffentlichungen zählten: Emden – Ayesha. Heldenfahrten und Abenteuer deutscher Seeleute im Weltkrieg. Nach Berichten von Teilnehmern erzählt, Stuttgart u.a. 1915; Über Anden und Meer ins deutsche Heer. Ernste und heitere Abenteuer deutscher Reservisten auf ihrer Fahrt von Bolivien in die Heimat. Der reiferen Jugend erzählt, Stuttgart u.a. 1916; Kriegsfahrten unseres Kreuzergeschwaders, Stuttgart u.a. 1916; Graf Dohnas Heldenfahrt auf S.M.S. „Möwe“, Stuttgart u.a. 1916 und wohl eine weitere Auflage 1917 sowie Als Flüchtling um den halben Erdball. Die abenteuerlichen Erlebnisse des Prisenoffiziers S.M.S. „Emden“ Kapitänleutnant der Reserve Julius Lauterbach, Stuttgart u.a. 1917. Siehe: Schneider u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 528. Einem Vertrag zwischen Ullstein und Roehle vom 5.6.1917 ist zu entnehmen, dass Roehle zudem ein Jugendbuch Auf verschlungenen Pfaden verfasst hatte. Siehe UVA, Akte Valentiner. 154 UVA, Akte Valentiner, Abschrift des Vertrages zwischen Valentiner und Roehle vom 21.3.1917. 155 UVA, Akte Valentiner, Notiz zum Vertrag Reinhard Roehle vom 25.5.1917. 153
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rei war einträglich, und es wurde auch gehandelt. Der Notiz zum Vertrag ist zu entnehmen, dass Valentiner und Roehle zusätzlich zum Ullstein-Kriegsbuch planten, „statt eines Buches 2 Bücher über die Uboots-Erlebnisse des Herrn Valentiner zu schreiben. Demgemäß hatte Roehle einen Teil des Manuskripts uns, einen zweiten Teil Scherl angeboten. Es lag daher nahe, um das gesamte Material zu erhalten, Roehle von vornherein M 6 000.- zu garantieren.“156 Der Handel mit den Erlebnisgeschichten der Helden war offenbar lukrativ, und das Manuskript verkaufte man an den Meistbietenden. In diesem Fall sollte der Ullstein-Konkurrent Scherl unterliegen. Dass es sich beim Vorgehen um das Buch des U-Boot Kapitäns Valentiner nicht um einen Einzelfall handelte, legen weitere Vertrags-Unterlagen nahe. Sie betreffen den berühmtesten deutschen „Fliegerhelden“ Manfred Freiherr von Richthofen und dessen erfolgreiches Buch Der rote Kampfflieger. Mit dem „roten Baron“ vereinbarte der Berliner Verlag eine Tantieme von 8 % des Ladenpreises und garantierte ihm 10 000 Mark.157 Das Buch sollte dem Jagdstaffelführer und seiner Familie, denn von Richthofen starb am 21. April 1918, weit mehr einbringen. Bis zum Ende des Weltkrieges, also in einem guten Jahr, sollte sich die Nr. 30 der Ullstein-Kriegsbücher-Reihe 400 000-mal verkaufen.158 Bis 1939 verkauften sich die diversen Auflagen des roten Kampffliegers 1 226 000mal.159 Wer jedoch der Verfasser des Bestsellers war, ist unklar, denn von Richthofen erteilte dem Hauptmann a.D. Erich von Salzmann, Autor des Buches Über die Weltmeere zur deutschen Front in Flandern, folgende Vollmacht: „[G]egenüber der Firma Ullstein & Co. in Angelegenheiten des von der Firma herauszubringenden Buches ‚Der rote Kampfflieger‘ irgend welche ihm notwendig erscheinenden Änderungen oder Verbesserungen selbständig und ohne mich vorher zu befragen, vorzunehmen, ebenso, meine eigenen Interessen gegenüber der Firma Ullstein & Co. oder solchen Personen, die mit Bezug auf die Fertigstellung des Buches in Frage kommen, wahrzunehmen. Herr von Salzmann ist berechtigt, in meinem Namen alles, was das Buch anbetrifft, selbständig zu regeln.“160
In dem Vertrag zwischen dem Verlag und von Richthofen lautete §3: „Die endgültige Festlegung des Textes mit der Verlagsbuchhandlung zu vereinbaren, ist Herr Hauptmann von Salzmann ermächtigt.“161
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UVA, Akte Valentiner, Notiz zum Vertrag Reinhard Roehle vom 25.5.1917. UVA, Akte von Richthofen, Vertrag zwischen Ullstein und Manfred von Richthofen vom 29.6.1917. 158 Schneider: Zur deutschen Kriegsliteratur, S. 106. 159 Schneider u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 10. 160 UVA, Akte von Richthofen, Vollmacht für von Salzmann. 161 UVA, Akte von Richthofen, Vertrag zwischen von Richthofen und der Firma Ullstein & Co. vom 29.6.1917. 157
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Am 20. September 1918 traf der Ullstein Verlag mit dem Bruder des Verstorbenen und ebenfalls als Jagdflieger tätigen Lothar von Richthofen eine Abmachung über ein weiteres Buch. Dessen Titel sollte Manfred Freiherr von Richthofen. Ein Heldenleben lauten, und es erschien trotz oder gerade wegen der Niederlage im Jahr 1920. In dem Vertrag hieß es: „Die Bearbeitung des Materials und die Zusammenstellung des Buches erfolgt durch Herrn Hauptmann Erich von Salzmann.“162 Erich von Salzmanns Anteil an den Büchern von Richthofens lässt sich nicht ergründen. Klar ist jedoch, dass diese Bücher als Ego-Dokumente nicht taugen, da sie von der Zensur, den Verlagen und von professionellen Medienarbeitern bearbeitet wurden. Für die Öffentlichkeit, welche diese Kriegsbücher zu lesen bekam, spiegelte sich jedoch in den Büchern die „Wirklichkeit des Krieges“ wider, „selbsterlebt und selbsterzählt“, wie es in den Vorworten mehrmals hieß. Ein unmenschlicher Krieg wurde zum Gegenstand populärer Literatur und somit zum Konsumprodukt einer „Unterhaltungsindustrie“. Hier wurde ein unbeschreiblicher Krieg mit den narrativen Schemata der pulp fiction und den anachronistischen Deutungsmustern vergangener Kriege begreifbar gemacht. Eine „seltsame Literarizität“, die jedoch als historisch-wissenschaftliche Wahrheit verstanden wurde, begann eine Realität zu überwölben, die sich anderen Ordnungen zu entziehen schien. Die verzerrte Realität und „seltsame Literarizität“ der Kriegsbücher sollten deren Leser zu einer curious literariness of real life umformen, als sie nämlich begannen, die rezipierten Deutungsmuster selbst wiederum zu aktualisieren.
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UVA, Akte von Richthofen, Vertrag zwischen Ullstein und Lothar von Richthofen vom 20.9.1918.
2. Die fliegenden Schwerter und der Maschinenkrieg Die großen Materialschlachten in Verdun und an der Somme waren längst geschlagen, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg war wiederaufgenommen worden, die Februarrevolution und die amerikanische Kriegserklärung an das Deutsche Reich erfolgt, als 1917 ein Buch mit dem Titel Das fliegende Schwert. Wesen, Bedeutung und Taten der deutschen Luftflotte in Wort und Bild erschien. Herausgeber des Buches war der Deutsche Luftflottenverein e.V., der 1908 ins Leben gerufen worden war. Es handelte sich um einen jener typischen bürgerlichen Vereine aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die nationalistische Agitation mit Interessenpolitik verbanden.1 Auf die Frage „Was wir wollen?“ hieß es im Vereinsprogramm lapidar „Unsere Zukunft liegt in der Luft!“.2 Die Aviatik avancierte im Ersten Weltkrieg und in der darauf folgenden Nachkriegszeit zum Träger nationalistischer Träume und technischer Zukunftsvisionen. Das Flugzeug vermochte es, nach und nach die maritime Flotte aus dieser Rolle zu verdrängen. Der Luftflottenverein glich jedenfalls im Aufbau und in den gesetzten Zielen dem 1898 gegründeten Deutschen Flottenverein. Die Zukunft „verspäteter Nationen“, so der Tenor im Umfeld des Luftflottenvereins, lag eher in der Luft als auf den Meeren. Das 19. Jahrhundert hatte in der Seeflotte ein Sinnbild gefunden, das von dem aufklärerisch motivierten Sammeln von Wissen zum Zwecke der Weltaneignung bis zur imperialistischen Geo- und Machtpolitik reichte.3 Doch dem stählernen 1 Die vom Luftflottenverein betriebene Lobby- und Interessenpolitik sollte nicht zuletzt dem im Sommer 1914 aus dem Amt geschiedenen ehemaligen ersten Vorsitzenden und Präsidenten des Vereins zugute kommen, dem Mannheimer Landmaschinenfabrikanten Dr. Karl Lanz, der im Jahr 1909 gemeinsam mit Johann Schütte die Luftschiffbau Schütte-Lanz gründete. Wie bereits bei den im vorangegangen Kapitel behandelten Verlegern und Autoren zeigt sich auch im Falle des Vorsitzenden des Deutschen Luftflottenvereins, wie finanzielle Interessen und nationalistische Ideologie sich zu ergänzen und möglicherweise auch zu verstärken vermochten. Zum bürgerlichen Vereinswesen siehe: Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984. Für einen Überblick zu den nationalistischen Agitationsverbänden siehe: Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 1071–1081. Für einen aktuellen Überblick zum Forschungsstand siehe: Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 15–24. 2 Vereinsprogramm des Deutschen Luftflottenvereins, in: Illustrierte Aeronautische Mitteilungen 12/1908, Nr. 19, S. 579–581, S. 579 zit. nach Sabine Höhler: Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt in Deutschland 1880–1910, Frankfurt/M. u.a. 2001, S. 179. Zum Kontext der Luftfahrtvereine siehe: Ebd., S. 144–206 sowie Helmuth Trischler: Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900–1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt/M. u.a. 1992, S. 34–48. 3 Zur Bedeutung der britischen Flotte als Instrument der Weltaneignung durch Wissen siehe: Julia Angster: „Wissen ist Macht“. Die Royal Navy in Übersee 1780 bis 1860, Habil. Ms. Tübingen 2008; Zur Geo- und Machtpolitik sowie zum Antagonismus, der aus der Flottenrüstung entstand, siehe: Rolf Hobson: Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875–1914, München 2004; Paul Kennedy: The Rise and Fall of British Naval Mastery, London 2004³; Michael Salewski (Hrsg.): Die
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Schlachtschiff stand die Ablösung bevor, und der Sinnspruch Britannia rules the waves sollte bald der Vergangenheit angehören. Jetzt galt es, den Luftraum zu erobern. Das Flugzeug und der Flieger wurden in der Folge der „Urkatastrophe des [20.] Jahrhunderts“ zum Sinnbild des Aufbruchs in eine neue Ordnung der Welt und der Massengesellschaft.4 Die Wurzeln dieses Wandels und des ihm zugrundeliegenden Denkens lagen im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Nach dem Krieg schien es, als habe die Zukunft bereits in den Achsenjahren 1916/17 begonnen. Dort, während des industrialisierten Tötens in den großen Schlachten, unter dem Stahlhelm, im Tank und eben im Flugzeug, offenbarte sie ihr Antlitz. Auch aus historischer Sicht stellt sich der Weltkrieg als Zeit des Übergangs dar, in der sich die Zukunft zwar vielerorts ankündigte, dies jedoch häufig noch in der Gestalt des Alten tat. Wie nicht zuletzt am Deutschen Luftflottenverein ersichtlich wird, trat das Kommende in „altehrwürdiger Verkleidung“ auf.5 Zu seinen Aufgaben zählte der Verein, dessen Mitgliederzahl während des Krieges von zehntausend auf fünfzigtausend hochschnellte, die „Werbearbeit für eine starke Luftflotte, Weckung der Liebe und des Verständnisses für das Luftfahrtwesen, Erhaltung seiner Luftfahrerschule […], Förderung des friedlichen Luftverkehrs nach dem Kriege, Beteiligung seiner Mitglieder an Luftfahrten, Unterstützung bedürftiger Luftfahrer- und Fliegerfamilien, Unterbringung genesender und erholungsbedürftiger Angehöriger an geeigneten Kurplätzen.“6
Diesen Zwecken galt wohl auch das Buch, dessen Umschlag von dem abgewandelten Vereinsemblem geziert wurde, einem geflügelten Schwert. Dieses Emblem versinnbildlicht die im Folgenden zu behandelnde Dialektik von Beharrung und Wandel, von Kontinuität und Neuerung, von Bruch und Überbrückung in einer Zeit des Übergangs. Das Buch war eine Sammlung zahlreicher „herrlicher Taten unseres fliegenden Schwertes“.7 Darunter befand sich diese Schilderung eines Fluges über Verdun, die in der Osnabrücker Zeitung veröffentlicht worden war: „Es war ein eigenes Gefühl für mich, wie ein König, mit Bomben beladen, über dasselbe Gelände zu fliegen, wo mein Vater schon vor 46 Jahren gekämpft und sich das Eiserne erworben hat! […] Ich warf alle meine Bomben wohlgezielt ab und sah, wie sie unten auseinander krachten! Dann zählte ich noch die Brücken über die Maas, und flog glücklich nach Hause. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas so Herrliches erlebt! Über alles Irdische erhaben, ruhig und sicher dahinfliegend, kommt man sich wie ein Gott vor! Tief unten auf der Erde lag es wie ein Kranz von Rauch um die Stadt: nichts als krepierende Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. 4 Zur vielzitierten Formel siehe George F. Kennan: Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875–1890, Frankfurt/M. u.a. 1981, S. 12. Zur neuen Ordnung der Massengesellschaft siehe das folgende Kapitel II.3. 5 Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 97. 6 Deutscher Luftflottenverein (Hrsg.): Das fliegende Schwert. Wesen, Bedeutung und Taten der deutschen Luftflotte in Wort und Bild, Oldenburg i. Gr. 1917, S. 15. 7 Ebd., S. 15.
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Abb. 7 Das fliegende Schwert als Sinnbild der Dialektik von Beharrung und Wandel. Granaten. Die Brände lohten zum Himmel auf, die ganze Erde war zerwühlt und aufgerissen – ein schauriger Anblick! Sonst sieht die Erde wie ein Spielzeug aus, grüne Wiesen und Wälder wechseln mit dem braunen Acker, und darin liegen die Dörfer wie weiße und rote Flecken. Hier ist alles öde und grau, als ob ein Strom von Lava über das Land geflossen wäre. Auf der Erde Loch bei Loch, in den Dörfern Rauchsäulen; das Aufblitzen der platzenden Geschosse folgt unmittelbar dem Feuerschein und Getöse der großen Geschütze, und überall Dampf, Rauch und Feuerbrände – eine Hölle! – Und dann denkt man an die Soldaten, die da unten kämpfen und sich jeden Meter blutig erobern müssen, und an die Verluste! – Und ich? Wie ein Gott schwebt man über all diesen Schauern und schleudert Blitze an den Feind!“8
Die Zukunft kündigte sich auch in diesem Text an: „Wie ein König, mit Bomben beladen“ kam sich der Flieger vor, wie „ein Gott, der seine Pfeile an den Feind schleudert“, sollte er verehrt werden. In den Trümmern der Ordnung der alten Welt sollten die Zeitgenossen nach dem Kriege die Bedingungen der Möglichkeit anderer, neuer Ordnungen aufsuchen.9 Gegen das liberale und bürgerliche Gefüge, das im Krieg zerbrach und nur als Schatten seiner selbst aus ihm hervorkehren sollte, formierte sich am östlichen Horizont bereits die marxistisch-bolschewistische Ordnung. Sie war, wenn auch als Antithese, der 8
„Ein Flug über Verdun“ aus der Osnabrücker Zeitung in: Deutscher Luftflottenverein (Hrsg.): Das fliegende Schwert, S. 69f. 9 Siehe hierzu insbesondere: Eksteins: Rites of Spring.
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bürgerlichen Welt und ihren Kategorien verhaftet. In den Gräben und Trichtern am Isonzo und an der Aisne, in der Luft über der Champagne und dem Karst, in den Spalten der alten Ordnung und in der durch den Krieg hervorgerufenen Kluft zur „Welt von Gestern“ bildete sich aber auch der Entwurf jener anderen, mythischen Ordnung heran, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht. An den deutschen Heldennarrativen und den in ihnen kursierenden Deutungsmustern wird in diesem Kapitel das sich nach und nach formierende Neue aufgezeigt. Im nächsten Abschnitt wird die Figur des Helden definiert und das Verhältnis von Held und Gesellschaft erläutert. Es folgt ein kurzer Umriss der Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg. Er dient der Einordnung der Protagonisten der populären Fliegerliteratur in den Kontext des faktischen Krieges. Daraufhin wird verdeutlicht, dass sich der Sinn der aviatischen Heldennarrative aus einem semantischen Gegenentwurf zum Bodenkrieg ergab. Es war der Stellungskrieg, der den Fliegerhelden hervorbrachte. Die dynamischen und technisch versierten Helden kompensierten den Stillstand und das Opferheldentum in den Gräben und aktualisierten ein Bild des Krieges, das dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Zeitgenossen entsprach.
a. Die gesellschaftliche Konstruktion des Helden „It is a great subject, and a most grave and wide one, this which, not to be grave about it, I have named Hero-worship. It enters deeply, as I think, into the secret of Mankind’s ways and vitalest interests in the world, and is well worth explaining at present.“10 Diese Worte standen am Ende jener berühmt gewordenen Vorlesungen Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte des schottischen Historikers Thomas Carlyle (1795–1881) aus dem Jahr 1840, und sie sollen hier als Leitfaden zur Klärung des Heroischen dienen. Gerade weil für Carlyle das Heroische ein „großer“ Gegenstand war, eignet er sich zur Erläuterung der Figur des Helden. Es ist nämlich das historistische Verständnis der von den „großen Männern“ gemachten „Geschichte“, das auch der Heldenverehrung des Ersten Weltkrieges zugrunde lag. Dieses Heldentum, weiterhin ein gesellschaftlich wirkmächtiges Phänomen, bedarf einer Definition. Bevor also die konkreten Heldenbilder thematisiert werden, welche die populäre Luftkriegsliteratur verbreitete, werden die gesellschaftliche Funktion der Helden und das Verhältnis zwischen ihnen und ihren Verehrern geklärt. Erst wenn die gesellschaftliche Konstruktion des Heldentums und die Wirkungsweise der Heldennarrative deutlich geworden sind, kann die Tragweite der populären Fliegerbücher erfasst werden. 10
Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History. Notes and Introduction by Michael K. Goldberg, Berkeley, CA 1993 [Or. 1841], S. 208.
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In seinen Helden-Vorlesungen nahm Carlyle die „großen Männer“ in den Blick. Für ihn waren sie faktisch die Beweger der Geschichte und der Massen.11 Für Carlyle sind die von ihm glorifizierten „leaders of men“ tatsächlich Helden.12 Doch seine Einsichten in die Funktion des Heldentums bleiben auch dann gültig, wenn man den Helden als mediales Phänomen sowie gesellschaftliche Konstruktion und das Heroische als Zuschreibung begreift. Gerade dann wird ersichtlich, wie dem Helden die Rolle als „creator[ ] of whatsoever the general mass of men contrived to do or to attain“ zukam. Die von dem Historisten Carlyle beschriebenen „großen Männer“ stellen klassische Führerhelden dar, deren Heldentum „exklusiv“ ist, da es „von einer privilegierten politischen oder sozialen Position aus“ errungen wurde, die nicht jedem zugänglich ist.13 Der Opferheld hingegen, der mit den französischen Revolutionsheeren und der allgemeinen Wehrpflicht in den Freiheitskriegen an Bedeutung gewann und im Ersten Weltkrieg den Kult um die Führerhelden kompensierte, ist, so René Schilling, als Ausdruck der „langfristigen Demokratisierung des Toten- und Heldenkultes“ zu verstehen. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts wurde der Opferheld also zu einer den Führerhelden ergänzenden Figur.14 Obwohl zwischen diesen beiden Heldentypen große Unterschiede bestehen, fungieren sie beide als „Führer der Massen“ denen sie als Vorbild dienen. Helden, die Protagonisten von medial vermittelten Narrativen, personifizieren eine Ordnung. Diese Ordnung verinnerlichen die Heldenverehrer, indem sie sich des Helden als Leitbild bedienen. Laut Carlyle war es eine „divine relationship“, eine göttliche Beziehung, die den Helden mit dem „gemeinen“ Mann verband. Doch worin bestand diese „göttliche Beziehung“? Der König als Held stellte für den Puritaner Carlyle den Gipfel des Heldentums dar. Denn der Heldenkönig, Carlyle führte Cromwell und Napoleon als Beispiele an, war derjenige, „to whose will our wills are to be subordi11 Ebd., S. 3. Dort auch das folgende Zitat. Siehe zudem: Ute Frevert: Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hrsg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500– 2000, Wien 1998, S. 323–344. 12 Gerade am Beispiel Carlyles aber auch der Historisten insgesamt ließe sich, wie Hayden White dies bereits getan hat, die Frage nach der literarischen Natur der Geschichtsschreibung und nach der Verwandtschaft von Mythos und Geschichte, von den Helden der „Sage“ und den „großen Männern“ der Historiographie aufwerfen. Siehe hierzu u.a.: Hayden White: Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe, Baltimore, MD 1973 u. ders.: The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: Critical Inquiry 7/1980, S. 5–27. 13 Schilling: „Kriegshelden“, S. 25. Siehe zur Unterscheidung zwischen Führerheld und Opferheld: Ebd., S. 25–27 sowie Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. M. Gorkij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart u.a. 1993. Zum Opferhelden siehe insbesondere Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, insbes. S. 71–76. Behrenbeck (S. 65) liefert auch eine sehr nützliche allgemeine Definition des Helden. 14 Vgl. Schilling: „Kriegshelden“, S. 26. Siehe zudem: Michael Naumann: Strukturwandel des Heroismus. Vom sakralen zum revolutionären Heldentum, Königstein i.Ts. 1984, S. 41–107.
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nated, and loyally surrender themselves, and find their welfare in doing so […]. […] whatsoever of earthly or of spiritual dignity we can fancy to reside in a man, embodies itself here, to command over us, to furnish us with constant practical teaching, to tell us for the day and hour what we are to do.“15 Man unterwarf seinen eigenen Willen demjenigen des Helden und übernahm dadurch die von dem Helden verkörperten Werte und Ziele. Darin bestand und besteht die gesellschaftliche Funktion des Heldentums, die Carlyle trotz oder gerade aufgrund seiner eigenen historistischen Heldenverehrung erkannte. Der Held stellt der Gesellschaft, die ihn verehrt, praktische Lehren bereit. Und der Held „führt“ den Heldenverehrer, insofern er eine von Letzterem nachzuahmende Geschichte verkörpert. Das Heldennarrativ regt dazu an, die von dem Helden personifizierten Werte und Normen auf die eigene Lebensgeschichte zu übertragen. Die von Carlyle pathetisch beschriebene Unterwerfung des eigenen Willens unter den Willen des Helden lässt sich als Einschreibung des Helden in das ihn verehrende Subjekt fassen. Die Geschichte des Helden wird zur Vorlage des eigenen Lebens. Ihr werden die Muster und Bilder entnommen, die auf das Selbst angewendet werden. Diese rezeptive Tätigkeit des Heldenverehrers lässt sich, in Anlehnung an Foucault, als eine Art von „assujetissement“ beschreiben, als eine Subjektivierung im Sinne einer Unterwerfung also.16 Gleich den Erzählungen der christlichen Heiligen dient das Heldennarrativ als Matrix, in die das eigene Leben eingefügt wird, und als Maßstab, an dem das eigene Leben gemessen wird. Die von dem Heldenverehrer angestrebte 15 Carlyle: On Heroes, S. 169. Aus den Zeilen werden bereits die Gründe ersichtlich, weshalb die Faschisten Carlyle schätzten. In Kershaws Hitler-Biographie heißt es, Goebbels, der von Carlyles Biographie Friedrichs des Großen „ergriffen“ gewesen sei, habe im März 1945 Hitler das Werk geschenkt und ihm daraus vorgelesen: „Er las ihm die Stellen vor, die sich darauf bezogen, wie der König durch eine plötzliche und dramatische Wende des Schicksals für seine Unerschütterlichkeit angesichts wachsender Verzweiflung während des Siebenjährigen Krieges belohnt wurde. Hitlers Augen füllten sich mit Tränen.“ Ian Kershaw: Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 1011. Der amerikanische Historiker Jacob Salwyn Schapiro nannte Carlyle gar einen Propheten des Faschismus. Siehe: Jacob Salwyn Schapiro: Thomas Carlyle, Prophet of Fascism, in: JMH XVII/1945, S. 97–115. Auch Ernst Cassirer stellte einen Nexus zwischen Carlyle und der nationalsozialistischen Ideologie her. Seine Charakterisierung Carlyles ist für den hiesigen Zusammenhang von Bedeutung, denn Carlyle „wünschte die soziale und politische Ordnung zu stabilisieren, und er war überzeugt, dass er für eine solche Stabilisierung kein besseres Mittel empfehlen könne als Heldenverehrung. […] Für ihn war Heldenverehrung das älteste und stärkste Element im sozialen und kulturellen Leben des Menschen.“ Siehe Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 289 u. S. 246. 16 Siehe hierzu: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994 [repr.]. Der Osteuropa-Historiker Jochen Hellbeck hat in Anlehnung an Foucaults Konzept des „assujetissement“ gezeigt, wie sowjetische Tagebuchschreiber die Ideologie des Neuen Sowjetmenschen in ihr Leben einschrieben und damit die verordneten Transformationen ihres Selbst vornahmen. Hier wird von einer ähnlichen Prozedur ausgegangen, wobei die Heldennarrative, wie bereits erwähnt, eben die Vorlage zur Transformation des Selbst lieferten. Siehe Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA u.a. 2006.
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Angleichung an den Helden „diszipliniert“ ersteren. Indem der Heldenverehrer die imitatio heroica vollzieht, „dressiert“ er sich gewissermaßen selbst. Sobald also der Heldenverehrer sein Leben gemäß der ihm zur Verfügung gestellten Leitbilder zu verfassen sucht, wird die Heldenverehrung auch in der Praxis relevant. Insofern bildet der Held eine durchlässige Grenze zwischen realer Fiktion und fiktionaler Realität, zwischen Medien und Leben. Die „curious literariness of real life“, die Paul Fussell in den Schilderungen der Kriegsteilnehmer feststellte, gründet nicht zuletzt in der Wirkmächtigkeit der kursierenden Heldennarrative, denen sowohl Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, als auch Geschlechterrollen, Bilder des Krieges und Handlungsmaximen entnommen wurden.17 Der Held ist das Medium, durch welches sich die Ausrichtung des „real life“ an der Literatur vollzieht und durch welches sich die Literatur in reales Leben verwandelt. Doch der Held hat nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft und deren Handlungen, er ist auch eine gesellschaftliche Konstruktion. Er ist Faktor, aber auch Indikator, denn der Held ist stets eine Projektionsfläche, auf der sowohl die Werte und Normen der ihn verehrenden Gesellschaft in Erscheinung treten als auch deren Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Als personifiziertes Tugendideal verweist der Held also auf die Gesellschaft, der er entstammt. Daher gestattet seine Dekonstruktion auch Rückschlüsse auf das Kollektiv, das ihn hervorgebracht hat. Doch wie lässt sich das Verhältnis von Held und Gesellschaft oder von Held und Heldenverehrern fassen, wie lässt sich die von Carlyle als „göttliche“ bezeichnete Beziehung verstehen? Jenes von Carlyle in seinen Helden-Vorlesungen gehuldigte Phänomen lässt sich mit Max Webers Charismabegriff erschließen, den Letzterer über ein halbes Jahrhundert nach Carlyle unter dem Eindruck des Weltkrieges auf eine Form der Herrschaft anwandte.18 Helden weisen für Weber jedenfalls eine als „außeralltäglich […] geltende Qualität“ auf, „um derentwillen sie als mit übernatürlich oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet [werden].“19 Der Begriff des Charismas verdeutlicht die Grundlage der Beziehung zwischen Heldenfigur und ihren Verehrern. Während in Carlyles Vorstellung die 17
Fussell: The Great War and Modern Memory, S. IX. Das Konzept der „charismatischen Herrschaft“ wird in Wirtschaft und Gesellschaft aus dem Jahr 1922 ausgeführt. Der Begriff des Charismas findet sich indes laut Joachim Radkau bei Weber erstmals in einem Brief an Dora Jellinek vom 9.6.1910, bezogen auf Stefan George. Die „Lehre vom Charisma“ sei seit circa 1913 präsent. Vgl. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München u.a. 2005, S. 600–613. 19 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe der MWG hrsg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Köln 1964, S. 179. Siehe zudem: Stefan Breuer: Das Charisma der Nation, in: Ders.: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 110–143 sowie ders.: Das Charisma des Führers, in: Ebd., S. 144–175. 18
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„großen Männer“ tatsächlich über diese göttliche „Gnadengabe“ zu verfügen scheinen, der Held also eine „transzendente“ Grundlage besitzt, wird Charisma hier als diskursiv erzeugte, wirkmächtige soziale Zuschreibung und Funktion verstanden, mit deren Hilfe sich das Verhältnis von Helden und Heldenverehrern beschreiben lässt. Dass der Held seine charismatische Wirkung auf der Grundlage einer Zuschreibung durch die Heldenverehrer entfalten kann, bedeutet allerdings nicht, dass der Held über keinerlei „außeralltägliche“ Begabung verfüge. Tatsächlich zeichneten sich die Kriegshelden, deren Narrative hier im Mittelpunkt stehen, durch besondere militärische Leistungen aus. Doch zur Grundlage eines Heldentums wird diese Begabung erst durch den Kontext, in dem sie steht, und durch die Projektionen der Verehrer, die diesen Leistungen einen Sinn verleihen. Es ist nicht zuletzt die aufgrund der Dauerpräsenz des Todes im Krieg hervorgerufene Grenzerfahrung, welche charismatische Verhältnisse begünstigt.20 So heißt es bei Weber: „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden […] aus, welcher die Religionen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben. Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist. Die Gemeinschaft des im Felde stehenden Heeres fühlt sich heute, wie in den Zeiten der Gefolgschaft, als eine Gemeinschaft bis zum Tode: die größte ihrer Art. Und von jenem Sterben, welches gemeines Menschenlos ist und gar nichts weiter […] – von diesem lediglich unvermeidlichen Sterben scheidet sich der Tod im Felde dadurch, daß hier, und in dieser Massenhaftigkeit nur hier, der Einzelne zu wissen glauben kann: daß er ‚für‘ etwas stirbt. […] Und gerade die Außeralltäglichkeit der Kriegsbrüderlichkeit und des Kriegstodes, welche er mit dem heiligen Charisma und dem Erlebnis der Gottesgemeinschaft teilt, steigert die Konkurrenz auf die äußerst mögliche Höhe.“21
Die Passage stammt aus dem Jahr 1916. Sie ließe sich also zugleich als Quelle und nicht nur als soziologische Sekundärliteratur lesen. Es ist in dieser Arbeit jedoch weder möglich, eine angemessene Weber-Exegese zu leisten und den Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem weberschen Denken aufzuweisen, noch ist es notwendig, den von Weber anvisierten Zusammenhang von Charisma, Religionsgemeinschaften und politischer Herrschaft auszuführen.22 Für die Analyse der populären Kriegsliteratur gilt es 20
Vgl. Breuer: Das Charisma der Nation, S. 142. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920. MWG, Abt. I Schriften und Reden, Bd. 19, hrsg. v. Helwig SchmidtGlintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen 1989, S. 492f. 22 Bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Heldenverehrung, die hier im Zentrum des Interesses steht, und der charismatischen Herrschaft, die im Mittelpunkt von Webers Ausführungen stand, muss es genügen, die Heldenverehrung als eine Vorbedingung der Etablierung einer „charismatischen“ Herrschaft darzustellen. Zum Charisma, dem Erfolg des Mussolini- und Hitler-Kultes und der Etablierung der charismatischen Herrschaft siehe u.a.: Gentile: Il culto del littorio, S. 235–265; Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, München 20032; Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des 21
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aber festzuhalten, dass der Held als Verkörperung und Medium jenes oben zitierten Glaubens an das „für etwas Sterben“ fungiert. Der Fliegerheld, der meist Führerheld und Opferheld, Heiliger und Märtyrer zugleich ist, verkörpert diesen Glauben und verleiht dem Kriegstod und -leid einen Sinn. Von zentraler Bedeutung für die Etablierung eines charismatischen Verhältnisses zwischen der Heldenfigur und den Heldenverehrern ist jedenfalls die „existentielle[ ] Krise, die alle herkömmlichen Vorstellungen sprengt.“23 Die auch als Orientierungskrise zu verstehende, existenzielle Krise steigert die gesellschaftliche Disposition zur Heldenverehrung. Der Erste Weltkrieg war eine solche existentielle Krise, die zudem als „Transzendenzgenerator“ par excellence wirkte.24 Nicht nur der allgegenwärtige Tod, sondern auch die Diskreditierung des rationalistischen Weltbildes führten, wie in Kapitel I.1 bereits verdeutlicht wurde, zu einem Wiedererstarken jener vom Vernunftglauben nur oberflächlich überdeckten und zugleich weitertransportierten, vermeintlich atavistischen Dispositionen zum Magischen, Übernatürlichen und Transzendenten. Der charismatische Held ist wie der christliche Heilige Vermittler zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen.25 Und er muss, wie es bei Weber heißt, „Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will. […] Die, je nachdem, mehr aktive oder mehr passive rein faktische ‚Anerkennung‘ seiner persönlichen Mission durch die Beherrschten […] hat ihre Quelle in gläubiger Hingabe an das Außerordentliche und Unerhörte, aller Regel und Tradition Fremde und deshalb als göttlich Angesehene, wie sie aus Not und Begeisterung geboren wird.“26 Unabhängig von der Zuschreibung übernatürlicher Ursachen des Charismas gibt es eine „reale“ Grundlage der „gläubigen Hingabe“ und Verehrung des Helden. Wie bereits erwähnt, erbrachten die Fliegerhelden kriegerische Leistungen, die bewundert wurden. Doch, so Sabine Behrenbeck, „die größte und bewundernswerteste Leistung des Helden besteht darin, sein Leben für die gute Sache (das Gemeinwohl) zu wagen und notfalls auch zu opfern. Nur durch die Bereitschaft zu diesem letzten, bedingungslosen Einsatz wird deutlich, wie hoch der Wert der
Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt/M. 1984, S. 114–130 sowie Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 552ff. 23 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 553. 24 Zum Begriff des „Transzendenzgenerators“ siehe: Justin Stagl: Immanenz und Transzendenz – ethnologisch, in: Jan Assmann/Rolf Trauzettel (Hrsg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg u.a. 2002, S. 562–574. 25 Zum charismatischen Heldentum siehe auch Schilling: „Kriegshelden“, S. 186ff. u. S. 283ff. 26 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 4: Herrschaft, MWG, Abt. I Schriften und Reden, Bd. 22-4, hrsg. v. Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll, Tübingen 2005, S. 466f.
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guten Sache (resp. die Existenz der Gruppe, der Erhalt ihrer Ordnung) einzuschätzen ist, nämlich höher als das persönliche Wohlergehen und Weiterleben.“27
An dieser Stelle sei erneut an die dieser Untersuchung zugrundeliegende Mythosdefinition erinnert, denn sie vermag die gesellschaftlich-relevante Funktion des Helden zu erhellen. Die Leistung des Mythos, dessen Protagonist häufig der Held ist, ist normativer Natur.28 Durch den Einsatz seines Lebens und/oder seinen Tod begründet der Held die herrschenden Normen und Werte, legitimiert das In-den-Krieg-Ziehen und heiligt den Kriegstod für das Vaterland.29 Sein Opfer, im Sinne des sacrificium, bestätigt jenen obersten Wert oder jene „Gottheit“, welche wiederum die Bräuche und Tugenden legitimiert und dem das Opfer dargebracht wurde. Es ist der Einsatz des eigenen Lebens im Krieg, der „begründet“ wird, aber auch dasjenige, wofür gekämpft wird. Der Held beglaubigt das Sterben für die Gemeinschaft und die Gültigkeit von Horazens Diktum dulce et decorum est pro patria mori. Indem er durch sein Vorbild die Sinnhaftigkeit des „Für-etwas-Sterbens“ vermittelt, dient der Held der Orientierung und Handlungsanleitung. Er legitimiert sowohl die Taten im Krieg als auch das passiv zu erduldende Geschehen. Bei Mircea Eliade heißt es: „Das menschliche Leben wird sinnvoll, indem es die paradigmatischen Modelle, wie sie von übernatürlichen Wesen dargestellt werden, nachahmt. Die Nachahmung übermenschlicher Beispiele stellt eines der Hauptcharakteristika des ‚religiösen Lebens‘ dar, ein strukturelles Charakteristikum […]. Von den ältesten religiösen Dokumenten, die uns zugänglich sind, bis zu Christentum und Islam war die imitatio dei als Norm und Leitlinie der menschlichen Existenz niemals unterbrochen.“30
Die imitatio heroica diente dem gleichen Zweck und half, den allgegenwärtigen Tod in das eigene Leben zu integrieren. Denn in den Heldennarrativen erscheint der Tod nicht nur als nicht vergeblich. Vielmehr transzendiert der Held durch seinen Tod die konkrete, profane Zeit und tritt ein in die sakrale Zeit. Dieser temporale Aspekt weist erneut auf die mythische Dimension der Heldennarrative zurück: „Der siegreiche Held empfängt den Dank und die Verehrung der Geretteten. Gab er bei der Rettungsaktion sein Leben und trug dadurch zur siegreichen Entscheidung im Kampf gegen das Unheil oder den Feind bei (bzw. besiegelte die Gültigkeit des Moralkodex mit seinem Blut), so wird ihm im Gedächtnis der Gemeinschaft eine andauernde, rühmende Erinnerung zuteil. Darin besteht die Unsterblichkeit des Helden. […] So wird der mythische Held zum Heilsbringer, der über den Tod hinaus wirkt und die profane Zeit aufhebt: er hat
27
Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 66. Frank: Gott im Exil, S. 16f. 29 Vgl. auch für das Folgende: Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 65f. u. S. 71f. sowie Latzel: Vom Sterben im Krieg. 30 Mircea Eliade: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Wien 1973, S. 10. Vgl. hierzu Naumann: Strukturwandel des Heroismus, S. 10. 28
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den Tod überwunden bzw. ist vom Tod auferstanden. […] Der Mythos deutet den Tod des Helden als Wechsel der Existenzweise, die Transformation macht ihn erträglich.“31
Es ist festzuhalten, dass die zentrale Funktion der Heldennarrative darin besteht, dem Handeln ein Ziel sowie dem Leiden, Krieg und Tod einen Sinn zu verleihen, der die profane Zeit überwindet. Der Tod des Helden verleiht ihm ewiges Leben in der Erinnerung und sichert zudem das eigentliche Leben der Nation oder des Volkes. So hieß es in der bereits zitierten Langemarck-Rede Die Wiedergeburt des heroischen Menschen des konservativen Revolutionärs Hans Schwarz aus dem Jahr 1928: „Ein Totentanz von Jünglingen trat damals aus der zeitbedingten Schilderung des Chronisten zur ewigen Jugend hinüber, die zum mythischen Vermögen aller Völker gehört. […] [D]er Abschluss des Krieges hat die Herzen verbittert, und viele halten ihn für den letzten Spruch der Geschichte. […] Man kann die Vergangenheit zu einem Sarge machen, weil sie uns alles Leben vorweggenommen hat – aber man kann auch die Steine mit ihr bewegen und die Gegenwart auseinanderreißen! Das hängt von unserer Stellung zum Tode ab. Wo die Toten kein Recht mehr haben, verlieren es auch die Lebenden und ihre beste Gegenwart sinkt zuletzt zu den Fischen herab. Wo aber die Toten mitten unter uns vom Leben umfangen sind, da beginnt jene Glut zu glauben, die Mythen schafft. Sie zeugen in die Zukunft und rufen zur Freiheit auf, und keine Geschichte kann so voll Angriff sein! Sie schmücken die Gesichter der Ahnen mit Zügen, die erst die Enkel tragen werden, und sie verjüngen die Völker durch jenen Schwung, der über Niederlagen der Geschichten auch einmal wie mit Flügeln hinwegtragen kann.“32
Die Helden traten aus der Geschichte heraus in eine ewige Zeit. Als der Krieg verloren war, schien es, als sei ihr Opfer umsonst gewesen. Daher galt es, die zur Niederlage führende Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart zu zerstören und jene ewigen Ideale zu erneuern, für welche die Helden gestorben waren. Die Toten verbanden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nahmen durch ihre Taten letztere vorweg. Die aviatischen Heldennarrative sorgten für „jenen Schwung“, „der über Niederlagen der Geschichte auch einmal wie mit Flügeln hinwegtragen kann“. Sie popularisierten eine mythische Ordnung, die auf der Nation gründete, und schrieben sie in den Alltag der Menschen ein. Bevor auf die Heldennarrative selbst eingegangen wird, umreißt der nächste Abschnitt den faktischen Kontext, in dem sie verankert sind.
31 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 67. Siehe auch Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 68f.: „Tod, lehrt er [der Mythos], bedeutet nicht Auslöschung des menschlichen Lebens; er bedeutet nur einen Wechsel in der Lebensform. […] Im mythischen Denken wird das Mysterium des Todes ‚in ein Bild gewandelt‘ – und durch diese Transformation hört der Tod auf, eine harte und unerträgliche Naturtatsache zu sein; er wird verständlich und erträglich.“ 32 Schwarz: Die Wiedergeburt des heroischen Menschen, S. 6f.
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b. Das Auge des Heeres Ein kurzer Umriss des Luftkrieges 1914–1918 „Und neben den Luftriesen entwickelten sich die fast einem Vogel gleichenden Flugzeuge zu einer Waffe, deren Wichtigkeit noch vor fünf Jahren kaum jemand ahnte. […] Die Art der Verwendung der Luftflotte war lange ein noch ungelöstes Rätsel. […] Der Krieg hat uns gezeigt, daß wir im Flugzeug ein außerordentliches Mittel besitzen, um Gelände […] auszukundschaften. […] Aber nicht nur zur Erkundung, auch für den Kampf sind die Flugzeuge zu brauchen. Wir lesen fast täglich, daß unsere Flieger über feindlichen Städten und Verteidigungsanlagen erscheinen und Bomben herabwerfen. Wir lesen aber auch, wie sich Kämpfe zwischen Fliegern in der Luft abspielen, die sich herumjagen und aufeinander schießen mit allerdings meist negativem Erfolg.“33
So lautete die treffende Wiedergabe der Entwicklung der Luftstreitkräfte bis in das Jahr 1915 hinein, die in der 7. Kriegsnummer der vom Deutschen Luftflottenverein e.V. herausgegebenen Zeitschrift Die Luftflotte zu lesen stand. Im Folgenden werden der Verlauf des Luftkrieges und die Entwicklung der Luftstreitkräfte kurz dargelegt.34 Die deutschen Luftstreitkräfte und insbesondere die Jagdflieger an der Westfront stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, da sie auch im Zentrum der in diesem Kapitel analysierten populären Kriegsliteratur standen, die nun weiter kontextualisiert wird.35
33
Anonymus: Über unsere Luftflotte, in: Die Luftflotte, VII/1915, Nr. 2, S. 10–11, S. 10f. Während kein Mangel an populären Darstellungen des Luftkrieges 1914–1918 herrscht, sind kritische Arbeiten selten. Folgende sind hervorzuheben: Lee Kennett: The First Air War. 1914–1918, New York, NY u.a. 1991; John H. Morrow Jr.: German Air Power in World War I, Lincoln, NE u.a. 1982; ders.: The Great War in the Air. Military Aviation from 1909 to 1921, Washington D.C. u.a. 1993; ders.: Knights of the Sky; Harald Potempa: Die Königlich-Bayerische Fliegertruppe 1914–1918, Frankfurt/M. 1997. Siehe trotz der ideologischen Färbung auch: Olaf Groehler: Geschichte des Luftkrieges 1910 bis 1970, Berlin 1970². Die kurz nach dem Weltkrieg entstandenen Bücher von Ernst von Hoeppner, ehemaliger kommandierender General der Luftstreitkräfte, und insbesondere jenes von Georg Paul Neumann, Leiter der Luftfahrerschule Berlin-Adlershof und ehemaliger Adjutant der Inspektion der Fliegertruppen, sind, bei kritischer Lektüre, hinsichtlich der Fakten und des Kriegsverlaufs informativ. Sie haben ohnehin Eingang in zahlreiche weitere Arbeiten zum Luftkrieg gefunden: Ernst von Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft. Ein Rückblick auf die Entwicklung und die Leistungen unserer Heeres-Luftstreitkräfte im Weltkriege, Leipzig 1921 sowie Georg Paul Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege. Unter Mitwirkung von 20 Offizieren und Beamten der Heeres- und MarineLuftfahrt, Berlin 1920. 35 Auch der Luftkrieg war global und fand an allen Fronten des Ersten Weltkrieges statt, doch wie im Falle des Bodenkrieges prägte die Westfront auch die Wahrnehmung des Luftkrieges. Hier war auch die Masse der Truppen eingesetzt und hier fanden die meisten Luftkämpfe statt. Die Haupttätigkeit der Luftstreitkräfte bestand auch an der Ostfront in der Aufklärung, die allerdings durch die Weite des Raums erheblich erschwert wurde. Auch Luftkämpfe waren daher weit weniger häufig. Laut Kennett wurden von den 7 425 Luftsiegen der Deutschen nur 358 an der Ostfront errungen. Deutsche Luftstreitkräfte waren auch auf dem Balkan, in der Türkei, im Nahen Osten und im Seekrieg insbesondere als Aufklärungsmittel aktiv. Siehe: Kennett: The First Air War, S. 175–206. 34
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Die Luftstreitkräfte stellten einen integralen Teil des arbeitsteiligen, technisierten,36 industrialisierten und sich totalisierenden37 Krieges dar. 1914 waren sie indes, so Georg Paul Neumann 1920, „noch ein unbekannter Begriff!“38 Aus der skeptisch beäugten Fliegertruppe, die aus „den kümmerlichen Ansätzen eines deutschen Flugsportes im Jahre 1909“ ihren Anfang nahm, sollte jedoch eine die Kriegsführung im 20. Jahrhundert revolutionierende Waffengattung hervorgehen. Dieser Entwicklung standen im Deutschen Reich zunächst die Luftschiffe im Wege, die eine eindeutige Schwerpunktverlagerung der Ausgaben zugunsten der Flugzeuge verhinderten.39 Die endgültige Entscheidung für das Flugzeug sollte erst während des Krieges fallen und so standen dem Deutschen Reich im August 1914 neben 13 Luftschiffen noch etwa 218 bis 250 einsatzfähige Flugzeuge zur Verfügung.40 ÖsterreichUngarn besaß weitere 48 Flugmaschinen. Die Ententemächte hingegen verfügten über etwa 500 Flugzeuge, darunter 244 russische, die allerdings nur teilweise fronttauglich waren.41 Die numerische Unterlegenheit der Mittelmächte sollte für die gesamte Dauer des Krieges erhalten bleiben.42 36 Zum Nexus von Krieg und Technik im Ersten Weltkrieg siehe: Mary R. Habeck: Die Technik im Ersten Weltkrieg – von unten gesehen, in: Dies./Jay Winter/Geoffrey Parker (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 101–132; Kehrt, Moderne Krieger; Dennis E. Showalter: Mass Warfare and the Impact of Technology, in: Roger Chickering/Stig Förster (Hrsg.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918, New York, NY u.a. 2000, S. 73–93; Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“, 17.5.–23.8.1998, Katalog, Bramsche 1998; Peter Wilding: Krieg – Technik – Moderne. Die Eskalation der Gewalt im „Ingenieur-Krieg“. Zur Technisierung des Ersten Weltkrieges, in: Petra Ernst/Sabine A. Haring/Werner Suppanz (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, S. 163–186. Zu den „technischen Helden“ im Ersten Weltkrieg siehe: Schilling: „Kriegshelden“, S. 252–288. 37 Siehe: Roger Chickering/Stig Förster (Hrsg.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918, New York, NY u.a. 2000; Stig Förster (Hrsg.): An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939, Paderborn u.a. 2002 sowie ders.: Das Zeitalter des totalen Krieges, 1861– 1945. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich, in Mittelweg 36 8/1999, S. 12–29. 38 Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 3. Dort (S. 58) auch das folgende Zitat. 39 Zu den Luftschiffen siehe: Wolfgang König: Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn u.a. 2007, S. 68–83; Syon: Zeppelin! sowie Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 9–58. Zu dem Aufbau der Luftstreitkräfte vor dem Krieg und den Schwerpunktsetzungen der Ausgaben des Kriegsministeriums siehe: Morrow: The Great War in the Air, S. 17ff. sowie ders.: German Air Power in World War I, S. 3–13. 40 Vgl. Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 19. 41 Vgl. Morrow: The Great War in the Air, S. 81ff. 42 Bis zum 1.1.1919 wurden zwar 47 637 Flugzeuge und 40 449 Flugmotoren an die deutschen Luftstreitkräfte geliefert. Im gleichen Zeitraum baute die französische Flugzeugindustrie jedoch 67 982, die britische etwa 50 000, die italienische 12 031 und die amerikanische zwischen 11 227 und 13 840 Flugzeuge. Die Zahlen verdeutlichen, welch ungeheure Entwicklung die Luftstreitkräfte während des Krieges durchliefen. Alle Angaben, auch die folgenden zu den Verlusten, aus: Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege,
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Bestand im August 1914 das fliegende Personal der deutschen Streitkräfte aus etwa 500 Mann, so befanden sich 1918 um die 5 000 an der Front. Zeugen diese Zahlen einerseits von der gewaltigen Expansion der Luftstreitkräfte, belegen sie andererseits die, angesichts ihrer medialen Präsenz, numerische Bedeutungslosigkeit dieser Streitmacht: Das Königreich Italien beendete den Krieg mit 2 000 Fliegern, die Bodentruppen umfassten 3,5 Millionen Mann.43 Die Verlustzahlen ergeben ein ähnliches Bild. In den Jahren 1914 bis 1918 starben etwa 6 840 deutsche Flieger, weitere 1 371 wurden vermisst.44 Betrachtet man die Verlustzahlen der Flieger näher, wird ein weiterer Aspekt deutlich. Unter den 6 840 toten deutschen Fliegern befanden sich 1 962, die im Heimatdienst bei Schulflügen und Unfällen ums Leben gekommen waren. Weitere 1 859 wurden bei Schul- und Heimatflügen verletzt.45 Die Unfallstatistik führt vor Augen, wie unausgereift die Technik noch war und welche Gefahren die Fliegerei selbst ohne feindlichen Beschuss noch barg. „Die Flugzeugarten“, so schrieb Oberstleutnant a.D. und Inspekteur der Fliegertruppen Wilhelm Siegert, „die bei uns bei Kriegsbeginn zur Verfügung standen, glichen dem Archäopterix im Saurierzeitalter oder, um einen modernen Vergleich zu gebrauchen, fliegenden Drahthindernissen.“46 Doch der Wandel des Einsatzes der Luftstreitkräfte und die sich daraus ergebenden gestiegenen Anforderungen an das Fluggerät führten während des Krieges zu einer zumindest technischen Erfolgsgeschichte: „Die Motorenstärke wurde im normalen Aufklärungsflugzeug verdreifacht, im Großflugzeug verfünffacht […]. Die Eigengeschwindigkeit stieg [von 70 bis 80 km] auf 150 bis 160 km, bei besonders hochgezüchteten Typen auf 200 km in der Stunde.“ Die anfänglich übliche Flughöhe von 800 m wurde auf bis zu circa 7 000 m gesteigert. Einen ebenso beachtlichen Ausbau erfuhren die industriellen Kapazitäten. Vermochte die deutsche Luftfahrtindustrie im Sommer und Herbst 1914, monatlich circa 50 bis 60 Flugzeuge zu liefern, so gelang ihr im OktoS. 586. Ergänzt wurden die fehlenden Angaben mit Hilfe jener Groehlers und Morrows. Groehler beziffert die deutsche Gesamtproduktion auf 47 831 produzierte Flugzeuge, für die Ententemächte errechnet er 138 685. Laut Morrow standen den deutschen Streitkräften zwischen 45 704 und 47 931 Flugzeuge zur Verfügung. Siehe: Groehler: Geschichte des Luftkrieges, S. 51 u. S. 58. Morrow: German Air Power in World War I, S. 202. Siehe zudem Sönke Neitzel: Zum strategischen Mißerfolg verdammt? Die deutschen Luftstreitkräfte in beiden Weltkriegen, in: Bruno Thoß/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn u.a. 2002, S. 167–192. Zur Luftfahrtindustrie siehe zudem: Martin Bach: Luftfahrtindustrie im Ersten Weltkrieg. Mobilisierung und Demobilisierung der britischen und deutschen Luftfahrtindustrie im Ersten Weltkrieg, Allershausen 2003. 43 Siehe Kennett: The First Air War, S. 83ff. 44 Insgesamt hatte das Deutsche Reich 8 % aller wehrfähigen Männer, 2 037 000 Soldaten, verloren, hinzu kamen weitere 700 000 zivile Todesfälle. In Italien starb eine ähnliche Anzahl von Zivilisten und man beklagte den Tod von circa 460 000 Soldaten. Siehe Rüdiger Overmans: Kriegsverluste, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u.a 2003, S. 663–666. 45 Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 586. 46 Ebd., S. 114. Dort (S. 114f.) auch das folgende Zitat.
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ber 1918 der Ausstoß von 2 195 Flugzeugen und 1 915 Flugmotoren.47 Die italienische Industrie produzierte insgesamt circa 12 000 Flugzeuge und erreichte im Jahr 1918 einen monatlichen Ausstoß von etwa 541 Luftfahrzeugen.48 Zu Beginn des Krieges war indes noch unklar, wozu die Luftstreitkräfte überhaupt zu gebrauchen seien, ja die militärische Führung misstraute sogar „der Ausführlichkeit […] [der] Meldungen [der Luftaufklärung] und wartete gern auf eine Bestätigung durch andere Erkundungsmittel.“49 Als jedoch nach der Marneschlacht und dem „Wettlauf zum Meer“ die Front im Herbst 1914 erstarrte, waren die Generäle auf das Flugzeug als Aufklärungsmittel angewiesen, und mit dem Beginn des Stellungskrieges erweiterten sich der Aufgabenbereich der Luftstreitkräfte und somit auch die an Mensch und Maschine gestellten Anforderungen. Zur strategischen und operativen Aufklärung kamen die taktische Erkundung und Nahaufklärung als weitere Aufgaben hinzu. Es galt, den Frontraum auszuspähen, die Lage von Artilleriestellungen, Munitionsdepots und Truppenlagern zu erkunden und weiterhin die Bewegungen des Gegners auf Schienenwegen und Straßen zu überwachen. Zudem wurden Front und Hinterland aus der Luft photographiert. Wachsende Bedeutung kam zudem den Artilleriebeobachtern zu, welche die Artillerie beim Einschießen unterstützten. Das Jahr 1915 brachte bereits zahlreiche entscheidende Neuerungen, die den Luftkrieg revolutionieren sollten.50 Waren die Flieger bisher höchstens mit Pistolen, Karabinern oder Schnellfeuergewehren bewaffnet gewesen, so tauchten im Frühjahr 1915 französische Flugzeuge an der Front auf, die ein starr angebrachtes, parallel zur Längsachse des Flugzeuges feuerndes Maschinengewehr besaßen. Diese Innovation gilt als die Geburtsstunde des Fliegerasses,51 dessen Erfolg auf deutscher Seite erheblich gesteigert wurde, als es dem holländischen Flugzeugbauer Anthony Fokker gelang, Maschinengewehr und Motor zu synchronisieren. Hatten die Deutschen bereits im Frühjahr 1915 durch die Ernennung des Chefs des Feldflugwesens eine einheitlichere und effizientere Koordination ihrer Luftstreitkräfte erzielt, so vermochten sie im zweiten Halbjahr 1915 durch die Auslieferung des FokkerEinsitzers und der Ausstattung der Fliegerabteilungen mit bewaffneten CFlugzeugen, ihre bisherige Unterlegenheit zu überwinden.52
47
Morrow: German Air Power in World War I, S. 138 u. S. 204f. Siehe: Andrea Curami: I primi passi dell’industria aeronautica italiana, in: Paolo Ferrari (Hrsg.): La grande guerra aerea 1915–1918. Battaglie – industrie – bombardamenti – assi – aeroporti, Valdagno 1994, S. 97–139, S. 98. 49 Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft, S. 8. 50 Zum vorgesehenen Einsatz und zur Taktik im Jahr 1915 vgl. auch: BayHSt-KA, Iluft 34, Entwurf zu einer Anleitung über den Kampf mit Flugzeugen vom 1.10.1915. 51 Siehe Wohl: A Passion for Wings, S. 203–210. 52 Vgl. Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft, S. 42. 48
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Als das Königreich Italien am 23. Mai 1915 der k.u.k. Monarchie den Krieg erklärte – die Kriegserklärung an das Deutsche Reich erfolgte erst im August 1916 – verfügte es über 58 Flugzeuge.53 Die italienische Luftfahrtindustrie war im Vergleich zur deutschen oder französischen von vernachlässigbarer Größe und produzierte zunächst, nebst den eigenen Caproni-Bombern, hauptsächlich französische Flugzeugmuster unter Lizenz. Dabei hatte Italien bereits 1911 einen Flugzeugverband im Italienisch-Türkischen Krieg eingesetzt und sowohl mit der Luftphotographie als auch mit dem Bombardement mit Fliegerpfeilen schon Erfahrungen gesammelt. Wie ihre Gegenparts wurden die italienischen Luftstreitkräfte im Jahr 1915 hauptsächlich zur Aufklärung eingesetzt. Außer den bereits geschilderten Taten Gabriele D’Annunzios, waren es die Eigenheiten des Gebirgskrieges und der besondere Stellenwert, der den Bombern Gianni Capronis zukam, die den italienischen Luftkriegsschauplatz auszeichneten.54 Trotz der vier vom Generalstabschef Cadorna 1915 eingeleiteten Isonzoschlachten verzeichnete der italienische Abschlussbericht des Jahres 1915 nur sieben Luftkämpfe, 41 Luftbildaufträge und 28 Fliegerpfeilabwürfe.55 Doch im folgenden Jahr sollte der Luftkrieg über den Alpen und dem Karst ebenso wie an den anderen Fronten ausgeweitet werden. Auf die anfängliche Phase der Improvisation folgten allerorts eine zunehmende Spezialisierung der Flugzeuge und ihrer Führer und eine insgesamt planmäßigere Verwendung der Luftstreitkräfte. Man unterschied nunmehr zwischen Fern- und Nahaufklärern, Artillerie-, Infanterie-, Schlacht- und Jagdfliegern sowie Bombenflugzeugen, und es bildeten sich nebst besonderen Flugzeuggattungen und -typen auch entsprechende Verwendungsgrundsätze und Taktiken heraus. Zudem hatte sich immer deutlicher abgezeichnet, dass die Industrialisierung der Flugzeugherstellung vorangetrieben und staatlich organisiert werden müsse, damit die Produktion der notwendigen Anzahl an Luftfahrzeugen gelinge. Neben der Ausweitung der Aufklärungstätigkeit, die bis zum Ende des Krieges die zentrale Aufgabe der Luftstreitkräfte bilden sollte, war vor allem die Heraufkunft des Jagdfliegers von Bedeutung. Dieser Typus bildete den 53
Zum Aufbau der italienischen Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg, sowie zum Verlauf des Luftkrieges an der italienischen Front siehe: Alessandro Massignani: La guerra aerea sul fronte italiano, in: Paolo Ferrari (Hrsg.): La grande guerra aerea 1915–1918. Battaglie – industrie – bombardamenti – assi – aeroporti, Valdagno 1994, S. 17–55; Alessandro Fraschetti: La prima organizzazione dell’aeronautica militare in Italia dal 1884 al 1925, Rom 1986, S. 41–84; Alessandro Massignani: La grande guerra: un bilancio complessivo, in: Paolo Ferrari (Hrsg.): L’Aeronautica italiana. Una storia del Novecento, Mailand 2004, S. 267–299 sowie Morrow: The Great War in the Air. Für eine ausführliche Bibliographie zur italienischen militärischen Luftfahrt siehe: Andrea Curami: L’Aeronautica italiana dalle origini ai giorni nostri, in: Piero Del Negro (Hrsg.): Guida alla storia militare italiana, Neapel 1997, S. 191–209. 54 Caproni verdankte dies nicht zuletzt der Förderung durch den Luftkriegstheoretiker Giulio Douhet. 55 Vgl. Massignani: La guerra aerea sul fronte italiano, S. 28.
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hauptsächlichen Gegenstand der hier analysierten Kriegsliteratur, da es „in der Natur der Sache“ lag, so Georg Paul Neumann, dass Einzelleistungen „auf den zahlreichen übrigen Aufgabengebieten […] nicht in dem Maße hervortraten und der Allgemeinheit bekannt wurden wie gerade die Tätigkeit der Jagdflugzeuge. Es fehlte dort jener romantische Zug, jenes Eigene, das wie ein Klang aus längst versunkener ritterlicher Zeit von den Heldenkämpfen in einsamer Höhe zu uns herüber drang und, wenn auch unbewusst vielleicht, vom deutschen Gemüt doppelt dankbar empfunden wurde und noch heute empfunden wird in seinem herzerfrischenden Gegensatz zu dem Erleben unserer Tage, das mit Romantik und Rittertum verzweifelt wenig gemein hat.“56
In der Tat sollten der Stellungskrieg, der im Übrigen auch in der Luft geführt wurde, und die großen Materialschlachten die Popularität der Jagdflieger begünstigen. Auf den Schlachtfeldern von Verdun und der Somme wurden nicht nur Artillerie, Munition und Truppen zusammengezogen, sondern erstmals auch die Luftstreitkräfte massiert und gezielt eingesetzt.57 Bei Verdun, wo die 5. Armee am 21. Februar 1916 die Schlacht mit dem Feuer aus 1 220 Geschützrohren einleitete, waren, „12 Fliegerabteilungen, vier Kampfgeschwader und 30–40 Kampfeinsitzer“ aufgestellt worden.58 Deren vornehmliches Ziel blieb es, den Gegner und das Gelände auszukundschaften sowie die eigenen Angriffsvorbereitungen durch die Errichtung einer wenig wirksamen Luftsperre zu verschleiern. Zwar gelang es den Deutschen anfänglich, die Luftüberlegenheit zu erringen, doch bis Mai hatte sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Franzosen verschoben. Diese verfügten nicht nur über ein neues, den deutschen Maschinen in vielerlei Hinsicht überlegenes Flugzeug, die Nieuport, sie hatten zudem eine erfolgversprechende neue Taktik entwickelt. Jagdflugzeuge wurden nicht mehr allein zum Schutze der Aufklärungsflugzeuge eingesetzt, sondern wurden zu einer in Kette fliegenden groupe de combat zusammengefasst, deren Auftrag es war, die gegnerischen Luftstreitkräfte offensiv zu bekämpfen. Erst an der Somme sollten die Deutschen unter der Anleitung Oswald Boelckes mit der Bildung von Jagdstaffeln nachziehen.59 Die Sommeschlacht wurde, wie Wilhelm Siegert schrieb, zur „hohen Schule des Flugwesens und beeinflusste entscheidend sowohl seine organi-
56
Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 452. Zu den Schlachten von Verdun und an der Somme siehe: John Keegan: The First World War, New York, NY 1999, S. 278–286 u. S. 286–299 sowie David Stevenson: 1914–1918. Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006, S. 200ff. Zur Somme siehe zudem: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.): Die Deutschen an der Somme 1914–1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006. 58 Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft, S. 51. 59 Zur organisatorischen Durchführung sowie zu den Kommandostrukturen siehe: Karl Köhler: Organisationsgeschichte der Luftwaffe von den Anfängen bis 1918, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648– 1939, Bd. 3, Abschnitt V, München 1979, S. 283–311 sowie Potempa: Die KöniglichBayerische Fliegertruppe, S. 40–61. 57
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satorische und technische Entwicklung wie die Ausbildungsart der Flugzeugbesatzungen bis zum Kriegsende.“60 Anfangs waren die deutschen Luftstreitkräfte indes alles andere als erfolgreich. Dies gründete nicht zuletzt in ihrer technischen und numerischen Unterlegenheit, die sie, trotz der anderweitigen Beteuerungen der militärischen Führung, mit „Schneid“ und „Heldentum“ schlichtweg nicht ausgleichen konnten. Ein industrialisierter Krieg ließ sich zwar nicht mit „Helden“ gewinnen, dennoch schrieb der Kommandeur der Luftstreitkräfte im Jahr 1921: „Die gewaltige Überzahl unserer Feinde, der ungehemmte Zustrom an fliegendem und technischem Personal und die Fülle von Rohstoffen, welche die ganze Erde der hochentwickelten Industrie unserer Feinde lieferte, gab diesen eine erhebliche Überlegenheit in der Luft. […] Unsere Gegner konnten aus dem Vollen wirtschaften; wir mussten immer wieder neue Aushilfen ersinnen. […] Wenn es der Entente trotzdem nicht gelungen ist, uns in der Luft niederzuringen, so verdanken wir dies dem frischen sieghaften Geist unserer Flugzeugbesatzungen. […] Was der Außenstehende wohl gelegentlich als jugendlichen Leichtsinn verurteilte, war doch nichts anderes als die Folge einer Betätigung, die gegründet war auf Optimismus, Wagemut und geringe Bewertung des eigenen Lebens. Das Bemühen aller Waffenvorgesetzten ging dahin, bei der langen Kriegsdauer und der wachsenden Überzahl der Feinde, diesen frischen und freimütigen Geist wach zu halten.“61
Dem personellen und industriellen Potential der Entente, das durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im folgenden Jahr noch erheblich gesteigert werden sollte, mussten die deutschen Streitkräfte immer häufiger mit dem eigenen „moralische[n] Übergewicht“ entgegentreten. Über dem Schlachtfeld an der Somme führten zwar taktische und organisatorische Veränderungen, das Zusammenziehen weiterer Kräfte sowie die Auslieferung neuer, technisch verbesserter Flugzeuge, der sogenannten D-Flugzeuge, zu einer zeitweiligen Verbesserung der Lage. Langfristig vermochten die Deutschen indes dem überlegenen industriellen Potential der Entente und der quantitativen Überlegenheit ihrer Luftstreitkräfte nur wenig entgegenzusetzen. Die in den folgenden beiden Jahren zunehmende Massierung in der Luft fand nicht zuletzt im Geschwaderflug ihren Ausdruck, also im Angriff eines Verbandes von 30 bis 40 Flugzeugen. In dem Erfahrungsbericht des erfolgreichsten deutschen Jagdfliegers Freiherr Manfred von Richthofen heißt es: „Der Zweck eines so starken Geschwaderfluges ist, feindliche Geschwader zu vernichten. Angriffe auf Einzelflieger durch den Kommandeur sind in diesem Falle unzweckmäßig. […] Der geschlossene Angriff birgt den Erfolg.“62 Zwar lösten sich auch die Geschwaderflüge in Einzelkämpfen auf, aber der einzelne Jagdflieger war auf verlorenem Posten, sollte es nicht gelin60
Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 469. Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft, S. 77f. Dort (S. 78) auch das folgende Zitat. 62 BayHStA-KA, Iluft 38, Abschrift eines von von Richthofen verfassten Erfahrungsberichts, S. 3f. Dort (S. 5) auch das folgende Zitat. 1938 erschien dieser Erfahrungsbericht in leicht überarbeiteter Fassung als von Richthofens „Testament“ bei Mittler & Sohn: Manfred von Richthofen: Sein militärisches Vermächtnis hrsg. v. der Kriegswissenschaftlichen Abteilung der Luftwaffe, Berlin 1938. 61
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gen, das Geschwader hernach wieder zu sammeln: „Finden die einzelnen Glieder der Staffel nicht mehr den Anschluss, so müssen diese nach Hause fliegen und dürfen sich nicht vereinzelt an der Front aufhalten, um unnötige Verluste zu vermeiden.“ Legten die Kriegsbücher die kühne Tat des einzelnen Jünglings, den Kampf „Mann gegen Mann“ und das „ritterliche Duell“ nahe, so war die Praxis offenbar eine andere. Nicht der vereinzelte Jäger, sondern die geschlossene, aufeinander abgestimmte und interagierende Formation bürgte für den Erfolg. Die hierbei zum Zuge kommende „Luftkampftaktik“ war dennoch recht rudimentär. Von Richthofen, der 80 Luftsiege erzielte, hielt jedenfalls fest: „Mit einem Satze könnte man das Thema: ‚Luftkampftaktik‘ erledigen, – nämlich – ‚Ich gehe bis auf 50 m an den Feind von hinten heran, ziele sauber, dann fällt der Gegner‘. Das sind die Worte, mit denen mich Boelcke abfertigte, als ich ihn nach seinem Trick fragte. Jetzt weiß ich, daß das das ganze Geheimnis des Abschießens ist. Man braucht kein Flugkünstler oder Kunstschütze zu sein, sondern nur den Mut zu haben, an den Gegner bis auf nächste Nähe heranzufliegen.“63
Diese „Luftkampftaktik“ wurde in den neu gebildeten Jagdstaffeln und Jagdgeschwadern praktiziert, die aus der Sommeschlacht hervorgingen und in der im Oktober 1916 erfolgten organisatorischen Umstrukturierung der Luftstreitkräfte ihren Niederschlag fanden. Nun wurden „entsprechend der wachsenden Bedeutung des Luftkrieges, die gesamten Luftkampf- und Luftabwehrmittel des Heeres, im Felde und in der Heimat, in einer Dienststelle“ vereinigt und dem kommandierenden General der Luftstreitkräfte unterstellt, dem „der einheitliche Ausbau, die Bereitstellung und der Einsatz dieser Kriegsmittel übertragen“ wurden.64 Im Jahr 1917 wurden auch die von Hindenburg und Ludendorff, die Ende August 1916 die OHL übernommen hatten, eingeleiteten Rüstungsanstrengungen wirksam. Es gelang zwar nicht, wie im Hindenburgprogramm vorgesehen, die Flugzeugproduktion zu verdreifachen, sie wurde aber immerhin verdoppelt.65 Die in den Jahren 1916/17 erfolgten Veränderungen, die Formierung und Aufrüstung der Jagdstaffeln, die Bildung der Jagdgeschwader, die organisatorische Umschichtung und Vergrößerung der Anzahl an Artilleriebeobachtern, Aufklärern und der sie begleitenden Schutzflugzeuge, bildeten die Voraussetzung für einen erfolgreichen operativen Einsatz der Luftstreitkräfte. Um den Erfolg der ersehnten Durchbruchsschlacht zu gewährleisten, war es nach Meinung der Militärs auf beiden Seiten notwendig, die feindliche Aufklärung 63 BayHStA-KA, Iluft 38, Abschrift eines von von Richthofen verfassten Erfahrungsberichts, S. 12. 64 Kaiserliche Kabinettsorder vom 8.10.1916 zit. nach Hoeppner: Deutschlands Krieg in der Luft, S. 82. 65 Zu diesem Zweck wurde auch die Inspektion der Fliegertruppen unter Major Wilhelm Siegert geschaffen. Sie sollte für eine weitere Mobilisierung und Rationalisierung der Flugzeugindustrie sorgen sowie die spärlichen Ressourcen verteilen. Siehe: Morrow: German Air Power, S. 73–94.
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zu verhindern, um die eigenen Angriffsvorbereitungen zu verschleiern, und selbst eine gründliche Aufklärung durchzuführen. Es galt also, die Schwachstellen der feindlichen Front zu lokalisieren, gezielt anzugreifen sowie die Verstärkung dieser Schwachstellen durch Zerstörung des Informations-, Munitions- und Truppenflusses zu unterbinden.66 Doch die Durchbruchsversuche der Entente bei Arras, in der Champagne und in Flandern im Jahr 1917 scheiterten. Den Mittelmächten gelang zwar auch kein Durchbruch an der Westfront, aber sie konnten nicht nur die Kerenski-Offensive abwehren, sondern auch den Austritt des revolutionären Russlands aus dem Konflikt erzwingen und schließlich mit dem Vertrag von Brest-Litowsk vom März 1918 besiegeln. Zudem durchbrachen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen im Oktober 1917 die Südfront bei Caporetto und drängten Italien an den Rand des militärischen Zusammenbruchs. Dessen Luftstreitkräfte waren im Zuge des Jahres 1916 erheblich erweitert worden und hatten ihre ersten Luftsiege errungen.67 Am 4. November 1918, nach der siegreichen Schlacht von Vittorio Veneto, die den Zerfall des habsburgischen Imperiums auch militärisch besiegelte, verfügten die italienischen Heeres-Luftstreitkräfte über 504 Flugzeuge an der Front. Die Luftstreitmacht Italiens war im Vergleich zur deutschen zwar klein, doch sie hatte sich ähnlich entfaltet. Indes erweist sich hier wie dort weder die numerische Größe der neuen Luftwaffen noch die von ihnen durchlaufene Entwicklung zu einer schlachtentscheidenden Waffengattung als zentral für diese Untersuchung. Es ist vielmehr der symbolische Effekt des Flugzeugs und des Piloten ausschlaggebend. Die Figur des Fliegerhelden wurde auch im italienischen kollektiven Bewusstsein tief verankert, wenngleich sich auch die italienische „literarische Mobilmachung“ nicht mit der deutschen vergleichen lässt und erst während der beiden faschistischen Dekaden von Erfolg gekrönt wurde. Außer D’Annunzio war es insbesondere das mit 34 Luftsiegen erfolgreichste italienische „Fliegerass“ Francesco Baracca, das im Mittelpunkt der Propaganda stehen sollte.68 Von internationaler Reichweite wurde freilich die zwar wenig spektakuläre, aber für die Kriegsführung im 20. Jahrhundert umso folgenreichere strategische Luftkriegstheorie Giulio Douhets, die 1921 unter dem Titel Il dominio dell’aria erschien. Derweil hatten auch die deutschen Luftstreitkräfte den Bombenkrieg ins Hinterland des Gegners getragen. Wenngleich die anfangs 66
Zur Konzentration der Fliegerkräfte bei den Armeen als Vorbedingung ihres operativen Einsatzes vgl. BayHSt-KA, DV Preuß. Geh. XV 29, Weisungen für den Einsatz und die Verwendung von Fliegerverbänden innerhalb einer Armee vom Mai 1917. 67 Siehe zum Folgenden: Morrow: The Great War in the Air, S. 193ff., S. 262ff. u. S. 332ff. sowie Massignani: La grande guerra, S. 275–291. 68 Zu den italienischen „Fliegerassen“ siehe: Maurizio Longoni: Gli „assi“ sul fronte italiano, in: Paolo Ferrari (Hrsg.): La grande guerra aerea 1915–1918. Battaglie – industrie – bombardamenti – assi – aeroporti, Valdagno 1994, S. 291–322. Zu Baracca siehe: Irene Guerrini/Marco Pluviano: Francesco Baracca una vita al volo. Guerra e privato di un mito dell’aviazione, Udine 2000.
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eingesetzten, verletzlichen Luftschiffe durch leistungsfähigere Großflugzeuge ersetzt worden waren, vermochten auch deren Bombardements keine strategische Wirkung zu erzielen.69 Ähnliches gilt für die seit 1917 bestehenden Schlachtstaffeln; eine schlachtentscheidende Wirkung konnten sie zwar bei den deutschen Frühjahrs-Offensiven 1918 nicht entfalten, doch sie waren Vorboten künftiger Kriegsführung. Mit der Kriegsniederlage kam in Deutschland auch das vorläufige Aus für die Luftstreitkräfte. Im Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 untersagte man der Republik eine Luftwaffe und machte der militärischen Entwicklung der Aviatik vorläufig ein Ende.70 Nun stimmten die Protagonisten des Luftkrieges, die Georg Paul Neumann zur Mitarbeit an seiner Geschichte der deutschen Luftstreitkräfte gewonnen hatte, scheinbar versöhnliche Töne an: „Die Kampfvögel, früher unter den Schwingen die Vernichtung tragend, wandeln sich in flinke Weberschifflein, berufen, die Fäden versöhnenden Menschenglücks von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent zu spinnen.“71 Die friedlichen Absichten sollten nicht lange währen, bereits 1924, infolge des Rapallo-Vertrages vom April 1922, übte die Reichswehr gemeinsam mit der Roten Armee erneut den Luftkrieg.72 Das Flugzeug hatte sich zwischen 1914 und 1918 zu einer unentbehrlichen Waffe entwickelt, die, so das Urteil der Militärhistoriker, den Schlachtverlauf, aber nicht den Kriegsverlauf beeinflusste.73 Von ihrer personellen Größe her zu urteilen waren die Luftstreitkräfte irrelevant. Die mediale Allgegenwart des „fliegenden Schwertes“ gründete also nicht in seiner militärischen Bedeutung. Vielmehr zeigt sich, dass die Luftstreitkräfte des Ersten Weltkrieges ihre überproportionale mediale Präsenz der Tatsache verdankten, dass sich der 69
Von Mai bis August 1917 flogen die deutschen Luftstreitkräfte 8 Angriffe gegen England, bei denen 401 Engländer getötet und 983 verletzt wurden. Mit den Flugzeugtypen Gotha und dem sog. Riesenflugzeug wurden bis in den September 1918 zahlreiche weitere Bombenangriffe gegen England (insgesamt 1 414 Tote und 3 416 Verletzte) und Frankreich (237 Tote und 539 Verletzte) durchgeführt. Auch Deutschland war seit Kriegsbeginn Ziel von Bombenangriffen gewesen. Insgesamt verursachten sie 729 Tote und 1 754 Verletzte. Siehe zum Bombenkrieg 1914–1918 zusätzlich zu den bereits angegebenen Werken zum Luftkrieg: Ralf Blank: Strategischer Luftkrieg gegen Deutschland 1914–1918, in: http://www.erster-weltkrieg.clio-online.de/_Rainbow/documents/einzelne/Luftkrieg14_181.pdf, eingesehen am 4.11.2008; Christian Geinitz: The First Air War against Noncombatants. Strategic Bombing of German Cities in World War I, in: Chickering/Förster (Hrsg.): Great War, Total War, S. 207–225; Achille Rastelli: I bombardamenti sulle città, in: Paolo Ferrari: La grande guerra aerea 1915–1918. Battaglie – industrie – bombardamenti – assi – aeroporti, Valdagno 1994, S. 183–249. 70 Zum Vertrag von Versailles siehe: Gerd Krumeich (Hrsg.): Versailles 1919. Ziele, Wirkung, Wahrnehmung, Essen 2001. 71 Neumann: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, S. 599. 72 Zur militärischen Kooperation zwischen der Reichswehr und der Roten Armee siehe: Manfred Zeidler: Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 19942. 73 Vgl. Isnenghi/Rochat: La grande Guerra 1914–1918, S. 220; Neitzel: Zum strategischen Mißerfolg verdammt?, S. 191 sowie Kennett: The First Air War, S. 220.
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Krieg in der Luft mit den althergebrachten Wahrnehmungs- und Deutungsschemata darstellen und verstehen ließ. Da der Flieger die traditionelle „männliche Matrix des Kriege[r]s“ aufrechterhielt, die in den Gräben zerstört worden war, wurde er zu einer mächtigen Waffe in der Schlacht um den Sinn des Krieges und zum Gegenstand einer medialen Aufrüstung.74 Die Berichterstattung und populäre Literatur zum Luftkrieg kompensierte, wie im Folgenden gezeigt wird, die Schrecken des industrialisierten und technisierten Krieges am Boden. Die Bedeutung der populären Heldennarrative lag zudem in ihrer Brückenfunktion. Sie halfen, den sich auftuenden Abgrund zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu überwinden und das Geschehen in einen überhistorischen Horizont zu integrieren.
c. Die Geburt des Fliegerhelden aus dem Geist der Materialschlacht Die aviatischen Heldennarrative standen in einem dialektischen Verhältnis zum Geschehen am Boden und zu dessen Deutungen. Die prägnanteste Erzählung, in die der Stellungskrieg der ersten beiden Jahre gebündelt wurde, war der sogenannte „Langemarck-Mythos“, der von einem Heldentum kündete, dass sich in der Opferbereitschaft jener vermeintlich singend in den Tod stürmenden „jungen Regimenter“ erschöpfte.75 Ein größerer Erfolg sollte diesem Heldenepos erst in der Zeit des Nationalsozialismus beschieden sein, als es in den mentalen Dispositionen und politischen Vorgaben entsprechenden Widerhall fand. Während des Krieges selbst widersprach es noch zu sehr all jenen Vorstellungen, mit denen die bürgerliche Gesellschaft in den Krieg gezogen war. Der in Langemarck versinnbildlichte Massen- und Opferkrieg konterkarierte die an den Krieg gehegten Erwartungen und durchkreuzte die bürgerlichen Leitvorstellungen. Das Bürgertum sehnte sich nach Helden, die seine Tugenden aufwiesen, Bewährung des Individuums, Tatkraft, Tüchtigkeit und Leistungsbereitschaft. Die Opferheldentugenden des Langemarck-Narrativs, das hier stellvertretend für die Großzahl der Deutungen des Stellungskrieges steht, widersprachen dessen Erwartungshorizont. Selbst im sozialdemokratischen Vorwärts sehnte man sich nach individuellen, ritterlichen Helden: „Gerade als man meinte, daß der Krieg nur noch Blutarbeit namenloser Waffen gegeneinander sei, in der jede persönliche Tat und Leistung spurlos ver74 Zur „männlichen Matrix des Krieges“ vgl. Lutz Klinkhammer: Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941–1944, in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 815–836, S. 834. 75 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Bernd Hüppauf: Schlachtenmythen und die Konstruktion des „Neuen Menschen“, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich (Hrsg.): Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, S. 43–84.
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schwindet, da entwickelte sich auf Einzelgebieten wieder jene ganz persönliche Heldenleistung, die man mit dem Rittertum begraben und auf Nimmerwiedersehn begraben geglaubt hatte.“76 Die Sinnlosigkeit des Krieges am Boden, die in den großen Materialschlachten des Jahres 1916 gipfelte, rief eine semantische Gegenbewegung hervor, die in ein neu-altes Narrativ mündete. Dieses half, den Krieg sag- und begreifbar zu machen und die „diskursiven Blockaden“ zu überwinden.77 Die aviatischen Heldennarrative sind Teil dieser Gegenbewegung und der Fliegerheld ist als solches ein Produkt der Materialschlacht. Er half, wie Eric J. Leed bereits 1979 bemerkte, die Schrecken des Bodenkrieges diskursiv zu kompensieren.78 Diese kompensatorische Funktion des Fliegerhelden bestand zum einen darin, jenen Sinn- und Erwartungshorizont offen zu halten, mit dem die Männer in den Krieg gezogen waren. Zum anderen stellte der Fliegerheld eine imaginative Fluchtmöglichkeit aus dem Schlamm der Gräben und den tödlichen „Stahlgewittern“ dar. Er versinnbildlichte einen anderen, glorreichen, mobilen Krieg, in dem das Individuum und seine Leistungen noch einen Wert besaßen und in dem der Soldat nicht zum Opfer einer übermächtigen Technik wurde, sondern diese beherrschte. Will man also den Sinn erfassen, den die aviatischen Heldennarrative nicht nur bei den Soldaten, sondern in der deutschen wie auch in der italienischen Kriegsgesellschaft zu erzeugen vermochten, sind die Darstellungen des Luftkrieges im Kontext der Deutungen des Stellungskrieges zu betrachten. Den Schilderungen des Luftkrieges werden daher „kanonische“ Deutungen des Krieges am Boden gegenübergestellt, die größtenteils aus der Nachkriegszeit stammen, als eine Sprache gefunden worden war, die das Ungeheuerliche und Neue der Materialschlachten zum Ausdruck bringen konnte. Der Vorgriff auf die Nachkriegszeit nimmt zugleich den Wandel der kompensatorischen Funktion des Fliegerhelden vorweg. Die populären Heldennarrative schufen nämlich eine Disposition und Empfänglichkeit für die palingenetischen Visionen der Nachkriegszeit, in denen die Figur des Fliegers als Sinnbild einer Neuen Zeit, eines Neuen Menschen, einer Neuen Ordnung und somit auch einer anderen Moderne fungierte. Der Sinn, den die populären Darstellungen des Fliegerhelden erzeugten, erschließt sich also erst, wenn man sie im Kontext des Krieges insgesamt begreift. Kennzeichnete der Stillstand den Krieg am Boden, war es die Bewegung, die den Luftkrieg bestimmte. Fühlte man sich in den Gräben von einer bedrohlichen, sich verselbständigenden Technik bedroht, versinnbildlichte der Fliegerheld die Beherrschung der Maschine. Standen die Materialschlach76
„Flieger Richthofen gefallen“, in: Vorwärts 24.4.1918 (Nr. 112), S. 2. Zitiert nach Schilling: „Kriegshelden“, S. 253. 77 Siehe: Reimann: Der große Krieg der Sprachen. 78 Eric J. Leed: No Man’s Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge u.a. 1979, S. 134. Vgl. zum Folgenden ebd.: S. 115–162 sowie Reimann: Der große Krieg der Sprachen.
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ten im Zeichen der Masse, charakterisierte das Individuum den Krieg in der Luft. Und während Mühsal, Opfer und anonymer Tod den Krieg in den Schützengräben und Granattrichtern ausmachten, hatten die „Helden der Lüfte“ Leistung, Ruhm, Medaillen und das eigene Antlitz auf der Vorderseite einer Illustrierten vorzuweisen. Diese Dichotomien, welche die Narrative prägten, sollen nun präzisiert werden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, erstens, die Verknüpfung von Mensch und Raum, von Kriegertypus und Landschaft. Dieses Verhältnis war nicht nur von dem Zwiespalt von Bewegung und Stillstand gekennzeichnet, auch die Gegensätze von Oben und Unten, von Enge und Weite, von Blindheit und Sicht spielten eine wesentliche Rolle. Zweitens wird der Nexus von Mensch und Maschine näher erläutert. Während der Grabenkämpfer als Opfer der Technik in Erscheinung trat, bediente sich der Flieger ihrer als Mittel zur Macht. Dieses instrumentelle Verhältnis zur Technik sollte ihn nach dem Krieg zum Prototyp eines zu schaffenden Neuen Menschen oder „Arbeiters“, im Sinne Ernst Jüngers, machen. Hierauf werden, drittens, die Bilder des individuellen, vermeintlich ritterlichen Kampfes in der Luft erörtert, die jenen des Massenkrieges am Boden gegenüberstanden. Schließlich gilt es, viertens, eine weitere Kluft zwischen Grabenkrieger und Flieger zu erläutern. Hauste der Infanterist im Dreck und litt Mangel, führte der Flieger ein luxuriöses und ausschweifendes Leben, und während niemand davon Kenntnis nahm, dass ein Maschinengewehrtrupp bei einem einzigen Sturmangriff hunderte Gegner ausschaltete, wurde jeder Abschuss, den ein Flieger erzielte, durch die Presse honoriert und ging mit Ehre und Anerkennung einher. Die Überwindung des Stillstands Der Schlieffenplan sah in Frankreich die blitzartige Durchführung einer Umfassungsschlacht, eines „neuzeitlichen Cannae“ vor, in dessen Folge erst die Masse der deutschen Truppen gegen den vermeintlich schwerfälligeren Feind im Osten eingesetzt werden sollte. Hierdurch sollte ein Zweifronten- und Abnutzungskrieg vermieden werden. Begünstigt durch den massiven Ausbau des Eisenbahnnetzes war die schnelle Bewegung zu einem unumstößlichen militärischen Dogma geworden.79 Auf dem südöstlichen wie auch auf dem östlichen Kriegsschauplatz gerieten die Fronten zeitweilig immer wieder in Bewegung, doch die Westfront sollte bereits nach der Marneschlacht und 79 Das Paradigma der Bewegung bestimmte nicht nur die militärische Strategie, es handelte sich, so Wolfgang Schivelbusch, um „eine Zentralvorstellung des [langen] 19. Jahrhunderts“, die in der Lokomotive ihr Sinnbild fand. Insofern könnte der Stellungskrieg auch als Blockade jener Bewegung, die das 19. Jahrhundert auszeichnete, gelesen werden. Siehe: Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918, Berlin 2001, S. 456. Siehe zur Lokomotive als Sinnbild des 19. Jahrhunderts auch: Ders.: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977.
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dem Wettlauf zum Meer im Herbst 1914 erstarren.80 Diese Front, an der auch das Gros der Truppen eingesetzt wurde, prägte das Bild des Ersten Weltkrieges. Die Statik der Front und die unter anderem vom Maschinengewehr herbeigeführte Dominanz der Defensive führten auf der semantischen Ebene, wie Aribert Reimann gezeigt hat, zur „‚Metallisierung‘ diskursiver Vorstellungen“ und zur Herausbildung eines „gepanzerten Bewusstseins“.81 Je unmenschlicher das Durchhalten wurde und je unüberwindlicher jene etwa 860 Kilometer lange, von der Nordsee bis an die Alpen reichende Grenze schien, desto größer wurde die Sehnsucht nach Bewegung und Überwindung der Blockade. „Der einzige Weg, um der Disposition des Stellungskrieges zu entgehen“, schreibt Reimann, „schien durch die Luft zu führen.“82 Indem der Flieger das Niemandsland überflog, sprengte er jene Grenze real und brachte Bewegung in die diskursive Stasis. Um die Kompensationsleistung der aviatischen Narrative zu verdeutlichen, sei zunächst an jenen zu Beginn des Kapitels zitierten Bericht Ein Flug über Verdun erinnert. Die Überwindung des Raums, auf dem „der Zauber des mechanischen Todes regierte“, erschien dort mühelos.83 Der mit Bomben beladene Fliegerkönig hatte noch nie im Leben „etwas so Herrliches erlebt!“84 Die Todeszone war ihm zwar „ein schauriger Anblick“, ansonsten aber sah „die Erde wie ein Spielzeug aus.“ Die Kluft zwischen Flieger und Bodensoldaten hätte größer nicht sein können und wird in den Schilderungen des Schlachtfeldes und der Kriegslandschaft besonders deutlich.85 Der Grabenkrieger fand sich in einer chaotischen Mond- und Kraterlandschaft wieder. Die Gefechtszone stellte sich ihm als eine zerschundene Erde dar. Einen Eindruck von jenem apokalyptischen Raum lieferte Henri Barbusse in seinem 1916 erschienen Le Feu: „Hoch oben, ganz hoch und fern, hört man den Flug grausamer, unsichtbarer Vögel, die mit lautem, stoßweisem Brausen aufsteigen, die Erde zu betrachten. Die Erde! Allmählich taucht diese Wüste, riesig und nass, aus dem grenzenlosen, bedrückenden Grau der Dämmerung. Pfützen und Trichter, deren Oberfläche in dem scharfen Morgenwind zittert; die Spuren, von marschierenden Truppen und Wagenzügen bei Nacht in die unfruchtbaren 80
Die Möglichkeit des Bewegungskriegs auf den östlichen Kriegsschauplätzen gründete nicht zuletzt in dem niedrigeren Truppen/Raum-Verhältnis, das dort vorherrschte. Vgl. Stevenson: 1914–1918, S. 219–242 u. S. 240: „Im Winter 1915/16 standen auf alliierter Seite 2134 Mann pro Frontkilometer, auf russischer Seite nur 1200.“ 81 Reimann: Der große Krieg der Sprachen, S. 48f. Die Metallisierung und Panzerung fanden im Stahlhelm, im „eisernen Roland“ und im Tank ihre prägnantesten Objektivierungen. 82 Ebd., S. 69. 83 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932³ [Or. 1932], S. 104. 84 Deutscher Luftflottenverein (Hrsg.): Das fliegende Schwert, S. 70. 85 Zur Konstruktion der Kriegslandschaft siehe: Bernd Hüppauf: Räume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft, Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg, in: Krieg und Literatur III/1991, S. 105–123 sowie ders.: Das Schlachtfeld als Raum im Kopf, in: Steffen Martus/Martina Münkler/Werner Röcke (Hrsg.): Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, Berlin 2003, S. 207–234.
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Felder gefurcht, ziehen sich wie Gleise hin und glänzen im fahlen Licht wie Stahlschienen; Schutthaufen sind da, in denen hier und dort zersplitterte Pfähle stecken, zerfetzte spanische Reiter liegen und Haufen von Draht, noch aufgerollt oder in wirren Bündeln. Wegen der Schlammbänke könnte man meinen, ein riesengroßes, hier und dort überschwemmtes graues Tuch liege auf dem Meer.“86
Noch bevor Apollinaire den Surrealismus ins Leben gerufen hatte war die Westfront zu einer surrealen Landschaft geworden, die jegliche Vorstellungskraft sprengte.87 Der einst kriegsbegeisterte Autor Arnold Zweig, der vor Verdun selbst „umerzogen“ werden sollte, beschrieb in seinem 1935 veröffentlichten Roman das Schlachtfeld als neuzeitliches Armageddon: „‚Dies war einmal ein Graben,‘ meint Süßmann, während sie, die Richtung wechselnd, auf jenen Fleck zusteuern, der Dorf Douaumont hieß, stattliche Häuser besaß und eine Kirche. Jetzt ist da nichts mehr als überall sonst: gezackte Erde. Und diese Erde beginnt zu stinken; süßlich und faulig haucht es die vier Fußgänger an, dann wieder brandig, schweflig, krank.“88 Den medialisierten Flieger plagten hingegen weder die Enge in den Gräben, noch deren Schlamm und Gestank, wie folgendes Zitat aus dem 1918 im Dresdner Verlag Das Größere Deutschland erschienenen Artillerieflieger verdeutlicht: „Wie frei, jung und kräftig fühlt man sich dort oben im beglückenden Sonnenschein, in der reinen frostklaren Luft; wie oft durchbrach ich das monotone Summen des Motors durch einen hellen Jauchzer: die ganze Mutter Erde möchte man umarmen mit allem was drum und dran hängt.“89 Der Stellungskrieg zwang den Infanteristen ständig dazu, Deckung zu suchen, sich in den Boden hineinzudrücken. Es handelte sich daher, wie es in dem von Eric J. Leed zitierten Brief eines amerikanischen Soldaten heißt, um einen „cowering war – pygmy man huddles in little holes and caves praying to escape the blows of the giant who pounds the earth with blind hammers.“90 Der Grabenkrieger war also ständig auf der Lauer vor Gefahren und suchte vor dem aus der Ferne nahenden Tod Schutz in der Erde. Eindrücklich schilderte Erich Maria Remarque in seinem Im Westen nichts Neues diese Verbundenheit des Soldaten mit dem Boden: „Für niemand ist die Erde so viel wie für den Soldaten. Wenn er sich an sie presst, lange, heftig, wenn er sich tief mit Gesicht und den Gliedern in sie hineinwühlt in der Todesangst des Feuers, dann ist sie sein einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter, er stöhnt seine Furcht und seine Schreie in ihr Schweigen und ihre Geborgenheit, sie nimmt sie auf und entlässt ihn wieder zu neuen zehn Sekunden Lauf und Leben, fasst ihn wieder, und manch-
86 Henri Barbusse: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft, Berlin 2004 [Or. 1916], S. 8f. 87 Vgl. Eksteins: Rites of Spring, S. 146. 88 Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun, Berlin 2001 [Or. 1935], S. 189f. 89 Ebd., S. 18. 90 Edward F. Graham in: War Letters of Rochester’s Veterans zit. nach: Leed: No Man’s Land, S. 133.
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mal für immer. Erde – Erde – Erde –! Erde, mit deinen Bodenfalten und Löchern und Vertiefungen, in die man sich hineinkauern kann!“91
Die Erde war das Element des Grabenkriegers. Sie umgab und schützte ihn, schränkte und engte ihn ein. Das Element des Fliegers hingegen war die Luft, deren Konnotationen und Eigenschaften auch auf ihn übergingen. In der Luft war man, so von Richthofens Der rote Kampfflieger, frei: „Das ist ja aber gerade das Schöne, daß man sich vollständig als freier Mensch fühlt und vollkommen sein eigener Herr ist, wenn man in der Luft ist.“92 Der Flieger wies weitere Eigenschaften auf, die der Grabensoldat entbehrte. Im Chaos der labyrinthischen Gräben und Granattrichter drohte sich der Infanterist stets zu verlieren. Über seinen unmittelbaren Frontabschnitt hinaus fehlte ihm zuweilen jegliche Übersicht. Nach dieser sehnte er sich jedoch, wie folgender Abschnitt aus Ernst Jüngers Das Wäldchen 125 verdeutlicht: „[W]enn es ein großes Wesen gäbe, das mit seinem Blick mühelos von den Alpen bis zum Meere ausspannen könnte, so würde ihm dieses Treiben vorkommen wie eine zierliche Ameisenschlacht, wie ein feines Gehämmer an einem einheitlichen Werk. Uns aber, die wir nichts als einen winzigen Ausschnitt sehen, drückt unser kleines Schicksal nieder, und der Tod erscheint uns in furchtbarer Gestalt.“93
In den Vorstellungen der in und unter die Erde gezwungenen Troglodyten, wie sie Paul Fussell nennt, war der Flieger ein solches Wesen. Die Luftstreitkräfte waren die „Augen des Heeres“, sie bewahrten jenen am Boden ersehnten Überblick und sahen scheinbar alles: „Mein Beobachter wollte mir die Gegend zeigen. Wir flogen bis zu unseren Stellungen und dann diese in 2000 Meter Höhe entlang. Es ist erstaunlich, wie genau man jeden einzelnen Schützengraben, ja sogar jedes Granatloch sehen kann.“94 Der Flieger genoss sogar das „Panorama“: „Da ich in einer Höhe von 1000 Metern flog, lag die ganze Alpenkette wie ein Panorama hinter mir, unter mir der Rhein, rechts der unübersehbare Schwarzwald, der, vom Flugzeuge aus gesehen, finster und drohend seinem Namen Ehre macht, und links die sanften Hügel der Vogesen mit vereinzelten Burgen und Schlössern.“95 Von der am Boden herrschenden und dem Flieger unbekannten „Blindheit“ zeugt auch ein Zitat aus Hauptmann Boelckes Feldberichte: „Gestern bin ich mit zur Fußartillerie gegangen und habe von dort aus das Schlachtfeld gesehen. Das heißt, man sah eigentlich nichts oder wenig. Truppen waren nicht zu erblicken nur hier und dort einzelne Reiter und Leute. Das einzige, was man sah, waren die Spreng-
91
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Köln 200423 [Or. 1928], S. 45f. Richthofen: Der rote Kampfflieger, S. 50. 93 Ernst Jünger: Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925, S. 67f. 94 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 35. 95 F. W. Eddelbüttel: Artillerieflieger, Dresden 1918, S. 17f. 92
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punkte der Artilleriegeschosse und auf allen Seiten brennende Dörfer; dafür hörte man desto mehr“.96
Sowohl der Überblick, den die Flieger hatten, als auch ihr Entrücktsein verlieh ihnen die Aura des Erhabenen und Übermenschlichen, und es war nicht zuletzt die Semantik des Aufstiegs und des Himmels, die diesen Eindruck verstärkte.97 Die Unterschiede zwischen den faktischen Erfahrungsräumen des Fliegers und des Grabenkriegers hätten größer nicht sein können. Die Fluchtmöglichkeiten, welche die Fliegerbücher vor Augen führten, und die von ihnen erbrachten Kompensationsleistungen erschöpften sich allerdings nicht in den Schilderungen von Mobilität, Freiheit und Enthobensein. Ursächlich für die Dichotomien von Bewegung und Stillstand, Oben und Unten, von Enge und Weite, von blind und sehend, von ohnmächtig und übermächtig war das Verhältnis von Mensch und Maschine. Es war die mechanisierte Kriegsführung, welche die eben erläuterten Differenzen zu verantworten hatte. Die Maschine als Mittel zur Macht Die wahrgenommene Omnipotenz des Fliegers gründete nicht zuletzt darin, dass er als Beherrscher der Technik dargestellt wurde, während sich der Grabensoldat einem überwältigenden Maschinenkrieg ausgeliefert sah, in dem sein Gegner gesichtslos, verborgen und unerreichbar blieb.98 Da er der Todeszone einfach entfliehen konnte und über dem Grauen schwebte, war der Fliegerheld in den Augen der kauernden Soldaten eine Art deus ex machina. Den Eindruck des göttergleichen Fliegers ruft auch Robert Musil in seiner auf seine Kriegserlebnisse rekurrierenden Erzählung Die Amsel hervor.99 Musil beschreibt dort das Herannahen eines Fliegers über einer Kampflinie in Südtirol: „Über unsere ruhige Stellung kam einmal mitten in der Zeit ein feindlicher Flieger. […] Wir standen gerade auf einem der Grabkränze, und im Nu war der Himmel mit den weißen Schrapnellwölkchen der Batterien betupft wie von einer behänden Puderquaste. Das sah lustig aus und fast lieblich. Dazu schien die Sonne durch die dreifarbigen Tragflächen des 96
Oswald Boelcke: Hauptmann Bölckes Feldberichte, Gotha 1916, S. 22f. Siehe hierzu Leed: No Man’s Land, S. 136f.; Mosse: Fallen Soldiers, S. 125f. sowie Richthofen: Der rote Kampfflieger, S. 45f. 98 Zum Bild der Technik im und nach dem Ersten Weltkrieg siehe u.a.: Habeck: Die Technik im Ersten Weltkrieg; Herf: Reactionary Modernism; Alexander Meschnig: Der Wille zur Bewegung. Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus, Bielefeld 2008, S. 161–208; Radkau: Technik in Deutschland, S. 239–253; Reimann: Der große Krieg der Sprachen, insbes. S. 257–278; Bernhard Rieger: Technology and the Culture of Modernity in Britain and Germany, 1890–1945, Cambridge u.a. 2005; Rohkrämer: Eine andere Moderne; ders.: Die Verzauberung der Schlange; Showalter: Mass Warfare and the Impact of Technology; Spilker/Ulrich (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. 99 Siehe hierzu: Ingold: Literatur und Aviatik, S. 248ff. 97
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Flugzeugs, gerade als es hoch über unseren Köpfen fuhr, wie durch ein Kirchenfenster oder buntes Seidenpapier, und es hätte zu diesem Augenblick nur noch einer Musik von Mozart bedurft.“100
In Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun erschien der Flieger als eine evolutionäre Höherentwicklung: „Ein Flieger kann allerlei. Er ist seinen Feinden überlegen, übergeordnet besser, ein Wesen höherer Ordnung, ein Schritt voran in der trägen Entwicklung des Wirbeltiers, das Mensch heißt.“101 Bei Zweig, aber auch in weiteren literarischen Verarbeitungen des Krieges der Zwischenkriegszeit ist der Flieger der Neue Mensch, der dank der Technik die „niedere Lebensform“ Grabensoldat überwunden hat. Für Arnold Zweigs Figur des Pionierleutnants Eberhard Kroysing galt es, die eigene erdengebundene Existenz hinter sich zu lassen und aufzusteigen: „[N]icht der Himmel ist das Hindernis, der Boden ist es, die Erde, dieser Mist, auf dem wir geboren werden und verflucht sind, herumzukriechen, bis wir sterben und zurücktauchen in ihn. […] Welch ein Glück, daß wir den heiligen Motor erfunden haben, wir Herren des Feuers und der Explosionen! Und in diesem Augenblick schießt ihm der Entschluss auf, unerschütterlich: Flieger wird er werden. […] Im Dreck herumkrebsen ist gut genug für die Süßmann und Bertin, Leute ohne Kampfinstinkt, ohne Wucht im Schlagarm, alte Leute. Er aber wird sich in den steinernen Lindwurm verwandeln, mit Krallen, Schweif und feurigem Atem, der das Gezwerg in seinen Klüften aufstört, all die Niggel und Wichte. Eine gebrechliche Kiste wird er unter sich haben, zwei breite Flügel, eine wirbelnde Luftschraube, und heidi übers Wolkenmeer hinaufsteigen wie die Lerche am Sonntag – und freilich nicht Lieder trillern, sondern Bomben herunterwettern, die kriechenden Menschen mit Gas beaasen, mit Spitzkugeln unter ihnen aufräumen, den Zweikampf suchen, von dem nur einer heimkehrt.“102
Arnold Zweigs Figur des Eberhard Kroysing ist ein Produkt des Nachkriegsdiskurses und reflektiert bereits die Konstruktion eines neuen Kämpfer- und Menschentypus. Der Fliegerheld wurde hier zum Übermenschen, weil er kein Opfer der Technik war, sondern diese instrumentalisierte. Der Soldat am Boden erlebte den maschinisierten Krieg hingegen als Entmachtung, da er selbst zum ohnmächtigen Objekt einer anonymen Maschinerie wurde. So heißt es in Ernst Jüngers 1925 erschienenen Feuer und Blut: „Hier deckt das Zeitalter, dem wir entstammen, seine Karten auf. Die Herrschaft der Maschine über den Menschen, des Knechtes über den Herrn wird offenbar, und ein tiefer Zwiespalt, der schon im Frieden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen zu erschüttern begann, tritt auch in den Schlachten tödlich hervor. Hier enthüllt sich der Stil eines materialistischen Geschlechts, und die Technik feiert einen blutigen Triumph.“103
Der „heroische Kampf“, um dessentwegen man in den Krieg gezogen war, schien durch die Technik obsolet geworden zu sein und zwar „ungeachtet der Stärke des Willens zur Macht, der die Individuen beseelt, und der morali100
Robert Musil: Die Amsel, zit. nach: Ingold: Literatur und Aviatik, S. 249f. Zweig: Erziehung vor Verdun, S. 238. Ebd., S. 238f. 103 Ernst Jünger: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht, Berlin 19294 [Or. 1925], S. 31. 101 102
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schen und geistigen Werte, durch die sie ausgezeichnet sind. Freier Wille, Bildung, Begeisterung und der Rausch der Todesverachtung reichen nicht zu, die Schwerkraft der wenigen hundert Meter zu überwinden, auf denen der Zauber des mechanischen Todes regiert.“104 Die Grabensoldaten fühlten sich machtlos und waren selbst, so der Militärpublizist und Redakteur der Schlachten-Reihe des Reichsarchivs George Soldan, zu bloßem Material geworden:105 „Die Materie triumphiert, der Mensch selber wird nur als Material gewertet. Wir erleben die mechanische Vernichtungsarbeit unserer Geistesschöpfung, der Maschine, stehen machtlos dabei und finden kein Mittel, wie wir es ändern können.“106 Den Zwiespalt im Verhältnis zur Maschine zwischen Grabenkrieger und Flieger brachte Ernst Jünger 1922 in seinem Der Kampf als inneres Erlebnis zum Ausdruck. Dort heißt es: „Der Kampf der Maschinen ist so gewaltig, daß der Mensch fast ganz davor verschwindet. […] Der Kampf äußerte sich als riesenhafter, toter Mechanismus und breitete eine eisige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Gelände. […] Und doch: hinter allem steckt der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn. Er jagt aus ihnen Geschosse, Sprengstoff und Gift. Er hebt sich in ihnen als Raubvogel über den Gegner. Er hockt in ihrem Bauche, wenn sie feuerspeiend über das Schlachtfeld stampfen. Er ist das gefährlichste, blutdürstigste und zielbewussteste Wesen, das die Erde tragen muß.“107
In den Darstellungen der Flieger war es der Mensch, der den Maschinen „Richtung und Sinn“ gab. Während sich die Soldaten in den Gräben von einem sich verselbständigenden automaton bedroht fühlten, entstand am Himmel über ihnen ein mechanisch-organisches Zwitterwesen. Schien es am Boden nicht zuletzt aufgrund der Unsichtbarkeit des Gegners häufig „die Technik“ zu sein, die den Tod brachte, so gab der Flieger der anonymisierten Maschinerie ein Gesicht. In der mittlerweile fast ikonischen Werbung des Fokker-Werkes aus dem Jahr 1916 verschmolz der Flieger mit seiner Maschine und dem dazugehörigen Maschinengewehr. Er hatte die Technik wieder in den Dienst des Menschen gestellt. Als nach dem Krieg eine Ursache der Niederlage auch in der mangelnden Akzeptanz der Technik erkannt wurde, vermochte die Figur des Fliegers, auch aus diesem Grund zu reüssieren.108 Das Flugzeug wurde zur Prothese des Fliegers. Die Maschine erweiterte seinen Körper und dessen Fähigkeiten. In Kreuz wider Kokarde, einer Darstellung der Jagdflüge des Leutnant Udet, liest man von all jenen, „denen der
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Jünger: Der Arbeiter, S. 104. Vgl. Leed: No Man’s Land, S. 33f. 106 George Soldan: Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, Oldenburg 1925, S. 35, zit. nach Meschnig: Der Wille zur Bewegung, S. 179. 107 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 114. 108 Siehe hierzu Radkau: Technik in Deutschland, S. 239ff. 105
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Abb. 8 Werbung des Flugzeugherstellers Fokker aus dem Jahr 1916.
Steuerknüppel in die Fäuste gewachsen war“,109 und in den Kriegserlebnissen des Hans Joachim Buddecke heißt es: „Der Pilot muß mit seiner Maschine in der Luft so verwachsen sein, daß er alle Bewegungen und Wendungen vollkommen automatisch und mechanisch macht.“110 Hier ist das Verhältnis von Mensch und Maschine symbiotisch. Der Pilot erweckt sie zwar zum Leben, doch er selbst ist auch von der Maschine abhängig: „Das erste Mal allein in dieser Höhe […]. So ganz auf sich angewiesen. […] Nur auf die Maschine bauend! Man bekommt eine eigenartige Liebe zu dem Apparat, der einen so hoch nach oben getragen hat. Noch mehr als der Reiter zu seinem Pferde. Aber wiederum hat man das Gefühl, als stünde man mit einer Schere in der Hand vor dem Faden, an dem das Leben hängt. Ein Zucken mit der Hand – und der Faden ist durchschnitten, der sonst nicht abgerissen wäre. So hat man da oben sein Leben in der Hand.“111
Auch der Jagdpilot der populären Heldendarstellungen ist ein Sinnbild des d’annunzianischen vivere pericolosamente, des gefährlichen Lebens, das der Flieger zu genießen scheint:
109
Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 115. Hans Joachim Buddecke: El Schahin (Der Jagdfalke). Aus meinem Fliegerleben, Berlin 1918, S. 99. 111 Leonhard Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, Barmen o.J. [vermutlich 1918 oder 1919], S. 64. 110
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„Der Moment des Hinunterstoßens auf einen feindlichen Flieger ist das Kostbarste im Jagdfliegerleben. […] Wenn dann der Moment kam, wo alles abgesucht, bedacht war, berechnet, wann dieser oder jener Nieuport im besten Fall an der genau festgelegten Stelle sein konnte, wenn dann mechanisch der kleine Vogel sich senkrecht nach unten drehte, und körperliche Anstrengung den Schwindel dieser Bewegung niederzwang, wenn man dann mit einem Anlauf von mehreren hundert Metern Fall an den Feind heranstieß, um ihn durchzusägen, – das war ein Moment, schöner vielleicht als der Sieg nachher, und die Ungewissheit, ob die Flügel auch hielten, erhöhte nur den Reiz.“112
Wenngleich es selten so ausdrücklich wie oben erwähnt wird, so zeugen die aviatischen Heldennarrative insgesamt vom Kult der Geschwindigkeit und der Gefahr sowie von einer prototypischen mechanischen Lebensbereicherung. Indes stellten die populären Luftkriegsbücher die Technik nicht allein als ein Mittel zur Macht und zur Steigerung des Lebens dar. Das Flugzeug wurde in den Heldennarrativen auch schlichter als faszinierendes modern wonder dargestellt.113 So heißt es in Max Immelmanns Meine Kampfflüge: „Der Ton, die Stimmung, die mich hier umgeben, erfüllen mich mit Befriedigung. Unablässig das Surren der Motoren: Wo man hinsieht, nur Motoren, Autos, Krafträder, Flugzeuge aller Systeme, Luftschiffe – kurz man steht richtig im Betrieb drin.“114 Hier lösten die Kampfmaschinen zielgruppengerecht noch Begeisterung aus. Sie waren das ersehnte technische Spielzeug und die Erfüllung jugendlicher Träume: „Meine materielle Seite kommt hier ganz und gar zu ihren Rechten. Ich sitze sozusagen mitten in den Motoren drin. Entweder ich fahre Motorrad, wovon wir drei haben, oder Auto. Oder ich fliege. […] Wie sehr mir diese Beschäftigung zusagt, brauche ich wohl kaum erst zu sagen.“ Die Technikbegeisterung, die hier zum Ausdruck kommt, entsprach noch ganz dem gesellschaftlichen Grundkonsens, der hinsichtlich der mit nationalistischen Visionen verknüpften technischen Entwicklung vorherrschte.115 Voraussetzung hierfür war eine (Teil-)Akzeptanz der industriellen Welt, wie sie in Fliegerleutnant Heinrich Gontermann zum Ausdruck kam: „Das ist die Atmosphäre, in die auch unser Heinrich Gontermann jr. hineingeboren wurde. Unter dem Qualm der hohen Schlote, unter den zuckenden Flämmchen der Kuppelöfen, unter dem Sausen des Elektrizitätswerks und dem Kreischen der Walzen, die langsam sich drehen und dem scharfen Meißel so lange ihre Schale abgeben müssen, bis sie genau die rechte Form und Rundung haben. In solcher Umgebung wuchs später der Knabe und Jüngling auf. […] Eine Schule ist es für jeden industriell angelegten Geist, der bewusst oder unbewusst die Herrschaft über die Materie gewinnen will, mag es sich um das Spalten
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Buddecke: El Schahin, S. 100f. Zu den „modern wonders“ siehe: Rieger: Technology and the Culture of Modernity. 114 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 10. Dort (S. 21f.) auch das folgende Zitat. 115 Zum gesellschaftlichen Grundkonsens hinsichtlich der technischen Entwicklung, der trotz zahlreicher Fortschrittsfeinde vorherrschte, siehe: Rohkrämer: Eine andere Moderne, S. 38–56. Zur Verknüpfung von nationalistischer Vision und Technik siehe: Fritzsche: A Nation of Fliers. 113
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eines Holzspans handeln oder um das Zersägen des Eisenblocks oder auch um das sichere Schwimmen im Luftmeere.“116
Die Fliegerdarstellungen reproduzierten jene grundsätzliche Akzeptanz des technischen Fortschritts, die das Kaiserreich im Allgemeinen charakterisierte und die den, häufig überbetonten, agrarromantischen und reaktionären Bestrebungen entgegenstand.117 Eine Befürwortung der Technik bedeutete allerdings, wie Jeffrey Herf gezeigt hat, keineswegs eine Bejahung der aufklärerischen, liberalen Moderne.118 Die Schrecken des maschinisierten Krieges delegitimierten das bürgerliche Fortschrittsnarrativ und die liberale Vision der Moderne. Unter den Garben des Maschinenkrieges wich die einstige Fortschrittsgläubigkeit einer dumpfen kulturpessimistischen Angst, die nicht zuletzt in der „stählernsten Schlange der Erkenntnis“ ihre Ursache hatte. Die Schlange Technik war zu einem scheinbar der menschlichen Kontrolle entglittenen übermächtigen Wesen geworden, das selbst technikbegeisterte Zeitgenossen schreckte.119 Die Figur des Fliegerhelden aber versöhnte mit jenem übermächtigen Dämon Technik, denn hier fand sie nicht im Namen des vermeintlich universellen Fortschritts der Menschheit Verwendung, sondern im Namen der um ihr Überleben ringenden Nation. In den Händen des Fliegerhelden erschien die Technik als ein Mittel zur Errettung und des Aufstiegs der Nation. Die Heldennarrative boten insofern nach dem Krieg zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine „heroische“ Umdeutung der Technik im Sinne eines radikalen Nationalismus. Hier wurde eine Technik befürwortet und gefeiert, die im Dienste der Nation stand und die von den nationalen Werten und Normen eingehegt wurde. Die Medialisierungen des Fliegerhelden waren Vorläufer jener nach dem Kriege florierenden Visionen eines Neuen Menschen, der sich der Technik bediente, um die Erneuerung und Auferstehung der Nation einzuleiten. Ein ritterlicher Zweikampf, Mann gegen Mann Die Kompensationsfunktion der populären Fliegerheldennarrative betraf nicht allein die räumliche und technische Dimension des Ersten Weltkrieges. Vielmehr ergänzte die Fliegerliteratur die von der Masse und dem anonymen Tod gekennzeichneten Darstellungen des Grabenkrieges durch die Betonung des Individuums und des „ritterlichen“ Einzelkampfs.120 In einem an der Somme-Front verfassten Brief vom 26. September 1916 hieß es lakonisch: 116
Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 5f. Siehe Rohkrämer: Eine andere Moderne, S. 71. Zur Fortschrittskritik siehe u.a.: Mai: Agrarische Transition und industrielle Krise. 118 Siehe Herf: Reactionary Modernism. 119 Vgl. Leed: No Man’s Land, S. 30ff. 120 Vgl. Omer Bartov: Man and the Mass. Reality and the Heroic Image in War, in: History and Memory 2/1989, S. 99–122; Morrow: Knights of the Sky; Mosse: The Knights of the Sky and the Myth of the War Experience, S. 133. 117
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„Sprechen wir nicht weiter davon, ein Heldenkampf ist mir lieber, als gegen Waffen kämpfen zu müssen, die man nicht sieht, wogegen man nicht heldenhaft kämpfen kann. Es ist ein Massenkampf, für den Einzelnen der Masse ohne Lohn etc.“121 In den populären Darstellungen des Luftkrieges stach der Einzelne heraus, trat gegen einen sichtbaren Gegner an, und es waren sein Mut, seine Tatkraft und sein Geschick, die über Leben und Tod, Sieg oder Niederlage entschieden. Damit aktualisierten die medialen Repräsentationen des Fliegerhelden jene bürgerlichen Ordnungsvorstellungen und Tugenden, welche die Gesellschaft des Kaiserreiches bestimmten. Diese im Folgenden näher zu bestimmende kompensatorische Funktion der aviatischen Kriegsliteratur fasste der Kriegsberichterstatter Georg Wegener gebündelt zusammen: „Dieser Krieg mit seinen ungeheuren Massenwirkungen hat etwas Unpersönliches wie kein anderer zuvor. Wohl wissen wir recht gut, daß er überall an der Front Helden in einer Fülle und Größe hervorbringt, wie kaum eine andere Zeit der Menschengeschichte, allein der Ruhm der einzelnen geht auf in der Gesamtheit; es ist merkwürdig, wie wenig Namen in diesen zwei Jahren volkstümlich, glanzumgeben, geliebt worden sind. Eine Ausnahme davon machen die Kampfflieger. Deren erfolgreichste Männer kennt das Volk mit Namen, liebt sie mit Namen, verfolgt einzeln ihre Taten und jubelt ihnen zu, wenn die Ziffer ihrer Siege steigt. Und das ist wohl zu begreifen. Erkennt es doch hier deutlicher als bei irgend einer andern Waffe, was der Betreffende als einzelner leistet, wie ganz und gar persönlich seine Tat ist. Seine eigene Kühnheit und Verschlagenheit, Entschlussfähigkeit und Geistesgegenwart, seine eigene Beherrschung des Flugzeugs, seine eigene Schießkunst verbürgen des Fliegers Leben und seinen Erfolg“.122
Während der Krieg am Boden wie eine anonyme, „ungeheure Massenwirkung“ wahrgenommen wurde, ließen sich im Luftkrieg „persönliche Taten“ und Erfolge erkennen. In der Luft schienen sich Heldentumsvorstellungen verwirklichen zu lassen, mit denen die Zeitgenossen in den Krieg gezogen und die im Stellungskrieg obsolet geworden waren.123 Am Boden herrschte nämlich jener maschinisierte Tod, den der Schriftsteller Wilhelm Lamszus in seinem 1912 erschienenen Buch Das Menschenschlachthaus prophezeit hatte: „240 Kugeln und mehr in einer Minute! Welch ein Wunderwerk der Technik ist solch ein Maschinengewehr! Man lässt es schnurren, und schon spritzt es Kugeln dichter als der Regen fällt. Und hungrig fletscht der Automat von links nach rechts. Er ist auf die Mitte der Leiber eingestellt und bestreicht die ganze Schützenlinie auf einmal. Es ist, als ob der Tod
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Brief Maximilian Jackowskis an Kurt Böhning vom 6.9.1916 zit. nach Hirschfeld/ Krumeich/Renz (Hrsg.): Die Deutschen an der Somme, S. 132f. Georg Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer. Bd. II. Champagne – Verdun – Somme, Leipzig 1918, S. 332. 123 Siehe hierzu: Schilling: „Kriegshelden“, S. 252f. 122
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die Sense auf das alte Eisen geworfen hätte, als er nun ein Maschinist geworden wäre. […] Einst wars ein Reitertod, ein ehrlicher Soldatentod. Jetzt ist es ein Maschinentod.“124
Obgleich der Tod in der Luft natürlich auch ein „Maschinist“ war, wurde er dennoch als „ehrlicher Soldatentod“, als „Reitertod“ geschildert. Die Popularität der Fliegerbücher gründete in dieser Aktualisierung der tradierten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Kampfes. Angesichts des blindwütigen und zufälligen Trommelfeuers waren am hingegen Boden das kämpferische und militärische Können des Soldaten gänzlich irrelevant geworden.125 Blieb dem Infanteristen nichts anderes übrig, als sich noch tiefer in die Erde zu verkriechen, vermochte der Flieger, den drohenden Gefahren entgegenzuwirken oder zumindest auszuweichen: „Wann kommt der erste Schrapnell von den englischen Abwehrkanonen und wo wird er sitzen? Wenn wir erst mal die ersten Schüsse sehen, dann ist die Spannung vorbei, dann kann der geübte Frontflieger seine Gegenmaßregeln treffen, wenn sie auch manchmal ihre Wirkung verfehlen.“126 Der Luftkampf zeugte zudem von Draufgängertum, Risikobereitschaft und „echter“, heroischer Männlichkeit.127 Der Flieger war in der Lage, die in der
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Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg, Hamburg u.a. 1912, S. 19f. zit. nach Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/M. u.a. 2004, S. 250f. 125 Siehe Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Berlin 193012 [Or. 1920], S. 162: „Du kauerst zusammengezogen einsam in deinem Erdloch und fühlst dich einem unbarmherzigen, blinden Vernichtungswillen preisgegeben. Mit Entsetzen ahnst du, daß deine ganze Intelligenz, deine Fähigkeiten, deine geistigen und körperlichen Vorzüge, zur unbedeutenden lächerlichen Sache geworden sind. Schon kann, während du dies denkst, der Eisenklotz seine sausende Fahrt angetreten haben, der dich zu einem formlosen Nichts zerschmettern wird.“ 126 Eddelbüttel: Artillerieflieger, S. 47. 127 Zu den geschlechterspezifischen Konventionen, Männlichkeitsidealen und militärischen Männlichkeitskonstruktionen siehe u.a.: Ute Frevert: Das Militär als ‚Schule‘ der Männlichkeit. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 145–173; Marcus Funck: Vom Höfling zum soldatischen Mann. Varianten und Umwandlungen adeliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 205–235; Marcus Funck: Bereit zum Krieg? Entwurf und Praxis militärischer Männlichkeit im preußisch-deutschen Offizierskorps vor dem Ersten Weltkrieg, in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 69–90; Thomas Kühne (Hrsg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt/M. u.a. 1996; Sonja Levsen: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006; George L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, Oxford u.a. 1998 [repr.], insbes. S. 107–132; Ute Planert: Kulturkritik und Geschlechterverhältnis. Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich“, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 191–214; Schilling: „Kriegshelden“; Schüler-Springorum: Vom Fliegen und Töten.
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Tradition der Helden der Freiheitskriege stehende, „kühne Jünglingstat“ zu vollbringen:128 „Rasch entschlossen stieg ich auf größere Höhe und griff, alleinfliegend, ein Geschwader von achtzehn feindlichen Flugzeugen […] über Mühlhausen an. Ich stürzte mich von oben mit voll laufendem Motor mitten in den Schwarm hinein, nahm den Dicksten aufs Korn und schoß zum ersten Mal auf etwa 50 Meter Entfernung. Das Ergebnis war, daß der Gegner sofort zu brennen anfing und hell aufleuchtend in die Stadt Mühlhausen stürzte. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich damals hatte, ich hätte aufjauchzen können vor Stolz und vor Freude.“129
In den Darstellungen des Luftkrieges wurden die aus der Vorkriegszeit stammenden Erwartungen an den Krieg, der Wunsch nach Bewährung und die Hoffnung auf Abenteuer aufrechterhalten. Je tiefer die Vision eines „männlichen“, „ritterlichen“ Zweikampfes im Schlamm der Gräben versank, je höher die Opferzahlen stiegen, je deutlicher die feindliche Übermacht wurde, desto dringlicher wurde der Wunsch nach jenen „personalen Heldenmythen“, mit denen zahlreiche Soldaten in den Krieg gezogen waren. In der Luft, so legten es die populären Heldennarrative nahe, gab es noch den Kampf Mann gegen Mann, das sportliche Ringen zweier Gegner und das ritterliche Duell. 130 Dieses Bild der „Ritter der Lüfte“ bestimmte die, so Peter Fritzsche, „Folklore“ des Jagdpiloten.131 In dem 1930 erschienenen Buch Briefe eines deutschen Kampffliegers an ein junges Mädchen bemerkte der Herausgeber Prof. Dr. Johannes Werner, dass die nun veröffentlichten „Helden- und Liebesbriefe“ des gefallenen Leutnants Erwin Böhme „zugleich das Kriegsbuch der Jagdflieger [bilden], dieser einzigen Waffe, der es im modernen Massenkrieg noch beschieden war, einen ritterlichen Zweikampf, Mann gegen Mann zu führen.“132 In einem der „Briefe“ Erwin Böhmes an das „Liebe Fräulein Annemarie“ hieß es dann: „Jeder Kampf bei uns ist ein Turnier, ein ritterlicher oder, um es moderner zu sagen, sportmäßiger Zweikampf. Gegen den einzelnen Mann, gegen den ich fechte, habe ich ja 128
Siehe hierzu Schilling: Kriegshelden, S. 260. Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 38. Laurence Goldstein hat festgestellt, dass auch die britischen Luftkriegsdarstellungen große strukturelle Ähnlichkeit zu den Arthur-Geschichten Sir Thomas Malorys aufwiesen. „[…] the catalogues of warriors, the repeated trials by combat, the attention to gestures and the set pieces of dialogue, the relishing of all mechanical description, and the avowal of moral purpose throughout. […] The duellings between British and German aces resemble the battles of champions like Aeneas und Turnus.“ Goldstein: The Flying Machine and Modern Literature, S. 89. Vgl. dazu: Stefan Goebel: The Great War and Medieval Memory. War, Remembrance and Medievalism in Britain and Germany, 1914–1940, Cambridge u.a. 2007, S. 223–230. Dort (S. 227) heißt es: „In sum, the tale of chivalrous air warfare fulfilled a compensatory function. It pictured the kind of battle the war as a whole should have been but was not: a fair and straightforward man-to-man-fight.“ 131 Siehe Fritzsche: A Nation of Fliers, S. 59–101. 132 Johannes Werner (Hrsg.): Briefe eines deutschen Kampffliegers an ein junges Mädchen, Leipzig 1930, S. 7. Dort (S. 67) auch das folgende Zitat. 129 130
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gar nichts – ich will nur ihn und sein Flugzeug außer Kampf setzen, damit sie uns nicht mehr schaden können. Wenn mein Gegner auf unserem Gebiet notlanden muß, reiche ich ihm, wenn er ehrlich und tapfer gekämpft hat, nachher gern die Hand, ich achte ihn – aber als ‚Nummer‘ wird er trotzdem gebucht. Darin liegt also, wie Sie sehen, keine Geringschätzung des Gegners. Daß man seine Siege bucht, ist wohl nun verständlich: weil jeder Kampf ein persönlicher ist, schreibt man auch seinen Erfolg sich persönlich gut, und wenn sich die Erfolge mehren, muß man sie eben numerieren.“
Beschränkte sich der Erfolg in der Bodenschlacht oftmals auf das reine Überleben, ließ sich die eigene Leistung im Luftkrieg quantifizieren.133 Der persönliche Erfolg, und das heißt die Anzahl an abgeschossenen Gegnern, wurde zum Maßstab der Heldenhaftigkeit. Diese Ziffer gab Auskunft über die Anzahl an „ritterlichen“ Turnieren, aus denen man siegreich hervorgegangen war. Obwohl der faktische Luftkrieg über den Fronten keineswegs aus ritterlichen Duellen bestand, bemühte man diesen Topos sowie jenen des sportlichen Wettkampfes dennoch zur Beschreibung des Kampfes. Man zeichnete das Bild eines menschlichen Krieges, in dem der Feind kein Objekt des Hasses war, sondern ein ebenbürtiger Gegner, mit dem Fraternisierungen nicht nur möglich, sondern sogar üblich waren: „Kaum hatte ich aufgesetzt, als er [der eben abgeschossene Gegner] bereits auf mich zukam. Er schüttelte mir die Hand und sagte mir, ich wäre ein „real sportsman“. Wir rauchten eine gute englisch parfümierte Zigarette“.134 Es scheint nahe liegend, hinter der Betonung des fairen, ritterlichen Umgangs mit dem Gegner eine notwendige Entlastungsstrategie am Werk zu sehen: „Am 25. März schoß ich einen Zweisitzer über der englischen Linie ab. Er zerbrach zu Staub in der Luft. Es sah schauderhaft aus. Es ist ein grausames Handwerk, aber man tut ja nur seine Pflicht.“135 Die ausgeübte Gewalt, das Töten des Gegners wurden durch die Deutung als Pflichterfüllung moralisch kodiert. Durch den Topos des ritterlichen Turniers und des sportlichen Wettkampfes wurde das „grausame Handwerk“ hingegen verschleiert: „Ich blieb ihm meistens hinten am Schwanz und beschoss ihn. […] Nach etwa drei Minuten schien der Führer verwundet zu sein. Die Maschine ging in großen, regelmäßigen Kurven herunter. […] Ich hoffte, er würde glatt landen. Aber in etwa 1000 Meter Höhe kippte die Maschine und stürzte, sich selbst überschlagend, senkrecht zu Boden. […] Die beiden Insassen waren tot. Das tut einem immer sehr leid, aber ich konnte nicht anders. Er wehrte sich zu gut.“
Diese Textpassage ergänzt der die Briefe und das Tagebuch Gontermanns herausgebende Großvater, Pfarrer Leonhard Müller, mit folgendem Kommentar: „Gontermann tat es leid, daß er das Leben des Feindes nicht retten konn133
Zum Zählen der Abschüsse und zur Geburt des Fliegerasses siehe: Wohl: A Passion for Wings, S. 203–251. Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 76f. 135 Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 83. Dort auch das folgende Zitat. 134
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te, uns aber freut es, dass sein ritterlicher Sinn auch im heißesten Kampf auf Leben und Tod die Gefühle der Menschlichkeit und des Mitgefühls nicht verlor, sodaß er das Leben des Feindes, wenn irgend möglich, zu erhalten suchte.“136 Dass „ritterlicher Sinn“ und die „Gefühle der Menschlichkeit“ den Luftkrieg nicht immer bestimmten, wird in den populären Heldennarrativen zuweilen auch deutlich. So liest man in Kreuz wider Kokarde über Manfred von Richthofen: „Ich habe während vieler Frontflüge, die ich mit ihm zusammen machte, nur ein einziges Mal beobachtet, daß ihm ein Gegner entwischte. Sonst mussten alle von ihm angegriffenen Engländer daran glauben. Er schoß alle feindlichen Flugzeuge in Brand. Er sagte nach seiner Ansicht sei dies der einzig richtige Abschuß. Einmal hatte ich einen Sopwith abgeschossen, dessen Führer durch Kopfschuß getötet worden war. Das Flugzeug hatte nicht gebrannt, sondern war in den Boden geschlagen. Als ich Richthofen den Abschuß meldete, schämte ich mich beinahe, ihm seine Frage „brennend?“ verneinen zu müssen.“137
Der Kampf auf Leben und Tod wurde häufig auch als Jagd beschrieben. So wurde in Der rote Kampfflieger auf den Unterschied zwischen Schießern und Waidmännern aufmerksam gemacht: „Mein Vater macht einen Unterschied zwischen einem Jäger (Waidmann) und einem Schießer, dem es nur Spaß macht zu schießen. Wenn ich einen Engländer abgeschossen habe, so ist meine Jagdpassion für die nächste Viertelstunde beruhigt. Fällt der eine herunter, so habe ich das unbedingte Gefühl der Befriedigung. Erst sehr, sehr viel später habe ich mich dazu überwunden und mich zum Schießer ausgebildet.“138
Im darauffolgenden, Der Auerochs betitelten Kapitel, in dem der Protagonist von Richthofen beim Fürsten Pleß zur Wisentjagd eingeladen ist, steht zu lesen: „[J]edenfalls hatte ich in dem Augenblick, wo der Stier herankam, dasselbe Gefühl, dasselbe Jagdfieber, das mich ergreift, wenn ich im Flugzeug sitze, einen Engländer sehe und ihn noch etwa fünf Minuten lang anfliegen muß, um an ihn heranzukommen. Nur mit dem einen Unterschied, dass sich der Engländer wehrt.“ Der Topos der Jagd erfüllte ebenso wie die Rittertumsmetaphorik, wie noch gezeigt werden wird, eine soziale Funktion. Und selbst wenn die Konnotationen, welche die Jagdsemantik weckte, die ausgeübte Gewalt weniger verschleierten als jene des Ritters und des Sports, so erschien der Kampf Mann gegen Mann in der Luft doch wesentlich weniger atavistisch und der Akt des Tötens wesentlich distanzierter, als wenn zwei Gegner in den Gräben aufeinandertrafen. In Ernst Jüngers In Stahlgewittern heißt es: „In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt schwerfällig, doch unaufhaltbar auf die feindlichen Linien los. […] Ich kochte vor einem mir jetzt unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten beflügelte meine Schritte. Die Wut entpresste mir bittere Tränen. […] Da erblickte ich den 136 137 138
Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 88. Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 132. Richthofen: Der rote Kampfflieger, S. 174. Dort (S. 178) auch das folgende Zitat.
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ersten Feind. […] Ein Drama ohne Zuschauer bereitete sich vor, es war eine Erlösung, den Feind endlich als Erscheinung greifbar zu sehen. Zähneknirschend setzte ich die Mündung an die Schläfe des vor Angst Gelähmten, die andere Faust in seinen Uniformrock krallend; mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche und hielt mir eine Karte vor Augen. Es war das Bild von ihm, umgeben von einer zahlreichen Familie … Ich bezwang meine irrsinnige Wut und schritt vorüber.“ Und wenige Seiten später heißt es: „Er [der Kämpfer] will nicht gefangennehmen, er will töten. Er hat jedes Ziel aus den Augen verloren und steht im Banne gewaltiger Urtriebe. Erst wenn Blut geflossen ist, weichen die Nebel aus seinem Hirn; er sieht sich um wie aus schwerem Traum erwachend. Erst dann ist er wieder moderner Soldat, imstande, eine neue taktische Aufgabe zu lösen.“139
Jüngers Schilderung eines archaischen, blutrünstigen Aufeinandertreffens zweier Gegner ist bereits vom blutigen Kult der Gewalt der Nachkriegszeit durchtränkt.140 Dennoch wird hier die Kluft sichtbar, die zwischen dem Kampf auf Leben und Tod in den Gräben und den Schilderungen derartiger Begegnungen in der Luft bestand: „Nachdem wir etwa neun- bis zehnmal umeinander herumgeflogen waren und vergebens getrachtet haben, einander ins Visier zu bekommen, besah ich meinen Gegner etwas genauer. Er trug einen flatternden Schal und schwarze Kopfbedeckung und war, wie ich feststellen konnte, glatt rasiert. Er sah mich längere Zeit an, hob dann die rechte Hand hoch und begann zu winken. Der Mann in dem Spad war mir auf einmal, ich weiß selbst nicht warum, ungemein sympathisch geworden. Unwillkürlich winkte ich wieder, und es hat diese gegenseitige Begrüßung so fünf bis sechs volle Kurven lang gedauert. Ganz plötzlich hatte ich das merkwürdige Gefühl, gar keinen Gegner mehr vor mir zu haben, sondern es war mir so, als wenn ich mich mit meinem Kameraden im Kurvenkampf übte.“141
Der Krieg in der Luft war, nicht zuletzt dank der technisch erzeugten Distanz zum Opfer, vornehmer und gesitteter. Der Flieger blieb in dem von Jünger angedeuteten Sinne stets ein „moderner Soldat“. Er tötete sauber und gezielt aus der Ferne. „Modern“ war der Luftkrieg aber auch, weil dort ein arbeitsteiliger, rationalisierter Krieg stattfand, der, wie bereits geschildert, in zunehmendem Maße mit massierten Kräften geführt wurde. Seit den Materialschlachten am Boden standen sich auch in der Luft vorwiegend ganze Geschwader und nicht einzelne Flieger gegenüber. Wurde das „feindliche Geschwader“, so Manfred von Richthofen in seinem Erfahrungsbericht, aber „auseinandergerissen“ „so ist der Abschuß eines Gegners nur noch Einzelkampf. Dabei besteht eine Gefahr, daß sich die einzelnen gegenseitig im Kampfe stören und dadurch manchem Engländer die Gelegenheit gegeben wird, in dem Kampfgetümmel zu entkommen. […] Grundfalsch und darauf zu achten ist, daß mehrere mit einem Gegner hinuntergehen. Ich habe Bilder gese-
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Jünger: In Stahlgewittern, S. 227ff. u. S. 234f. Siehe dazu Thomas Rohkrämer: Kult der Gewalt und Sehnsucht nach Ordnung – Ernst Jünger und der soldatische Nationalismus in der Weimarer Republik, in: Sociologus 51/2001, S. 28–48. 141 Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 150f. 140
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hen, wo etwa 10–15 Apparate sich in den Kampf einmischten und einem Engländer bis auf die Erde folgten, während oben das feindliche Geschwader unbehelligt weiterflog.“142
Zehn oder fünfzehn zu eins hatte mit „ritterlichem Kampf“ wenig gemein. Vor allem aber bestand das Gros der von den Jagdfliegern abgeschossenen Gegner keineswegs aus ebenbürtigen Jagdfliegern, sondern aus den ungünstiger bewaffneten, unwendigen und wesentlich langsameren Arbeitsflugzeugen. Im Mittelpunkt des Luftkrieges stand die Vernichtung dieser Arbeitsflugzeuge und so hielt von Richthofen in seinem Erfahrungsbericht fest: „Ich lauere auf Artillerieflieger […]. Der günstigste Moment zum Angriff auf solche Artillerieflieger ist der, wenn der Gegner von jenseits kommend auf die Front zufliegt. Dann stürze ich mich, die Windverhältnisse berücksichtigend (Ost-West), aus der Sonne heraus in einem Sturzflug auf ihn. Wer zuerst am Feind dran ist, hat das Vorrecht zu schießen. Die ganze Staffel geht mit runter. […] Hat der erste Ladehemmung, so kommt der zweite dran, dann der dritte usw.“
Es bleibt unbestritten, dass im Luftkampf die Fähigkeiten und Leistungen des Einzelnen, sein Mut und sein Können für Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod entscheidender waren als im Trommelfeuer. Doch der „ehrliche Soldaten-“ oder „Reitertod“ war, sofern es ihn jemals gab, auch in der Luft zum Anachronismus geworden. Im Luftkampf waren die bessere Technik und die ausgeklügeltere Taktik ausschlaggebend, ganz zu schweigen von den Produktionskapazitäten der jeweiligen Industrien. Vor allem war es gerade die koordinierte Zusammenarbeit im Verband, die gewissermaßen tayloristische Arbeitsteilung, die Erfolg versprach, und eben nicht die individuelle „kühne“ Tat: „Die Staffel muß sich einfliegen, d.h. nicht an einen Platz gewöhnen oder dergleichen, sondern jeder einzelne muß so mit den anderen eingespielt sein, dass er schon an der Bewegung des Flugzeuges erkennt, was der Mann am Knüppel machen will“. Die Reproduktion der tradierten Vorstellungen des Kampfes Mann gegen Mann oder des „ritterlichen Turniers“ gründete also weniger in der Realität des Luftkrieges oder im faktischen Ablauf eines Gefechts zweier Flugzeuge selbst, als vielmehr in der Sehnsucht nach einem solchen „ritterlichen“ und „fairen“ Krieg, in dessen Mittelpunkt das Individuum und nicht die Massen standen. Der Luftkrieg bot aber immerhin genügend Anknüpfungspunkte, um die überkommenen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungsmuster des Kampfes, die an der Realität der Materialschlachten zerschellt waren, aufrecht zu erhalten. Während am Boden die tradierte Deutungsmatrix des Krieges in Bedrängnis geriet und nach und nach durch einen radikalisierten Opferheldentypus sowie durch das Kameradschafts-, Fronterlebnis- und schließlich das „stahlharte“ Krieger-Interpretament ersetzt wurde, schrieben die Schilderungen des Luftkrieges die überlieferten kriegerischen Deutungs142
BayHStA-KA, Iluft 38, Abschrift eines von von Richthofen verfassten Erfahrungsberichts, S. 4f. Dort (S. 8f. u. S. 7) auch die folgenden Zitate.
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muster in aktualisierter Form fort. Da Medien und Propaganda hier jene „personalen Heldenmythen“ wiedererkannten, welche den Erwartungen der Rezipienten ebenso wie den herrschenden medialen wie literarischen Konventionen entsprachen, bildete der Luftkrieg einen zentralen Bestandteil der medialen Mobilmachung. Hier kämpfte ein zwar technisch erweitertes, aber weiterhin eigenmächtiges Individuum im Namen von Kaiser und Vaterland einen beweglichen Krieg, in dem heroische Einzeltaten, die greifbare Erfolge zeitigten, üblich waren. Widersprach der anonyme Grabenkrieger in vielerlei Hinsicht den bürgerlichen Leitvorstellungen der Epoche, so verkörperte der Fliegerheld dank seiner Individualität, Leistung, Mobilität, Überwindung von Grenzen und Raum, Beherrschung der Natur und seines technischen Könnens geradezu die bürgerlichen Ideale. Die populären Heldennarrative zeigten, dass jene Ilias, welche die in den Krieg ziehenden Männer sowie die noch in der Heimat harrenden Jugendlichen ersehnten, um ein Bonmot von Ernst Jünger zu bemühen, trotz Schießpulvers durchaus weiterhin möglich war.143 Die Attraktivität der Figur des Fliegerhelden speiste sich indes, wie nun gezeigt wird, auch aus weiteren Kontexten, die nicht im strengen Sinne militärisch waren. Zu einem nachahmenswerten Vorbild und Sehnsuchtsort wurde der Flieger weder allein aufgrund seiner Beherrschung des Raums und der Maschine, noch ausschließlich weil er der Masse das Individuum entgegensetzte. Seine Popularität beruhte auch auf den nicht kriegsspezifischen Bildern, die er verkörperte. „Elegant wie zum Diner“ Das ruhmreiche Heldenleben Im Kontext einer expandierenden Kulturindustrie nahmen die Fliegerhelden eine Rolle wahr, die durchaus mit jener der heutigen Stars vergleichbar ist. Die von der Figur des Fliegerhelden geweckten Vorstellungen des Bonvivants sowie sein exklusiver und elitärer Habitus trugen also ebenfalls zu seiner Popularität bei. Die Funktion dieser Figur im engeren Kontext des Krieges darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Fliegerheld auch ein Produkt einer sich herauskristallisierenden „Traumfabrik“ war. Er war eine mediale Ikone, welche die Sehnsüchte und Hoffnungen sowohl der jugendlichen männlichen „Kriegsenthusiasten“ befriedigte als auch der „kleinen Ladenmädchen“.144 143
Ernst Jünger bemerkte in seiner Ansprache zu seinem hundertsten Geburtstag: „Karl Marx hat es auf die Formel gebracht: ‚Ist eine Ilias möglich mit Schießpulver?‘ Das ist mein Problem.“ Zit. nach: Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 175. 144 Zu den mit den „Fußballenthusiasten“ vergleichbaren „Kriegsenthusiasten“ siehe Haffner: Geschichte eines Deutschen, S. 21f. Zu den „kleinen Ladenmädchen“ siehe: Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1977 [Or. 1927], S. 279–294.
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Richard Euringer, der sich zu einem der bekanntesten nationalsozialistischen Schriftsteller entwickeln sollte und während des Ersten Weltkrieges selbst Flugzeugführer und anschließend Leiter einer Fliegerschule war, gab in einem gedrängten Abschnitt am Anfang seines 1929 erschienenen Buches Fliegerschule 4 zahlreiche nichtmilitärische Topoi wieder, die das Fliegerleben ebenfalls umgaben:145 „Wir kennen den Stumpfsinn des Grabens nicht, noch die zermalmende Dämonie des Trommelfeuers. […]. Wir – Flieger – schlafen in seidigen Betten, wir tafeln in Schlössern, wir trinken Sekt, wenn auch gewiss nicht alle Tage. Aber alle Tage legt die Etappe, die an uns teilhat, ihre weichen Schmeichelarme uns liebkosend um den Hals. Es brauchen noch nicht einmal die Arme einer kleinen Französin zu sein. Wir schießen Hasen, wir kochen Kakao, wir bändigen uns ein Reitpferd an, wir tapezieren unsere Buden, legen uns elektrisches Licht, lassen uns Grammophonplatten schicken, führen auf unseren eigenen Lastwagen einen Tross von Luxus mit, halten Hunde, lesen Bücher, waschen und frottieren uns, stecken Fähnchen auf Spezialkarten, sausen im Auto nach der Stadt, kaufen Valencienner Spitzen, requirieren Alkohol, sind beliebt beim Intendanten, der die gute Seife verwaltet, sind beweglich, kommen herum, retten Bestände vor der Vernichtung, sind Liebkind beim Generalstab, Engel des Himmels der Infanterie, Stammgäste der Batterien, sehr geschätzte Photographen, elegant wie zum Diner, flott und frisch und ausgeschlafen“.146
Den Ruch der Etappe und des luxuriösen Lebens sollte die Figur des Fliegerhelden im Zuge ihrer faschistischen Umdeutung ablegen. Und so lautete die Moral, die der Augsburger Schriftsteller auf obiges Zitat folgen ließ: „Und wir Ritter vom windigen Sportgeist werden geschwaderexerzieren, werden kurz kehrtmachen auf Befehl und in friederizianischer Zucht Militärsoldaten werden.“ Der Individualismus und Eigensinn, der die Figur des aviatischen Heroen charakterisierte, sollte beseitigt und der Flieger in die gesichtslose, gehorsame Gemeinschaft der einfachen Soldaten eingefügt werden, deren Sinnbild der auf den Propagandaplakaten visualisierte Stahlhelmträger war.147 Während des Krieges waren es indes gerade der Individualismus, der exklusive Habitus sowie die relative Ungebundenheit, welche die Attraktivität dieser Figur steigerte und keineswegs nur Neid und Missgunst erweckten. Das Zitat aus Euringers Fliegerschule 4 ist überspitzt, verdeutlicht jedoch den Nimbus, der die Flieger auch noch in der Nachkriegszeit umgab und zu dessen Entstehung die untersuchten populären Heldennarrative in erheblichem Umfang beigetragen hatten. Die Flieger waren begünstigt und dennoch wurde ihnen, im Gegensatz zum „Etappenschwein“, keine „Drückebergerei“ vorgeworfen. Da die Heldenfiguren meist Offiziere waren, genossen sie ohnehin mehr Privilegien als 145
Siehe zu Richard Euringer: Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2007, S. 143. 146 Richard Euringer: Fliegerschule 4. Buch der Mannschaft, Hamburg 1929, S. 17f. Dort (S. 21) auch das folgende Zitat. 147 Vgl. beispielsweise das von Fritz Erler entworfene Plakat für die sechste Kriegsanleihe aus dem Jahr 1917: http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/pl003487/index.html, eingesehen am 7.2.2009.
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der gewöhnliche Soldat. Der in den Kriegsbüchern dargestellte ausschweifende Lebensstil übertraf jedoch jenen gleichrangiger Offiziere anderer Waffengattungen: „Als der Bursche zum Wecken in mein Zimmer trat, hatte ich einen ziemlich schweren Kopf. Er zog die Gardinen auf. […] Dann sammelte er die im Zimmer verstreut umherliegenden kriegerischen Kleider und entfernte sich wieder. Ich drehte mich auf die andere Seite, um einen Augenblick noch zu schlummern. Nach fünf Minuten kam mein Bursche wieder und behauptete, ich hätte noch drei Stunden geschlafen! So. Langsam kam die Erinnerung, Kameradenkreis … Mumm – Schülerfranz … Ich sollte ja für den Herzog von Braunschweig fliegen … Richtig der Herzog und Prinz August Wilhelm wollten ja kommen. Ach, und mein Kopf brummte so. Die Sonne bricht durch. Fliegerwetter … entsetzlich!“148
Da die Helden Tag für Tag ihr Leben aufs Spiel setzten, so der Tenor der populären Kriegsbücher, wurden Ausschweifungen toleriert. Feierlichkeiten, übermäßiger Alkoholkonsum und laxe Disziplin gehörten nun mal zur männlichen Matrix des Kriegers.149 Die angedeuteten Exzesse bestätigten die herrschenden geschlechterspezifischen Konventionen und Männlichkeitsideale, vor allem insofern die Helden, wenn es darauf ankam, „ihren Mann standen“. Dem anderen Geschlecht kam im Übrigen in den populären Heldennarrativen kaum Bedeutung zu. Wenn überhaupt, traten Frauen meist in einer mütterlichen Rolle auf.150 Dennoch gehörte es offenbar zur Aura des Fliegerhelden, wie Immelmanns Meine Kampfflüge nahelegt, auch bei den Frauen beliebt zu sein: „Also dieses Blatt soll ich immer bei mir tragen? Wenn ich das mit jeder Glücksblume, jedem Kleeblatt usw. täte, hätte ich immer einen kleinen Gemüsegarten bei mir. Außerdem müsste ich dann, um gerecht zu sein, die mir geschickten Rosenkränze, Kruzifixe, und andere Talismänner [sic] bei mir haben. Es gibt eben zu viele junge Mädchen, die solche sinnigen Einfälle haben. Sicher alles sehr feinfühlige junge Damen.“151
Insbesondere Immelmanns Meine Kampfflüge vermittelt den Eindruck der Fliegerhelden als medialen Ikonen und Stars avant la lettre.152 Ihr Starimage setzte sich zwar vornehmlich aus den militärischen Leistungen und Eigenschaften zusammen.153 Doch die hinzutretenden eher privaten Details sowie die profanen und alltäglichen Auszeichnungen, die Akzidenzien des militärischen Ruhmes steigerten die Attraktivität des von ihnen personifizierten Typus. Der Glanz ihrer militärischen Leistungen wurde durch die Ehre, die man ihnen erwies, und durch ihren wachsenden Ruhm nochmals gesteigert. 148
Buddecke: El Schahin, S. 51. Siehe auch: Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 141f. Vgl. hierzu Schüler-Springorum: Vom Fliegen und Töten, S. 215. 151 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 127. 152 Für einen Überblick über den medienwissenschaftlich relevanten Begriff des Stars siehe: Stephen Lowry: Star, in: Hans-Otto Hügel (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart u.a. 2003, S. 441–445. 153 Siehe u.a. Werner Faulstich (Hrsg.): Image, Imageanalyse, Imagegestaltung. 2. Lüneburger Kolloquium zur Medienwissenschaft, Bardowick 1992. 149 150
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Im Kontext einer expandierenden Kulturindustrie wurden die Kriegshelden zu Idolen.154 Sie verkörperten ein nachahmens- und verehrenswertes, aber eben auch ein begehrenswertes Männlichkeitsbild. Der Immelmann von Meine Kampfflüge jedenfalls hatte Mühe, die Unmengen an Verehrerinnen- und Fanpost zu beantworten, die er als „Folgen des Ruhmes“ beschrieb: „Die Briefschaften steigern sich ungeheuerlich. […] Es ist mir gänzlich unmöglich, auch nur einigermaßen ausführlich zu antworten. […] Ich schreibe höchstens einmal eine Karte mit meinem Bild. Ich hätte es nicht gedacht, daß Berühmtheit mit solcher Unbequemlichkeit verbunden ist. Die kleinen Ehrungen, die mir noch von anderen Seiten täglich und stündlich zuteil werden, kann ich Dir gar nicht berichten.“
Und wenige Seiten später heißt es: „Bin schwer überlastet, habe kaum noch Zeit. Ich glaube nicht, erst versichern zu müssen, daß meine Briefschulden ins Unermeßliche gestiegen sind. Täglich 30 bis 40 Briefe und Karten. Entsetzlich.“155 Die Fliegerhelden waren im doppelten Sinne populär: Zum einen durch die Ästhetik ihrer Darstellungen zum anderen aber auch im Sinne von „im Volke beliebt“. Die Heldennarrative waren jedenfalls kulturindustrielle Produkte, die dem Eskapismus dienten, sofern sie es nämlich dem Leser gestatteten, aus der unerträglichen und unverständlichen Realität des maschinisierten Massentötens in eine seinen Erwartungen entsprechende Ordnung des Krieges zu entfliehen.156 Obwohl der staatliche Meinungslenkungsapparat sie steuerte und förderte, standen keine manipulativen Mächte hinter den populären Heldennarrativen. Vielmehr bedienten größtenteils bürgerliche Verlage und Autoren die Bedürfnisse eines größtenteils ebenfalls bürgerlichen Publikums und reproduzierten die ihren eigenen Erwartungen entsprechenden Wunschbilder des Krieges als Feld der Ehre, des Ruhmes, der Bewährung und des Abenteuers. Obwohl die Idolatrie der Fliegerhelden nicht ganz mit der heutigen Verehrung von Film-, Sport- oder Musikstars vergleichbar ist, handelte es sich dennoch um ein analoges Pop-Phänomen. Dass diese populären Idole Soldaten waren, ist ein aussagekräftiger Beleg des herrschenden „Militarismus der kleinen Leute“ aber auch der während des Krieges einsetzenden Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Bellifizierung.157 Folgendes Zitat verdeutlicht nochmals die Verwandtschaft zwischen den Popikonen von einst und heute:
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Für einen Überblick zum Begriff des Idols beziehungsweise der Ikone und für weitere Literatur siehe: Walter Uka: Idol/Ikone, in: Hans-Otto Hügel (Hrsg.): Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart 2003, S. 255–259. 155 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 87 u. S. 96. 156 Vgl. hierzu Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, S. 279f. 157 Zum Militarismus der „kleinen Leute“ siehe: Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“. Zur gesamtgesellschaftlichen Bellifizierung siehe: Frank Reichherzer: „Alles ist Front!“ Wehrwissenschaften und die Bellifizierung der Gesellschaft im Zeitalter der Weltkriege, Diss. Tübingen 2010.
2. Die fliegenden Schwerter und der Maschinenkrieg
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„Sofort stürzten sich zwei Photographen auf mich und baten um die Ehre, mich photographieren zu dürfen. Ich bin wohl zwanzigmal geknipst worden und auch mit dem Kino aufgenommen worden. In etwa drei Wochen werden die Aufnahmen in allen Kinos Deutschlands erscheinen. Also Du mußt jetzt fleißig ins Kino gehen, um diese Aufnahme nicht zu verpassen. Ich bin zunächst an meinem an vierter Stelle abgeschossenen Engländer, darauf mit Hauptmann Rosenmüller und zuletzt im Gespräch mit dem König gekurbelt worden. […] Um 10 Uhr 30 Minuten Vormittag traf der König ein. Er ging direkt auf mich zu, besichtigte und bestaunte zunächst Engländer Nr. 4, machte dann eine Aufnahme von mir vor diesem Engländer. Denke Dir, der König hat mich geknipst! Dasselbe taten dann noch einige Exzellenzen und Generale.“158
Die militärischen Leistungen der Piloten bildeten die Voraussetzung und den Kern ihrer Popularität sowie ihrer charismatischen Wirkung. Doch zu Vorbildern, Idolen und Stars wurden die Flieger zusätzlich aufgrund der Belohnungen und der Ehre, des symbolischen Kapitals also, das ihnen aufgrund dieser Leistungen gewährt wurde.159 Dazu gehört auch ihr Umgang mit der aristokratischen und militärischen Elite des Kaiserreichs: „Am 14. November wurde ich zur Hoftafel beim Kronprinz Ruprecht von Bayern befohlen. Der König von Sachsen mit Prinz Ernst Heinrich war auch da, ferner von Bekannten: Exzellenz von Laffert, von Willsdorf, O’Byrn (Flügeladjutant) und noch einige sonstige Größen des sächsischen Militärs. Einige Tage vorher war ein Telegramm gekommen, worin mich der Kriegsminister v. Falkenhayn beglückwünschte und mir mitteilte, daß mir der Kaiser das Ritterkreuz seines Hausordens verliehen habe. Das war natürlich etwas Außergewöhnliches, denn der Hohenzollersche Hausorden ist etwas sehr Seltenes.“160
Die Fliegerhelden waren bei der Hautevolee des Kaiserreiches arriviert. Während deren gesellschaftlicher Glanz auf die Heldenfigur übertragen wurde, sonnte sich die Elite des Kaiserreichs in der Beliebtheit der Krieger. Der Glanz, den die Helden ausstrahlten, und ihre Erfolge lenkten von der harschen Realität an den Fronten ab, sie stärkten die Siegeszuversicht und dienten insofern der „Meinungslenkung im Krieg“.161 Die Kriegsbücher und -berichte konstatierten, dass militärische Heldentaten und Opferbereitschaft für die Nation an sich erstrebenswert seien. Zugleich legten sie nahe, dass mit ihnen weitere Annehmlichkeiten, Luxus, Ruhm und Popularität einhergingen. Zur Nachahmung spornte der Held auch an, weil die für ihn empfundene Wertschätzung objektiviert wurde. Tatsächlich waren die Fliegerhelden vielfach ausgezeichnet worden: „An den K.S. Leutnant der Reserve Herrn Max Immelmann, Flugzeugführer bei der Feldfliegerabteilung …, Kommandeur des St. Heinrichordens, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. und 2. Klasse, Ritter des Hohenzollerschen Hausordens, Ritter des St. Heinrichordens, 158
Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 85f. Zur Anwendbarkeit von Pierre Bourdieus Begriff des symbolischen und sozialen Kapitals für die historische Forschung und für weitere Literaturhinweise siehe: Sven Reichardt: Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 71–93. 160 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 84f. 161 Siehe Lipp: Meinungslenkung im Krieg. 159
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II. Brüchige Ordnung
Ritter des Albrechtordens mit Schwertern, Ritter des bayerischen Militärverdienstordens mit Schwertern, Ritter des Ordens Pour le Mérite, Inhaber der Friedrich August Medaille in Silber, Inhaber des Hanseatenkreuzes, Hamburg. Feldpoststation 406. So nun hat es sich ausgerittert, und ich schließe mein kurzes Briefchen.“162
Die Helden waren hochdekoriert und erhielten den ersehnten, die soziale Ehre steigernden und das symbolische Kapital vermehrenden „Dank des Vaterlandes“.163 Zudem wurden sie als Volkshelden verehrt und ihr militärisches Gerät wurde in den Kriegsausstellungen wie Reliquien zur Schau gestellt: „Mein alter 80 P.S. Fokker (die Maschine E. 13 Fabriknummer), mit dem ich meine ersten fünf Engländer heruntergeholt habe, wird im Zeughaus ausgestellt. Ist das nicht herrlich? So reiht sich eine Ehrung an die andere.“164 Zwischen Anfang 1917 und September 1918 wanderte die Deutsche Luftkriegsbeute-Ausstellung von Berlin nach Dresden, München und Dortmund. Dort wurden nicht nur das deutsche und gegnerische Kriegsgerät ausgestellt, sondern auch die Orden, Kleidungsstücke und Trophäen der Helden gezeigt.165 Trophäen wie jene, von denen Meine Kampfflüge berichtet: „Außerdem schicke ich Dir an Beutestücken: Zwei englische Pistolen, davon eine verbrannt; einen Motorzylinder und einen Motorkolben, beides zerschossen. Die Pistole stammt von meinem ersten Engländer, der verbrannte Revolver von meinem zweiten, der Zylinder mit Kolben von meinem Flugzeug, zerschossen im Luftkampf am 23. September.“166 Der Leiter der Delka, wie die Luftkriegsbeute-Ausstellung im Volksmund hieß, war im Übrigen Ernst Friedrich Eichler, der Herausgeber des Udet-Buches Kreuz wider Kokarde. Veranstalter, zumindest in München, war hingegen der Bayerische Luftfahrerdank e.V. Eichler berichtete an die Königlich Bayerische Inspektion des Militär-Luftfahrt-Wesens über den großen Erfolg des zweiten Aufenthaltes der Wanderausstellung in der bayerischen Residenzstadt. Als am Abend des 16. Juni 1918 die Ausstellung schloss, um darauf in Dortmund gezeigt zu werden, verzeichnete sie 320 000 Besucher.167 Die Fliegerhelden waren ebenso wie der Generalfeldmarschall Hindenburg zu militärischen und nationalen Symbolen, ja „Markenartikeln“ geworden. Deren Porträts und Namen wurden zu einem Zeichen der Nation, eines anderen Krieges und des Sieges. Dieser von ihnen personifizierte Sinn wurde zusätzlich zu den behandelten Medien auch durch den verbreiteten hurrapatriotischen Kriegskitsch vermittelt, der von der Sanke-Postkarte, über den 162
Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 118. Siehe Ralph Winkle: Der Dank des Vaterlandes. Eine Symbolgeschichte des Eisernen Kreuzes 1914 bis 1936, Essen 2007, S. 91. 164 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 110f. 165 Zu den Kriegsausstellungen vgl. Christine Beil: Der ausgestellte Krieg. Präsentationen des Ersten Weltkriegs 1914–1939, Tübingen 2004, S. 178–193. 166 Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 80. 167 BayHStA-KA, Iluft 212, Brief des Bayerischen Luftfahrerdank e.V. an die K.B. Inspektion des Militär-Luftfahrt-Wesens vom 18.6.1918. 163
2. Die fliegenden Schwerter und der Maschinenkrieg
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Flugzeug-Christbaumschmuck bis zum Skatkartenspiel reichte.168 Der Fliegerheldenkult wurde weder ausschließlich von einem kriegerischen oder militaristischen Geist beflügelt noch wurde er vornehmlich von oben oktroyiert. Vielmehr verbreitete sich der Heldenkult durch populäre Medien, die das Produkt einer „Kulturindustrie“ waren, welche die „Massen“ nicht „manipulierte“, sondern ihre Nachfrage befriedigte. Die Heldennarrative schrieben Horazens Sinnspruch in den Diskurs ein. Der Tod für das Vaterland war an sich erstrebenswert, weil er das Leben der Nation gewährte. Süß und ehrenvoll war das Heldenleben aber auch, weil damit Beliebtheit einherging, weil die eigenen Gebrauchsgegenstände und Trophäen wie Reliquien verehrt wurden, weil man von „feinfühligen jungen Damen“ Fanpost und Glücksbringer erhielt, weil sich die Anerkennung des Vaterlandes in zahlreichen Orden äußerte und weil man mit der militärischen und aristokratischen Elite des Kaiserreiches herzlichen Umgang pflegte.169 Auch hierin lag die kompensatorische Wirkung der populären Heldennarrative. Sie stellten eine heroische Matrix zur Verfügung und boten der Leserschaft eine „Verkörperung möglicher Formen der persönlichen Identität“.170 Vor dem Hintergrund des Grabenkrieges gelesen, stellten die medialen Repräsentationen des Fliegerhelden eine „Projektionsfläche der kollektiven Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Krieg“ dar.171 Der „richtige Krieg“ aber musste vor allem mit einem Sieg enden. Auch die Niederlage sollten die Heldennarrative zu kompensieren wissen.
168
Siehe beispielsweise die Exponate VII/41 und VII/43 in: Rainer Rother (Hrsg. im Auftrag des Deutschen Historischen Museums): Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung, Berlin 2004, S. 213f. 169 Zu bedenken gilt es, dass sich das Bild des luxuriösen und glamourösen Fliegerlebens in einem von Entbehrungen gekennzeichneten Klima entwickelte. Das in den Kriegsbüchern gezeichnete Fliegerdasein wirkte nicht nur von einem schlammigen Graben an der Westfront aus verlockend, sondern auch von der im Steckrübenwinter 1916/17 hungernden und frierenden Heimatfront aus. 170 Lowry: Star, S. 442. 171 Reimann: Der große Krieg der Sprachen, S. 70.
3. Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft Der Sturz der Herrscherhäuser und die anschließenden politischen Umwälzungen stellten nur die sichtbarste Folge jenes Bruchs der alten Ordnung dar, den der Erste Weltkrieg hervorrief. Trotz seiner Emphase, seines Pathos und seiner politischen Haltung soll Ernst Jünger als Zeuge dieses Bruchs herangezogen werden, erfasste er doch präzise die ihn umgebenden Erschütterungen.1 In seinem 1929 erschienenen Das Abenteuerliche Herz heißt es: „Der Aspekt jener Materialschlachten, der mir damals so wunderlich schien, dieser glühende Horizont, der die feindlichen Fronten scheinbar lückenlos zusammenschweißte, kommt mir nun immer sinnvoller vor. Es war ein zerstörerischer Krieg, ein konzentrisches Wüten gegen einen geheimen Mittelpunkt, ein Ereignis auf der westlichen Oberfläche. Wir haben stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit gearbeitet und, auf das unscheinbarste Feigenblatt verzichtend, das 19. Jahrhundert – uns selbst – in Grund und Boden geschossen, nur ganz am Ende deuteten sich dunkel Mittel und Männer des 20. an.“2
Die Materialschlachten waren in der Tat ein Epizentrum jenes lang anhaltenden Erdbebens, auf das der Zusammenbruch der alten Ordnung folgte. Zugleich kündigte sich in den Materialschlachten die Formierung einer neuen Ordnung an, deren Ausläufer sich bereits im 19. Jahrhundert gezeigt hatten. Es gilt, die Transformation dieser beiden Ordnungen, die sich selbstverständlich durchdrangen und vermischten und nicht einfach ablösten, in den Fliegerheldenkonstrukten aufzuspüren. Jünger schuf in seinen Aufzeichnungen bei Tag und Nacht den Typus des „preußischen Anarchisten“. Bei diesem „preußischen Anarchisten“, als der sich Jünger natürlich selbst verstand, handelte es sich um eine gewollte contradictio in adiecto, um einen Widerspruch in sich, der dennoch einen Sinn ergab. Paradoxe, so hat der Soziologe Hans-Georg Soeffner gezeigt, „veranschaulichen bildhaft eine […] grundlegende Form des Umgangs mit Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit: Sie repräsentieren gleichzeitig einen punktuellen Widerspruch und den Prozess seiner Harmonisierung.“3 Paradoxe, so Soeffner weiter, markieren „einen bedeutsamen Schritt innerhalb eines Problemüberwindungsprozesses, an dessen Anfang die Erfahrung von Unsicherheit“ steht. Paradoxe wie der „preußische Anarchist“ verweisen also auf „praktisch vollzogene[ ] Harmonisierungsprozesse“ sowie „auf die Notwen-
1
Obgleich Jünger keineswegs nur der „Seismograph“ war, als der er sich selbst stilisierte, sondern den Zusammenbruch der liberalen Ordnung tatkräftig forcierte, sollte sein „seismographisches“ Vermögen dennoch nicht unterschätzt werden. Zum Bild Ernst Jüngers als Seismographen siehe: Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 386. 2 Jünger: Das Abenteuerliche Herz, S. 186. 3 Soeffner: Der fliegende Maulwurf, S. 131–156, S. 132. Dort auch die folgenden Zitate.
3. Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft
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digkeit, mit und in Widersprüchen zu leben und zugleich auf eines der Hilfsmittel, mit diesen Widersprüchen umzugehen.“ In der Vorstellung vom „preußischen Anarchisten“ brachte Jünger das Preußische, das für Ordnung und Strenge stand, mit dem Anarchischen, das Chaos und somit die Auflösung von Ordnung bedeutete, in Einklang. Er übertrug das Bild nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf seine Leser, die er in jenem Abschnitt als seine „preußischen Leser“ ansprach. Dieser „preußische Leser“ sei „der Mann, […] dem mit Fichte die Welt nur das Material des heroischen Willens ist, und den mit Nietzsche der entschiedenste Austritt aus den Grenzen des Nur-Menschlichen entzückt. Mehr noch; er ist die höchst seltsame Erscheinung des preußischen Anarchisten, möglich geworden in einer Zeit, da jede Ordnung Schiffbruch erlitt, und der, allein mit dem kategorischen Imperativ des Herzens bewaffnet und nur ihm verantwortlich, das Chaos der Gewalten nach den Grundmaßen neuer Ordnungen durchstreift.“4
Der „preußische Anarchist“ war die paradoxe Verkörperung einer weitverbreiteten Sehnsucht. Einer Sehnsucht einerseits nach der Beseitigung der bestehenden Ordnung, die „Schiffbruch“ erlitten hatte, und nach der Errichtung einer stabileren, anderen Ordnung andererseits. Vorliegendes Kapitel verdeutlicht jenes Durchstreifen des „Chaos der Gewalten nach den Grundmaßen neuer Ordnungen“. Es zeigt, wie jene im Krieg entstandenen Deutungsmuster auf die Nachkriegsgesellschaften übertragen wurden, und das heißt, wie letztere nach eben jenen dem Krieg entnommenen „Grundmaßen“ geordnet werden sollten. Die Hoffnung auf diese Neuordnung ruhte laut Jünger „in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frisst […]. Sie [die Hoffnung] ruht im Aufstand, der sich der Herrschaft der Gemütlichkeit entgegenstellt, und der der Waffen einer gegen die Welt der Formen gerichteten Zerstörung, des Sprengstoffes bedarf, damit der Lebensraum leergefegt werde für eine neue Hierarchie.“
Im Folgenden wird gezeigt, wie diese „neue Hierarchie“ geschaffen wurde. Es wird verdeutlicht, wie der „Sprengstoff“ den „Lebensraum leerfegte“, jedoch nicht, um die Ordnung an sich, sondern nur um die bürgerlich-liberale Ordnung zu zerstören. An deren Stelle sollte nicht das „Anarchische“ treten, sondern das „Preußische“. Die populären aviatischen Narrative dienten der Etablierung einer „gedachten Ordnung“ der Gemeinschaft, in deren Mittelpunkt die Nation stand.5 4
Jünger: Das Abenteuerliche Herz, S. 257. Dort (S. 222f.) auch das folgende Zitat. Zum Begriff der „gedachten Ordnung“ siehe: Mario Rainer Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232–246. Lepsius’ Definition von Nation liegt auch dieser Untersuchung zugrunde: „Die Nation ist zunächst eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt. Welcher Art diese Einheit sein soll, ergibt sich aus den Kriterien für die Bestimmung der nationalen Kollektivität in der Ordnungsvorstellung der Nation. Sind dies ethnische Kriterien, so bestimmt sich eine Nation als ethnische Abstammungseinheit; sind dies kulturelle Kriterien, so stellt sich die Nation 5
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II. Brüchige Ordnung
Es wird verdeutlicht, wie sich der Wandel des Nationalismus im Ersten Weltkrieg auch in den Heldennarrativen niederschlug. Zudem wird dargestellt, wie das Bild der aviatischen militärischen Elite zum Prototyp jenes Neuen Adels und Neuen Menschen mutierte, den die Neue Rechte nun zu erschaffen suchte. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird die Sakralisierung und Überhöhung des Helden in der populären Kultur und somit die Diffusion des palingenetischen Mythos in der Gesellschaft dargelegt. Die Heldennarrative rechtfertigten das verlangte und erbrachte Opfer und stellten es in einen „höheren“ Zusammenhang, der Trost spendete. Als sich die Nachkriegszeit in eine Vorkriegszeit verwandelte, wurde aus dem Fliegerhelden, der den Stellungskrieg überwunden hatte, ein Vorbote der „Wiedergeburt des heroischen Menschen“ und der Nation oder des Volkes.6 Die Voraussetzungen für diese Umdeutung werden in diesem Kapitel erläutert.
a. Der Fliegerheld und die Einheit der kriegerischen Nation Alle gesellschaftlichen Schichten wurden in den Ersten Weltkrieg involviert. Hierin bestand die entscheidende Veränderung seines Charakters gegenüber früheren Kriegen, und hierin gründete die Notwendigkeit einer die Gesamtgesellschaft umfassenden Legitimation des Krieges. Diese Transformation des Krieges schlug sich auch in den kursierenden Heldenbildern nieder. Ihr deutlichster Ausdruck ist der Opferheld, aber auch die neuen technischen Helden, die U-Boot-Kapitäne, Stoßtruppführer und insbesondere die Jagdflieger zeugen von diesem Wandel.7 Die Heldennarrative erzeugten eine Ordnung, innerhalb derer es begreiflich erschien, dass ein jeder vom Krieg betroffen war. Sie legitimierten den Krieg, indem sie mittels der Ordnungsvorstellung Nation aus dem Einzelnen einen Teil des kämpfenden Kollektivs und aus diesem eine Gemeinschaft formten, die sich von dem bedrohlichen feindlichen Kollektiv unterschied. Es wird gezeigt, wie die Heldennarrative den Krieg legitimierten, indem sie eine Identität des Einzelnen mit der Nation postulierten. Dass die nationale Niederlage als persönliches Scheitern empfunden wurde, fußt nicht zuletzt auf der von den Heldennarrativen verbreiteten Identität von Individuum und Nation. Für zahlreiche Protagonisten der untersuchten Kriegsbücher stellte der Spätsommer 1914 eine Grenze dar. In den Monaten Juli und August des Jahres 1914 fanden jene rites de passage statt, die aus Jungen nicht nur „Mänals Sprachgemeinschaft dar; sind es Kriterien staatsbürgerlicher Rechtsstellung, so ist die Nation eine Einheit von Staatsbürgern. Je nach den Kriterien und ihrer Mischung ergeben sich unterschiedliche Kollektivitäten von Menschen, die untereinander einen nationalen Solidaritätsverband formen sollen.“ Siehe: Ebd., S. 233. 6 Siehe Schwarz: Die Wiedergeburt des heroischen Menschen. 7 Siehe Schilling: „Kriegshelden“, S. 252–288.
3. Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft
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ner“, sondern eben „Helden“ machten.8 Und gleich dem Übergang vom Jungen zum Helden sollte der Krieg für die gesamte Nation zu einer Scheidelinie werden. Im August 1914, so das entstehende Narrativ, wurde die Nation geeint. Es herrschte Burgfrieden und aller Zank der Parteien, alle klassenspezifischen Partikularinteressen wurden angesichts der großen nationalen Aufgabe nichtig. Nach der Niederlage suchte die Neue Rechte, eben diesen „Geist von 1914“ und die ihn tragende, wahre Nation zu erneuern.9 Der Krieg und die erbrachten Opfer markieren die Schwelle, um beim Bild des Übergangsritus zu bleiben, nach deren Übertritt die Nation eine andere geworden war. Sie wurde durch den Krieg sakralisiert, „regeneriert“ und wiedergeboren.10 Auf der symbolisch-semantischen Ebene schrieb man dem Krieg eine kathartische Wirkung zu. Die Nation kehrte, trotz Niederlage und Revolution, gereinigt und geläutert aus dem Kriege zurück. Das Unreine war in dem Feuer der Materialschlachten „zur Schlacke verglüht“ und ein Neuer Mensch war aus ihm hervorgegangen.11 Tatsächlich kehrte vor allem der Nationalismus gewandelt aus dem Krieg zurück.12 Der Nationalismus war, erstens, aggressiver und gewalttätiger geworden. Zweitens war der ihm zugrunde liegende Nationsbegriff in Deutschland zunehmend ethnisiert und völkisch aufgeladen worden.13 Und er hatte sich, drittens, zunehmend vom Monarchismus und Konservativismus getrennt. Das Neue an diesem aus dem Krieg hervorgegangenen „Neuen Nationalismus“ oder „populistischen Ultranationalismus“ war die Tatsache, dass es sich um einen Nationalismus der Massengesellschaft handelte.14 Er war durch 8
Zu den rites de passage siehe Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt/M. u.a. 1986 [Or. 1909]. Zum Mythos vom „Geist von 1914“ und zur Entstehung der Volksgemeinschaft siehe: Verhey: Der „Geist von 1914“. Siehe zudem: Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Peter Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden; Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, S. 26–68. 10 Vgl. hierzu insbesondere van Genneps Kapitel zu den Initiationsriten: van Gennep: Übergangsriten, S. 70–113. 11 Siehe hierzu Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 277 u. S. 431f. 12 Zur Einführung in die neuere Nationalismusforschung und für einen Überblick über die umfangreiche Literatur siehe: Echternkamp/Müller (Hrsg.): Die Politik der Nation; RolfUlrich Kunze: Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005; Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40/1995, S. 190–236; Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 11–33 sowie die Klassiker der „neueren“ Nationalismusforschung: Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London u.a. 2006 [repr.]; Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Oxford 1990 [repr.]; Eric J. Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth, reality, Cambridge u.a. 1990. 13 Siehe hierzu: Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. 14 Zum neuen Nationalismus der „konservativen Revolution“, der meist elitärer war, siehe u.a.: Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 92ff. Zum „populistischen Ultranationalismus“ der Faschisten siehe Griffin: The Nature of Fascism. 9
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den Krieg „demokratisiert“ und zu einer massenhaften und massenwirksamen realen Erfahrung geworden. Er war jetzt eine Sache des Volkes.15 Die untersuchten populären Heldennarrative sind gleichzeitig ein Indikator und ein Faktor dieses Wandels. Die Protagonisten der Kriegsbücher sehnten den Krieg herbei, damit er aus ihnen echte Männer, und das heißt Soldaten und Offiziere, mache. Unter der Überschrift „Ausbildungszeit“ findet sich in Max Immelmanns Meine Kampfflüge ein angeblicher Brief vom 16. November 1914, in dem es heißt: „In den aufgeregten Augusttagen war es mir schrecklich, noch als Zivilist herumlaufen zu müssen.“16 Ähnlich wurden die Augusttage auch in dem Buch Kreuz wider Kokarde beschrieben, das die Erlebnisse Ernst Udets, des am Ende des Krieges zweiterfolgreichsten deutschen Jagdfliegers und zukünftigen Generalluftzeugmeisters der nationalsozialistischen Luftwaffe, zum Inhalt hatte: „Als im August 1914 der große Krieg ausgebrochen war und Hunderttausende aus Begeisterung freiwillig zu den Fahnen eilten, da erwachte in mir der Drang, dem Vaterland zu dienen. […] Endlich kam der ersehnte Tag, an dem meine Wünsche ihrer Erfüllung entgegengehen sollten.“ Und wenige Seiten später heißt es: „Im August 1915 – ein volles Jahr nach meinen ersten Bemühungen, ins Feld zu kommen – hatte ich endlich mein Ziel erreicht. Ich wurde zu einer neu aufgestellten Artillerie-Flieger-Abteilung kommandiert, die sehr bald ins Feld rücken sollte.“17
Die Möglichkeit, dem Vaterland zu dienen, wird als dringlicher Wunsch der Helden dargestellt und der Leserschaft als nachahmenswerte Tugendhaftigkeit nahegebracht. In Gunther Plüschows Der Flieger von Tsingtau wird der August 1914 aus der Sicht des im fernen Osten zur Untätigkeit verdammten Marinefliegers geschildert: „Immer und immer wieder fragten wir uns: ‚Nun sitzen wir hier in dem fernen Tsingtau, zu Hause da sind unsere Brüder, unsere Kameraden; die Glücklichen dürfen die wunderbaren Tage der Mobilmachung miterleben, sie dürfen ausziehen gegen eine Welt von Feinden, sie dürfen unser heiliges, geliebtes Vaterland, dürfen Weib und Kind verteidigen, und wir Armen sitzen hier und können nicht helfen!‘ […] Die Engländer, Russen und Franzosen, die uns hier draußen an Zahl weit überlegen waren, würden nicht den Mut finden, uns hier anzugreifen. Und doch hatten wir immer wieder den einen Funken Hoffnung: Sie kommen doch noch! Ach, wie hätten wir die empfangen!“18
Zahlreiche der nach Taten dürstenden Protagonisten schildern jene Juli- und Augusttage 1914 als Tage der Hoffnung; der Hoffnung, dass der Krieg endlich kommen möge, dass man sich endlich im Krieg bewähren könne. Und so lautet die entsprechende Kapitelüberschrift in Emil Schäfers 1918 erschienenem Buch Vom Jäger zum Flieger „Hurra – es geht los“.19
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Siehe hierzu: Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, S. 91f. Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 7. Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 12ff. u. S. 27. Gunther Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau, Berlin 1916, S. 28f. Schäfer: Vom Jäger zum Flieger, S. 9.
3. Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft
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In den vergangenen Jahren ist mehrfach gezeigt worden, dass von einer alle Bevölkerungsschichten erfassenden Kriegsbegeisterung im August 1914 keine Rede sein kann.20 So nahmen an den von der SPD am 28. Juli veranstalteten Antikriegsdemonstrationen über 750 000 Personen teil, davon über 100 000 allein in Großberlin.21 Auch die Anzahl an jungen Männern, die sich im August freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, wurde lange Zeit maßlos übertrieben. Doch wenngleich der Topos der Kriegsfreiwilligen und der Kriegsbegeisterung nicht mit der Realität verwechselt werden darf, so muss er als propagandistischer Anreiz sowie als Vision eines geeinten, kampf- und opferwilligen Deutschen Reiches ernst genommen werden.22 Das „Augusterlebnis“ wurde vor allem von der konservativen Presse propagiert und erfasste insbesondere die gebildete bürgerliche Jugend.23 Im Rückblick beschrieb der 1897 geborene Philosoph Karl Löwith seine Stimmung folgendermaßen: „Der Drang zur Emanzipation von der bürgerlichen Enge der Schule und des Zuhause, ein inneres Zerwürfnis mit mir selbst nach dem Bruch meiner ersten Freundschaft, der Reiz des ‚gefährlichen Lebens‘, für das uns Nietzsche begeistert hatte, die Lust, sich ins Abenteuer zu stürzen und sich zu erproben und nicht zuletzt die Erleichterung des eigenen, durch Schopenhauer bewusst gewordenen Daseins in der Teilnahme an einem es umfassenden Allgemeinen – solche und ähnliche Motive bestimmten mich, den Krieg als eine Chance des Lebens und Sterbens willkommen zu heißen.“24
Mag die Berufung auf Nietzsche und Schopenhauer auch nicht unbedingt typisch sein, so waren es die angegebenen Beweggründe. Die Möglichkeit zum Ausbruch aus den beengten bürgerlichen Verhältnissen, der Reiz des „gefährlichen Lebens“, das Anliegen, sich als „Mann“ zu beweisen, die Abenteuerlust und das Bedürfnis, einem das Eigeninteresse übersteigenden Gemeinsamen zu dienen, ließen die bürgerliche Jugend „fröhlich wie an einem Feiertage“, so Ernst Jünger, in den Krieg ziehen.25 Ansonsten aber herrschten unter weiten Teilen der Bevölkerung Angst vor allem aber Erregung.26 Inwiefern junge Männer aus dem Bürgertum gleich Immelmann und Udet tatsächlich den Kriegsausbruch begeistert erlebten, den Krieg als „Große Zeit“ und als Abenteuer herbeisehnten, kann nicht entschieden werden. Wie die angeführten Zitate jedoch verdeutlichen, war es angemessen, die Topoi der Kriegsbegeisterung, der Abenteuer- und Bewährungssehnsucht in den 20
Siehe: Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 56–70; Verhey: Der „Geist von 1914“; Ziemann: Front und Heimat, S. 39–54. Vgl. Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 94–105. 22 Verhey macht darauf aufmerksam, dass entgegen der im August 1914 kursierenden Zahl von 1 300 000 Kriegsfreiwilligen, es sich „nur“ um 185 000 Männer handelte. Siehe Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 167–175. 23 Siehe zur Jugend von 1914: Wohl: The Generation of 1914, S. 42–84. 24 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 1 zit. nach Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, S. 28f. 25 Ernst Jünger: Kriegsausbruch 1914, in: Ders.: Sämtliche Werke. Erste Abteilung, Bd. 1, Tagebücher 1, Der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1978, S. 539–545, S. 544. 26 Siehe hierzu Ziemann: Front und Heimat, S. 39. 21
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ihre „Erlebnisse“ wiedergebenden Büchern zu verwenden und zu tradieren. Die Gefühle der Angst oder der Niedergeschlagenheit zu äußern, die Begeisterung und Bewährungssehnsucht in Frage zu stellen, gehörte hingegen nicht zum Sagbaren. Das hegemoniale Narrativ, in welches der Krieg eingeordnet wurde, und zahlreiche Deutungsmuster, mit denen er fortan beschrieben werden sollte, werden in Adolf Hitlers Mein Kampf gebündelt und pathetisch überhöht wiedergegeben: „Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.“27 Der entstehende Mythos vom „Geist von 1914“ ist von weit größerer Bedeutung als die Frage, was wer tatsächlich erlebte. Die Kriegsbegeisterung, die Bewährungssehnsucht und die entstandene nationale Gemeinschaft stellen zentrale Pfeiler jener narrativen, gemeinschaftstiftenden Ordnung dar, in deren Mittelpunkt die verabsolutierte Nation stand. So heißt es in Fliegerleutnant Heinrich Gontermann: „Sofort aber erhoben sich die Wogen vaterländischer Begeisterung in allen Gauen. […] Deutschlands Söhne erkannten, daß es sich um Sein oder Nichtsein des Vaterlandes handle. […] [D]as deutsche Volk [hatte] nur eine Antwort, die des Kampfes bis aufs Blut, bis zum Siege. Die zahlenmäßige Übermacht der Feinde forderte neben der flammenden Begeisterung den ganzen Willen, alle Kraft und Opferfähigkeit heraus. Aller Hader und Parteigeist waren geschwunden. Es war die schönste Zeit, die Deutschland noch gesehen.“28
In Anschluss an Peter Fritzsche gilt es daran zu erinnern, dass „1914 das entscheidende Datum [ist], weil hier gewaltige politische Bestrebungen in Gang gesetzt wurden. Die Gründe für den Sieg der Nationalsozialisten sind ebenso im Reich der Ideen und Loyalitäten wie im Zusammenwirken ökonomischer und militärischer Krisen zu finden. Eben weil der Krieg den nationalen Gedanken so gründlich revidierte und sechzig Millionen Menschen auf eine ungewöhnliche und oft gefährliche Weise wiedervereinte, ist 1914 der geeignete Ausgangspunkt, um zu beschreiben, warum und wie die Nationalsozialisten an die Macht kamen.“29
Entscheidend für die folgenden Jahre des Krieges, der Revolution, aber auch der nationalsozialistischen Diktatur ist, wie Jeffrey Verhey festhält, die Tatsache, dass „im August 1914 […] die Deutschen lesen [konnten], sie hätten alle den Kriegsausbruch auf die gleiche Weise erlebt und infolge dieses ‚Augusterlebnisses‘ sei eine nationale Identität als wichtigste gesellschaftliche Identität an die Stelle der verschiedenen orts- und klassenspezifischen Identitäten getreten.“30
27 28 29 30
Adolf Hitler: Mein Kampf. Bd. 1. Eine Abrechnung, München 193319, S. 177. Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 21. Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, S. 17. Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 190.
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Diese Vorstellung einer geeinten nationalen Gemeinschaft stellte den Keim des palingenetischen Mythos der Faschisten dar. Es galt jenes Wesen zu erneuern, dessen „gute[ ] Grundelemente“, so Adolf Hitler in Mein Kampf unter der Überschrift „Erste Anzeichen deutscher Wiedergeburt“, „unserem Volke nicht ganz verloren gegangen [sind], sie schlummern nur unerweckt in der Tiefe, und manches Mal konnte man wie Wetterleuchten am schwarzbehangenen Firmament Tugenden aufstrahlen sehen, deren sich das spätere Deutschland als erste Anzeichen einer beginnenden Genesung einst erinnern wird. Öfter als einmal haben sich Tausende und Tausende junge Deutsche gefunden mit dem opferbereiten Entschluß, das jugendliche Leben so wie 1914 wieder freiwillig und freudig auf dem Altar des geliebten Vaterlandes zum Opfer zu bringen.“31
Diese geheiligte Nation, die das Opfer des eigenen Lebens rechtfertigte, wurde zum archimedischen Punkt einer „gedachten Ordnung“ gemacht. In Erinnerung an die dieser Untersuchung zugrundeliegende Definition von Mythos gilt es festzuhalten, dass nunmehr die „Lebenszusammenhänge“, vor allem aber auch Tod und Leid und das eigene Handeln im Krieg begründet wurden, indem sie auf eine Sphäre des Heiligen, in diesem Fall die geeinte Nation, bezogen wurden. Verlor die Nation aber ihre absolute Stellung, wurde die Rechtfertigung des Kriegstodes hinfällig. Es drohte der Zusammenbruch des Sinns, den man dem Leiden und den Taten gegeben hatte. Die untersuchten populären Heldennarrative waren ein Faktor dieser „geistigen Mobilmachung“ und trugen zur Verabsolutierung der Ordnungsvorstellung Nation bei. Sie waren ein konstitutiver Bestandteil des entstehenden und auf dem „Geist von 1914“ basierenden nationalen Mythos. Zum einen weil sie eine narrative Ordnung schufen, in die das Erleben integriert werden konnte, und zum anderen weil sie die nationale Identität definieren halfen, indem sie die Charaktereigenschaften und Tugenden des Helden vermittelten. Sie sagten aus, was es heißt, „deutsch“, und was es heißt, „ein deutscher Held“ zu sein. Die Kriegsbücher erzählten von selbstverständlicher Kriegsfreiwilligkeit und zeugten von Pflichtbewusstsein, Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft: „Ich will nicht Berufsoffizier werden, um zu leben, sondern um zu versuchen, etwas Tüchtiges zu werden! Einstweilen tue ich aber, was ich dem Vaterlande schuldig bin, und stehe meinen Mann bis zum letzten Tropfen Blut. Wenn ich den Gedanken nicht mit vollem Bewusstsein in diesem Kriege gefasst hätte, würde ich später im Frieden nie das wieder gut machen können, und ich verlöre die Kraft der inneren Ehre und das Selbstbewußtsein.“ 32
Offizier zu sein, sein Leben für die Nation opfern, so wurde hier der Leserschaft ans Herz gelegt, vervollkommnete und adelte den Menschen. Die persönliche Identität der Helden war in den populären Kriegsbüchern untrennbar mit der Nation verknüpft, persönliche und nationale Ziele verschmolzen zu 31 Adolf Hitler: Mein Kampf. Bd. 2. Die nationalsozialistische Bewegung, München 193319, S. 713. Vgl. hierzu Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, S. 13–19. 32 Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 40f.
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einer Einheit. Hiervon zeugt auch folgende Passage aus Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Nach einem abenteuerlichen Weg aus dem deutschen „Schutzgebiet“ Kiautschou in die Heimat verkündet Plüschow: „[D]ann erhielt ich meines Kaisers Dank. Und mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse geschmückt, fuhr ich stolz zu den Meinen. Nach einigen Wochen Erholung kam dann die größte Belohnung. Ich wurde wieder Flieger und durfte mitarbeiten an dem großen Werk von Deutschlands Kampf und Sieg. Und als an der östlichen Kampffront mein allergnädigster Kaiser und Herr die Seeflugstation besichtigte, die unter meinem Kommando stand, und mir die Hand drückte und mir persönlich seine kaiserliche Anerkennung aussprach, da blickte ich ihm fest in die Augen, und flammend stand in meiner Seele: Mit Gott für Kaiser und Reich!“33
Der Dienst an der Nation ist die größte Belohnung, die wahre Erfüllung des Ichs. Und es sind der persönliche Einsatz, der Kampf und der Sieg über den Gegner, die den Protagonisten der Kriegsbücher persönliche Befriedigung verschaffen. So heißt es in Immelmanns Meine Kampfflüge: „Seit ich Kampfflieger bin, habe ich schon immer den Wunsch, ich möchte einmal an einem Tage zwei Feinde erledigen. Dieser Wunsch ging mir am 13. März in Erfüllung.“34 Dieses Amalgam aus individuellem und kollektivem Streben, die Einheit von persönlichem Erfolg und Kriegszielen und die Überschneidung von Ichund Nationalbewusstsein bilden die Grundlage von jeglichem potentiell radikalen und aggressiven Nationalismus. Die Ordnungsvorstellung Nation spielte für die Selbstkonstitution der Protagonisten der Bücher eine bestimmende Rolle. Die von den Büchern zur Verfügung gestellten Narrative dienten der Leserschaft wiederum als Matrix zur Deutung ihres eigenen Lebens, die in der Folge handlungsanleitend wurde. Der Weltkrieg war ein Katalysator des bereits vorhandenen radikalen Nationalismus. Weil er sich in weitere ordnungssehnsüchtige Teile der Gesellschaft ausbreitete, gewann er auch an Virulenz und Wirkungsmächtigkeit. Vor dem Krieg war die insbesondere im Bürgertum verankerte Ordnungsvorstellung Nation noch von weiteren Konzepten eingerahmt und eingehegt gewesen. Die Totalisierung des Krieges schuf jedoch die Notwendigkeit einer die Gesamtbevölkerung umfassenden Legitimation des Krieges, die gleichzeitig eine Abgrenzung vom Gegner erlaubte. Weder die liberalen Vorstellungen eines universellen, vernünftigen, freien Menschen noch das marxistische Klassenkonzept vermochten das bestehende Legitimationsvakuum zu füllen und eine Ordnung zu stiften, innerhalb derer das massenhafte, maschinisierte Menschenschlachten sinnvoll schien. Diese universalistischen Vorstellungen erschwerten geradezu eine Legitimation des Krieges.35 Ausschließlich die 33
Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau, S. 246f. Immelmann: Meine Kampfflüge, S. 107. Die Entente stand durchaus vor einem, von der deutschen Propaganda willkommen ausgeschlachteten, Dilemma. Wie glaubwürdig war es, angesichts des Bündnisses mit dem Russischen Reich, den Krieg als Kampf für die Freiheit und gegen Autokratie darzustellen. 34 35
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Nationsvorstellung vermochte einerseits aus dem kämpfenden Kollektiv eine kohärente Einheit mit einem gemeinsamen Ziel zu formen und andererseits den Kriegsgegner kategorisch auszuschließen und ihn somit zum legitimen Ziel von Gewalt zu machen. Der Krieg führte zwar zu einer Verabsolutierung der Ordnungsvorstellung Nation, aber es waren die Traumata der Niederlage und des „verstümmelten Sieges“, die verhinderten, dass sich andere die Gesellschaft organisierende Konzepte neben jenem der Nation hätten reetablieren können. Jeglicher Versuch zur Begrenzung des Absolutheitsanspruches der Nation wurde von der wachsenden Schar radikaler Nationalisten als ein Angriff durch „Feinde“ von „Außen“ gedeutet. Die Krieg wurde zum Ausgangspunkt eines circulus vitiosus: Die Suche nach einer Gewalt und Leid legitimierenden Basis führte einerseits zur Negation jener Ordnungsvorstellungen, die es tendenziell vermocht hätten, Gewalt und Leid zu delegitimieren. Andererseits beglaubigten die Ausübung von Gewalt und die Erfahrung von Leid selbst wiederum in zunehmendem Maße die Ordnungsvorstellung Nation, deren Absolutheitsanspruch dadurch wuchs. Der Teufelskreis bestand in der wachsenden Interdependenz von Gewalt und Nation. Der radikale Nationalismus wurde aggressiver und bereitete den Boden für die faschistische Weltanschauung, das heißt für jene „palingenetische Form [des] populistischen Ultranationalismus“, die durch einen Kult um die Gewalt und gewalttätige Praxis ausgezeichnet ist.36 Wie Peter Walkenhorst gezeigt hat, lässt sich für das Kaiserreich zudem eine verstärkte Ethnisierung und Biologisierung der Nationsvorstellung konstatieren.37 Wenngleich in den populären Heldennarrativen häufiger von „Germanenblut“ die Rede ist, lässt eine Analyse der Kriegsbücher keine eindeutige Aussage bezüglich der Verbreitung des biologistisch aufgeladenen, völkischen Nationsbegriffs zu.38
Am schwersten lastete der Legitimationszwang allerdings auf der europäischen Linken, denn der Zwiespalt von Nation und Klasse ließ sich kaum überwinden. Jegliches prinzipiell universelle Konzept vermochte den Krieg nur schwerlich zu legitimieren, und so sahen sich auch die Vertreter der katholischen Kirche vor erheblichen Schwierigkeiten. Die deutschen Katholiken stellten daher den Krieg gegen das katholische aber eben auch laizistische Frankreich als einen Krieg gegen eine gottlose Nation dar, die sich von der Religion abgekehrt hätte. Siehe zur Problematik der Kriegslegitimation unter den französischen und deutschen Katholiken: Claudia Schlager: Zwischen Feindesliebe und Erbfeindschaft. Deutsche und französische Katholiken im Ersten Weltkrieg, in: Reinhard Johler u.a. (Hrsg.): Zwischen Krieg und Frieden. Die Konstruktion des Feindes, Tübingen 2009, S. 177–206. 36 Siehe zur palingenetischen Form des Ultranationalismus: Griffin: The Nature of Fascism, S. 26. Zum Kult, vor allem aber zur Praxis der Gewalt siehe: Reichardt: Faschistische Kampfbünde. 37 Siehe Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 102–119 sowie Müller: Nation als Waffe und Vorstellung, S. 359. 38 Zur völkischen Bewegung im Kaiserreich und für weitere Literatur siehe insbesondere: Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; ders./Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996.
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Eine semantische Ethnisierung des Nationsbegriffs lässt sich jedenfalls feststellen: „Der deutsche Volksgeist wird, wie nie jemals, auf die Probe gestellt, die er bis jetzt so glänzend bestanden hat, und wir werden auch durchhalten, bis der böse Feind einsieht, daß ein Volksgeist aus Gottesfurcht und Tüchtigkeit nie erschlaffen wird, so lange noch in einer Ader das edle Germanenblut fließt. So blicken wir denn mit Dank auf das Schaffen unserer Vorfahren zurück. Da steht nun ein Musterstamm vor uns, der schon jahrhundertelang den germanischen Volksgeist erhalten und vertieft hat, die Hohenzollern.“39
Die populären Heldennarrative zeugen vor allem von einer sich radikalisierenden Freund-Feind-Dichotomie. Durch die Tradierung nationaler Stereotype leisteten die Kriegsbücher einen Beitrag zur Definition des Eigenen und des zu exkludierenden feindlichen Fremden. Sie bestimmten die Selbstwahrnehmung und das Selbstverständnis durch Abgrenzung von und Ausgrenzung des Anderen: „Es hängt ja viel davon ab, welchem Gegner man gegenüber liegt, ob man die laurigen Franzosen oder die schneidigen Kerls, die Engländer, gegenüber hat. Mir ist der Engländer lieber. Der Franzose kneift, der Engländer selten. […] Meiner Ansicht nach macht das Draufgehen alles, und das liegt uns Deutschen ja. […] Dem Franzosen liegt es, aus dem Hinterhalt zu überfallen und einem anderen aufzulauern. […] Ab und zu braust wohl mal das gallische Blut in ihm auf. Dann setzt er zum Angriff an; aber es ist wohl mit einer Brauselimonade zu vergleichen. Für einen Augenblick furchtbar viel Mut, der ebenso schnell vollständig schwindet. Das zähe Durchhalten fehlt ihm. Dem Engländer dagegen merkt man eben doch ab und zu noch etwas von seinem Germanenblut an. […] Sie haben genug Vergnügen daran, Loopings, Sturzflüge, Auf-dem-Rücken-fliegen und ähnliche Scherze unseren Leuten im Schützengraben vorzumachen. Dies macht wohl bei der Johannistaler Sportswoche Eindruck, aber der Schützengraben ist nicht so dankbar wie dieses Publikum. Er verlangt mehr. Es soll immer englisches Pilotenblut regnen.“40
Die eigene „schneidige“ und „draufgängerische“ Identität als Deutscher bestimmte sich aus der Abgrenzung von den „laurigen“, „kneifenden“ und „hinterhältigen“ Franzosen. „Der“ Engländer wurde aufgrund der „germanischen Blutsverwandtschaft“, insbesondere aber wegen seines „Sportsgeistes“ und seiner „Ritterlichkeit“ häufig vergleichsweise positiv dargestellt, so auch in Kreuz wider Kokarde: 41 „Wieder hatten wir als Gegner die Franzosen und hatten uns doch schon so gefreut, endlich mit Engländern kämpfen zu dürfen. Der Franzose fliegt vorsichtiger und raffinierter als der Engländer und ist daher kein so angenehmer Gegner wie dieser. Ich habe immer gefunden, dass der Durchschnitts-Engländer sich stets zum Kampfe stellt, auch wenn er in der Minderzahl ist, was übrigens nur selten vorkommt, und daß er sich nicht, wie der Franzose, zurückzieht.“42
39
Müller (Hrsg.): Fliegerleutnant Heinrich Gontermann, S. 55f. Manfred von Richthofen: Der rote Kampfflieger. Eingeleitet und ergänzt von Bolko Freiherr von Richthofen. Mit einem Vorwort von Reichsminister Hermann Göring, Berlin 1933, S. 110f. 41 Zur Ritterlichkeit und zum Sportsgeist im Deutschen Reich und Großbritannien während des Ersten Weltkrieges siehe: Goebel: The Great War and Medieval Memory, S. 187–230. 42 Eichler (Hrsg.): Kreuz wider Kokarde, S. 65. 40
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So menschenverachtend die Rede vom „englischen Pilotenblut“ auch war, der Krieg gegen die westlichen Ententemächte wurde im Wesentlichen als Kampf zwischen mehr oder minder achtungswürdigen Gegnern geschildert. Auf den seit dem „Verrat“ an dem Dreibund zum Feind gewordenen italienischen Soldaten schaute man hingegen als nicht ernst zu nehmenden Gegner arrogant herab. So hieß es beispielsweise in Hans Joachim Buddeckes El Schahin: „Je weiter wir nach Norden kamen, desto mehr wimmelte es von Soldaten. Es nahm einen derartigen Umfang an, daß wir uns in Verona ernstlich fragten: Macht man hier mobil oder planen die Burschen hier vielleicht eine Theateraufführung?“43 Das eigene Überlegenheitsgefühl wuchs in Abhängigkeit von dem Rang, den man dem Gegner in der Hierarchie der Nationen und Völker zuwies. Die Dominanz gegenüber den „primitiven“ Völkern kommt in Gunther Plüschows Abenteuer des Fliegers von Tsingtau deutlich zum Ausdruck. Der Protagonist ist bei seiner Flucht aus dem von den Japanern eroberten Tsingtau zu einer Landung in China gezwungen, da heißt es: „Wirklich, mein Erscheinen könnte im dunkelsten Afrika keinen größeren Schrecken hervorgerufen haben. […] Das Staunen der Chinesen! Das Antasten und Befühlen! Das Schnattern und Lachen! Nur wer die Chinesen kennt und weiß, wie kindlich sie sein können, kann sich vorstellen, in welch tödlicher Situation ich mich befand. Umtost von einer Horde Naturkinder saß ich quietschfidel in meinem Führersitz“.44
Ganz ähnliche Deutungsmuster des primitiven Fremden und phylogenetisch Früheren finden sich in den seltenen Schilderungen der östlichen und südöstlichen Gegner und Kriegsschauplätze. „Der Osten“ und die „unzivilisierten“ und „barbarischen“ Russen wurden semantisch auf die gleiche Stufe wie die „primitiven“ Kolonialvölker gestellt.45 Das von Plüschow geschilderte Staunen der „Naturkinder“ über die fortschrittliche Technik der Deutschen findet sich auch in Erich Killingers Die Abenteuer des Ostseefliegers. Über die Gefangennahme durch russische Soldaten berichtet der Protagonist: „Großen Eindruck machte hierbei meine gefundene Signalpistole, die von Hand zu Hand ging und den Russen wohl als ein fürchterliches Mordinstrument vorgekommen sein muß. Die uns abgenommenen Habseligkeiten wurden dann gleich ehrlich-brüderlich geteilt.“46 Eine Kontinuitätslinie, die von den in diesen Büchern vermittelten Topoi der Rückständigkeit und Unzivilisiertheit „der“ Russen, deren Arbeitskraft es auszunutzen galt, zur rassistischen Praxis der Nationalsozialisten führt, ist 43
Buddecke: El Schahin, S. 41. Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau, S. 100f. Siehe zu den während des Ersten Weltkrieges von deutschen Militärs und Experten an der Ostfront gemachten Erfahrungen und deren Auswirkungen auf das radikale Ordnungsdenken der Nationalsozialisten u.a.: Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006, S. 19–24 u. S. 32–38. 46 Erich Killinger: Die Abenteuer des Ostseefliegers, Berlin 1917, S. 18. 44 45
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unschwer zu erkennen: „Mir soll’s recht sein, wenn sie [die Russen] kommen. Denn ich könnte ganz gut ein paar Iwans gebrauchen, die mir den Weg nach dem Flugplatz raus wieder ein bißchen instand bringen.“47 Zwar entfaltete sich der biologistische, „wissenschaftliche“ Rassismus bereits in den entsprechenden Expertenkulturen, und die Heldennarrative zeugen von der Verbreitung sozialdarwinistischer Muster des minderwertigen Primitiven, eine Rückprojektion der zukünftigen, biologistisch aufgeladenen, rassistischen Vorurteile in den aviatischen Diskurs scheint indes unangemessen.48 Es handelte sich vornehmlich um einen Inklusions- und nicht um einen ExklusionsDiskurs. Die Analyse der Heldennarrative legt nahe, dass sich die Ordnungsvorstellung Nation verabsolutierte und andere Ordnungsvorstellungen entweder subsumierte oder delegitimierte. Ob diese Nation nun völkisch-rassistisch aufgeladen war, wie im Falle des Nationalsozialismus, oder etatistisch gedacht wurde, wie im italienischen Faschismus, ist für den hiesigen Zusammenhang nur zweitrangig. Zentral scheint vielmehr die Verwandlung, welche beispielsweise die liberale Kategorie des Fortschritts durchlief. Zwar spielte sie in den Deutungen der „Primitiven“ weiterhin eine Rolle, aber nunmehr so, dass dieser Fortschritt nicht mehr universalistisch gedacht war. Fortschritt war ausschließlich die Überlegenheit des Eigenen über das Fremde. Mit Mario Rainer Lepsius lässt sich konstatieren, dass „die Ordnungsvorstellung der Nation“ gegenüber anderen „Solidaritätsverbänden […] den Anspruch [erhob], höherrangige und allgemeinere Bedeutung zu haben, so etwa gegenüber Klassen, Konfessionen, ethnischen oder soziokulturellen Gruppen, Verwandtschafts- und Sippengebilden.“49 Die Fliegerheldennarrative verdeutlichen zudem, wie sich die „gedachte Ordnung“ Nation konstituierte und wie sie diskursiv konstruiert wurde, nämlich durch die Erzeugung einer Vorstellung von Gemeinschaft beim Leser, aber auch beim Sprecher oder Autor.50 Die Kriegsbücher tradierten, reproduzierten und aktualisierten einen die Gemeinschaft charakterisierenden Katalog gemeinsamer Ziele und Eigenschaften, welcher das eigene nationale Kollektiv von dem anderen, minderwertigen, feindlichen unterschied. Handlungsleitend wurde dieser medial vermittelte und vom Helden repräsentierte Ziel-, Eigenschafts- und Tugendkatalog dann, wenn der sich selbst definierende und nach Orientierung suchende Leser mittels einer imitatio heroica 47
Heydemarck: Doppeldecker „C 666“, S. 52. Zur Biologisierung der Nation und für weitere Literaturhinweise siehe: Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 102–119 sowie Fatima El-Tayeb: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt/M. u.a. 2001. 49 Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland, S. 233. 50 Siehe zur Bedeutung des Romans und der Zeitung oder des kommerziellen Druckgewerbes insgesamt für die „vorgestellte Gemeinschaft“: Anderson: Imagined Communities, S. 22–46. Dort (S. 24f.) heißt es: „For these forms [der Roman und die Zeitung] provided the technical means for ‚re-presenting‘ the kind of imagined community that is the nation.“ 48
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seine persönliche Identität gestaltete. Durch die Aktualisierung der vermittelten Verhaltens- und Deutungsmuster wurde Gemeinschaft, und das heißt auch Gemeinsamkeiten, nicht nur vorgestellt, sondern auch praktisch hergestellt. Für das Gelingen der gesamtgesellschaftlichen Kriegsanstrengung war es also notwendig, eine innere Homogenität zu imaginieren und die intranationalen Unterschiede zu überwinden. Daher ging mit der „totalen Mobilmachung“ eine Delegitimierung anderer Loyalität und Solidarität erzeugender „gedachter Ordnungen“ einher.51 Damit der Krieg gewonnen werde, hatten der Einzelne sowie die disparaten, durch alternative „gedachte Ordnungen“ zusammengefügten Kollektive in der nationalen Gemeinschaft aufzugehen. Individualismus und Partikularinteressen mussten dem Gemeinwohl geopfert und die persönliche Freiheit gegen eine vermeintliche Sicherheit eingetauscht werden. Es war diese Forderung, die zur Verabsolutierung der Nation führte und sie zur ausschließlichen Ordnungsvorstellung werden ließ, die keine weitere neben sich duldete. Es wurden nicht nur die anderen „nationalen“ oder „ethnischen“ „gedachten Ordnungen“ verdrängt, die parallel zu existieren vermochten, sondern auch jene, die auf den Vorstellungen von Klasse, sozialer Herkunft oder Konfession beruhten. Eindeutigkeit ließ sich allein dann herstellen, wenn nur eine Ordnungskategorie Gültigkeit besaß.52 Der im Massenmord endende Versuch zur Homogenisierung der Nation gründete, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, in dem Streben, alle gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg zu mobilisieren und der daraus folgenden Forderung nach totaler Solidarität innerhalb der Nation. Durch diese Verabsolutierung wurde die Nation zu jenem „intersubjektiv Unumstrittenen“, zu jenem Heiligen also, das den Mittelpunkt der mythischen Ordnung bildete. Die „totale Mobilmachung“ und die totale Solidarität In seinem 1930 erschienen Der Aufstand der Massen stellte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset fest: „Es gibt eine Tatsache, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – entscheidend bestimmt: das Heraufkommen der Massen zur sozialen Macht.“53 Die Herausbildung der Massen- und, damit auf Engste verknüpft, der Klassengesellschaft war ein Ergebnis des „Verdampfens alles Ständischen und Stehenden“ und eben jenes beschleunigten Wandels gewesen, der durch die zu Beginn des „langen 19. Jahrhunderts“ eingeleitete „Doppelrevolution“ hervorgerufen worden war.54 In den Jahrzehnten zwi51
Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung, in: Ders.: Politische Publizistik, 1919 bis 1933 hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [Or. 1930], S. 558–582. 52 Vgl. Bauman: Moderne und Ambivalenz. 53 José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Ulm 1997 [Or. 1930], S. 7. 54 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels Werke, Bd. 4, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1964,
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schen 1880 und 1930 befand sich diese in Klassen gespaltene Massengesellschaft „im Aufbruch“.55 Und es war der Erste Weltkrieg, der den Zeitgenossen die revolutionäre Bedeutung dieser Entwicklung wie auch die „Notwendigkeit“ zur Ordnung dieser Massengesellschaft nochmals deutlich vor Augen führte. Im Ersten Weltkrieg wurde bereits jene „Nationalisierung der Destruktion“ eingeleitet, die im Zweiten Weltkrieg ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte.56 Diese Nationalisierung der Destruktion bedeutete die „Organisation der gesamten produktiven Kräfte der Nation zum Zwecke der Gewaltanwendung und die direkte oder indirekte Reorganisation aller Lebensbereiche unter dem Diktat der Gewaltanwendung“. In seinem 1930 erschienenen Essay Die totale Mobilmachung machte Jünger darauf aufmerksam, dass „die Zeiten […] längst vorüber [seien], in denen es genügte, hunderttausend angeworbene Subjekte unter zuverlässiger Führung auf die Schlachtfelder zu schicken“.57 Nunmehr müssten die „Volksvertretungen“ in den Krieg miteinbezogen werden und die „bewaffnete Vertretung des Landes“ sei jetzt „nicht mehr die Pflicht und das Vorrecht des Berufssoldaten allein, sondern […] [die] Aufgabe aller Waffenfähigen überhaupt.“ Indes war es nicht allein die levée en masse, die den Charakter des Krieges entscheidend verändert hatte. Es war vielmehr die Ausweitung des im strengen Sinne militärischen Raumes auf die gesamte Gesellschaft, seine „Totalisierung“, die ihn von den vorangegangenen Kriegen unterschied.58 Der Krieg war zu einem „gigantischen Arbeitsprozess“ geworden und „neben den Heeren, die sich auf den Schlachtfeldern begegnen“ entstanden nun „die neuartigen Heere des Verkehrs, der Ernährung, der Rüstungsindustrie“: „In der letzten, schon gegen Ende dieses Krieges angedeuteten Phase, geschieht keine Bewegung, und sei es die einer Heimarbeiterin an ihrer Nähmaschine, mehr, der nicht zum mindesten indirekte kriegerische Leistung innewohnt. […] Um Energien von solchen Ausmaßen zu entfalten, genügt es nicht mehr, den Schwertarm zu rüsten, – es ist eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich. Sie zu verwirklichen, ist die Aufgabe der totalen Mobilmachung.“
Bereits die im August 1916 installierte 3. OHL hatte mit dem „Hindenburgprogramm“ und dem „Vaterländischen Hilfsdienst-Gesetz“ auf eine „totale S. 465. Zum „langen 19. Jahrhundert“ sowie zur „Doppelrevolution“ siehe: Hobsbawm: The Age of Revolution. 55 Rüdiger vom Bruch: „Der Zug der Millionen“. Massengesellschaft im Aufbruch, in: August Nitschke u.a. (Hrsg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 92–120. 56 Michael Geyer: Deutsche Rüstungspolitik 1860–1980, Frankfurt/M. 1984, S. 98. Dort auch das folgende Zitat. 57 Jünger: Die totale Mobilmachung, S. 561. Dort (S. 562) auch die folgenden Zitate. 58 Zum Ersten Weltkrieg als sich totalisierender Krieg und seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert siehe: Chickering/Förster (Hrsg.): Great War, Total War; Stig Förster/Jörg Nagler (Hrsg.): On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861–1871, Cambridge u.a. 1997.
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Mobilmachung“ hinzuwirken versucht.59 Die „Rüstung bis ins innerste Mark“ erforderte jedenfalls, dass aus der in Klassen gespaltenen, durch divergierende und konkurrierende Einzelinteressen geprägten Gesellschaft eine „Gemeinschaft“ geformt werde. Der Krieg beziehungsweise der Zwang zu seiner Legitimation bedingte also die Etablierung einer die Gesellschaft homogenisierenden Ordnung. Es waren aber die Niederlage und die Revolution 1918/19, welche diese Homogenisierungsbestrebungen weiter radikalisierten. Zur Niederlage war es gekommen, so die Deutung zahlreicher Zeitgenossen, weil die wahrhaft „totale Mobilmachung“ ausgeblieben und die deutsche Gesellschaft gespalten, vom Fremden durchsetzt und heterogen geblieben war. Nicht das „im Felde unbesiegte Heer“ war für die Niederlage verantwortlich, sondern das Versagen der Heimatfront und der dem Heer von hinten, also vom inneren Feind vermeintlich versetzte „Dolchstoß“.60 Der Heimat hätten die Nerven versagt, dem Eigennutz sei erneut der Vorrang vor dem Gemeinnutz gewährt worden und der Wille zum Sieg sei geschwunden, weil es nicht gelang, den „Geist von 1914“ aufrechtzuerhalten. Revolution und Bürgerkrieg galten den Verfechtern der Dolchstoßlegende als Bestätigung der Notwendigkeit einer homogenen Ordnung der Massengesellschaft, hatten sie doch deren innere Zerrissenheit nochmals bestätigt, die im Gegensatz sowohl zur Gemeinschaft des August 1914 als auch zur Kameradschaft an der Front stand. Damit Deutschland doch noch siege, galt es, „das ewige Deutschland“ zu erneuern, das sich in jenem August gezeigt hatte, und die heterogene Gesellschaft zur solidarischen, kriegsbereiten Volksgemeinschaft umzuformen. Und tatsächlich sollten sich die Nationalsozialisten immer wieder in eine Kontinuitätslinie zum August 1914 stellen. Als Hindenburg im Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte, stilisierten die Nationalsozialisten die „Machtergreifung“ als „nationale Erhebung“, die den „Geist von 1914“ und des Krieges erneuerte. So schrieb Herbert Seehofer am 31. Januar im Völkischen Beobachter: „Damals wie heute lodernde Zeichen der Volkserhebung. Damals wie heute der Bann gebrochen, die Dämme eingerissen, das Volk steht auf.“61 Und am 2. August 1933, 19 Jahre nach Kriegsbeginn, konstatierte er: „Am 2. August 1914 begann der Marsch des deutschen Soldaten in das Dritte Reich.“62 59 Siehe Meschnig: Der Wille zur Bewegung, S. 209–248 sowie Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 114–122. 60 Siehe Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003; Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, S. 242–255; Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 355–362 sowie Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 155–160. 61 Herbert Seehofer: Das erwachte Berlin marschiert, in: Völkischer Beobachter vom 31.1.1933, Nr. 31, 46. Jg., o.S. 62 Herbert Seehofer: Das Gesetz, nach dem sie angetreten, in: Völkischer Beobachter vom 2.8.1933, Nr. 214, 46. Jg., o.S. Weiter heißt es dort: „Niemals hat sich das soldatische Opfer in solchem Grade als Gestalter aller Dinge erwiesen. In den tausend Tagen und
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Die vom „Geist von 1914“ beflügelte Kriegsgesellschaft und die „sozialistische“ Frontgemeinschaft bildeten die nationalsozialistischen Leitvorstellungen.63 Das im Burgfrieden geeinte „Volk“ des Jahres 1914 und die kameradschaftliche Gemeinschaft der Kämpfer wurden zum Paradigma gesellschaftlicher Ordnung: „Dieses Volk bildete sich erst. In den Gräben, in den Lüften, auf der See, überall, wo täglich und stündlich der größte Einsatz gefordert wurde, unter den peitschenden Garben der Maschinengewehre, den Sprengstücken der Granaten, den schleichenden Gasschwaden, da wuchs eine neue Front, die durch mehr als Etappengebiete von dem, was in der Heimat vor sich ging, getrennt war. Das ist vielleicht der Sinn des November 1918, daß diese Männer von allen verraten und von der Gosse bespien zurückkehren mussten als unbesiegte Besiegte, die das Bild eines neuen Volkes in sich trugen, das ihnen draußen erstanden war.“64
Gerade an der Front hätten sich die Gleichheit und Solidarität der „Kameraden“ als durchaus vereinbar mit hierarchischer Ordnung erwiesen.65 Nun sollte diese Ordnung auf die Gesellschaft insgesamt übertragen, alle sozialen Ambivalenzen sollten beseitigt und Homogenität und Eindeutigkeit hergestellt werden.66 Eine Untersuchung der aviatischen Heldennarrative vermag den stattfindenden Umdeutungs- und Umformungsprozess, der aus einer gespaltenen, mechanistischen Gesellschaft, die auf Einzelinteressen gründete und nur durch den „Geldnexus“ zusammengehalten wurde,67 eine „solidarische“, organische und homogene, nationale Volksgemeinschaft machte, nur bedingt nachzuzeichnen. Diese Suche nach einer Ordnung der Gesellschaft, die Verwandlung der zur bedrohlichen Masse mutierten einstigen Untertanen zur militärisch geordneten Gefolgschaft, die Abwertung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft oder dem Volk fand größtenteils in anderen Diskursen statt. Nebst den politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Jahre um die Nächten des endlosen Frontkampfes wurden die Ideen geboren zu einer neuen Welt und mehr noch als dies: Der Wille, sie durchzusetzen. Schöpfer ist das Fronterlebnis gewesen einer neuen geistigen Haltung, die in den kämpfenden Seelen entstand, die der Krieg mit seiner Pflugschar umwühlte, unerhört brutal und mitleidlos wie nie zuvor. Erkenntnisse und Weisheiten von Jahrhunderten brachen zusammen in einer einzigen Stunde. […] Naive Träger schwächlicher Bürogewalten glaubten, es wäre möglich den Frontsoldaten, der täglich den Weltuntergang im Kleinen erlebt hatte, wieder einzuschieben in die ungefährlichen Geleise des Alltags. Stattdessen begann der politisch gewordene Soldat des Weltkrieges seinen zähen, verbissenen Kampf um die Seelen seiner Volksgenossen und um die staatliche Neuordnung aller Dinge. […] Aus dem Sozialismus der Front, den der Soldat praktisch erlebte, erwuchs der Nationalsozialismus als neue Lebensform für das ganze Volk.“ 63 Siehe Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden sowie Verhey: Der „Geist von 1914“. 64 Karl Pfeifer: 1914–1933, in: Völkischer Beobachter vom 2.8.1933, Nr. 214, 46. Jg. 65 Siehe Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 51. 66 Siehe Bauman: Moderne und Ambivalenz. 67 Zum Begriff des „Geldnexus“ siehe: Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998, S. 385ff.
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261
Ordnung der Gesellschaft ist diese Umdeutung im Bereich der Ökonomie und des Marktes zu verorten,68 bei den Militärs und Wehrwissenschaftlern69 sowie in den Expertendiskursen der Philosophie,70 der Soziologie71 aber auch der „Wirtschafts- und Verwaltungsfachleute, der Raumplaner, Statistiker und Agronomen, Arbeitseinsatzspezialisten und Bevölkerungswissenschaftler.“72 Dennoch lässt sich die Transformation der Gesellschaft zur Gemeinschaft und somit der Bruch mit der liberalen Ordnung und die Suche nach einer neuen Ordnung an einzelnen Aspekten der Heldennarrative festmachen. Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits gezeigt wurde, trugen auch sie zur Umformung einer von dem Pluralismus der „gedachten Ordnungen“ geprägten Gesellschaft in eine homogene Gemeinschaft bei. Vor allem aber spiegelten sie die stattfindende Verabsolutierung der Nation wider. An ihnen wird deutlich, wie das Interesse des Einzelnen ebenso wie jenes von konfessionellen Gruppen, beruflichen Schichten oder Klassen dem imaginierten nationalen „Gemeinwohl“ untergeordnet wurden. Thomas Nipperdey bemerkt dazu: „Der Radikalnationalismus steigerte die Nation zum höchsten Wert, der allen anderen moralischen Normen überlegen und dem Individuum absolut vorgeordnet war. Recht ist, was dem Volk nützt; Du bist nichts, dein Volk ist alles, so hieß das später.“73 Das Einzelinteresse war gegenüber dem „Interesse der Allgemeinheit“ bedeutungslos. Dies beteuerte auch der Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der neu gegründeten Luftwaffe, Hermann Göring, in einer Ansprache vom 20. Mai 1936, die er vor 1 000 zu vereidigenden Leutnants hielt: „Das Ziel ist für alle das gleiche; es bilden sich keine Gegensätze, es vertritt nicht ein Teil dieses Interesse, der andere jenes; sondern alle haben das gleiche Interesse am Dienen und am Einsetzen, und so ergibt sich schon durch den äußeren Umstand, daß sie alle in der gleichen Richtung marschieren, das Fehlen von Interessengegensätzen.“ „Wir müssen uns alle befleißigen“, bläute Göring den Kadetten ein,
68
Siehe hierzu: Geyer: Verkehrte Welt. Siehe hierzu: Reichherzer: „Alles ist Front!“. Siehe Peter Hoeres: Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2004. 71 Siehe Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. Es war ja der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies gewesen, der in seinem 1887 erschienen Buch Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen versucht hatte, die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft soziologisch zu untermauern. 72 Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 13. Zu den Raumplanern siehe: Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008. 73 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 607. 69 70
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„das eigene Ich zurückzustellen und nur einzig und allein unsere Pflicht voranzustellen. Und diese Pflicht heißt: Dienen für Führer, Volk und Reich. Wenn Sie alle das als Ihren eigentlichen Zweck und Ihr Ziel ansehen, und wenn Sie alle danach streben unter Zurückstellung aller Eigenantriebe, dann wird selbstverständlich auch der Boden für eine starke Kameradschaft geschaffen sein. […] Es ist etwas anderes, ob jemand für eigenen Gewinn arbeitet, […] oder ob er seine Pflicht aus dem Gefühl heraus tut, sich für ein großes allgemeines Ziel einzusetzen, das über seinem eigenen Ich steht und demgegenüber er sich nur selbst als Dienender empfindet. Deshalb verlangt man auch vom Soldaten die höchste Pflichterfüllung, weil es eine große, eine herrliche Pflicht ist, dem Vaterlande dienen zu dürfen, weil es nicht für das eigene Konto geht, sondern für das große Konto der Zukunft seines Volkes.“74
Diese soldatische Kameradschaft, diese „Zurückstellung aller Eigenantriebe“, die Unterordnung unter ein „allgemeineres“, „höheres“ Ziel sollte die von den Faschisten angestrebte Gemeinschaft von der Gesellschaft unterscheiden. Wie an den Heldennarrativen bereits verdeutlicht wurde, sollten sich Ichbewusstsein und Nationalbewusstsein überlagern. Die Einzelinteressen des Helden verschmolzen mit dem Gemeinwohl der Nation. Diese vom Helden versinnbildlichte und in die Gesellschaft vermittelte Einheit von Individuum und Nation, von Klasse und Volk sollte in der Volksgemeinschaft erzielt werden. Trat „an die Stelle aller individualistischen Sinnsuchungen“ das kollektive Ziel, verlor die Masse ihre Bedrohlichkeit.75 War die Masse zum geeinten, solidarischen Volk mutiert, wusste sie auch, „warum und wozu sie auf der Erde“ war. In der Amalgamierung von Ich und Nation, welche die Fliegerhelden vorleben, deuten sich bereits jene Abwertung des Individualismus sowie die Aufgabe von Einzelinteressen zugunsten des Gemeinwohls an, die in der nationalsozialistischen Maxime „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ kulminierten. Doch sie deuten sich eben vor allem für den nachgeborenen Interpreten an. Während des Krieges selbst gründete der Erfolg der populären Heldennarrative darin, dass die Figur des Fliegerhelden als autonomes, souveränes Individuum in Erscheinung trat. Seine Popularität beruhte geradezu auf seinem Individualismus und auf dem Gegensatz zur anonymen Masse. Dieses Individuum fand aber im Dienste an der Nation seine Erfüllung. Es war bereits ein vergemeinschaftetes Individuum. Der Fliegerheld war eine von bürgerlichen Meinungs- und Wortführern vornehmlich für das Bürgertum geschaffene Identifikationsfigur, die das im Langemarcknarrativ gipfelnde Opferheldentum kompensierte. Denn zwar „bediente er [der Langemarck-Mythos] die Erwartungshaltung des national gesonnenen Bürgertums, das in der optimistischen und kampfbereiten deut74
Hermann Göring: Kameradschaft, Pflichterfüllung und Opferbereitschaft. Ansprache an 1000 Fliegerleutnants am Tage ihrer Vereidigung in Berlin am 20. Mai 1936, in: Erich Gritzbach (Hrsg.): Hermann Göring. Reden und Aufsätze, München 1938, S. 226–244, S. 228–230. 75 Arthur Moeller van den Bruck: Das ewige Reich. Bd. 1. Die politischen Kräfte, hrsg. v. Hans Schwarz, Breslau 1933 [Or. 1923], S. 334. Dort auch das folgende Zitat.
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schen [studentischen] Jugend die nationale Hoffnung und Wiedergeburt sehen wollte“.76 Aber mit seiner Betonung der anonymen Masse widersprach er sowohl dem bürgerlichen Individualismus als auch dem elitären Selbstverständnis des Bürgertums. Bildete also diese Betonung des Individualismus den Nexus zwischen den Heldennarrativen und der liberalen Ordnung der Gesellschaft, so war es die Tatsache, dass dieses Individuum mit der Nation verschmolz und als deren idealtypischer Repräsentant und Verkörperung galt, welche die Brücke zu den faschistischen Ordnungsvorstellungen der Gemeinschaft schuf. Der Fliegerheld vermochte, je nach Lesart, noch als bürgerliches Individuum oder aber auch, insbesondere nach dem Krieg, als Vorbote eines antibürgerlichen, kollektivistischen Kriegertypus wahrgenommen zu werden, dessen Ich in der Nation beziehungsweise dem Volk aufgegangen war. Er hatte seinen zur gesellschaftlichen Spaltung führenden Individualismus, seinen Eigennutz abgestreift und diente dem Gemeinnutz. Er trat zwar als Einzelner auf und hob sich von der Masse ab, aber er verkörperte das Kollektiv, mit dem er identisch geworden war. Die neuen, technischen Helden nehmen im Prozess der Umdeutung und Umformung der als bedrohlich wahrgenommenen Massengesellschaft zu einer geordneten Volksgemeinschaft jedenfalls eine Scharnierfunktion wahr. Sie sind Übergangshelden, die eine Brücke zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen, zwischen dem bürgerlichen Individualismus und dem antibourgeoisen Antiindividualismus bildeten. Die Figur des Fliegerhelden versah während des Krieges den stattfindenden faktischen Zusammenbruch des Wertes des Einzelnen mit einem Sinn. Zugleich ermöglichte sie den Übergang zu jener „heroischen“ und „soldatischen“ Haltung, die nach dem Krieg den Untergang des Individualismus begrüßte und den Krieg als „Schicksal“ annahm: „Was erlebt wird, das ist der vollkommene Zusammenbruch des Individualismus, es ist der absolute Bankrott des humanitären Denkens. Für diesen Auflösungsprozess […] gibt es sehr bemerkenswerte Beispiele; eines der beachtlichsten ist, wie der elementare Ausbruch des Krieges und sein Eindringen in die Sphäre der Gesittung ein fassungsloses Entsetzen hervorruft. […] Der geborene Krieger lässt sich auf humanitäre Perspektiven gar nicht ein; er kann es nicht, weil er von der Schicksalshaftigkeit des Krieges ganz und gar durchdrungen ist. Er weiß sich in eine notwendige Aufgabe eingeordnet, und er erfüllt sie, unbekümmert um alle Meinungen und Formeln, die an diese Aufgabe herangetragen werden.“77
Dies schrieb Friedrich Georg Jünger 1930 in dem von seinem drei Jahre älteren Bruder Ernst herausgegebenen Buch Krieg und Krieger. Die „totale Mobilmachung“, die nun zum Modell gesellschaftlicher Ordnung wurde, forderte vom Einzelnen eben eine „totale Solidarität“ mit der Nation. Diese 76 Schilling: „Kriegshelden“, S. 252. Siehe zur Popularität des Langemarck-Mythos, die erst in der Weimarer Republik steigen sollte und dem Gegenbild des technischen Helden: Ebd. S. 252–288 sowie Hüppauf: Schlachtenmythen. 77 Friedrich Georg Jünger: Krieg und Krieger, in: Ernst Jünger (Hrsg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 51–67, S. 62f.
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totale Solidarität bedeutete in letzter Konsequenz die Auslöschung des Selbst und das Ende des Individualismus.78 Die Solidarität gegenüber den „Volksgenossen“ wurde in der Folge durch den Nationalsozialismus, so der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, „entrationalisiert, mystifiziert, zuletzt gar – wie die Idee der Gemeinschaft, auf der sie basiert – gegen die Zivilisation gewendet. […] Galt im Liberalismus nach jahrhundertelangem Ringen als ausgemacht, dass sich Staat und Gesellschaft auf den Individuen aufbauen, so bilden jetzt Volk und Gemeinschaft den ‚obersten Wert‘.“79 Es war nicht zuletzt diese Forderung nach „totaler Solidarität“ und nach Aufhebung der privaten Existenz, durch welche sich die Volksgemeinschaft von der liberalen Ordnung der Gesellschaft unterschied.80 So hieß es in Ernst Jüngers Der Arbeiter: „Was stirbt, was abfällt, ist das Individuum als der Vertreter geschwächter und zum Untergang bestimmter Ordnungen.“81 Ob der Einzelne starb, so die brutale Konsequenz dieses Denkens, war unwesentlich: „Das Verhältnis zum Tode hat sich verändert; seine äußerste Nähe entbehrt jeder Stimmung, die noch als festlicher Charakter ausgedeutet werden kann. […] Seine [des Einzelnen] Kampfkraft ist kein individueller, sondern ein funktionaler Wert; man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus.“82
78
Vgl. hierzu Benito Mussolini: Die politische und soziale Doktrin des Faschismus, Leipzig 1933 [Or. 1932], S. 31ff.: „Wenn das 19. das Jahrhundert des Individuums war (Liberalismus bedeutet Individualismus), so kann man das jetzige als das ,kollektive‘ Jahrhundert und daher als das Jahrhundert des Staates bezeichnen. […] Das Hauptmerkmal der faschistischen Doktrin ist ihre Auffassung vom Staat, von seinem Wesen, seinen Aufgaben, seinen Endzielen. Für den Faschismus ist der Staat ein Absolutes, demgegenüber die Einzelwesen und Gruppen das Relative darstellen. Einzelwesen und Gruppen sind im Staate selbst ‚denkbar‘. […] Wer Liberalismus sagt, meint das Individuum, wer Faschismus sagt, meint den Staat.“ Siehe auch: Ders.: Der Faschismus. Philosophische, politische und gesellschaftliche Grundlehren, München 1933 [Or. 1932], S. 5f. Der Staatsrechtler und Leiter der Abteilung „Deutsche Lebensgebiete“ im SD-Hauptamt Prof. Reinhard Höhn hielt fest: „An Stelle des individualistischen Prinzips ist heute ein anderes getreten, das Prinzip der Gemeinschaft. Nicht mehr die juristische Staatsperson ist Grund und Eckstein des Staatsrechts, sondern die Volksgemeinschaft ist der neue Ausgangspunkt.“ Reinhard Höhn: Otto von Gierckes Staatslehre und unsere Zeit, Hamburg 1936 zit. nach: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914– 1945, München 1999, S. 327. 79 Uwe Volkmann: Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, Tübingen 1998, S. 197f. 80 Vgl. dazu auch E. Wolter: Die Organisation des Sieges, in: Deutsche Wehr 19/1935, S. 218–220, S. 218f. zit. nach Meschnig: Der Wille zur Bewegung, S. 239. Dort heißt es: „Totalität der Mobilmachung heißt nicht, daß außer den Frontkämpfern nun auch diese oder jene Kategorie der Zivilbevölkerung für den Kriegszweck herangezogen wird, sondern Totalität heißt, daß mit dem Augenblick des Kriegsausbruchs alles bloß private Dasein aufhört und für die gesamte Nation nun bis zum Ende die Kriegführung den einzigen Lebensinhalt bildet, daß es darum eine Zivilbevölkerung der Idee nach überhaupt nicht mehr gibt.“ 81 Jünger: Der Arbeiter, S. 105f. 82 Ebd., S. 106.
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Gerade in der „organischen Gemeinschaft“, welche die „mechanistische Gesellschaft“ ersetzen sollte, wurde der Einzelne zu einem Rädchen, das einen rein funktionalen Wert besaß. Dieser funktionale Wert erhielt aber durch seine Verknüpfung mit der Nation einen Sinn. Bereits während des Ersten Weltkrieges fand der Anspruch des kriegführenden Staates nach totaler Solidarität in den Heldenbildern seinen Ausdruck aber auch in der Rede vom „nationalen Sozialismus“ oder vom „Kriegssozialismus“.83 Der Nationalökonom und Soziologe Johann Plenge bemerkte 1915: „Wir sind durch den Krieg mehr wie bisher eine sozialistische Gesellschaft geworden. Aber Sozialismus ist als gesellschaftliche Organisation nur die voll bewußte Gestaltung der Gesellschaft zur höchsten Kraft und Gesundheit; Sozialismus ist als Gesinnung nur die Befreiung des Einzelnen zur bewußten Einordnung in das begriffene Lebensganze von Staat und Gesellschaft.“84 Es war diese „Befreiung des Einzelnen“ sowie seine „bewußte Einordnung in das begriffene [nationale] Lebensganze“, welches die Heldennarrative in die Gesellschaft vermittelten. So hieß es in Friedrich Georg Jüngers Porträt Manfred von Richthofens: „Dieses beste Blut der Nation, diese Herzen von Metall wußten um einen höheren Sinn des Lebens als den der Selbsterhaltung; ihnen war die Fähigkeit zur Aufopferung als schweigende Überzeugung von dem Vorhandensein eines reicheren Lebens eingeboren. Gewiß glaubten sie an die unsterbliche Gültigkeit ihrer Taten, wie anders hätten sie, die in der Blüte ihres Lebens standen, sich mit Heiterkeit dem Tode in die Arme werfen können.“85
Die Helden wurden zunehmend aufgrund dieser Auslöschung des Selbst verehrt. Sie hatten das Interesse am eigenen Überleben dem ihnen höherrangigen Gemeinwohl, dem Sieg untergeordnet. Und dieser „Altruismus“ sicherte ihnen und der Nation, so die Heldennarrative, ein ewiges Leben. Der Wandel vom individualistischen zum kollektivistischen Helden weist in die zu errichtende Volksgemeinschaft. In den folgenden Teilabschnitten wird gezeigt, wie dieser Wandel auch eine Umdeutung der klassen- und schichtenspezifischen Ordnungskategorien der Gesellschaft umfasste. Der Fliegerheld des Ersten Weltkrieges war eine transitorische Figur auf dem Weg zu einem „Neuen Adel“, aber auch zu einer die Einheit der Gemeinschaft verkörpernden neuen „Arbeiter“-Gestalt.
83
Siehe Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 118–124 u. S. 262–266. Johann Plenge: Der Krieg und die Volkswirtschaft. 2. Auflage mit einem Zusatzkapitel: Zwischen Zukunft und Vergangenheit nach 16 Monaten Wirtschaftskrieg, Münster i.W. 1915², S. 172 zit. nach Meschnig: Der Wille zur Bewegung, S. 213. 85 Friedrich Georg Jünger: Manfred von Richthofen, in: Ernst Jünger (Hrsg.): Die Unvergessenen, Berlin u.a. 1928, S. 279–286, S. 281f. 84
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b. Der Fliegerheld und die Volksgemeinschaft Wie sah nun die Ordnung der Gemeinschaft aus, die mit dem in der verabsolutierten Nation gründenden Mythos einherging? Einerseits galt es, eine „neue Hierarchie“ zu etablieren, andererseits sollte die Gemeinschaft homogenisiert werden. Der Fliegerheld diente dabei zum einen als Vorbild eines „Neuen Adels“, der an der Spitze der hierarchischen Gemeinschaft stand. Er bezog seine Adeligkeit nicht aus seinem Stand oder seiner Herkunft, sondern aus seiner Leistung und seiner Opferbereitschaft für die Nation. Der Fliegerheld war das Sinnbild einer neuen kriegerischen, meritokratischen Funktionselite, welche die traditionelle, adlige Kriegerkaste partiell ablöste und auch deren gesellschaftliche Stellung einnehmen sollte. Zum anderen fungierte der prinzipiell schichtenübergreifende Typus des technikaffinen Fliegerhelden auch als eine das Industrieproletariat integrierende Figur. Einerseits sollte die homogene Gemeinschaft durch die Exklusion und letztlich Vernichtung des Ambivalenten und Unbestimmten, der „Gemeinschaftsfremden“ also, hergestellt werden. Andererseits sollte die Einheit und Eindeutigkeit durch die Inklusion der „Volksgenossen“ erzielt werden.86 An der jüngerschen „Arbeitergestalt“ und ihren Beziehungen zur Figur des Fliegerhelden wird beispielhaft gezeigt werden, wie „der Arbeiter“ nach dem Krieg zu einem Symbol der Einheit einer Gemeinschaft wurde, die nun dauerhaft in den Zustand „totaler Mobilmachung“ und totaler „Solidarität“ versetzt werden sollte. Doch bevor die Brückenfunktion der Fliegerhelden zwischen der zu überwindenden „Gesellschaft“ und der zu errichtenden Volksgemeinschaft beleuchtet wird, soll diese dystopische Utopie selbst kurz in den Blick geraten. Die nationalsozialistische Vision der Volksgemeinschaft hatte ihre Wurzeln in den radikalnationalistischen und völkischen Bewegungen des Kaiserreichs und es waren zunächst der Krieg und dann die Niederlage, die dieser faschistischen Utopie eine Massenanhängerschaft bescherten.87 Bereits in dem Titel seines 1982 erschienenen Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde machte Detlev Peukert auf die Doppelgesichtigkeit der nationalsozialistischen Zielutopie aufmerksam. Die Volksgemeinschaft habe, sofern sie auf Inklusions-Versprechen sowie auf Exklusions-Verbrechen beruhte, „zwei Stoßrichtungen“:88 Die Inklusion der Volksgenossen ging mit der Exklusion und „Ausmerzung“ der „Gemeinschaftsfremden“, die Schaffung des Neuen Menschen mit der Vernichtung von Menschen einher. Dieser Dualismus von 86
Siehe Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Siehe Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden; Müller: Nation als Waffe und Vorstellung, S. 81–96; Verhey: Der „Geist von 1914“; Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse; Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, S. 26–68. Siehe hierzu neuerdings auch: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009. 88 Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, S. 247. 87
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Inklusion und Exklusion ist ein rein analytischer, und doch vermag auch vorliegende Arbeit nicht, ihn aufzuheben. Zwar kommen, wie im vorangegangenen Abschnitt deutlich wurde, auch die Abgrenzung vom Fremden und die kursierenden Feindbilder in den populären Heldennarrativen zur Sprache. Indes personifizierten die opferbereiten und leistungswilligen Helden den „Geist von 1914“ und somit, um es nochmals zu betonen, vornehmlich den inklusiven Aspekt der Gemeinschaftsvorstellung. Daher können allein die Inklusionsverheißung, ihre Quelle im Krieg und deren Attraktivität für die Zeitgenossen im Folgenden beleuchtet werden. Die Volksgemeinschaft verhieß eine Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, die „Zusammenführung von Bürgertum und Proletariat“ also.89 Zudem sollte die Volksgemeinschaft zum Sieg über das westliche wie auch das marxistische Modell der Gesellschaft führen. Wie Hans-Ulrich Wehler gezeigt hat, besaß das Bild einer harmonischen, hierarchischen, homogenen und konsensualen Volksgemeinschaft zwei Dimensionen: „Zum einen vermochte dieses Leitbild, den weitverbreiteten Marxismus in sich aufzunehmen und in eine Antriebskraft zugunsten der vermeintlich überlegenen Gegenutopie zu verwandeln. Zum anderen implizierte die propagandistisch überhöhte Idee der ‚Volksgemeinschaft‘ auch eine scharfe antibürgerliche Spitze, da sie der Vision von der auf Leistung und ‚natürlicher‘ Hierarchie, individueller Entfaltung, politischen Freiheitsrechten und autonomer Lebensgestaltung beruhenden ‚Bürgerlichen Gesellschaft‘ eine kollektivistische (‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘), auf Unterordnung und Fremdsteuerung beruhende Zielvorstellung entgegensetzte.“90
Ein wachsender Teil der deutschen, aber auch der italienischen Deutungseliten war, nicht zuletzt angesichts des als Bedrohung empfundenen Marxismus einerseits und der Assoziation Großbritanniens, Frankreichs und der USA mit dem Liberalismus andererseits, unfähig, die für die Legitimation des Krieges notwendige Ordnungsvorstellung „Nation“ in Einklang mit bürgerlich-liberalen Ordnungskategorien zu denken. In der Folge wurde ein „nationaler Sozialismus“, ein dritter Weg in die Moderne, ein wenngleich „entfernt verwandter“ so doch entgegengesetzter Weg zur Ordnung der Massengesellschaft zwischen Liberalismus und Marxismus und jenseits der Ordnungsvorstellung „Klasse“ angestrebt.91 In der nationalen und „sozialistischen“ Gemeinschaft war, so die faschistische Verheißung, der Antagonismus von Kapital und Arbeit, von besitzenden und arbeitenden Klassen im gemeinsamen Ziel, im Überlebenskampf der Nation aufgehoben. Der innere Konflikt zwischen den Klassen wurde nach 89 Norbert Frei: „Volksgemeinschaft“. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit, in: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 107–128, S. 110. Siehe zudem: Dietmar Süß/Winfried Süß: „Volksgemeinschaft“ und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland, in: Dies. (Hrsg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 79–100. 90 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 681. 91 Siehe hierzu: Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft, S. 16–20.
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außen gekehrt und zur Konkurrenz zwischen den „reichen und den proletarischen Nationen“ oder zwischen „höherwertigen und minderwertigen Rassen“ umgedeutet. Das Ziel „nationaler Sozialismus“ erzwang eine Umdeutung der bestehenden Unterscheidungs- und Gleichheitskriterien, aber auch der herrschenden Rangordnung.92 Es handelte sich um eine radikale Umordnung der „bürgerlichen“ Gesellschaft auf der Grundlage nicht sozialspezifischer Kategorien. Die bürgerlich-liberalen wie auch marxistischen, sozialen Kategorien von Beruf, Klasse, Stand und Herkunft sollten in der faschistischen, hierarchischen Ordnung der Gemeinschaft keinerlei Rolle spielen.93 Wie verhält sich die populäre Figur des Fliegerhelden zur Volksgemeinschaftsideologie, ihrer „scharfen antibürgerlichen Spitze“ und ihren dem Marxismus „radikal entgegengesetzten und doch benachbarten“ Ideologemen?94 Der Fliegerheld stellte eine transitorische Figur dar, die den stattfindenden Bruch mit der alten ebenso wie die Suche nach einer neuen Ordnung widerspiegelt. Das heißt, dass diese Figur auf die Übergänge hin gelesen werden muss. Im Jahr 1939 veröffentlichte der Leiter der Jugendschriftenabteilung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes des Gaus Bayerische Ostmark, Hanns Haller, ein Buch mit dem Titel Der Flieger von Rottenburg.95 Haller schilderte darin den Aufstieg des Schlossergesellen Max Müller. Der Weg des „jungen Arbeiters“ zum Kriegsflieger und schließlich zum Ritter Max von Müller gipfelt in einer am Grab des Kriegshelden spielenden Szene am Ende des Buches. Sie verdeutlicht die Verheißung der Volksgemeinschaft und zeugt sowohl von der propagandistischen Integration des „Proletariats“ als auch von der Geburt eines herkunftsunabhängigen „Neuen Adels“ . Zudem wird hier der palingenetische, mythische Kern des Faschismus veranschaulicht: „Es ist der wundervolle Sohn all der Bauern und Handwerker, die da den Friedhofburghügel umstehen, ihr Bruder, ihr Blut, ihr Arbeitskamerad, aus ihrem Land emporgestiegen wie ein Komet […]. Über das Grab hin spricht ein Offizier. […] Wenn ein gütiger Gott heranträte, sagte er, um den Leutnant Max Müller zum Leben zurückzuholen, er würde ihn bitten, das nicht zu tun. Denn: so wie Deutschland jetzt die lebenden Helden braucht, braucht das ewige Deutschland diesen unvergleichlichen toten Helden. […] Als nach einigen Wochen Max Müller der Grabstein gesetzt wurde, ward darauf geschrieben: Max Ritter von Müller. Das war der höchste Orden und die letzte Ehre, die ein Soldat erfahren konnte: der Max-Josefs-Ritter-Orden. Aus Eisen wurde Stahl in der Esse der Tat – ein schlichter Mann hat seinen schlichten Namen emporgehoben in die steile Höhe des Adels und ein edles Wappen auf seinem Schlosserhammer geritzt. Aber in den nächsten Jahren ist es still 92
Vgl. hierzu Nolte: Die Ordnung der Gesellschaft, S. 195. Das heißt weder, dass diese Unterschiede nicht existierten oder beseitigt wurden, noch, dass sie für die anvisierte korporativ-ständische Wirtschaftsordnung bedeutungslos gewesen wären, sondern dass sie für die zu etablierende Gemeinschaft irrelevant waren, da diese nach nationalistischen und/oder völkischen Kriterien geordnet wurde. Vgl. Nolte: Die Ordnung der Gesellschaft, S. 192. 94 Vgl. hierzu Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 51. 95 Zum Nationalsozialistischen Lehrerbund und dessen Jugendschriftenabteilung siehe: Petra Josting: Der Jugendschrifttums-Kampf des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Hildesheim u.a. 1995. 93
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um das wappengezierte Grab des Seltenen. Wie es still wird auf dem Felde, wenn der Same in die Erde gelegt ist.“96
Das Buch endet mit einer neuen Versammlung am Heldengrab, bei der ein „junger Führer“ spricht: „Mit den paar Hundert, sagt er, stünden noch viele im Kreis: Alle jene, die hinter den vielen Wimpeln und Fahnen marschieren, auf die der Name des großen Soldaten geschrieben ist; jene, die in den Arbeitslagern leben, vor denen der goldene Name dieses Arbeiters steht; jene die in den Straßen hausen, die den ruhmreichen Namen tragen; und dazu die Millionen, die wieder stolz empor schauen, wenn es durch die Luft rauscht. […] Und jetzt beginnt es aus hundert Mündern zu reden, und sie reden wie ein Chor von oben und reden von der Ewigkeit des Helden. […] 400 Jungen stehen singend in dem Totengarten, stehen wie junge Pflanzen, die aus dem kostbaren Samen aufgingen, den Deutschland hier im letzten Jahre des Krieges aussäte.“
Für die Nationalsozialisten ging im „Dritten Reich“ der im Krieg gesäte Samen auf. Jene Einheit des Volkes, die im August 1914 beschworen worden war, als es keine Parteien, sondern nur noch Deutsche gegeben hatte, wurde nun erneuert und das „ewige Deutschland“ wiedergeboren.97 Im Feuer des Krieges, in der „Esse der Tat“ war ein Neuer Mensch entstanden und aus den zahlreichen, jenem einfachen Schlossergesellen gleichenden Helden war ein Neuer Adel hervorgegangen. Haller machte mit seiner Erzählung des Heldenlebens des Max Müller darauf aufmerksam, dass in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft die Leistung des Einzelnen, seine Taten, sein Opfer für die Gemeinschaft den Menschen adelte und nicht seine Herkunft. Der nationalsozialistische Neue Adel zeichnete sich durch sein „Blut“ aus, durch seinen überlegenen Charakter, Willen und durch sein Führertum. An dieser Stelle ist nicht die Frage entscheidend, ob „Hitlers soziale Revolution“, so David Schoenbaum 1966, tatsächlich stattfand.98 Ausschlaggebend ist vielmehr die handlungsanleitende Realität der Fiktion. Selbst wenn das faschistische Regime die Massen, um Walter Benjamin zu zitieren, „nicht zu ihrem Recht“ kommen ließ, so kamen sie nicht zuletzt in den Heldenkonstrukten doch „zu ihrem Ausdruck“.99 Ein „junger Arbeiter“, so die Moral von Hanns Hallers Geschichte, wurde, sofern er „deutschen Blutes“ war, in der nationalsozialistischen Gemeinschaft unabhängig von seiner sozialen Herkunft beurteilt. Seine Leistungen für das Volk zeugten von seiner Überlegenheit, sie bewiesen, dass er zu den Besten und 96
Hanns Haller: Der Flieger von Rottenburg, Bayreuth 1939, S. 104f. [Hervorhebung im Or.]. Dort (S. 107f.) auch das folgende Zitat. 97 Der Wortlaut der Ansprache Kaiser Wilhelms II. vom 1.8.1914 lautete: „In dem bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche“. Eine Ansprache des Kaisers, in: Vorwärts, 2.8.1914, Nr. 208 zit. nach Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 118. 98 Schoenbaum: Hitler’s Social Revolution. Siehe dazu: Frei: Volksgemeinschaft sowie neuerdings Jill Stephenson: Inclusion: building the national community in propaganda and practice, in: Jill Caplan (Hrsg.): Nazi Germany, Oxford u.a. 2008, S. 99–121. 99 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 506.
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Tüchtigsten zählte, und ihretwegen vermochte er zu führen. Im Nationalsozialismus begründeten „die Führer, der Eine und die Vielen, […] ihre Position mit ihrem Nutzen für das Volk. Über die anderen Volksgenossen ragten sie heraus, weil sie mehr ‚Gemeinschaftsgehalte‘ in sich aufgesogen hatten, also kraft ihres Charismas mehr vergemeinschaftende Wirkung entfalteten. Dieses dynamische Element der nationalsozialistischen Leistungsgesellschaft verhieß jedem, der die unbedingte Priorität der Gemeinschaft respektierte, die Chance, selbst zum Führer zu werden.“100
Es war nicht zuletzt diese Verheißung, die zahlreiche Zeitgenossen beflügelte und ihre Mitwirkung an der Volksgemeinschaft motivierte. Das Führertum, die Neuen Menschen, der neue Arbeitertypus und der „Neue Adel“, den Hanns Haller aus dem „kostbaren Samen“ aufgehen sah, den „Deutschland im Kriege aussäte“, hatte in den „Rittern der Lüfte“ eine Quelle. Es werden nun die Ströme nachgezeichnet, welche in den Nationalsozialismus mündeten. Sofern sie eine „Auslese“ propagierten, bedienten die Heldennarrative insbesondere die elitären Sehnsüchte der Gesellschaft und nahmen jenen „Adel der Tat“ und jene Führerpersönlichkeiten vorweg, nach denen sich weite Teile der Bevölkerung in der Nachkriegszeit sehnen sollten.101 Die Figur des Fliegerhelden war ein bürgerlich-adliger Hybrid, der eine semantische Brücke zwischen dem Leitbild des aristokratischen Ritters und den neuadligen „Stahlgestalten“ der Nachkriegszeit bildete. Durch die Aufwertung der Sphäre der Technik leisteten die „Helden der Lüfte“ einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz dieser „Stahlgestalten“ und „Arbeiter-Soldaten“. Die aviatischen Heroen repräsentierten, wie deutlich werden wird, sowohl jenen „punktuellen Widerspruch“ zwischen egalitärer Gemeinschaft und hierarchischer Ordnung, der die Volksgemeinschaft bestimmte, als auch „den Prozess seiner Harmonisierung.“102 Die Figur des Fliegerhelden und der kriegerische Adel der Tat Die Suche nach bewährten Führern und nach einem kämpferischen Neuen Adel gründete in jenen seit etwa 1890 sich ereignenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die in weiten Teilen des Bürgertums zu einer Ablehnung und in der Folge zu einer Umdeutung ihrer Bürgerlichkeit führten.103 Es ist hier zwar weder möglich noch beabsichtigt, den „Aushöhlungs-
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Kühne: Kameradschaft, S. 104. Zum „Neu-Adeligen als Tatmensch“ siehe: Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, S. 197–294. Dabei zeichnet Gerstner den neuadligen Tatmenschen eher als Geistesaristokraten denn als Angehörigen einer kriegerischen Aristokratie. 102 Soeffner: Der fliegende Maulwurf, S. 132. 103 Zu den Transformationsprozessen des Bürgertums als Desiderat der Forschung siehe: Manfred Hettling: Eine anstrengende Affäre. Die Sozialgeschichte des Bürgertums, in: 101
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prozess spezifisch bürgerlicher Sozialformen“ nachzuzeichnen, der sich in jenen Jahrzehnten ereignete.104 Es kann jedoch konstatiert werden, dass die im Ersten Weltkrieg konstruierte Figur des Fliegerhelden Ausdruck dieses Prozesses ist. Obwohl sie „nur auf dem Boden spezifisch bürgerlicher Lebensformen Entwicklungsmöglichkeiten besaß“, wies sie nämlich in ihrer Kodierung als „Adel“ bereits deutlich anti-bürgerliche Züge auf. Wie gezeigt wurde, gründete der Erfolg der Figur auf den Leistungen und im Individualismus der Fliegerhelden, auf bürgerlichen Leitvorstellungen also, die eine Unterscheidung des „Bürgers“ von der Masse erlaubten. Der Krieg katalysierte indes einen Umdeutungsprozess, der diese bürgerlichen Prinzipien zu Elementen einer antibürgerlichen Denkform verwandelte, und zwar indem die bürgerliche Leistungstugend vom Individualismus entkoppelt und mit dem Kollektiv verknüpft wurde. Zwar hob sich der antibourgeoise Bürger weiterhin durch seine Leistung von der Masse ab. Doch es war nicht mehr die Leistung für sich selbst, sondern jene für das Kollektiv, die nunmehr die Grundlage des Neuen Adels und Führertums bildete.105 Um den Zusammenhang zwischen der Figur des Fliegerhelden, dem „neuen Adel der Tat“ und der Volksgemeinschaft herauszuarbeiten, ist es notwendig, zunächst in die Nachkriegszeit zu schauen.106 Da die anvisierte homogene Nation eine andere Hierarchie aufweisen sollte als die liberale Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, mussten eine neue Rangordnung und eine neue Elite etabliert werden. Die „Herrschaft der Minderwertigen“ sollte auf jeden Fall verhindert werden, doch wer diese Minderwertigen waren, wurde neu verhandelt.107
Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 219–232, S. 231. 104 Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315, S. 291. Dort auch das folgende Zitat. 105 Jener die Volksgemeinschaftsideologie bestimmende Zwiespalt von „Egalität“ und Elite gründete eben im Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft, dem die antibürgerlichen Protagonisten der Neuen Rechten selbst entstammten. Vgl. hierzu Gerstner: Neuer Adel, S. 21. 106 Zum „Neuen Adel“ siehe: Eckart Conze: Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS, in: Ders./Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2004, S. 151–176; Gerstner: Neuer Adel; Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003², insbes. S. 293–320, S. 531–552; ders.: „Führertum“ und „Neuer Adel“. Die Deutsche Adelgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub in der Weimarer Republik, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 173–211; Heinz Reif: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 7–27. 107 Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich, Berlin 1930² [Or. 1927].
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Für den „konservativen Revolutionär“ Jung,108 den die Nationalsozialisten in der „Nacht der langen Messer“ erschießen sollten,109 galt es, die „Masse wieder in gegliedertes Volk“ zurückzuverwandeln.110 „Die große Aufgabe der Politik“ bestand darin, „die Ordnung unter Ungleichen [herzustellen], sei es unter Menschen oder unter Völkern“.111 Das Paradigma für diese „Ordnung unter Ungleichen“ war die Frontgemeinschaft. Die dort zwischen den Klassen und zwischen Offizieren und Untergebenen angeblich herrschende „Kameradschaft“ sollte in der Volksgemeinschaft die „Gleichheit“ ersetzen, die mit dem Ruch der Massengesellschaft behaftet war. An die Stelle der Herrschaft der „minderwertigen Massen“ sollte eine „Herrschaft der Besten“ treten, eine auf wahrem Führertum beruhende Aristokratie, die sich angeblich an der Front etabliert hatte. Der Offizier und Freikorpskämpfer Wilhelm Ritter von Schramm pries in seinem 1930 in Ernst Jüngers Sammelband Krieg und Krieger veröffentlichten Aufsatz Schöpferische Kritik des Krieges die „selbstherrliche Demokratie der Frontsoldaten“:112 „Niemals anerkannt, aber stillschweigend geduldet, siegt im Felde sehr bald eine formlose Demokratie, die freilich als Kameradschaftlichkeit in Erscheinung trat. […] Im Graben, im Trichtergelände gab es keinen künstlichen Abstand mehr, war die strenge und starre Rangordnung vernichtet, zu der man das Heer im langen Frieden erzogen hatte. Es hat sich eine neue, natürliche, auf Taten und echte Leistung gegründete Rangordnung herausgebildet, die nicht in jedem Fall den Gradabzeichen entsprechend war.“
Diese „neue, natürliche, auf Taten und echte Leistung gegründete Rangordnung“ sollte auch die Gemeinschaft strukturieren.113 Die Hierarchie, die sich an der Front herausgebildet hatte, die Unterscheidung von echten, durch Taten bewährten Führern und deren Gefolgschaft sollte auf die Gesellschaft
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Der Begriff der „konservativen Revolution“ wurde von Armin Mohler etabliert. Siehe: Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Stuttgart u.a. 19995. Der Schweizer Mohler versuchte nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, in die Waffen-SS aufgenommen zu werden, was ihm nicht gelang. Danach wurde er in Deutschland wie auch in der Schweiz interniert und wurde nach seiner Dissertation „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932“ Ernst Jüngers persönlicher Sekretär. Mohlers Befangenheit gebietet eine gewisse Vorsicht bei der Verwendung des Begriffs „konservative Revolution“, der sich aber dennoch eingebürgert hat und daher hier gebraucht wird. Zu Mohler siehe: Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, S. 256–262. 109 Für einen Überblick zu Edgar Julius Jung und für weitere Literatur siehe: Gerstner: Neuer Adel, S. 88–99. Vgl. zum Folgenden: Ebd., S. 240f. 110 Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, S. 348. 111 Edgar Julius Jung: Sinndeutung der deutschen Revolution, Oldenburg 1933, S. 103 zit. nach Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 11. 112 Wilhelm von Schramm: Schöpferische Kritik des Krieges. Ein Versuch, in: Ernst Jünger (Hrsg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 31–49, S. 45. Dort (S. 44) auch das folgende Zitat. Vgl. hierzu: Kühne: Kameradschaft, S. 51–57. 113 Siehe hierzu Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 117f.
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übertragen und eine trincerocrazia errichtet werden.114 Darin waren sich die Nationalsozialisten und die neoaristokratischen, konservativen Revolutionäre einig. Selbstverständlich gab es innerhalb der aus dem Kaiserreich hervorgegangenen Neuen Rechten zahlreiche Nuancierungen und Differenzen, auf die in vorliegender Untersuchung nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. In der NSDAP und im hitlerschen „Maßnahmenstaat“ waren ebenso wie im PNF und im Machtapparat Mussolinis unterschiedlichste Strömungen der Neuen Rechten unter dem Banner des Faschismus versammelt. Der Faschismus als Ideologie war – in Grenzen – „pluralistisch“ und diffus und die Faschisten daher in sich heterogen. Darum vermochte auch der Nationalsozialismus, insbesondere nach der Erringung der Macht und nicht zuletzt durch die Androhung und Anwendung von Terror, zahlreiche Anhänger von Gruppierungen, die sich zuvor von ihm distanziert hatten und zwischen denen im Einzelnen ideologische Differenzen bestanden, zu integrieren. Den Zusammenhalt gewährten, erstens, die vage Utopie oder das gemeinsame, ideologische Ziel der Errichtung einer alternativen Ordnung und Moderne, deren Gemeinschaft generierender, palingenetischer Mythos in einer sakralisierten Nation oder Volk gründete; zweitens, die geteilten Negationen, also der Antimarxismus, der Antiliberalismus, der Antikonservatismus etc.; drittens, der Nexus zum Krieg und der daraus resultierende Kult und die Praxis der Gewalt und, viertens, der charismatische Führer an der Spitze. Was die Etablierung der Volksgemeinschaft anbelangt, lässt sich vereinfachend behaupten, dass die Unterschiede innerhalb der Neuen Rechten weniger den zentralen Kern dieser Ordnungsvorstellung betrafen, nämlich die erstrebte Erneuerung der Nation, die als homogene und eindeutige Gemeinschaft gedacht war, als vielmehr die Frage nach den geeigneten Führern, der Rolle des Rassismus und der Rolle der zum Volk mutierten Masse. Sollte ein Geistesadel, eine technokratische Elite oder ein Adel des Blutes herrschen? Machte man sich „mit der Masse gemein“, was zahlreiche elitäre und nicht zuletzt auch aus diesem Grund zurecht mit dem Attribut „konservativ“ behaftete neurechte Revolutionäre den „plebejischen“ Nationalsozialisten vorwarfen, oder nicht? Die Differenzen betrafen unter anderem also den Elitarismus der einzelnen Gruppierungen und die „Auslesekriterien“, die der neuen Rangordnung zugrunde gelegt wurden.115 Für Edgar Julius Jung galt 114
Der Begriff der trincerocrazia, also der Aristokratie und Herrschaft der Grabenkämpfer, stammt aus einem von Mussolini im Il Popolo d’Italia am 15.12.1917 veröffentlichten Artikel. Siehe dazu: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 34 sowie Sternhell/Sznajder/Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie, S. 277. 115 Siehe hierzu die Definition der zentralen Analysekategorien in der Einleitung sowie insbesondere die Arbeiten von Stefan Breuer: Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; ders.: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005; ders.: Ordnungen der Ungleichheit; ders.: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871–1945, Tübingen 1999; ders.: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993.
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jedenfalls: „Oberstes Gesetz für den Staatsaufbau ist sonach, daß der Staat getragen und geführt sei von der Auslese des Volkes. Auslese bedingt aber lebendige Schichtung, überlieferte Tugenden, feste Begriffe, gesellschaftliche Abgrenzung, die immer wieder durch die Tüchtigsten von unten her durchbrochen wird.“116 Mögen hinsichtlich der „Auslesekriterien“ auch Differenzen bestanden haben, zentral ist vor allem das Bedürfnis nach einer neuen Elite und neuen Führern an der Spitze der Volksgemeinschaft.117 Diese mussten sich bewährt, ihre Leistungen und Tüchtigkeit erwiesen haben, und sie mussten eben Charisma vorweisen können.118 Diese charismatischen und bewährten Führergestalten sollten nicht zuletzt an die Stelle des alten Adels treten und das Machtund symbolische Vakuum füllen, welches dieser hinterlassen hatte. In den Fliegerheldennarrativen des Ersten Weltkrieges wurde sowohl der Glaube an solche charismatischen, soldatischen Führerfiguren genährt als auch eine meritokratische Elite etabliert, die zwar größtenteils bürgerlichen Ursprungs, dennoch aber mit den Attributen des Adels ausgestattet war. Wie bei der Gegenüberstellung des Luft- und des Bodenkrieges deutlich wurde, verkörperte der Fliegerheld eine Elite und einen Antagonisten zur Masse. Er stand sowohl für das Höherwertige innerhalb des Militärs als auch für das höher Hinausdrängende in der Gesellschaft, gerade weil ihn die Aura jener „ewig aristokratischen Elemente des soldatischen Handwerks“ umgab, die der bereits zitierte Wilhelm Ritter von Schramm in dem Massenheer vermisste, welches das verachtete „Zeitalter der Demokratie“ und des „Massenstaats“ widerspiegelte:119 „Die Gesinnung der Zeit, die alles andere als groß, gläubig, heroisch war, drang immer bestimmender in die Militärmassen herein. Man hat, ganz im Sinne des gleichmachenden Materialismus und ohne Instinkt für die Unterschiede und Eigenschaften des Blutes, die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Völkern zur Sache aller machen wollen, aber man hat damit nur den hohen Geist des soldatischen Streites nivelliert. Man hat nicht mehr vermocht, die Auseinandersetzung einer Elite der dazu durch Blut, Gesinnung, ererbter Neigung bestimmten Ober- und Führerschicht der Nation und ihrer Gefolgschaft zu überlassen.“
Es waren insbesondere die Flieger gewesen, die aufgrund ihrer Inszenierung als ritterliche Einzelkämpfer den von von Schramm geforderten „hohen Geist des soldatischen Streites“ verkörpert hatten. In ihnen hatte sich bereits das Ende der „Zeit der Massenheere“ angekündigt, das Edgar Julius Jung prophezeite: „Ist das Zeitalter der Massendemokratie im Begriff zu versinken, so auch die Zeit der Massenheere. Wie im Staate der aristokratische Bestandteil 116
Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, S. 331. Siehe hierzu Gerstner: Neuer Adel, S. 530. 118 Siehe Stefan Breuer: Das Charisma der Nation, S. 110–143 sowie ders.: Das Charisma des Führers, S. 144–175. 119 Schramm: Schöpferische Kritik des Krieges, S. 40. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. hierzu Jung: Herrschaft der Minderwertigen, S. 348. 117
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stärker hervortritt, so auch im Heerwesen. Ein modernes Rittertum dämmert am geschichtlichen Horizonte.“120 Jungs „modernes Rittertum“ sah der mit dem Pour le Mérite ausgezeichnete, einstige Stoßtruppführer Ernst Jünger in den „Stahlgestalten“ aufscheinen:121 „Es sind die Stahlgestalten, deren Adlerblick geradeaus über schwirrende Propeller die Wolken durchforscht, die in das Motorengewirr der Tanks gezwängt, die Höllenfahrt durch brüllende Trichterfelder wagen, die tagelang, den sicheren Tod voraus, in umzingelten, leichenumhäuften Nestern halbverschmachtet hinter glühenden Maschinengewehren hocken. Sie sind die Besten des modernen Schlachtfeldes […]. […] Das ist der Neue Mensch. Die Sturmpioniere, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und Willens voll.“122
Diese kämpferische Avantgarde, die der Krieg hervorgebracht hatte, sollte für Jünger „morgen die Achse sein, um die das Leben schneller und schneller schwirrt.“ In seinem 1932 erschienenen Der Arbeiter verwies Jünger darauf, dass er die althergebrachten Auslese- und Unterscheidungskriterien für ein Relikt des liberalen 19. Jahrhunderts hielt. Der Krieg hatte sie obsolet gemacht: „Ebenso wie von einer ständischen Gliederung und der entsprechenden Fülle sie repräsentierender Personen nur noch Spuren zu entdecken sind, lässt sich beobachten, daß die Unterscheidung der Individuen nach Klassen, Kasten oder selbst nach Berufen zum mindesten schwierig geworden ist. Überall wo man sich ethisch, gesellschaftlich oder politisch klassenmäßig zu ordnen und einzuordnen sucht, steht man nicht an den entscheidenden Stellen der Front, – man bewegt sich in einer Provinz des 19. Jahrhunderts, die der Liberalismus in jahrzehntelanger Tätigkeit vermittels des allgemeinen Wahlrechts, der allgemeinen Wehrpflicht, der allgemeinen Bildung, der Mobilisation des Grundbesitzes und anderer Prinzipien bis zu einem Grade eingeebnet hat“.123 Und wenige Seiten später heißt es: „So wird es zum Beispiel gegen Ende des Krieges immer schwieriger, den Offizier zu unterscheiden, weil die Totalität des Arbeitsvorganges die Klassen- und Standesunterschiede verwischt. Einerseits erzeugt die Kampftätigkeit innerhalb der Truppe einen einheitlichen Schlag von erprobten Vorarbeitern, andererseits mehren sich wichtige Funktionen, deren Besetzung eine neuartige Auslese erforderlich macht. So ist etwa der Flug und im Besonderen der Kampfflug keine standesgemäße, sondern eine rassenmäßige Angelegenheit. Die Zahl der innerhalb der Nation zu solchen Höchstleistungen überhaupt befähigten Einzelnen ist so begrenzt, dass die reine Eignung als Legitimation genügen muß.“
In der Volksgemeinschaft sollten, wie an der Front, nicht die Klassen- und Standesunterschiede, sondern die Eignung und Leistungen des Einzelnen für seinen Rang entscheidend sein. Der standesunspezifische Neue Adel der Tat wies indes weiterhin zahlreiche Attribute des alten Adels und Verknüpfungen zu ihm auf. So beschrieb Jünger beispielsweise in seinem 1925 erschienenen Wäldchen 125 den Besuch bei einer Jagdstaffel, die in einem in der Nähe befindlichen „Schlößchen“, in dem sie einquartiert war, eine Feier veranstaltete. Es handelte sich um eine „Auslese“, 120 121 122 123
Jung: Herrschaft der Minderwertigen, S. 349. Schramm: Schöpferische Kritik des Krieges, S. 46. Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 76. Dort auch das folgende Zitat. Jünger: Der Arbeiter, S. 98. Dort (S. 108) auch das folgende Zitat.
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„die der Drang nach immer kühneren und aufregenderen Formen des Kampfes versammelt hat. Auch Kavalleristen sind darunter, hagere Rennreitertypen, die blasierten Gesichter durch blitzende Eingläser erstarrt. Sie sind es müde geworden, in Dörfern und Schlössern des Hinterlandes zu liegen und auf den Wiederbeginn des Vormarsches zu warten. Man merkt ihnen an, daß sie zu Geschlechtern gehören, denen der Geist des Reitergefechts seit Jahrhunderten im Blute steckt, und daß sie auf diesen Austrag hinter Motoren und automatischen Gewehren im Grunde als etwas wenig Standesgemäßes heruntersehen.“ 124
Doch neben diesen adligen Kavalleristen, bei denen, in Jüngers Augen, das technisierte Duell noch Verachtung hervorrief, gab es einen weiteren Typus: „Aber auch andere sind da, die aufgewachsen in den Zentren der modernen Industrie, schon ganz das neue Jahrhundert repräsentieren. Zwanzigjährige mit hartem, von Tatsächlichkeiten gehämmertem Gesicht, denen der Schwung der Schnellbahnen, das Tempo der Fabrik, Gedichte aus Stahl und Eisenbeton das selbstverständliche Erlebnis ihrer Kindheit sind. […] Denen macht das Technische Spaß, sie haben ihr Flugzeug in der Gewalt wie ein Australier seinen Bumerang. Sie sind ja an die Steigerung des Lebens durch die Maschine gewöhnt.“
In Jüngers Vision verschmolzen diese beiden pointiert dargestellten Ausprägungen des Fliegerhelden, des adligen und des bürgerlichen, zu einem einzigen Krieger- und Menschentypus, der zum Führen bestimmt war. Die zwei standes-, schichten- oder klassenspezifischen soldatischen Helden- und Männlichkeitsideale wurden in einem neuen paradigmatischen Typus vereinigt und aufgehoben, der einen kriegerischen Adel der Tat oder eben eine meritokratische Auslese und eine „composite elite“ darstellte.125 Verfolgt man den Wandel des soldatischen und männlichen Leitbildes in das wilhelminische Kaiserreich zurück, wird die vermittelnde Funktion der Fliegerheldenfigur des Ersten Weltkrieges deutlich. Sie verband den aus dem Krieg hervorgegangenen, technischen Kriegertypus, der „an die Steigerung des Lebens durch die Maschine“ gewohnt war, mit dem soldatischen Heldenund Männlichkeitsideal des wilhelminischen Kaiserreiches, der adligen Reitergestalt. Das „ritterliche“ Ideal von einst wurde aktualisiert und an die Gegebenheiten des Massen- und Maschinenkrieges angepasst. Nicht die faktische soziale Zusammensetzung der soldatischen „composite elite“ ist hier von Belang, sondern ihre Semantik. Die semantische „composite elite“ wurde durch die Fusion des Habitus des adligen Ritters mit dem sich herausbildenden Habitus des Maschinenkriegers geschaffen. Dabei wurde ein Prozess fortgesetzt, der seit der Aufnahme der „erwünschten Teile“ des Bürgertums, des sogenannten „Adels der Gesinnung“, in das preußische Offizierskorps bereits im Gange war. Das expandierende, sich professionalisierende und heterogenisierende Offizierskorps erhielt einen „adligen“ Esprit de Corps, der, ebenso wie die „feudale“ Tradition, das Offizierskorps distinguierte und homogenisierte.126 124
Jünger: Das Wäldchen 125, S. 78. Dort (S. 78f.) auch das folgende Zitat. Zum Begriff der „composite elite“ siehe: Reif: Einleitung. Vgl. hierzu und zum Folgenden Marcus Funck: Feudales Kriegertum und militärische Professionalität. Adel und Bürgertum in den preußisch-deutschen Offizierskorps 1860– 125 126
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Zwischen 1860 und 1913 war der Anteil bürgerlicher Offiziere im preußischen Offizierskorps von 35 % auf 70 % gestiegen.127 Wenngleich von einer „Feudalisierung“ des Bürgertums im preußischen Offizierskorps nicht die Rede sein kann,128 fand trotz der Verdoppelung des Anteils bürgerlicher Offiziere auch keine Verbürgerlichung des Offizierskorps statt.129 Der „adlige“ Habitus, die Figur des ritterlichen Kriegers blieb trotz der Heterogenisierung und Professionalisierung des Offizierskorps als Leitkultur erhalten. Diese Leitkultur war indes nicht starr, sondern dem historischen Wandel ausgesetzt. Die „‚feudale‘ Erscheinung des Offizierskorps“ war „eine kreative Antwort auf seine wachsende soziale und funktionale Heterogenität. Das Offizierskorps bedurfte eines kulturellen Bindestoffs, um seine internen Unterschiede mit einem starken Korpsgeist zu überbrücken. Dafür habe man auf bereits bekannte kulturelle Vorbilder zurückgegriffen, die im neuen Kontext neue Bedeutung gewannen.“130 „Kreativ“ war auch Wilhelms II. Lösung für die aufgrund seiner Vergrößerung notwendig gewordene Öffnung des Offizierskorps für das Bürgertum. Sein Befehl vom 29. März 1890 lautete: „Nicht der Adel der Geburt allein kann heutzutage wie vordem das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen, der Armee ihre Offiziere zu stellen. Aber der Adel der Gesinnung, der das Offizierskorps zu allen Zeiten beseelt hat, soll und muß demselben unverändert erhalten bleiben.“131 Durch die Teilhabe dieses neuen „Adels der Gesinnung“ an der „aristokratischen Kultur“, am Ehrbegriff und der Duellpraxis beispielsweise, wurden die bestehenden milieuspezifischen Unterschiede überbrückt und das Offizierskorps insgesamt durch einen erneut gestifteten Korpsgeist homogenisiert.132 Zugleich wurden im Zeitraum zwischen etwa 1890 und 1918 der Begriff des Adels selbst und die diesen begleitenden Kon-
1935, Berlin 2005 sowie Mark R. Stoneman: Bürgerliche und adlige Krieger. Zum Verhältnis zwischen sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierskorps, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland II Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 25–63. 127 Stoneman: Bürgerliche und adlige Krieger, S. 29. 128 Zur Debatte über die vermeintliche „Feudalisierung“ des (Groß-)Bürgertums siehe: Hartmut Kaelble: Wie feudal waren die deutschen Unternehmer im Kaiserreich? Ein Zwischenbericht, in: Richard Tilly (Hrsg.): Beiträge zur quantitativen vergleichenden Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 148–171. Zur neueren Forschung siehe: Stephan Malinowski: Ihr liebster Feind. Die deutsche Sozialgeschichte und der preußische Adel, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 203–218. 129 Siehe hierzu: Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II, S. 219–226. Zur Unterscheidung des bürgerlichen und adligen Anteils nach unterschiedlichen Waffengattungen und Positionen siehe: Ebd., S. 220 sowie S. 222. 130 Stoneman: Bürgerliche und adlige Krieger, S. 51f. 131 Kabinettsordre Wilhelms II. vom 29.3.1890 zit. nach Stoneman: Bürgerliche und adlige Krieger, S. 30. 132 Zur Bedeutung des Duells siehe Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.
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notationen diffuser und offener.133 Eine Entwicklung, die in eben jene standesunspezifische, meritokratische Neuadelskonstruktion mündete, die aus dem zitierten Schrifttum der Nachkriegszeit hervorging. Da er nach beiden Seiten hin offen war, also sowohl den alten, adligen Rittertypus als auch die neuadlige Stahlgestalt repräsentierte, bildete der Fliegerheld eine ideale transitorische Figur, die den Bruch zwischen beiden Ordnungen überbrücken konnte. Bereits während des Krieges beförderte die Figur die Idee einer neuen Auslese: „Eigentlich wollen sie alle draußen Flieger werden. Ihnen ist ja die Wolkenwand, die uns den Himmel verbirgt, ein Tor, das sie nach Belieben öffnen, um der Sonne und den Sternen zuzufliegen. Aber nur die Besten werden auserwählt und die Auserwählten müssen das beste Herz, das feinste Gehör, die schärfsten Augen und stärksten Nerven, den gereiften Ernst des Alters und den frischen Wagemut der Jugend haben.“134
Diese Auslese zeichnete sich bereits durch ihre körperlichen und seelischen Eigenschaften, wie Nervenstärke und jugendlichen Wagemut aus. Der Krieg brachte, so der Psychiater Otto Binswanger 1896, „jene gewalttätigen, brutalen Kraftmenschen von Nietzsche“ hervor, welche die wilhelminische Gesellschaft herbeigewünscht hatte.135 Im „Stahlbad des Krieges“ wurden das „Weiche“ und „Nervöse“ überwunden und es setzte sich jenes harte soldatische Krieger- und Männlichkeitsideal endgültig als Maßstab durch, das bereits in der Vorkriegszeit die Sehnsüchte des „nervösen Zeitalters“ bestimmt hatte. Der vielschichtige Umdeutungs- und Neuverknüpfungsprozess, welcher der Durchsetzung des neuen Ideals zugrunde lag, kann hier im Einzelnen nicht behandelt werden, da es sich um eine tiefgreifende Umstrukturierung der symbolischen Ordnung handelte. Die Topoi des Adels und des Ritters verwandelten sich ebenso wie sich die Konnotationen der Technik und der Maschine und die Zuschreibungen von „weich“ und „hart“ veränderten. Der Maschinenkrieg schuf einen Nexus zwischen dem harten Krieger- und Männlichkeitsideal und dem „modernen“, temporeichen und technischen Leben. Letzteres war zuvor vornehmlich mit „der Großstadt“ verknüpft gewesen und hatte somit im Ruch der Dekadenz und der Nervosität gestanden. Parallel zu dieser, den Maschinenkrieger aufwertenden Entwicklung, war der aristokratische „Höfling“ und Kavalier, der zum „mehrpoligen adligen Männlichkeitsentwurf“ gehörte, seit der Jahrhundertwende zunehmend in Verruf 133
Siehe hierzu: Gerstner: Neuer Adel, insbes. S. 24–33. Alfred Marquard: Wesen und Bedeutung der Luftwaffen, in: Deutscher Luftflottenverein (Hrsg.): Das Fliegende Schwert. Wesen, Bedeutung und Taten der deutschen Luftflotte in Wort und Bild, Oldenburg i. Gr. 1917, S. 15 [Hervorhebung im Or.]. 135 Otto Binswanger: Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie, Jena 1896, S. 49, zit. nach Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 447. Dort heißt es, Binswanger, der nebst dem kranken Philosophen auch Warburg behandeln sollte, habe „den pathologischen Hintergrund der Lehre vom ‚Übermenschen‘“ durchschaut. Zum Folgenden sowie zum Neurasthenie-Diskurs und dem sich wandelnden Bild der Männlichkeit im Allgemeinen siehe: Ebd., insbes. S. 389–455. 134
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geraten.136 Es war unter anderem der Skandal der Jahre 1906 bis 1908 um Phillip Fürst zu Eulenburg und Hertefeld und seiner Liebenberger Tafelrunde, der nahelegte, der aristokratische „Höfling“ sei effeminiert und homosexuell. Dem „dekadenten“, aristokratischen Offiziers- und Männertypus wurden nun eben jener nervenstarke, stählerne, harte und technikaffine Typus sowie der kühle, professionelle, technokratische Typus zur Seite gestellt; zur Seite gestellt deswegen, weil diese Entwürfe militärischer Männlichkeit „durchmischt und gebrochen“ auftraten.137 So konnten die nicht „femininen“ Attribute des Kavaliers oder Ritters fortgeschrieben werden und sich mit den Attributen der neuen Typen vermischen. Genau diese Durchmischung und Brechung wird an der Figur des Fliegerhelden deutlich. Den Darstellungen des luxuriösen und glamourösen Lebensstils der Flieger, die im vorangegangenen Kapitel behandelt wurden, kam demnach nicht allein eine die Beschwerlichkeit des Bodenkrieges kompensierende Funktion zu. Vielmehr wurden hier die „höfischen“ Eigenschaften des Offiziers fortgeschrieben, wenn auch in aktualisierter und umgedeuteter Form. Die Schilderungen der Verbindungen der Fliegerhelden zur Hautevolee des Kaiserreiches, des Savoir vivre inmitten des Sterbens, der zahlreichen Orden, Titel und Ehrungen integrierten den Maschinenkrieger in die symbolische Ordnung des aristokratischen Krieger- und Männlichkeitsideals und werteten ihn dadurch auf. Teilweise verdrängte der Flieger die Figur des ritterlichen Kavalleristen, der das Ideal verkörpert hatte, der nun aber durch den Stellungskrieg an der Westfront obsolet geworden war. Die Figur des aristokratisierten Maschinenkriegers trat an seine Stelle und demonstrierte, dass es keineswegs angebracht war, auf den „Austrag [des Kampfes] hinter Motoren und automatischen Gewehren […] als etwas wenig Standesgemäßes“ herunterzublicken. Im Gegenteil, nun hatte man zu den ehemals im wilhelminischen Militär wenig angesehenen techniknahen Truppenteilen hinaufzuschauen. Diese neue, nervenstarke Elite wies eben jene Tugenden auf, derer man in der neuen Zeit und im industrialisierten Krieg bedurfte. Der Topos des Luft-„Duells“, die Jagd-Metapher sowie die Wappen, Insignien und Bemalungen der Flugzeuge zeugen ebenfalls von der Verwendung des symbolischen Kapitals des „feudalen Kriegertums“. Durch diese aristokratisch-ritterliche Kodierung der Luftkriegshelden wurde für eine neue Waffengattung eine Tradition gestiftet. Zugleich wurden der alte Adel mit dem Maschinenkrieg versöhnt und jene neue meritokratische Funktionselite ihrerseits „geadelt“, die größtenteils bürgerlichen Ursprungs war, aber ihre Bürgerlichkeit zunehmend neu und antibürgerlich definierte. Entgegen dem noch heute verbreiteten populären Bild des Jagdfliegers, handelte es sich beim Gros der Flieger nämlich keineswegs um adlige, ehe136
Siehe hierzu Funck: Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 207. Zur Fortdauer aristokratischer Männlichkeitsideale siehe auch: Mosse: The Image of Man, S. 17–24. 137 Funck: Bereit zum Krieg?, S. 86.
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malige Kavallerieoffiziere. Dies legt zumindest Harald Potempas Untersuchung der Königlich-Bayerischen Fliegertruppe nahe, die auf das Namentliche Verzeichnis der Flugzeugführer, das für den Zeitraum vom 1. August 1915 bis zum 1. September 1917 überliefert ist, beruht. Von den 1 338 erfassten bayerischen Flugzeugführern waren 334, also lediglich 25 %, überhaupt Offiziere.138 539 Flugzeugführer, also 40 %, waren Unteroffiziere und 461, das heißt 35 %, entstammten sogar den Mannschaftsdienstgraden. Dieses Bild wird auch von einer weiteren von Potempa untersuchten, den Zeitraum vom Kriegbeginn bis zum Frühjahr 1918 umfassenden Liste bestätigt. Dem zweiten Verzeichnis zufolge kann laut Potempa sogar von einem höheren, 42 % betragenden Anteil an Flugzeugführern aus den Mannschaftsdienstgraden ausgegangen werden. Das Verzeichnis nennt 3 021 bayerische Militärflugzeugführer. Hiervon waren 557 (18 %) Offiziere, von denen wiederum nur 21 (3,8 %) aristokratischer Herkunft waren. Lediglich 0,7 % der im Verzeichnis aufgelisteten Militärflugzeugführer waren also adlige Offiziere. Potempa stellt zudem fest, dass nur 43 (13 %) der 334 im Namentlichen Verzeichnis der Flugzeugführer aufgelisteten Offiziere vor ihrem Wechsel zu den Luftstreitkräften bei der Kavallerie gewesen waren. Von den 557 im zweiten Verzeichnis geführten Offizieren war der größte Anteil (43 %) von der Infanterie zur Fliegerwaffe gewechselt. Von der Artillerie stammten 137 Offiziere (25 %). Von der Kavallerie waren nur 56 Offiziere (10 %) zur Fliegerei gewechselt.139 Von den 21 adeligen Offizieren hatten die meisten zuvor in der Tat bei Kavallerieregimentern gedient. Doch dies zeugt allenfalls von der fortbestehenden Attraktivität der Kavallerie für den Adel.140 Rein numerisch gesehen hatten die ehemaligen, aristokratischen Kavallerieoffiziere in den bayerischen Luftstreitkräften keine Bedeutung. Selbst wenn man die Gesamtheit der 21 adligen Offiziere als Kavallerieoffiziere zählte, machten sie bloß 3,8 % der Offiziere und 0,7 % der Militärflugzeugführer insgesamt aus. Selbst wenn die preußischen Luftstreitkräfte und jene der Kaiserlichen Marine einen wesentlich höheren Anteil von adligen Kavallerie-Offizieren oder von adligen Offizieren überhaupt aufwiesen,141 gründet der Erfolg des Topos des ritterlichen, adligen Kavallerieoffiziers offenbar weniger in dessen Widerspiegelung der faktischen, sozialen Zusammensetzung der Luftstreitkräfte. Es war vielmehr die symbolische Funktion des Topos und das durch 138
Vgl. hierzu und für folgende Angaben: Potempa: Die Königlich-Bayerische Fliegertruppe, S. 90ff. 139 Siehe ebd., S. 90f. 140 Vgl. Markus Funck: Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession, in: Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 127– 172, S. 164. 141 Während im Jahr 1913 der Adelsanteil im bayerischen Offizierskorps „nur“ 15 % betrug, waren es in Preußen immerhin noch 30 %. Vgl. hierzu und für weitere Literaturangaben: Gerstner: Neuer Adel, S. 228.
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ihn transportierte ritterliche Image, die zu seiner Einschreibung in den zeitgenössischen Diskurs, aber auch in das kulturelle Gedächtnis führten. Eine bedeutende Rolle in dem beschriebenen Umdeutungsprozess vom standesspezifischen, aristokratischen Kavalier und Ritter zum standesunspezifischen neuadligen Maschinenkrieger kommt der Figur des Manfred von Richthofen zu, welche die populäre Ikonographie des Luftkrieges heute noch beherrscht und auch weiterhin als Identifikationsfigur dient.142 In diesem Konstrukt wurde das Paradox von Ritter und Maschinenkrieger, Adel und Bürgertum, Alt und Neu in einem kollektiven Symbol aufgehoben.143 In Georg Wegeners Bericht Bei der Jagdstaffel Richthofen wird dieses Widersprüche versöhnende Amalgam besonders deutlich. Wegener betont darin die altehrwürdige, adlige Familie, aus der Manfred von Richthofen stammte. Diese hatte bisher zwar eher auf diplomatischem und „gelehrtem“ Gebiet Kaiser und Reich gedient, doch nun habe sie sich auch soldatisch hervorgetan.144 Daraufhin fährt Wegener fort, von Richthofens körperliche und seelische Eigenschaften zu beschreiben und zwar in Analogie zu Boelcke, dessen Nachfolge er angetreten hatte: „Er war wie Boelcke nur mittelgroß, kräftig gebaut, sein Kopf mit der gewölbten Stirn und den germanisch hellen und blauen Augen – deren Ausdruck auffallend an die Boelckes erinnerte – setzte in Verwunderung durch die fast rosige Frische der Farbe. Es war auf ihm nichts eingeschrieben von der ungeheueren Nervenanspannung, die mit seinen täglichen Einzelkämpfen auf Tod und Leben verbunden ist. Auch sein ganzes Wesen war von einer überraschend ruhigen, zurückhaltenden, fast zarten Art; […] überaus wohltuend, fein und ganz einfach, ohne einen Schatten von Ruhmredigkeit, wenn auch der freudige Stolz in der Seele auf seinen jungen Glanz erkennbar war“.145
Die unauffällige körperliche Erscheinung spiegelte die Bescheidenheit und Zurückhaltung wider, welche den Heldenfiguren im Allgemeinen zugeschrieben wurde, aber auch die Fähigkeit, die „ungeheure Nervenanspannung“ ruhig und gelassen zu ertragen. Ein hervorstechendes Merkmal besaß von Richthofen allerdings, das sogleich als Zeichen seiner Kameradschaftlichkeit wie seiner Befähigung zum Führer gedeutet wurde: „Einzig das stark gebildete Kinn vielleicht verriet schon äußerlich die ungewöhnliche Energie des Mannes. Und die Art verriet sie, wie er auf seine Umgebung wirkte, die an 142 So trägt das Jagdgeschwader 71 der Bundeswehr den Namen „Richthofen“, der ihm von Heinrich Lübke am 43. Todestag Manfred von Richthofens 1961 verliehen wurde. Zwei weitere von den sieben fliegenden Kampfverbänden der Bundeswehr tragen den Namen eines „Helden“ des Ersten Weltkrieges, so heißt das Aufklärungsgeschwader 51 „Immelmann“ und das Jagdbombergeschwader 31 „Boelcke“. Siehe zum Jagdgeschwader 71 Richthofen: http://www.luftwaffe.de/portal/a/luftwaffe/org/luftm/jg71, eingesehen am 18.8.10. 143 Zur Versöhnung von Widersprüchen und ihrer Aufhebung im Symbol siehe: Soeffner: Der fliegende Maulwurf. 144 Georg Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer. Bd. III. Die beiden letzten Jahre, Leipzig 1920, S. 39f. 145 Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer, Bd. III, S. 40. Dort (S. 40f.) auch das folgende Zitat.
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ihrem Vorkämpfer sichtlich mit einer ganz eigenartigen Mischung von froher Kameradschaft, begeisterter Bewunderung und absolutem Fügen hing.“ Von Richthofen führte, indem er „seinen Männern“ vorausging, und so herrschte zwischen ihnen einerseits eine „frohe Kameradschaft“ und andererseits ein „absolutes Fügen“. Daraufhin beschreibt Wegener von Richthofen zwar als „sportsman“, der allerdings adeligen Tätigkeiten nachging: „Wie Boelcke ist Manfred Frhr. von Richthofen von Jugend auf ein leidenschaftlicher Sportfreund gewesen. Er in erster Linie als Reiter und Jäger. In den Kriegsdienst trat er als aktiver Ulanenoffizier. Dann, als die kavalleristische Tätigkeit im Stellungskrieg ihn wenig befriedigte, wurde er Flieger; […] Meine Frage, ob er seine Erfolge einer besonderen Technik im Luftkampf zuschreibe, verneinte er ganz entschieden. […] Natürlich müsse man seine Maschine beherrschen […] [aber] ‘rangehen, das sei alles. […] [E]r verspüre auch bei den größten und raschesten Höhenabstürzen nicht die geringsten körperlichen Beeinträchtigungen. – Ob er denn nach einem schweren Luftkampf sich in außergewöhnlicher Erregung befinde? – ‚Nein,‘ meinte er, ‚das kann ich durchaus nicht sagen.‘ […] Nachher sagten mir seine Kameraden einiges, worin sie das Geheimnis seiner Überlegenheit sähen. Vor allem habe er ein fabelhaftes Auge, das geradezu ein Phänomen sei. […] Dies Jägerauge helfe ihm auch beim Flug und Schuss.146 Ein zweites sei seine Entschlossenheit und Zähigkeit. Er gehe immer sofort geradewegs auf den ins Auge gefaßten Gegner los und lasse ihn nicht wieder locker, bis er erledigt sei; der Gedanke, daß auch er getroffen werden könne, scheine gar nicht in seinen Sinn zu kommen.“147
Einerseits versinnbildlichte das Konstrukt von Richthofen den altehrwürdigen, den monarchischen Staat tragenden, loyalen Adel, dem eben „der Geist des Reitergefechts seit Jahrhunderten im Blute steckt“. Von Richthofen verkörperte das traditionelle, adlige Männer- und Soldatenideal und die dazugehörigen Eigenschaften: „Höherwertigkeit, Ehrenhaftigkeit, Haltung (Affektbeherrschung und Körperkontrolle) und Höflichkeit bzw. Benehmen (v.a. gegenüber Damen)“.148 Diese „ritterlich-soldatischen“ Eigenschaften wurden andererseits mit der nervenstarken, rücksichtslosen, todesverachtenden, dynamischen, „kalten Persona“ vermischt. Richthofen zeichnete sich durch „Entschlossenheit“ und „Zähigkeit“ aus, er verfolgte seinen Gegner, eben bis dieser „erledigt sei“. Der Luftkampf versetzte ihn keineswegs in eine „außergewöhnliche Erregung“, er war ruhig und sachlich, und hatte eben „stählerne Nerven“. Er war nicht nur „überlegen“, er verfügte über eine „ungewöhnliche Energie“, über Charisma, aufgrund dessen sich ihm seine Umgebung anvertraute und unterordnete. Nach dem Krieg sollte die Sehnsucht nach derlei Führern wachsen, populär waren sie bereits davor. Von Richthofens Popularität gründete sicherlich in seinen Taten sowie in den Siegeshoffnungen, die sein „Ausnahmetalent“ nährte, doch der Erfolg seiner Figur beruhte auch auf den Übersetzungsleistungen, die sie zwischen unterschiedlichen symboli146
Zur Bedeutung des Auges und der Wahrnehmungsschärfe für die „kalte Persona“ siehe: Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 187–198. 147 Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer, Bd. III, S. 41f. 148 Funck: Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 212.
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schen Ordnungen bot, und auf den Brücken, die sie zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft schuf. Es ist schier unmöglich, die während des Krieges selbst herrschenden Heldenbilder von Richthofens nicht im Lichte der späteren Ereignisse zu sehen. Allzu deutlich schimmert hier bereits der neue Kriegertypus durch. So ruft folgende Schilderung eines Bombenfluges und des anschließenden „Schützenfestes“ Bilder hervor, die bereits an den Zweiten Weltkrieg gemahnen und Assoziationen an jene berühmt-berüchtigte von Wagners Walkürenritt begleitete Szene aus Francis Ford Coppolas Apocalypse Now hervorrufen:149 „Endlich ist man in einer ruhigeren Luftschicht und kommt allmählich zu dem Genuß des Bombenfluges. […] Man hat nach einem Bombenwurf das Gefühl: Du hast etwas geleistet, während man manchmal bei einem Jagdflug, wo man keinen abgeschossen hat, sich sagen muß: Du hättest es besser machen können. Ich habe sehr gern Bomben geworfen. […] Wir heben uns noch eine Bombe auf, um sie besonders nutzbringend beim Nachhauseflug anzuwenden. […] Wir machen noch einige Umwege und suchen Truppenlager, denn das macht besonderen Spaß, die Herren da unten mit Maschinengewehren zu beunruhigen. Solche halbwilden Völkerstämme wie die Asiaten haben noch viel mehr Angst als die gebildeten Engländer. Besonders interessant ist es, auf feindliche Kavallerie zu schießen. […] Mein Beobachter schoß feste mit dem Maschinengewehr unter die Brüder, und wir hatten einen wilden Spaß daran.“150
Dass der Krieg ein wilder Spaß sei, das ist der Tenor der aviatischen Heldenliteratur insgesamt. Für das Heldenkonstrukt von Richthofen galt es zwar, die Spitze der Tabelle zu erklimmen, doch der Luftkampf ist eher Todesarbeit als sportliches Spiel. Die 1933 veröffentlichte Ausgabe von Der rote Kampfflieger enthielt eine bezeichnende Passage, welche in der 1917 erschienenen Auflage noch nicht enthalten war: „Der Kommandeur eines Jagdgeschwaders muß unmittelbar bei seiner Truppe liegen. Es kann nicht angehen, daß er irgendwo im Hinterlande herumwohnt […]. Der Kommandeur des Jagdgeschwaders muß die Spreu vom Weizen zu sondern verstehen. Das kann er nur, wenn er mit den Leuten, die er kommandiert, dauernd zusammen ist. […] Der Kommandeur der Jagdstaffeln muß selbst ein Jagdflieger, und zwar ein guter, mit anderen Worten ein erfolgreicher sein. Er muß selbst mit aufsteigen. […] Diejenigen Kampfgeschwader an der Front, die etwas leisten, bestehen aus Kameraden, die sich genau kennen, die im Kampf aufeinander eingespielt sind und die alle genau wissen, daß keiner den anderen im Stich läßt, wenn die Sache mulmig wird.“151
149
Siehe zu den Bezügen zwischen der Szene aus Francis Ford Coppolas Film, der deutschen Wochenschau 561, 24, 1941 vom 4.6.1941, in dem die Stuka-Bombardements zur Vorbereitung der Fallschirmjäger-Landung auf Kreta ebenfalls mit Wagners Walkürenritt unterlegt werden, und einer Passage aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu: Ulrich Fröschle/Helmut Mottel: Medientheoretische und mentalitätsgeschichtliche Probleme filmhistorischer Untersuchungen. Fallbeispiel „Apocalypse Now“, in: Bernhard Chiari/ Matthias Rogg/Wolfgang Schmidt (Hrsg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München 2003, S. 107–140. 150 Richthofen: Der rote Kampfflieger, S. 83–87. 151 Richthofen: Der rote Kampfflieger [1933], S. 196f.
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Die Prinzipien der Kameradschaft und des charismatischen Führertums beherrschen diese Zeilen, die etwa anderthalb Jahrzehnte nach der ersten Veröffentlichung des Roten Kampffliegers erschienen. Hier tritt die Figur von Richthofen als jener ersehnte Führer auf, dessen Anerkennung und Unterstützung weder auf Geburt und Herkunft, noch auf „abstrakten ‚Regeln‘ oder Positionen“ beruht, sondern „durch große Taten, aufsehenerregende Erfolge und bemerkenswerte Leistungen aufrechterhalten“ wird.152 Dieser zum Führen berufene, kämpferische, charismatische und meritokratische Adel der Tat sollte an der Spitze jener „Ordnung der Ungleichheit“ stehen, welche die Faschisten zur Gliederung der Gemeinschaft zu etablieren suchten. Den Preis für diese Gemeinschaft entrichteten die aus der Gemeinschaft Ausgeschlossen. Wenn auch die „Volksgenossen“ nicht mit ihrem Leben zahlten, so kostete die Gemeinschaft auch sie etwas. „Die Währung, in der dieser Preis zu entrichten ist, heißt Freiheit; […] Auf Gemeinschaft verzichten heißt auf Sicherheit verzichten; der Anschluss an eine Gemeinschaft bedeutet allerdings sehr bald den Verzicht auf Freiheit.“153 Der „Arbeiter-Soldat“ und das Zeitalter des vierten Standes Wurde die hierarchische Gliederung der Gemeinschaft an den Überschneidungen der aviatischen Heldennarrative mit dem Neuadelsdiskurs gezeigt, gilt es nun, anhand der Verknüpfungen zwischen dem Fliegerhelden und dem „Arbeiter“ die semantische Inklusion des Industrieproletariats und die Homogenisierung der Gesellschaft zu verdeutlichen. Der Fliegerheld war ein Symbol, das zwar vorwiegend elitär kodiert wurde, zugleich aber polyvalent genug war, um auch egalitär-homogenisierend gelesen zu werden. Diese Lesart des Fliegers gründete auf seinen Maschinenmensch-Eigenschaften. Die am Aufstieg des Arbeiters Max Müller zum Ritter verdeutlichte propagandistische Integration des Industrieproletariats in die Volksgemeinschaft wurde von den untersuchten Fliegerheldennarrativen des Ersten Weltkrieges nicht geleistet. Doch sie trugen zu einer Aufwertung der im Krieg unverzichtbar gewordenen technisch-industriellen Sphäre bei, die eine semantische Brücke zum Industrieproletariat darstellte, mittels derer die diskursive Inklusion und Vereinnahmung des „Arbeitertums“ in die nationale Gemeinschaft erfolgen konnte. Obgleich der „Arbeiter“ die Zerrissenheit der Gesellschaft verkörpert hatte, mutierte er in der Weimarer Republik zum Symbol der inneren Einheit und Geschlossenheit der Gemeinschaft.154 Diese Verwandlung des „Arbeiters“ soll an der Figur des Fliegerhelden nur kursorisch skizziert wer-
152
Kershaw: Der Hitler-Mythos, S. 21. Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt/M. 2009, S. 11. 154 Siehe hierzu Nolte: Die Ordnung der Gesellschaft, S. 92–95. 153
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den. Sie gründet im Krieg und führt über die 3. OHL und Ernst Jüngers Arbeiter in den Faschismus. Der propagierte „nationale Sozialismus“ fungierte als Integrations- und, so Sven Oliver Müller, als „Partizipationsverheißung“.155 Entgegen der Legende von der resistenten, marxistischen Industriearbeiterschaft sollte es dem nationalsozialistischen Regime vor dem Hintergrund der von der Weltwirtschaftskrise ausgelösten Massenarbeitslosigkeit durchaus gelingen, die Arbeiterschaft an sich und an die Nation zu binden.156 Durch den gegen KPD, SPD und Gewerkschaften ausgeübten Terror, aber auch durch die außenpolitischen Erfolge, durch Vollbeschäftigung, Sozialpolitik, durch Aktionen der Organisationen Schönheit der Arbeit und Kraft durch Freude sowie durch die symbolische Aufwertung der „Arbeiter der Faust“ wurde die klassenspezifische „gedachte Ordnung“ erodiert und das Industrieproletariat an die Volksgemeinschaft und an den „Führer“ gebunden.157 Während des Ersten Weltkrieges band die Figur des Opferhelden sowie die auf den „Geist von 1914“ rekurrierende Propaganda das Industrieproletariat an die Nation.158 Im Zentrum dieser Propaganda stand der feste Zusammenhalt der Nation, von dem etwa auch das Propagandaplakat des Graphikers Alexander M. Cay vom März 1918 Durch Arbeit zum Sieg! Durch Sieg zum Frieden kündete. Es zeigte einen Handschlag zwischen einem Soldaten und einem Arbeiter und brachte somit nicht nur die Einheit von Heimatfront und kämpfender Front zum Ausdruck, sondern auch die Integration der „vaterlandslosen Gesellen“ in die fechtende Nation in deren „Stunde der Not“.159 Das Plakat zeugte von der Anerkennung der Bedeutung der „Arbeit“ für den Sieg und deutete bereits auf die künftige Gleichsetzung von Frontsoldatentum und „Arbeitertum“ hin.
155
Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 349. Vgl. hierzu Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, S. 731–741 u. S. 1116f. für weiterführende Literatur. Siehe zudem: Lutz Niethammer (Hrsg.): „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983, darin insbesondere den Beitrag: Michael Zimmermann: Ausbruchshoffnung. Junge Bergleute in den Dreißiger Jahren, in: Niethammer (Hrsg.): „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“, S. 97–132. 157 Siehe hierzu: Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2006²; David Welch: Nazi Propaganda and the Volksgemeinschaft. Constructing a People’s Community, in: JCH 39/2004, S. 213–238. Für einen Überblick zur älteren Literatur und Debatte siehe: Ulrich Herbert: Arbeiterschaft im „Dritten Reich“. Zwischenbilanz und offene Fragen, in: GG 15/1989, S. 320–360 sowie Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977. 158 Vgl. hierzu Verhey: Der „Geist von 1914“. 159 Zum Propagandaplakat Durch Arbeit zum Sieg! Durch Sieg zum Frieden! von Alexander M. Cay aus dem Jahr 1918 siehe das LeMO-Projekt des Deutschen Historischen Museums, Berlin: http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/523_2/index.html. Zuletzt eingesehen am 19.8.2009. Zum Krieg als Katalysator einer auf den „Geist von 1914“ gründenden Idee der wehrhaften Volksgemeinschaft siehe Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat u. Verhey: Der „Geist von 1914“. 156
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Abb. 9 Von der Einheit der Nation kündete auch das Propagandaplakat des Graphikers Alexander M. Cay vom März 1918.
Die klassenübergreifenden Aspekte der kriegerischen Gemeinschaft wurden in den aviatischen Kriegsbüchern nur selten ausdrücklich thematisiert. Zuweilen wird von der symbiotischen Zusammenarbeit zwischen dem für das Führen der Maschine zuständigen „Chauffeur“ oder „Fahrer“, der häufig ein Unteroffizier war oder aus den Mannschaftsdienstgraden stammte, und dem Beobachter, der stets ein Offizier war, erzählt:160 „Das gute Einvernehmen zwischen Führer und Beobachter ist der Schlüssel zum Erfolg. Ja, nicht nur Einvernehmen, nein, gar eine telepathisch wirkende Freundschaft, die sich auch leicht bei den gemeinsam durchgemachten Gefahren bildet, erleichtert der Besatzung ungemein die schwersten Aufgaben.“161 Diese „formlose Demokratie“, symbiotische Zusammenarbeit und solidarische Kameradschaft bewahrte die Flieger, so legt es zumindest folgende Stelle aus Der rote Kampfflieger nahe, vor jenem Standesdünkel, den die Offiziere anderer Waffengattungen gegenüber den Mannschaften hegten. Ein Pionieroffizier kommt zur Absturzstelle herbeigeeilt, um dem Abgeschossenen Protagonisten zur Hilfe zu kommen:
160
Siehe zur Zusammenarbeit zwischen dem Piloten und dem Beobachter: Kehrt: „Schneid, Takt und gute Nerven“, S. 177–201. 161 Eddelbüttel: Artillerieflieger, S. 31.
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„Ich versicherte ihm, daß mir gar nichts fehlte, sprangherunter [sic], stellte mich vor. Selbstverständlich verstand er keinen Ton von meinem Namen. […] Mein Gastgeber hat sich immer noch nicht beruhigt. Plötzlich erschrickt er und fragt: ‚Herrgott, wo ist denn Ihr Kraftfahrer?‘ […] [Ich] guckte ihn wohl etwas verwirrt an, dann wurde mir klar, daß er mich für den Beobachter eines zweisitzigen Flugzeuges hielt und nach meinem Flugzeugführer fragte. Schnell fasste ich mich und sagte ganz trocken: ‚Ich fahre allein.‘ […] In den Augen des braven Herrn war ich ganz entschieden durch die Tatsache, daß ich allein ‚fahre‘, sichtbar gesunken.“162
Auf den Maschinenkrieger schaute man eben noch herab, war doch der Umgang mit Motoren wenig standesgemäß und etwas, das den technisch versierten „Fahrern“, den einfachen Leuten überlassen zu werden pflegte. Friedrich Wilhelm Eddelbüttels Buch Artillerieflieger ist aus der Perspektive eines solchen „Fahrers“ verfasst. Dort wird auch das Verhältnis zu den Monteuren ausnahmsweise thematisiert, von denen über acht notwendig waren, um einen Mann mit seiner Maschine in der Luft zu halten:163 „Auch war es mir lieb, mit den Monteuren bekannt zu werden. Wieviel hängt von ihnen ab! Nicht nur die glatte Erledigung des Auftrages, nein, auch unser eigenes Leben ist immer in ihrer Hand. Eine kleine Nachlässigkeit, das Vergessen einer Schraube oder das falsche Anziehen eines Kabels kann den Todessturz hervorrufen, besonders hier an der Front, wo die Flugzeuge so oft bis zum äußersten angestrengt werden. Daher kann man nicht genug achtgeben auf die Arbeit der Monteure und muß nach Möglichkeit durch Schilderung der Flüge und der Leistungsfähigkeit ihrer Maschine, durch Lob, wo es nur irgend angebracht ist, und durch Begeisterung an der gemeinsamen Aufgabe ihre schwere Arbeit zu erleichtern suchen.“164
Die herausragende Bedeutung des Boden- und Heimatpersonals wurde in den populären Luftkriegsdarstellungen nur selten so deutlich zur Sprache gebracht. Anerkennung wurde den Technikern und Monteuren, den „Männern im Hintergrund“, auch erst in den faschistischen Darstellungen gezollt, welche die „gemeinsame Aufgabe“ betonten und „das stille Heldentum“ der Techniker bewusst thematisierten. So hieß es beispielsweise in einem in der vom Scherl Verlag produzierten und unter Mitarbeit des Reichsluftfahrtministeriums herausgegebenen Luftwaffenillustrierten Der Adler 1940 erschienenen Beitrag: „Dieser Bericht soll ein Bericht des Dankes sein. Er handelt von den Tausenden und Millionen deutscher Soldaten, die täglich und stündlich vor dem Feind stehen – und ihn doch nicht bekämpfen können. Er handelt von dem Bodenpersonal der Luftwaffe, das ohne viel Worte, unermüdlich und unauffällig seine Pflicht erfüllt, die für einen Soldaten, der den Feind mit der Waffe in der Hand bekämpfen will, sehr hart ist. Er handelt von den Jungen 162
Richthofen: Der rote Kampfflieger, S. 117. Siehe Potempa: Die Königlich-Bayerische Fliegertruppe, S. 88f. u. S. 170–182. Potempa macht auf die unerlässliche zivilberufliche Qualifikation der Monteuere aufmerksam. Dort (S. 89) heißt es: „Von den 73 Gefreiten und Gemeinen [bei einer Königlich Bayerischen Kampfstaffel der OHL], war nur bei fünf Mann keine konkrete zivilberufliche Vorbildung notwendig. Neben 18 Motorschlossern, waren acht Flugzeugmonteure, acht Hilfsmonteure, acht Elektrotechniker, 16 Tischler, acht Sattler, ein Schneider und ein Schuhmacher gefordert.“ 164 Eddelbüttel: Artillerieflieger, S. 30. 163
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und Alten, die das Schwert immer scharf geschliffen für ihre Kameraden erhalten – von den Männern im Hintergrund, die kein Wehrmachtbericht nennt, die Bomben schleppen und sie nicht fallen sehen, die Trommeln füllen und nicht auf den Gegner schießen können. […] Das sind die Flieger, die nicht fliegen. Aber sie gehören zu unserer Luftwaffe, sie sind die Schale um den eisernen Kern der Besatzungen, ohne sie wäre kein Einsatz möglich.“165
Obwohl die Fortentwicklung der Technik ihre Bedeutung noch weiter gesteigert hatte, spielten die „Männer im Hintergrund“ selbstverständlich auch in den faschistischen aviatischen Heldennarrativen keine zentrale Rolle. Das Bodenpersonal war zwar unverzichtbar, doch seine Tätigkeit war zu unspektakulär, um medial ausgeschlachtet zu werden, und so blieb sein „Heldentum“ eben meist doch still. Diese „Flieger, die nicht fliegen“ wurden aber als ein fester, unverzichtbarer und integraler Bestandteil der kriegerischen und kameradschaftlichen Gemeinschaft dargestellt. So heißt es in oben zitiertem Artikel weiter: „Wenn sie aber ausbleibt [die Rückkehr der Flugzeugbesatzung], ist eine kleine und feste Gemeinschaft von Männern zerrissen, die zusammengehören. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit findet seinen stärksten Ausdruck in dem Augenblick, wo ein Mitglied der Besatzung ausfällt und sofort ein Mann des Bodenpersonals – meist als Heckschütze – seinen Platz einnimmt und ausfüllt.“
Selbstredend betraf diese Integrationsverheißung nicht allein das Bodenpersonal, sondern auch die Arbeiter in den Flugzeugwerken, die ebenfalls zu Mitkämpfern stilisiert wurden: „Und dennoch – auch sie [die Zivilisten] sind Soldaten, tragen die gelben Armbinden der deutschen Wehrmacht und schaffen mit. Es sind zahllose Monteure der großen deutschen Flugzeugwerke, wie Junkers, Messerschmitt, Dornier und Heinkel, die immer mit Rat und Tat den Warten zur Seite stehen. Auch sie gehören zu den Männern, von denen man nicht spricht, wenn von den großen Erfolgen die Rede ist. Soldaten und Arbeiter sind sie alle, wie die Millionen in den Werkstätten der Heimat.“
Alle waren sie Soldaten, und alle waren sie Arbeiter, ob in den Flugzeugkanzeln oder in den Werkstätten, ob an den Heckgeschützen oder in den Fabriken. 1931 schon hatte Generalleutnant Max Schwarte, der Herausgeber der zehnbändigen Reihe Der große Krieg 1914–1918, festgehalten, dass „die Erzeugung der Waffe durch den Arbeiter […] der Handhabung der Waffen durch den Kämpfer“ gleichgestellt sei.166 Diese Gleichsetzung der Arbeit und des Soldatentums, die in dem Schlagwort von den „Soldaten der Arbeit“ ihre Zuspitzung finden sollte,167 diente der Integration des Industrieproletariats 165
Siegfried Kappe: Männer im Hintergrund. Tag und Nacht unermüdlich – so arbeitet das Bodenpersonal unsrer Luftwaffe, in: Der Adler, 1.10.1940 in: DMM, LR05437. Dort auch die folgenden Zitate. 166 Max Schwarte: Der Krieg der Zukunft, Leipzig 1931, S. 35 [Hervorhebung im Or.]. 167 Das Schlagwort von den „Soldaten der Arbeit“ wurde auf den Reichsarbeitsdienst bezogen, doch die Militarisierung der Arbeit, die in ihm zum Ausdruck kommt, ist für den Nationalsozialismus insgesamt kennzeichnend. Siehe hierzu: Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003.
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und war ein Ergebnis der Einsicht, dass es eben „keine Bewegung“ mehr gab, „und sei es die einer Heimarbeiterin an ihrer Nähmaschine, […] der nicht eine zum mindesten indirekte kriegerische Leistung innewohnt.“168 Die Militarisierung der Arbeit wie auch die simultane Übertragung des Konzepts der Arbeit auf den Kampf wurden zum Ausgangspunkt von Ernst Jüngers metaphysisch grundierter Theorie der totalen Mobilmachung, die er in seinem 1932 erschienenen Groß-Essay Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt entwickelte.169 In dieser Transformation der Arbeit sah Jünger eine Revolutionierung des Daseins und der Welt, die es vorbehaltlos zu akzeptieren galt, wollte man nicht untergehen. In der Technik und der Technisierung aller Lebensbereiche deutete sich für Jünger eine „planetarische“ „totale Mobilmachung“ an. Die Aufgabe der totalen Mobilmachung sei „die Verwandlung des Lebens in Energie, wie sie sich in Wirtschaft, Technik und Verkehr im Schwirren der Räder oder auf dem Schlachtfelde als Feuer und Bewegung offenbart.“170 Die als „Wille zur Macht“ verstandene „totale Mobilmachung“ verwandelte mittels der Technik alles in „Arbeit“. In Der Arbeiter wurde dieser Zusammenhang nicht nur zu einer faschistoiden Utopie entwickelt, sondern zu einem regelrechten auf das zeitgenössische Verständnis von Nietzsche rekurrierenden philosophischen Entwurf ausgestaltet, dessen volle Reichweite an dieser Stelle nicht erläutert werden kann.171 Vielmehr wird Jüngers Groß168
Jünger: Die totale Mobilmachung, S. 562. Zu Jüngers Arbeiter und weiteren Literaturhinweisen siehe u.a.: Uwe K. Ketelsen: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Ein faschistisches Modernitätskonzept, in: Ders.: Literatur und Drittes Reich, Schernfeld 1992, S. 258–285; Kiesel: Ernst Jünger, S. 384–399; Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger, Würzburg 2006, S. 287–330; Peter Koslowski: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 35–76; Rohkrämer: Eine andere Moderne, S. 301–341; Harro Segeberg: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk, in: Ders. (Hrsg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770– 1930), Tübingen 1991, S. 338–378; Friedrich Strack (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg 2000; Marianne Wünsch: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.): Politik – Mythos – Kunst, Berlin 2004, S. 459–475. 170 Jünger: Der Arbeiter, S. 210. 171 Siehe hierzu: Martin Heidegger: Zu Ernst Jünger. GA 90, hrsg. v. Peter Trawny, Frankfurt/M. 2004. In Heideggers Manuskript für eine im Kollegenkreis gehaltene „Aussprache über Jünger“ aus den Jahren 1939/40 heißt es (S. 226f.): „Alles Seiende, Natur und Geschichte, ist in dem, was es ist und wie es ist, ‚Arbeit‘ (Wille zur Macht). Der menschliche ‚Repräsentant‘ des Willens zur Macht heißt ‚der Arbeiter‘; […] Der Name ‚Arbeiter‘ nennt metaphysisch-anthropologisch die Gestalt des Menschentums, das sich in der Meisterung des Seienden im Ganzen vollendet, dessen Sein durchgängig ‚Wille zur Macht‘ ist. Der ‚Arbeiter‘ gilt somit nicht als Wortbegriff für eine Vorstellung, die eine bisher schon bekannte Erscheinung, den sogenannten ‚Stand‘ und die ‚Klasse‘ der ‚Arbeiter‘ nur ins Allgemeine ausweitet.“ In der ergänzenden Fußnote heißt es: „Aber gleichwohl von hier Anstöße [nimmt] – aber der 4. Stand [ist] nicht ‚bürgerlich‘, sondern nach Verhältnis zum Elementaren [gedacht]!] Was Jünger mit dem Namen ‚Arbeiter‘ meint, ist aus jeder nur ständischen und volklichen Bewertung und vor allem aus jeder ‚sozialen‘ Fürsorge herausgenommen. 169
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Essay im Folgenden herangezogen, um den im rechten politischen Spektrum stattfindenden, den „Arbeiter“ betreffenden Umdeutungsprozess zu verdeutlichen, der die Integration des Industrieproletariats in die Gemeinschaft erleichterte und nicht nur eine Akzeptanz der Technik ermöglichte, sondern deren radikale Bejahung forderte. Es gilt, den von der Technik, der „Arbeit“ und dem Krieg gestifteten Zusammenhang zwischen dem Flieger und dem „Arbeiter“ aufzuzeigen. Die dritte OHL, die am 28. August 1916 ihre „Arbeit“ begann, vollzog „den Übergang zum Maschinenkrieg und damit zur Industrialisierung der Kriegführung in Deutschland mit einer [einmaligen] Radikalität“.172 Die industrialisierte Kriegführung, wie sie insbesondere Ludendorff verstand, bedeutete, „nicht einfach, daß industriell produzierte Waffen eingesetzt wurden, sondern dass auch das Verhalten der Soldaten (ihr Krieg) von dem Umgang mit Waffen statt von der Herrschaft der Offiziere bestimmt wurde. Die klassenübergreifende Gemeinschaft der Frontsoldaten wurde durch Kriegsmaschinen synthetisiert. Krieg war ‚Arbeit‘.“ Ebenso wurde die Volksgemeinschaft insgesamt durch Arbeit synthetisiert, und das heißt, durch die Teilnahme an der technisierten, „totalen Mobilmachung“ gebildet. Der Einzelne verlor dabei seine Individualität und mutierte zum Vertreter des „Typus des Arbeiters“. Indem sich der Soldat oder der Industriearbeiter der Maschine bedienten, mutierten sie selbst zu einem Teil einer Maschinerie höherer Ordnung, nämlich des zur Macht strebenden „Arbeitsstaates“.173 Innerhalb dieser „organischen Konstruktion“, dieser „neue[n] Form der Einheit“ erscheint „der Mensch in hoher Einheit mit seinen Mitteln“, und erst dann löst sich „die Spannung zwischen Natur und Zivilisation, zwischen organischer und mechanischer Welt“. In der „totalen Mobilmachung“ kündigte sich für Ernst Jünger, dessen Schriften zu Beginn der 1930er Jahre zwischen „nüchterner Beschreibung und politisch-totalitärem Ordnungsentwurf“ changierten,174 das Ende des bürgerlichen Zeitalters an: „In dieser absoluten Erfassung der potentiellen Energie, die die kriegführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt, deutet sich der Anbruch des Zeitalters des vierten Standes vielleicht am sinnfälligsten an, – sie macht den Weltkrieg zu einer historischen Erscheinung, die an Bedeutung der französischen Revolution zum mindesten ebenbürtig ist.“175
‚Arbeit‘ und ‚Arbeiter‘ sind metaphysische Begriffe. Der Soldat ist ‚Arbeiter‘, insgleichen der ‚Denker‘; dies aber nicht, weil beide, sei es mit der ‚Faust‘, sei es mit der ‚Stirn‘ ‚arbeiten‘, d.h. für den Gemeinnutzen Ersprießliches leisten, sondern weil sie, dem Seienden im Ganzen als Wille zur Macht standhaltend, dieses Seiende je in ihrer Weise sind. Die Haltung dieses Standhaltens nennt Jünger den ‚heroischen Realismus‘.“ 172 Geyer: Deutsche Rüstungspolitik, S. 102. Dort (S. 100) auch das folgende Zitat. 173 Jünger: Der Arbeiter, S. 235. Dort (S. 259 u. S. 216f.) auch die folgenden Zitate. 174 Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 80. 175 Jünger: Die totale Mobilmachung, S. 562. Dort auch das folgende Zitat.
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Es handelte sich um eine revolutionäre Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihrer politisch-sozialen Kategorien, zuvörderst der des Individuums. Die „totale Mobilmachung“ war jedenfalls Ausdruck des „Leben[s] im Zeitalter der Massen und Maschinen“ und der Mensch hatte sich ihrem „geheimnisvollen und zwingenden Anspruch“ zu unterwerfen. Für Jünger war die „totale Mobilmachung“ ein Prozess und eine Revolution, die sich selbst vollzog und in das „Zeitalter des vierten Standes“ mündete. Die „erste Tatsache der Revolution“ war der Krieg gewesen: „Dieser Aufgabe des Krieges als des Umwerters der Werte, des großen Zerstörers des Gewordenen und des Vaters der zukünftigen Dinge, entspricht im Menschlichen die Aufgabe des Kriegers – also des Frontsoldatentums. […] Er [der Frontsoldat] ist das Sinnbild des modernen Arbeiters und Kämpfers, der Träger eines neuen Aufbruches in die Welt.“176 Die Technik war der Motor dieser sich im Krieg offenbarenden Revolution. Hier hatte sie ihr „doppelte[s] Gesicht“ gezeigt.177 Diese janusköpfige, destruktive wie konstruktive Technik galt es, gemäß Jüngers „heroischem Realismus“ zu bejahen oder unterzugehen: „Wenn man aber akzeptiert, und das ist sehr wichtig, macht man sich nicht nur zum Subjekt der technischen Vorgänge, sondern gleichzeitig zu ihrem Objekt. Die Anwendung der Mittel zieht einen ganz bestimmten Lebensstil nach sich, der sich sowohl auf die großen wie auf die kleinen Dinge des Lebens erstreckt.“178 Erst der die Technik bejahende „Arbeiter“ vermochte, sich zum Subjekt wie zum Objekt der technischen Vorgänge zu machen und damit zum „Träger des Schicksals“ zu werden.179 Da sie seine Individualität bedrohte, hatte sich der „Bürger“ hingegen, so Jünger, dieser aktiven und passiven Indienstnahme der und durch die Technik verweigert. Diese Verweigerung wiederum hatte sowohl eine „unvollkommene Technisierung des Krieges“180 als auch eine gescheiterte „totale Mobilmachung“ zur Folge. Auch der Fortschrittsglaube hinderte den „Bürger“ daran, die Technik voll und ganz zu akzeptieren: „Die Technik nämlich erscheint im bürgerlichen Raume als ein Organ des Fortschrittes, das sich auf eine vernünftig-tugendhafte Vollkommenheit zubewegt. Sie ist daher eng verbunden den Wertungen der Erkenntnis, der Moral, der Humanität, der Wirtschaft und des Komforts. Die martialische Seite ihres Januskopfes passt in dieses Schema schlecht hinein. Es ist aber unbestreitbar, daß eine Lokomotive anstatt eines Speisewagens eine Kompagnie Soldaten, oder ein Motor statt eines Luxusfahrzeuges einen Tank bewegen kann. […] Da nun die Anwendung fortschrittlicher, ‚zivilisatorischer‘ Mittel im Kampfe nicht geleugnet werden kann, weist das bürgerliche Denken das Bestreben auf, sie zu entschuldigen. Dies geschieht dadurch, daß es die Fortschrittsideologie über den kriegerischen Vorgang stülpt, 176
Ernst Jünger: Der Kampf um das Reich: Vorwort [Dezember 1929], in: Ders.: Politische Publizistik. 1919–1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [Or. 1929], S. 527–536, S. 529 [Hervorhebung im Or.]. 177 Jünger: Der Arbeiter, S. 155. 178 Ebd., S. 158f. 179 Ebd., S. 63. 180 Siehe Radkau: Technik in Deutschland, S. 239ff.
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indem die Waffengewalt als ein bedauerlicher Ausnahmefall, als ein Zähmungsmittel unfortschrittlich gesinnter Barbaren erscheint. […] Das Ziel ihrer Anwendung [der technischen Mittel] ist nicht der Sieg, sondern die Befreiung der Völker, ihre Aufnahme in jene Gemeinschaft, die über eine höhere Gesittung verfügt.“181
Diese in dem Fortschrittsglauben, man denke an Warburgs Kodierung des Flugzeuges, gründende Unfähigkeit des Bürgers, „den der Technik innewohnenden Machtcharakter“ zu akzeptieren, weihte den „Bürger“ dem Untergang.182 Der „Arbeiter“ hingegen sprach die „Elementarsprache“ der Technik, er stellte sie „wirklich und widerspruchslos in [seinen] Dienst“ und stellte gleichzeitig sich selbst in ihren Dienst.183 Der „Arbeiter“ und die Technik sind in Jüngers Groß-Essay nicht nur aufs Engste miteinander verknüpft, sondern sie werden zum jeweiligen definiens des anderen Begriffs: „Die Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert. Das Maß, in dem der Mensch entscheidend zu ihr in Beziehung steht, das Maß, in dem er durch sie nicht zerstört, sondern gefördert wird, hängt von dem Grade ab, in dem er die Gestalt des Arbeiters repräsentiert.“184 Wer oder was ein „Arbeiter“ war, war an seinem Verhältnis zur Technik, zum „Material“ zu erkennen. Aufgrund der Erfahrung des Krieges gelang Jünger eine Umdeutung des „Materialismus“. Das Wesen des Materialismus, schrieb Martin Heidegger, der sein Verständnis von „Arbeit“ und der Technik in der Auseinandersetzung mit Jüngers Schriften entwickelt hatte, im Brief über den Humanismus aus dem Jahr 1946, bestand „nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als Material der Arbeit erscheint.“185 Dass „alles Seiende zum Material der Arbeit“ geworden sei, war die zentrale Erkenntnis Jüngers im Krieg. Der Krieg war ein riesenhafter Produktionsprozess, der in den Materialschlachten gipfelte. Was unter „dem Material“ zu verstehen ist, darüber gibt Jünger in Feuer und Blut aus dem Jahr 1925 eindeutig Auskunft: „Das ist das Material. Vor dem Blick tauchen weite Industriebezirke mit Fördertürmen von Kohleschächten und dem nächtlichen Glanz von Hochöfen auf, Maschinensäle mit Treibriemen und blitzenden Schwungrädern, mächtige Güterbahnhöfe mit blinkenden Gleisanlagen, dem Gestöber bunter Signallaternen und der geometrischen Ordnung der weißen Bogenlampen. Ja, dort hinten wird es fabriziert in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als eine gespeicherte Energie, die sich als kinetische vernichtend gegen den Menschen entlädt. Diese Schlacht ist ein furchtbares Messen der gegenseitigen Produktion und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die billiger, zweck181
Jünger: Der Arbeiter, S. 156f. Vgl. hierzu das Kapitel I.1 idea non vincit. Jünger: Der Arbeiter, S. 155, S. 158 u. S. 161. Ebd., S. 162. Vgl. hierzu Wünsch: Ernst Jüngers Der Arbeiter, S. 469. 184 Jünger: Der Arbeiter, S. 150. 185 Heidegger: Brief über den Humanismus, S. 337. Dort heißt es weiter: „Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik“. Vgl. hierzu: Günter Seubold: Martin Heideggers Stellungnahme zu Jüngers ‚Arbeiter‘ im Spiegel seiner Technikkritik, in: Friedrich Strack (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg 2000, S. 119–132. 182 183
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mäßiger und schneller herzustellen versteht. Hier deckt das Zeitalter, aus dem wir stammen, seine Kehrseite auf. Die Herrschaft der Maschine über den Menschen, des Knechtes über den Herrn wird offenbar“.186
Bereits im Vorwort zu In Stahlgewittern hatte Jünger darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur „Maschinen, Eisen und Sprengstoff“, sondern „selbst der Mensch […] als Material gewertet“ wurde.187 Während der „Bürger“ aber daran verzweifelte, dass er selbst zum Objekt und zu einer Funktion innerhalb eines gewaltigen Produktionsprozesses geworden war, begrüßte der „Arbeiter“ diesen Vorgang, im Zuge dessen „eine alte Zeit“ zerschlagen wurde und eine neue Zeit heraufzog, die einen Neuen Menschen gebar:188 „den Herrn des Materials und den Herrn seiner selbst, der aus einem Zauberlehrling zum Meister geworden ist.“189 Der Neue Mensch, der aus der Materialschlacht hervorging, war Herr und Knecht zugleich. Er gestaltete das Material und war selbst Material. Indem der zum „Material“ gewordene Mensch also seine Funktion innerhalb des totalen „Arbeitsprozesses“ annahm, wurde er wieder zum Subjekt und somit zum „Arbeiter“. Die Gleichsetzung von Frontsoldatentum und „Arbeitertum“, von Fliegern und Industriearbeitern, von Stoßtruppführern und Heimarbeiterinnen an der Nähmaschine gründete in der Universalisierung der Arbeit. Während der Schlosser an der Werkbank seine Arbeit erledigte, man denke nochmals an das Durch Arbeit zum Sieg-Plakat von Alexander M. Cay, verrichtete der Soldat mit seinem Werkzeug die seine: „Wir sind Soldaten, und die Waffe ist das Werkzeug, mit dem wir an die Gestaltung gehen. Unsere Arbeit heißt Töten, und es ist unsere Pflicht, diese Arbeit gut und ganz zu tun.“ Für den hiesigen Zusammenhang ist weniger von Bedeutung, dass hier bereits Himmlers berüchtigte Posener Rede vom Oktober 1943 anklingt. Vielmehr steht die Identifikation des Soldaten mit dem „Arbeitertum“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Identifikation gründete, erstens, in der Einsicht, dass der Krieg kein Heldentum bot, sondern aus „Arbeit“ bestand;190 zweitens in der den Soldaten wie das „Arbeitertum“ betreffenden passiven wie aktiven Indienstnahme durch die und der Technik. Und schließlich war es drittens die „enge und widerspruchslose Verschmelzung des Menschen mit den Werkzeugen, die ihm zur Verfügung stehen“, welche die Gleichsetzung erlaubte.191 Diese Amalgamierung von Mensch und Maschine verkörpern die als „Stahlgestalten“ verstandenen Flieger am deutlichsten. So hieß es in Jün-
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Jünger: Feuer und Blut, S. 30f. Jünger: In Stahlgewittern, S. VII. Vgl. Jünger: Der Arbeiter, S. 106. 189 Jünger: Feuer und Blut, S. 38f. Dort auch das folgende Zitat. 190 Bereits in Der Kampf als inneres Erlebnis hatte es geheißen: „Ach, wie lange schon hatten wir jenes Heldentums schillernde Haut mit dem schmutzigen Kittel der Tagelöhner vertauscht.“ Siehe Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 41. 191 Jünger: Der Arbeiter, S. 178. 187 188
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gers Vorwort zu dem 1928 erschienen und von ihm herausgegebenen Band Luftfahrt ist not!: „Ja, der fliegende Mensch ist vielleicht die schärfste Ausprägung einer neuen Männlichkeit. Er stellt einen Typus dar, der sich bereits im Kriege angedeutet hat. […] Hier war alles vereint, was die moderne Zivilisation auszeichnet an Energie, Differenzierung, technischer Intelligenz und jenem geheimen kategorischen Imperativ, der dem legierten Metall der Maschinen, die letzte Härte verleiht, hier war es mit dem kriegerischen Vorzeichen versehen […]. […] An ihrem Beispiel ist vielleicht die tiefe Verbindung am klarsten hervorgetreten, die zwischen dem Soldatentum und dem Arbeitertum besteht. Denn obwohl sie dieselben geblieben sind, haben sie die Formen des Soldaten mit denen des Arbeiters vertauscht […]. Der Weg, der durch die heroischen Landschaften des Krieges führte, zieht sich auch durch die nüchternen Gefilde der Arbeit fort, und hier wie dort ist es das Fliegerherz, das der Tätigkeit ihren eigentlichen Wert verleiht.“192
Der Flieger war also zum einen ein paradigmatisches Sinnbild der „Verschmelzung des Unterschiedes zwischen organischer und mechanischer Welt“ und somit der „organischen Konstruktion“ geworden, als die auch der gesamte Arbeitsstaat verstanden wurde.193 Zum anderen aber brachte er jene Verbindung, die zwischen „Arbeitertum“ und Soldatentum bestand, am offensichtlichsten zum Ausdruck. Der „Arbeiter“ war für Jünger also eine „Gestalt“, die im Flieger klar zum Vorschein trat, die jedoch in vielerlei Ausprägungen anzutreffen war. Jedenfalls war nunmehr „unter dem Arbeiter weder ein Stand im alten Sinne, noch eine Klasse im Sinne der revolutionären Dialektik des 19. Jahrhunderts zu verstehen […]. […] Insbesondere wird man nie zu sauberen Ergebnissen kommen, wenn man den Arbeiter schlechthin mit der Klasse der Industriearbeiter identifiziert. Dies heißt, statt die Gestalt zu sehen, sich mit der einer ihrer Erscheinungen zu begnügen […]. Wahr ist, daß man im Industriearbeiter einen besonders gehärteten Schlag zu erblicken hat, durch dessen Existenz die Unmöglichkeit, das Leben in den alten Formen fortzuführen, vor allem deutlich geworden ist.“
Die „bürgerlichen“ Kategorien von Stand und Klasse wurden abgelehnt, widersprachen sie doch der Neuordnung der Gesellschaft. Das, was Jünger unter der „Gestalt des Arbeiters“ verstand, schloss also eher lexikalisch als semantisch an den gängigen Sprachgebrauch an.194 Dennoch wies der „Typus des Arbeiters“, wie nun deutlich geworden ist, zahlreiche semantische Möglichkeiten auf, die eine Integration und Vereinnahmung des Industrieproletariats erlaubten. Und so diente die Semantik des „Arbeiters“ der Neuordnung der bürgerlichen Gesellschaft nach antibürgerlichen Prinzipien. Bereits in seinem im Januar 1927 im Völkischen Beobachter erschienenen Artikel Der neue Nationalismus machte Jünger darauf aufmerksam, dass
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Ernst Jünger: Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Luftfahrt ist not!, Leipzig 1928, S. 9–13, S. 11f. Jünger: Der Arbeiter, S. 169. Dort (S. 74) auch das folgende Zitat. 194 Vgl. hierzu Wünsch: Ernst Jüngers Der Arbeiter, S. 465. 193
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„es heute nicht mehr den rechten überzeugten Klang [hat], wenn man sich Bürger nennt. Ein neuer Stand tritt auf die Bühne und rüstet sich, das Steuer der Staaten zu übernehmen. Es ist der vierte Stand. Der Stand der Arbeiter! […] Arbeitertum das ist etwas anderes als Arbeiterschaft, als jener Begriff des historischen Materialismus, den auch nur das Bürgertum […] erfunden hat. Eine Arbeiterschaft in diesem Sinne gibt es nur im Rahmen des Klassenstaates […]. Aber ebenso wie der Klassenstaat den dynastischen Staat ablöste, wird der nationalistische Staat den Klassenstaat ablösen.“195
War der bürgerliche „Klassenstaat“ durch den „nationalistischen Staat“, durch die Volksgemeinschaft abgelöst worden, so wurden Arbeiterschaft wie Bürgertum zum „Arbeitertum“. Jünger verband mit diesem Umdeutungsprozess von Arbeiterschaft in Arbeitertum nicht nur die Zukunft des neuen Nationalismus, sondern sowohl ein Lob des faschistischen Italiens als auch ein Bekenntnis zum Faschismus: „Das Arbeitertum im neuen Sinne ist die blutverwandte Gemeinschaft aller innerhalb der Nation für die Nation Arbeitenden. Nur diese Gemeinschaft ist imstande, über die Auswüchse des Kapitalismus zu triumphieren. Daher ist die dringendste Aufgabe des neuen Nationalismus, in die Form einer Arbeiterbewegung hineinzuwachsen, ebenso wie es die Aufgabe der Arbeiter ist zu erkennen, daß ihr berechtigter Lebenskampf nur im Rahmen der Nation zum Siege führen kann. Wir besitzen in Europa bislang nur einen Staat, dem das nationalistische Arbeitertum die Form gegeben hat: den italienischen.“
Jünger erfasste den sich ereignenden Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung, er forcierte ihn aber auch. Tatsächlich suchte der Faschismus, das Individuum durch den Typus zu ersetzen und die Masse in eine „organische Konstruktion“ zu verwandeln. An Jüngers Entwurf der „Arbeitergestalt“ wird dieser Umdeutungsprozess und die symbolisch-semantische Inklusion des Industrieproletariats in die Gemeinschaft deutlich. Vor allem aber wird am „Arbeiter“ der bürgerliche Entwurf einer antibürgerlichen Gesellschaft und einer antiliberalen Moderne aus einer weiteren Perspektive sichtbar. Jüngers Entwurf des Arbeiterstaates nimmt vieles vorweg, was die Nationalsozialisten in die Wirklichkeit umzusetzen suchten, und bringt jene technokratischen Tendenzen zum Ausdruck, die den unterschiedlichsten, „entfernt verwandten“ Regimen der 1930er Jahre zugrunde lagen.196 Von seinem radikalen Nationalismus habe sich Jünger, laut Helmuth Kiesel, 1932 entfernt. Er habe „die nationalistische Perspektive zugunsten einer ‚planetarischen‘ relativiert.“197 Weil aber die verabsolutierte Nation oder das Volk in Jüngers „faschistischem Modernitätskonzept“ (Uwe Ketelsen) fehlte, handelte es sich, trotz aller Vorwegnahmen und Parallelen, nicht um ein faschistisches Modernitätskonzept im Sinne der hier behandelten mythischen Moderne.198 Dies hinderte die National195 Ernst Jünger: Der neue Nationalismus, in: Völkischer Beobachter 23./24. Januar 1927, in: Ders., Politische Publizistik. 1919–1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 285–291, S. 286 [Hervorhebungen im Or.]. Dort (S. 286ff.) auch das folgende Zitat. 196 Siehe hierzu: Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. 197 Kiesel: Ernst Jünger, S. 397. 198 Zu Jüngers Arbeiter als „faschistisches Modernitätskonzept“ siehe: Ketelsen: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Zu den unterschiedlichen Reaktionen der Nationalsozialisten auf den
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sozialisten wiederum nicht daran, aus Jüngers Konzept zu schöpfen. So betonte Wulf Dieter Müller in seiner 1934 erschienenen Ernst-Jünger-Biographie dessen Leistung: „Die deutsche Jugend dankt es vor allem Ernst Jünger, daß ihr die Technik kein Problem mehr ist. Sie hat sich seine schönen Bekenntnisse zu ihr aus ‚Feuer und Blut‘ zu eigen gemacht, sie lebt in Einklang mit ihr. Sie bedarf keiner Ideologien mehr zu ihrer Überwindung, sie begreift sie als Arm der Idee. Das war uns neu, diese Einordnung des Materials in den Sinn des Geschehens. Jünger hat uns von einem Alpdruck befreit.“199
Zudem machte Müller auf die Notwendigkeit aufmerksam, nunmehr mit der totalen Mobilmachung Ernst zu machen: „Wir müssen nun möglichst schnell aus der Zeit des Überganges der Epochen heraus. Es ist keine Frage, daß der, der zuerst ‚fertig‘ ist, daß die Nation, die alle ihre Lebensäußerungen zuerst dem Wesen der Gestalt [des Arbeiters] anpasst und damit zur totalen Einheit wird, die größte Möglichkeit zur Machtentfaltung hat und, in der Einheit von Sein, Tun und Wollen, die Kämpfe zum Siege führen wird.200
Obwohl der „Arbeiter“ also, so Ernst Jünger an Walter Patt im Februar 1980, das „Erscheinen der mythischen Gestalt“ ist, ist die von Jünger entworfene totalitäre Ordnung kein Entwurf einer mythischen Moderne. Und zwar weil es seinem Ordnungsentwurf an einem jenseits der Arbeit oder dem Willen zur Macht selbst liegenden verabsolutierten Zentrum mangelt.201 Und so heißt es in Der Arbeiter: „Nun aber erhebt sich die Frage nach der Legitimation, einer besonderen und notwendigen, jedoch keineswegs willensmäßigen Beziehung zur Macht, die sich auch als Auftrag bezeichnen lässt. Diese Legitimation ist es, die ein Sein nicht mehr als rein elementare, sondern als geschichtliche Macht erscheinen lässt. Das Maß an Legitimation entscheidet über das Maß an Herrschaft, das durch den Willen zur Macht erreicht werden kann. Herrschaft nennen wir einen Zustand, in dem der schrankenlose Machtraum auf einen Punkt bezogen wird, von dem aus er als Rechtsraum erscheint. Der reine Wille zur Macht dagegen besitzt ebenso wenig Legitimation wie der Wille zum Glauben, – es ist nicht die Fülle, sondern ein Gefühl des Mangels, das in diesen beiden Haltungen, in denen die Romantik in sich selbst zerbrach, zum Ausdruck kommt.“202
Da es kein Absolutes gab, herrschte ein Mangel an Legitimation. Daher sah Jünger den einzigen Ausweg im „heroischen Realismus“. Dieser stellte für Martin Heidegger einen „aktiven Nihilismus“ dar. Die „‚heroische‘ Haltung“, heißt es in Heideggers Aufzeichnungen zu Ernst Jünger aus den Jahren 1939/40, „[sagt] ‚Ja‘ […] zu dem, was ist – zum ‚Realen‘, ohne Rücksicht „Arbeiter“ siehe: Kiesel: Ernst Jünger, S. 394–399 sowie Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 102ff. 199 Wulf Dieter Müller: Ernst Jünger. Ein Leben im Umbruch der Zeit, Berlin 1934, S. 42. Vgl. hierzu: Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 104. 200 Müller: Ernst Jünger, S. 59. 201 Brief Ernst Jüngers an Walter Patt vom 6.2.1980, zit. nach: Koslowski: Der Mythos der Moderne, S. 64. 202 Jünger: Der Arbeiter, S. 67f.
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auf sich selbst.“203 Schon Peter Koslowski hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Arbeiter bereits jene Zustimmung zu Léon Bloys Ausspruch andeutete, den Jünger später oftmals bemühen würde.204 Der nietzscheanisch inspirierte Satz des französischen Schriftstellers Bloy lautete: „Tout ce que arrive est adorable“, „Alles, was geschieht, ist anbetungswürdig/verehrenswert.“ Diese unter zahlreichen Intellektuellen aus der Kriegsgeneration, aber auch aus der Kriegsjugendgeneration, die zur „Generation des Unbedingten“ werden sollte, verbreitete nihilistische Haltung gründete in dem „Wissen“ um den „Tod Gottes“, um das Fehlen eines Absoluten und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit eines stabilen Mythos.205 Und wenn auch dieses „Wissen“ Jünger und seinesgleichen von den Faschisten unterschied, so bewahrte es sie keineswegs vor einer Teilnahme an deren Versuchen zur Neuordnung der Welt und vor einer Beteiligung an deren Verbrechen. Vielmehr scheint es, als hätten diese „Nihilisten“, die um den „Tod Gottes“ wussten und sich dennoch nach einem „Gott“ sehnten, gerade in der Zerstörung der Ordnung und in der millionenfachen Vernichtung menschlichen Lebens einen Ausweg aus dem Paradox der modernen Existenz gesucht. Die Kontingenz und Ambivalenz zu ertragen, waren sie trotz ihres „heroischen Realismus“ nicht bereit. Die einen sahen im Faschismus die Gelegenheit, die verachtete, dekadente alte Ordnung zu beseitigen und den Aufbruch in eine neue Zeit zu begehen. Für Jünger gehörte es „zu den hohen und grausamen Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein.“206 Was auf die „Sprengarbeit“ folgen sollte, war noch unklar. Bis dahin galt es zu warten in der Hoffnung, so das Hölderlin entlehnte Mantra Heideggers: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“207 Die anderen sahen im Faschismus die Möglichkeit, angesichts des Mangels an Legitimation die Macht um der Macht willen und den Kampf um des Kampfes willen zu praktizieren. Das Problem der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ und des leeren Himmels über ihnen lösten sie, indem sie ein Absolutes schlichtweg setzten oder gänzlich darauf verzichteten. In dem von Jünger 1930 herausgegebenen Sammelband Krieg und Krieger befand sich auch ein Aufsatz des 1903 geborenen Juristen Werner Best, dem, so Ulrich Herbert, späteren „Konzepteur […] der Vernichtungspolitik“.208 In dem Der Krieg und das Recht betitelten Beitrag heißt es:
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Heidegger: Zu Ernst Jünger, S. 240. Siehe hierzu: Koslowski: Der Mythos der Moderne, S. 74ff. Zur „Generation des Unbedingten“ siehe Michael Wildt: Die Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002 sowie Herbert: Best. 206 Jünger: Der Arbeiter, S. 40. 207 Martin Heidegger: Einblick in das, was ist, in: Ders.: Bremer und Freiburger Vorträge. GA 79, hrsg. v. Petra Jaeger, Frankfurt/M. 1994, S. 3–77, S. 72. 208 Herbert: Best, S. 528. 204 205
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„Die ‚Erlösung‘ von der Unerträglichkeit der Gegenwart, hier auf Erden oder jenseits der Wirklichkeit […], die Ablösung der Unruhe dieser Wirklichkeit durch den Frieden eines Zustandes der Erfüllung oder Vollendung, das ist die (bewußte oder unbewußte) Lebenstendenz der Menschen, die in den Formeln der utopisch-rationalistischen und der moralisch-idealistischen Auffassung die Gleichung für ihr Daseinsrätsel finden. […] Die innere Haltung, die hier als Nationalismus bezeichnet wird, bejaht die friedlose, vom Kampf und Spannung erfüllte Wirklichkeit unserer Umwelt. Sie erstrebt keine ‚Erlösung‘, keinen Zustand, der die gegenwärtige Unruhe endet. Denn sie weiß aus unmittelbarer Gewißheit, daß alles Leben, daß die Dynamik des Kosmos in Spannung, Kampf und Unruhe besteht. Das Ziel, nach dem die Anderen streben, wäre zugleich das Ende“.209
Dem Streben nach Erlösung setzte Best eine andere Haltung und „Sittlichkeit“ entgegen: „Die Sittlichkeit der neuen Haltung kann kein ‚was‘ vorschreiben, weil sie kein solches kennt. Sie ist nicht auf ein Ziel eingestellt und dient nicht einer Erfüllung oder Vollendung. Jeder Augenblick stellt den vorhergehenden in Frage. Kein Wert, für den jeweils gekämpft wird, hat Anspruch und Aussicht auf Sicherheit und Dauer. So bleibt als Maß der Sittlichkeit nicht ein Inhalt, nicht ein Was, sondern das Wie, die Form. ‚Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.‘ (Ernst Jünger […]) Der Kampf ist das Notwendige, Ewige, die Kampfziele sind zeitbedingt und wechseln. […] Kämpfen in der Erwartung, daß man selbst siegen oder daß die ‚gute Sache‘ irgendwann doch einmal triumphieren werde, das können auch die anderen, denen nur der Glaube an ein letztes Ziel den gegenwärtigen Kampf erträglich macht. Dagegen ist die Bejahung des Kampfes auf verlorenem Posten für eine verlorene Sache das Kriterium der neuen Haltung: auf den guten Kampf kommt es an, nicht auf die ‚gute Sache‘ und den Erfolg.“
Da keine „gute Sache“ existierte, da „Gott tot war“, gab es für die Männer vom Schlage Werner Bests nur den „Kampf auf verlorenem Posten für eine verlorene Sache“. Es wäre zu diskutieren, ob nicht die Ahnung oder das „Wissen“ um die Unmöglichkeit einer mythischen Moderne, einer endgültigen Ordnung des Chaos die Vehemenz und Unmenschlichkeit, mit der sie diesen Kampf führen sollten, noch steigerte.
c. „Ich will ein Boelcke werden!“ Die Einschreibungen des Helden in die Gemeinschaft und das Leben der Nation Am Anfang des bereits zitierten Berichts Bei der Jagdstaffel Richthofen erzählt Georg Wegener von einer Heldenablösung zur Jahreswende 1916/17: „Als Boelcke fiel, ging ein tiefes Trauern durch das deutsche Volk und das Gefühl: ‚Wir werden nie seinesgleichen sehen.‘ – Aber aus der großen Schar seiner Schüler sind neue erfolggekrönte Kämpfer erstanden und mit ihnen einer, den das Volk in den letzten Monaten mit einem ähnlich jähen Flug zur Sonnenhöhe des Ruhmes hat emporsteigen sehen wie Boelcke, und der wie Boelcke neben sich auch einen Kreis glänzender, von demselben Geist durchglühter, von ihm zu erfolgreichster Nacheiferung angespornter engerer
209
Werner Best: Der Krieg und das Recht, in: Ernst Jünger (Hrsg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 135–161, S. 149f. Dort (S. 151f.) auch das folgende Zitat.
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Genossen herangebildet hat. Ich brauche seinen Namen nicht erst zu nennen; jedermann in unserem Volk jauchzt heut dem Kampfflieger Freiherrn von Richthofen zu.“210
Im Verlauf des Jahres 1917 nahm von Richthofen die durch Boelckes Tod entstandene Leerstelle im deutschen Heldenpantheon ein, weil er durch die zahlreichen von ihm erzielten Abschüsse zum erfolgreichsten Jagdflieger geworden war. An dieser Heldenablösung lässt sich ein tiefgreifender Wandel oder Bruch mit der alten Ordnung aufzeigen, der sich in jenen Jahren 1916/17 zu vollziehen begann. In diesem Abschnitt wird also das „lange 19. Jahrhundert“ gewissermaßen bildlich zu Grabe getragen. An dem „Kult um die toten Helden“ Boelcke und von Richthofen soll nochmals aufgezeigt werden, dass die in den vorangegangenen Abschnitten erläuterten Ordnungsvorstellungen einer hierarchisch gegliederten und homogenen Gemeinschaft mittels des Heldenkultes, und das heißt durch eine Partizipation am nationalen Mythos weit in die Gesellschaft hinein diffundierten. In einer chaotischen Zeit, in der das gewohnte Leben in Aufruhr geriet und die vertrauten Werte an Gültigkeit verloren, suchten die Zeitgenossen nach Orientierung und Ordnung. Die vom Tod heimgesuchte, trauernde Gesellschaft suchte die Verluste und das Erlittene zu verarbeiten. Der Heldenkult spendete Trost, verlieh dem Tod einen Sinn und verhieß den Toten ein ewiges Leben. Die kultische Verehrung, die den Helden zuteil wurde, lässt sich durch einen Blick auf Boelckes Begräbnisfeier und auf die für ihn verfassten Nekrologe verdeutlichen.211 Gleich zu Beginn von Rudolf Oskar Gottschalks Boelcke-Buch findet sich ein Gedicht von einem Albert Markmann, das angeblich wenige Tage vor Boelckes Tod am 28. Oktober 1916 verfasst wurde: „Heil Boelcke, sturmerprobter, kühner Flieger. / Heil Boelcke, ehrenvoller Feindbesieger! / […] Wenn du mit Willenskraft und Adlerblicke / Bezähmst des Gegners wilde Kampfesstücke: / Dann falten betend wir für dich die Hände, / Daß Gott dich schützen mög’ vor jähem Ende … / […] Dich, der zur Menschengröße du geboren, – / Hat Gott zur Heldenewigkeit erkoren. / Heil Boelcke, Heil! Dir zum gerechten Lohne / Reicht dir das deutsche Volk die Lebenskrone, / Die deine Heldentaten ewig schmückt / Und dich mit der Unsterblichkeit beglückt!“212
In einem weiteren Gedicht aus dem Band Rudolf Oskar Gottschalks, welches ein Prof. Dr. Gerhard Heine-Dessau anlässlich eines Besuchs Boelckes in seiner Heimatstadt verfasste, heißt es: „Heute war auf dem Ziebigk [Vorort Dessaus] ein großer Tag: / Fliegerleutnant Boelcke war da – / Und war
210
Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer, Bd. III, S. 39. Die kultische Verehrung des Helden setzte mit den Bestattungsriten ein. Vgl. Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, S. 67. 212 Rudolf Oskar Gottschalk: Boelcke. Deutschlands Fliegerheld. Schilderung seines Lebensweges und seiner Heldentaten im Luftkampf, Leipzig o.J.2 [ca. 1916/17], S. 7. Dort (S. 81) auch das folgende Zitat. 211
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Hauptmann geworden; / War aus den Lüften herabgestiegen / Und saß in dem Häuschen an der Ecke / Wie ein gewöhnlicher Sterblicher.“ Es ist nicht zuletzt die große Anzahl solcher Gedichte, die es angemessen erscheinen lässt, sie ernst zu nehmen. Selbst wenn man von einem nur „metaphorischen“ Sprachgebrauch ausginge, eröffneten die verwendeten Begriffe dennoch Vorstellungswelten, die von einer kultischen Verehrung und Sakralisierung des Kriegshelden zeugen. Boelcke wird hier als Wesen dargestellt, das unter dem Schutz Gottes steht und das von diesem gesegnet und zur „Heldenewigkeit“ auserkoren wurde. Boelcke verfügt also über jene „göttliche Gnadengabe“, welche das webersche Charisma bestimmt. Zugleich wird Boelcke als göttergleiches Wesen geschildert, denn er ist kein „gewöhnlicher Sterblicher“, sondern mit „Unsterblichkeit beglückt“. Die semantische Nähe zwischen dem „aus den Lüften herabgestiegenen“ Flieger und „den Göttern“ trägt zur Verstärkung dieses Eindrucks bei. Doch auch die Verwendung des eschatologischen Heilsbegriffs bewirkt eine Sakralisierung des Helden.213 Der Tod Boelckes am 28. Oktober 1916 nach einem Zusammenstoß mit einem deutschen Flugzeug war dieser Sakralisierung nicht abträglich – im Gegenteil: „[K]ein Gegner kann sich des Triumphes über unseren Fliegerheros rühmen“ hieß es in einem offenbar tags darauf vom Anhaltinischen Staats-Anzeiger veröffentlichten Brief eines Offiziers aus Boelckes Jagdstaffel.214 Der Kriegsberichterstatter Georg Wegener, der bei der Überführung von Boelckes Leichnam von der Westfront nach Deutschland zugegen war, berichtete von einem Gespräch mit dessen Eltern, denen der Topos „vom Feinde unbesiegt“ offenbar auch am Herzen lag: „‚Gewiss,‘ sagte er [der Vater], ‚aber uns selbst hatte die große heitere Sicherheit, die ihn erfüllte, doch zuletzt sich mitgeteilt; wir haben die Sorge kaum noch gehabt, sondern doch geglaubt, Gott würde ihn bis zum Ende dieses Krieges durchführen. Es hat nicht sein sollen. Was mich und meine Frau aber aufrichtet, ist, daß er doch unbesiegt geblieben ist.‘“215 Es ist irrelevant, ob der Vater des 25jährigen dies wirklich äußerte. Beachtlich ist die Tatsache, dass das Argument zum Sagbaren gehörte. Bevor Boelckes toter Körper in Begleitung der Eltern und einer Ehrenwache in die Heimat überführt wurde, fand am 31. Oktober in der Kathedrale von Cambrai eine prunkvolle Totenfeier statt, nach welcher der Leichnam „auf eine große, mit Flaggen und Lorbeer geschmückte Geschützlafette gelegt [wurde], die sechs Rappen zogen. Die Auszeichnungen, die die Brust des jungen Helden geschmückt hatten, trug auf einem Samtkissen ein Flieger seiner Jagdstaffel, Leutnant Manfred Freiherr von Richthofen, und unter Trauermarschklängen, geleitet von Lanzenreitern und Truppen
213
Zum Heilsbegriff siehe: Sabine Behrenbeck: Heil, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, München 2001, S. 310–327. Adolf Victor von Koerber: Deutsche Heldenflieger, Bielefeld u.a. o.J. [ca. 1916/17], S. 29. 215 Wegener: Der Wall von Eisen und Feuer, Bd. II, S. 355. 214
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zu Fuß, bewegte sich der endlose Trauerzug durch die nach mehrtägigem Unwetter in hellstem Sonnenglanz strahlende Stadt Cambrai zum Bahnhof.“
Dabei bildeten Gardetruppen ein Spalier, „die erst heute früh mit Lastautos aus den Schützengräben herangeholt waren und nach der Fahrt wieder zurückkehrten an die Front, von der während des Trauerzuges dumpf und gewaltig der Geschützdonner der weitergehenden furchtbaren Schlacht herübertönte.“216 Der Bericht Wegeners erinnert daran, dass, während in Cambrai um einen einzelnen Toten eine aufwendige Totenfeier in Szene gesetzt wurde, in etwa 40 Kilometern Entfernung die Sommeschlacht weitertobte, bei der allein die deutschen Streitkräfte zwischen dem britischen Angriff am 1. Juli bis zur vorläufigen Einstellung der Kämpfe am 25. November 1916 etwa 465 000 Verluste zu beklagen hatten.217 Dieses (Miss-)Verhältnis zwischen der pompösen Verabschiedung eines Fliegerhauptmanns, der wenige Tage zuvor sein vierzigstes feindliches Flugzeug abgeschossen hatte, und dem hunderttausendfachen weitgehend anonymen Tod ist festzuhalten. Denn die Funktion des Heldentums lag nicht zuletzt in der hier deutlich werdenden Pars-proToto-Funktion. Die Ehre, die dem beispielhaften Helden Boelcke zuteil wurde, galt im Prinzip allen Gefallenen. Vor allem war es aber möglich, das auf Boelcke gemünzte Narrativ auf die abertausenden „unbekannten Soldaten“ zu übertragen. Boelckes sterbliche Hülle wurde gemeinsam mit „einem Berg mannshoch aufgeschichteter Lorbeerkränze“ per Bahn in seine Heimatstadt Dessau überführt, wo die eigentliche Begräbnisfeier stattfand.218 Bereits in Magdeburg soll sich „eine nach Tausenden zählende ernste Menschenmenge“ versammelt haben, um den Toten zu grüßen. Als der Sarg tags darauf von der Kirche zum Dessauer Ehrenfriedhof gebracht wurde, erschien am Himmel wie bereits in Cambrai ein Fliegergeschwader, das weitere Kränze abwarf und den Trauerzug zum Friedhof begleitete. Die Bevölkerung säumte „zu Tausenden […] in drei bis vierfachen Reihen“ die Straßen und „die ganze Dessauer Garnison bildete Spalier, ferner Vereine, anhaltische Schulen und Jungwehren.“ Nachdem die Krieger- und Veteranenvereine, die sich vor dem Friedhof versammelt hatten, ihre Fahnen vor dem Sarge verneigten, wurden Gedächtnisreden gehalten, denen nebst der Familie und den örtlichen Honoratioren auch Vertreter des Kaisers und des Deutschen Kronprinzen, der Herzog von Anhalt mit Gefolge und die Abordnungen der österreichisch-ungarischen, der ottomanischen, der bulgarischen und selbstverständlich auch der deutschen Armee beiwohnten. 216
Ebd., S. 357. Dort auch das folgende Zitat. Siehe zu den Verlusten bei der Sommeschlacht: Gerhard Hirschfeld: Die SommeSchlacht von 1916, in: Ders./Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.): Die Deutschen an der Somme 1914–1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006, S. 79–89, S. 87. 218 Gottschalk: Boelcke, S. 93. Dort (S. 96) auch das folgende Zitat sowie die Abbildung. 217
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Abb. 10 Der Trauerzug auf dem Weg zum Ehrenfriedhof Dessaus.
Die Traueransprache des Oberbürgermeisters Geheimrat Dr. Ebeling sowie jene des Chefs des Feldflugwesens Oberstleutnant Thomsen verdeutlichen sowohl das charismatische Verhältnis zwischen Helden und Heldenverehrern als auch die handlungsanleitende Vorbildfunktion der Heldenfiguren. In der Rede des Oberbürgermeisters heißt es: „Auch ihm, dem sieggewohnten unvergleichlichen Fliegerhelden, hat ein ernstes Geschick die Lebensbahn beendet. […] Aber über Schmerz und Leid schwingt sich die Begeisterung für die Größe des Vaterlandes, dem der Entschlafene alles hingab. […] Dein Geist, der Geist des kühnen Opfermutes, der unwiderstehlichen Angriffskraft, der unbesieglichen Zähigkeit wirke fort in all dem jungen Blut, das dem Vaterlande freiwillig zur Verfügung steht, bis auch der letzte Feind bezwungen ist. […] Aus solcher Saat muß gute Ernte sprießen. Der Name ‚Bölcke‘ [sic] sei ein leuchtendes Flammenzeichen, das uns den Weg zur Zukunft zeigt.“219
Zentral ist vor allem die Deutung des Opfers als Saat für eine von der Jugend anzutretende Zukunft. Dieser palingenetische Topos von der auf das Opfer folgenden Wiedergeburt stellte den Kern des faschistischen Mythos dar und sollte in den folgenden Jahren noch häufig, wenn auch in unterschiedlichen Varianten, bemüht werden. Die Parallelen zum christlichen Narrativ betrafen nicht allein die Auferstehung nach dem Tode, sondern, wie an Oberstleutnant Thomsens Ansprache deutlich wird, auch das Motiv der Nachfolge:
219
Otto Weddigen: Deutschlands Luftkrieg und Helden-Flieger, 1914–1917, Regensburg 1918, S. 69–71.
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„Heut ist kein frischer deutscher Junge im Heimatland, dem nicht im stillen der Wunsch im Herzen brennt: ‚Ich möchte ein Boelcke werden!‘ Das ist ein stolzer Trost, den heute wir alle […] mit heimnehmen […]. Und so lege ich am Grabe des Entschlafenen dieses Wort nieder, als letzten Scheidegruß und als feierliches Gelöbnis eines jeden einzelnen unserer deutschen Flieger: ‚Ich will ein Boelcke werden!‘“220
Über die Wirkung dieses Gelöbnisses insbesondere auf die versammelte Jugend kann nur spekuliert werden. Die Trauer und Verehrung, die Boelcke zuteil wurde, ließen seinen Tod für das Vaterland womöglich in den Augen der versammelten Schulklassen ebenso wie in jenen der übrigen Anwesenden tatsächlich „süß und ehrenvoll“ erscheinen. Mag sein reales Leben auch jäh beendet worden sein, ein mediales „Nachleben“ war Boelcke gewährt, und so verkündete der Deutsche Luftflottenverein: „Und nun ist er tot und ruht längst unter blumenüberfülltem Ehrenhügel. Innerlich aber lebt er [in] uns und unserem ganzen Volk ewig und unvergänglich und das dankbare deutsche Volk wird ihn ehren, wie große Völker nur je ihre größten Helden geehrt haben. Tausende junger braver Flieger draußen geloben: wir wollen werden und sein wie Boelcke! So oft auch müde Fechter / Sinken im blutigen Strauß, / Es kommen neue Geschlechter, / Und kämpfen ihn mutig aus.“221
Die Heldennarrative dienten der Sinngebung des Kriegstodes, aber eben auch der Wehrhaftmachung und Disziplinierung der Jugend, deren Opfergeist herangebildet wurde. Das Gelöbnis „Ich will ein Boelcke werden!“ stellt den Kern des Ansporns zur imitatio heroica dar, der die gesamte populäre Kriegsliteratur prägte. Wenn auch in abgewandelter Form findet sich jener Anstoß zur Nachahmung der Helden auch in dem Buch des Seminardirektors Karl König Fritz der Flieger. Ein neues Kriegslesebuch für die Unter- und Mittelstufe aus dem Jahr 1917, dort heißt es unter der Kapitelüberschrift „Was Fritz träumt“: „‚Ich will Flieger werden,‘ sagte Fritz daheim zur Mutter […]. In der Nacht aber träumte er: Er saß im Traum in einer Flugmaschine und flog von Freiburg hin zum Rheine […]. Hierauf dreht er sich um und kehrte zurück am Schwarzwald hin bis nach Freiburg. Hier aber stieß er an das Münster, fiel aus dem Flugzeug und plumpste auf den Boden. Und das tat weh. Schon wollte er weinen, da wachte er von seinem Traum auf und … lag wirklich auf dem Boden. Er war im Traum aus dem Bett gefallen. Still schlüpfte er wieder ins Bett und murmelte halb im Schlaf: ‚Ich will Flieger werden.‘“222
Das Kriegslesebuch endet damit, dass es dem Kriegsfreiwilligen Fritz schlussendlich gelingt, Flieger zu werden. Als er zwischen den feindlichen Linien abstürzt, wird er von seinem Vater gerettet und genest von seinen schweren Verwundungen, nachdem ihn ein Brief des Kaisers erreicht, in welchem er zum Leutnant ernannt wird: „Meint ihr nicht, daß das eine gute Arznei war? So war aus dem armen Schlosserbuben ein Offizier geworden. Und ich glau220
Koerber: Deutsche Heldenflieger, S. 29. Deutscher Luftflottenverein (Hrsg.): Das fliegende Schwert, S. 20. Karl König: Fritz der Flieger. Ein neues Kriegslesebuch für die Unter- und Mittelstufe, Straßburg i.E. 1917, S. 7. Dort (S. 32) auch das folgende Zitat.
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be, es wird nicht lange dauern, so erhält er auch noch den Verdienstorden, den Orden pour le mérite. Ich gönne es ihm. Ihr auch?“ In dem Kinderbuch wurde die Verheißung der Integration in die Gemeinschaft durch Opferbereitschaft verbreitet, die auch aus dem einfachen Schlossergesellen Max Müller einen Ritter gemacht hatte. Die Auszüge aus Fritz der Flieger verdeutlichen zudem, dass bereits Sextanern „kindergerecht“ nahegelegt wurde, es Boelcke und den anderen Helden gleichzutun. Wie schon Boelcke personifizierte der ihn ablösende Richthofen zuvörderst die Opferbereitschaft für die Nation. Möglicherweise ist es ein Anachronismus zwischen diesen beiden Heldenkonstrukten eine Scheidelinie zu ziehen. Diese Grenze wird erst in dem Licht des Kommenden sichtbar. Denn der Richthofen des Ersten Weltkrieges lässt sich nur bedingt von der Instrumentalisierung des „Geistes von Richthofen“, von der mit ihm betriebenen invention of tradition für die ins Leben gerufene nationalsozialistische Luftwaffe und dem nationalsozialistischen Heldenkult trennen.223 Dennoch, in Analogie zum Übergang von der Pickelhaube zum Stahlhelm scheint es sinnvoll, Boelcke als Personifikation eines Endes, nicht zuletzt des Individualismus, und in Richthofen die Verkörperung des Anfangs einer Entwicklung zu sehen. Die Figur Richthofen trug schon zahlreiche Züge jener entindividualisierten „Stahlgestalten“ und Neuen Menschen, die der Diskurs der 20er und 30er Jahre hervorbringen sollte. Und tatsächlich stellten die Materialschlachten des Jahres 1916 in Verdun und an der Somme auch für die Zeitgenossen eine Grenze dar. Doch was zunächst als „die letzten Tage der Menschheit“, als apokalyptischer Untergang verstanden wurde, sollte nach dem Krieg zum Neuanfang umgedeutet und zur Grundlage des palingenetischen Mythos werden. Trotz der hohen Auflagen, die Richthofens Der rote Kampfflieger erzielte, scheint es, als sei Richthofen beziehungsweise das von ihm personifizierte Heldenbild während des Krieges selbst nicht gleichermaßen beliebt gewesen wie das seines Vorgängers und „Mentors“ Oswald Boelcke.224 Die andauernde Bekanntheit des Heldenkonstrukts Richthofen ist nicht nur der angloamerikanischen Populärkultur geschuldet, sondern auch der Vereinnahmung, Umformung und Instrumentalisierung des Richthofen-Gedenkens durch das rechte politische Spektrum während der Weimarer Republik, insbesondere 223
Zur „invention of tradition“ siehe: Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 224 Ein Indiz hierfür ist die Vielzahl an Büchern, die den Helden Boelcke zum Gegenstand hatten: Aviaticus: Boelcke. Der Held der Lüfte. Ein deutsches Heldenleben, Chemnitz o.J.; Boelcke: Hauptmann Bölckes Feldberichte; Gottschalk: Boelcke; Koerber: Deutsche Heldenflieger; Anton Luebke: Hauptmann Boelcke. Ein Gedenkblatt für den ruhmbedeckten Heldenflieger, Leipzig o.J. [ca. 1916]; Friedrich Albert Meyer: Immelmann und Boelcke. Deutsche Helden der Luft, Warendorf i. Westfalen o.J. Bei der Zusammenstellung des dieser Untersuchung zugrundeliegenden Korpus wurden außer Der rote Kampfflieger aus den Kriegsjahren selbst keine weiteren Bücher zu Richthofen gefunden.
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aber durch die Nationalsozialisten nach 1933.225 Der „Geist Richthofens“ sollte nach 1933 immer wieder angerufen werden, da es gelang, Richthofen als den gesuchten Führerhelden, aber auch, so René Schilling, zum „charismatisch-kriegerischen ‚Volkshelden‘“ zu stilisieren. Das erste Jagdgeschwader der neuen deutschen Luftwaffe erhielt jedenfalls seinen und nicht Boelckes Namen, und es war Richthofens Todestag, der 21. April, der 1935 zum Tag der Luftwaffe erklärt wurde. Kurz nach Richthofens Tod am 21. April 1918 widmete sich der als Lokalhistoriker tätige Adolf Wasner wohl bereits der Veröffentlichung eines Gedenkbuches, das noch im gleichen Jahr erschien. Dort standen nicht nur diverse Nachrufe auf den Helden zu lesen, sondern, ähnlich wie im Fall Boelckes, auch zahlreiche Gedichte: „Niemand hat ihn bezwungen / Eine irrende Kugel, die vielleicht gar / Von einem Engel gegossen war, / Um dem Umjubelten, Jungen, / Das Loben ausklingen zu lassen / Ohn Harm und Hassen, / Von leuchtendem Ruhme klar, / Hat sein Herz leis berührt / Und ihn, den immer Gottnahen, zu Gott geführt. / Er ist für uns nicht mehr. / Er ist / Tat ragt wie Berg / Ewig wirkt selbstloses Heldenwerk. / Der Kühnste zerbrach, / Sein Volk, sein kühnes, deutsches Volk, / Ja! es bleibt wach! / Flieg, Volk, flieg / Voll jungseligem Heldentume / Zum Ruhme, zum Sieg! / Siehst du nicht, wenn abends die Sonne sinkt, / Wie dir siegloh der rote Flieger winkt? / Ja, alle Abende am Himmelsrand / Schwebt er leis, schaut in das Vaterland! / Er flog nur in das Abendrot … / Er ist nicht tot.“226
Das laienhafte Gedicht zeugt von der Popularisierung sakralisierter nationaler Deutungsmuster, aber auch von den Versuchen, den Kriegstod, der zahlreiche Familien betraf, in ein Leben der Nation umzudeuten und ihm somit einen Sinn zu verleihen. Die Verarbeitung des Kriegstodes des Helden war insofern paradigmatisch, als sie narrative Muster bereitstellte, die sich auf den Tod im persönlichen Umfeld übertragen ließen. Der Held diente einerseits also der Reproduktion der Heldentugenden, insbesondere der Opferbereitschaft. Er ermöglichte andererseits aber auch die Übernahme der auf seinen Tod angewandten, Sinn und Trost spendenden Deutungen. Der Trost bestand gerade darin, dass dem profanen Tod ein „bedeutenderes“ Leben folgte: In der Erinnerung als Held zum einen und im Fortleben der Nation zum anderen, deren Leben gerade durch die beispielhafte Hingabe des Helden und der Nachfolge des Helden garantiert schien. Diese Narrative transzendierten die profane Zeit und betteten den Tod in eine sakrale Zeit ein. Sie konstituierten somit eine zeitliche Ordnung, von der auch ein weiteres in eben jenem Gedächtnisband abgedrucktes Gedicht zeugt, das die deutschen Fliegerhelden in eine mytho225
Siehe zum Richthofen-Kult während der Weimarer Republik und nach 1933: Schilling: „Kriegshelden“, S. 295–315, S. 326–333, S. 343–348, S. 365ff. Zum andauernden Kult um Richthofen siehe: Joachim Castan: Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen, Stuttgart 2007. 226 Alfred Hein: Zum Gedächtnis des Rittmeisters Freiherr von Richthofen, in: Adolf Wasner: Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Ein Lebensbild nach Zeitungsberichten, Diesdorf bei Gäbersdorf 1918, S. 5f.
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logische Kontinuität stellte. Das Gedicht stammt von einem Alfred Wlotzka und trägt den Titel Ikaros – Richthofen: „Gewaltige Zeit! Aus Märchen und Mythe / Entsproß dir die Wirklichkeit: Blüte auf Blüte, / Ein sonnenaufjauchzendes Heldengeschlecht! – / Jung Ikaros sank doch sein Name geblieben, / Mit Sonnengold in die Geschichte geschrieben; / Selbst Dädalos fand mit dem Trost sich zurecht. / Held Immelmann sank. Heil sein Name zu lesen, / Ist leuchtend Symbol für Held Boelcke gewesen; / Der leuchtender wieder dann strahlte in Gold. / Ihr Sturmüberwinder, ihr Adlergenossen, / Aus Stahl eure Namen blankbiegsam gegossen; / Ruhmrollen hat gern selbst der Feind euch gezollt! – / Held Richthofen tot! – Der am herrlichsten flammte, / Der Stern stieg zum Sternenhimmel, dem er entstammte! / Sein Tod ein Verlust? Gar zu früh ihm zuteil? / O nein! Dessen glühen solch Leuchttaten melden, / Der zeugt im Versprühen gigantische Helden!!/ Heil, Richthofen, dir! Deinem Vaterland Heil!!“227
Der poetische Dilettantismus, der aus derlei Lobgesängen spricht, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Krieg Wahrnehmungs-, Denk- und Deutungsmuster verbreiteten, in denen die Ordnungsvorstellung Nation sakralisiert und verabsolutiert wurde und zudem eine zeitliche Ordnung etabliert wurde, die mythische Qualitäten aufwies. Diese mythische zeitliche Ordnung kommt auch im abschließenden, Deutschland und die Welt betitelten Gedicht des Gedenkbuches zum Ausdruck: „Du Land voll Blut und Wunden, / Die Unrecht schlug und Spott, / Dir blieb von allen Freunden / Ein einziger, Dein Gott! / Nur einer, doch der stärkste, / Der nicht im Stiche läßt – / Deutschland, du Land des Glaubens, / Halt’ deinen Glauben fest! / Du hast es ja ertragen / Was nie ein Volk ertrug, / Daß dreißig Jahr die Geißel / Des Krieges dich zerschlug. / Tränen, wie du sie weintest, / hat nie ein Volk geweint, / In solchem Todesjammer / War nie ein Volk versteint. / Doch mitten in dem Jammer, / In Todesnot und Graus / Nie losch das Licht der Sterne / In Deinem Herzen aus. / Aus allen Schrecken hob sich / Dein süßes Angesicht, / Umspielt von Kindeslächeln / Der heil’gen Zuversicht / Und was sie dir genommen, / Eins wird dir nie geraubt / Deutschland, dir blieb die Zukunft, / Weil du an sie geglaubt. / So bist Du auferstanden / Lebendig aus dem Tod. / So wirst du jetzt bestehen / Auch diese Zeit der Not.“228
Es war eben diese Auferstehung nach einer Zeit des Niedergangs und der Not, welche die Faschisten propagieren sollten. Sie bedienten sich der Aviatik, um die Wiedergeburt der Nation und den Aufbruch in eine mythische Moderne zu verdeutlichen. Es mag ein bloßer Zufall sein, doch die Symbolwirkung des ersten Tages der Reichsluftwaffe am 21. April 1935, dem 17.
227
Alfred Wlotzka: Ikaros – Richthofen, in: Adolf Wasner: Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Ein Lebensbild nach Zeitungsberichten, Diesdorf bei Gäbersdorf 1918, S. 45. 228 Ernst von Wildenbruch: Deutschland und die Welt, in: Adolf Wasner: Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Ein Lebensbild nach Zeitungsberichten, Diesdorf bei Gäbersdorf 1918, S. 87–88, S. 88. Die Parallelen zu Paul Gerhardts Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden sind augenfällig. Somit wurde auch hier dezidiert eine Verbindung zum christlichen Topos des Todes und der Auferstehung hergestellt.
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Todestag von Richthofens, kam sicherlich nicht ungelegen – der 21. April 1935 war der Ostersonntag, der Tag der Auferstehung.
4. Brüchige Ordnung – Zusammenfassung Im Mittelpunkt der vorangegangenen Kapitel standen die Herausbildung zentraler Topoi der faschistischen, mythischen Ordnung im Ersten Weltkrieg, die Kontexte, innerhalb derer sie entstanden und ihren Sinn erhielten, die medialen Kanäle, die ihre Diffusion in die Gesellschaft förderten, sowie die Metamorphose der Topoi in der Nachkriegszeit. Die Flugschau von Brescia, bei der die Gaukler, Akrobaten und Sportler des Maschinenzeitalters bejubelt wurden, verdeutlichte, welche Faszinationskraft von der Aviatik ausging und weshalb sie zu einem prädestinierten Medium von Botschaften, wie beispielsweise D’Annunzios Vision des fliegenden Übermenschen, werden konnte. Innerhalb jenes Netzwerkes oder „Dispositivs“, das sich bereits in Brescia herausgebildet hatte, vermochte sich der aviatische Diskurs zu verbreiten.1 Es setzte sich zunächst aus der schaulustigen und gebannten Masse, den populären Ikonen sowie prominenten Sprechern, den sich zu einer konsumorientierten „Kulturindustrie“ verwandelnden Medien, dem Großereignis und seinen Veranstaltern sowie den Vertretern wirtschaftlicher wie nationaler Interessen, also der Luftfahrtindustrie, dem Militär und der Regierung, zusammen. Die Verbreitung der mythischen Topoi erfolgte während des Krieges mittels einer „Kulturindustrie“, die im Zuge der Kommerzialisierung des Büchermarktes einerseits und der „literarischen Mobilmachung“ andererseits entstanden war. Die untersuchten Kriegsbücher waren Erzeugnisse des „Graswurzelnationalismus“ der bürgerlichen Verlage und Autoren, welche die Bedürfnisse und Vorstellungen eines größtenteils bürgerlichen Publikums reproduzierten und auf dem Wege des Konsums Bilder des Krieges, wie er „wirklich war“, verbreiteten. Die Paratexte der Kriegsbücher verorteten diese in einem Kontext der Faktizität, der weder dem rekonstruierten Entstehungsprozess der Bücher noch ihrer äußeren Erscheinung entsprach, aber den Anforderungen der zeitgenössischen Konsumenten gerecht wurde, die Vorbilder, Orientierung, Sinn und Trost in Zeiten des Krieges suchten. Der Leserschaft, die vermutlich vornehmlich aus der heranwachsenden Kriegsjugendgeneration bestand, wurde zum Preis von einer Mark ein wirklichkeitsgetreues Abbild des Luftkrieges versprochen, aber eben auch Spannung, Abenteuer und echte, nachahmenswerte „Männer“. Die Kriegsbücher ordneten die chaotische Wirklichkeit des Krieges, wie Cervantes’ Don Quijote, mittels literarischer Topoi und Deutungsmuster und trugen somit zu jener von Paul Fussell konstatierten „curious literariness of real life“ bei.2
1
Zum Dispositiv siehe Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault, in: Ders., Dits et Ecrits. Bd. 3. Schriften 1976–1979, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt/M. 2003, S. 391–429, S. 392. 2 Fussell: The Great War and Modern Memory. Dort (S. 115) auch das folgende Zitat.
4. Zusammenfassung
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Inmitten eines Krieges, der einen Sieg des vom Flugzeug versinnbildlichten „modern industrialism, materialism, and mechanism“ darstellte, verbreiteten die Bücher eine im Heldenkult kulminierende mythische Denkweise. Die verehrten Helden sind eine Projektionsfläche, auf der die Werte und Normen der Gesellschaft und die für erstrebenswert gehaltenen Tugenden sichtbar werden. Die populären Heldendarstellungen stellten ein handlungsleitendes Narrativ zur Verfügung, das dem Leiden und dem Tod im Krieg einen Sinn gab. Sie legten nahe, dass der Kriegstod keineswegs vergeblich sei, sondern der Nation zum Leben verhelfe. Der sich opfernde Held transzendierte durch seinen Tod die profane Zeit und trat ein in die sakrale Zeit der Nation oder des Volkes. Diese Überwindung des Todes war jedem sicher, der es den Helden gleichtat. Gründete der Erfolg der Heldennarrative im Allgemeinen auf dieser den Tod transzendierenden Sinngebungsfunktion, so beruhte die überproportionale mediale Präsenz der neu geschaffenen Luftstreitkräfte auf der kompensatorischen Funktion der aviatischen Narrative. In deren Mittelpunkt standen nicht die „Arbeitsflugzeuge“, denen die eigentliche Hauptaufgabe der Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg zukam, nämlich die der Aufklärung, sondern die Jagdflieger. Diese „Ritter der Lüfte“ gestatteten es, die tradierte männliche Matrix des Kriegers aufrechtzuerhalten, welche die Materialschlachten gleichzeitig zerstörten. Insofern war der Heldenflieger ein Produkt des Stellungskrieges, dessen Gegenbild er verkörperte; er bot eine imaginative Fluchtmöglichkeit aus den Gräben und verkörperte einen mobilen und nicht im Stillstand verharrenden Krieg, in dem individuelle Fähigkeiten und Leistungen nicht obsolet geworden waren, sondern zu Ruhm und Ehre verhalfen. Der Fliegerheld bot zudem ein Gegenbild zu der am Boden erfahrenen Ohnmacht gegenüber der Technik. Er repräsentierte die Herrschaft über die Technik und deren Nutzung als Mittel zur Macht im Namen der Nation. Die althergebrachten Sinnbilder bürgerlich-heroischer Männlichkeit, Individualität, Leistung, Mobilität, Überwindung von Grenzen und Raum sowie der Beherrschung der Natur dank technischen Könnens, wurden von einem mechanisch-organischen Hybrid fortgeschrieben und zugleich dem antibürgerlichen, insbesondere antiindividualistischen Kontext der neuen Zeit angepasst. In der Luft wurde jedenfalls jener „richtige Krieg“ geführt, nach dem sich die Zeitgenossen gesehnt hatten, als sie das reinigende Gewitter heraufbeschworen. In der Luft schien es, als böte der Krieg noch einen Raum zur Bewährung, aber eben auch zur sozialen Distinktion, zur Steigerung des symbolischen Kapitals. Auch der vom aviatischen Helden erlangte exklusive und elitäre Status und sein vergleichsweise glamouröses Leben machten ihn zu einer verehrten populärkulturellen Ikone, die das In-den-Krieg-Ziehen weiterhin erstrebenswert, sinn- und ruhmvoll erscheinen ließ. Daher wurde der Flieger-
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II. Brüchige Ordnung
held zum Vorbild nicht zuletzt einer nachwachsenden Generation, der es vorerst nicht „vergönnt“ sein sollte, sich zu „bewähren“. Die populären Fliegerheldennarrative trugen zudem zur weiteren Popularisierung und Radikalisierung des Nationalismus bei. Sie halfen die nationale Identität zu definieren, indem sie erstrebenswerte Charaktereigenschaften und Tugenden vermittelten. Opferbereitschaft, so der Tenor der Bücher, und die Preisgabe individueller Ziele zugunsten des vermeintlichen Gemeinwohls adelten den Menschen. Die aviatischen Kriegsbücher verbreiteten somit die Forderung nach totaler Solidarität und totaler Identifikation des Einzelnen mit der Nation. Sie trugen zur Verabsolutierung der Nation bei, die zunehmend zur einzigen legitimierenden Instanz des Handelns, zum Ausgangs- und Zielpunkt aller Werte und Normen und insofern zum „heiligen realissimum“ einer mythischen Ordnung wurde. Keine andere „gedachte Ordnung“ wurde mehr neben jener der Nation geduldet. Indem sie die Vorstellungen einer geeinten und homogenen Nation, einer neuen Hierarchie und Elite verbreiteten, schufen die analysierten Kriegsbücher eine Disposition für die auf dem „Geist von 1914“ gründenden palingenetischen Visionen der Faschisten. Die Fliegerhelden dienten als transitorische Figur, die eine Scharnierfunktion wahrnahm zwischen der liberalen Ordnung der Gesellschaft und der Ordnung der Gesellschaft als „Volksgemeinschaft“. Sie konnten sowohl als Sinnbild des bürgerlichen, autonomen Individuums, das sich von der Masse abhob, gelesen werden als auch als Verkörperung des sich bereits etablierenden antibürgerlichen, kollektivistischen Kriegertypus. Aus dem individuellen Helden, der aus der Masse herausstach, wurde der seiner Gefolgschaft voranschreitende Führer. Aus der mit dem symbolischen Kapital der alten Kriegerkaste ausgestatteten, meritokratischen, militärisch-technischen Elite des Weltkrieges wurde ein Neuer Adel, der seinen Adel eben nicht seiner Herkunft verdankte. Seine Leistung und seine Opferbereitschaft für die Nation sollten seine Stellung an der Spitze der hierarchisch gegliederten, homogenen Gemeinschaft legitimieren. Gerade die Figur des Manfred von Richthofen versöhnte das alte mit dem neuen soldatischen Männlichkeitsideal, den aristokratischen Ritter und feudalen Kavalier mit der nervenstarken, rücksichtslosen, todesverachtenden, dynamischen, „kalten Persona“.3 Er bildete insofern eine semantischsymbolische Brücke zwischen den Ordnungen. Die neuadligen Stahlgestalten, denen der Fliegerheld durch die Aufwertung der technisch-industriellen Sphäre den Weg bereitet hatte, und die zum Sinnbild der Neuen Zeit und Gemeinschaft wurden, nahmen ihrerseits ebenfalls eine Scharnierfunktion wahr. Die Maschinenkrieger schufen eine Brücke zum „Arbeitertum“, die dessen Vereinnahmung und Inklusion in die nationale Gemeinschaft gestattete. Dieser Inklusion des „Arbeitertums“ lag eine Meta3
Zur „kalten Persona“, siehe: Lethen: Verhaltenslehren der Kälte.
4. Zusammenfassung
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morphose von Deutungsmustern und Ordnungsvorstellungen zugrunde, die Ausdruck eines Willens zur radikalen Umordnung der bürgerlichen Gesellschaft war. Gerade Ernst Jüngers Entwurf des „Arbeiterstaates“ verdeutlicht die im Krieg beschleunigte Verwandlung der bürgerlichen Ordnung und deren antibourgeoise wie antiliberale Stoßrichtung. Für die bürgerlichen Kategorien der Klasse und des Individuums war in diesem Entwurf einer totalitären Moderne kein Platz. Angesichts der Niederlage und des „verstümmelten Sieges“ mutierte der Flieger zum Vorboten der Neuen Zeit und des Wiederaufstiegs der Nation, denn er verkörperte in paradigmatischer Weise den Geist des Aufbruchs. Der Flieger als Sinnbild der Bewegung und des Aufstiegs wurde so zum Symbol der Erneuerung und Wiedergeburt der Nation und die Fliegerheldennarrative zu Vorlagen des palingenetischen Mythos. Im Kontext der radikalisierten Suche nach Ordnung wurde aus dem Überwinder des Stillstands der Überwinder der liberalen Ordnung.
III. Ewige Ordnung
1. Volare! Der faschistische Aufbruch in eine ewige Ordnung Am 20. August 1919, fast genau fünf Monate nach der Gründung der fasci di combattimento auf der Mailänder Piazza San Sepolcro, erschien in Mussolinis 1914 gegründeter Tageszeitung Il Popolo d’Italia erstmals eine gänzlich der Aviatik gewidmete Seite. Ein Doppeldecker, ein sechszylindriger Flugmotor sowie ein Propeller umrahmten die Überschrift der pagina dell’aviazione, der „Luftfahrtsseite“. Unter einem fett gedruckten Volare!, „Fliegen!“, hieß es an jenem Tag: „Volare! Immer höher hinaus; in eine außerordentliche Anspannung der Nerven, des Willens, der Intelligenz, die allein der kleine, sterbliche Körper des Menschen gewähren kann. Überfliegen [volare] der kleinlichen, schrecklichen und andauernden Grabenkämpfe, die das alltägliche Leben darstellt. Volare! Fliegen der Schönheit des Fluges wegen, fast l’art pour l’art; Fliegen, damit das Kollektiv über eine neue Waffe verfüge, welche die intellektuellen, moralischen und kommerziellen Beziehungen zwischen den fernsten Völkern erleichtere. Wenn einmal der Himmel von Luftschiffen durchpflügt wird, welche die Entfernungen von einem zum anderen Volk verkürzen, werden wir behaupten können, alle Seelen zu einer einzigen verschmolzen zu haben. Je näher wir an das Unendliche herankommen, desto fähiger werden wir uns fühlen, das eigene Recht mit dem der Anderen zu vereinbaren. […] Volare! Fliegen, weil es, obwohl er starb, die erste Kühnheit des Menschen war, als Ikarus dem Himmel ein wenig Ruhm stahl, und weil Prometheus lehrte, dass das Herz des Menschen stärker sein kann als jegliches widrige Schicksal.“1
Die Fliegerei, das verdeutlichen die Worte des zukünftigen Duce, verhieß einen Aufbruch zu neuen Ufern und zu höheren Zielen. Die Aviatik verkörperte das Außeralltägliche, die Verbindung des Menschen zum „Ewigen“ und „Göttlichen“ sowie seinen ikarischen Geist, seine prometheische oder faustische Macht. In Deutschland wie in Italien stellte sich der Faschismus als Neuanfang und als Wiedergeburt einer ewigen, aber durch die dekadente, bürgerlich-liberale Ordnung verschütteten Nation dar. Der „Marsch auf Rom“ wie auch die „Machtergreifung“ wurden als nationale Revolutionen und als Aufbrüche in eine neue Zeit inszeniert, die eines Neuen Menschen bedurfte und diesen hervorbringen würde. Die Aviatik wurde zum Symbol des Aufbruchs in die angebrochene, als ewig imaginierte Ordnung, und der Flieger war nicht zuletzt aufgrund seiner Liebe zur Gefahr, seiner Kühnheit, seines unerschütterlichen Willens und seiner faustischen Macht der Neue Mensch, der dieser Ordnung entsprach. Die Aviatik wurde zu einer Metapher des Faschismus selbst. In diesem Kapitel wird verdeutlicht, wie die Aviatik, die während des Ersten Weltkrieges ein Sinnbild der Bewegung im Raum gewesen war, zu einem Sinnbild der 1
Benito Mussolini: Volare!, in: Il Popolo d’Italia vom 20.8.1919 zit. nach Ministero dell’Aeronautica (Hrsg.): L’aviazione negli scritti e nella parola del Duce, Rom 1937, S. 31.
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III. Ewige Ordnung
Bewegung in der Zeit und als solches zu einem Medium des faschistischen palingenetischen Mythos wurde. Der von den Faschisten anvisierte Aufbruch ging mit einer Absetzbewegung vom Vorangegangenen einher sowie mit der Stiftung und Erfindung einer gebührenden und dem Neuen faschistischen Menschen entsprechenden „Geschichte“. Diese war als diskontinuierliche Folge jener Zeiten gedacht, in denen sich die „ewige Nation“ offenbart hatte. An die Ausführungen des vorangegangenen Kapitels anknüpfend, wird im Folgenden unter anderem an der politischen Publizistik Ernst Jüngers gezeigt, wie der Erste Weltkrieg zu einem Dreh- und Angelpunkt der Zukunft gemacht wurde. Im Krieg hatte sich nämlich jenes Ewige gezeigt, das es nunmehr zu erneuern galt. Ganz im Sinne von Nietzsches „monumentalischer Historie“ stellte Jünger die Vergangenheit, den vorangegangenen Krieg, in den Dienst des zukünftigen Lebens.2 In den Augen der Faschisten hatte der Krieg den Untergang einer verdammenswerten, dekadenten Welt und der verhassten liberalen Ordnung eingeleitet. In ihm war der Keim zu einer anderen Moderne gelegt worden. Erst diese Ausrichtung auf die Zukunft machte aus den während des Krieges ubiquitär gewordenen Opfernarrativen einen palingenetischen Mythos. Sie starben, so der Tenor, damit die Nation lebe. Es war eben diese Ausrichtung auf die Zukunft, auf die Jugend und das Neue, dieser gewissermaßen futurische Wille, der die Faschisten von der konservativen Rechten radikal unterschied. Die von den Faschisten errichtete Ordnung der Zeit galt jedoch nicht allein dem im Krieg gesetzen „Beginn“ der Zukunft. Damit die Zukunft begönne, musste erst die Vergangenheit zerstört werden. Anhand der italienischen Futuristen wird dargestellt, wie der Vergangenheit und ihrem historistischen Kult, dem von den Futuristen so genannten „Passatismus“, der Krieg erklärt wurde.3 Diese Kriegserklärung an den Historismus, oder besser gesagt an das Verlaufsdenken und das Prinzip der Geschichtlichkeit, war zugleich eine Kampfansage an den „Bürger“, an die liberale Ordnung und an den dieser zugrunde liegenden Fortschrittsglauben.4 Die antihistoristische Verurteilung 2
Zur monumentalischen Historie siehe: Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. 3 Zu den russischen Futuristen und deren Nietzsche-Aneignung siehe: Bernice Glatzer Rosenthal: New Myth, New World. From Nietzsche to Stalinism, University Park, PA 2002, S. 94–111. 4 Zum Antihistorismus siehe: Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit; Friedrich Jaeger: Theorietypen der Krise des Historismus, in: Wolfgang Bialas/Gérard Raulet (Hrsg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1996, S. 52–70; Kurt Nowak: Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133–171; Otto Gerhard Oexle: Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in: Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu
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der Vergangenheit mutierte zu einer Feier der Zukunft, die im Flugzeug und im Flieger ein herausragendes und prägnantes Symbol fand. Zwar wurde diese Feier der Zukunft allein für die kleine Gruppe italienischer Avantgardisten und Intellektuellen namengebend. Doch trotz aller Unterschiede im Einzelnen ist der futuristische Wille zur Zukunft paradigmatisch für den Faschismus und seine chronopolitische Ausrichtung im Ganzen. Obwohl er auch reaktionäre Kräfte an sich zu binden verstand, war der Faschismus keineswegs rückwärtsgewandt, sondern zielte eben auf eine andere Zukunft, die als Epiphanie der Ewigkeit verstanden wurde.5 Für die Futuristen wie für Jünger war es die Technik, insbesondere das Flugzeug, welche die Zukunft und die Neue Zeit charakterisierte. Sie war es, die den Rhythmus und den Takt des Lebens bestimmte. Die von der Technik ausgehende Beschleunigung wurde von Jünger und den Futuristen begrüßt, weil sie eine Absetzbewegung von sowie eine Zerstörung der Vergangenheit ermöglichte und versinnbildlichte. In der Vernichtung der (unerwünschten) Vergangenheit sahen sie den Garanten einer neuen Zukunft. Im Umgang der Futuristen, aber auch Jüngers, mit der Technik wird die mythische Dimension der faschistischen Ordnung nochmals verdeutlicht. Indem die Technik verzaubert und das heißt in ein Narrativ integriert wurde, in dessen Zentrum die geheiligte Nation stand und das Gemeinschaft stiftete, konnte sie nicht nur trotz, sondern geradezu wegen der ihr eigenen Destruktivität akzeptiert werden. Die technisch beschleunigte und radikalisierte Zerstörung der profanen Zeit gewährte erst den Eintritt in die heilige Zeit der Ewigkeit. Trotz der von den Faschisten von Anfang an praktizierten exzessiven Gewalt ahnten nur wenige, dass sich der Faschismus alsbald in seiner Destruktivität erschöpfen sollte. Vielmehr war es die Verheißung der Neuen Ordnung, die ihn für zahlreiche Italiener und Deutsche in der Nachkriegszeit attraktiv machte. Der Faschismus lebte von dem Versprechen, die „dekadente“ Epoche durch ein neues, vitales Zeitalter abzulösen. Wie abschließend an der Mailänder Luftfahrtausstellung Esposizione dell’Aeronautica italiana (EAI) aus dem Jahr 1934 gezeigt wird, setzten die Faschisten die Einlösung dieses Aufstiegs- und Erneuerungsversprechens nicht nur propagandistisch gekonnt in Szene, sondern schrieben es in die Gesellschaft ein. Es war nicht zuletzt mithilfe solcher Ausstellungen, die ein kollektives, öffentliches, sakrales wie ästhetisches Erlebnis evozierten, dass der faschistische Staat die Gesellschaft ordnete und sich die neue Ordnung der Zeit und die mythische Moderne in der Gesellschaft entfaltete.
Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 73–94 sowie ders.: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. 5 Siehe hierzu: Griffin: „I am no longer human. I am a Titan. A God!“. The Fascist Quest to Regenerate Time, S. 3–23; ders.: Modernity Under the New Order: The Fascist Project for Managing the Future, in: Ebd., S. 24–45; ders.: Modernism and Fascism sowie Osborne: The Politics of Time.
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III. Ewige Ordnung
a. Jüngers monumentalische Erinnerung des Krieges und der Anfang der Zukunft Im Jahr 1919 veröffentlichte der 1872 in Hannover geborene, deutsch-jüdische Philosoph und Kulturkritiker Theodor Lessing seine Streitschrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.6 Das Buch Lessings, der selbst als unzeitgemäßer, wissenschaftlicher Außenseiter galt, war von Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie, aber auch von Lessings Kriegserlebnissen als Hilfsarzt stark beeinflusst. Lessing war ein Antihistorist. Doch sein Antihistorismus unterschied sich von jenem der Faschisten, obwohl beiden Antihistorismen eine Ablehnung des Fortschritts als Ordnungsprinzip des Zeitverlaufs gemeinsam war. Während die Faschisten glaubten, aus dem Fluss der Zeit aussteigen und aus der profanen in eine heilige Zeit treten zu können, leugnete Lessing keineswegs die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins. Er bekämpfte vielmehr, so Ulrich Kittstein, „zum einen den naiven erkenntnistheoretischen Optimismus […], demzufolge eine objektive Wiedergabe vergangenen Geschehens möglich ist, und zum anderen [suchte er,] den Glauben zu widerlegen […], dieses Geschehen stelle selbst einen sinnhaften strukturierten Prozess dar.“7 In den Augen Lessings hatte der Krieg die Möglichkeit des Glaubens an die Geschichte als „sinnhaft strukturierten Prozess“ zerstört und den Fortschrittsglauben entlarvt. Während die Faschisten aber den „falschen“ Glauben an den Fortschritt durch einen anderen Sinn der Zeit zu ersetzen hofften, machte Lessing darauf aufmerksam, dass es sich bei der mythischen, aber eben auch bei der historischen Selbstbesinnung stets um einen Versuch zur Erlösung von der Wirklichkeit handle.8 Vergleichbar sowohl zu den im ersten Kapitel geschilderten Konzepten Warburgs oder Blumenbergs, sah auch Lessing in der Geschichtsschreibung einen Akt zur Abwehr der Wirklichkeit. Trotz ihres Anspruchs auf wissenschaftliche Wahrheit, vielleicht aber auch gerade aufgrund dieses Anspruchs, kam der Geschichtsschreibung die gleiche Funktion zu wie dem Mythos, sie diente der Sinnstiftung des Sinnlosen. Die Geschichte befreie vom wirklichen 6
Zur Biographie Theodor Lessings siehe: Rainer Marwedel: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt u.a. 1987 sowie Julius H. Schoeps: Der ungeliebte Außenseiter. Zum Leben und Werk des Philosophen und Schriftstellers Theodor Lessing, in: Walter Grab/ders. (Hrsg.): Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart u.a. 1986, S. 200–217. Im Folgenden wird, sofern nicht anders angegeben, nach dem 1983 erschienenen Nachdruck der Erstausgabe zitiert: Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, München 1983 [Or. 1919]. 7 Ulrich Kittstein: „Mit Geschichte will man etwas“. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918–1945), Würzburg 2006, S. 108f. Siehe auch Jürgen Grosse: Kritik der Geschichte. Probleme und Formen seit 1800, Tübingen 2006, insbes. S. 208f. u. S. 256ff. sowie Schoeps: Der ungeliebte Außenseiter, S. 206. 8 Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, S. 155ff. Dort (S. 156) auch das folgende Zitat.
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Leben, das Chaos werde im Nachhinein zur Geschichte umgebogen, die sich wie ein spannender Roman lese. Geschichte sei, so Lessing, ein „heilsamer Akt der Selbsttäuschung.“ Lessing machte auf den Konstruktcharakter der Geschichte(n) aufmerksam. Zudem verwies er auf ihre Narrativität und auf ihre Abhängigkeit von der Gegenwart, in deren Licht die Vergangenheit stets erscheine. Gleich Nietzsche verneinte Lessing also die Wissenschaftlichkeit der Historiographie, ohne aber deren funktionale Notwendigkeit zu negieren. Im Gegenteil, es ging ihm nicht darum, die Historie als Sinnstiftungsinstanz abzuschaffen. Vielmehr wollte er den naiven Glauben an die Objektivität, an die realistische Abbildung historischer Vergangenheiten entlarven.9 Die „Sinngebung des Sinnlosen“ war trotz ihres Konstruktcharakters und ihrer Fiktionalität notwendig.10 Lessing fordert wie Nietzsche eine Historie im Dienst des Lebens und somit ein Leben in einem unhistorischen oder mythischen Sinnhorizont. Dieser auch für das Denken Lessings charakteristische Zwiespalt kennzeichnet den Geist oder den Ethos der Moderne. Dieser paradoxe Bewusstseinszustand ist von der Dialektik von Freiheit und Ordnung bestimmt. Ein ordnungskritisches, ordnungsauflösendes Moment wird um ein ordnungssehnsüchtiges, ordnungsgenerierendes Moment ergänzt. Die Ordnung errichtende „Sinngebung des Sinnlosen“ und somit das Gelingen des Versuchs, die Kontingenz des menschlichen Daseins zu überwinden, war nur möglich, wenn das ordnungsdelegitimierende Denken verdrängt wurde, das erst die „Sinngebung des Sinnlosen“ erforderlich gemacht hatte. Das historische Denken vermag beides, es löst Ordnungen auf und errichtet andere an deren Stelle. Doch sobald das historische Denken das Vermögen, die Fundamente der gesetzten Ordnung zu historisieren und zu hinterfragen, einbüßt, wird es zum überhistorischen oder mythischen Denken. Der Geist der Moderne, vor allem aber der Weltkrieg entlarvte die mittels des Fortschrittsnarrativs errichtete zeitliche Ordnung als illusorischen Irrglauben und willkürliche Sinngebung. Daraus erwuchs das Bedürfnis, die als diskontinuierlich und somit als chaotisch und desorientierend erfahrene Zeit neu zu ordnen. An die Stelle des Fortschrittsnarrativs trat ein anderes temporales Narrativ, eine andere Fiktion, ein anderer Mythos. Den ins Exil geflüchteten Lessing ließen die Nationalsozialisten in der Nacht vom 30. zum 31. August 1933 im tschechischen Marienbad kaltblütig ermorden. Mit ihrer „Sinngebung des Sinnlosen“, mit ihrer „Mythendichtung“ hatten die Faschisten bereits zuvor begonnen.11 Wie nun gezeigt wird, wurde ihnen der Krieg zum 9
Siehe Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, S. 85: „Zertrümmert dabei der alte Glaube an natürliche Entwicklung, Fortschritt, immanente Wertordnung, Gott, göttliche Fügung in der Geschichte, um so besser! Alles Heil der Zukunft erwarten wir von der Zertrümmerung des Geschichtswahns.“ 10 Vgl. hierzu Kittstein: „Mit Geschichte will man etwas“, S. 110 u. S. 112. 11 Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, München 19274, S. 3. Dort auch das folgende Zitat.
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III. Ewige Ordnung
Anlass zu „tröstenden Selbstausheilungen und unvermeidlichen Wunsch(Ideal-)einblendungen der Menschennot“ und zur Achse ihrer zeitlichen Ordnung. In der Zeitschrift Sport im Bild erschien am 8. Juni 1928 eine Rezension von fünf Kriegsbüchern. Unter den besprochenen Büchern befanden sich Ernst Jüngers In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, das 1920 im Selbstverlag erstmals erschienen war und zu jenem Zeitpunkt in der achten Auflage des Berliner Militaria-Verlages Mittler & Sohn vorlag, sowie Das Wäldchen 125 desselben Autors. In der Kritik der beiden, bereits in den vorangegangenen Kapiteln herangezogenen Bücher hieß es: „Die beiden Bücher Jüngers von einer wohltuenden Sachlichkeit, präzise, ernst, stark und gewaltig, sich immer weiter steigernd, bis in ihnen wirklich das harte Antlitz des Krieges, das Grauen der Materialschlacht und die ungeheure, alles überwindende Kraft der Vitalität und des Herzens Ausdruck gewinnen. Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die ‚Stahlgewitter‘ mit der ganzen Macht der Fronterfahrung am stärksten, ohne jedes Pathos [sic!] geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt. […] Jünger, einer der wenigen jungen Infanterieoffiziere mit dem Pour le mérite, ist wie kaum ein anderer berechtigt, über die Schlacht und den Krieg auszusagen. Er tut es schlicht, einfach und dadurch mit großer Wucht.“12
Bei dem lobenden Rezensenten handelte es sich um Erich Maria Remarque. Es ist sattsam bekannt, dass Jünger das Grauen und die Gräuel des Krieges keineswegs verschwieg und dass Remarques Im Westen nichts Neues nicht nur vom Geiste der „Kameradschaft“ beseelt war, sondern durchaus auch von einem Heroismus zeugte, der darin bestand, das Sinnlose zu ertragen. Der Tatsache, dass die Werke des seit etlichen Jahren wieder „salonfähigen“ und im Jahre 1928 noch radikalnationalistischen beziehungsweise faschistischen Jünger von Remarque Lob ernteten, müsste also keine weitere Beachtung geschenkt werden, zeugte sie nicht von einem gewissen, während der Weimarer Republik herrschenden Konsens hinsichtlich der herausragenden Bedeutung des Krieges. Dass Kriegsliteratur in einer SportIllustrierten rezensiert wurde, untermauert dies noch zusätzlich, selbst wenn man bedenkt, dass der Scherl Verlag, der Sport im Bild herausbrachte, zu dem nationalistischen Hugenberg-Konzern gehörte. Der Konsens betraf allerdings die Bedeutung und nicht den Sinn des Krieges. Um diesen Sinn wurde während der Weimarer Republik gerungen. Doch wie wurde der Krieg zur Grundlage des sich formierenden palingenetischen Mythos des Faschismus? Im faschistischen, gemeinschaftsstiftenden Mythos bekam der Krieg einen in die Zukunft weisenden Sinn. In Remarques Bestseller hingegen, und daran entzündeten sich die heftigen Kontroversen um das Buch und den nachfolgenden Film, wurde dem Krieg jeglicher Nutzen und Sinn abgesprochen. Er hatte nur unzählige Menschenleben gekostet und selbst jene, die er verschont hatte und die aus ihm zurückgekehrt waren, hatte er zerstört. Laut Gertrude 12
Erich Maria Remarque: Rezension, in: Sport im Bild, Nr. 12 vom 8.6.1928, o.S.
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Stein hatte er sie in eine „lost generation“ verwandelt. Und so hieß es in Remarques Vorwort: „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“13 Dennoch wurde Remarques Buch als eine ebensolche Anklage verstanden. Hier bediente sich ein Autor, „dem eine gegenwärtige Noth die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will“ einer „kritischen, das heisst richtenden und verurtheilenden Historie.“14 Bleibt man in der nietzscheanischen Terminologie stand dieser Form der Erinnerung an den Krieg einerseits die „antiquarische“ gegenüber, wie sie beispielsweise in den Memoiren der Generäle und in den Regimentsgeschichten zum Tragen kam. Andererseits wurde der „kritischen“ Historie eine „monumentalische“ entgegengesetzt, wie sie Ernst Jünger in seinen Kriegsbüchern, vor allem aber in seinen zahlreichen zwischen 1920 und 1933 erschienenen Artikeln kultivierte.15 Obgleich Jüngers politische Publizistik in konservativ-revolutionären Kreisen viel Beachtung fand, wurden seine Bücher, im Gegensatz zu jenem Remarques, von der Weimarer „Öffentlichkeit“ kaum zur Kenntnis genommen. Daran änderte freilich auch die Rezension des zu jenem Zeitpunkt noch unbekannten Remarque nichts. In Stahlgewittern hatte sich beim Erscheinen der 9. Auflage 1929 erst circa 26 000 Mal verkauft.16 Selbst nach der „Hausse der Kriegsliteratur“ 1928/29 und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sollten bis 1934 „lediglich“ 51 000 Exemplare verkauft werden.17 Von Remarques Im Westen nichts Neues, das 1929 als Buchausgabe erschien, wurden hingegen im März desselben Jahres 160 000, im April 150 000 und im Mai und Juni jeweils 100 000 Exemplare verkauft. Bis das Buch verbrannt und verboten wurde, sollten es insgesamt 1,2 Millionen verkaufte
13
Remarque: Im Westen nicht Neues, S. 9. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 264. Während Bruno Reimann 138 von Jünger zwischen 1920 und 1933 in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlichte Artikel zählt, kommt Sven Olaf Berggötz in seiner Edition auf 144 Beiträge. Das Schwergewicht von Jüngers publizistischer Tätigkeit liegt in den Jahren zwischen 1925 und 1930 und überschneidet sich somit mit seiner nationalrevolutionären Phase beziehungsweise mit seinem Engagement für den „neuen Nationalismus“. Siehe: Sven Olaf Berggötz: Nachwort, in: Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 834–869 sowie Bruno W. Reimann: „…die Feder durch das Schwert ersetzen…“ Ernst Jüngers politische Publizistik 1923–1933, Marburg 2001, insbes. S. 71–80. 16 Vgl. Kiesel: Ernst Jünger, S. 206f. 17 Die Rede von der „Hausse in Kriegsbüchern“ ist zeitgenössisch und diente als Titel eines in der Literarischen Welt erschienen Beitrags. Siehe Thomas F. Schneider: „Die Meute hinter Remarque.“ Zur Rezeption von Im Westen nichts Neues 1928–1930, in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1/1995, S. 143–170, S. 144. 14 15
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Exemplare werden.18 Jüngers Omnipräsenz in der Forschung verdankt sich also eher seiner Wortgewalt und der ästhetischen Qualität seiner Werke als der Größe seiner Leserschaft. Dennoch ist es lohnenswert, ihn erneut heranzuziehen. Denn an Jünger lässt sich die Transformation der Perspektive auf den Ersten Weltkrieg in herausragender Weise verdeutlichen. Diese Perspektive auf den Krieg wandelte sich von einer vergangenheits- zu einer zukunftszentrierten, und letztere setzte sich zunehmend gegen eine „kritische“ Sicht durch. Wie in Anlehnung an Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung gezeigt werden wird, sollte die „monumentalische“ Erinnerung an den Krieg über die „antiquarische“ wie auch die „kritische“ triumphieren.19
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Jahr
Abb. 11 Anzahl der in Deutschland publizierten kriegsliterarischen Titel.20
18 Thomas F. Schneider: „Krieg ist Krieg schließlich“. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1928), in: Ders./Hans Wagener (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg, Amsterdam 2003, S. 217–232, S. 231 sowie ders. u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 10. 19 Erinnerung wird hier als soziale Konstruktion der Vergangenheit verstanden. Der Terminus der Erinnerung wird in Anschluss an Jan Assmanns Studie zum „kulturellen Gedächtnis“ gebraucht, die selbst wiederum unter anderem auf Maurice Halbwachs rekurriert. Siehe: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 20055. Eine ähnliche Entwicklung zu einer monumentalischen Historie beziehungsweise zum Mythos findet sich in der stalinistischen Sowjetunion. Siehe hierzu: Rosenthal: New Myth, New World, insbes. S. 383–387. 20 Die Tabelle wurde auf der Grundlage der von Thomas Schneider ermittelten Daten erstellt. Siehe Schneider u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 9.
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Ein kursorischer Blick auf die Kriegsliteraturproduktion während der Weimarer Republik vermag diesen Wandel zunächst zu kontextualisieren. Thomas F. Schneider hat unlängst gezeigt, dass selbst zu Beginn der Weimarer Republik nicht gerade eine Kriegsliteraturmüdigkeit herrschte. In den Jahren 1919 bis 1923 erschienen trotz Revolutionswirren und Inflation durchschnittlich 164 Titel pro Jahr, die der Gattung Kriegsliteratur angehörten.21 In den Jahren 1925 bis 1927 erschienen jeweils zwischen 111 und 159 Bücher zum Krieg. Das Jahr 1928 verzeichnete mit 160 erschienenen Kriegsbüchern eine Publikation mehr als das Jahr zuvor, im darauffolgenden Jahr waren es 226 Veröffentlichungen und das Jahr 1930 bildete mit 276 publizierten Kriegsbüchern den vorläufigen Höhepunkt der sogenannten „Hausse der Kriegsliteratur.“22 Im Vergleich zur Publikationswut der Kriegsjahre selbst, 1915 kamen beispielsweise 1 099 Titel auf den Markt, fällt die Konjunktur des Kriegsbuches in den Jahren 1928 bis 1930 nicht so außerordentlich aus, wie bislang angenommen. Vielmehr muss festgehalten werden, dass der Krieg während der Weimarer Republik nicht nur in den politischen Auseinandersetzungen und, angesichts der zahlreichen Kriegsversehrten auf den Straßen, im Alltag dauerhaft präsent war. Er war es auch auf dem Buchmarkt. Dennoch bedarf die „Hausse“ der Jahre 1929/30 einer Erklärung, die über die bislang häufig angeführte „gedenktagsbedingte“ Renaissance des Krieges hinausgeht.23 Der zehnte Jahrestag des Kriegsendes mag zwar einen Anlass zur vermehrten Beschäftigung mit dem Krieg geboten haben, deren Ursache war er jedoch nicht. Bei der Betrachtung der „Hausse der Kriegsliteratur“ darf vor allem die Wirkung des Erfolgs von Remarques Buch nicht unterschätzt werden. Wie bereits an den analysierten aviatischen Kriegsbüchern der Jahre 1914 bis 1918 gezeigt wurde, waren auch die Weimarer Verlage Motoren einer konsumorientierten „Unterhaltungsindustrie“. Den millionenfachen Verkaufser21 Thomas Schneider definiert das zugrunde gelegte Textkorpus folgendermaßen: „Texte, die sich thematisch primär mit der Kriegserfahrung des Individuums oder Gruppen von Individuen an der Front, in der Etappe oder in der ‚Heimat‘ beschäftigen – [das Korpus] umfasst sowohl Romane, Dramen und Lyrik als auch ‚Erlebnisberichte‘, Memoiren, Anthologien, Feldpostbriefsammlungen, Text-/Bildbände, ‚authentische‘ Tagebücher, Regimentsgeschichten, Feldzugsberichte etc.“, Einleitung, in: Ders. u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 8. 22 Zur „Hausse der Kriegsliteratur“ siehe Müller: Der Krieg und die Schriftsteller sowie Thomas F. Schneider: Einleitung, in: Ders. u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch, Göttingen 2008, S. x–y. 23 Zur „gedenktagsbedingten Renaissance“ der Kriegsliteratur siehe: Michael Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg/Ts. 1978; Ann. P. Linder: Princes of the Trenches. Narrating the German Experience of the First World War, Columbia, SC 1996; Müller: Der Krieg und die Schriftsteller; Karl Prümm: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre. Gruppenideologie und Epochenproblematik. 2 Bde., Kronberg/Ts. 1974; Schneider: Einleitung, in: Ders. u.a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum 1. Weltkrieg 1914–1939, S. 7–14.
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folg von Im Westen nichts Neues verdankte der Ullstein Verlag auch einer riesigen Marketingkampagne.24 Ein Geschäft witternd, versuchten die anderen Verlage, es Ullstein gleich zu tun und brachten nun ihrerseits Kriegsromane und -dramen, Erlebnisberichte, Schlachtengeschichten und dergleichen mehr heraus. Doch auch der marktwirtschaftliche Impuls und die Nachfrage des Publikums waren bloß ein Reflex der sich aufdrängenden Frage nach dem Sinn des Ersten Weltkrieges. Die gewachsene Präsenz des Themas Krieg auf dem Buchmarkt spiegelte das Auflodern des Kampfes wider, der um die Deutung und den Sinn des Krieges die gesamte Zeit über geschwelt hatte.25 Im Kontext der sich nochmals zuspitzenden Krise der liberalen Ordnung, also der offensichtlichen Negierung des Fortschrittsnarrativs in der um sich greifenden Weltwirtschaftskrise, wurden die Mitte der zwanziger Jahre sich verbreitenden Hoffnungen im Keime erstickt. Die Stabilisierung der Republik in den Jahren 1924 bis 1929 erwies sich als trügerisch. Es handelte sich allein um die „Illusion innerer Stabilität“.26 Die nur oberflächlich verdeckte „transzendentale Obdachlosigkeit“, die Sinnlosigkeit und Kontingenz der „modernen“ Existenz brach erneut und verstärkt hervor.27 Im Westen nicht Neues brachte eben dieses Gefühl der Verlassenheit, des Verlorenseins und der Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck: „Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. […] Aber vielleicht ist auch alles dieses, was ich denke, nur Schwermut und Bestürzung, die fortstäubt, wenn ich wieder unter den Pappeln stehe und dem Rauschen ihrer Blätter lausche. Es kann nicht sein, daß es fort ist, das Weiche, das unser Blut unruhig machte, das Ungewisse, Bestürzende, Kommende, die tausend Gesichter der Zukunft, die Melodie aus Träumen und Büchern, das Rauschen und die Ahnung der Frauen, es kann nicht sein, daß es untergegangen ist in Trommelfeuer, Verzweiflung und Mannschaftsbordells.“28
1929/30 verklang diese „Melodie aus Träumen und Büchern“, die zaghaften Zukunftshoffnungen hatten sich erneut zerstoben. Zurück blieben unzählige Menschen, die nur noch „müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung“ waren. Remarque hatte der herrschenden Stimmung ein literarisches Denkmal gesetzt. Darin gründete sein Erfolg und daran entzündeten sich die Geister.29 Dass der Krieg sinn- und nutzlos gewesen sei, das wollten 24 Siehe hierzu: Eksteins: Rites of Spring, S. 275–299, insbes. S. 276f. Vgl. auch: Ders.: All Quiet on the Western Front and the Fate of a War, in: JCH 15/1980, S. 345–366, S. 353. 25 Siehe hierzu Schneider: „Die Meute hinter Remarque“, S. 143. Für Schneider stellten die Auseinandersetzungen um Remarques Buch eine der „zentralen und folgenreichsten literarischen, kulturellen, aber auch politischen Kontroversen der späten Weimarer Republik“ dar. 26 So die Kapitelüberschrift in Peukerts Klassiker zur Weimarer Republik. Siehe: Peukert: Die Weimarer Republik, S. 191–242. 27 Siehe hierzu: Makropoulos: Krise und Kontingenz. 28 Remarque: Im Westen nichts Neues, S. 196f. 29 Vgl. Eksteins: All Quiet on the Western Front and the Fate of a War, S. 362.
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und konnten weder die Konservativen noch die Neue Rechte zulassen. Erstere, die, so Nietzsche, „Bewahrenden und Verehrenden“, die sich nach dem „Gewohnten und Altverehrten“ sehnten, empörten sich über Remarque, weil er über das Kaiserreich und seine Vertreter richtete.30 Die Neue Rechte hingegen wandte sich gegen Remarque, weil sie einen „Sturm“ zu entfesseln trachtete. In der von Remarque konstatierten Erschöpfung und Desillusionierung sah sie das „Morsche und Veraltete“, die dekadente, liberale Ordnung, die es zu beseitigen galt. Sie setzten dem einen Aufbruch in eine vitale, verwurzelte und zukunftsträchtige, „schöne, neue Welt“ entgegen. Der Grund für die „literarische Konjunktur“ des Krieges lag also in dem Kampf, der um die Deutung und den Sinn des Krieges ausgefochten wurde. Es war ein Kampf um die Erinnerung, der gerade während der Stabilisierungsphase an Brisanz gewann und schließlich 1930 angesichts der durch die Weltwirtschaftskrise radikalisierten politischen Situation in den heftigen Kontroversen um Remarques Buch und dessen amerikanische Verfilmung einen Kristallisationspunkt fand.31 Dieser Kampf erweist sich, wie nun umrissen werden soll, auch als ein Kampf zwischen „Alter“ und „Jugend“ und zwischen „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Obwohl die konservativen und reaktionären Kräfte des Kaiserreichs, verkörpert durch den greisen Reichspräsidenten von Hindenburg, noch an den zentralen Schaltstellen der Macht saßen, sehnte sich nur ein schrumpfender Kreis älterer Zeitgenossen nach einer Rückkehr zum status quo ante.32 Insbesondere unter den Republikgegnern aus den beiden jüngeren, politisch aktiven Generationen, die Frontgeneration sowie die „überflüssige“ oder „Kriegsjugendgeneration“, verwandelte sich der Krieg zur Bedingung der Möglichkeit des Neuen und der Revolution, ob von links oder von rechts.33 Von der Neuen Rechten wurden die im Krieg dargebrachten Opfer in den Kontext einer Erneuerungsbewegung, und das heißt einer Palingenese der Nation und/oder des Volkes gestellt. Die Gefallenen mutierten zum erbrachten sacrificium, auf das erst eine Wiedergeburt folgen konnte.34 Der „Kult der 30 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 265 u. S. 264. Zur Rezeption von Remarques Im Westen nichts Neues siehe u.a. Schneider: „Die Meute hinter Remarque“. 31 Zur Rezeption von Lewis Milestones Verfilmung von Remarques Buch siehe: Modris Eksteins: The fate of the film All Quiet on the Western Front, in: Central European History 13/1980, S. 345–366. Zur filmischen Erinnerung des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik siehe: Bernadette Kester: Film Front Weimar. Representations of the First World War in German Films of the Weimar Period (1919–1933), Amsterdam 2003. 32 Zur Kontinuität der konservativen Eliten in der Weimarer Republik siehe insbesondere: Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979. 33 Siehe zu den „vier politischen Generationen“ der Weimarer Republik: Peukert: Die Weimarer Republik, S. 25–31. 34 Siehe hierzu u.a.: Mosse: Fallen Soldiers, insbes. S. 70–80. Dort (S. 73) heißt es: „Youth and death were closely linked in that myth [Mythos des Kriegserlebnisses]: youth as symbolic of manhood, virility, and energy, and death as not death at all but sacrifice and
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gefallenen Soldaten“ wurde dabei mit dem Jugenddiskurs und -kult, der im Umkreis der Reformbewegungen der Jahrhundertwende entstanden war, verknüpft.35 Es steht zu vermuten, dass das palingenetische Denken durch diese Verbindung mit dem Jugendkult einen bedeutenden Schub erfuhr. Indem es die Jugend und das Neue betonte, fand dieses Denken großen Anklang unter der Kriegsjugendgeneration, die sich nun im Kampf gegen das „Alte“ und „Morsche“, gegen die politische Gerontokratie und gegen die „Vergangenheit“ im Allgemeinen aufmachte.36 Durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt in ihrem persönlichen und beruflichen Fortkommen behindert, forderten die zwischen 1900 und 1910 Geborenen nun das „Recht der jungen Generation“ ein.37 Ein Recht, das sie nicht zuletzt darin sahen, eine Gelegenheit zu bekommen, sich gleich ihren Vätern und älteren Brüdern, die im Krieg gewesen waren, nunmehr auch „bewähren“ zu können. Das palingenetische Denken verlieh diesem Drang, diesem zunehmend gewalttätigen Aktivismus einen Sinn, eine Richtung und ein Ziel. Durch die Verbindung zwischen dem Jugenddiskurs und dem Gefallenenkult erhielt das zukunftsgerichtete, palingenetische Denken eine Verkörperung in der Gegenwart. Die „Jugend“, deren tatsächliches Lebensalter von geringer Bedeutung war, fungierte hier als eine „Chiffre für Aufbruch und zukunftsgerichtete Tat“, mit der sich ein „Erlösungsglauben“ verband.38 Dies bestätigt auch Rüdiger Graf, der darauf aufmerksam macht, dass „die Idee der Jugend […] nicht neben den anderen politischen Ideologemen [stand], sondern vielmehr quer zu ihnen: ‚Jugend‘ und ‚Jugendlichkeit‘ konkretisierten und materialisierten die formale Konzeption, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart angelegt sei, dass sie mit Naturnotwendigkeit wachsen und sich so selbst realisieren werde.“39 Die in die „Jugend“ gesetzte Hoffnung gründete unter anderem in deren mit dem Ort Langemarck paradigmatisch verbundener Opferbereitschaft. In dieser Jugend sei der Keim der neuen und zugleich ewigen Nation bereits aufgegangen. Und so hieß es in der Langemarck-Rede von Hans Schwarz: resurrection. The differences between generations became part of the mythology of war: the fallen symbolized the triumph of youth.“ 35 Zum Kult der Jugend siehe u.a.: Barbara Stambolis: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach a.Ts. 2003; Detlev J.K. Peukert: „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Jugend zwischen Disziplinierung und Revolte, in: August Nitschke u.a. (Hrsg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 176–202. 36 Zur Kriegsjugendgeneration siehe: Herbert: Best, S. 42ff. 37 Vgl. Peukert: Die Weimarer Republik, S. 30. Siehe hierzu auch: Michael H. Kater: Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, in: GG 11/1985, S. 217–243. 38 Siehe Jürgen Reulecke: Neuer Mensch und neue Männlichkeit. Die „junge Generation“ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 109–138, S. 111. 39 Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, S. 238.
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„Auch die Jugend hat ihre Reife, und wenn sie vor ihrer Erfüllung sterben muß, so bleibt ihr nur die Wiedergeburt im Geiste der Kommenden! […] Denn die Toten von Langemarck sind ja nur der Vortrupp einer Armee. Sie hat nicht nur einer Welt widerstanden, sondern mit Waffen auch eine neue begonnen.“40 Die auf die Avantgarde folgende Armee wuchs gegen Ende der Weimarer Republik jedenfalls stetig und focht für eine „neue Welt“ und Ordnung. In diesem Kampf wandte sie sich auch gegen die „antiquarische“ und „kritische“ Erinnerung an den Krieg. Die „kritische“ Erinnerung zog das Vergangene, wie bei Remarque, vor Gericht. Die „antiquarische“ Erinnerung hingegen suchte die Vergangenheit zu verehren und zu bewahren. Bei der epigonalen, reaktionären und sehnsüchtigen Vergegenwärtigung des Alten und Vergangenen wurde das „Neue und Werdende[ ] abgelehnt und angefeindet“.41 Die „antiquarische“ Verehrung der Vergangenheit zeichnete sich durch die Klage um die verlorene einstige Größe, die vernichtende Anklage des Neuen und das in düsteren Farben gezeichnete Bild der Zukunft aus. Für eine solche Vergegenwärtigung hatte die rechte „Jugend“ ebenso nur Verachtung übrig wie für die prinzipielle Verurteilung der Vergangenheit. Die Neue Rechte setzte der „kritischen“ ebenso wie der „antiquarisch“-reaktionären Haltung eine Vergegenwärtigung des Krieges und anderer „großer“ Vergangenheiten entgegen, die im Dienste des zukünftigen Lebens der Nation stand. In einem Die Reaktion betitelten Artikel, der am 1. November 1925 in der Sonderbeilage des Stahlhelms, Die Standarte, erschien, schrieb Ernst Jünger: „Der Frontsoldat kann nicht reaktionär sein, weil er ein Mann der Wirklichkeit ist und aus der Geschichte lernen will. Er kann es schon aus dem Grunde nicht, weil er bei aller Erkenntnis der Größe und des Glanzes der Bismarckschen Schöpfung bereits ein neues, größeres Deutschland vor seinem geistigen Auge sieht, und weil er in der Zerschlagung der alten Bindungen die Möglichkeit größerer Bindungen erfaßt.“42
Der Krieg, der die „alten Bindungen“ zerschlagen hatte, erschien hier als Glücksfall. Der Untergang des 1871 gegründeten Kaiserreichs wurde nicht bedauert, sondern als Voraussetzung eines kommenden, größeren Deutschlands gesehen. Eine Woche später veröffentlichte Jünger ebenfalls in der Standarte einen Artikel namens Die Tradition. Dort hieß es: „Erbe sein, das ist nicht Epigone sein. Und in einer Tradition leben, das heißt nicht, sich auf diese Tradition beschränken. Ein Haus erben, das verpflichtet dazu, dieses Haus zu verwalten, aber nicht ein Museum aus ihm zu machen, in dem Urväterhausrath unangetastet steht.“ 43 Gerade der Begriff des „Urväterhaus40
Schwarz: Die Wiedergeburt des heroischen Menschen, S. 13f. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 267. 42 Ernst Jünger: Die Reaktion, in: Ders.: Politische Publizistik. 1919 bis 1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [Or. 1925], S. 119–125, S. 124. 43 Ernst Jünger: Die Tradition, in: Ders.: Politische Publizistik. 1919 bis 1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [Or. 1925], S. 125–131, S. 129. 41
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raths“ ist ein Indiz dafür, dass Jünger, der Nietzsche zu den für ihn einflussreichsten Autoren zählte, hier genau jenes „antiquarische“ Verhältnis zur Vergangenheit im Visier seiner Kritik hatte, taucht doch der Begriff in der parallelen Passage bei Nietzsche auf.44 Unter dem „Leben der Tradition“ verstand Jünger jedenfalls nicht das anheimelnde Hochhalten einer Vergangenheit. In jenem Artikel hieß es weiter: „Wir leben nicht in Museen, sondern in einer tätigen, feindlichen Welt. Das ist nicht gelebte Tradition, daß der alte Fritz auf jede Zigarrenkiste gepinselt wird und daß jeder Aschenbecher und jeder Hosenträger seinen schwarzweißroten Stempel erhält. Das ist Reklame im übelsten Sinne, wie der größte Teil unserer Paraden, Erinnerungsfeiern und Ehrentage nur geschmackloseste Reklame ist, gußeiserner Kitsch, durch den man nichts als Mitläufer gewinnt. […] Schreibt keine Fridericus-Romane, sondern den nationalen Roman unserer Zeit“.45
Jünger setzte seinen radikalisierten und aktualisierten neuen Nationalismus an die Stelle des alten schwarzweißroten Nationalismus. Und diese beiden Nationalismen unterschieden sich nicht zuletzt darin, dass der neue Nationalismus den Untergang der alten Ordnung keineswegs bedauerte, sondern ihn als Bedingung der Möglichkeit einer neuen Ordnung sah. So hieß es in eben jenem Artikel weiter: „[D]er Held geht unter, aber sein Untergang ist wie das blutrote Versinken der Sonne, das einen neuen und schöneren Morgen verspricht. So müssen wir uns auch an den großen Krieg erinnern als an ein glühendes Abendrot, in dessen Farben schon ein prächtiger Morgen sich bestimmt. So müssen wir an unsere gefallenen Freunde denken, und in ihrem Untergang das Zeichen einer Vollendung, die schärfste Bejahung des Lebens selbst erkennen. Weit wie vor ekelhaftem Unrat müssen wir abrücken von der Wertung der Krämerseele ‚daß alles umsonst gewesen sei‘, wenn wir unser Glück darin finden wollen, im Schicksalsraum zu leben und im geheimnisvollen Strome des Blutes zu fließen, wenn wir in einer sinnvollen, bedeutsamen Landschaft wirken wollen, und nicht vegetieren in einer Zeit und in einem Raum, in den wir durch den Zufall der Geburt gesetzt worden sind.“
Jüngers „monumentalisches“ Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit bestand eben darin, dass er den Krieg als „Anreizung[ ] zum Nachahmen und Bessermachen“ verstand.46 Nur so war es ihm zufolge möglich, jenem dem Krieg entspringenden Verlorensein und der von ihm ausgelösten Bodenlosigkeit zu entrinnen. Die Gegenwart und die Zukunft ließen sich nur gestalten, wenn 44 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 265. Dort heißt es: „Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er [der Bewahrende und Verehrende] die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen – und so dient er dem Leben. Der Besitz von Urväter-Hausrath [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.] verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet.“ 45 Jünger: Die Tradition, S. 130. Dort (S. 126f.) auch das folgende Zitat. 46 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 258. Dort (S. 259) auch das folgende Zitat.
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dem Krieg ein Sinn abgerungen wurde. Allein wenn der Krieg als Ankündigung des „neuen und schöneren Morgen“ verstanden wurde, taugte er als „Mittel gegen die Resignation“. Die Faschisten suchten jedenfalls den „prächtigen Morgen“, der sich im „glühenden Abendrot“ angekündigt hatte, zum Heute zu machen. Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hatten, rief der Germanist Julius Petersen aus: „Nun ist das Morgen zum Heute geworden; Weltuntergangsstimmung hat sich in Aufbruch verwandelt; das Endziel tritt ins Blickfeld der Gegenwart, und aller Wunderglaube wird zur tatkräftigen Gestaltung der Wirklichkeit angesetzt. […] Mit dem Eintritt des Unendlichen in die Endlichkeit ist der Uferlosigkeit ein Boden geschaffen, in den der Hoffnungsanker sich senkt.“47 Das von Petersen als „Eintritt des Unendlichen in die Endlichkeit“ bezeichnete Geschehen, lässt sich als eben jene Ablösung einer profanen durch die heilige Zeit des „Dritten Reiches“ verstehen. Petersens Buch, das „die sechs Typen des universellen Heilsgedankens“, „die goldene Zeit“, das „Gottesreich“, „Weltreich“, „Geistesreich“ sowie „Völkerfrühling und Menschheitspfingsten“ und schließlich das „Volksreich“ behandelte, endete salbungsvoll mit den Sätzen: „Das neue Reich ist gepflanzt. Der ersehnte und geweissagte Führer ist erschienen. Seine Worte sagen, daß das Dritte Reich erst ein werdendes ist, kein Traum der Sehnsucht mehr, aber auch keine vollendete Tat, sondern eine Aufgabe, die dem sich erneuernden deutschen Menschen gestellt ist.“48 Der Kampf für das Morgen im Heute und für die Erneuerung des deutschen Menschen wurde von Jünger und anderen Faschisten während der Weimarer Republik ausgefochten. Sie suchten den Krieg in den Dienst des „Lebens“ zu stellen und verstanden sich selbst als „Thätige und Mächtige“. Sie glaubten daran, so Nietzsche, „daß das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird.“49 Dieser Glaube an die Erneuerung des „Großen“ bildete die Grundlage des „monumentalischen“ Verhältnisses zur Vergangenheit und wurde auch auf den Neuen Menschen übertragen, den man als Wiedergeburt oder Epiphanie jenes vermeintlich ewigen deutschen Wesens verstand. Auch dies lässt sich mit Nietzsches antihistoristischer Gründungsschrift verständlich machen: Der Glaube an den Neuen und zugleich ewigen Menschen50 fußte 47
Julius Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934, S. 1. Siehe hierzu: Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1955, S. 205ff. Für den Hinweis auf Julius Petersen danke ich Roger Griffin. 48 Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich, S. 61. 49 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 260. 50 Zwar ist in der Forschung häufig vom Neuen Menschen insbesondere in der Zwischenkriegszeit die Rede, eine einschlägige Monographie, die diesen Topos und seine Umsetzung im Faschismus behandelt, liegt allerdings bisher noch nicht vor. Es gibt jedoch einige Untersuchungen die aus unterschiedlichen Perspektiven zum Thema des faschistischen
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auf der Vorstellung, dass „das was einmal vermochte, den Begriff ‚Mensch‘ weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, […] ewig vorhanden sein [müsse], um dies ewig zu vermögen.“51 Der „neue Typ des deutschen Menschen“, so Jünger im Stahlhelm-Jahrbuch 1926, war im Kriege bereits erschienen. Da die Aviatik mit Aufbruch und Zukunft verknüpft war, nahm man insbesondere den Flieger als Verkörperung dieses Neuen Menschen wahr. Aber auch im Tankfahrer oder Stoßtruppführer hatte er sich bereits gezeigt. Doch gleich in welcher Form/Ausprägung, der Neue Mensch des Weltkrieges war eine Aktualisierung jenes Übermenschen, der das Menschsein „weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen“ vermochte. Dieser Typus offenbare sich in der Gegenwart wie in der Vergangenheit und der Zukunft immer wieder. Ein solches Denken war radikal unhistorisch. An die Stelle des Denkens des historischen Verlaufs trat die mythische Vorstellung einer ewigen Wiederkehr oder einer Wiederkehr des Ewigen.52 Der unentrinnbare historische Verlauf wurde ersetzt durch den Glauben daran, so Nietzsche, „daß die großen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, daß in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, daß für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und groß sei“.53 Indem man ihn als Glied in jene Kette der „großen Momente“ einreihte und ihm eine Funktion für das gegenwärtige und zukünftige „Leben“ zuwies, erhielt der Krieg einen Sinn. Die monumentalische Erinnerung an den Krieg diente eben jener „Sinngebung des Sinnlosen“, als welche Theodor Lessing die Funktion sowohl der Historie als auch des Mythos beschrieben hatte. Neuen Menschen hinführen. Siehe: Matthew Biro: The New Man as Cyborg. Figures of Technology in Weimar Visual Culture, in: New German Critique 62/1994, S. 71–110; Peter Fritzsche/Jochen Hellbeck: The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany, in: Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond totalitarianism. Stalinism and Nazism compared, New York, NY 2009, S. 302–341; Gentile: L’„uomo nuovo“ del fascismo; Alexandra Gerstner (Hrsg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt/M. 2006; Friedrich Wilhelm Graf: Alter Geist und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900, in: Ute Frevert (Hrsg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 185–228; Hüppauf: Schlachtenmythen; Mosse: The Image of Man; Reulecke: Neuer Mensch und neue Männlichkeit; Bernd Wedemeyer-Kolwe: „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. Zum sozialistischen/sowjetischen Neuen Menschen siehe die Literaturangaben von Fritzsche und Hellbeck sowie: Günther: Der sozialistische Übermensch; Manfred Hildermeier: Revolution und Kultur. Der „neue Mensch“ in der frühen Sowjetunion, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, München 1997, S. 51–67; Hellbeck: Revolution on my mind; Rosenthal: New Myth, New World. 51 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 259. 52 Vgl. hierzu Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt/M. 2007 [Or. Paris 1949]. 53 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 259. Dort auch das folgende Zitat.
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Jünger setzte diesen „monumentalisch“ umgedeuteten Krieg jedenfalls in seinem Kampf gegen die Gegenwart und gegen „die dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige“ ein, das „alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft um alles Grosse qualmend, […] sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg, den das Grosse zur Unsterblichkeit zu gehen hat“, wirft. Und dieser Kampf betraf sowohl den Liberalismus und Marxismus als auch den schwarzweißroten Nationalismus, den Jünger als eine ebensolche hemmende Kraft der „dumpfen Gewöhnung“ verstand. Die größte Gefahr läge darin, so Jünger, „daß wir zu sehr statisch verharren, uns nicht genug an die dynamischen Kräfte der Zeit einzugliedern verstehen. Das trotzige Beharren zum Beispiel, das alles seit 1918 Geschehene für Unfug erklärt, ähnlich wie Ludwig der XVIII. alles seit der Revolution Gewesene als nicht vorhanden ansah, können wir wohl verstehen, aber wir dürfen es nicht mitmachen“.54 Der neue „Menschenschlag, der aus dem Kriege zurückgekehrt“ war, verharrte nicht im Alten, sondern hatte es vielmehr verstanden, „seine Anschauungen bei aller Kampfkraft in die großen Ströme der Zeit einzuschalten, so daß sie eine tatsächliche Wirkung auszuüben imstande sind. Unser augenblickliches Leben ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, und wir stoßen überall auf Naturen, die den Schwung und die Energie dieses Krieges auf andere Formen zu übertragen vermögen. So waren die Leute, die sich an die Spitze der Freikorps stellten, außerordentlich moderne Menschen, welche die Fragestellung ihrer Zeit erfaßten […]. Sie [der „alte Frontsoldat“, an den sich Jünger in dem Beitrag wendet, F.E.] sehen an unseren Kampffliegern, wie sich der alte Geist in neuen Formen äußert“.
Der „alte Geist“ der sich immer wieder in „neuen Formen“, so in den Kampffliegern eben, äußerte, das einstige Große, das wiederkehrte, mit diesen Motiven eines zyklischen Zeitverständnisses und mythischen Denkens wurden der Krieg und die Gefallenen in ein sinnvolles, eine zeitliche Ordnung stiftendes Narrativ eingereiht. Schon im Vorwort zu Das Wäldchen 125 schrieb Jünger: „Der Geist jener Tage [des Augustes 1914] wird uns immer einen Höhepunkt und ein vorbildliches Ziel bedeuten […]. Das soll man nicht anzugreifen versuchen durch die Frage: ‚Wozu ist das alles gewesen?‘, denn hier offenbart sich eine Größe, die über die Grenzen hinauswuchs, innerhalb deren es Zwecke gibt. Eine unsterbliche Tat ist unbedingt und von ihrem Ausgang unabhängig, sie ist für ein Volk eine ewige Quelle der Kraft. Wir Überlebenden werden immer stolz sein, einer solchen Jugend angehört zu haben.“55
Jene Deutung des Krieges als sinn- und zweckloses Ereignis, wie sie aus Remarques Buch herauszulesen war, stellte für die gesamte Frontkämpferund Kriegsjugendgeneration eine Bedrohung dar. Die „kritische“ Erinnerung 54 Ernst Jünger: Der neue Typ des deutschen Menschen, in: Ders.: Politische Publizistik. 1919 bis 1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [Or. 1926], S. 167–172, S. 170. Dort (S. 171f.) auch das folgende Zitat. 55 Jünger: Das Wäldchen 125, S. VIIf. Dort (S. Xf.) auch das folgende Zitat.
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des Krieges wurde vehement bekämpft, weil sie die eigene lebensgeschichtliche Kohärenz gefährdete und das Gespenst der Kontingenz heraufbeschwor. Wurde der Krieg zum Widersinn erklärt, ging der Sinn der selbst erbrachten Opfer verloren und es zerbrach die zeitliche Ordnung des eigenen Lebens. Das von den Faschisten propagierte palingenetische Narrativ muss daher auch als Versuch verstanden werden, eine Ordnung der persönlichen Lebenszeit zu errichten, welche die zahlreichen erlebten Brüche überwand und eine sinnvolle Einheit stiftete. Durch das palingenetische Narrativ wurden Erfahrungsraum und Erwartungshorizont miteinander verbunden und die scheinbar nutz- und sinnlose eigene Vergangenheit wurde mit einem Zukunftssinn versehen. Eben diesem Zweck diente die „monumentalische“ Erinnerung an den Krieg. Die Sinngebung des Krieges wurde für Jünger zur „heiligen Pflicht“ gegenüber den Gefallenen wie auch gegenüber der „Jugend“ und der Zukunft im Allgemeinen: „Wir, denen es obliegt, die Erinnerung nicht zu verwischen, sondern zu verwalten und zu verwerten, müssen uns bemühen, ihn [den Krieg] von dieser Seite aus [als seelisches Problem] zu unserem Eigentum zu machen. Dem Sinn zu geben, was eine auf niederer Stufe stehende Anschauung als Widersinn und Äußerung menschlicher Unvollkommenheit betrachten mag, ist eine heilige Pflicht gegenüber den Gefallenen wie gegenüber den Werdenden, die fortbauen sollen an einem Werk, in dem sie das Gewachsene und die innere Einheit erkennen müssen, um mit wirklicher Überzeugung daran gehen zu können. Denn an ihnen wird es eines Tages sein, das zu vollenden, was wir nicht vollenden konnten. Sie werden ihr Erbe mit Stolz antreten können, wenn der wunderbare und ewige Kern dieser Zeit, das unbedingt Deutsche, die Nebel alltäglicher Gemeinheit überdauert haben wird.“
Obenstehender Passage sind zahlreiche Motive des grassierenden palingenetischen Denkens zu entnehmen. Der „Jugend“ oblag es, „das Werk“ zu „vollenden“ und das „Erbe“ anzutreten. Die anvisierte Zukunft, deren Antlitz bereits im Krieg sichtbar geworden war, stand im Zeichen jenes „ewigen Kerns“, welcher das „unbedingt Deutsche“ darstellte. Diese Utopie der Erneuerung des Ewigen wurde in der Vorstellung eines „Dritten Reiches“ gebündelt.56 Das „Dritte Reich“ wurde, so Julius Petersen im Anschluss an Oswald Spengler, der selbst wiederum auf Nietzsche rekurrierte, als „ewiger Morgen“ 56 Zu Vorstellung und Gehalt des Topos des „Dritten Reichs“ siehe: Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NSIdeologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998, S. 45–135. Dort (S. 133) wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich beim Konzept des „Dritten Reichs“ um eine Umdeutung der Johannes-Offenbarung handelt. Weiter heißt es: „Das ‚Dritte Reich‘ ist ein Reich der Zukunft, welches hauptsächlich durch die Prädikate ‚Erlösung‘ und ‚Heil‘ der Deutschen qualifiziert ist. Gegenwart und Zukunft sind durch einen qualitativen Sprung getrennt. Dem qualitativen Sprung geht eine Zeit der Krise bis zur Katastrophe voraus. Not und Elend sind das notwendige Durchgangsstadium für das zukünftige Heil. Zum Zwecke der Herstellung des Heils und der Erlösung muss ein Kampf stattfinden. Der Kampf ist kein beliebiger Konflikt, sondern wird innerhalb eines substantiellen Dualismus als Kampf gegen das Böse gedeutet.“
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begriffen, nach dem sich nun „die Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer“ richteten.57 Dieses „andere Ufer“ war ein Hybrid, das Neuheit, Jugend und Zukunft ebenso umfasste wie jenen „ewigen Kern“, der sich bereits in der Vergangenheit offenbart hatte. Indem der Faschismus diesen Nexus zwischen Zukunft und einer die Vergangenheit einschließenden Ewigkeit herstellte, vermochte er, sowohl das Bedürfnis nach Aufbruch und „Revolution“ zu befriedigen als auch die Sehnsucht nach Verwurzelung zu stillen. Es ist sinnvoll, den Faschismus als synkretistische, mannigfache, ja, selbst widersprüchliche „Lehren“ vereinigende und Hoffnungen weckende Ideologie zu verstehen. In den mythischen Zeitordnungsmodellen des Faschismus fanden unterschiedlichste Zeitgenossen ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen wieder. Gemeinsam war ihnen der Drang, die Gegenwart durch die Herbeiführung einer anderen Zukunft zu überwinden.58 Es galt, jener als Verfallsgeschichte wahrgenommenen Vergangenheit zu entkommen, auf welcher die dekadente Gegenwart fußte, und einen neuen Anfang zu setzen, in dem jener „ewige Kern“ erneuert würde, der sein Antlitz im Krieg gezeigt hatte. Insofern lässt sich der „Konservativismus“ des „konservativen Revolutionärs“ Jünger nur in dem Sinne verstehen, wie Moeller van den Bruck in Das Dritte Reich „konservativ“ definierte. „Konservativ“ in diesem Sinne war keineswegs mit „reaktionär“ gleichzusetzen. Dort heißt es: „Reaktionär ist: einen politischen Ausweg nur dort zu suchen, wo ein geschichtliches Ende war. Konservativ ist: immer wieder einen Anfang zu setzen.“59 Die Neue Rechte und das heißt, jene deutschen Faschisten, die zwar nicht notwendigerweise ihr Heil in der NSDAP suchten, deren Weltanschauung aber dennoch mit dem Nationalsozialismus kompatibel war, suchten den Ausweg keineswegs dort, „wo ein geschichtliches Ende“ war. Sie setzten dort vielmehr einen Anfang. Dieser Anfang lag, wie an Ernst Jünger gezeigt wurde, im Krieg. Hier hatte der herbeigesehnte Bruch mit der Vergangenheit stattgefunden. An die Stelle der Gegenwart, einer im doppelten Sinne profanen Zeit, sollte nun eine heilige Zeit treten, die zugleich neu und ewig war. Mircea Eliade sieht in einer solchen regenerativen Ordnung der Zeit eine „archaische Konzeption“ zur „Abwehr der Geschichte“ und eine „Art, die 57
Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich, S. 1. In Der Untergang des Abendlandes heißt es, der antike Geist wolle die Zukunft wissen, der abendländische hingegen wolle die Zukunft schaffen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Spengler das Dritte Reich als „das germanische Ideal, ein ewiges Morgen, an das alle großen Menschen von Dante bis Nietzsche und Ibsen – Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer, wie es im Zarathustra heißt – ihr Leben knüpften.“ Siehe: Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. Gestalt und Wirklichkeit, München 1919, S. 509. Die Rede von den „Pfeilen der Sehnsucht nach dem andern Ufern“ stammt aus der „Vorrede Zarathustras“ in Nietzsches Zarathustra, in welcher der Übergang vom Menschen zum Übermenschen thematisiert wird. Siehe Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, München 1999 [repr.], S. 17. 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Griffin: „I am no longer human. I am a Titan. A God!“. The Fascist Quest to Regenerate Time. 59 Arthur Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich, Berlin 1926², S. 217.
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geschichtlichen Ereignisse zu ertragen“.60 Indem sie die Geschichte vernichteten, durch eine „Regeneration der Zeit“ also hätten die Menschen versucht, sich gegen die Geschichte zu verteidigen. Die Vernichtung der Geschichte erlaubte es, den historischen Ereignissen einen außergeschichtlichen, oder mit Nietzsche, einen „überhistorischen“ oder eben mythischen Sinn zu geben. Indem Jünger die Geburt des Neuen oder des regenerierten Menschen und des Neuen Deutschlands in den Krieg verlegte, versah er den Krieg, die Opfer, das Leid und den sinnlosen Tod mit einem solchen überhistorischen Sinn. Der Krieg wurde zum Auftakt einer Neuen Zeit und einer anderen Zukunft. Auch für die Futuristen wurde der Krieg zur Quelle der Erneuerung. Vor allem aber stellte der Krieg die von ihnen ersehnte Möglichkeit zur Vernichtung der Geschichte dar.
b. Der futuristische Aufbruch Die Vernichtung der Geschichte aus der Luft Die italienischen Futuristen waren die radikalsten Verfechter einer Zerstörung der Vergangenheit und eines Aufbruchs in eine mythische Zukunft.61 Gleich Jünger doch bereits vor ihm hatten die Futuristen den Krieg als Keim und Vorboten der Zukunft, als „einzige Hygiene der Welt“, das heißt als kathartische Kraft verherrlicht.62 Noch bevor die Lichter in Europa ausgingen hatten sie ihre Verachtung für die Musealisierung der Gegenwart kundgetan und dem Passatismus, dem „antiquarischen“ Kult der Vergangenheit, sowie dem Historismus den Krieg erklärt. In der Vernichtung der „Geschichte“ und das heißt, der profanen Zeit und der Geschichtlichkeit an sich, sahen sie eine Voraussetzung dafür, dass das „Morgen zum Heute“ werde. Und weil der Flieger das Morgen im Heute verkörperte, erklärten ihn die Futuristen zum verehrungswürdigen Paradigma, zum Neuen Menschen eben jenes herbeizuführenden Morgen. Doch bevor sich die vorliegende Untersuchung der metaphorischen Funktion der Aviatik im Futurismus zuwendet, scheint es notwendig, die hinsicht60 Eliade: Kosmos und Geschichte, S. 154. Siehe hierzu ausführlicher im folgenden Kapitel den Abschnitt Die Zentralität des palingenetischen Mythos. 61 Neben dem Kopf der futuristischen Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti (1876– 1944), gehörten insbesondere die bildenden Künstler Giacomo Balla (1871–1958), Umberto Boccioni (1882–1916), Carlo Carrà (1881–1966), Gino Severini (1883–1966), die Dichter Libero Altomare (1883–1962) und Paolo Buzzi (1874–1956), der Komponist Luigi Russolo (1885–1947) und der Architekt Antonio Sant’Elia (1888–1916) zu den wichtigsten Futuristen der ersten Generation. 62 Siehe den 9. Punkt des Manifests des Futurismus, zuerst erschienen im Figaro am 20.2.1909: Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 11. Im Folgenden werden die aus der von De Maria herausgegebenen Sammlung zitierten Werke Marinettis mit der Sigle TIF angegeben. Wenn nicht abweichend vermerkt, stammen die Übersetzungen vom Verfasser, F.E.
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lich der Nähe von Futurismus und Faschismus getroffene Entscheidung zu begründen, die seine Behandlung in dieser Studie gerechtfertigt erscheinen lässt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Futurismus als Kunst des faschistischen Regimes diskreditiert.63 Erst in den sechziger Jahren wandte man sich ihm unter neuen Auspizien zu, wenn auch zunächst vornehmlich aus kunsthistorischem Interesse. Es war nicht möglich, den künstlerischen Modernismus zu verstehen, ohne die paradigmatische Rolle der Futuristen als künstlerische Avantgardebewegung zu berücksichtigen. Dies führte zu Versuchen, die futuristische Kunst zu retten, indem man auf die anarchistischen und linken Elemente innerhalb des Futurismus verwies. Diese Ambivalenz des Futurismus selbst, aber insbesondere seiner Erforschung brachte Günter Berghaus in seiner 1996 erschienenen Studie bereits in seinem Untertitel zum Ausdruck. Seiner Einschätzung nach stand der Futurismus Between Anarchist Rebellion and Fascist Reaction, nicht zuletzt weil es futuristischen Widerstand gegen die Versuche des Regimes gegeben habe, den Futurismus zu vereinnahmen.64 Zugleich hätten die 1987 veröffentlichten Tagebücher Marinettis gezeigt, dass dessen öffentliche Bekenntnisse zu Mussolini nicht immer mit dessen „privaten“ Äußerungen übereinstimmten. Weitere „Rettungsversuche“ des Futurismus spielten dessen politisches Engagement herunter und stellten allein seine „eigentlichen“ ästhetischen Ziele in den Vordergrund.65 Doch der Versuch, den politischen vom ästhetischen Futurismus zu trennen, war zum Scheitern verurteilt, ging es doch den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts um die Aufhebung eben jener Trennung von Kunst und Leben.66 Durch die Ästhetisierung des Lebens, und das heißt auch der politischen Sphäre, sowie mittels einer Vitalisierung der Kunst suchten die Avantgarden eben jenen durch den Geist der Moderne hervorgerufenen „Weltriss“, den Heinrich Heine im Vormärz beklagt hatte, zu schließen.67 63 Vgl. hierzu.: Emilio Gentile: Political Futurism and the Myth of the Italian Revolution, in: Günter Berghaus (Hrsg.): International Futurism in Arts and Literature, Berlin u.a. 2000, S. 1–14. 64 Günter Berghaus: Futurism and Politics. Between Anarchist Rebellion and Fascist Reaction, 1909–1944, Providence, RI u.a. 1996. 65 Siehe: Claudia Salaris: Artecrazia. L’avanguardia futurista negli anni del fascismo, Florenz 1992. Vgl. hierzu: Gentile: Political Futurism and the Myth of the Italian Revolution. 66 Siehe hierzu: Cornelia Klinger: Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben. Die Transformation einer Idee im 20. Jahrhundert. Vom Staat als Kunstwerk zum life-style des Individuums, in: Dies./Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.): Das Jahrhundert der Avantgarden, München 2004, S. 211–245. Dort (S. 212) heißt es: „An die Kunst richtet sich dagegen von Anfang des Modernisierungsprozesses an der Appell, ‚die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch‘ zu machen, also zu verbinden, was sich in der Wirklichkeit trennt. Die Klage über die Entzweiung bzw. der Wunsch nach Versöhnung von Kunst und Leben ist als Metapher für den Prozess der Moderne als Prozess der Ausdifferenzierung, für die daraus resultierenden Defizite bzw. für das Streben nach ihrer Kompensation oder Überwindung zu lesen.“ 67 Heine: Reisebilder. 3. Teil. Die Bäder von Lucca, S. 83.
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Leicht spöttisch hielt Emilio Gentile jüngst fest, es sei möglicherweise ein Fehler, der futuristischen Politik eine große Bedeutung zuzumessen; die ersten, die jedoch diesen Fehler begingen, seien die Futuristen selbst gewesen.68 Seit den 1970er Jahren hat Gentile immer wieder auf die Affinität zwischen Faschismus und Futurismus aufmerksam gemacht und die Bedeutung des politischen Futurismus für den Faschismus betont. Ersterer sei nicht nur aufgrund seiner regen künstlerischen Beteiligung am faschistischen „Liktorenkult“ von großer Bedeutung für den Faschismus wie für dessen Verständnis gewesen. Vielmehr gehörten zahlreiche Futuristen zu den Gründern der faschistischen Bewegung und einige von ihnen, nicht zuletzt der führende Kopf der Futuristen, Filippo Tommaso Marinetti, seien dem Faschismus selbst noch während der nationalsozialistischen Satrapie, der vom 13. September 1943 bis zum 25. April 1945 währenden Republik von Salò, treu geblieben.69 Mussolini selbst soll in einem privaten Gespräch mit seinem Biographen Yvon de Begnac konstatiert haben, „Nun, ich erkläre hiermit förmlich, ohne Futurismus hätte es keine faschistische Revolution gegeben.“70 Gemeinsam waren dem Futurismus und dem Faschismus, wie Gentile gezeigt hat, nicht nur die Versuche zur Ästhetisierung der Politik, sondern auch zu deren Sakralisierung. Die von ihnen hervorgebrachte neue Form der ästhetisierten und sakralisierten Politik war eine Form des politischen Modernismus, die der liberalen Ordnung den Entwurf einer anderen Moderne entgegensetzte.71 Futurismus wie Faschismus ging es um die Beseitigung des „Weltrisses“ durch die Stiftung eines gemeinschaftsbildenden Mythos. Daher ist Gentile zuzustimmen, wenn er festhält: „The Futurists were restless fascists and disagreed with some of the regime’s political and cultural decisions. None of them, however, ever questioned the fundamental motifs of the totalitarian state: the primacy of mythical thought, the vitalist realism, the mystical exaltation of national community, the heroic and warlike pedagogy, the imperial ambitions, or the myth of the Italian nation as the vanguard of a new society. The Futurists were neither deceived nor misled by fascism; they were fascinated by its appeal for the total mobilization of culture to regenerate Italians in a religious cult of the nation and to construct a new society that would leave its mark upon the future in the style of ‚Italian modernity‘. No
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Emilio Gentile: „La nostra sfida alle stelle“. Futuristi in Politica, Rom u.a. 2009, S. 8. Gentile: The Struggle for Modernity; ders.: Il culto del littorio; ders.: The Origins of Fascist Ideology. 70 Yvon De Begnac: Taccuini Mussoliniani, zit. nach Gentile: The Struggle for Modernity, S. 41 u. S. 66. 71 Vgl. Gentile: The Conquest of Modernity. Dort (S. 58) definiert Gentile politischen Modernismus in Anschluss an Marshall Berman folgendermaßen: „By political modernism […] I mean those political ideologies that arose in connection with modernization, ideologies that seek to render human beings capable of mastering the processes of modernization in order not be overwhelmed by the ‚vortex of modernity‘, giving them ‚the power to change the world that is changing them, to make their own way within the vortex and to make it their own. ‘“ 69
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Futurist believed that Fascism harboured the intention of realizing a world of reason, freedom, equality, or peace.“72
Diese hier nur angedeuteten Pendelschläge hinsichtlich der politischen Einordnung des Futurismus prägen die Fülle der mittlerweile kaum mehr überschaubaren Forschungsliteratur zur futuristischen Avantgarde.73 Daran werden zum einen die lange Zeit gültigen und scheinbar unüberwindbaren intellektuellen Barrieren nochmals deutlich, die einer Deutung des Faschismus als „modern“ und „modernistisch“ entgegenstanden. Da der Futurismus offensichtlich „modern“ beziehungsweise „modernistisch“ war, musste er lange Zeit aus der Sphäre des „reaktionären“ Faschismus herausinterpretiert werden.74 Zum anderen machen diese Pendelschläge erneut auf die prinzipiellen Schwierigkeiten im Umgang mit generischen Begriffen aufmerksam. Doch die Uneindeutigkeit, die hinsichtlich der Affinität oder Verwandtschaft des Futurismus zum Faschismus herrscht und ebenso die politische Kategorisierung Ernst Jüngers bestimmt, wird hier weniger als Manko denn als Gewinn bewertet. Die durch Differenzierung offenbar gewordene Ambivalenz von Phänomenen wie dem Futurismus darf allerdings nicht die notwendigen Generalisierungen unmöglich machen. Generische Begriffe dienen dazu, den Blick auf Gemeinsamkeiten zu lenken. Die bestehenden Unterschiede geraten dabei selbstverständlich in den Hintergrund, werden deswegen aber nicht negiert. Der Futurismus selbst umfasste ebenso wie der Faschismus ein komplexes und in sich teils widersprüchliches Gemenge an Denkfiguren, Deutungsmustern und Begriffen, an Handlungsmotiven, Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten sowie deren jeweilige Aneignung, Interpretation und Objektivierung durch die einzelnen „Futuristen“.75 Mag es im Einzelnen also auch Gründe geben, die gegen eine Subsumierung der Futuristen, aber auch Ernst Jüngers unter den Gattungsbegriff Faschismus sprechen,76 so besteht eine „Verwandtschaftsbeziehung“ in der ihnen gemeinsamen Sehnsucht nach einer anderen, alternativen mythischen Moderne. Im Zentrum dieser mythischen Ordnung stand die Palingenese der Nation, wenn auch die Vorstellungen von Letzterer variierten. Mit der Wiedergeburt oder Erneuerung der Nation ging jedenfalls 72
Ebd., S. 79. Eine ausführliche Bibliographie findet sich in: Günter Berghaus: Bibliography. A Futurist Reference Shelf, in: Ders. (Hrsg.): International futurism in arts and literature, S. 487– 596. 74 Diese Dichotomie von „reaktionär“ und „modern“ wurde nicht zuletzt von Gentile in seinem 1975 erschienenen Le Origini dell’ideologia fascista aufgebrochen. Siehe Gentile: The Origins of Fascist Ideology. 75 Siehe hierzu den Abschnitt zur Definition der zentralen Analysekategorien in der Einleitung. 76 Im Einzelnen hieße in diesem Fall, auf der Grundlage archivalischer Forschung die generalisierende Aussage für jeden einzelnen Futuristen sowohl der ersten, sogenannten heroischen Phase des Futurismus von 1909 bis 1916 sowie für die Futuristen der zweiten Phase des Futurismus bis zu Marinettis Tod 1944 zu prüfen und zeitlich zu differenzieren. 73
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die Destruktion der profanen Zeit oder der Geschichte einher. So beispielsweise für Ugo Tommei, einer der weniger bekannten „wütenden jungen Männer“, die sich unter dem Banner des Futurismus versammelten. Er veröffentlichte in der florentinischen Zeitung L’Italia futurista, dem Organ der „Futuristen an der Front“, einen Artikel, in dem die „Vernichtung der Geschichte“ zum Programm erhoben wurde. Der im Mai 1917 erschienene Artikel trug den Titel Aboliamo la storia!, Schaffen wir die Geschichte ab!77 Der Krieg bot auch in den Augen der Futuristen dazu die beste Gelegenheit. Mit der Destruktion der Vergangenheit und der Geschichte ging dann die Erneuerung der Nation, die Geburt des modernen Italiens und des Neuen Italieners einher.78 Es gilt nun, den futuristischen Antihistorismus zu verdeutlichen und seine Vision von einer Vernichtung der Geschichte im Krieg zu erläutern. Im Anschluss daran wird die futuristische Utopie des von mechanisch bereicherten Fliegermenschen bevölkerten modernen Italiens dargestellt. „Niemals erschien die Gegenwart so sehr getrennt von der genetischen Kette der Vergangenheit wie zur Zeit“ An der Spitze der futuristischen Bewegung stand Filippo Tommaso Marinetti. Dieser war am 22. Dezember 1876 im ägyptischen Alexandria geboren worden, wo sein Vater als Anwalt für ausländische Unternehmen tätig war.79 Bevor Marinetti 1893 seines Bakkalaureats wegen nach Paris ging, wurde er am Collège Saint François Xavier von französischen Jesuiten erzogen, die seinen bereits vorhandenen Hang zur Literatur, namentlich zu Zola, missbilligten. Marinetti studierte anschließend zwar in Pavia und Genua Jurisprudenz, doch seine Leidenschaft galt der Dichtung. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1907 verfügte Marinetti, der zu diesem Zeitpunkt noch Gedichte im Geist des Symbolismus verfasste, über ein stattliches Erbe, das es ihm nun gestattete, sich gänzlich seinen künstlerischen Aktivitäten zu widmen; so auch der Herausgabe seiner 1905 gegründeten Zeitschrift Poesia, durch welche er Gleichgesinnte um sich sammelte. 77
Ugo Tommei: Aboliamo la storia, in: L’Italia futurista vom 7.5.1917, zit. nach: Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 25f.; vgl. hierzu auch Emilio Gentile: Il futurismo e la politica. Dal nazionalismo modernista al fascismo (1909–1920), in: Renzo De Felice (Hrsg.): Futurismo, cultura e politica, Turin 1988, S. 105–159, insbes. S. 112ff. 78 Vgl. hierzu: Gentile: Il futurismo e la politica sowie Griffin: The Nature of Fascism, S. 59. 79 Vgl. zum Folgenden: Berghaus: Futurism and Politics, S. 15–46; Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934, München 1990, S. 42ff.; Marja Härmänmaa: Un patriota che sfidò la decadenza. F.T. Marinetti e l’idea dell’uomo nuovo fascista 1929–1944, Helsinki 2000, S. 31f.; Christine Poggi: Inventing Futurism. The Art and Politics of Artificial Optimism, Princeton, NJ u.a. 2009, S. 11ff. sowie Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 52–72. Zu Marinettis Biographie im Allgemeinen siehe Gino Agnese: Marinetti. Una vita esplosiva, Mailand 1990.
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Zwar hatte sich Marinetti auch schon vor 1909 einen Namen als Dichter gemacht, doch erst mit der Veröffentlichung des Futuristischen Manifests am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro zog er größere Aufmerksamkeit auf sich. Ein Interesse, das Marinetti gekonnt weckte, indem er das Manifest gleichzeitig zahlreichen internationalen Zeitungen zuschickte.80 Bereits hier erwies sich, dass Marinettis möglicherweise größtes Talent eben darin bestand, Aufmerksamkeit zu erregen, Skandale zu provozieren und sich und die sich um ihn bildende Gruppe disparater Künstler in Szene zu setzen. Marinetti hatte in anarcho-syndikalistischen und sozialistischen Kreisen verkehrt, aber im Zentrum seiner im strikteren Sinne politischen Visionen stand der Traum eines größeren Italiens und einer italienischen Revolution.81 Dieser den „modernistischen Nationalismus“ einende italianismo, der eben auch dem Futurismus zugrunde lag, speiste sich zum einen aus einem italienischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den „erfolgreicheren“ Nationen, zu denen man, so im Falle Frankreichs, hinaufschaute. Zum anderen gründete der italianismo in einer Unzufriedenheit mit dem Verlauf des Risorgimento und der herrschenden liberalen politischen Kaste.82 Der Traum eines größeren und „wahren“ Italiens stachelte jedenfalls den Irredentismus, aber auch den Interventionismus der sich um Marinetti herum formierenden Futuristen an. Der Kampf gegen die österreichisch-ungarische Monarchie sollte Italien um die „unerlösten Gebiete“ vergrößern. Durch die Teilnahme am Krieg sollte die Erneuerung Italiens und dessen Aufstieg zu einer bedeutenden europäischen Macht eingeleitet werden.83 Von Anfang an, und das heißt bereits auf den ersten serate futuriste, den futuristischen Abenden, im Jahr 1910 hatten die Futuristen irredentistische Propaganda betrieben. Gleich D’Annunzio agitierten sie 1915 für Italiens Eintritt in den Krieg auf Seiten der Entente. Und so meldeten sich, als Italien im Mai 1915 der k.u.k. Monarchie den Krieg erklärte, zahlreiche Futuristen freiwillig. Allen voran schritt der 38-jährige Kopf der Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti, der bereits Italiens Einsatz im lybischen Krieg 1911 bejubelt hatte.84 Dieser neue Krieg, der bereits seit einem Dreivierteljahr tobte, war jedoch von anderer Qualität als der gegen das Osmanische Imperium geführte Kolonialkrieg. Er war die Erfüllung jener Sehnsucht nach einer gewaltigen, kathartischen Macht, die am Anfang der futuristischen Bewegung stand. 80
Vgl. Poggi: Inventing Futurism, S. 4f. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 10–24 sowie ders.: La Grande Italia. Il mito della nazione nel XX secolo, Rom u.a. 2006, insbes. S. 95– 108. 82 Siehe Berghaus: Futurism and Politics, S. 6f. 83 Siehe hierzu: Gentile: The Struggle for Modernity, S. 58. 84 Siehe Marinettis 1912 veröffentlichte poetische Kriegsreportage: Filippo T. Marinetti: La battaglia di Tripoli, Mailand 1912. Vgl. hierzu: Isnenghi: Il mito della Grande Guerra, S. 25–30. 81
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Marinetti hatte bekanntlich schon im ersten futuristischen Manifest die „Liebe zur Gefahr“ besungen und den Krieg als „einzige Hygiene der Welt“ gepriesen.85 Doch die Hoffnungen und Vorstellungen Marinettis und seiner Mitstreiter gingen über das von zahlreichen Zeitgenossen ersehnte „reinigende Gewitter“ hinaus. Die Futuristen wünschten eine tief greifende Erschütterung herbei, eine nietzscheanische Umwertung aller Werte. Die futuristischen Wortkanonaden zielten insbesondere auf den Passatismus, auf die „antiquarische“ Historie. Die Futuristen wollten „die Museen, die Bibliotheken und Akademien jeder Art zerstören“. Hielten sie diese doch für Friedhöfe, die man allenfalls an Allerseelen aufsuchen sollte. Mit diesem im ersten Manifest verkündeten Wunsch nach Zerstörung der Gedächtnisorte brachte Marinetti seine Verachtung für die „historische Krankheit“ zum Ausdruck, für den Kult der Vergangenheit, der nur Epigonen erzeuge: „wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. […] Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken. […] Wahrlich, ich erkläre euch, dass der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen Schwunges) für die Künstler ebenso schädlich ist wie eine zu lange Vormundschaft der Eltern für manche Jünglinge […] Aber wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!“86
Von der Vergangenheit nichts wissen wollen, sie abschaffen, das Morgen herbeiführen, der Dynamik und Beschleunigung huldigen und sie leben, das waren die Forderungen der Futuristen, der radikalsten antihistoristischen Revolutionäre Italiens. Am Futurismus wird das Paradoxe der herbeigesehnten Zeitlichkeit der mythischen Moderne besonders deutlich.87 Zwar standen für 85
Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 10f. Dort auch das folgende Zitat. Deutsche Fassung zit. nach Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 26. Im Technischen Manifest der futuristischen Literatur aus dem Jahr 1912 forderten die Futuristen die Abschaffung der Zeichensetzung. Um den Charakter der futuristischen Schriften nicht zu verfälschen, wurde, wo es das Verständnis im Deutschen zuließ, analog zur Zeichensetzung in den Originalen auf diese verzichtet. Häufig werden in den futuristischen Texten zudem drei Punkte, „…“, verwendet. Hierbei handelt es sich nicht um eine Auslassung aus dem Text, sondern um ein stilistisches Mittel. 86 Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 11f. Deutsche Fassung zit. nach Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 27f. 87 Siehe hierzu: Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Berlin u.a. 1985, insbes. S. 43–56. Dort (S. 43) heißt es: „Im Gegensatzpaar von Futurismus und Passatismus bildet der Futurismus einerseits das progressive Element, andererseits ist er es, der diesen Gegensatz überhaupt erst errichtete, um sich als vorwärtstreibende Kraft zu legitimieren. […] Die futuristische Avantgarde stellt sich notwendig an die Spitze der Zeitachse und beansprucht so, den historischen Verlauf vorzeichnen zu können, erklärt aber im gleichen Zug, sie sei über die Geschichte insgesamt zugunsten einer neuen Primitivität hinaus. Ersteres wäre sein historisch progressives, letzteres sein überhistorisches Epochébewusstsein. In der Polemik gegen die passatistisch erstarrte Kultur versucht sie scheinbar eine Zeitperspektive zurückzugewinnen, in ihren eigenen programmatischen Erklärungen aber führt sie sich als Errichtung eines neuen geschichtslosen Zustandes vor. […] Das futuristische Epochébe-
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die Futuristen die Geschwindigkeit, die Revolution und die Dynamik im Vordergrund, doch auch der stete Wandel wurde zu einem ewigen Absoluten verklärt, in das man sich zu flüchten sehnte und durch das man die Zeit aufzuheben gedachte. So hieß es denn auch im ersten Manifest des Futurismus: „Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“88 Indem sie einer der Dimensionen Zeit und Raum beraubten Geschwindigkeit huldigten, suchten die Futuristen jene berühmten Huxley’schen doors of perception zum Unmöglichen aufzustoßen.89 Die zeitlose Geschwindigkeit, die sie zum absoluten, ewigen und allgegenwärtigen Prinzip erkoren, diente ihnen dazu, eine heilige Zeit des religiösen Festes zu etablieren. Diese Forderungen der futuristischen Gipfelstürmer sollten keineswegs nur als Hirngespinste einer künstlerischen Avantgarde verstanden werden. Es ging ihnen nicht allein um eine Erneuerung der Kunst durch das Abwerfen des Ballasts der vergangenen Jahrtausende. Der futuristische „Modernismus“ war, wie jener der gesamten Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, grundsätzlicher.90 Bei der Absage des Futurismus an die vergangenen Stile, Epochen und Traditionen, aus denen er hervorgegangen war, handelte es sich um eine Kampfansage an seine eigene Epoche. An die Stelle der paswusstsein neutralisiert tendenziell sein Avantgardebewusstsein. Die Avantgarde weiß sich auf dem Gipfel der Zeitpyramide und sagt zugleich, dass sie nicht mehr weiterwachsen wird; sogar noch die Zukunft ist gegenüber dem neuen Zustand des Absoluten Vergangenheit. Damit verliert der Futurismus jede Beziehung zu ihr, an der Spitze der Geschichte zu stehen, heißt für ihn, außerhalb und über ihr zu stehen. Der Futurismus kann sich demnach nicht als spezifische Neuheit begreifen, insofern hat Merinetti [sic] recht, ihn von der Mode grundsätzlich zu unterscheiden, sondern macht sich zum Bewegungsgesetz der ständigen Ablösung. Die neue Zeit des Futurismus ist ohne weitere Geschichte, deren unveränderliche Statik durch die Beherrschung des Raumes in der Geschwindigkeit zugleich gewährleistet und ideologisch verdeckt ist. Die Betrachtung der Geschichte als eines Kontinents, den man hinter sich lassen könnte, wie es in obiger Passage behauptet wird, hat zur Voraussetzung, dass auch die Vergangenheit als Veränderung nicht unterworfen erscheint. Nur wenn kein Vektor mehr aus der Vergangenheit in die Zukunft weist, kann diese Verräumlichung der Zeit gelingen.“ 88 Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 10f. Deutsche Fassung zit. nach Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 26. 89 Aldous Huxleys Essay The Doors of Perception erschien 1954. Der Titel ging auf eine Zeile aus William Blakes The Marriage of Heaven and Hell zurück, das zwischen 1790 und 1793 entstand: „If the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is, infinite.“ Siehe Aldous Huxley: The Doors of Perception, London 1954 sowie William Blake: The Marriage of Heaven and Hell. With an introduction and commentary Geoffrey Keynes, London 1975, S. XXII. 90 Zur Theorie und Praxis der Avantgarde siehe insbesondere: Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974 sowie Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam 2000. Zur Avantgarde und Zeitthematik siehe darin insbesondere: Bernd Hüppauf: Das Unzeitgemäße der Avantgarden. Die Zeit, Avantgarden und die Gegenwart, in: Asholt/ Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 547–582.
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III. Ewige Ordnung
satistischen Kunst sollten eine neue Dichtung, die parole in libertà, die befreiten Worte, und später auch die aeropoesia, die Flugdichtung, sowie eine neue Malerei, Skulptur und Architektur, selbst eine neue Kleidung und neue Speisen treten. Die Futuristen suchten eine radikale Erneuerung des Lebens herbeizuführen, indem sie das Leben mit der Kunst verschmolzen und indem sie das Leben an jene der Kunst und der Religion eigene Zeitlichkeit anschlossen. Das Neue, das die Futuristen an die Stelle des Alten setzten, sollte das endgültig Neue sein. Und so war das von den Futuristen verfolgte palingenetische Projekt allumfassend. Es sah die Erschaffung eines Neuen Italiens und eines Neuen Menschen vor, der aus einer wahrhaft anthropologischen Revolution hervorgehen sollte.91 Aufgrund dieses allumfassenden Erneuerungsanspruchs ließen die Futuristen auch nichts unversucht, um ihre radikalen Ideen unter die Massen zu bringen. Die Manifeste wurden in zahlreichen Zeitungen abgedruckt, aber auch als Plakate in den Städten aufgehängt und von Autos aus als Flugblätter unter die Passanten geworfen. Hinzu kamen zahlreiche Ausstellungen und die berüchtigten, bereits erwähnten serate futuriste, wie sie im österreichischungarischen Triest am 12. Januar 1910 oder im Teatro Lirico in Mailand am 15. Februar desselben Jahres stattfanden.92 Diese Abende endeten häufig im Tumult, provozierten die Futuristen doch die Zuschauer nicht nur mit ihrem unverhohlenen Irredentismus, sondern auch mit ihren für die Zeitgenossen befremdlichen Gedichten und verstörenden Aufrufen. Die tatsächliche Wirkung der futuristischen Appelle ist dabei nebensächlich, denn ihre Bedeutung gründet in der Vorwegnahme und überzeichneten Artikulation der palingenetischen Sehnsucht und des kursierenden Geists des Aufbruchs. Die Futuristen und ihre Werke sind der grellste und extremste Ausdruck eines im Bürgertum weitverbreiteten Wunsches nach einer anderen Moderne, und das heißt unter anderem nach einer Erneuerung der Zeit. Im Mittelpunkt dieser Utopie einer anderen Ordnung stand auch für die Futuristen eine geheiligte Nation. Bereits vor den Futuristen hatte der Turiner Soziologe Mario Morasso in den Zeitschriften Il Marzocco und Il Regno sowie in seinen Büchern, unter anderen L’imperialismo nel secolo XX, Der Imperialismus im 20. Jahrhundert, und La nuova arma, Die neue Waffe, beide von 1905, einen neuen Nationalismus propagiert. Auch die von Enrico Corradini, dem Herausgeber beider obengenannter Zeitschriften, 1910 gegründete Associazione Nationalista Italiana (ANI)93 oder die florentinischen Intellektuellen um die Zeitschriften Leonardo, La Voce und Lacerba sehnten sich nach einer Erneu-
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Siehe hierzu: Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 4. Für eine Schilderung des Verlaufs der serata futurista im Teatro Lirico in Mailand siehe: Berghaus: Futurism and Politics, S. 48–52 sowie Schmidt-Bergmann: Futurismus, S. 65ff. 93 Zur ANI siehe: De Grand: The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism in Italy. 92
1. Volare! Der faschistische Aufbruch in eine ewige Ordnung
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erung der Nation.94 Mit Emilio Gentile ist festzuhalten, dass diese „modernistischen Nationalisten“ zwar unterschiedliche Konzepte der „italienischen Revolution“ verfolgten und divergierende Vorstellungen sowohl der Nation als auch von der Art und Weise, wie die nationale Erneuerung herbeizuführen sei, besaßen. Im Kern waren sie sich jedoch einig: In der Vorstellung, Italien müsse im 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle zukommen, und im Ziel der italienischen Erneuerung. Dieser Kern des „modernistischen Nationalismus“ war es auch, der die gemeinsame Basis des Futurismus und des Faschismus bilden sollte.95 Die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Varianten des „modernistischen Nationalismus“ gründeten nicht zuletzt im jeweils unterhaltenen Verhältnis zur Vergangenheit und zur Geschichte. Im Gegensatz sowohl zur ANI um Enrico Corradini, aber auch zu dem späteren, in der Regimephase des Faschismus betriebenen Kult um das alte zu erneuernde Rom suchten die Futuristen ihren Nationalismus, ohne den Rückgriff auf vergangene Größe und glorreiche Traditionen zu legitimieren.96 Die von den Futuristen angestrebte mythische Zeit war radikal von allem historischen „Ballast“ entleert. Und so verkündete Umberto Boccioni, Autor des Manifests der futuristischen Maler vom Februar 1910 und des Technischen Manifests der futuristischen Malerei vom April 1910: „Wir modernen Italiener haben keine Vergangenheit.“97 In einem offenen Brief Marinettis an den belgischen Maler Aimé Felix Mac Delmarle, der am 15. August 1913 in der von den führenden Köpfen von La Voce, Ardengo Soffici und Giovanni Papini, gegründeten neuen Zeitschrift Lacerba erschien, hieß es: „Da eine berühmte Vergangenheit Italien erdrückte und eine unendlich viel glorreichere Zukunft in seiner Brust kochte, genau daher musste in Italien, unter unserem viel zu wollüstigen Himmel die futuristische Energie vor vier Jahren geboren werden, sich organisieren, kanalisieren und in uns ihre Motoren, ihre Aufklärungs- und Propagandaapparate finden. Italien bedurfte mehr als jedes andere Land dringend des Futurismus, da es am Passatismus starb. Der Kranke erfand sein Heilmittel. Wir sind seine zufälligen Ärzte.“98
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Zur florentinischen Avantgarde um Giovanni Papini, Giuseppe Prezzolini und Ardengo Soffici und den Zeitschriften Leonardo, La Voce und Lacerba siehe: Walter L. Adamson: Avant-Garde Florence. From Modernism to Fascism, Cambridge, MA u.a. 1993. 95 Gentile: Political Futurism and the Myth of the Italian Revolution, S. 4. Vgl. hierzu auch ders.: The Conquest of Modernity, S. 59ff. Dort (S. 59) heißt es: „Prior to World War I these movements gave birth to a generational revolt, conducted under the banner of the creative role assigned to youth, that involved a radical contestation of parliamentary government, one in which divergent visions of modernity, even though posed as alternatives to one another, were aligned in a common front against rationalist, liberal and bourgeois modernity.“ 96 Vgl. hierzu: Ders.: Il futurismo e la politica, S. 112f. 97 Umberto Boccioni: Opere complete, zit. nach Gentile: Il futurismo e la politica, S. 112. 98 Filippo T. Marinetti: Lettera aperta al futurista Mac Delmarle, in: TIF, [Or. 1913], S. 91– 94, S. 92. Dort auch das folgende Zitat.
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III. Ewige Ordnung
Marinetti verstand den Futurismus also als ein Heilmittel gegen die erdrückende Last der Vergangenheit und die Futuristen waren das zufällige Medium, dank dessen die Arznei gereicht werden sollte. Trotz seiner erstrebten Geschichtslosigkeit war das futuristische Heilmittel jedoch stets mit einem vehementen Nationalismus verknüpft. Und so hieß es in dem offenen Brief weiter: „Daher bekennen wir uns zu einem extrem gewalttätigen [ultra-violento] antiklerikalen und antisozialistischen Nationalismus einem antitraditionalistischen Nationalismus, der in der unerschöpflichen Lebenskraft des italienischen Blutes gründet. Unser futuristischer Nationalismus ficht wild entschlossen gegen den Kult der Ahnen, der die Rasse nicht festigt, sondern sie blutleer und jammervoll verwesen macht.“
Das Italien der Futuristen gründete offenbar allein in einer heiligen, absoluten, und das heißt geschichts- und verlaufslosen Zeit. Das Paradox, worin eine geschichtslose Nation denn bestehe oder wie eine in der „unerschöpflichen Lebenskraft des italienischen Blutes“ gründende Nation sich dem Kult der Ahnen verweigern könne, scheint unauflösbar. Umso vehementer war jedoch der vom Futurismus geforderte Neuanfang, sein Aufbruchsgeist und zukunftsgerichteter Wille. Diesem suchten die Futuristen nicht nur in ihrer Kunst Ausdruck zu verleihen, sondern von Anfang an auch in einem politischen Programm, das sich zuvörderst als eine Kriegserklärung an das Bürgertum, an die „Welt von Gestern“, ihre Sicherheit und den von ihr ausgehenden Ennui verstehen lässt. Zwar predigten auch die Futuristen einen Fortschritt, jedoch verstanden sie ihn als ein Fortschreiten von jener bürgerlichen Welt und Vergangenheit, der sie selbst entstammten. Dieser von den Futuristen propagierte Bruch mit der bürgerlichen Welt, die Forderung nach dem Zerschneiden des Bandes zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nach der gewaltsamen Unterbrechung des historischen Verlaufes macht sie zu paradigmatischen Vertretern der der Moderne eigenen Zeitlichkeit, in der das Neue gegenüber dem Alten, der Erwartungshorizont gegenüber dem Erfahrungsraum bevorzugt wird.99 Für die Futuristen galt es, die Entwertung des Erfahrungsraumes zu totalisieren und den vernommenen Riss in der Verbindung zur Vergangenheit zu einer Kluft auszuweiten. Es sollte nun endlich eine Tabula rasa hergestellt werden. Und so schrieb Marinetti in seinem „futuristischen Vorwort“ zu Gian Pier Lucinis 1909 erschienener Gedichtsammlung Revolverate: „Die Stunde ist günstig. Die Menschen werden wieder mythisch! Die Eingeweide der Erde erbrechen die Ungeheuer der Geschwindigkeit. Das alte Eisen sucht das jähe Feuer. Man ehrt die Athleten, die Läufer der Stadien und des Himmels. […] Niemals erschien die
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Vgl. hierzu die eingehenden Ausführungen zur Moderne in der Einleitung sowie Osborne: The Politics of Time.
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Gegenwart so sehr getrennt von der genetischen Kette der Vergangenheit wie zurzeit, Sohn ihrer selbst und großartiger Erzeuger zukünftiger Mächte.“100
Der Wunsch Marinettis und seiner Mitstreiter der ersten Stunde nach Selbsterzeugung, nach einer creatio ex nihilo war Ausdruck eines antihistoristischen Verlangens nach einer geschichtslosen Welt. Dem „Sohn seiner selbst“ widmete Marinetti seinen „afrikanischen Roman“ Mafarka le futuriste aus dem Jahre 1909, in welchem er seine futuristischen Angriffe gegen den Passatismus und die Geschichtlichkeit mit mythischen Bildern eines fliegenden Übermenschen verwob. Mafarka le futuriste, dessen französisches Manuskript Marinetti 1908, also vor dem Erscheinen des Gründungsmanifests des Futurismus, abgeschlossen hatte, spielt in einem sagenumwobenen Afrika.101 Und das Buch lässt sich durchaus als eine Reise in Conrads Herz der Finsternis oder in Jean Pauls „inneres Afrika“ verstehen. Im Zentrum des Romans steht die Parthenogenese, also die Jungfernzeugung des futuristischen Übermenschen Gazurmah durch Mafarka, den König der nordafrikanischen Festung Tell-el-Kibir. Gleich dem bereits behandelten Roman Gabriele D’Annunzios Forse che sì, forse che no handelt es sich bei Marinettis Mafarka um eine Aneignung und Anverwandlung von Nietzsches Vision des Übermenschen im Zarathustra.102 Doch im Gegensatz zu Zarathustra sind sowohl D’Annunzios Übermensch und Alter Ego Tarsis als auch Marinettis Gazurmah Flieger beziehungsweise geflügelte Wesen. Der Roman gründet auf zwei Ideenkomplexen, denen im futuristischen Gründungsmanifest von 1909 der neunte Punkt gewidmet war – auf diesen Bezug verwies auch Marinetti selbst im Vorwort der 1910 erschienenen Ausgabe; erstens, die Verherrlichung des Krieges und, zweitens, die „Verachtung des Weibes“.103 Das erste Kapitel des Romans, Die Vergewaltigung der Negerinnen, endet mit einer für die damalige Epoche ungekannt drastischen Schilderung einer Massenvergewaltigung. Dieser „Verstoß gegen die Sittlichkeit“ führte zu einem Prozess und in zweiter Instanz zu einer Verurteilung Mari100
Filippo T. Marinetti: Prefazione futurista a ‚Revolverate‘ di Gian Pietro Lucini, in: TIF, [Or. 1909], S. 27–33, S. 28. Zur Kontextualisierung und Deutung von Marinettis Mafarka der Futurist siehe: Luci Ballerini: Introduzione, in: Filippo T. Marinetti: Mafarka il futurista, Mailand 2003, S. VII–XLVIII; Hansgeorg Schmidt-Bergmann: „Mafarka le Futuriste“ – F.T. Marinettis literarische Konstruktion des futuristischen Heroismus, in: Filippo T. Marinetti: Mafarka der Futurist. Afrikanischer Roman, München 2004, S. 261–284 sowie Barbara Spackman: Mafarka and Son: Marinetti’s Homophobic Economics, in: Modernism/Modernity 1/1994, S. 89–107. 102 Wie Hansgeorg Schmidt-Bergmann festgehalten hat, ist Marinettis Mafarka nicht nur motivisch an Nietzsches Zarathustra, der 1899 auf Italienisch erschien, angelehnt, sondern, aufgrund der „Reden“ Mafarkas, auch von seinem Aufbau her. Marinetti selbst war darum bemüht, sich von Nietzsche zu distanzieren, den er als einen Passatisten diffamierte. Siehe Schmidt-Bergmann: „Mafarka le Futuriste“, S. 276f. Zur Distanzierung Marinettis von Nietzsche siehe Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 127f. 103 Vgl. Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 11. 101
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nettis, wobei die dreimonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung ausgesetzt wurde. Doch es sind weniger der Roman selbst und die in ihm zum Ausdruck kommende Misogynie, die hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, als vielmehr die zu dechiffrierenden Bilder. Denn bereits im Mafarka wird deutlich, dass der Flug als Metapher des Aufbruchs und das fliegende Wesen als Antipode zum passatistischen „Weib“ oder Bürger verwendet wird. Der Flieger ist nicht nur Übermensch, er ist auch der Neue Mensch. Diese Enkodierung der aviatischen Metapher ist nicht nur für den Futurismus, sondern auch für den Faschismus insgesamt zentral. Die vergewaltigten und misshandelten Frauen im Mafarka sind stets auch als Chiffre für den „sentimentalen“ Passatismus zu verstehen. Wie Marinetti im Vorwort ausführte, bestritt er nicht „den animalischen Wert der Frau, sondern die sentimentale Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird.“ „Ich will die Gier des Herzens bekämpfen“ hieß es dort weiter, und „die Tyrannei der Liebe besiegen.“104 Im Kern zielt der Roman darauf, wie Barbara Spackmann es schreibt, „to bypass the vulva and impregnate the ovary that is the male spirit.“105 Und so hieß es in dem den „futuristischen Brüdern“ gewidmeten Vorwort: „So viel ich weiß, ähnelt ihr ihnen [den falschen Anhängern des Fortschritts] nicht!… Könnt auch ihr euch folglich damit bescheiden, wie diese erbärmliche Söhne und Sklaven der Vulva zu bleiben? Und wollt auch ihr also die brüllende Zukunft erdrosseln und das unberechenbare Werden des Menschen? Im Namen des menschlichen Stolzes, den wir verehren, verkündige ich euch, die Stunde ist nahe, in der Männer von hohen Schläfen und von stählernem Kinn auf wunderbare Weise, allein mit einer Anstrengung ihres enormen Willens Riesen von unfehlbaren Taten zu Söhnen bekommen werden … Ich verkünde euch, dass der Geist des Mannes ein ungeübter Eierstock ist … Und wir befruchten ihn zum ersten Male!“106
Hier soll keineswegs bestritten werden, dass der futuristische Kult der Virilität und die extreme Misogynie für den Mafarka wie für zahlreiche weitere futuristische Werke eine bedeutende Rolle spielen. Die brutale und pornographische Vergewaltigungsszene des ersten Kapitels macht dies nur allzu deutlich. Doch weniger die Tatsache, dass die gewalttätige „faschistische Virilität“ in Marinettis Roman ihren Schatten vorauswirft, ist für vorliegende Untersuchung von Bedeutung.107 Vielmehr ist es die Vision der Erschaffung von „Riesen“ oder fliegenden Übermenschen durch eine Anstrengung des Willens und durch die Befruchtung des „männlichen“ Geistes.
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Filippo T. Marinetti: Mafarka il futurista, Mailand 2003, S. 4, [Übersetzung durch den Verfasser, F.E., auch im Folgenden]. 105 Spackman: Mafarka and Son, S. 90. 106 Marinetti: Mafarka il futurista, S. 5. 107 Zur „faschistischen Virilität“ siehe: Barbara Spackman: Fascist virilities. Rhetoric, Ideology, and Social Fantasy in Italy, Minneapolis, MN 1996 sowie Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977.
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Die „sexless procreation“, wie sie Barbara Spackmann in Anlehnung an Jean Joseph Goux nennt, oder „weiblose Fortpflanzung“ nimmt das noch zu behandelnde zweite Futuristische Manifest Tod dem Mondschein vorweg.108 Die Geburt des Übermenschen, so der Tenor des Mafarka, setzt die Vernichtung des „Weiblichen“ respektive der Liebe, der Sentimentalität, der Vergangenheit voraus. Der „Sohn seiner selbst und großartige Erzeuger zukünftiger Mächte“ soll keine Mutter, und das heißt, wie noch deutlicher werden wird, keine Geschichte haben. Der Mafarka ist also die Vision der Erschaffung eines Neuen Menschen aus einem geschichtslosen Nichts, völlig frei vom „Ballast“ der Vergangenheit, der mit der sentimentalen Frau und dem Bürger gleichgesetzt wird. Und diese Vision findet ihre Verkörperung in dem geflügelten Wesen Gazurmah. Die Erschaffung des fliegenden Übermenschen Gazurmah gelingt, weil Mafarka den romantischen und somit passatistischen Verlockungen widersteht. Mafarkas Freude, Gazurmah „schön und frei von allen Mängeln, die von der unheilvollen Vulva herrühren und für Altersschwäche und den Tod hinfällig machen“, erschaffen zu haben, gründet in der Überwindung jenes Passatismus, den Marinetti eben mit der Frau beziehungsweise mit der Vulva assoziiert.109 Kurz vor Gazurmahs Geburt schleudert Mafarka der ihn lockenden weiblichen Figur Colubbi, seiner ehemals Angebeteten, folgende Worte entgegen: „Zurück, unheilvolle Hyänenhüterin!… Gehe weit weg von hier mit deiner sich von verwesenden Geschlechtsteilen ernährenden Herde!… Ich werde dir nicht erlauben, meinen Sohn zu sehen!… Mein Sohn gehört mir ganz allein! Ich, ich habe ihm seinen Körper gemacht! Ich habe ihm das Leben geschenkt mit der Anstrengung meines Willens!… Und ich habe dich nicht um Hilfe gebeten!… Ich habe dich nicht flach gelegt, um dir mit lustvollen Reibungen den göttlichen Samen in die Eierstöcke zu spritzen. Er ist noch immer hier, in meinem Herzen, in meinem Hirn! Und es ist notwendig, dass ich allein bin, um meinem Sohn das Leben zu schenken!“
Die Geburt des zur Herrschaft berufenen Neuen Menschen erfolgt allein aus dem „männlichen“, heroischen Geist. Nichts mehr verbindet ihn mit der „sentimentalen“ Vergangenheit, die von den Futuristen vergewaltigt und getötet wird. Und es ist aus diesem Grund, dass Gazurmah, nachdem Mafarka ihn zum Leben erweckt hat, auch seinen Erschaffer tötet. Erst nach diesem Vatermord beginnt er seinen Flug und seinen Aufstieg. Dabei begegnet Gazurmah allerdings der auf dem Meer treibenden Colubbi, die von ihm den Tod erwartet. Da heißt es: „Ein schwerer Blutstrahl zerschlug sich wie ein rosaroter Federbusch an Gazurmahs Brust, der sich mit einem Flügelschlag in den Himmel erhob. So schnell, dass er kaum noch aus der unter ihm liegenden Ferne die sterbende Stimme Colubbis vernahm, die röchelte: – Du hast mir unter deinen bronzenen Rippen mein Herz gebrochen!… Aber indem du mich 108 109
Vgl. Spackman: Mafarka and Son, S. 91f. Marinetti: Mafarka il futurista, S. 209. Dort (S. 204) auch das folgende Zitat.
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umbrachtest, hast du die Erde getötet … die Erde! In Bälde wirst du deren erstes Todeszucken vernehmen! […] [Gazurmah darauf:] Pfui! Dieser Mumiengeruch, dieser Gestank toter Jahrhunderte verursacht mir Übelkeit!… Höher hinauf! Höher hinauf!“110
Der Flug ist eine Metapher für den Aufbruch in die Geschichtslosigkeit und in den Mythos. Die Flügel erlauben es Gazurmah den „Gestank toter Jahrhunderte“ hinter sich zu lassen und zu einem neuen Menschentum höher hinauf zu streben. Die von Marinetti im Mafarka geschilderte komplexe Anthropogonie des Neuen Menschen kann hier nicht im Einzelnen geschildert werden. Zentral ist die Tatsache, dass die Erschaffung des fliegenden Neuen Menschen hier in zweierlei Hinsicht auf den Mythos verweist; zum einen zeugt Marinettis Mafarka aufgrund der metaphorisch-bildlichen und nicht begründenden Erzählform von einer mythischen Darstellungsweise. Der Mafarka ist ein Ursprungsmythos im Sinne der Erzählform. Zum anderen aber ist der Mafarka funktional ein Mythos. Versucht doch Marinetti durch dieses Narrativ, die futuristische Gemeinschaft und deren Werte zu stiften. Die Zerstörung der Vergangenheit wird durch die Verheißung einer großen Zukunft und die Geburt des Übermenschen gerechtfertigt. Die profane Zeit soll beseitigt und eine heilige Zeit herbeigeführt werden. Die Abfolge von Alter und Jugend, die palingenetische Grundstruktur von Opferung und Wiedergeburt lag auch Marinettis Mafarka zugrunde. Mafarka selbst muss sterben, um im fliegenden Riesen Gazurmah wiedergeboren zu werden: „Bald werde ich sterben, um im Körper meines Sohnes wiedergeboren zu werden!… Ich werde mein Leben in seinen mächtigen Gliedern neu anfangen, deren herrliche Jugendlichkeit wird all jene, die sie bewundern werden, vor Staunen und Lust töten!… Ich werde in ihm ohne die Gewissensbisse, ohne die schweren Fehler, ohne die Wunden der ersten Niederlagen wiederaufleben!… In seinen Adern werde ich die Hoffnung wieder finden, die ich als Zwanzigjähriger noch hegte!… […] Mein Sohn wird wohlklingende Flügel haben, um über die Krümmung der Erde zu fliegen!…“
Allein durch eine Anstrengung des Willens soll der fliegende Neue Mensch, die „herrliche Jugendlichkeit“ erschaffen und die Neue Zeit eingeleitet werden. Und so heißt es in der „futuristischen Rede“ Mafarkas: „Ich meinerseits pfeife mittlerweile auf euer verachtenswertes Leben, ihr Männer voller Schwächen, Übel und des schleichenden Aussatzes … ihr Männer, die zur frühzeitigen Altersschwäche und zum Tode verurteilt seid!… Ich will mich selbst überwinden, indem ich allein durch eine Anstrengung meines Herzens eine unsterbliche Jugend erschaffe!“111 Der Neuanfang muss nur gewollt werden, dann sei es eben möglich „aus dem eigenen Fleisch ohne Beitrag und […] [die] stinkende[ ] Mittäterschaft der Gebärmutter der Frau, einen unsterblichen Riesen mit unfehlbaren Flügeln zu zeugen.“
110 111
Marinetti: Mafarka il futurista, S. 224f. Dort (S. 154f.) auch das folgende Zitat. Ebd., S. 158. Dort (S. 163, S. 162 u. S. 165f.) auch die folgenden Zitate.
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Im Mafarka wird ein nietzscheanischer Wille zur Macht gepredigt, der es erlauben soll, sich der Wirklichkeit zu bemächtigen und sie eben nach Gutdünken zu formen. Um den Neuanfang einzuleiten und den Neuen Menschen zu erschaffen, braucht man nur, wie es in der „futuristischen Rede“ weiter heißt, „dem geheimnisvollen Wort meiner Religion zu lauschen!… Ich lehre euch, den Tod zu verachten, euch von der Gefahr zu ernähren, das Leben zu riskieren, wie ihr es für eine Idee, für einen Blick, für ein Schauspiel tut!“ Der Neuanfang wird durch den Glauben an einen Mythos, durch die Teilhabe an der Wahrheit der Kunst-Religion gestiftet. Mit ihr einher gehen auch die Werte der Todesverachtung, des gefährlichen Lebens und der Aufopferung. Diese „heroischen“ Werte, die „Verherrlichung des gewaltsamen Todes“ wurden eben der „Liebe“, die ein „Gift für das Leben“ sei, gegenübergestellt. Im zweiten futuristischen Manifest Uccidiamo il chiaro di luna!, Tod dem Mondschein aus dem April 1909 fand Marinetti für seine Kriegserklärung an den Passatismus der bürgerlichen Welt andere Bilder. Nicht das „Weib“ sollte nun vergewaltigt und getötet werden, sondern die Bewohner Paralysias und Podagras, also der Städte „Bewegungslähmung“ und „Gicht“, Sinnbilder des Stillstandes und der Völlerei, vernichtet werden. Ein Krieg müsse her, bot er doch die Gelegenheit, das „paralytische“ und „gichtkranke“ Bürgertum auszutilgen.112 Marinetti ließ jedenfalls das zweite futuristische Manifest mit einer grotesken Verfolgungsjagd enden, in der auf „Aeroplanen“ reitende Futuristen eine Art Weltgericht einleiten.113 Die Flieger gehen dem Weltgericht voraus und dienen als Standarte der Zerstörung der alten Welt. Marinettis Phantasmagorie endet in einem Blutbad. Die apokalyptischen Flieger und ihr surreales Heer haben die Bewohner Paralysias und Podagras „gegen die Wand des Gaurisankars“ gedrängt: „Endlich, endlich seid ihr vor uns, ameisenwimmelnde Horden Podagras und Paralysias, die ihr die schönen Abhänge der Berge wie ein schrecklicher Aussatz bedeckt! Flügelschlagend fliegen wir euch entgegen […] Aber ihr seid unzählig!… Wir könnten wohl unsere Munitionen erschöpfen, würden wir alt während des Blutbades!… ich werde die Schusslinie festsetzen! […] Oh! Rausch, mit dem Tode Murmeln zu spielen! […] Der Sieg 112
Filippo T. Marinetti: Uccidiamo il chiaro di luna! (Tod dem Mondschein!), in: TIF, S. 14–26. 113 Ebd., S. 24f. Dort heißt es: „‚Wir brauchen Flügel! Bauen wir also Aeroplane!‘ […] Wir schnitten unsere futuristischen Aeroplane aus der ockerfarbenen Leinwand großer Segel. Die einen haben Flügelverwindung und erheben sich, durch ihren Motor, wie ein blutiger Kondor das von ihm geraubte Lamm trägt. Mein Apparat ist ein vielzelliger Dreidecker mit Schwanzsteuerung, 100 HP, acht Zylinder, 80 kg … Zwischen meinen Füßen befindet sich eine ganz kleine Mitrailleuse, die ich durch einen Druck auf einen Stahlknopf abfeuern kann … Und man fliegt los, berauscht von geschickter Steuerung, von dem schnellen, leichten, knatternden Flug im Rhythmus eines Trinkliedes. Hurra! Endlich verdienen wir, die große Armee der Verrückten und entfesselten Raubtiere zu befehligen! Hurra! Wir beherrschen unsere Nachhut: den Ozean und seine Hülle schäumender Kavallerie! … Vorwärts, Verrückte, Löwen, Tiger und Panther! Unsere Aeroplane werden eure Standarten sein! … Unsere Aeroplane werden eure leidenschaftlichen Geliebten sein!“ Deutsche Fassung zit. nach Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 245f.
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ist unser, sicherlich, denn schon werfen die Verrückten ihre Herzen in den Himmel wie Bomben! … Achthundert Meter!… Achtung!… Feuer!… Unser Blut?… Ja, all unser Blut, in Strömen, um die kranke Morgenröte der Erde wieder zu färben!…“114
Die vom Eros der Technik und des Todes eingenommenen und vom Rausch der Geschwindigkeit und der Gewalt beschwingten Futuristen sahen im Krieg, den sie in Italien herbeizuführen halfen, die Aussicht auf die Zerstörung der gesamten „Welt von Gestern“ verwirklicht. Nun sollte die Vernichtung der verachteten Bewohner Paralysias und Podagras, der „passatistischen Antiquare“ eingeleitet werden. Das blutrünstige Traumbild des Jahres 1909 sollte 1915 zur Wirklichkeit werden und selbst ohne das tätliche Zutun der Futuristen standen der „Bürger“ und die liberale Ordnung fürderhin unter Beschuss. Nun wurde, wie es in der bereits zitierten Passage aus Ernst Jüngers Das abenteuerliche Herz hieß, „stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit gearbeitet, und, auf das unscheinbarste Feigenblatt verzichtend, das 19. Jahrhundert […] in Grund und Boden geschossen“.115 Das Alte und Vergangene sollte zugunsten des Jungen und Neuen beseitigt werden. Hierin lag die Stoßrichtung des Futurismus und der Grund aus dem er den Krieg begrüßte. Weshalb, wird in folgender, erneut an den Geist von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung gemahnenden Passage deutlich: „Das Wort Futurismus umfasst die umfangreichste Formel der Erneuerung, die, weil sie zugleich reinigend und aufregend ist, den Zweifel reduziert, die Skeptizismen zerstört und die Kräfte in einer großartigen Verherrlichung versammelt. Alle Neuerer werden sich unter der Fahne des Futurismus treffen, weil der Futurismus die Notwendigkeit des stets Voranschreitens verkündet und weil er die Zerstörung aller Brücken empfiehlt, die sich der Feigheit bieten. Der Futurismus ist ein künstlicher Optimismus, der sich allen chronischen Pessimismen entgegenstellt, er ist fortdauernder Dynamismus, unaufhörliches Werden und unermüdlicher Willen.“116
Das dem Drang nach Erneuerung zugrunde liegende Unbehagen an der Zeitund Geschichtlichkeit brachte Umberto Boccioni noch deutlicher zum Ausdruck. In seinen Appunti per un diaro, Notizen für ein Tagebuch, die circa aus dem Jahre 1909 stammen, heißt es: „Dieser Eklektizismus, dieser Dilettantismus langweilten mich und ließen mich leiden. Sie gaben mir das Unbehagen desjenigen, der sich an nichts gebunden fühlt; sie gaben mir den Zweifel desjenigen, der nicht daran glaubt zu obsiegen; es gab mir Apathie, Skeptizismus, die Überempfindlichkeit des wissenschaftlichen Temperaments. Ich habe alles, was ich am Charakter unserer Zeit beobachtet habe, gesammelt und habe gefunden, dass das, was uns unsicher macht, das Fehlen eines Glaubens das heißt eines Unbestreitbaren ist. Uns, die wir
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Marinetti: Uccidiamo il chiaro di luna!, S. 26. Deutsche Fassung zit. nach Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 246f. Jünger: Das Abenteuerliche Herz, S. 186. 116 Filippo T. Marinetti: Guerra sola igiene del mondo, in: TIF, [Or. 1915], S. 233–341, S. 329. 115
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stets am gleichen Punkt vor dem Unendlichen sind, fehlt eine neue Endlichkeit, die ein Symbol unserer neuen Auffassung der Unendlichkeit wäre.“117
Die Futuristen sollten in der Nation jenes Unbestreitbare sehen, das der Apathie, dem Skeptizimus und der Überempfindlichkeit ein Ende machte und eine neue Endlichkeit, also eine geschlossene Ordnung begründete. Dass das von den Zeitgenossen, von den futuristischen Mitstreitern Boccionis und von ihm selbst verspürte Unbehagen bereits in Nietzsches Philosophie artikuliert wurde und daher auch mit dieser verdeutlicht werden kann, zeigt die darauf folgende Passage der Notizen für ein Tagebuch: „Philosophisch gesehen, haben wir die Idee eines Schöpfer- und Richtergottes zertrümmert, und die gesellschaftliche Folge daraus war, dass unser Respekt für seine Repräsentanten auf Erden fällig geworden ist. Die Kunst spürt natürlich diese Zertrümmerungen und läuft blindlings.“118 Die Futuristen und ihre Zeitgenossen litten an dem durch die „historische Krankheit“ hervorgerufenen „Tod Gottes“ und dem daraus erfolgenden Mangel an Werten. Was den Zeitgenossen fehlte, war, wie es in Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hieß, ein „Horizont“.119 In dem von den Futuristen gepredigten italianismo gab es diesen Werte hervorbringenden Horizont wieder. Er wurde von der Nation gestiftet. Nun hofften die Futuristen, im Krieg die „Jugend“ und die „Erneuerer“ für den „lebenspendenden“ Nationalismus und für ihre Revolte gegen das Historische und gegen die „Todtengräber des Gegenwärtigen“ gewinnen zu können. Gleich D’Annunzios Vision eines kathartischen Holocausts verstanden die Futuristen den Krieg als reinigenden Brand, aus dessen Asche ein größeres Italien Phönix gleich aufsteigen würde.120 Der Krieg war die ersehnte, reinigende Feuersbrunst, die das Dekadente hinwegfegte und das Morsche beseitigte. Daher sahen diese italienischen Avantgardisten im „großen Weltkrieg“ die Erfüllung des „dynamischen und aggressiven Futurismus“.121 Allein sie, so rühmte Marinetti in seinem 1915 erschienenen Guerra sola igiene del mondo, die Futuristen, hatten diesen Krieg vorausgesehen und gepriesen, noch bevor er ausgebrochen sei. Nun, wo er Wirklichkeit war, hielten sie ihn für „das schönste bisher erschienene futuristische Gedicht.“ Die passatistischen Dichter, zu denen Marinetti auch den „Kriegspropheten vom Mai“ D’Annunzio zählte, seien Pazifisten. Sie kämpften gegen Deutschland und
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Umberto Boccioni: Appunti per un diario, in: Ders.: Altri inediti e apparati critici hrsg. v. Zeno Birolli, Mailand 1972, S. 62. Vgl. hierzu Poggi: Inventing Futurism, S. 266ff. Boccioni: Appunti per un diario, S. 62. 119 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 251f. Dort auch das folgende Zitat. 120 Siehe Filippo T. Marinetti: Taccuini 1915–1921 hrsg. v. Alberto Bertoni, Bologna 1987, S. 77, Tagebucheintrag vom 24.4.1917. 121 Marinetti: Guerra sola igiene del Mondo, S. 333. Dort (S. 334f.) auch das folgende Zitat. 118
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III. Ewige Ordnung
Österreich, um den Krieg zu töten. Marinetti hingegen erklärte, der Krieg könne nicht sterben, „da er ein Gesetz des Lebens ist. Leben = Aggression. Universeller Friede = Altersschwäche und Agonie der Rassen. Krieg = blutige und notwendige Prüfung der Kraft eines Volkes. […] Wir […] haben den Krieg schon immer als einzige Inspiration der Kunst betrachtet, als einzige reinigende Moral, als die einzige Hefe im menschlichen Teig. Allein der Krieg weiß zu verjüngen, zu beschleunigen, die menschliche Intelligenz anzuregen, die Nerven durchzulüften, uns von den täglichen Lasten zu befreien, dem Leben tausend Geschmäcker und den Schwachsinnigen Geist zu verleihen. Der Krieg ist das einzige tiefe Ruder des neuen aeroplanischen Lebens, das wir bereiten.“
Im Folgenden soll nun die aerovita, das neue, „aeroplanische Leben“, das die Futuristen durch den Krieg einzuleiten hofften, näher erläutert werden. Zunächst aber sei noch festgehalten, dass der futuristische Aufbruch vornehmlich negativ bestimmt war. Die Futuristen waren die prominentesten Vertreter und formal und stilistisch kühnsten Medien jener kursierenden antihistoristischen Sehnsucht nach Zerstörung der Vergangenheit, um des Aufbruchs, um der Zukunft, aber auch rein um ihrer selbst willen. Die Zerstörungswut der Futuristen und der Faschisten galt dem Prinzip der Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit an sich.122 Im Kern erschöpfte sich die futuristische Utopie der Erneuerung in der Destruktion des Alten, in der Zertrümmerung der Vergangenheit und im Fortschreiten von diesem Trümmerhaufen. Bei der futuristischen Vision des „Fortschritts“ drängt sich daher das vielzitierte benjaminsche Bild des „Engels der Geschichte“ geradezu auf, wenn auch in einer Umkehrung. Der futuristische „Engel“, Marinettis Gazurmah, hat gleich Klees Angelus Novus seine Flügel ebenfalls ausgespannt. Er sucht indes geradewegs den Sturm, nämlich den Krieg, selbst auszulösen. Er möchte im Gegensatz zu Benjamins Engel weder „verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“ noch sucht er seine Flügel zu schließen.123 Denn der Sturm soll ihn ja gerade unaufhaltsam in jene Zukunft treiben, der er entgegenblickt, während der Trümmerhaufen hinter ihm zum Himmel wächst.
c. Aerovita, das aeroplanische Leben in einer neuen Zukunft 1933 verkündete Marinettis „Statthalter“, der futuristische Journalist und Herausgeber Mino Somenzi, in der Zeitschrift Futurismo:124 „Aerovita muss 122 Vgl. hierzu: Hanno Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001, S. 156f. 123 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1,2, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 691– 704, S. 697. 124 Die Rolle Mino Somenzis als Marinettis „Statthalter“ verdankte ersterer seiner Herausgebertätigkeit. Er war für die Zeitschriften Futurismo, Sant’Elia sowie Artecrazia zu-
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das futuristische Programm der neuen italienischen Generation sein.“125 Doch welche Vorstellungen verbanden die Futuristen mit der aerovita oder dem „aviatischen Leben“ der neuen italienischen Generation? Mino Somenzi gehörte nebst Marinetti und den Futuristen Giacomo Balla, Marinettis Frau Benedetta Cappa Marinetti, Fortunato Depero, Gerardo Dottori, Luigi Colombo alias Fillia, Enrico Prampolini und Guglielmo Sansone alias Tato zu den Unterzeichnern des 1929 veröffentlichten Manifesto della aeropittura, dem Manifest der Flugmalerei. Das Manifest begann mit einer verkürzten Genealogie der futuristischen Beschäftigung mit der Aviatik: „Im Jahr 1908 veröffentlichte F.T. Marinetti Der Monoplan des Papstes, die erste lyrische Verherrlichung des Fluges und der aviatischen Perspektive unserer Halbinsel vom Ätna nach Rom Mailand und Triest in freien Versen. Die Aeropoesie entwickelte sich mit Aeroplani von Paolo Buzzi Ponti sull’Oceano [Brücken auf dem Ozean] von Luciano Folgore und Caproni von Mario Carli. Im Jahr 1926 erschuf der futuristische Maler und Flieger Azari das erste Werk der Flugmalerei Prospettive di volo [Flugperspektiven], das im Großen futuristischen Saal auf der Biennale von Venedig ausgestellt wurde.“126
Nun ist zwar die genealogische Aufzählung des Manifests weder korrekt, denn Marinetti hatte sein Le Monoplan du Pape erst 1912 veröffentlicht, noch vollständig. Doch sie ist insofern bedeutsam, als sie die von Anbeginn der Bewegung bestehende enge Verbindung von Futurismus und Aviatik herausstellte. Wenn auch Marinetti durch seine Vordatierung von Le Monoplan du Pape seine prophetische Gabe und seinen zukunftsgewandten Blick zu betonen suchte, so war es unbestritten, dass der Futurismus im Windschatten der aufstrebenden Aviatik entstanden war. Im ersten futuristischen Manifest war es freilich die Schönheit eines „aufheulende[n] Autos, das auf dem Feuerstoß eines Maschinengewehrs zu laufen scheint“, die der Vollendung der Nike von Samothrake vorgezogen worden war.127 Es waren jedoch weniger der Automobilismus als vielmehr das Flugzeug und die der Fliegerei entnommenen Sprachbilder, die den futuristischen Geist beflügelten.128 Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt deutlich wurde, war es der Nexus von Fliegen, Aufbruch, Aufstieg und Zukunft, der das Flugzeug und den Flieger zum zentralen Symbol und die Aviatik zu einer Kernmetapher des Futurismus sowie des Faschismus werden ließ. Nun gilt es zu zeigen, dass diese der Aviatik anhaftende Konnotation der Zukünftigkeit durch die futuristische Ästhetisierung und Sakralisierung der Technik noch zusätzlich untermauert und ergänzt wurde.
ständig. Vgl. hierzu: Claudia Salaris: Storia del futurismo. Libri, giornali, manifesti, Rom 1985, S. 191. 125 Mino Somenzi in Futurismo vom 12.11.1933 zit. nach Härmänmaa: Un patriota che sfidò la decadenza, S. 135, [Übersetzung durch den Verfasser, F.E.]. 126 Giacomo Balla u.a.: Manifesto della aeropittura, in: TIF, S. 197–201, S. 197. 127 Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 10. 128 Siehe hierzu ausführlich: Ingold: Literatur und Aviatik, insbes. S. 59–82 u. S. 279–299.
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Die Ästhetisierung und Sakralisierung der Technik und ihres kriegerischen Gebrauchs erlaubte es, diese in das Gemeinschaft und Werte stiftende Narrativ, also in den palingenetischen Mythos der Nation einzuflechten. Hierdurch konnte die von den Zeitgenossen vielfach als Bedrohung wahrgenommene Technik als integraler Bestandteil der Ordnung und als Voraussetzung für die nationale Wiederauferstehung verstanden werden. Während das maschinisierte Massensterben an den Fronten das liberale Fortschrittsnarrativ und somit die im „langen 19. Jahrhundert“ gründende zeitliche Ordnung sprengte, gelang es den Futuristen, die Technik einschließlich ihrer im Krieg offenbar gewordenen destruktiven Kraft in eine andere narrative Ordnung einzufügen.129 Die technisch induzierte Zerstörung wurde als notwendige Bedingung für die Heraufkunft der neuen Ordnung in das palingenetische Narrativ integriert. Erst die Beseitigung der brüchigen, bürgerlichen Ordnung sowie die „Entschlackung“, der reinigende Aderlass und das Opfer ermöglichten die Wiedergeburt der Nation. Im faschistischen, die Zeit sowie die Gesellschaft ordnenden Mythos waren die Materialschlachten und der Maschinenkrieg das notwendige und reinigende Purgatorium. Den kathartischen Stahlgewittern entstiegen die geläuterte Nation und der Neue Mensch. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, suchten Liberale wie Aby Warburg, der Technik qua Schlange mittels des wissenschaftlichen Denkens einen „Denkraum“ abzuringen. Indes kann an den Futuristen wie auch an Jünger gezeigt werden, dass „der moderne Prometheus und der moderne Ikarus“, also eben jene von Warburg beklagten „verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörer, die den Erdball wieder ins Chaos zurückzuführen droh[t]en“, sich gleich den von Warburg beobachteten Indianern der mythischen Denkweise bedienten, um die Frage zu beantworten, „woher kommt elementare Zerstörung, Tod und Leid in der Welt?“ 130 Auch sie begegneten dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ mit dem Mythos und vermochten somit des technisierten Chaos’ Herr zu werden.131 Und als ob sie Warburgs Wahlspruch, „es ist ein altes Buch zu Blättern, Athen-Oraibi, alles Vettern“,132 hätten bestätigen wollen, suchten auch die Futuristen jene „stählernste Schlange der Erkenntnis“, die Technik, zu verzaubern, um nicht von ihr erwürgt zu werden.133 Die Technik wurde ästhetisiert, sakralisiert und zum zentralen Element ihrer Utopie vom Neuen Menschen des regenerierten Italiens. Wenngleich es insbesondere die dritte futuristische Generation war, die sich des Flugzeuges als Medium bediente, bildete der Flieger von Anbeginn der Bewegung das Paradigma des ersehnten Aufbruchs und des futuristischen 129
Zum „langen 19. Jahrhundert“ siehe: Hobsbawm: The Age of Revolution. Siehe: Warburg: Schlangenritual, S. 55. 131 Zum „Absolutismus der Wirklichkeit“ siehe: Blumenberg: Arbeit am Mythos. 132 Warburg: Schlangenritual, S. 9. 133 Jünger: Das Abenteuerliche Herz, S. 224. Vgl. hierzu Rohkrämer: Die Verzauberung der Schlange, S. 848–874, S. 865 u. Kiesel: Ernst Jünger, S. 359. 130
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Neuen Menschen.134 So hieß es in dem Artikel Aeroteatro, den der Gelegenheitsfuturist Anton Giulio Bragaglia im Februar 1935 in der vom Verlag der Regia Aeronautica herausgegebenen Zeitschrift L’Ala d’Italia veröffentlichte:135 „Die ersten Sänger der modernen Fliegerei sind, alle wissen es, die Futuristen gewesen. […] Die Ästhetik der Maschine, deren Verherrlichung, die Leidenschaft für die Geschwindigkeit, all dies gehörte zur Vergötterung des aviatischen Phänomens.“136 Die „Vergötterung des aviatischen Phänomens“ und die Faszination für die Aviatik bestimmten, wie an Marinettis Mafarka bereits angedeutet wurde, die frühen Werke der Futuristen. Diese Faszination gründete nicht zuletzt in den symbolischen oder metaphorischen Möglichkeiten, welche die Aviatik bot. Das Flugzeug war nicht nur Ausdruck des Aufstiegs, des menschlichen Vorstoßes in den Himmel, es vereinigte eben auch Zerstörung und Aufbruch, Tod und Neugeburt und war als solches ein herausragendes Medium der Vorstellung der guerra festa. Im Kriegsflug erwies sich, wie folgende Passage aus Marinettis 1987 veröffentlichten Tagebüchern zeigt, der Krieg als Fest und ästhetisches Erlebnis.137 Am 23. September 1917 schilderte er einen Luftkampf, den er beobachtet hatte. Ein „Bolide“, eine „Rakete“ sei wie eine „entflammte Masse“ vom Himmel gefallen. „Hemmungslose Freude“ und von Groll und Rachegelüsten zur „explosionsartigen“ Aufwallung gebrachtes Blut bestimmten sein Empfinden sowie: 134 In der Literatur wird von drei futuristischen Generationen ausgegangen, die den zwei „Phasen“ des Futurismus zugeordnet werden. Die Unterscheidung zwischen einem ersten und zweiten Futurismus geht auf den Kunsthistoriker Enrico Crispolti zurück, der zwischen einer ersten sogenannten „heroischen“ Phase des Futurismus und einer zweiten differenzierte. Die erste, „heroische“ Phase reicht von den Anfängen der Bewegung 1909 bis in den Ersten Weltkrieg hinein beziehungsweise bis zum Tode Umberto Boccionis im August 1916. Der zweite Futurismus reicht bis zum Tode Marinettis im Dezember 1944. Obwohl also von nur zwei Phasen ausgegangen wird, wird von einer „dritten Generation“ der Futuristen gesprochen, die sich in etwa Ende der zwanziger Jahre bis in die vierziger Jahre hinein eben der Hervorbringung eines für die aerovita tauglichen Neuen Menschen widmeten. Siehe hierzu: Maurizio Scudiero: Die Metamorphosen des Futurismus, von der futuristischen Rekonstruktion des Universums zur mechanischen Kunst. Die Kunst tritt ins Leben ein, in: Ingo Bartsch/Ders. (Hrsg.): …auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!… Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915–1945, Bielefeld 2002, S. 15–29. Scudiero geht von einer stärker „erdverbundenen“, den geschwindigkeitserzeugenden Mitteln des 19. Jahrhunderts, also dem Zug, der Straßenbahn und dem Fahrrad stärker verhafteten ersten futuristischen Generation aus, auf die dann eine zweite und dritte Generation folgt, die „im Zeichen der ‚Befreiung von der Erde‘“ geboren wird. Siehe Ebd., S. 24. 135 Anton Giulio Bragaglia (1890–1960) war zwar aufgrund seines Fotodynamismus mit dem Futurismus verbunden, aber er trat nie der futuristischen Bewegung bei, sondern erklärte sich ihr dann verbunden, wenn es gerade gelegen schien. Vgl. hierzu: Mario Verdone/Günter Berghaus: Vita futurista and Early Futurist Cinema, in: Günter Berghaus (Hrsg.): International Futurism in Arts and Literature, S. 398–421, S. 398. 136 Anton Giulio Bragaglia: Aeroteatro, in: L’Ala d’Italia, Februar 1935, S. 65–71, S. 65. 137 Zu Marinettis Verständnis des Krieges als Fest sowie zur Bedeutung der „Feier“ des Krieges in der Nachkriegszeit siehe: Isnenghi: Il mito della Grande Guerra, S. 179–183 sowie Mosse: Futurismo e culture politiche in Europa, S. 13–31.
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„Freude, dass man derselben Rasse angehört wie jene wunderbaren Flieger, die jetzt die absolute Herrschaft des Himmels zu halten wissen. Während der Benzintank mit dem Knäuel aus Gestell und Gerippe herabstürzte, kreisten unsere beiden Jäger um es spiralförmig herum es verfolgend als wollten sie die Niederlage und den Tod sicherstellen vielleicht aber auch um die stürzenden und brennenden Trümmer zu genießen. In den Kurven und Wogen jener beiden kreisenden Jäger vermutete ich, malte ich mir die überfließende, göttliche, herausschießende treibende Freude jener beiden Männer aus.“138
Der flammende Absturz eines feindlichen Fliegers versetzt Marinetti in einen Freudentaumel und erfüllt ihn mit dem Stolz, ebenfalls Italiener zu sein. In den Augen Marinettis ist der Krieg jedoch nicht nur ihm selbst ein Fest, auch die beiden siegreichen Piloten genießen den Absturz des Gegners und umkreisen begeistert den Todgeweihten. Mitleidlos führt Marinetti weiter aus: „Ein Schurke weniger. Es lebe Italien. Ich habe Tränen in den Augen vor Freude.“ Die Beglückung ob des überwundenen Gegners befällt auch die anderen Soldaten am Boden, die wie im Fest, gierig nach einer Trophäe oder einer Erinnerung, ebenfalls die Kuppe stürmen, auf die der Abgeschossene herunterstürzt. Es ist die lüsterne Beschreibung des dort Erblickten, welche Marinettis eher typischen Enthusiasmus angesichts eines für die eigene Seite erfolgreichen Luftkampfes außergewöhnlich macht und einen Einblick in die von ihm kultivierte Erotik des Krieges gewährt: „Da ist es inmitten des ungiftigen, erstickenden und Übelkeit erregenden Rauchs von verbranntem Fleisch und Fett, das eiserne Knäuel vermischt mit den spanischen Reitern und Drahtverhauen. […] Der Rauch erstickt mich. Das Holz das Fleisch die Knochen das Fett und das Aluminium brennen. Ein Bein ohne Fuß aber noch mit den Wickelgamaschen ist schon ganz verkohlt und halb zu Asche verbrannt. Der Arm, der einen Eisengegenstand umklammert, zeigt einen gebratenen Ellenbogen, der die Farbe lackierten Mahagonis hat. Der Ellenbogen lässt mich an den Knochen einer am Spieß gegrillten Hammelkeule denken. Zwischen den verdrehten Eisenstäben, den zu Krawattenknoten gewordenen Rohren und den rostigen Drahtverhauen brennt der ausgeweidete Tank, und darauf sitzt der Schädel mit dem aufgedeckten Gehirn, das kocht und brät. Ich muss an ein zerbrechliches Maschinchen denken, ganz aus vernickelten und silbernglänzenden Rohren, zu sehr geölt und voller Dampf. Ich nehme ein Aluminiumrohr und wir gehen runter.“
Walter Benjamin wäre also durchaus darin zuzustimmen, dass der Krieg hier der „künstlerische[n] Befriedigung der von der Technik veränderten Sinnwahrnehmung“ diente: „Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben läßt.“139 Den Futuristen bereitete „ihre eigene Vernichtung“, also der Untergang und Absturz des Bürgertums, „ästhetischen Genuss“. Gleich Ernst Jünger priesen die Futuristen den Krieg, weil er das Material und die Maschine an 138 Marinetti: Taccuini 1915–1921, S. 125, Eintrag vom 23.9.1917. Dort (S. 125f.) auch die folgenden Zitate. 139 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 508.
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die Stelle des bürgerlichen Individuums setzte. Bereits im Technischen Manifest der futuristischen Literatur aus dem Jahr 1912, sehnte sich Marinetti nach der Zerstörung des neuzeitlichen, bürgerlichen Individuums und dessen Substitution durch die Materie: „Man muss das ‚Ich‘ in der Literatur zerstören, das heißt die ganze Psychologie. […] Wir müssen ihn [den Menschen] also in der Literatur abschaffen. An seine Stelle muss endlich die Materie treten, deren Wesen schlagartig durch Intuition erfasst werden muss, was Physiker und Chemiker niemals erreichen werden. Über die befreiten Gegenstände und die launischen Motoren müssen die Atmung, die Sensibilität und die Instinkte der Metalle, der Steine, des Holzes usw. erfasst werden. An die Stelle der längst erschöpften Psychologie des Menschen muss die lyrische Besessenheit der Materie treten.“140
Diese Forderung nach Abschaffung des Ichs und nach dessen Ersetzung durch die Materie, inszenierte Marinetti als Verkündung durch den Propeller eines Flugzeuges.141 Gleich zu Beginn des Manifests hieß es: „Ich saß im Flugzeug auf einem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers, da fühlte ich die lächerliche Leere der alten von Homer ererbten Syntax. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder keuchend anzuhalten! Das hat mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über die mächtigen Schlote von Mailand flog.“142
Marinetti wurde selbst zum Sprachrohr des Propellers und des Reichs der Maschine, welches das Reich des Tieres ablöst: „Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des mechanischen Menschen mit Ersatzteilen vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.“
Der „multiplizierte“, aus Ersatzteilen zusammengestellte Mensch, den Marinetti erträumte und mit dem Flieger gleichsetzte, hatte die Erdengebundenheit und den Tod besiegt. Darin bestand sein Übermenschentum. In Guerra sola igiene del mondo erklärte Marinetti, dass die Futuristen in Einklang mit der Transmutations-These des französischen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck, dem Vorläufer Darwins, eine Transformation der Art des Menschen bezweckten. Oder vielmehr die Schöfpung eines „nicht menschlichen Typus“ anstrebten, der weder den „moralischen Schmerz, die Güte, die Zuneigung“
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Filippo T. Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista, in: TIF, [Or. 1912], S. 46–54, S. 50. 141 Siehe hierzu: Jeffrey T. Schnapp: Propeller Talk, in: Modernism/Modernity 1/1994, S. 153–178. 142 Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista, S. 46. Dort (S. 54) auch das folgende Zitat.
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noch „die Liebe“ kenne.143 Sie wollten den Menschen verwandeln, da sie glaubten, „dass im Fleisch des Menschen Flügel ruhen. […] Der nichtmenschliche und mechanische Typus, erbaut für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit, wird natürlich grausam, allwissend und kämpferisch sein. Er wird mit unerwarteten Organen ausgestattet sein: Organe, die an die Erfordernisse einer von dauernden Zusammenstößen bestehenden Umwelt angepasst sind. Wir können bisher die Entwicklung eines Bugs voraussehen, des Hinausstreckens des Brustbeins, eine Entwicklung, die umso bedeutsamer sein wird, insofern der zukünftige Mensch ein immer besserer Flieger werden wird.“
Dieser von den Futuristen erträumte „multiplizierte“ und für das Fliegen besser geeignete Mensch, so Marinetti weiter, würde „die Tragödie des Alters“ nicht kennen. Ob es sich dabei um die Ankündigung einer anthropologischen Revolution mit dem Ziel der tatsächlichen Konstruktion eines kybernetischen Organismus, eines Cyborg also, handelt oder ob Marinettis Vision rein literarischer Natur ist, ist zweitrangig. Von zentraler Bedeutung ist erneut die Metaphorik, also die mit dem Flieger verknüpften Vorstellungen und die wachgerufenen mentalen Bilder und Verknüpfungen. Der „aerovitale“ Flieger, welcher der jungen Generation Italiens als Vorbild dienen sollte, hatte sich nicht nur mit der Technik versöhnt, er war mit ihr verschmolzen. Der futuristische Mensch nutzte die Technik als metallische Erweiterung seiner eigenen Fähigkeiten, als mechanische Prothese und Mittel zur Macht, die ihm die Herrschaft über die Welt ermöglichte. Der mechanisch bereicherte Aviatiker war für die Futuristen der Inbegriff eines vollkommen verwandelten Neuen Menschentums. Die Technik wurde nicht nur wegen ihres destruktiven, die alte Ordnung beseitigenden Potentials, sondern auch aufgrund des ihr eigenen Vermögens zur Machtsteigerung zu einem zentralen Bestandteil des palingenetischen Narrativs. Die Technik befähigte Italien zum Aufstieg, sie war Garant von heroischen Taten und triumphalen Siegen. Die Futuristen beraubten die „Schlange“ Technik nur insofern ihres Schreckens, als der Schrecken zur notwendigen Voraussetzung des Aufbruchs gemacht wurde. Schrecken und Zerstörung sollten nicht gemildert, sondern geliebt werden. Die Futuristen suchten der durch den Weltkrieg bei den Zeitgenossen gesteigerten Entfremdung von der Technik zu begegnen, indem sie sie dezidiert als Mittel zur Macht priesen und als Weg zum heroischen Übermenschen überhöhten. Zudem verzauberten die Futuristen die Schlange der Maschinenkultur, indem sie in ihren Werken die Technik sogar im wörtlichen Sinn in den Menschen integrierten und mit ihm verschmolzen. Die Parallele zu den von Warburg beobachteten Schlangenritualen sollte zwar nicht überstrapaziert werden, dennoch gleicht diese Inkorporierung der „stählernsten
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Marinetti: Guerra sola igiene del mondo, S. 299. Dort (S. 299 u. S. 301) auch die folgenden Zitate.
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Schlange der Erkenntnis“ jenem „magischen Einschlüpfen[ ] in das Wesen der Gottheit, um ihrer übermenschlichen Kraft teilhaftig zu werden.“144 Der Flieger wurde zum Symbol einer Verwandlung, die Marinetti mit Bezug auf seine eigene Lufttaufe im Oktober 1910 im Manifest Die neue Religion-Moral der Geschwindigkeit aus dem Mai 1916 beschrieb.145 Dort pries Marinetti die vom Göttlichen bewohnten Orte, die Züge, die Plätze in den Metropolen, die Automobilrennstrecken und die Telegraphenstationen sowie die Schlachtfelder und erklärte die Maschinengewehre, die Geschosse, das Benzin zu Göttlichem. Er sprach von der durch 100 PS erzeugten „religiösen Ekstase“ und nannte den Patriotismus die „direkte Geschwindigkeit der Nation“ und den Krieg „die notwendige Prüfung eines Heeres, dem zentralen Motor der Nation.“146 Doch die Steigerung dieser neuen Religion der Geschwindigkeit ließ sich im Flug erleben: „Rennen rennen rennen fliegen fliegen. Gefahr Gefahr Gefahr Gefahr links rechts unten oben drinnen draußen den Tod riechen atmen trinken. Durch Getriebe militarisierte Revolution. […] Um frischer und mehr Leben zu genießen als in den Flüssen und im Meer müsst ihr im frischesten Gegenwind bei höchster Geschwindigkeit fliegen. Als ich das erste Mal mit dem Flieger Bielovucic flog, spürte ich meine Brust sich wie ein großes Loch öffnen, in dem der gesamte Horizont des Himmels köstlich eindrang glatt frisch und strömend. Der langsamen und verdünnten Sinnlichkeit von Spaziergängen in der Sonne und in den Blumen müsst ihr die grausame und färbende Massage des verrückt gewordenen Windes vorziehen. Wachsende Leichtigkeit. Unendliches Wollustempfinden. Ihr steigt mit einem allerleichtesten und elastischen Schnellen von der Maschine. Ihr habt eine Last von Euch geworfen. Ihr habt die Bindung an die Straße besiegt. Ihr habt das Gesetz, dass dem Menschen das Kriechen auferlegt, überwunden.“
Der Neue fliegende Mensch hatte eben die Bindung an die Erde hinter sich gelassen, sich von der Last des Irdischen befreit. Der Mensch war über sich hinausgewachsen. Vom Gekreuch war der Neue Mensch zu den Göttern aufgestiegen und zum Übermenschen geworden. Diesen Aufstieg verdankte er den durch die Aviatik errungenen neuen Perspektiven auf die Welt, der technischen Erweiterung seines Körpers sowie der technisch erzeugten Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit des Fluges, so Marinetti wenige Zeilen später, umfasste: „Hass der Erde (senkrechter Mystizismus) spiralförmiges Himmelwärtssteigen des Ichs zum Nichts-Gott = Fliegerei, reinigend-abführende [purgativa] Beweglichkeit des Rizinusöls.“ Marinetti begriff das Fliegen als reinigenden, „purgativen“ Akt, den er, die zukünftige faschistische Praxis bei den Strafexpeditionen vorwegnehmend, mit dem Rizinusöl verknüpfte. Entscheidend ist die Tatsache, dass die technisch induzierte Beschleunigung und Geschwindigkeit im Manifest Die neue Religion-Moral der Geschwindigkeit zum Göttlichen erklärt wurden, weil sie die Futuristen mit 144
Warburg: Schlangenritual, S. 40. Vgl. hierzu Ingold: Literatur und Aviatik, S. 61. Filippo T. Marinetti: La nuova religione-morale della velocità, in: TIF, [Or. 1916], S. 130–138, S. 133. Dort (S. 135f. u. S. 137) auch die folgenden Zitate.
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der „Verachtung der Hindernisse“ und „der Sehnsucht nach Neuem und Unerkundetem“, also mit der „Moderne“ gleichsetzten.147 Für die Futuristen war eben diese Liebe zur Geschwindigkeit und Beschleunigung, zum Unbekannten und Neuen modern und als solches eben zeitgemäß. Nicht zuletzt hierin besteht der Nexus von ästhetischem Modernismus und Futurismus. Doch es ist ein Missverständnis, wenn „Modernismus“ allein auf diese auf der Beschleunigungserfahrung basierende Sehnsucht nach dem Neuen und Unbekannten reduziert wird.148 Die Beschleunigung, welche das Empfinden einer diskontinuierlichen Zeit bedingte, brachte beides hervor. Die Erfahrung des Bruchs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitigte sowohl die Liebe zur Geschwindigkeit, zum Unerkundeten und Unbekannten als auch die Sehnsucht nach einem Verlorenen, nach einer Vergangenheit, die überhaupt erst als Objekt der Sehnsucht konstituiert wurde.149 Die Beschleunigung löste ein temporalisiertes „Fernweh“ ebenso wie „Heimweh“ aus. „Modern“ im Sinne des Ethos der Moderne war also nicht nur die Hinwendung zum Neuen und der Fortschrittsglaube, sondern ebenso die Sehnsucht nach dem sich verflüchtigenden Alten und dem unerreichbaren Zeitlosen und Stabilen. Nicht nur die „Sattelzeit“, sondern das gesamte 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Beschleunigung.150 Die Sehnsucht nach Entschleunigung und Statik war das Korrelat der Entwertung des „Erfahrungsraumes“. Die Begeisterung für Dynamik und Geschwindigkeit hingegen entsprach der stattgefundenen Aufwertung des „Erwartungshorizontes“.151 Und während die Statik des Stellungskrieges, die an der Alpen- und Karstfront ebenso vorherrschte wie an der Westfront, die Sehnsucht nach Bewegung katalysierte, wirkten sich die Europa erschütternden revolutionären Unruhen verstärkend auf die Entschleunigungs- und Stillstandswünsche aus.152 Diese scheinbar wider147
Marinetti: La nuova religione-morale della velocità, S. 132. Für eine ausführliche Definition des Modernismus siehe Griffin: Modernism and Fascism, S. 55f. u. S. 116f. Siehe zudem: Peter Fritzsche: Nazi Modern. Dort (S. 12) heißt es: „Modernism, which has usually been conceived in literary or artistic terms, has remarkable social and political implications. It is the apprehension of the malleable: the dark acknowledgement of the fragility and impermanence of the material world allied with the conviction that relentless reform could steady collapsing structures. In this perspective, modernism breaks with the past, manufactures its own historical traditions, and imagines alternative futures.“ 149 Siehe hierzu Osborne: The Politics of Time, S. 164. Vgl. Griffin: Modernism and Fascism, S. 221 u. S. 257. 150 Zur Sattelzeit siehe: Koselleck: „Neuzeit“. 151 Zu „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ siehe: Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. Zu den divergierenden Reaktionen auf die technisch erzeugte Beschleunigung siehe Stephen Kern: The Culture of Time and Space, 1880–1918, London 1983; Rosa: Beschleunigung, S. 79ff.; Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise sowie Paul Virilio: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993. 152 Zur katalytischen Wirkung des Stellungskrieges auf die Sehnsucht nach Bewegung und deren Übersetzung in die politische Sphäre durch die NSDAP vgl.: Meschnig: Der Wille zur Bewegung, S. 287–300. 148
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sprüchlichen Sehnsüchte vermochte der Faschismus nach dem Krieg in einer Synthese aufzuheben. Er harmonisierte dieses Paradox und befriedigte sowohl das Beschleunigungs- als auch das Entschleunigungsbedürfnis, sofern er nämlich zugleich einen Aufbruch und eine ewige Ordnung versprach. Das Flugzeug und der Flieger fungierten im Faschismus als ein Symbol, in dem der Harmonisierungsprozess dieses Paradoxes erfolgte.153 Durch ihre unterschiedlichen Konnotationen, und das heißt dank ihrer vom Konzept des Aufbruchs zu jenem der Transzendenz variierenden Polyvalenz, vermochte die aviatische Symbolik, beide Sehnsüchte zu befriedigen, jene nach Dynamisierung und jene nach Dauer. Dabei scheint es, als herrsche ein Ungleichgewicht zwischen Dynamisierungs- und Entschleunigungswunsch und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Verbreitung. Doch es erweist sich, dass diese parallel laufenden Sehnsüchte sich in der Ewigkeit überschnitten. Dynamisierungs- wie Entschleunigungssehnsucht waren in einer Ewigkeitssehnsucht aufgehoben. Denn es waren nicht allein die Befürworter einer Entschleunigung und eines Zustandes der Dauer, die sich einen Ausstieg aus dem historistischen Verlaufsmodell, dem Fortschrittsdenken und aus der Zeit selbst erhofften.154 Auch die Verfechter einer Temposteigerung suchten, wie an den Futuristen gezeigt wurde, der Zeit zu entkommen. Beschleuniger wie Entschleuniger sahen im Faschismus einen Widerhall ihres Verlangens nach einer Flucht aus der sinnentleerten und desakralisierten Zeit und fanden, sofern sie keine Maschinenstürmer waren, in der Aviatik ein verdichtetes Symbol ihrer Wünsche und Träume. Der „rasende Stillstand“155 der Futuristen war in der vom Faschismus verheißenen ewigen Ordnung ebenso aufgehoben wie Moeller van den Brucks Vision einer „Wiederanknüpfung nach Vorwärts“156 oder Himmlers im Bild der Kette der Generationen verdichtete Germanen- und Mittelalterromantik.157 Zieht man nun erneut das von Wittgenstein zur Erläuterung der „Familienähnlichkeit“ gebrauchte Bild vom Faden heran, so wird deutlich, dass der Futurismus in dem langen, aus unterschiedlichsten, teils widersprüchlichen „temporalen Fasern“ bestehenden „Faschismus-Faden“ am äußersten, extremen Ende zu finden ist. Zwar standen die dem futuristischen Kult der Maschine, der Geschwindigkeit und der Bewegung zugrunde liegenden Zeitvorstellungen im Widerspruch beispielsweise zu dem vom faschistischen Regime während der 1930er Jahre betriebenen Kult der romanità.158 Dennoch griffen die „Fasern“ beispiels153
Zur Harmonisierung von Paradoxen durch Symbole siehe: Soeffner: Der fliegende Maulwurf, S. 131–156. 154 Vgl. hierzu: Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit. 155 Paul Virilio: Rasender Stillstand, München u.a. 1992. 156 Siehe Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich, S. 236. 157 Siehe hierzu Kroll: Utopie als Ideologie, S. 230–255. 158 Zum Kult der romanità, des antiken Roms also und seiner „Wiedergeburt“ im faschistischen zum „Imperium“ aufgestiegenen Italien, siehe: Gentile: Il culto del littorio, S. 129– 137; Romke Visser: Fascist Doctrine and the Cult of the Romanità, in: JCH 27/1992, S. 5– 22 u. Vollmer: Die politische Kultur des Faschismus, S. 551–626.
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weise aufgrund des gemeinsamen italianismo, des Kults der Gewalt oder des Vitalismus übereinander und trugen zur Stärke des „Fadens“ bei. Zudem lag sowohl dem Kult der romanità als auch der futuristischen „Religion-Moral der Geschwindigkeit“ die Sehnsucht nach einer Flucht aus der desakralisierten, profanen Zeit zugrunde.159 Auch im Kult der romanità versuchten die Faschisten, aus der Zeit auszusteigen, indem sie eine heilige, den „mythischen Ursprung“ darstellende Zeit zu erneuern oder zu wiederholen trachteten, um somit an der Unsterblichkeit und der Ewigkeit teilzuhaben.160 Ebendieser Vorgang der Erneuerung und Wiedervergegenwärtigung der heiligen Zeit des römischen „Ursprungs“ charakterisiert die Zeit des Mythos.161 Die Futuristen hingegen wollten mittels Beschleunigung die Ewigkeit herbeiführen. Die Geschwindigkeit diente der Vergrößerung jenes zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstandenen Risses. Die Raserei sollte in den Stillstand überleiten. Die Totalisierung der Geschwindigkeit, oder ihre ewige Allgegenwart, wie es im ersten futuristischen Manifest hieß, sollte ins Absolute, und das heißt ins Raum- und Zeitlose, führen.162 Der Neue mechanisch bereicherte Mensch liebte und verehrte jedenfalls die Geschwindigkeit, weil sie Ausdruck des Aufbruchs zu neuen Ufern, zu neuen (Luft-)Meeren und zur Ewigkeit war. Das Motiv des Aufbruchs in die Ewigkeit beziehungsweise Unendlichkeit übernahmen die Futuristen aus der Kulturkritik des 19. Jahrhunderts. Die Metapher aber entlehnten sie, so steht zu vermuten, von Nietzsche und übersetzten sie in die Bilderwelt des technisierten und eben aviatischen 20. Jahrhunderts. So hieß es in Nietzsches Gedicht Nach neuen Meeren aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei: „Dorthin – will ich; / und ich traue / Mir fortan und meinem Griff. / Offen liegt das Meer, in’s Blaue / Treibt mein Genueser Schiff. / Alles glänzt mir neu und 159 Zur desakralisierten und profanen Zeit siehe: Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 40–67. 160 Siehe hierzu Gentile: Il culto del littorio, S. 135 bzw. ders.: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge, MA 1996, S. 78. 161 Siehe hierzu: Hans Poser: Zeit und Ewigkeit. Zeitkonzepte als Orientierungswissen, in: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, Freiburg u.a. 1996², S. 17–50. Dort (S. 25f.) wird das Verhältnis von profaner und heiliger Zeit anhand von Kurt Hübners am griechischen Mythos unternommener Unterscheidung erhellt: Es wird „eine heilige zyklische Zeit von einer profanen, irreversiblen und linearen Zeit [unterschieden], in die die zyklische Zeit eingebettet ist. Was dabei in der profanen Zeit als Wiederholung erscheint, ist in der heiligen Zeit ein Identisches. Die heilige Zeit ist also in der Perspektive der profanen Zeit Ewigkeit im Sinne der ewigen Wiederkehr des Gleichen, hingegen in der Eigenperspektive der heiligen Zeit das zeitlose Jetzt. Damit ergibt sich eine gänzlich andere relationale und modale Struktur als die uns seit Platon und Aristoteles vertraute mit ihrer modalen Entgegensetzung von Vergangenheit als unveränderlichnotwendig, Gegenwart als wirklich und im Handeln gestaltbar und Zukunft als möglich und offen, denn beide Zeitdimensionen, ewige und profane, durchdringen einander. Die klare Abfolge von früher und später ist ebenso durchbrochen, denn das ewige Jetzt der heiligen Zeit ist eines, das zugleich in Vergangenheit und Zukunft der profanen Zeit statthat.“ 162 Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 10f.
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neuer, / Mittag schläft auf Raum und Zeit / Nur dein Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an, Unendlichkeit!“163 Den Untergang der alten (Werte-)Ordnung, den „Tod Gottes“ also, sahen die Futuristen, gleich Nietzsche, als Chance. Sie verstanden sich als eben jene „Furchtlosen“ und „freien Geister“, die von Nietzsche im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft angesprochen wurden: „In der That, wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offnes Meer‘.“164
Der Untergang der alten Ordnung wurde begrüßt und die Geschwindigkeit wie der Krieg verehrt, da sie diesen Untergang beschleunigten und besiegelten. Nun galt es, ins „offene Meer“ zu stechen beziehungsweise, dem neuen technischen Paradigma entsprechend, den „Himmel zu stürmen“. So schrieb Remo Mannoni, der sich Libero Altomare, also Freier Hohesee nannte, bereits 1912 in seinem Gedicht La scalata, Der Aufstieg: „Wir wollen den Himmel erstürmen! / den blauen Schleier zerreißen, / der das zwitterhafte Geheimnis umhüllt, / auf elektrischen Trommeln Wirbel schlagen / und schleudern magnetische Pfeile / nach den höhnenden Sternen / Herbei ihr neuen geflügelten Ungeheuer: / Flügel aus Leinwand, / Herzen aus Stahl: / des Menschen fröhlicher Geist / hebt Euch in den Himmel!…“165 Die von den Futuristen anvisierte Erstürmung des Himmels, ihre „Herausforderung der Sterne“, so das erste futuristische Manifest, scheiterte an der Wirklichkeit.166 Das futuristische „Maximalprogramm“ schlug angesichts der politischen Realitäten im Nachkriegsitalien fehl. Marinettis „lyrische Ordnung“ war gleich jener D’Annunzios zum Scheitern verurteilt. So hieß es in dem an die faschistische Regierung gerichteten Manifest Die von den italienischen Futuristen verteidigten künstlerischen Rechte vom März 1923: „Vittorio Veneto [der italienische Sieg im Oktober 1918] und der Aufstieg des Faschismus zur Macht stellen die Verwirklichung des futuristischen Minimalprogramms dar (das Maximalprogramm ist noch nicht erreicht), welches vor etwa 14 Jahren von einer Gruppe kühner, junger Männer ins Leben gerufen wurde […]. Dieses Minimalprogramm verfocht den italienischen Stolz, das unendliche Vertrauen in die Zukunft der Italiener, die Vernichtung des österreichisch-ungarischen Imperiums, den alltäglichen Heroismus, die Liebe zur Gefahr, die Rehabilitierung der Gewalt als entscheidendes Argument, die Verherrlichung 163
Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, S. 649. Ebd., S. 573f. Siehe hierzu: Wolf Gorch Zachriat: Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001, S. 174f. 165 Libero Altomare u.a.: I Poeti Futuristi. Con una proclama di F.T. Marinetti e uno studio sul verso libero die Paolo Buzzi, Mailand 1912 zit. nach Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 264f., S. 265. 166 Marinetti: Fondazione e Manifesto del Futurismo, S. 14. 164
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des Krieges als einzige Hygiene der Welt, die Religion der Geschwindigkeit, des Neuen, des Optimismus und der Originalität, die Zukunft der Jugend an der Macht gegen den parlamentarischen, bürokratischen, akademischen und pessimistischen Geist. […] Der Futurismus ist eine rein künstlerische und ideologische Bewegung. In die politischen Kämpfe greift sie nur in den Stunden der Not der Nation ein. […] Wir Futuristen, die wir das heutige große Italien verkündeten und von langer Hand vorbereiteten, freuen uns, im noch nicht vierzigjährigen Regierungspräsidenten einen herrlichen futuristischen Geist zu begrüßen. […] Mit dem Faschismus hat Mussolini Italien verjüngt. Es ist Seine Aufgabe, uns bei der Erneuerung des künstlerischen Feldes zu helfen, wo weiterhin unselige Männer und Dinge Bestand haben. Die politische Revolution muss die künstlerische Revolution unterstützen, das heißt den Futurismus und alle Avantgarden.“167
Spätestens nachdem Mussolini und seine PNF die Macht errungen hatten, war der Futurismus gezwungen, sich auf die Kunst und auf das futuristischfaschistische Minimalprogramm zu beschränken. Die „italienische Revolution“ sollte ohne ihre Väter und Propheten, D’Annunzio und Marinetti, stattfinden. Die Entfremdung des Futurismus vom Faschismus hatte nach dem kläglichen Ergebnis der faschistisch-futuristischen Liste in Mailand bei den Novemberwahlen des Jahres 1919, auf der auch Marinetti aufgestellt war, ihren Lauf genommen.168 Die Trennung erfolgte dann nach dem Mailänder faschistischen Kongress vom 23. bis 25. Mai 1920.169 Die politische Praxis hatte die Futuristen zermürbt und ihre Ideen hatten sich als zu avantgardistisch und praxisfern erwiesen. Ihr totalitärer Traum einer „italienischen Revolution“ scheiterte nicht zuletzt an dem ihm innewohnenden radikalen antibürgerlichen Moment. Mussolini erwies sich da als wesentlich realistischer und „kompromissbereiter“. Der politische Futurismus suchte jenen aus dem Geist des Krieges, aus dem combattentismo hervorgehenden nationalistischen Gruppen und Bewegungen, den Arditi, der Associazione Nazionale Combattenti (ANC), der Veteranenbewegung also, den Fiumanern und diversen „modernistischen Nationalisten“ seinen Stempel aufzudrücken.170 Der Krieg stellte für diese aus ihm hervorgegangenen Bewegungen den zentralen Bezugspunkt dar und einte sie. Er war für sie Auftakt einer nationalen Revolution, welche die alte, bürger167
Filippo T. Marinetti: I diritti artistici propugnati dai futuristi italiani. Manifesto al Governo fascista, in: TIF, [Or. 1924], S. 562–569, S. 562ff. Vgl. hierzu wie auch zum Folgenden: Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, insbes. S. 95–113. 169 Für Marinetti selbst war der Austritt aus den Fasci di Combattimento allerdings bereits vor dem Kongress klar. In seinem Tagebucheintrag vom 20.5.1919 hielt er fest: „Ich denke an die Notwendigkeit, gemeinsam mit Carli und Nannetti mit folgender Erklärung aus den Fasci di Combattimento auszutreten: Da wir sehen, dass sich die Divergenzen zwischen uns und den Fasci di Combattimento verstärken, und zwar hinsichtlich 1. der aktiven Sympathie, welche die ehrlichen, ökonomischen Streiks verdienen 2. das antimonarchische Vorurteil, welches für uns unverzichtbar ist 3. der ungenügende Antiklerikalismus der Fasci di Combattimento, reichen wir unsere Demissionen vom Zentralkomitee und als Mitglieder der Fasci di Combattimento ein.“ Marinetti: Eintrag vom 20.5.1919, in: Taccuini 1915– 1921, S. 486. 170 Vgl. Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 126f. sowie ders.: The Origins of Fascist Ideology, insbes. S. 86–103. 168
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liche, als dekadent und morsch wahrgenommene Ordnung, die den errungenen Sieg zu verraten drohte, endgültig hinwegfegen sollte. An ihre Stelle sollte eine in der gereinigten, wiedergeborenen, vitalen, kriegerischen Nation gründende neue Ordnung treten. Doch nicht nur die Konturen dieser Nation waren undeutlich, auch der bis zu deren endgültiger Erneuerung zu beschreitende Weg führte über viele Gabelungen. Die Rolle der Kirche und der konservativen Eliten, der Stellenwert der nationalen Vergangenheit und der Monarchie, die Ausrichtung der Wirtschaft und das Verhältnis zu den ehemaligen Alliierten, an diesen und weiteren Scheidewegen trennten sich die einstigen Mitstreiter oder marschierten gemeinsam weiter. Was Mussolini gegenüber den Künstlerführern D’Annunzio und Marinetti auszeichnete und schlussendlich zum Erfolg der zur Partei gewordenen faschistischen Bewegung führte, war zum einen die Fähigkeit, die Basis der Bewegung zu erweitern und die (bürgerlichen) Massen in das Programm nationaler Erneuerung zu integrieren. Zum anderen führte seine Bereitschaft, sich um der Macht willen selbst mit politischen Gegnern zu arrangieren, zum Erfolg. Während Marinetti, D’Annunzio und ihre „idealistischen“ Anhänger politische Kompromisse und Taktiererei als Verrat an der erträumten nationalen Revolution deuteten,171 schufen Mussolini, die Schwarzhemden und die PNF Fakten, die mittelfristig Italien tatsächlich revolutionieren sollten. Die radikalen, utopischen und erneuerungswütigen Revolutionäre verachteten Mussolinis Pragmatismus oder Realismus, den sie als Opportunismus diffamierten. So schrieb der Verfechter des „Arditofuturismus“ Emilio Settimelli in seinem am 18. Juni 1920 im Giornale di Milano veröffentlichten „Bekenntnis eines ehemaligen Sympathisanten des Faschismus“: „Uns modernen Künstlern reicht das Kunstwerk nicht. Wir wollen die gesamte Mentalität der Nation erneuern. Mit dem fiumanischen Unternehmen und dem faschistischen Wahlkampf schien es, als formte sich jene Koalition von neuen Italienern, die das nationale Leben gründlich verjüngen sollten. Wir waren zwar wenige, dafür aber eine Auslese. Wir konnten etwas ganz Großes erreichen. Aber die Realität sagte uns, es sei zu früh. Der Sieg der Sozialisten in den Novemberwahlen isolierte D’Annunzio und ließ den Faschismus im Sinne der Konservativen und Priester einknicken. Aufgrund dieses strategischen Einknickens, welches das mächtige Hirn unseres großen Freundes MUSSOLINI ZU RECHTFERTIGEN SUCHT, SIND MARINETTI UND CARLI AUS DEN FASCI AUSGETRETEN. Der schöne Traum der Erneuerung erleidet Schiffbruch.“172
Während also die kompromisslosen Künstlerpolitiker den Verrat an der nationalen Erneuerung beklagten und sich aus der konkreten Politik zurückzogen, verfolgte Mussolini eine erfolgversprechendere Strategie, in deren Folge 171
Marinettis Ablehnung des passatistischen D’Annunzio war im Laufe des Krieges einer Anerkennung dessen „futuristischen Lebens“ gewichen. So hieß es in einem Tagebucheintrag aus dem Juli 1918, D’Annunzio sei zwar „passatistisch langweilig anachronistisch, wenn er schreibt oder redet, aber futuristisch im Leben und ein bewundernswerter italienischer Soldat.“ Marinetti: Eintrag vom 11.7.1918, in: Taccuini, S. 280. 172 Emilio Settimelli: Confessione di un ex simpattizzante del fascismo, in: Giornale di Milano vom 18.6.1920 zit. nach: Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 112.
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er die Macht errang und in Italien eine Einparteiendiktatur der PNF errichtete. Im Kern war die Strategie einfach, sie bestand darin, die Macht zu erringen. Und so erklärte Mussolini einen Monat vor dem Marsch auf Rom bei einer Rede in Udine: „Unser Programm ist einfach: wir wollen Italien regieren.“173 Im Verlauf des Jahres 1920 setzte sich Mussolinis „politische Ordnung“ gegen D’Annunzios und Marinettis „lyrische Ordnung“ durch.174 Zahlreiche Vertreter der im März 1919 an der Mailänder Piazza San Sepolcro versammelten Gruppen, der Arditi, der Syndikalisten, Anarchisten, Interventisten und eben Futuristen mussten ihren Anspruch auf die Definition des Faschismus aufgeben. Dieser verwandelte sich allmählich und entledigte sich jeglicher „demokratischer“ und „libertärer“ Elemente, die ihm, wie das fiumanische Abenteuer offenbarte, noch innegewohnt hatten.175 Der Faschismus wandte sich nun stärker nach „rechts“.176 Der antibürgerliche Gestus und der palingenetische Nationalismus, die er mit den Vertretern der „lyrischen Ordnung“ gemein hatte, wurde nun um den konkreteren, und das heißt, von dezidiert sozialen und ökonomischen Interessen motivierten Kampf gegen die siegreich aus der Novemberwahl 1919 hervorgegangenen Sozialisten ergänzt.177 Nicht zuletzt aufgrund von deren Antikriegshaltung waren auch die Futuristen Gegner der Sozialisten gewesen. Zwar liebäugelten einige Futuristen zeitweise auch mit der proletarischen Revolution, doch sie trauten den proletarischen Massen ebenso wenig wie dem Bürgertum zu, Italien wirklich zu erneuern.178 Es war nicht zuletzt das elitäre Bewusstsein der Futuristen, ihr Selbstverständnis als Avantgarde, welches sie in der politischen Praxis scheitern ließ. Vor allem aber verhinderte ihre radikale Verachtung des Passatismus und somit der konservativen Eliten jegliche Allianz mit diesen. Verhalfen sie ihm zur Macht, hatte Mussolini hingegen keine Scheu, ein solches Bündnis einzugehen. Als Mussolini sodann infolge des zwischen Italien und Jugoslawien am 12. November geschlossen Rapallo-Vertrages und trotz seiner Solidaritätsbekundungen für D’Annunzio und seine Abenteurer versäumte, sich auf die Seite der im Natale di Sangue, der „Blutweihnacht“ 1920 aus der Hafenstadt vertriebenen fiumanischen Revolutionäre zu stellen, war der Bruch vorerst komplett.179 173
Benito Mussolini: Opera Omnia, Bd. XVIII, S. 416 zit. nach Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 271. 174 Siehe hierzu Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 153f. 175 Zum libertären Charakter des fiumanischen Abenteuers siehe: Salaris: Alla festa della rivoluzione. 176 Zur „Rechtswende“ des italienischen Faschismus siehe: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 155–211 sowie ders.: Storia del partito fascista, S. 60–162. 177 Siehe hierzu: Robert O. Paxton: The Anatomy of Fascism, London 2005 [repr.], S. 60. 178 Vgl. hierzu Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 118–122. 179 Gentile: „La nostra sfida alle stelle“, S. 124.
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Der zunächst insbesondere in der Po-Ebene ausgefochtene blutige Kampf der faschistischen squadre gegen die Sozialisten veränderte die Zusammensetzung der Bewegung selbst und erweiterte den Kreis derjenigen, die mit ihr sympathisierten oder sie zumindest für nützlich hielten.180 Nicht nur in den Augen der italienischen Linken, sondern selbst nach Meinung der frühen, „idealistischen“ Faschisten, waren die Schwarzhemden nun zu Agenten der Großgrundbesitzer mutiert. Diese Einschätzung des Faschismus als Instrument des Kapitals, die über den Zusammenbruch des Ostblocks hinaus Gültigkeit beanspruchte, verdeckt die sich wandelnden Machtverhältnisse zwischen „Herr“ und „Knecht“ und verkennt Mussolinis Pragmatismus und Willen zur Macht. Ex post scheint es, als sei der Faschismus in jenes machtpolitische Vakuum hineingestoßen, das die liberale Regierung hinterlassen hatte und das die Sozialisten nicht zu füllen vermochten. Entgegen der Urteile der frühen, vornehmlich antibourgeoisen, faschistischen Revolutionäre handelte es sich dabei nicht um einen Verrat an der Vision einer nationalen Wiedergeburt, sondern um deren Grundvoraussetzung in der Praxis. Im Gegensatz sowohl zu Marinetti, D’Annunzio und ihren Anhängern als auch zu zahlreichen seiner Interpreten scheint es, als sei Mussolini selbst kein Idealist oder Essentialist gewesen. Der Weg zur Macht und zur Verwandlung des italienischen Staates und der italienischen Nation verlief für ihn über diverse taktische Etappen, widersprüchliche Stationen und „kompromittierende“ Umwege. Diese verschlungenen Pfade führten jedoch insofern zum Erfolg, als sie dem Faschismus eine vielfältige Massenanhängerschaft verschafften. Diese Massenanhängerschaft war in sich pluralistisch und verfolgte unterschiedliche, teils sich widersprechende Einzelinteressen. Um aber unter den Bedingungen der Massengesellschaft das unverrückbare, absolut gesetzte, primäre Ziel zu erreichen, die Errichtung einer alternativen, die transzendentale Obdachlosigkeit überwindenden, gemeinschaftsstiftenden Ordnung, die in einer geeinten, größeren und erneuerten Nation gründete, war es notwendig, mannigfachen Interessen einen Resonanzboden zu verleihen. Der Faschismus musste so vieldeutig sein und so viele Gesichter haben wie seine Anhänger. Auch hier wäre der bereits zitierte Ausspruch Hans Franks in gewandelter Form anzubringen, dass „es […] grundsätzlich so viele […] [Faschismen gab] als es […] [Faschisten] gab.“181 In diesem scheinbar widersprüchlichen Verhältnis von Einheit und Vielheit liegt auch ein weiterer Zusammenhang zwischen dem Faschismus und dem mythischen Denken. Während das wissenschaftliche Denken auf dem ausschließenden Gegensatz von wahr und falsch beruht und nur eine Wahrheit gelten lassen kann oder konnte, vermag das mythische Denken, mehrere „Wahrheiten“ zuzulassen. Ihm entspricht nicht die Wahrheit eines logisch 180 181
Siehe hierzu: Mann: Fascists, S. 100–137. Frank: Im Angesicht des Galgens, S. 176.
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gültigen Satzes, sondern jene vieldeutige Wahrheit des Kunstwerks.182 Der Mythos ist trotz seiner unterschiedlichen Varianten, die beim jeweiligen Erzählen entstehen, identisch und lässt stets diverse Deutungen seitens der Hörer zu. Gerade dadurch, dass der Mythos vielgestaltig und vieldeutig ist, vermag er zu vereinen. Gleich dem Symbol dient auch der Mythos, wie LéviStrauss gezeigt hat, eben der Harmonisierung oder Vermittlung des Widerspruchs. Solange der Widerspruch besteht, bedarf es des Mythos.183 Überträgt man diese Funktion des Mythos wiederum auf das der Moderne zugrundeliegende Paradox, also auf den Widerspruch zwischen dem Ordnung auflösenden und Ordnung herbeisehnenden Geist der Moderne, so wird ersichtlich, warum es des Mythos bedurfte, nämlich um sich mit dem Paradox zu arrangieren oder es symbolisch zu überwinden. Die Vieldeutigkeit des Faschismus, die von seiner Zusammensetzung aus zahlreichen einander übergreifenden, durch Familienähnlichkeiten zusammengehaltenen Fasern herrührte, war die Voraussetzung seines Erfolgs in der Massengesellschaft und zugleich die Ursache seiner Schwäche.184 Während es Hitler nicht zuletzt in der „Nacht der langen Messer“ gelang, sich der zur Erringung der Macht benötigten Weggenossen zu entledigen oder sie durch seine anschließenden „Erfolge“ zum Schweigen zu bringen, vermochte Mussolini dies nicht. Sein totalitärer Anspruch, die faschistische Vision einer anthropologischen Revolution, stieß nicht nur an der Realität und an der teils politischen, vor allem aber unpolitischen Widerständigkeit der Bevölkerung an seine Grenzen. In der PNF selbst, in der Armee und dem Staatsapparat sowie dem König begegneten Mussolini stets diverse sich der Verwirklichung seines totalitären Anspruchs widersetzende Kräfte. Sowohl die monarchischen und konservativen Eliten als auch seine innerparteilichen Widersacher beschränkten Mussolinis Macht bis sie ihn 1943 gar absetzten. Als Mussolini und die PNF in den auf die Matteotti-Krise folgenden Jahren 1925 bis 1928 ihre Macht konsolidierten, fügte sich der Großteil der Futuristen den herrschenden Verhältnissen. D’Annunzio und Marinetti mussten trotz ihres Glaubens, die besseren, radikaleren Führer zu sein, erkennen, dass Mussolini den Machtkampf gewonnen hatte. Von da an buhlten sie, trotz innerer Ablehnung, um sein Wohlwollen. Doch das faschistische Regime, das inszenierte „faschistische Spektakel“185 und der „Liktorenkult“186 gründeten in 182
Siehe hierzu Gadamer: Mythos und Vernunft, S. 168. Dort heißt es: „Dass im Mythos eine eigene Wahrheit vernehmlich wird, verlangt freilich die Anerkennung der Wahrheit von Erkenntnisweisen, die außerhalb der Wissenschaft liegen. Sie dürfen nicht in die Unverbindlichkeit bloßer Phantasiegestaltungen abgedrängt bleiben. Dass der Welterfahrung der Kunst eine eigene Verbindlichkeit zukommt und dass diese Verbindlichkeit der künstlerischen Wahrheit der mythischen Erfahrung gleicht, zeigt sich in ihrer strukturellen Gemeinsamkeit.“ 183 Siehe Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 253. 184 Siehe hierzu: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 192. 185 Siehe Falasca-Zamponi: The Fascist Spectacle. 186 Siehe Gentile: Il culto del littorio.
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dem von D’Annunzio und den Futuristen geschaffenen künstlerischen Stil der Politik. Sie fußten auf der von ihnen betriebenen Eroberung des öffentlichen Raums, auf der Ästhetisierung und Sakralisierung der Politik, wie sie von ihnen initiiert wurde und auf ihren Entwurf einer „lyrischen Ordnung“.187 Jene hier behandelten und den palingenetischen Mythos strukturierenden Topoi, die aus dem Krieg hervorgingen und deren deutlichste und artikulierteste Verkünder D’Annunzio, Marinetti und die Futuristen gewesen waren, lagen dem Faschismus zugrunde. Allerdings sind D’Annunzio und Marinetti ebenso wenig wie Mussolini als autonome, historische Akteure, „große Männer“ oder geniale Schöpfer von Realitäten zu verstehen. Vielmehr waren sie prominente Sprachrohre oder diskursive Hegemonen, die den sich ereignenden Wandel zur Sprache und somit zur Wirklichkeit brachten. Sie verfügten zwar über eine erhebliche Definitionsmacht, aber auch sie machten die Geschichte „nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“188 Sie verliehen einer weit verbreiteten Sehnsucht nach Ordnung und dem Bedürfnis nach einem Sinn des Krieges und einem stabilen Nomos eine Stimme, die aufgrund ihrer Macht innerhalb des jeweiligen Feldes auch Gehör fand. D’Annunzio, Marinetti, aber auch Mussolini bewegten sich gewandter in jenem durch die stete Aktualisierung der Sprache und der Regeln des Alltags sowie durch die Objektivierungen des Denkens hervorgebrachten symbolischen Netzwerk. Die von ihnen verwendeten Deutungsmuster, Metaphern und Topoi, die von ihnen propagierten Narrative bildeten Verknüpfungen zwischen den Begriffen oder Konzepten, die, indem sie wiederum von anderen Akteuren aufgenommen wurden, zu einer Ordnung der Wirklichkeit wurden, die es erlaubte, des „Weltenrisses“ Herr zu werden. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden, die von den prominenten Sprechern in der symbolischen Landschaft begangenen Pfade wurden von anderen vor ihnen und nach ihnen immer wieder betreten, bis ein Weg durch das Labyrinth der Wirklichkeit entstand. Der palingenetische Mythos war ein solcher Weg durch das Labyrinth. Er verlieh dem Krieg einen tieferen Sinn und stillte die Sehnsucht nach Ordnung der Zeit und der Gemeinschaft. Er einte zudem die lyrische und die politische Ordnung. D’Annunzios und Marinettis lyrische Ordnung erwies sich zwar als zu realitätsfremd und machtfern, um den Staat zu erobern, aber Mussolinis „politische Ordnung“ war ihrerseits auf die lyrische Ordnung angewiesen. Sie griff auf sie zurück und ergänzte sie. Wenn auch die ökonomischen und sozialen Interessen sowie die blutigen Gewalttaten Mussolini und der PNF zur Macht verhalfen, lässt sich der Faschismus nicht darauf reduzieren. Denn die Inte187 Zur lyrischen versus der politischen Ordnung siehe: Gentile: The Origins of Fascist Ideology, S. 134–154 u. ders.: „La nostra sfida alle stelle“, S. 95. 188 Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 97.
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ressen und die Gewalt, die profanen und alltäglichen Motivationen der Einzelnen und der Kollektive bedurften der Einbettung in einen Bedeutungs- und Sinnhorizont, der ihnen eine weihevolle Legitimation verlieh. Der blutige Kampf gegen die Sozialisten, gegen die streikenden Arbeiter und Tagelöhner sowie gegen die ethnischen Minderheiten an der Grenze im Nordosten Italiens wurde mit einem Sinn versehen.189 Durch die Einbettung der Motive und Interessen in die „lyrische Ordnung“ wurde aus der Besitzstandbewahrung der Großgrundbesitzer ein nationales Interesse, aus der Furcht vor dem Machtverlust die Notwendigkeit zur Verteidigung der Nation, aus dem Ringen gegen den internationalen Statusverlust eine heilige Pflicht gegenüber den Gefallenen und so weiter. Es wäre falsch, diese Einbettung von Interessen in einen Sinnhorizont als instrumentellen Vorgang zur Manipulation der willfährigen Massen zu verstehen. Vielmehr handelte es sich um eine in der Praxis untrennbare Einheit von Sinn und Interesse. Ist doch Letzteres stets in einem symbolischen Netzwerk eingebunden und Ersteres stets von Nöten, Trieben und Zwängen motiviert. Der Erfolg der Bewegung und das Selbstverständnis des Regimes gründeten auf dessen Wahrnehmung als eine Antwort auf die Sehnsucht zahlreicher Zeitgenossen nach Gemeinschaft, nach Eindeutigkeit, nach Transzendenz, nach einem stabilen Nomos und nach einer anderen, ewigen Ordnung und Moderne. Diesen Sinn, diesen Mythos musste der Faschismus in der Gesellschaft kundtun und für seine Ausbreitung sorgen. Wenn auch Marinetti selbst gleich D’Annunzio nicht mehr auf der dezidiert politischen Bühne auftrat, so zielte der künstlerische Futurismus weiterhin auf die Erneuerung des Menschen und der Nation durch Kunst. Für die Verwirklichung des futuristischen Maximalprogramms, von dem in dem Manifest Die von den italienischen Futuristen verteidigten künstlerischen Rechte aus dem März 1923 die Rede war, war Marinetti auf das Wohlwollen Mussolinis angewiesen. Die Futuristen bedurften, wie es dort hieß, seiner Hilfe, um die Erneuerung Italiens im Bereich der Kunst durchzuführen.190 Zwar erfüllte Mussolini nie Marinettis Wunsch, den Futurismus zur offiziellen Kunst des Regimes zu erklären, widersprach dies doch der Praxis des ästhetischen Pluralismus, der ein auf das künstlerische Feld übertragenes divide et impera darstellte.191 Allerdings wurden die futuristischen Künstler vom Regime unterstützt, und der Futurismus genoss auf allen nationalen wie internationalen Ausstellungen eine herausgehobene Stellung.192 Während also die Nähe zwischen politischem Futurismus und Faschismus niemals größer war als in den 189
Für eine Bilanz der Gewalt siehe: Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 53–81. Marinetti: I diritti artistici propugnati dai futuristi italiani, S. 563f. 191 Siehe Stone: The Patron State, S. 61–94 u. insbes. S. 69f. sowie Emily Braun: Sironi in Context, in: Roger Griffin (Hrsg.): Fascism. Critical Concepts in Political Science. Bd. 3. Fascism and Culture, London u.a. 2004, S. 225–248, S. 226. 192 Vgl. hierzu Härmänaa: Un patriota che sfidò la decadenza, S. 15f. sowie Stone: The Patron State, S. 51f. 190
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auf den Weltkrieg folgenden beiden Jahren, in denen die Futuristen als politische Bewegung agierten und ein dezidiert politisches Programm im Verbund mit ihrem künstlerischen Vorhaben propagierten,193 so war die Nähe von Faschismus und futuristischer Kunst niemals größer, als während der aero-Phase des zweiten Futurismus. Seit dem Erscheinen des Manifests der Aeropittura im September 1929194 und spätestens seit dem ersten Transatlantikflug Balbos suchten Futuristen mittels der Aeropittura, der Flugmalerei also, das „neue aviatische Bewusstsein“195 der faschistischen Gesellschaft zu formen.196 Doch nicht nur die Aeropittura sollte die faschistische aerovita fördern. Die Futuristen versuchten auch mittels der aeropoesia, der aeroscultura, der aeroarchitettura, der aeromusica, der aerodanza, und dem aeropranzo, der aviatischen Speisen also, sowie weiteren „aeroplanischen“ Künsten den faschistischen Menschen zu formen.197 1929 veröffentlichten Marinetti und Fedele Azari zudem den Primo dizionario aereo italiano, das Erste italienische aviatische Wörterbuch. Dieses verfolgte das Ziel der Errichtung einer „absoluten italianità aller Vokabeln“.198 Darüber hinaus diente das Wörterbuch „der Verbalisierung der bereits existierenden aviatischen Sensibilität“. Es handle sich, so betonten die Autoren, nicht nur um das erste italienische Wörterbuch dieser Art, sondern „um das erste aviatische Wörterbuch, das in der Welt zu einer Zeit erscheint, in der die Ära des Fluges beginnt und eine für die neuen Generationen charakteristische aviatische Sprache ersteht.“ 193
Siehe Gentile: „La nostra sfida alle stelle“. Das Manifest der Aeropittura wurde in der Turiner Gazzetta del Popolo am 22.9.1929 sowie auf Französisch in der Pariser Comoedia am 14.2.1931 publiziert. Zudem erschien es erneut in Artecrazia, dem Supplement der Zeitschrift Futurismo, im Juli 1932 sowie erneut auf Französisch in Stile Futurista im August 1934. Unterzeichnet war es von Giacomo Balla, Benedetta (Cappa Marinetti), Fortunato Depero, Gerardo Dottori, Fillia (Luigi Colombo), Filippo Tommaso Marinetti, Enrico Pampolini, Mino Somenzi und Tato (Guglielmo Sansoni). Siehe hierzu: TIF, S. CXXXIII. 195 Der faschistische Journalist Paolo Orano konstatierte in seiner 1941 veröffentlichten Biographie Italo Balbos, dass dieser Italien eine „nuova coscienza aviatoria“, also ein „neues aviatisches Bewusstsein“ gegeben habe. Siehe hierzu: Paolo Orano: Balbo, Rom 1940, S. 11. 196 Zur Aeropittura siehe: Susanne von Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus in Italien von 1922–1943, Frankfurt/M. 1979, S. 140–189. 197 Der britische Romanist John Dickie hat in seiner jüngst erschienenen Kulturgeschichte des italienischen Essens die Speisenfolge eines solchen futuristischen aeropranzo in der von dem Futuristen Fillia in Turin betriebenen Taverna del Santopalato, der Taverne des Heiligen Gaumens, geschildert. Siehe: John Dickie: Delizia! The Epic History of the Italians and their food, London 2008 [repr.], S. 270–276. Zum futuristischen Versuch, das italienische Essen zu revolutionieren, vergleiche das 1932 erschienene La cucina futurista: Filippo T. Marinetti/Fillia: Die futuristische Küche, Stuttgart 1983 [Or. 1932]. Claudia Salaris hat zahlreiche Werke dieser verschiedenen aeroplanischen oder aviatischen Künste in einer Anthologie versammelt. Siehe Claudia Salaris: aero… futurismo e mito del volo, Rom 1985. 198 Filippo T. Marinetti/Fedele Azari: Primo dizionario aereo italiano, Mailand 1929, S. 9. Dort (S. 12 u. S. 13) auch die folgenden Zitate. 194
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Wie Günter Berghaus betonte, trat seit dem Erscheinen des Manifests der Aeropittura das Präfix „aero“ immer häufiger an die Stelle des Epithetons „futuristisch“. Die futuristische Malerei wurde nun, so Günter Berghaus, „aeropittura, Futurist music aeromusica, etc., probably in an attempt to detract from the negative image Futurism possessed and to replace it with something that was more in tune with a popular fashion of the period. But aeropittura/scultura/poesia etc. was also a way for many artists to ingratiate themselves with the regime. The aero genres offered plenty of scope for the promulgation of Fascist ideology, and since the subject matter, because of its modernist connotations, found little interest amongst traditionalist or Novecento painters, it offered a unique opportunity to prove that Futurism was after all more suited to become Fascist State Art than any of the other competitors in the field.“199
In der Flugmalerei sollte die von den Futuristen anvisierte Auflösung von Raum und Zeit ihren sichtbaren Ausdruck finden. Die im Flug erreichte Geschwindigkeit und die vom Flieger als Standpunkt in der Unendlichkeit wahrgenommene Sicht auf die Welt ermöglichten die Schöpfung einer neuen Wirklichkeit ohne Raum und Zeit, die von einer „außerirdischen plastischen Spiritualität“ begleitet wird.200 Verstanden auch die wenigsten Betrachter der Aeropittura die hochtrabenden ästhetisch-philosophischen Vorstellungen, welche die Futuristen als Konsequenzen aus der Flugperspektive, aus dem gewissermaßen nunmehr göttlich gewordenen Blick auf die Welt ableiteten, so vermochten sie doch, die primäre oder natürliche Bedeutungsschicht der Flugmalerei zu verstehen. Im Flugmotiv wurden all jene Topoi, welche die Futuristen von Anbeginn an fasziniert und welche sie in ihrer Kunst kundgetan hatten, nochmals verdichtet. Der Kult der Maschine, der Virilität und des Übermenschen fanden in der Aeropittura ebenso ihren deutlichen Ausdruck wie die Liebe zur Geschwindigkeit, zur Gefahr und die Verherrlichung des Krieges. Die Bilder wurden gewissermaßen zu Ikonen der „Neuen Religion-Moral der Geschwindigkeit“, die bereits 1916 im gleichnamigen Manifest verkündet worden war. Sie waren Ikonen des Kultes sofern das Verherrlichte und Verehrte in ihnen selbst präsent zu sein schien. Dieser Ikonenstatus kam ihnen umso mehr zu, als die Produkte der Aeropittura qua geförderter Staatskunst in zahlreichen öffentlichen Gebäuden, in den neuen „Tempeln“ des Faschismus ihre ursprüngliche, auratische Rolle erhielten.201 Hier kam den Bildern die Funktion eines Statthalters, eines Repräsentanten zu. Sie vermittelten zwischen dem Betrachter
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Berghaus: Futurism and Politics, S. 247. Siehe Balla u.a.: Manifesto della aeropittura, S. 198ff. Vgl. hierzu: Asendorf: Super Constellation, S. 120. 201 Zu den faschistischen Tempeln oder den „Tempeln des Glaubens“ siehe Gentile: Il culto del littorio, S. 175–232. Dort (S. 181 zit. nach ders.: The Sacralization of Politics, S. 105) heißt es: „As in the great periods of the church, artists were called on to illustrate and glorify the myths of the Fascist religion.“ Siehe zudem: Ders.: Fascismo di pietra, Rom 2007. 200
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und dem Verehrten, zwischen dem Volk und dem Staat oder der Nation.202 Diese sakrale Bedeutung der Aeropittura betonten auch Marinetti und Fillia in dem erstmals im Juni 1931 in der Gazzetta del Popolo veröffentlichten Manifesto dell’arte sacra futurista, dem Manifest der futuristischen sakralen Kunst. Punkt zwei und drei des Manifests lauteten: „2. Allein die futuristischen Flugmaler, Meister der aviatischen Perspektive und gewohnt, im Flug aus der Höhe zu malen, können die Faszination des Abgrunds und die seligen Transparenzen der Unendlichkeit plastisch ausdrücken. Den traditionellen Malern, die alle mehr oder weniger zwanghaft an den Realismus gebunden sind, alle zwangsläufig terrestrisch und daher auch unfähig sind, sich zu einer mystischen Abstraktion emporzuheben, ist dies hingegen verwehrt. 3. Allein die futuristischen Flugmaler vermögen es, auf der Leinwand das vielförmige und schnelle Flugleben der Engel und der Erscheinung der Heiligen singen zu lassen.“203
Doch wie konnte sich die Aeropittura etablieren? Auf das im Manifest der Aeropittura als erstes Werk der Aeropittura genannte Gemälde Fedele Azaris, Prospettive di volo, das 1926 auf der Biennale von Venedig gezeigt wurde, folgte bereits 1929 ein öffentlicher Auftrag für Gerardo Dottori. Dottori schuf für die Halle des Flughafens von Ostia ein Aeropittura-Wandgemälde, welches das Publikum und die Kritiker, so das Manifest der Aeropittura, davon überzeugt hätte, „dass die traditionellen, gemalten Adler, die weit davon entfernt sind, die Luftfahrt zu glorifizieren, heute wie armselige Hühner wirken gegenüber der glühenden, mechanischen Pracht eines fliegenden Motors, der es sicherlich ablehnte, jene zu braten.“204 Sowohl die öffentlichen Aufträge als auch die Präsenz auf den nationalen wie internationalen Ausstellungen nahmen jedenfalls zu. Wie Susanne von Falkenhausen festhielt, hatte „keines der bisherigen Themen der Futuristen, mit denen sie versucht hatten, ihrem Verständnis der ‚era fascista‘ Ausdruck zu geben, […] derart prompte Erfolge zu verzeichnen“.205 Marinetti, der es seit über 20 Jahren vermochte, Aufmerksamkeit auf sich und die Futuristen zu lenken, spielte gekonnt auf der Klaviatur des faschistischen Patronagesystems und betrieb eine offensichtlich erfolgreiche „Öffentlichkeitsarbeit“.206 Doch der Erfolg gründete eindeutig auch im Sujet der Aeropittura und dessen Nexus zum Faschismus. Marinetti wurde nie müde, diese Verbindung zu be202
Zur sakralen Funktion der Ikone siehe: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. Filippo T. Marinetti/Fillia: Manifesto dell’arte sacra futurista, in: TIF, [Or. 1931], S. 201–205, S. 202f. 204 Balla u.a.: Manifesto della aeropittura, S. 198. 205 Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus, S. 149. Dort heißt es auch: „In der Einleitung des Katalogs der futuristischen Ausstellung in Mailand 1929, in der Marinetti die Bedeutung der Aeropittura und ihrer thematischen Möglichkeiten für eine wahrhaft faschistische, d.h. neue, virile und aggressive Kunst ausmalt, wird deutlich, dass die Aeropittura von nun an davon geprägt sein wird, ein Angebot der Futuristen an das Regime zu sein.“ 206 Siehe hierzu Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus, insbes. S. 311f. sowie Stone: The Patron State, S. 51f. 203
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tonen und sie selbstverständlich um den Futurismus zu erweitern. So hieß es in einem in L’Ala d’Italia abgedruckten Interview mit Marinetti zu Aeropittura e aviazione, also zur Flugmalerei und der Aviatik: „die Aeropittura ist eine rein italienische Bewegung, die ihre Ursprünge in demselben Geist hat, welcher der wunderbaren faschistischen Fliegerei das Leben schenkte: ein revolutionärer, aggressiver, inbrünstigster Geist. […] Die Aeropittura wurde im Morgengrauen des Faschismus von den ersten Futuristen erahnt, deren Dichtung, Skulptur, Malerei ihr Verlangen zum Ausdruck brachte, sich von der Erde loszulösen und eine erste Ästhetik des Fluges und des aviatischen Lebens zu realisieren.“207
Die beste Gelegenheit, dieser engen Verbindung von Faschismus, Futurismus und Aviatik Ausdruck zu verleihen, boten den Futuristen Italo Balbos Massenflüge. Balbo, der sich von Ferrara aus nicht nur in der Po-Ebene einen Namen als gewalttätiger Squadristenführer gemacht hatte, war seit dem November 1926 Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium und wurde von Mussolini im September 1929 zum Luftfahrtminister ernannt.208 Der 1896 geborene Balbo war selbst ein Symbol des faschistischen Aufbruchs und der neuen jugendlichen, virilen, kampfeswilligen Zeit. Diesen Geist suchte er auf die Regia Aeronautica, die Königliche Luftwaffe, zu übertragen, und so verkündete Balbo am 23. März 1928 vor der Abgeordnetenkammer: „Im vergangenen Jahr wurde der Fascio Littorio auf jeder Maschine angebracht. Dieses Jahr ist jedem Flieger, der dazu berechtigt ist, erlaubt worden, sich mit dem Band des Marschs auf Rom zu schmücken, und der Gruß der Flieger ohne Kopfbedeckung ist, anstatt der unbeholfenen und lächerlichen Verneigung, die sich auszubreiten begann, der römische Gruß. Ich bin stolz darauf zu verkünden, dass der kriegerische Geist unserer Flieger dasselbe ist wie ihre faschistische Seele.“209
Das faschistische Regime war darum bemüht, aus der von ihm 1923 als eigenständige Streitkraft etablierten Luftwaffe eine wahrhaft faschistische Streitkraft zu bauen. Zum einen diente diese Faschisierung der Luftwaffe als Hebel gegen die Marine und das Heer und die dort tonangebenden konservativen Eliten. Zum anderen aber zielte die Konstituierung der Luftwaffe als arma fascistissima, also als „faschistischste Streitkraft“, auf den Propagandaeffekt dieser Gleichsetzung von Faschismus und Luftwaffe im In- und Ausland.210 Die modernste und zukunftweisendste Streitkraft war, so der 207
Anonymus: Aeropittura e aviazione, in: L’Ala d’Italia, November 1937, S. 44–45, S. 45. Zur Biographie Italo Balbos siehe: Giorgio Rochat: Italo Balbo. Lo squadrista, l’aviatore, il gerarca, Turin 2003 sowie Claudio G. Segrè: Italo Balbo. A Fascist Life, Berkeley, CA u.a. 1987. 209 Italo Balbo: L’aeronautica italiana. Realizzazioni e proposti. Discorso pronunciato alla Camera dei deputati sul „Bilancio dell’aeronautica“ il 23 Marzo 1928, Rom 1928, S. 58. 210 Zum Zwiespalt zwischen Realität und Propaganda siehe den Beitrag des an der italienischen Luftfahrtakademie lehrenden Militärhistorikers Gregory Alegi: Gregory Alegi: „L’arma fascistissima“: il falso mito dell’Aeronautica come preferita del regime, in: Massimo Ferrari: Le ali del Ventennio. L’aviazione italiana dal 1923 al 1945. Bilanci storiografici e prospettive di giudizio, Mailand 2005, S. 111–154 sowie Giorgio Rochat: Italo Balbo. Aviatore e ministro dell’aeronautica 1926–1933, Ferrara 1979, S. 69–75. 208
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Tenor der Propaganda, faschistisch. Im Umkehrschluss galt dies eben auch für den Faschismus. Dieses Bestreben des Faschismus, sich mittels der Aviatik zu präsentieren und den aviatischen „Geist“ mit der „faschistischen Seele“ gleichzusetzen, generierte auch einen eigenständigen Typus des auf Aviatik spezialisierten Journalisten; seine Vertreter nannte man sehr geistreich le penne di Icaro, also „Ikarus’ Federn“.211 Die Botschaft der Identität von Aviatik und Faschismus verbreiteten sie in unzähligen und doch immergleichen Varianten über die expandierenden massenkulturellen Kanäle, die das Regime selbst teilweise dazu schuf und ihnen zur Verfügung stellte.212 Zu „Ikarus’ Federn“ gehörte auch Luigi Contini, der 1933 das Buch La signoria degli stormi, Die Herrschaft der Stürme veröffentlichte. Dort hieß es: „Es ist wahr, weil Faschismus und Luftfahrt Indikatoren des Willens, der Macht und der totalen Herrschaft sind. Die Luftfahrt ist nicht nur Ausdruck einer materiellen Macht. Es ist gesagt worden, die Luftwaffe sei die faschistische Waffe par excellence, aber eben auf geistig-moralischer Ebene, wie auch das vom Faschismus ersonnene Imperium nicht nur ein territorialer Ausdruck ist […]. Wie der Faschismus ist die sich entwickelnde Luftwaffe ein Zeichen der Vitalität. Wer sich nicht ausbreitet, wer anhält, ergibt sich und verfällt. Die Luftfahrt ist die Waffe, die sich am meisten mit der Rasse identifiziert, die aus einem langen Schlaf erwacht, aus einer trägen Verwahrlosung, wie auch der Faschismus jene Doktrin ist, die am angemessensten unsere Neigungen, unser Streben, unseren Eifer, unser Bewusstsein repräsentiert.“213
Die Verbindung zwischen Faschismus, der Regia Aeronautica und der Aviatik im Allgemeinen vertiefte Balbo durch seine vier Massenflüge und deren multimediale propagandistische Ausschlachtung.214 Gerade die Tatsache, dass es sich hierbei um Massenflüge, also um kollektive, wenn auch unter der 211
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Massimo Ferrari: La stampa aeronautica italiana in epoca fascista, in: Ders. (Hrsg.): Le ali del Ventennio, S. 31–110. 212 Nebst der bezeichnenden Pagina dell’Aviazione in Mussolinis Il Popolo d’Italia dienten insbesondere folgende Zeitschriften der Popularisierung des Nexus von Faschismus und Aviatik: Die schon öfters zitierte L’Ala d’Italia sowie die etwas kostengünstigere und wöchentlich erscheinende Le Vie dell’Aria, die ebenfalls illustrierte Ali di Guerra sowie die offizielle Zeitschrift der Regia Aeronautica, die Rivista Aeronautica. Schließlich gab es noch die Schulkindern und Jugendlichen zugedachte Zeitschrift L’Aquilone. 213 Luigi Contini: La signoria degli stormi, Mailand 1933, S. 274 zit. nach: Alegi: „L’arma fascistissima“, S. 113f. 214 Die multimediale Propagandaschlacht fand auf allen verfügbaren Kanälen statt. Nicht nur das Pressebüro des Luftfahrtministeriums, sondern der daraus hervorgegangene Verlag, die 1932 gegründete Editoriale Aeronautica, schlachtete die Massenflüge in ihren Zeitschriften, unter anderem in L’Ala d’Italia, aus. Vielmehr wurde darüber in allen Tageszeitungen, im Rundfunk und in den Wochenschauen berichtet und zahlreiche Plakate kündeten von den Erfolgen. Gedenkmedaillen wurden geprägt und Modelle der Flugzeuge verkauft. Die Futuristen thematisierten die Flüge in ihrer Aeropittura und der Crociera del Decennale kam, wie noch gezeigt werden wird, in der Esposizione dell’Aeronautica italiana ein zentraler Stellenwert zu. Zudem veröffentlichte Balbo selbst zu den Flügen Reiseberichte bei den angesehenen Verlagen Treves und Mondadori. Siehe: Italo Balbo: Da Roma a Odessa. Sui cieli dell’Egeo e del Mar Nero, Mailand 1929; ders.: Stormi in volo sull’oceano, Mailand 1931; ders.: Stormi d’Italia sul mondo, Mailand 1934; ders.: La centuria alata, Mailand 1934.
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Führung eines herausragenden „Helden“ vollbrachte, Leistungen und eben nicht um individuelle Taten handelte, verstärkte und betonte deren faschistischen ergo gemeinschaftlichen Charakter.215 So verkündete Balbo in jener bereits zitierten Rede vor der Abgeordnetenkammer: „Daher glaube ich, dass die Wettbewerbe des Mutes, des Willens und der Fertigkeit unserer Flieger heute neuer Ziele bedürfen. Nicht so sehr die individuellen Unternehmen, sondern die kollektiven Luftfahrten mehrerer Staffeln mit nicht weniger als 80 Flugzeugen, die dazu bestimmt sind, gemeinsam zu fliegen, bereichern unser Flugpersonal nicht nur um die wertvollen Erfahrungen des Fluges, des fernen Klimas und der fernen Länder, sondern um die notwendige Praxis für den Massenflug. Die geschlossenen Jagdformationen sowie die geschlossenen Aufklärungs- und Bombergruppen, der kollektive Flug im Allgemeinen sind eine vorzügliche Schule der Führung, der Disziplin und formen den Charakter der Männer auch durch die Gefahr, die sie darstellen.“216
Am ersten im Geiste Douhets, dem Visionär der großen Luftflotten und -schlachten, durchgeführten Massenflug Balbos nahmen 60 Flugzeuge teil, die zwischen dem 25. Mai und dem 2. Juni 1928 in sechs Etappen von Orbetello über die Balearen, der spanischen und der südfranzösischen Küste entlang zurück in den Heimathafen flogen.217 Der zweite Massenflug, der ein Jahr später, vom 5. bis 19. Juni 1929, stattfand, führte die 41 beteiligten Flugzeuge 4.700 Kilometer von Orbetello über Griechenland, die Türkei, Bulgarien, Rumänien in die Sowjetunion nach Odessa. Der Flug diente nicht allein der Veranschaulichung der faschistischen Moderne daheim wie im Ausland, sondern auch der Werbung für die italienische Technik. Der bolschewistische Feind bestellte 30 Savoia Marchetti S.55 Wasserflugzeuge. Die größte Popularität und den meisten Erfolg bescherten Balbo allerdings die beiden Atlantiküberquerungen 1930/31 und 1933.218 Am 17. Dezember 1930 brachen 14 Flugzeuge mit Balbo an der Spitze Richtung Rio de Janeiro auf, wo 11 Flugzeuge nach 10 400 km am 15. Januar 1931 angelangten. Trotz des Verlustes von drei Maschinen und fünf Männern war der Flug ein großer Erfolg und Mussolini gratulierte Balbo mit folgenden Worten: „Dank der Vorbereitung, des Mutes, der Technik einer Faust voll kühner Männer, Söhne des neuen Italiens, geht Italiens Schwinge und mit ihr das Regime größer aus dem Beginn des Jahres IX hervor.“219 215
Siehe hierzu: Isnenghi: L’Italia del fascio, S. 233–251. Balbo: L’aeronautica italiana, S. 55. Zu Balbos Massenflügen siehe: Rochat: Italo Balbo. Lo squadrista, l’aviatore, il gerarca, S. 126–135; Segrè: Italo Balbo, S. 191–265 sowie Wohl: The Spectacle of Flight, S. 69–78 u. S. 88–102. Die Angaben zur Anzahl der an den Massenflügen beteiligten Flugzeuge schwanken: Wohl nennt wie Segrè für den ersten Mittelmeer-Reiseflug 61 Flugzeuge, während Rochat 60 zählt. Auch beim zweiten Mittelmeerflug gibt es Schwankungen. Hier werden Rochats Angaben wiedergegeben. 218 Die zweite Atlantiküberquerung, die Crociera aerea del decennale, wird im folgenden Abschnitt gesondert behandelt. 219 Mussolini an General Balbo am 15.1.1930 zit. nach: Ministero dell’aeronautica (Hrsg.): L’Aviazione negli scritti e nella parola del Duce, Rom 1937, S. 144. 216 217
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Abb. 12 Giacomo Ballas Balbo e i transvolatori von 1931 und Tullio Cralis Incuneandosi nell’ abitato (In tuffo sulla città) von 1939.
Auch den Futuristen bot Balbos südatlantisches Abenteuer Anlass zu Lob wie auch zur Selbstvermarktung als faschistische Kunst. Daher wurde die Prima mostra di aeropittura, die Erste Aeropittura-Ausstellung, die im Februar 1931 in Rom statt fand, zu einer Hommage an die Transvolatori, die [Ozean-] Überflieger.220 Giacomo Balla, der bereits das Technische Manifest der futuristischen Malerei aus dem Jahre 1910 unterzeichnet hatte, lieferte Balbos Unternehmung das Sujet für sein auf jener Ausstellung gezeigtes Bild Balbo e i transvolatori italiani, Balbo und die italianischen [Ozean]Überflieger. Entgegen dem Manifest der Aeropittura bestimmt nicht der Blick aus dem Flugzeug auf die Erde das Bild. Dennoch steht die dynamische Bewegung des Flugzeuges und des Faschismus im Zentrum der Darstellung. Die Symbolik von Ballas Bild war eindeutig: Die sich prismatisch entfaltende Aufwärtsbewegung der Flugzeuge war Ausdruck der faschistischen Dynamik und des italienischen Aufstiegs, den der Transatlantikflug verdeutlicht hatte. Balbo und seine Schar von Auserlesenen waren die faschistischen Neuen Menschen, die bekannte Grenzen überstiegen, Kühnes wagten und gleich einem neuen Kolumbus im doppelten Sinne in eine neue Welt aufbrachen. Die Relevanz des Themas bestätigte der Artikel L’aeropittura, nuova espressione italiana d’arte, Aeropittura, neuer italienischer Ausdruck der Kunst im 220
Siehe Salaris: aero…, S. 19. Dort befindet sich eine Abbildung des Katalogs zur ersten futuristischen Aeropittura-Ausstellung 1931.
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Corriere Padano vom 2. Februar 1931. „Die Fliegerei“, heißt es dort, sei „der herausragendste Ausdruck unserer Zeit.“221 Als die Kunstpolitik des Faschismus im Zuge des Bündnisses mit dem nationalsozialistischen Deutschland nach 1936 auf größere Distanz zum künstlerischen Modernismus ging, sicherte den Futuristen die „faschistische Thematik“ der Aeropittura, so Susanne von Falkenhausen, sogar einen wachsenden Ausstellungsanteil.222 Ja, wie Marla Susan Stone konstatiert, wurde die Aeropittura nun, während der Kriege in Äthiopien, Spanien und auf dem europäischen Schauplatz zum genuinen Medium des faschistischen Kampfes und der faschistischen „Siege“.223 Typisch für die Aeropittura in der Funktion als faschistische Staatskunst waren also auch die späteren Werke, die realistischer in ihrer Darstellung und eindeutiger in ihrer propagandistischen Aussage nun den faschistischen Krieger ins Bild setzten. Zu einer medialen Ikone dieser Verherrlichung des neuen Maschinenkriegers ist Tullio Cralis Gemälde Incuneandosi nell’abitato (In tuffo sulla città), Im Sturz auf die Stadt (Sich pfeilgleich auf die Ortschaft stürzend), von 1939 geworden. Die Perspektive des Malers und jene des Fliegers waren in diesem Gemälde, wie vom Manifest der Aeropittura gefordert, ineinander verschmolzen. Crali visualisierte den Sturzflug auf die Stadt aus der Flugzeugkanzel heraus und ruft damit unweigerlich die Bilder der Bombardements der Sturzkampfflugzeuge und somit die Konnotationen von Tod und Zerstörung wach. 1939 sollte das Bild als Feier des Krieges und des wiedergeborenen, größeren, nunmehr wieder zum Imperium gewordenen Italiens und als künstlerisches Sinnbild der Virilität und Vitalität des Regimes sowie des Kampfgeistes und Mutes des Neuen faschistischen Menschen verstanden werden. Im April 1939 druckte man in L’Ala d’Italia unter Cralis Bild das Volare betitelte Gedicht des Futuristen Luciano Folgore ab. Das Gedicht Folgores, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu den Futuristen gestoßen war, als er noch den sehr unfuturistischen Namen Omero Vecchi trug, verknüpfte das Bild erneut mit jenen Topoi des Lebens, des Aufbruchs, der Zukunft und des Transzendenten, die Gegenstand dieses Kapitels gewesen sind: „Sich vom irdischen Gewicht / der Gewohnheiten befreit fühlen. Aufsteigen / das Gefängnis der Welt hinter sich lassend / und das gesamte Sein befreien / von Leiden und Mühen / und alltäglicher Sklaverei. / Im vollen Himmel. Das Leben / nimmt die Farbe der Sonne an, / die Frische des Taus, / den tiefgreifenden Rhythmus des Gesangs. / Die Bläue dringt ein / in die Sinne und in den Geist, löst / den trüben Staub / jeglicher Todesangst auf, / macht überall Frühling / damit das menschliche Wesen / nur Keim und Hoffnung sei / sie erfüllt den Instinkt und die Gedanken / mit einer nie zu erschöpfenden Sehnsucht / von Licht, Erhabenheit, Raum. / Volare. / Die Maschine lebt / vibriert, wird zum Flügel / des Menschen, der sie führt, / ihr Atem hat den gleichen Takt / wie unser Atem, / und ihre warme 221 Mino Lakatos: L’aeropittura, nuova espressione italiana d’arte – I futuristi in onore dei transvolatori atlantici, in: Corriere Padano vom 8.2.1931 zit. nach: Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus, S. 154. 222 Falkenhausen: Der Zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus, S. 156. 223 Stone: The Patron State, S. 51f.
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Musik / hat den Rhythmus / unseres schnellen Blutes. / Volare. / Das Holz, das Metall, das Fleisch, / der Wille, die Kühnheit / haben die Schwerelosigkeit des Windes. / Wer erinnert sich noch an das Sterben? / Niemand. In dieser Trunkenheit des Fluges / ist die Zeit allein Zukunft.“224
Volare, das Fliegen, war während des Faschismus zum Synonym für den Aufbruch in eine andere Zukunft und in eine ewige Ordnung geworden. Der Flieger repräsentierte das über sich Hinauswachsen des Menschen sowie sein Streben zur Unsterblichkeit, seine Sehnsucht nach dem Transzendenten und Ewigen, das die Nation verkörperte. Der den Tod verachtende und die Gefahr liebende, sich für die Wiedergeburt der Nation opfernde, heroische Flieger, der die Maschine zur Erweiterung seiner Fähigkeiten nutzte, war das Sinnbild des Neuen faschistischen Menschen. Dieses metaphorische Verhältnis zwischen Faschismus und Aviatik brachte der Journalist Nello Quilici, den Balbo zu seiner „journalistischen Pentarchie“ zählte und der gemeinsam mit Balbo im Juni 1940 über Tobruk den Tod finden sollte, in seinem 1934 veröffentlichten Buch Aviatoria zum Ausdruck:225 „Man kann nicht Faschist sein, ohne sich ein wenig wie ein Flieger zu fühlen; man kann nicht Flieger sein, ohne sich Faschist zu fühlen. […] Die Missachtung des Todes, der Rausch des Neuen, die Herrschaft über den Raum, die Möglichkeit, sich schnell einen unvergänglichen Ruhm zu schaffen, und vor allem das Bewusstsein, einer großen Sache zu dienen, indem man sich einer Disziplin anvertraut, welche die individuellen Kräfte nicht absterben lässt, ja, im Gegenteil dazu einlädt, sie bis an die Grenze der Aufopferung auszunutzen, das ist die erhabene Aussicht, die sich der willigen Jugend auftut, die nach dem Reich der Adler strebt. Was sonst lehrte der Faschismus? Was sonst will sie verwirklichen – gegen die furchtbare Banalität des 19. Jahrhunderts und dessen Wahnideen sozialer Nivellierung, und seinem in demokratischen Formeln zum Ausdruck gebrachten Neid – die Generation von Vittorio Veneto?“226
Von dieser Synonymie oder diesem Verweisungsverhältnis zwischen Faschismus und Aviatik zeugt auch das 1935 veröffentlichte Buch Aviatori des luccheser Futuristen Cristoforo Mercati alias Krimer. Gleich zu Beginn des Buches, unter der Überschrift „Der Duce ist geflogen, fliegt und wird in jenem Bereich, der sich ergibt, fliegen“, nannte Krimer die „Flügel der Trikolore“ die „Quintessenz unserer faschistischen Zeit“. Und weiter heißt es: „Der im wunderbaren Opfer unzähliger Helden gründende fruchtbare Same hat im Geist der neuen Generation ein fruchtbares Feld gefunden. Der Italiener von heute ist sich des Mottos wunderbarerweise bewusst: ‚Wagen heißt siegen‘. Und er wird siegen. Wie er schon immer gesiegt hat. […] Der ikarische Instinkt, der menschliche Fluginstinkt […] hat sich in keinem Geschlecht so gründlich, mit so viel Kraft und Leidenschaft ausgebreitet wie in unserem. Der Wille des römischen Adlers, der auf der ganzen Erde dem gleichmä224
Luciano Folgore: Volare, in: L’Ala d’Italia 20/1939, vom 1.–15.4.1939, S. 63. Zur „journalistischen Pentarchie“ siehe: Isnenghi: L’Italia del fascio, S. 237. Zum Verhältnis zwischen Italo Balbo und Nello Quilici, der ebenfalls ein Faschist der ersten Stunde war, siehe: Ferrari: La stampa aeronautica italiana in epoca fascista, S. 97 sowie Segrè: Italo Balbo, S. 75 u. S. 136. 226 Nello Quilici: Aviatoria, Neapel 1934, S. 274f. zit. nach Isnenghi: L’Italia del fascio, S. 236. 225
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ßigen Marsch der Legionäre vorausging, scheint in unseren jungen Stürmen wiedergeboren zu werden. Er ist nicht mehr die Standarte von Fußtruppen, er geht unseren adlergleichen Eroberern anspornend voraus. […] Es gibt heute ein Italien das seinen Bauch pflegen will, das sein Haupt neigt, das verrohen will, das sich im Gehege weiden will. Aber es gibt auch ein Italien, das nach oben blickt, das in die Ferne zielt, das auf die Winde der Weite lauscht, das die spurlosen Wege liebt und die zufluchtsortlose Fremde. […] Es gab Zeiten, da gaben wir der ganzen Welt Piloten und Kapitäne. Heute können wir der ganzen Welt Flügel geben und das Fliegen lehren.“227
Die aviatische Metaphorik, die auch im Falle Krimers auf D’Annunzio zurückging, vermochte, die Vision eines anderen Italiens und das Bild des vom Faschismus eingeleiteten Aufstieges und Aufbruchs in eine andere Ordnung zu veranschaulichen und zu konkretisieren. Der Flieger galt als Antipode des bürgerlichen Italieners, ob Liberaler oder Sozialist. Während „die Roten“, so Guido Mattioli in Mussolini aviatore, „von der Schwinge und der Arbeit für die Herstellung von Flugzeugen nichts wissen wollten“ und der Liberale satt, bequem und ängstlich war, war der neue, faschistische Italiener ganz vom „ikarischen Instinkt“ beseelt. Der Flieger-Faschist war ein opferbereiter Abenteurer, ein kühner, tapferer, kampfeswilliger und als solcher ein viriler, beflügelter Kolumbus. Das sicherte ihm die Bewunderung der Jugend, so die L’Ala d’Italia in einem Artikel I bimbi, le ali e il domani, Die Kinder, die Flügel und das Morgen, vom Juli 1931: „Die Kinder Italiens, die jungen Schüler grüßen sie [die Beherrscher der Himmelswege] mit jener tiefen und warmen Anerkennung kleiner Italiener, die im Himmel die Auferstehung betrachten, wie wir Kämpfer in ihm früher unerschrocken den Tod schauten. Sie grüßen in ihnen jenen Geist Italiens, groß, frei, gerecht, aufrecht, der eine unvermeidliche Entfremdung von der herkömmlichen Vergangenheit hervorruft, von dem üblichen Ruhm, von den üblichen Kunstschätzen: eine Vergangenheit, die sie, Sprösslinge einer Rasse, welche die Zukunft der Vergangenheit vorzieht, nur schätzen, sofern sie die möglichen Leistungen und zukünftigen Schicksale einer Nation betreffen.“228
Allein eine Vergangenheit, die für die Zukunft, für die Nation von Nutzen war, sollte die Jugend verehren. Diese Vergangenheit sollte herangezogen und erneuert werden, um eine neue Welt zu erschaffen. Das war der antihistoristische, monumentalische und mythische Geist, der dem Faschismus zugrunde lag. Und so heißt es in einem zum zwanzigjährigen Jubiläum der Fasci di Combattimento erschienenen Artikel in L’Ala d’Italia: „Der Faschismus hat eine neue Welt erschaffen. Mussolini hat eine neue Ära der Geschichte hervorgerufen. […] Es ist eine altertümliche, erneuerte Rasse, die sich dem Alter der Welt entgegenstellt, es ist ein neuer Glaube, der sich gegen die Gewohnheiten, gegen hinfällige Überzeugungen und Ideologien erhebt: Es ist ein neues Schicksal. Die Vorsicht der Sesselfurzer, die Müdigkeit der ‚Europäer‘, die ehrfurchtsvolle Sentimentalität, die verhasste, vergiftete, falsche Sentimentalität der Bürger der ganzen Welt schlägt gegen die ‚Welt‘, die Mussolini in diesen zwanzig Jahren erschaffen hat. Der Faschismus zielt gerade und ohne Rast, sondert die Schwachen, die Unfähigen, die Luschen aus, ist sich gewiss, das 227
Krimer: Aviatori, Florenz 1935, S. 5ff. Anonymus: I bimbi, le ali e il domani, in: L’Ala d’Italia 10/1931 vom Juli 1931, S. 519– 520, S. 520. 228
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von ihm gesetzte Ziel zu erreichen. Die Fliegerei steht an der Spitze dieser neuen Macht. Die italienischen Flieger sind nicht nur aus Glauben, sondern auch aufgrund ihres Temperaments Faschisten: sie sind Antibourgeoise, sie sind Antieuropäer, sie sind Kämpfer aus Temperament und aus Tradition. […] Die vom Flieger Mussolini geschaffene Luftwaffe ist das perfekte Geschöpf des Faschismus geworden.“229
Im Gegensatz zum Liberalen war der Flieger-Faschist zudem bereit, sein Ich unterzuordnen und dem Kollektiv zu opfern. So schrieb Attilio Longoni, der im Weltkrieg selbst Flieger gewesen war, 1919 zum Generalsekretär des Mailänder Fascio ernannt wurde und Redakteur beim Il Popolo d’Italia sowie Gründer der L’Ala d’Italia war, in seinem 1931 erschienenen Fascismo ed aviazione. Gli aviatori nella rivoluzione fascista, Faschismus und Aviatik. Die Flieger in der faschistischen Revolution:230 „Opfer, Glaube und Leidenschaft von den wenigen Gerechten erbracht für die vielen an den krankhaften aus dem Osten und dem Westen importierten Theorien, aus Apathie, aus Misstrauen Erblindeten. In der Unterwerfung des eigenen Ichs für die kollektiven Interessen und das kollektive Heil besteht die Verherrlichung der Rasse, das Vertrauen in das gewisse Werden und die unausbleiblichen Schicksale des Vaterlandes.“231
Das Flugzeug und der Flieger waren ein technoides Totem der faschistischen Ordnung. Dieses Totem zog als zentrales Kollektivsymbol, wie es bei HansGeorg Soeffner heißt, „das Widersprüchliche zur Einheit, das Ungleichzeitige zum Simultanen, das Nebeneinander zu einer Gestalt zusammen.“ Das Widersprüchliche des Faschismus, das Paradoxe der Moderne wurden im Fliegertotem vereinigt: „Diese Struktur nutzend, repräsentieren zentrale Kollektivsymbole einen Mythos, in dem alle Details lebensweltlicher Erfahrung zu ganzheitlicher, höherer Bedeutsamkeit zusammengebunden, der Zufall ausgerottet und jedes Einzelphänomen zur Chiffre der Macht und Wirksamkeit eben dieses Mythos verzaubert werden.“232 Die Medien dieses Mythos waren vielfältig, sie reichten, wie deutlich geworden ist, von den hochkulturellen Werken einer künstlerischen Avantgarde wie den Futuristen bis zu deren Popularisierung in einer Zeitschrift wie der L’Ala d’Italia, von den Schriften und Reden eines D’Annunzio bis zu den plakativen Sinnsprüchen, die den Menschen auf den Straßen, in den öffentlichen Gebäuden, bei den Riten der Masse und in der „Liturgie des ‚harmonischen Kollektivs‘“ begegneten.233 Der palingenetische Mythos einer wieder auferstandenen oder neugeborenen Nation wurde mittels der multimedialen
229
Anonymus: Ventennale, in: L’Ala d’Italia 20/1939 vom 15–31.3.1939, S. 3. Zu Attilio Longoni und dem Mailänder Fascio siehe: Gentile: Storia del partito fascista, S. 26ff. 231 Attilio Longoni: Fascismo ed aviazione. Gli aviatori nella rivoluzione fascista, Mailand 1931², S. 12. 232 Soeffner: Der fliegende Maulwurf, S. 133f. 233 Zur „Liturgie des ‚harmonischen Kollektivs‘“ und zu den Riten der Masse siehe: Gentile: Il culto del littorio, S. 139–174. 230
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Ausschlachtung von Italo Balbos erfolgreichen Massenflügen234 ebenso verbreitet wie über die wachsende Zahl an Filmen, welche die Fliegerei thematisierten.235 Infolge der faschistischen Kodierung des Flugzeuges und des Fliegers wurden diese als Totem zu Medien des Mythos und zu Motoren der politischen Praxis. Wie Emilio Gentile feststellte: „Myths were potent and indispensable engines of political action. A new state and civilization were founded and survived through myths that had become the collective faith of the masses. […] Within Fascist culture, myths were not a form of thinking confined to an archaic world or to the primitive mind, but a structured form of human thought, expressed primarily in artistic creation and religious movements, but just as relevant in the world of politics. […] Ways of visualizing and dramatizing myths, symbols, and rituals were necessary to make the mythology of the ‚Fascist religion‘ accessible to the masses and to convert them to the new faith.“236
Um den Massen die „faschistische Religion“ zugänglich zu machen und sie zu dem neuen Glauben zu bekehren, bediente sich der Faschismus, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, auch der großen, offiziellen Ausstellungen, an denen auch die Futuristen mitwirkten.237 Der Mythos wurde in diesen Ausstellungen zu einem für die Massen begehbaren und öffentlichen Erlebnis. Wie auch schon in der Mostra della rivoluzione fascista, der Ausstellung der faschistischen Revolution des Jahres 1932 wurde der Mythos in der Esposizione dell’Aeronautica italiana, der Italienischen Luftfahrtausstellung konkret und mit Objekten belebt. Nicht zuletzt die ausgestellten, faschistischen Reliquien erzeugten die gewünschten Gemeinschafts- und Transzendenzerfahrungen. Wurden doch die in der Ausstellung präsentierten Wimpel, Medaillen, Maschinengewehre, Wracks, Flugzeuge und vieles Ähnliches mehr zu heiligen Objekten, und, worauf schon Roland Barthes im Falle der D.S./ Déesse aufmerksam machte, zu den „beste[n] Bote[n] der Übernatur.“238
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Zu Balbos Massenflügen und deren propagandistischer Verbreitung unter anderem durch den in Balbos Ministerium angesiedelten Verlag Editoriale Aeronautica, dessen Erzeugnisse auch in eigens gebauten Kiosken verkauft wurden, siehe: Ferrari: La stampa aeronautica italiana in epoca fascista; Isnenghi: L’Italia del fascio, S. 233–251; Rochat: Italo Balbo. Lo squadrista, l’aviatore, il gerarca, S. 126–139; Segrè: Italo Balbo. A Fascist Life, S. 191–265 sowie Wohl: The Spectacle of Flight, S. 86–102. 235 Zu den italienischen Filmen, welche die Fliegerei behandelten, und den zahlreichen Dokumentaraufnahmen des Istituto Luce, die ebenfalls von der Aeropittura beeinflusst waren, siehe: Raffaele De Berti: Lo sguardo dall’alto. Percorsi incrociati tra cinema e aeropittura, in: Annamaria Andreoli/Giovanni Caprara/Elena Fontanella (Hrsg.): Volare! Futurismo, aviomania, tecnica e cultura italiana del volo 1903–1940, Rom 2003, S. 175– 180. 236 Gentile: Il culto del littorio, S. 145ff., zit. nach ders.: The Sacralization of Politics, S. 83ff. 237 Vgl. hierzu Stone: The Patron State, S. 18. 238 Barthes: Mythen des Alltags, S. 76. Siehe hierzu auch: Gottfried Korff: Vom Verlangen, Bedeutungen zu sehen, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 81– 103, S. 95.
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d. Die Ausstellung des Mythos L’Esposizione dell’Aeronautica italiana Im Juni 1934 strömte das Publikum in die neueröffneten Hallen des Mailänder Palazzo dell’arte. Bis Januar 1935 beherbergte der Neubau des Architekten Giovanni Muzio, in dem seit 1933 die Triennale stattfand, die Esposizione dell’Aeronautica italiana (EAI). Die Schau war all den Leistungen „des Geistes, des Heroismus und der Arbeit der Italiener“ gewidmet, „die zur Lösung der Probleme des Fluges, zum Vollbringen erinnerungswürdiger Taten im Krieg und im Frieden und zum Bau und zur Nutzung eines Verkehrsmittels beigetragen hatten, dem das Schicksal eine wachsende Entfaltung vorbehalten hat.“239 Laut einem in L’Ala d’Italia, jener von Balbos Luftfahrtministerium herausgegebenen Zeitschrift, veröffentlichten Artikel von Francesco Cutry, einem der Organisatoren der Ausstellung, hatten in ungefähr einem halben Jahr über eine Million Italiener die Ausstellung besucht. Auf den zwei Ebenen des neuerrichteten Monumentalbaus sei es ihnen möglich gewesen, „die Geschichte der italienischen Adler und das großartige Gedicht der herausragenden menschlichen Eroberung wiederzuleben.“240 Den Künstlern und Kuratoren sei es gelungen, eine Atmosphäre zu schaffen, „in der das Objekt beseelt und wiederbelebt wurde.“ Er habe, so Cutry weiter, „den kleinen Jungen, die Frau aus dem Volk, die große Dame, den Jugendlichen, den Alten vor der Schwinge des Krieges im gleichen Gefühl der tiefen Verehrung und der Freude, Italiener zu sein, vereint gesehen.“ Nachdem der Duce eine Verlängerung der Ausstellung verordnet hatte, „damit der Wunsch ungezählter Italiener, diese Wallfahrt der Liebe zu unternehmen, sich habe erfüllen können“, schließe die Ausstellung nun. Auf eine Anordnung des Duce hin, arbeite man allerdings bereits daran, einen Bau zu errichten, welcher die Ausstellung dauerhaft beherbergen solle. Die Idee für die Ausstellung stammte von Marcello Visconti di Modrone, dem Mailänder podestà (der faschistische Statthalter), der wiederum Oberst Francesco Cutry, den Verfasser des Artikels, von der Historischen Abteilung des Luftfahrtministeriums, Carlo A. Felice und den Architekten Giuseppe Pagano mit der Organisation der Ausstellung betraute. Die Ausstellungsmacher gewannen einige der renommiertesten Architekten und Designer des italienischen Modernismus für die Ausstellung, darunter auch den einstweiligen Futuristen Mario Sironi.241 Sironi war, so Emily Braun, der am engsten 239 Fondazione Bernocchi/Palazzo dell’arte Milano (Hrsg.): Esposizione dell’Aeronautica italiana. Giugno – Ottobre 1934–XII, Catalogo Ufficiale, Mailand 1934, S. 17. Im Folgenden als Katalog der Esposizione dell’Aeronautica italiana (KEAI) zitiert. 240 Francesco Cutry: Bilancio morale dell’esposizione azzura, in: L’Ala d’Italia, Januar 1935, S. 14–16, S. 16. Dort (S. 15f.) auch die folgenden Zitate. 241 Siehe Antonella Russo: Il fascismo in mostra. Storia fotografica della società Italiana, Rom 1999 sowie Jeffrey T. Schnapp: ‚Mostre‘, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930–1945, Berlin 2007, S. 78–87.
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mit Mussolini und dem Regime verbundene Künstler, dies nicht zuletzt aufgrund seiner Tätigkeit als Karikaturist für Il Popolo d’Italia: „In both high and popular art forms, Sironi transformed the spirit of modernist nationalism into striking visual images, mythic narratives, and instrumental propaganda that animated the religion of the state. […] In his own words, Sironi corresponded to the Fascist ideal of a militant artist who serves a moral idea and subordinates his own individuality to the collective cause.“242 Diesem kollektiven Ziel widmete sich auch der Maler Erbeto Carboni, der die Fassade der Vorder- und Eingangsseite des Gebäudes gestaltete. Ein stilisierter fascio littorio überschattete eine Weltkarte, die von einem dynamischen, „das Primat der italienischen Schwinge“ symbolisierenden Fliegerschwarm flankiert wurde.243 Hatte der Besucher die Eingangshalle betreten, so blickte ein gewohnt resolut schauender Mussolini auf ihn herunter. Sein Porträt war in eine Collage aus einem Liktorenbündel und einem Flügel hineinmontiert worden und ging in die italienische Kokarde über. Die Unterschrift, die Mussolinis und demzufolge ganz Italiens Entschlossenheit unterstrich, lautete: „Diese Schwinge, die ihren Flug wiederaufgenommen hat, wird nicht mehr zerbrochen werden.“ Das Zitat stammte aus einer vom Duce am 6. November 1923 gehaltenen Rede. Vor den im Grand Hotel in Rom versammelten Fliegern hatte Mussolini einst verkündet: „Ich bekräftige hier, vor dieser herrlichen, herausragenden jugendlichen Versammlung, dass die Hoffnungen der italienischen Fliegerei nicht enttäuscht werden; solange ich die Stelle des Kommissars der Luftfahrt inne habe, gibt es keinen Zweifel daran, dass ich all meine Kräfte der Luftfahrt widmen werde. Ihr werdet die notwendigen Mittel haben […]. […] Den Geist werden ich, meine Regierung und das gesamte italienische Volk euch geben. Nicht alle können fliegen, es ist nicht einmal erstrebenswert, dass alle fliegen. Der Flug muss das Privileg einer Aristokratie bleiben; aber alle müssen das Verlangen haben, zu fliegen, alle müssen die Sehnsucht nach dem Fliegen haben. Diese Schwinge ist für zwei, drei Jahre vom anbetungswürdigen Himmel unseres Landes verbannt worden. Heute nimmt diese Schwinge wieder ihren Flug auf, diese Schwinge wird nicht mehr zerbrochen werden. Dafür verbürge ich mich feierlich und förmlich als Flieger und als italienisches Regierungsoberhaupt.“244
Fast acht Monate nach der organisatorischen Herauslösung der Luftstreitkräfte aus dem Heer und der Marine und der Gründung der unabhängigen Regia Aeronautica am 28. März 1923, der königlichen Luftstreitkräfte, war Mussolini anlässlich des ersten Jahrestages der „faschistischen Revolution“ eine symbolische Medaglia d’oro, die höchste italienische Militärauszeichnung,
242
Braun: Mario Sironi and Italian Modernism, S. 8f. KEAI, S. 23. Dort (S. 24f.) auch das folgende Zitat. Rede Benito Mussolinis vom 6.11.1923 zit. nach: Mattioli: Mussolini aviatore, S. 167. Siehe auch Ministero dell’aeronautica (Hrsg.): L’aviazione negli scritti e nella parola del Duce, Rom 1937, S. 69f. 243 244
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Abb. 13 Die Fassade des Palazzo dell’arte und der Eingang zur Ausstellung (1).245
als „Zeichen der Anerkennung“ verliehen worden.246 Es war nicht zuletzt auch durch diesen Gründungsakt, dass Mussolini den Nexus zwischen Faschismus und Aviatik etablierte, den auch die Ausstellung eine Dekade später zu untermauern suchte. Mussolini selbst verstand die Fliegerei wohl als Metapher für den Faschismus, für dessen Modernität im herkömmlichen Sinne sowie für die faschistische Ordnung, und er versuchte, sie in diesem Sinne zu instrumentalisieren.247 Daher sollten das Verlangen und die Sehnsucht nach dem Fliegen im gesamten Volk geweckt werden. Die EAI diente diesem Zweck, sie sollte, wie es Göring auch in Deutschland verkündet hatte, „ein Volk von Fliegern“, und das heißt ein faschistisches Volk schaffen.248 Dieses „Volk von Fliegern“ sollte von dem in der Ausstellung konkretisierten Mythos durchdrungen und vom faschistischen Aufbruch beseelt und beflügelt werden. In einem Artikel in L’Ala d’Italia, der die Bedeutung von „Luftfahrt und Kunst“ in der Ausstellung behandelte, betonte der Autor Vincenzo Constantini, dass solche „Gedenkausstellungen“ und die dort präsentierte Kunst dem Besucher erlauben, „im Geist des Ausgestellten zu leben“.249 Der Mythos 245
KEAI, S. 23. Vgl. den mit der Ziffer (1) markierten Raum auf der Abbildung 14. Die in Klammern angegebenen Ziffern beziehen sich im Folgenden auf die im Ausstellungsgrundriss angegebenen Ziffern. 246 Zur Lage der italienischen Luftstreitkräfte vor dem „Marsch auf Rom“ und zur Gründung der Regia Aeronautica siehe: Roberto Gentilli: L’aeronautica italiana nel primo dopoguerra, in: Ferrari (Hrsg.): Le ali del Ventennio, S. 13–30; John Gooch: Mussolini and his Generals. The Armed Forces and Fascist Foreign Policy 1922–1940, Cambridge u.a. 2007, S. 52–60 u. S. 92–108 sowie Rochat: Italo Balbo. Aviatore e ministro dell’aeronautica, S. 11–45. 247 Siehe hierzu Isnenghi: L’Italia del fascio, S. 233–251 sowie Alegy: „L’arma fascistissima“. 248 Siehe Hermann Göring: Der alte Fliegergeist lebt. Rede zum Abschluss des Deutschlandfluges am 24. Juni 1934, in: Erich Gritzbach (Hrsg.): Hermann Göring. Reden und Aufsätze, München 1938, S. 121–124, S. 122. 249 Vincenzo Constantini: Aviazione e arte, in: L’Ala d’Italia, Juni/Juli 1934, S. 61–65, S. 61. Dort auch die folgenden Zitate.
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wurde in den Ausstellungen, wie Constantini anhand der Mostra della rivoluzione fascista ausführte, erlebbar. Die Ausstellung zur faschistischen Revolution, die Mussolini am 28. Oktober 1932 in Rom zum zehnten Jahrestag des „Marsches auf Rom“ im Palazzo delle esposizioni eröffnete und die in den folgenden zwei Jahren von fast 4 Millionen Besuchern, also von jedem 11. Italiener, aufgesucht wurde, stellte für Constantini das „unvergessliche Beispiel“ dar, an dem sich auch die EAI würde messen lassen müssen.250 Und so hob Constantini hervor: „Die geistige Kraft dieses herausragenden historischen Augenblicks [der Revolution], die in den Wandplastiken, den architektonischen Formen sowie in den erschaffenen Räumen, in denen die Toten heilig werden und präsent scheinen, lebt, erlaubt es nicht nur, die in den Vitrinen aufgereihten Dokumente kennen zu lernen, sondern auch in dem tragischen und idealen Geist jener Revolution zu leben.“ Die Ausstellungen dienten der Erneuerung und Feier der „großen“ historischen Augenblicke. Nicht nur die Toten wurden dort heilig und wieder lebendig, auch der Besucher sollte dort die profane Zeit transzendieren und in die heilige Zeit eintreten. Ermöglicht wurde dies, so Constantini, nicht zuletzt durch die „Mächte der Kunst in diesen Ausstellungen“, „die schlussendlich interessanter sind als jene, in denen die üblichen ‚Stillleben‘ oder ‚Badende‘ aufgereiht werden. Warum? Weil die ‚Gedenkausstellungen‘ die künstlerische Vorstellungskraft in das soziale Leben einschreiben; […] Die ästhetische Kontemplation […] steigt in das aktive Leben der Nation herab, schenkt sich dem Volk, das in großen Massen herbei rennt, um jene Werke zu betrachten, die das tägliche Leben betreffen. Daher feiern diese Ausstellungen so große Erfolge.“
Gleich den öffentlichen Bauten und Feiern waren die großen Ausstellungen die Transmissionsriemen, über welche beispielsweise jene futuristischen Topoi und die d’annunzianischen Opfer- und Erlösungsnarrative von der hohen in die populäre Kultur, von den Eliten in die Breite der Gesellschaft übertragen wurden. Dabei schrieb die Ausstellung nicht nur die „künstlerischen“ sondern eben die faschistischen Vorstellungen in die Besucher ein. Sofern die Aviatik als Ausdruck der „faschistischen“ Eigenschaften und Ziele kodiert und verstanden wurde, diente deren museale Aufbereitung als Medium zur Verbreitung dieser faschistischen Ideen. Die EAI vermittelte den Aufstieg und Erfolg des Faschismus und der ihm zugrunde liegenden Ideale. Mittels einer Darstellung des italienischen Flugwesens ordnete die EAI zudem die Geschichte und die Zeit gemäß den faschistischen Vorstellungen. Wenn auch weniger vordergründig als auf der Mostra della rivoluzione fascista, so diente 250 Zur Mostra della rivoluzione fascista siehe u.a.: Claudio Fogu: The Historic Imaginary. Politics of History in Fascist Italy, Toronto u.a. 2003, S. 132–164; Gentile: Il culto del littorio, S. 189–209; Jeffrey T. Schnapp: Anno X. La Mostra della Rivoluzione fascista del 1932, Pisa 2003; ders.: Epic Demonstrations. Fascist Modernity and the 1932 Exhibition of the Fascist Revolution, in: Richard Joseph Golsan (Hrsg.): Fascism, Aesthetics, and Culture, Hanover, NH 1992, S. 1–37; Marla Susan Stone: Staging Fascism. The Exhibition of the Fascist Revolution, in: JCH 28/1993, S. 215–243.
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auch die EAI der faschistischen invention of tradition und der Verdeutlichung der nunmehr angebrochenen, heiligen Zeit.251 Das dem Faschismus eigene antihistoristische Geschichtsverständnis, wonach die Vergangenheit zu einer beliebig formbaren Masse im Dienste des Lebens wurde, kam hier ebenso zum Tragen wie das mythische Zeitverständnis. Die profane Zeit, das dekadente 19. Jahrhundert und das liberale Zeitalter, war überwunden worden. Die im Krieg dargebrachten Opfer beziehungsweise deren Geist lebte nunmehr in der heiligen Zeit eines wiedergeborenen und erneuerten Italiens weiter und ging einem glorreichen Schicksal entgegen. Die Ausstellung diente der faschistischen „monumentalischen“ Geschichtspolitik und mythischen Zeitpolitik. Das „Große“, das imaginierte Italien, das einmal war, wurde in und durch die Ausstellung erneuert und wiederbelebt. Der Besucher schritt, nachdem er Mussolinis Leitspruch passiert hatte, in ein Atrium (2), von dem aus er bereits einen Blick auf das Glanzstück der ersten Ebene der Ausstellung werfen konnte. Es war das SVA-Flugzeug der Squadra di San Marco, von dem aus Gabriele D’Annunzio am 9. August 1918 seine zynischen Flugblätter auf die österreichisch-ungarische Hauptstadt Wien abgeworfen hatte (15).252 Die von den Ausstellungsmachern durch die räumliche Inszenierung getroffene Aussage war eindeutig. Die d’annunzianische Reliquie lag am Fuße der Treppen. Der Aufstieg führte nicht allein auf die zweite Ebene der Ausstellung, sondern zum wiedergeborenen und erneuerten Italien, das der Faschismus hervorgebracht hatte. Der Ausstellungsaufbau war eindeutig teleologisch und das erneuerte Italien stellte das Telos dar. Auf der ersten Ebene wurde der Besucher durch die ereignisreichen ersten Jahrzehnte der Luftfahrt geführt, die entsprechend erweitert wurden, um bedeutende italienischen „Vorläufer“ (3) zu umfassen, so beispielsweise Leonardo da Vinci und den Erfinder Enrico Forlanini (4). Der chronologisch arrangierte Rundgang führte entlang der „ersten Flüge“ (5) zu einer Halle, die der Luftfahrt im Italienisch-Türkischen Krieg von 1911 gewidmet war (6), in dem es die Italiener gewesen waren, die Flugzeuge erstmals militärisch einsetzten. Nachdem der Besucher das „Heiligtum“ durchschritten hatte, das den 14 toten und 12 lebenden Piloten gewidmet war, welche die medaglia d’oro trugen (8), betrat er die „D’Annunzio-Halle“ (9). Im Falle Letzterer war das Wort Halle, sala, ein Euphemismus. Es ist verlockend, in dem kleinen, D’Annunzio gewidmeten Raum eine Widerspiegelung von Mussolinis Argwohn oder Eifersucht gegenüber dem einstigen Rivalen und comandante des fiumanischen Abenteuers zu sehen, der in den direkt auf den Krieg folgenden Jahren dazu prädestiniert schien, den heterogenen Haufen von Internventionisten, Irredentisten, Arditi, Futuristen, Syndikalisten, Nationalisten und Protofaschisten anzuführen. 251
Zur „invention of tradition“ siehe: Hobsbawm/Ranger (Hrsg.): The invention of tradition. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel I.2 Aufstieg des Ikarus. D’Annunzio der fliegende Mythopoet.
252
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Abb. 14 Der Ausstellungsgrundriss der Esposizione dell’Aeronautica italiana, links die erste und rechts die zweite Ebene.253
D’Annunzios Rolle in der Geschichte der italienischen Luftfahrt, sowohl seine kriegerischen Taten als auch seine zahlreichen Beiträge zur Versprachlichung und Medialisierung der Fliegerei, konnte auf der EAI nur heruntergespielt und keineswegs ausgelassen werden. Wie zu Beginn der Untersuchung verdeutlicht wurde, war D’Annunzio nicht nur der, so Michael Leeden, first Duce, er war vor allem der originäre primo pilota, der erste und führende Pilot Italiens, der gemeinsam mit den Futuristen erheblichen Anteil an der faschistischen Kodierung des Flugzeuges und des Fliegers hatte und jenen Nexus von Aviatik und dem palingenetischen Mythos maßgeblich bestimmte.254 Und so konnte auch die Ausstellung nicht umhin, so ließe sich in Anspielung auf den britischen Journalisten Sisley Huddleston behaupten, D’Annunzio als Johannes den Täufer der Auferstehung des faschistischen Italiens darzustellen.255 Ironischerweise war die „D’Annunzio-Halle“ allerdings eine Sackgasse. Der Besucher ging zurück durch das „Heiligtum“ der Träger der medaglia d’oro und schritt durch den „Waffengang“ (10), um schließlich in die „Halle der Luftfahrt im Großen Krieg“ einzutreten. Diese war von Mario Sironi ge253
KEAI, S. 8f. Siehe Leeden: The First Duce. Siehe zu Sisley Huddleston und D’Annunzio als „Johannes der Täufer“ des Faschismus: Woodhouse: Gabriele D’Annunzio, S. 3.
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staltet worden, und sie allein zeigte schon acht Flugzeuge, darunter einen riesigen Caproni-Bomber und die traurigen Überreste von Francesco Baraccas Jagdflugzeug, Italiens führendem Ass. War man anschließend durch den den Luftschiffen gewidmeten Raum geschritten, betrat man den „Luftfahrt-undFaschismus-Saal“ (13), der die Jahre 1919 bis 1922 sowie die „Fiumanische Schwinge“ umfasste und die „Taten des Faschismus für die Luftfahrt“ behandelte.256 Dieser Teil der Ausstellung verdeutlichte nochmals die von den Faschisten anvisierte zeitliche Ordnung. Der Höhepunkt des Ersten Weltkrieges wurde von einer tiefen Kluft gefolgt. Der Heroismus der italienischen Flieger und der sie beflügelnde Geist der Aufopferung führten ins Leere, weil aufgrund des mangelnden Kampfgeistes der impotenten, liberalen Regierung Italiens Schwinge brach. Es gab unter den Liberalen keine Flieger und allein die Faschisten hielten den fliegerischen Geist am Leben. So heißt es in dem Katalog der EAI: „Der Faschismus greift um sich! Er ist Ausdruck der Rebellion gegen die Schwächen und Feigheit all jener, die zu jeglicher Einigung bereit sind; […] Er ist Ausdruck eines Glaubens, der, je größer die Gefahr und je härter der Kampf, tiefer und hartnäckiger wird, der Faschismus schreibt sich in das italienische Leben ein und versammelt die Energien aller Rebellen und aller Erbauer. Mussolini, der Schöpfer dieses neuen Glaubens, die Seele, der Condottiere, der Kopf, der den Enthusiasmus und die Fieber harmonisiert und diszipliniert, begreift den Verzweiflungszustand der Luftfahrtfanatiker und den traurigen Zustand der italienischen Schwinge. Da auch Er Fanatiker ist, ermutigt er, spornt an, drängt, bestraft streng und gerecht, er ist nicht allein, wird aber dennoch von da an der umfassende Ausdruck der aviatischen Revolte, des Wiederaufbauwillens, und er fliegt, fliegt und fliegt, um Zeugnis abzulegen für einen Glauben und um den Geist der Anhänger zu elektrisieren, die zu einer großen Phalanx werden.“
Mussolini hatte viele Rollen, und man stellte ihn als Staatsmann, Revolutionär, Krieger, Römer, Bauern, Sportler, Rennfahrer und vieles mehr dar, unter anderem eben auch als Flieger und primo pilota, als erster Pilot und Lenker des Staates.257 In seinem Buch Mussolini aviatore machte Guido Mattioli deutlich, was es bedeutete, dass Mussolini ein Flieger war und warum dessen aviatischer Geist auch in der Ausstellung betont wurde: „Wer sich an die Luftfahrt heranwagt, weiß, dass er einem neuen Weg zur Erzie256
KEAI, S. 127. Dort (S. 130) auch das folgende Zitat. Zur Ikonographie des „Duce“ siehe u.a.: Simonetta Falasca-Zamponi: Mussolini’s SelfStaging, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930–1945, S. 88–95; dies.: Fascist Spectacle, S. 42–88; Jost Philipp Klenner: Mussolini und der Löwe. Aby Warburg und die Anfänge der politischen Ikonographie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 1/2007, S. 83–98 sowie Clemens Zimmerman: Das Bild Mussolinis. Dokumentarische Formungen und die Brechungen medialer Aufmerksamkeit, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 225–242. Zu Mussolini als primo pilota siehe: Gerard Silk: Il primo pilota. Mussolini, Fascist Aeronautical Symbolism and Imperial Rome, in: Claudia Lazzaro/Roger J. Crum (Hrsg.): Donatello among the Blackshirts. History and Modernity in the Visual Culture of Fascist Italy, Ithaca, NY u.a. 2005, S. 67–81. 257
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hung des Geistes entgegentritt. Daher hat Benito Mussolini so früh zu fliegen begonnen. […] Die großen Partien der Geschichte werden mit moralischem und physischem Mut gewonnen. Wer Angst hat, handelt nicht, schafft keine Fakten, erschafft nichts. Wer Angst hat, fliegt nicht, kann nicht fliegen.“258 Hierauf folgte jener bereits in der Einleitung angeführte Passus, in dem Mattioli das Lenken eines Flugzeuges mit dem Lenken des Staates gleichsetzte: „Keine Maschine bedarf, um perfekt zu funktionieren, so sehr der Konzentration des menschlichen Geistes, der menschlichen Willenskraft wie die Flugmaschine. Der Pilot weiß wirklich, was es heißt zu lenken [governare]. Daher scheint, zwischen der Aviatik und dem Faschismus ein notwendiger, inniger, geistiger Nexus zu bestehen. Jeder Flieger wäre ein geborener Faschist. Als er das erste Mal den Steuerknüppel eines Flugzeuges übernahm, muss Mussolini den Willen zu lenken körperlich erfahren haben.“
Auch diese Verknüpfung von Aviatik und Faschismus, die Lenkung eines Flugzeuges und die Regierung eines Staates, suchte die Ausstellung den Besuchern erfahrbar zu machen. Mattiolis Buch widmete diesem „innigen, geistigen Nexus“ über hundert Seiten, und die zahlreichen Darstellungen des Duce als Flieger sowie das 1939 entstandene Gemälde des Futuristen Ernesto Michaehelles alias Thayaht brachten es zum Ausdruck. In seinem Aeropittura-Gemälde von 1939, Il grande nocchiere, Der große Steuermann, visualisierte Thayaht eine Allegorie des Duce als Steuermann. Die europäischen Ketten waren von ihm gebrochen worden und die drei im Zentrum des Bildes aufsteigenden Savoia-Marchetti-Wasserflugzeuge brachen auf, wohl auch um jene durch den am oberen rechten Bildrand durch Stacheldrahtverhaue versinnbildlichte Gräben zu überwinden. Der kühne Flieger und stählerne Flugkapitän Mussolini lenkte Italien jedenfalls zu neuen Ufern. Die Faschisten suchten, nicht nur von der Popularität der Aviatik zu profitieren und sich mit deren „Modernität“ zu schmücken, die von ihnen gezogene Analogie zwischen Faschismus und Aviatik war, wie die Ausstellung am Ende der ersten Ebene nochmals verdeutlichte, tiefgreifender. Die erste Ebene der Ausstellung gipfelte in der „Halle des Ikarus“ (14), einem zweistöckigen, zylindrischen Raum, an dessen fernen Ende eine nach oben schauende und strebende Ikarus-Statue an der Wand angebracht war. Im Zentrum des Raumes stand eine sich zur Decke windende blaue Spirale. Laut
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Mattioli: Mussolini aviatore, S. 15f. Dort (S. 17) auch das folgende Zitat.
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Abb. 15 Thayahts Il grande nocchiere und der Duce als Pilot in Guido Mattiolis Mussolini aviatore.259
Katalog handelte es sich um den einzigen Raum mit symbolischem Charakter. Die Aussage dieses räumlichen Gesamtkunstwerks war unmissverständlich und wurde durch das d’annunzianische Diktum, das die Wand unterhalb der Ikarus-Statue schmückte, bestätigt: „Eine Grenze der Kräfte? Es gibt keine Grenze der Kraft. Eine Grenze des Mutes? Es gibt keine Grenze des Mutes. Eine Grenze des Leidens? Es gibt keine Grenze des Leidens. Ich verkünde, dass das nec plus ultra der frevelhafteste Fluch gegen Gott und die Menschen ist.“260 Die Kraftprotzerei war für D’Annunzio ebenso typisch wie das Zitieren des antiken Wissens, demzufolge die Warnung nec plus ultra die Säulen des Herkules zierte. Das „Nicht mehr weiter“, das an der Straße von Gibraltar angebracht gewesen war, markierte also die Grenze der bekannten Welt und warnte die Seefahrer, diese Grenze zu überschreiten.261 259
Thayaht, Il grande nocchiere. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Wolfsoniana – Fondazione regionale per la Cultura e lo Spettacolo, Genua. Die Abbildung Mussolinis zierte die Titelseite von Guido Mattiolis Buch. Mattioli: Mussolini aviatore. 260 KEAI, S. 135. Vgl. dazu die 1924 veröffentlichten, Eleonora Duse gewidmeten Memoiren Il venturiero senza ventura, die auf die Jahre 1896–1907 zurückgingen: Gabriele D’Annunzio: Le Faville del maglio. Il venturiero senza ventura e altri studii del vivere inimitabile, in: Ders.: Prose di ricerca, Bd. 1, in: PdR Bd. 1, [Or. 1924], S. 1069–1656, S. 1231. 261 Eigentlich spricht keine antike Quelle von einer solchen Inschrift auf den Säulen des Herkules. Pindar erwähnt die Säulen und stellt sie als „metaphor for restraint and prudence“ dar. Siehe: Earl Rosenthal: Plus Ultra, Non plus Ultra, and the Columnar Device of Emperor Charles V, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34/1971, S. 204– 228, S. 211.
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Abb. 16 Die zylindrische „Halle des Ikarus“.
D’Annunzio bezog sich wahrscheinlich auf den 26. Gesang von Dantes Inferno. Hier ist es Odysseus, der es wagt, dem nec plus ultra nicht Folge zu leisten, und sich über die Grenzen der bekannten Welt hinausbegibt. Dort heißt es in der Übertragung von Stefan George: „Wir alt und müd schon ich und die kumpanen / Gelangten dann zu jenem engen rachen / Wo uns die pfosten Herkules’ gemahnen / Von hier ab weiter keinen schritt zu machen. […] Ich machte für die weiterfahrt erglühen / Mit dieser kurzen rede mein geleite – / Nun hätt ich sie nur abgebracht mit mühen. / Den morgen hinter sich zur tollen weite / Beflügelten sie ihre ruder gerne / Sich immer haltend nach der linken Seite.“262 Der in der EAI implizierte Sinn von D’Annunzios Diktum war eindeutig. Nicht einmal der Himmel stellte für den Faschismus, der den ikarischen Geist der Italiener erneut geweckt hatte, eine Grenze dar. Der neue faschistische Mensch wagte sich über bekannte Grenzen hinaus und zielte stets nach Höherem, sein Motto war plus ultra. Die d’annunzianische Vision des ikarischen Übermenschen wurde auf der Ausstellung mit der futuristischen Technikbegeisterung, dem Kult der Geschwindigkeit und des Krieges zu einem erlebbaren Gesamtkunstwerk gepaart. Diesem Gesamtkunstwerk lag allerdings eine erhebliche Umdeutung 262
Dante Alighieri: Divina Commedia. Inferno, XXVI. Gesang, 106–109 u. 121–126 zit. nach: Stefan George: Dante. Die Göttliche Komödie. Übertragungen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. X/XI, Stuttgart 1988, S. 41f.
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und Umschreibung des tradierten Ikarus-Mythos zugrunde. In der faschistischen Version wurde der Sturz von Dädalus Sohn nicht als eine Folge von dessen Hybris oder Hochmut gedeutet. Vielmehr wurde Ikarus Fall als das notwendige Opfer interpretiert, in dessen Folge erst der Neue Mensch geboren werden und das erneuerte Italien entstehen konnte. Die EAI legitimierte schon von ihrem Grundriss her Leiden, Opfer und Tod, indem sie sie mit der Erneuerung der geheiligten Nation verband. Der Erste Weltkrieg bekam einen Sinn, und seine Gefallenen, die erbrachten „Brandopfer“, wurden in die Geschichte des faschistischen Aufstieges integriert und zu dessen Voraussetzung gemacht. Wer höher hinauswollte, wer über die bekannten Grenzen der Welt hinausstieß, wer die Auferstehung der Nation wünschte, musste Opfer in Kauf nehmen. Das Sichaufopfern für das Kollektiv musste zur Grundlage des Handelns werden. Wie bereits im zweiten Kapitel gezeigt worden ist, war der d’annunzianische Flieger ein Hybrid aus Ikarus und Christus. Der Aviatiker wurde durch die christliche Kodierung der Ikarus-Figur zu einem sich aufopfernden, gekreuzigten Heiland und das Flugzeug, dessen Schatten „dem Schatten des Holzes des Opfers und der Errettung ähnlich“ war, zum Kreuz der Erlösung. 263 Der Besucher schritt nun, am Ende des Rundgangs auf der ersten Ebene, an jenem Flugzeug vorbei, mit dem D’Annunzio Wien überflogen hatte. Hatte er diese als „religiöse Wirkungen erzeugender Kraftstoff“ fungierende Reliquie passiert, stieg er, die Bewegung des Flugzeuges und ganz Italiens nachahmend, die Treppen empor.264 Am Ende der Treppen, auf der zweiten Ebene lag Mussolinis Aviatik-Flugzeug (15/2), mit dem dieser Anfang März 1921 bei Arcore abgestürzt war, als er für seinen Flugschein übte. Die Wand hinter Mussolinis Flugzeug zierte folgendes Zitat des Duce: „Ich bin stolz, Flieger zu sein, ein Stolz, den ich untermauerte, indem ich zu einer Zeit flog als nur die wenigsten flogen und stürzte, weil ich mir mit 37 das Ziel setzte, Pilot zu werden, fliegend, nachdem ich gefallen war, selbstverständlich.“265 Mussolini untermauerte damit nicht nur sein Fliegersein, sondern auch seine Jugend und Zukunftsträchtigkeit sowie seinen eigenen Opfergeist. Mit Mussolinis Flugzeug, ja, mit ihm als primo pilota begann Italiens Wiedergeburt. Was nun im zweiten Stock des Palazzo dell’arte folgte war eine Geschichte bewundernswerter und ruhmreicher Taten, erstaunlicher wissenschaftlicher, technischer und sportlicher Leistungen und das heißt, die durch den Faschismus herbeigeführte Erfüllung jenes glorreichen Schicksals Italiens, welche die liberale Ordnung verhindert und der Sozialismus zu untergraben gedroht hatte. Die von der Ausstellung auf der zweiten Ebene erzählte Erfolgsgeschichte der faschistischen Moderne umfasste die erbauten Flughäfen (16), die Erforschung der Aerodynamik (17) und der Meteorologie (21), die Entwicklung 263 264 265
D’Annunzio: La fede nell’aviazione italiana, S. 737. Korff: Vom Verlangen, Bedeutungen zu sehen, S. 95. KEAI, S. 137.
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der zivilen Luftfahrt und der Luftpost (28) sowie die von Italienern erbrachten Rekorde in Flugdistanz und -geschwindigkeit (19 und 26). Auf der zweiten Ausstellungsebene spielten die Massenflüge (20) und insbesondere die Crociera del Decennale (22), der von Italo Balbo und seiner „geflügelten Zenturie“ zur Zehnjahresfeier des Bestehens der Regia Aeronautica unternommene zweite Transatlantikflug, eine gewichtige Rolle. Der erfolgreiche Massenflug des Jahres 1933, dessen Ziel die Chicagoer Weltausstellung A Century of Progress gewesen war, war für das faschistische Regime ein enormer propagandistischer Erfolg gewesen, der nun am Ende des Durchlaufs der EAI nochmals ausgeschlachtet und als bisheriger Höhepunkt der italienischen Eroberung des Luftraums dargestellt wurde. So heißt es im Katalog: „Die großen Ausstellungen werden nicht zufällig geboren. Sie sind unvermeidlich an das Ende eines Zyklus verbannt. Es ist ein einmaliges historisches Ereignis, von dem sie, auf jedem Feld, ihren Anfang nehmen. Und in der Tat ehrt die Mailänder Ausstellung im Allgemeinen die italienische Luftfahrt, ein herrlicher Organismus, der den Genius, den Heroismus und den Willen eines Geschlechts zur Höchstleistung vereint; Aber die Ausstellung konnte sich dann konkretisieren, als die Welt, dank einer unvergleichlichen Heldentat, die eindeutige Überlegenheit der Schwinge der Trikolore, der Synthese der Tugenden von Mussolinis Italien, anerkennen musste. Die Crociera del Decennale ist diese Heldentat. Daher begann diese Ausstellung mit Leonardo [da Vinci] und schließt mit Balbo, ‚dem Atlantischen‘. Die Luftfahrt endet nicht hier, aber ein Kreislauf ist beendet.“266
Balbo, so der Katalogtext weiter, hätte im Auftrag des Duce diese herausragende Luftwaffe geformt und zwar, indem er insbesondere den Geist gestählt habe, „jenen Geist, ohne welchen die Menschen Automaten und die Maschinen Metallstücke sind.“ Die Crociera del Decennale sei jedoch nicht allein eine für die Luftfahrt glorreiche Unternehmung gewesen: „Nein, es ist nicht möglich, die aeronautische Heldentat von ihrem politischen Widerhall zu trennen und von dem mächtigen Ruf, den die legendäre Formation auf die ausgewanderten Italiener hatte. […] Die Crociera del Decennale beendet also nicht nur eine Epoche der modernen Luftfahrt. Sie ist auch eine der glänzendsten Taten Italiens, die wieder eine Nation der Helden und der Wissenschaftler, der Arbeiter und der Künstler, der Männer des Denkens und der Tat geworden ist.“
Balbos zweiter Atlantik-Massenüberflug war tatsächlich ein enormer Erfolg gewesen. Als Balbo und seine Männer auf dem Lake Michigan landeten, wurden sie von hunderttausend Menschen bejubelt und die folgenden vier Tage lang gefeiert. Die Stadt Chicago benannte sogar eine Straße nach Balbo, die immer noch seinen Namen trägt, und Präsident Roosevelt empfing ihn im Weißen Haus. Die Stadt New York veranstaltete für den faschistischen Helden am 21. Juli 1933 eine ihrer ticker tape parades und am Abend überbrachte Balbo im Madison Square Garden etwa 60 000 Italo-Amerikanern,
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KEAI, S.177. Dort (S. 177 u. S. 178) auch die folgenden Zitate.
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von denen er selbst angab, es seien 200 000 gewesen, einen Gruß von Mussolinis Italien:267 „Seid stolz Italiener zu sein, […] weil ihr die Liebe und den Stolz des Duces darstellt, ihr, die ihr gläubig und fruchtbar seid, ihr, die ihr den Geist und die Geduld der Erbauer Roms habt! Mussolini hat die Zeit der Erniedrigungen beendet: Italiener sein ist ein ehrenvoller Titel. Fünfzig Millionen Italiener marschieren weiterhin die Wege der Erde, der Meere und des Himmels: aber unter dem Zeichen Roms und unter dem Befehl eines großen Führers: Italien ist nicht mehr plebejisch, sondern ist das Heer der Zivilisation unterwegs in der Welt.“268
Die gegenseitige Akklamation beendeten Balbo und seine „geflügelte Zenturie“ mit Giovinezza, „Jugend“, jener faschistischen Hymne, welche die Arditi im Ersten Weltkrieg und in Fiume gesungen hatten: „Giovinezza, Giovinezza / Frühling der Schönheit, / in der Bitterkeit des Lebens / tönt dein Gesang. Und für Benito Mussolini, eia eia alalà / und für unser schönes Vaterland, eia eia alalà.“269 Laut Balbo stimmte die drinnen und draußen versammelte Menge ein und der Gesang reichte mittels „der unsichtbaren Wellen des Radios bis zu den heiteren Stränden Italiens.“270 Im Gesang vereint sollten nun alle am Mythos, am „Frühling der Schönheit“ und somit an der erneuerten Gemeinschaft teilhaben. Balbos Massenflüge waren das hervorstechendste und populärste Sinnbild dieser neuen, heldischen, faschistischen Gemeinschaft, an der auch der Besucher der Ausstellung teilhatte. Diese „unter dem Zeichen Roms und unter dem Befehl eines großen Führers“ versammelte Gemeinschaft wies in die Zukunft und in die Ewigkeit und umfasste die vergangenen Geschlechter und die Toten. Dies hatte Balbo bereits am 28. März 1933, dem zehnten Jahrestag der Gründung der italienischen Luftwaffe, betont, als 4 000 „azurene Zenturien“ durch die Straßen Roms defiliert waren und sich vor ihrem Duce in den Ruinen des Diokletian-Stadions versammelt hatten. Hier hatte Balbo folgende Ansprache an Mussolini gerichtet: „Duce! […] vor sechseinhalb Jahren übergabt Ihr mir das Kommando [der Luftwaffe], und heute, nach harter und unter Euren Weisungen und direkten Befehlen durchgeführter Arbeit, kann ich Euch stolz verkünden, dass die junge Luftwaffe von einst ihre Unvollkommenheit und Mängel überwunden hat. Der maßlose individualistische Geist, welcher den militärischen Charakter der Waffe minderte, ist mit der Wurzel ausgerissen worden [sradicato] […]. Hunderte Tote haben wir in zehn Jahren roher alltäglicher Arbeit hinter uns gelassen: Aber heute haben die Toten ihre dunklen Gräber für den strahlenden Himmel über dem imperialen Palatin verlassen. Sie wollen zusammen mit den Lebenden vor Euch auftreten im Zeichen der Belohnung für die erfüllte Pflicht. Und ich führe sie Euch vor. Sie 267
Siehe Balbo: La Centuria alata, S. 300 sowie Segrè: Italo Balbo, S. 247. Balbo: La Centuria alata, S. 298. Für den Text der faschistischen Hymne Giovinezza, in der D’Annunzios Kriegsschrei „eia eia alalà“ als Teil des Refrains fungierte, siehe: Stanislao Pugliese (Hrsg.): Italian fascism and antifascism. A critical Anthology, Manchester 2001, S. 54ff. Zur faschistischen Hymne Giovinezza, ihren unterschiedlichen Versionen und ihrem Erfolg siehe zudem: Bosworth: Mussolini’s Italy, S. 197ff. 270 Balbo: La Centuria alata, S. 299. 268 269
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haben kein Gesicht und keinen Körper, aber sie sind in den Reihen eingereiht zwischen den Kameraden, die am Leben geblieben sind, um die gute Schlacht zu schlagen. Sie sind unser Vertrauen in das Schicksal von Italiens Schwinge.“271
Das faschistische Regime trachtete, aus der gesamten Gesellschaft jenen „maßlosen individualistischen Geist“, der mit der liberalen Ordnung und Moderne einherging, mit der Wurzel auszureißen.272 Indem sie Balbo und seine „geflügelte Zenturie“, so der Titel von Balbos Erlebnisbericht, zu ihrem Helden erkoren und deren Tugenden zur Nachahmung empfahl, strebten auch die italienischen Faschisten an, ein „Volk von Fliegern“ zu formen. Was dies bedeutete, hatte Hermann Göring, Balbos deutsches Pendant, bei einer Rede am 24. Juni 1934 anlässlich des Deutschlandfluges erläutert. „Heute im nationalsozialistischen Deutschland“, so der Reichsluftfahrtminister, käme es darauf an, „daß niemand als Einzelgänger da und dort hinläuft. Endlich ist das Volk zusammengefaßt zu einer Geschlossenheit, die allein die Kraftquelle für künftige Leistungen ist. In dieser Zeit ist es selbstverständlich, daß auch in der deutschen Luftfahrt über den einzelnen hinweg das gemeinsame Ziel, die gemeinsame Leistung, der Gemeinschaftswille Geltung haben sollen.“273 Die Analogie zwischen Fliegerei und faschistischer Gemeinschaft, auf welcher auch Göring insistierte, ging jedoch noch darüber hinaus: „Der Deutschlandflug dieses Jahres hat in hervorragendem Maße gezeigt, daß es geglückt ist, der deutschen Fliegerei wieder die neue, festere Form des Verbandes zu geben, Disziplin und Führerwille sind wieder lebendig. Dieser Deutschlandflug sollte beweisen, daß der Einzelne […] in dieser Disziplin im Sinne der Gemeinschaftsaufgabe arbeitet. Der Flug sollte dem deutschen Volk beweisen: Die deutsche Fliegerei hat den alten Stand erreicht, sie ist erfüllt von dem alten Geist, auch wenn sie auf anderem Boden arbeitet. […] Das junge Deutschland soll in gleicher Leidenschaft zu Fliegern erzogen werden, damit das deutsche Volk ein Volk von Fliegern wird.“274
Von diesem gemeinschaftlichen Geist, von „Disziplin“ und „Führerwille[n]“ war auch die EAI durchdrungen. Sie suchte, ihn auf die Gesellschaft zu übertragen und aus den individualistischen, „transzendental obdachlosen“ Einzelnen ein „Volk von Fliegern“ zu machen, mit einem gemeinsamen Ziel, Willen und Glauben. Der Einzelne war nichts, das Volk, die Nation war alles. Für den Einzelnen galt nun die von Giovanni Giurati, Parteisekretär der PNF und Gründer der Gioventù fascista, der faschistischen Jugend, lancierte Parole credere, obbedire, combattere, „glauben, gehorchen, kämpfen“.275 Der Ein271
Rede Italo Balbos am 28.3.1933 zum zehnten Jahrestag der Gründung der Regia Aeronautica, abgedruckt in: L’Ala d’Italia, April 1933, S. 8–15, S. 11–13. Siehe hierzu Kapitel II.3 Die Helden des Übergangs und die Ordnung der Gemeinschaft. 273 Siehe Göring: Der alte Fliegergeist lebt, S. 121. 274 Ebd., S. 122. 275 Siehe hierzu: Tracy H. Koon: Believe, Obey, Fight. Political Socialization of Youth in Fascist Italy, 1922–1943, Chapel Hill, NC 1985. 272
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zelne sollte mit der Nation verschmelzen und sich ihr aufopfern, die Gesellschaft sollte zur Gemeinschaft mutieren, und die „fliegenden Schwerter“ von einst sollten nun zu Flugscharen werden. Balbo und die Transatlantischen versinnbildlichten diese Transformation der „fliegenden Schwerter“ zu Flugscharen und die Ausstellung verkündete sie in die Gesellschaft hinein. Die EAI leistete hierzu ebenso einen Beitrag wie zur Einschreibung der neuen zeitlichen Ordnung in die neue faschistische Gemeinschaft. Der Besucher der EAI konnte dort die neue Ordnung der Zeit, die Wiedergeburt der Nation nach deren schmählichem, durch die bürgerlichliberale Ordnung herbeigeführten Niedergang erlaufen und erfahren. Durch das ästhetische und „religiöse“ Erlebnis der Ausstellung, durch das Durchlaufen des konkretisierten Mythos trat auch er aus der profanen in die heilige Zeit der Nation ein. Verinnerlichte der Besucher das plus ultra, machte er es zu seinem eigenen Motto, so konnte auch er zu einem jener ersehnten, neuen, fliegenden Übermenschen werden und zum Aufstieg der Nation beitragen. Indem er die auf der Ausstellung verkündeten faschistischen Deutungsmuster und Topoi, den Geist der Todesverachtung und der Aufopferung sowie die Tugenden der sakralisierten Helden in sein Leben, in sein persönliches Narrativ einschrieb, verschmolz er mit der Nation und wurde selbst zum Träger jenes Mythos der Erneuerung und der Wiedergeburt, der aus der desorientierenden, kontingenten und chaotischen Welt ein sinnvolles, geordnetes Ganzes erschaffen sollte.
2. Der Faschismus und die mythische Moderne Die Ausgabe vom 18. April 1939 der Zeitschrift Der Adler, die unter Mitwirkung des Reichsluftfahrtministeriums herausgegeben wurde, widmete sich unter anderem dem bevorstehenden 50. „Führergeburtstag“. Der Luftfahrtautor und Vielschreiber Peter Supf hatte darin einen Artikel für den „Führer aller Deutschen“ verfasst, der den Titel Waffe seiner Idee trug. Dort stand zu lesen, dass „tiefe Beziehungen […] den Führer der deutschen Nation mit der Luftfahrt und die Luftfahrt mit ihm“ verbänden.1 Bereits während des KappPutsches im März 1920 sei Hitler, der bis dahin niemals geflogen sei, der Idee verfallen, ein Flugzeug zu chartern, um schleunigst nach Berlin zu gelangen. „Mit kühnem Blick hatte Adolf Hitler in dem Flugzeug ein politisches Instrument von ungeheurer Dynamik erkannt, das ihn befähigte, den politischen Kampf mit einem bisher unbekannten Tempo und mit einer bis dahin ungeahnten Steigerung zu führen. – Viel haben diese unzähligen politischen Flüge und die späteren Flüge des ‚fliegenden Kanzlers‘ nebenher zur Verbreitung des Luftverkehrs in Deutschland beigetragen und das Vertrauen in seine Sicherheit gestärkt.“
„Ebenso klar“, so Peter Supf weiter, habe Adolf Hitler „die Bedeutung des Flugzeuges als Waffe und zugleich als außenpolitisches Instrument“ erkannt. Dem „Führer“ sei es zu verdanken, dass mit Hermann Göring ein Mann an die Spitze der deutschen Luftfahrt gestellt worden sei, „dessen ungewöhnliche Energie allein in der Lage war, in kürzester Frist und bedrohlicher Lage die Schaffung der neuen Luftwaffe vorzubereiten.“ Nachdem Hitler am 1. März 1935 die „Wehrfreiheit des deutschen Volkes“ verkündete, sei dann „mit einer Schnelligkeit, welche die Welt verblüffte“ diese neue Luftwaffe entstanden und habe „ihre schirmenden Schwingen über Deutschland“ ausgebreitet. Als außenpolitisches Instrument habe die Luftwaffe in den Händen des Führers bei den „großen geschichtlichen Ereignissen der vergangenen Monate“, also dem „Anschluss“ Österreichs, der Annexion des Sudetengebietes sowie Böhmens und Mährens und dem Einmarsch in das Memelland, große Leistungen vollbracht. Selbst für den Nachwuchs der Luftwaffe habe „er“ durch die Schaffung des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) gesorgt. „Ohne den Führer“, so die Kernaussage des Artikels, „gäbe es keine deutsche Luftwaffe, ohne den Führer hätte die deutsche Luftfahrt niemals diese ungehemmte, die Welt mit ihren Erfolgen in Erstaunen setzende Entwicklung genommen.“ „Die wunderbare Wandlung des deutschen Schicksals“, die dem „Führer“ zu verdanken sei, habe sich im „kleineren Rahmen, aber mit gleicher Dyna1
Peter Supf: Waffe seiner Idee, in: Der Adler, Nr. 5 vom 18.4.1939, o.S. Dort auch die folgenden Zitate.
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mik“ innerhalb der Fliegerei vollzogen. Die Revolution, der vom Nationalsozialismus eingeleitete Aufbruch, so bestätigte es auch der Autor dieses Artikels, erfasste vom Führer ausgehend alle Glieder der Gemeinschaft. Auf den unteren Ebenen waltete der gleiche Geist, der den Wandel, der sich im Großen vollzog, beflügelte. Supf machte zudem auf einen Zusammenhang zwischen dem „Führer“ und der Aviatik aufmerksam, der bereits im vorangegangenen Kapitel hinsichtlich des Faschismus und der Luftfahrt ausgeführt wurde. Es lohnt, Supf nochmals ausführlich zu zitieren: „Aber noch auf eine andere, tiefere Art ist das Wesen der Luftfahrt mit dem Wesen des Führers verwandt. Es ist der fanatische Glaube, aus der sie geboren wurde. Es ist der heroische Geist, der sie zur Tat machte. Es ist die Weite des Blicks, die ihr eigen ist. Es ist das Über-den-Dingen-Stehen. Es ist das Fernsein von allem Kleinen und Kleinlichen. Es ist das Denken in anderen Räumen und Maßstäben. Es ist ein anderes Tempo, das ein neues Zeitgefühl schafft. Es ist die größere Verantwortlichkeit aus eigener Leidenschaft. Es ist die Stimme der Ewigkeit, die in der tiefen Einsamkeit des Emporgehobenseins deutlicher vernehmbar ist. – Fluggeist bedingt ein anderes Denken und Fühlen. Daraus entspringt eine andere Art zu urteilen und zu handeln. Immer hat der Genius des deutschen Volkes hinausgedrängt über die Enge unnatürlicher und unzeitgemäßer Grenzpfähle und Bindungen, immer war seine Kraft am größten, wo er, auf sich gestellt, seiner inneren Eingebung folgte, immer war er am stärksten da, wo er dem Naturhaften am nächsten war, immer hat er sein tiefstes Wissen aus dem Ewigen geschöpft. Der fliegerische Geist aber ist zum Genius unseres Volkes geworden, ist der Geist der Flugzeit, unserer Zeit. Es ist der Geist, der in Adolf Hitler wirkt und seinem gewaltigen Werk.“
Diese Verbindung Adolf Hitlers mit dem „Ewigen“, dem „deutschen Genius“, sein „Über-den-Dingen-Stehen“, das „neue Zeitgefühl“, all jene von Supf aufgeführten Eigenschaften des „Führers“ brachte auch die Regisseurin Leni Riefenstahl in ihrem propagandistischen Hauptwerk von 1935 Triumph des Willens zum Ausdruck. Zu Beginn des Filmes heißt es: „Am 5. September 1934 / 20 Jahre nach dem Ausbruch des Weltkrieges / 16 Jahre nach dem Anfang deutschen Leidens / 19 Monate nach dem Beginn der deutschen Wiedergeburt / flog Adolf Hitler wiederum nach Nürnberg, um Heerschau abzuhalten über seine Getreuen“.2 Daraufhin schaut man durch die Vorderscheibe einer Ju 52 auf das sich hinter den Zylindern auftuende Wolkenmeer. Zu den rein instrumentalen Klängen von Wach auf, es nahet gen den Tag aus Wagners Meistersinger von Nürnberg fliegt der, so legen es die Bilder nahe, Himmelsgesandte an Nürnberg heran. Der neue Morgen war da und Hitler, der ihn eingeleitet hatte, kam einem deus ex machina gleich aus der Luft. Der „Führer“ steigt zu seinem Volk herab und erlöst es. Mit ihm, der die „deutsche Wiedergeburt“ zu verantworten hatte, beginnt eine neue Zeit, die Ewigkeit.
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Triumph des Willens, 1934/35, Produktion: Reichsparteitagsfilm der L.R. Studio-Film, Berlin; Drehbuch und Regie: Leni Riefenstahl; Musik: Herbert Windt, Min. 2:06–2:51.
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Abb. 17 Der Anflug des „Erlösers“ Hitler aus Leni Riefenstahls 1935 uraufgeführtem Film Triumph des Willens.3
Der Erste Weltkrieg, der „verstümmelte Sieg“ und die Niederlage sowie die drohenden und tatsächlichen Revolutionen hatten eine bereits bestehende, tiefgreifende Orientierungskrise radikalisiert und das Gefühl „transzendentaler Obdachlosigkeit“ verstärkt. Nach dem Krieg erwuchs aus der weitver3
Riefenstahl: Triumph des Willens, Min. 2:54, 4:33, 4:38, 4:42, 5:46, 5:50.
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breiteten Sehnsucht nach Ordnung ein Drang zur Ordnung und die Hoffnung, dass in dieser Ordnung die Erlösung liege; das Ende der Dekadenz und des Verfalls, der Anfang einer auf das „Gemeinwohl“ und auf einen gemeinsamen Sinn eingeschworenen Gemeinschaft, der Beginn einer Neuen Zeit unter einem neuen Nomos, der einem ewigen Himmelsbaldachin gliche. Und es war der „Führer“, dessen Flugzeug den Schatten des Kreuzes auf die ihm entgegenfiebernde Bevölkerung Nürnbergs warf, der, aus dem Himmel kommend, diese Hoffnung und die Neue Ordnung verkörperte. 4 In seinem Aufsatz Historical Time and Future Experience in Postwar Germany hielt Peter Fritzsche fest: „Germany’s defeat in the war and the outbreak of Revolution created a deep sense of crisis which at once invalidated the political and social guidelines of the past and reconfigured the future as an open terrain for national renewal. There was no agreement on what Germany’s capacities might be, but postwar intellectuals repeatedly cast themselves as intrepid explorers of new dimensions of time and space to reorient and reconceive the national subject. Born in the five years on either side of 1900, they endeavoured to open up unrealized sources of politically sustainable time to carry Germans forward to a regenerate future or else they attempted to divest themselves of outmoded practices and assumptions in order to maximize their ability to repudiate the past and adapt to changing times; they excavated depth or played on the surface. Although the testimonies of observers in the 1920s are not accurate in any verifiable way, they reveal how widespread was the premise in Germany, as opposed to France and Britain, that the postwar world needed to be and indeed could be remapped.“5
Die Konturen eines dieser Entwürfe für eine neue Karte der Welt sind am Aviatikdiskurs nachgezeichnet worden. Die anvisierte Neuordnung war zunächst sprachlicher Natur. Erst der sprachlichen Neuordnung, -benennung, -verknüpfung und -klassifizierung folgte die praktische Ordnung; jene, um die baumansche Metapher zu verwenden, gärtnerische Tätigkeit des Staates.6 Diese Untersuchung hat verdeutlicht, inwiefern der faschistische, aus dem Krieg hervorgegangene Neuordnungsversuch als Mythos zu verstehen ist. Im Zentrum der von den Faschisten entworfenen Ordnung stand eine verabsolutierte und sakralisierte Nation oder ein ebenso gedachtes Volk. Diese galten als oberster Wert der als Gemeinschaft gedachten Gesellschaft, beglaubigten deren Bestand und Verfassung und rechtfertigten die sozialen Zusammenhänge.7 Die im aviatischen Diskurs aufgewiesenen Narrative erwiesen sich als mythisch, insofern der Letztbezug stets diese Nation oder dieses Volk waren. Der Krieg, das Opfer des eigenen Lebens, der Tod und das Töten wurden stets mit der Nation oder dem Volk gerechtfertigt. Sie bildeten den Mittelpunkt eines jeden Sinnzusammenhangs. Sie waren der archimedische 4
Zu Hitler als Erlöser beziehungsweise zum Hitler-Mythos siehe: Kershaw: Der HitlerMythos. Vgl hierzu: Colin Cook: The Myth of the Aviator and the Flight to Fascism, in: History Today 53/2003, S. 36–42. 5 Fritzsche: Historical Time and Future Experience in Postwar Germany, S. 141. 6 Siehe Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 33ff. u. S. 51–71. 7 Vgl. hierzu Frank: Gott im Exil, S. 15ff.
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Punkt, von dem aus die Ordnung des Chaos und die Abwehr des Absolutismus der Wirklichkeit vorgenommen wurden und auf den die Narrative stets zurückkamen. Die Nation oder das Volk bildeten den Maßstab für die tödliche Ordnung der „Gemeinschaft“ und den Fluchtpunkt der Chronopolitik oder der temporalen Ordnung. Die faschistische Ordnung ist als Paradigma der mythischen Ordnung dargestellt worden. Doch was sich zunächst und zuvörderst am Faschismus zeigt, soll abschließend als eine der Moderne im Allgemeinen innewohnende Gefahr erwiesen werden. Denn die Moderne als Suche nach Ordnung bedarf des Mythos. Die Moderne war (und ist), wie bereits deutlich wurde, nicht nur von dem Bewusstsein von Ordnung als Aufgabe bestimmt. Das moderne Bewusstsein ist zugleich „der Verdacht oder die Wahrnehmung, dass es der bestehenden Ordnung an Endgültigkeit fehlt; ein Bewusstsein, das von der Ahnung der Unangemessenheit, ja Lebensunfähigkeit des Ordnung-entwerfenden, Ambivalenz-eliminierenden Projekts angespornt und in Bewegung gesetzt wird; ein Bewusstsein der Zufälligkeit der Welt und der Kontingenz von Identitäten, die sie konstituieren.“8 Die moderne Existenz ist also aporetisch, denn das moderne Bewusstsein verlangt nach dem Mythos und zerstört selbigen. Es sehnt sich nach dem Mythos und lehnt ihn doch ab. Dieser Zusammenhang von Mythos und Moderne soll im Folgenden am Faschismus erläutert werden. Dabei erlaubt es der Begriff des Mythos, mehrere miteinander verflochtene Phänomene greifbar zu machen, die bisher im Hinblick auf den Faschismus zwar häufig thematisiert, jedoch selten in ihrem Zusammenhang verdeutlicht wurden. Einen ersten, zentralen Zugang zum Komplex der mythischen Struktur der Moderne bietet das Konzept der Palingenese, das Roger Griffin überzeugend als „mythischen Kern“ des Faschismus und als Wesenszug des „politischen Modernismus“ herausgearbeitet hat.9 Es ist an D’Annunzio gezeigt worden, dass der palingenetische Mythos der Notwendigkeit entsprang, den Opfern des Ersten Weltkrieges einen Sinn zu geben. Diese Sinngebung erfolgte durch die Transzendierung der profanen Zeit in eine heilige und ewige Zeit, und das heißt durch die Einbettung des Opfertodes in einen „überhistorischen“ Horizont. Diese Transzendierung und Einbettung war mythischer Natur und geschah im und durch den Mythos. An Ernst Jünger und den Futuristen ist gezeigt worden, dass die faschistische mythische Ordnung einen Versuch darstellte, mit der alten Ordnung zu brechen, die unliebsamen Seiten der bisherigen Geschichte zu vernichten, neue Werte sowie einen Neuen Menschen ins Leben zu rufen und eine Neue Zeit einzuleiten, deren Sinnbild der Flieger
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Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 24. Siehe Griffin: The Nature of Fascism, insbes. S. 26–36 sowie ders.: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke u.a. 2007, insbes. S. 160–218. 9
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war. Dieser Bruch mit dem Alten und die Etablierung des Neuen geschieht im und durch den Mythos. Zweitens ist es mit Hilfe des Mythosbegriffs möglich, die Zerstörungsund Erneuerungsversuche der Faschisten als eine Antwort auf die Krise der Vernunft und die hieraus folgende Bedrohung von Ordnung überhaupt zu verstehen. Die Krise der Vernunft erwuchs aus der Entdeckung der Kontingenz der Ordnung. Kontingent ist Ordnung dann, wenn sie als möglich, aber nicht notwendig wahrgenommen wird. Kontingent ist Ordnung dann, wenn sie als Entwurf des Menschen entlarvt wird. Den Faschisten schienen Nation und Volk der archimedische Punkt einer nicht kontingenten Ordnung zu sein. Nation und Volk waren in den Augen der Faschisten „Natur“ und daher notwendig. Diese Verwandlung von Geschichte in Natur geschieht im und durch den Mythos.10 Drittens erlaubt es der Mythosbegriff, den Faschismus als eine Antwort auf die Krise des Historismus und das dieser Krise entspringende Problem des Werterelativismus zu begreifen. Im und durch den Mythos wird nämlich das Temporäre, das Historische und Kontingente durch das „Ewige“ und „Überhistorische“ ersetzt. Durch den im Mythos hergestellten Bezug zum „Heiligen“ verwandeln sich relative, historische Werte zu zeitlos gültigen. Viertens vermag der Mythosbegriff, zwei Fäden der Faschismusdeutung aufzunehmen und zu verknüpfen, die bislang oftmals unverbunden blieben.11 Es scheint sinnvoll, den Faschismus nicht nur als eine politische Religion und somit als Ergebnis einer Sakralisierung der Politik zu begreifen, sondern auch der Ästhetisierung der Politik Rechnung zu tragen, die in ihm zum Ausdruck kommt.12 Seit der Frühromantik, aber auch bei Nietzsche und Wagner wurde der gesuchte Mythos in Anlehnung an die antike griechische Tragödie gedacht. Der der Gemeinschaftsstiftung dienende Mythos sollte ein religiöses und ästhetisches Werk zugleich sein. Der faschistische Mythos stillte das „religiöse“ Sinn-, Wert-, Gemeinschafts- und Transzendenzbedürfnis der Zeitgenossen. Durch seine Objektivierung in öffentlichen Bauten, Ritualen, Feiern und, wie an der Esposizione dell’Aeronautica italiana und den populären Kriegsbüchern gezeigt wurde, in der Massenkultur wurde er zum zentralen Element ästhetisch-kultischer Gemeinschaftsstiftung. Gemeinschaft, ihre Werte, Normen und Helden wurden im Faschismus ästhetisch inszeniert, kultisch begangen und erlebt.13 10
Siehe Barthes: Mythen des Alltags, S. 113. Eine Ausnahme bilden vor allem die Arbeiten Emilio Gentiles, insbesondere sein Buch zum Liktorenkult: Gentile: Il culto del littorio. 12 Siehe Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 13 Siehe für Italien u.a. Falasca-Zamponi: Fascist Spectacle; Fogu: The Historic Imaginary; Gentile: Il culto del littorio; Jeffrey T. Schnapp: Staging Fascism. 18BL and the Theater of Masses for Masses, Stanford, CA 1996; im Falle Deutschlands siehe u.a.: George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976; Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. 11
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Schließlich lässt es der Mythosbegriff zu, Faschismus und Moderne nicht als Gegensätze zu denken. Hier wird im Gegenteil eine umgekehrte Perspektive vorgeschlagen, in welcher der Faschismus aufgrund seiner mythischen Struktur geradezu als das Paradigma der Suche nach Ordnung und daher der Moderne erscheint. Eine solche Umkehrung droht, selbst wieder normativ zu werden und die einst gepriesene „Moderne“ zu verdammen.14 Um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, bedarf es nochmals einer Positionierung. Dieser Untersuchung lag zum einen eine Unterscheidung zwischen dem „Projekt der Aufklärung“ und dem „Projekt der Moderne“ zugrunde.15 Während das kritische und emanzipative Projekt der Aufklärung den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bezweckte und den Menschen aufforderte, um seiner Freiheit willen sich seines eigenen Verstandes zu bedienen,16 wird das Projekt der Moderne mit Bauman als Suche nach Ordnung verstanden. Das aufklärerische, kritische Bewusstsein sucht Ordnung zu delegitimieren und zu historisieren und ist von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Verabsolutierungen getragen. Das moderne Bewusstsein hingegen sucht, Kontingentes zu verabsolutieren und Eindeutigkeit und Notwendigkeit dort herzustellen, wo es nur Ambivalenzen und Möglichkeiten gibt. Vor dieser Gefahr waren auch die dem Projekt der Aufklärung entspringenden Versuche zu einer rationalen Weltordnung nicht gefeit. Als „die Vernunft“ verabsolutiert wurde, mutierte das kritische Denken zum mythischen Denken. Die Aufklärung wurde selbst mythoid. Bekanntlich stellten dies Max Horkheimer und Theodor Adorno bereits in ihrer 1947 erschienenen Dialektik der Aufklärung fest. Da heißt es: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“17 Zum anderen lag der Untersuchung die Annahme zugrunde, dass es unmöglich schiene, dass der Mensch auf mythisches Denken ganz verzichte. Dieser Eindruck mag verstärkt sein durch die zahlreichen vom „Fundamentalismus“ über die Esoterik, die alltäglichen Orientierungsrituale bis zum Ernährungsschamanismus reichenden zeitgenössischen Versuche zur „religiösen Besinnung“. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass das mythische Denken wohl eher als anthropologische Konstante zu betrachten sei, wäre doch eine mythenlose Welt stets von der Anomie bedroht. Dass das mythische Denken (endgültig) überwunden werden könne und wurde, erweist sich vielmehr als legitimierendes Narrativ der Aufklärung. Und so stellte Max Weber 14 Siehe zu dieser drohenden Gefahr: Paul Nolte: Abschied vom 19. Jahrhundert oder: Auf der Suche nach einer anderen Moderne, in: Jürgen Osterhammel/Dieter Langewiesche/ Ders. (Hrsg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 103–132, insbes. S. 123ff. 15 Für Jürgen Habermas hingegen scheinen beide „Projekte“ in eins zu fallen. Siehe: Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. 16 Kant: Was ist Aufklärung?, S. 53. 17 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16.
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1917 fest: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“18 Weshalb es der alten Götter in Gestalt unpersönlicher Mächte bedurfte, wird unter anderem im Abschnitt zum Mythos als Antwort auf die Krise des Historismus erläutert. Nietzsche stellte fest, dass es außer dem kritischen, historisierenden Denken auch der „überhistorischen“ Mächte bedürfe. Es scheint, als zeichne eine Dialektik von historisierend-kritischem und überhistorisch-mythischem Denken, von Freiheit und Ordnung die menschliche Existenz aus. Wie mit Warburg gezeigt wurde, ist das Ringen mit immer neuen angsterzeugenden Objekten und Ereignissen in der Welt ursächlich für ihre „mythische“ Ordnung und Bewältigung. Doch allein das kritische Denken vermag, den Menschen aus dieser Ordnung zu befreien oder, um mit Warburg zu sprechen, Athen aus Alexandrien zurückzuerobern.
a. Die Zentralität des palingenetischen Mythos Der faschistische palingenetische Mythos ist mit einem komplexen Bündel verwoben, das die Krisen des Liberalismus und des Fortschrittsmodells, des Historismus und der Vernunft umfasst und bis zu den Fragen der Deutung von Geschichte und Zeit überhaupt reicht. Es scheint, als vermöge der Begriff des Mythos zumindest eine Schneise in dieses Dickicht zu schlagen. Wie im vorangegangenen Kapitel an Ernst Jünger und den Futuristen verdeutlicht wurde, gründete die faschistische Chronopolitik oder ihre Neuordnung der Zeit auf dem palingenetischen Narrativ. Die Erneuerungs-, Wiedergeburts- und Aufbruchsmytheme verhießen das Ende der profanen Zeit des Niedergangs und den Anfang einer heiligen und ewigen Zeit, in der das Sein einen Sinn hatte und der Tod durch das Leben der Nation oder des Volkes überwunden wurde. Wie bereits George L. Mosse, Emilio Gentile, insbesondere aber Roger Griffin gezeigt haben, gründete der Faschismus auf dieser Vision der Erneuerung und Wiedergeburt. Die Erneuerungsvision bildet zudem, wie Roger Griffin mit Peter Osborne gezeigt hat, einen Grundtopos modernistischer Chronopolitik.19 Zugleich ist der palingenetische Mythos nicht nur im christlichen Denkhorizont tief verankert, vielmehr gehören Erneuerungs-Mythen, wie Mircea Eliade ausführt, zu den „häufigsten mythisch-rituellen Szenarien der religiösen Geschichte der Menschheit“ überhaupt.20 18
Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 17. Siehe Griffin: The Nature of Fascism, S. 26–55 sowie ders.: Modernism and Fascism. Mircea Eliade: Mephistopheles and the Androgyne. Studies in Religious Myth and Symbol, New York, NY 1965, S. 158 zit. nach Douglas: Myth and Religion in Mircea Eliade, S. 205. 19 20
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Eliade betonte unter anderem in seinem Buch Das Heilige und das Profane die Sehnsucht des Menschen, die sinnlose, profane Zeit zu überwinden und in eine erneuerte, heilige Zeit „heimzukehren“. „Archaische Gesellschaften“ verspürten eine Notwendigkeit, „sich periodisch durch die Annullierung der Zeit zu regenerieren.“ Auffällig an diesen „archaischen“ Systemen sei „die Vernichtung der konkreten Zeit […] also ihre antihistorische Tendenz.“21 „Archaische Kulturen“ hätten sich gegen die Geschichte verteidigt, so Eliade, „indem sie sie periodisch mit Hilfe der periodischen Wiederholung der Kosmogonie und Regeneration der Zeit vernichteten oder indem sie den geschichtlichen Ereignissen eine außergeschichtliche Bedeutung beilegten, die nicht nur trostreich war, sondern auch einen inneren Zusammenhang erwies, das heißt, sich in ein gut ausgearbeitetes System eingliedern konnte, in welchem der Kosmos und auch die Existenz des Menschen ihren Seinsgrund besaßen.“22
Doch lässt sich dieser Versuch, „Geschichte zu vernichten“, tatsächlich nur auf „archaische Systeme“ beschränken? Oder ist diese Beschränkung selbst als Versuch einzuschätzen, „Geschichte zu vernichten“, um eine erneuerte, heilige Zeit der Vernunft einzuläuten? Der Ausgang des Ersten Weltkrieges und die ihm vorangehende Epoche der „Dekadenz“ und „Degeneration“ stellte für Teile der italienischen und deutschen Gesellschaft eine solche durch die Regeneration der Zeit zu vernichtende Geschichte dar. Der Krieg löste eine Abwehrreaktion aus, die an kulturpessimistische und zivilisationskritische Tendenzen anknüpfte, die bereits vor der Jahrhundertwende kursierten.23 Insbesondere in jenen Gesellschaften, die seinen Ausgang als Niederlage erlebten, entbehrte der Erste Weltkrieg jeglichen Sinns. Er bedurfte daher der dringenden Einbettung in einen „überhistorischen“, und das heißt in einen das profane Geschehen transzendierenden Horizont. Am Anfang der Untersuchung ist gezeigt worden, wie D’Annunzio dem Tod auf und über dem Schlachtfeld einen übergeschichtlichen Sinn gab, indem er ihn zur Saat der Wiedergeburt der heiligen Nation umdeutete. Der reale historische Kriegstod, das Resultat des Spiels sozialer, politischer, wirtschaftlicher Mächte, aber auch des Zufalls, wurde auch in den populären Heldenbüchern in ein übergeordnetes, Sinn generierendes System eingereiht, eben in den palingenetischen Mythos. In Frankreich, Großbritannien und den USA war es eher möglich, den Krieg in das bestehende, in der Aufklärung wurzelnde emanzipatorische Metanarrativ einzufügen.24 Der Krieg sei geführt worden, um die Welt safer for democracy zu machen, um die letzten Autokratien zum Einsturz zu bringen, um den unterdrückten Völkern die Nationsbildung zu ermöglichen und um die Aggressoren in ihre Schranken zu weisen. In der sich formierenden Sow21 22 23 24
Eliade: Kosmos und Geschichte, S. 99. Ebd., S. 154. Siehe Nitschke u.a. (Hrsg.): Jahrhundertwende; Rohkrämer: Eine andere Moderne. Zum Begriff des Metanarrativs siehe: Lyotard: Das postmoderne Wissen.
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jetunion gelang es, an die marxistische Variante des emanzipatorischen Metanarrativs anzuschließen und gleichzeitig einen palingenetischen Mythos vom Tod der alten Ordnung und der Heraufkunft des Zeitalters des Proletariats zu etablieren.25 In Italien wie in Deutschland fiel es den liberalen wie auch den marxistischen Kräften wesentlich schwerer, die Ereignisse in diese sinnstiftenden Erzählungen einzufügen, schienen doch die alltäglichen Erlebnisse ihnen zu widersprechen. Die Tatsache des Krieges selbst, das technisch induzierte, rationalisierte, massenhafte Sterben, die Niederlage und die darauf folgenden Ereignisse führten zu einer grundsätzlicheren Infragestellung des emanzipatorischen Fortschrittsnarrativs.26 Zum einen schien, die „Emanzipation“ nun etwas Fremdes, ein von außen Oktroyiertes zu sein. Zum anderen ließen sich die erfahrene Gewalt und Zerstörung, der hunderttausendfache Tod angesichts eines fehlenden „Sinns“ der Opfer für die Nation nicht in diese die Zeit strukturierende Erzählung einfügen. Zudem schien die Nation, die immer als ein Ziel und Motor des Fortschritts gedeutet worden war, in Italien und in Deutschland unter die Räder desselben geraten zu sein. In den USA, Großbritannien und in Frankreich ließen sich Nation und Fortschritt weiterhin zusammen denken. Insbesondere in Deutschland war die Kluft zwischen den liberalen und nationalen Strängen des Narrativs im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer tiefer geworden. In Italien war es die „Unglaubwürdigkeit“ sowohl des liberalen Establishments als auch der einstigen Verbündeten, die zu einer Vertiefung dieser Kluft führte. Die auf das Opfer folgende, versprochene „Erlösung“ der Nation, das Heil stand jedenfalls noch aus. Der Sinn des Opfers auf dem Altar des Vaterlandes musste daher in einer Ordnung der Zeit gesucht werden, in welcher diese Erlösung noch zu erzielen war. Im Anschluss an die kulturpessimistischen und zivilisationskritischen Strömungen des 19. Jahrhunderts kam es daher zu einer Umdeutung des Vektors der bürgerlichen Geschichte sich entfaltender „Freiheit“. In den Augen zahlreicher Zeitgenossen zeigte er nunmehr nicht nach oben, sondern nach unten. Aufklärung und Französische Revolution wurden nicht länger als Beginn einer besseren Epoche verstanden, sondern als Entfremdung von den eigenen „Wurzeln“, als Verlust von Orientierung schenkender „Bodenhaftung“ und als einsetzende Dekadenz.27 Dieser Niedergang führte in die 25
Zur Inszenierung des Aufbruchs im revolutionären Russland siehe u.a.: Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001, S. 76ff. sowie Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M. u.a. 2006. 26 Dieses war im Zuge der Aufklärung und der im 18. Jahrhundert einsetzenden Beschleunigung entstanden. Das Fortschrittsnarrativ trat an die Stelle des bis dato gültigen Erfahrungsraums und Erwartungshorizonts. Es ermöglichte die Einordnung des Geschehens und des stattfindenden Wandels in einen Deutungs- und Bewandtniszusammenhang. Siehe hierzu: Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. 27 Siehe hierzu Griffin: Modernism and Fascism.
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Kriegsniederlage oder zur Verstümmelung des Sieges. Daher versuchten die Faschisten, diese Zeit zu annullieren, ihre Träger mundtot zu machen, wenn nicht zu beseitigen und in eine regenerierte heilige Zeit heimzukehren. Erst durch diese Reinigung und Regeneration der Nation und des Volkes erhielte das Opfer seinen eigentlichen Sinn. Daher wurde der im Krieg beschleunigte Untergang der bereits brüchigen alten Ordnung, wie das Beispiel Ernst Jünger verdeutlichte, nicht als Verlust, sondern als Bedingung der Möglichkeit des Neuen gedeutet. Der Krieg hatte begonnen, das „Alte“ und „Morsche“, das Passatistische hinwegzufegen, und jetzt sollte jene Tabula rasa vollends bereitet werden, auf der die Errichtung einer Neuen, von jeglichem geschichtlichem Ballast befreiten Ordnung gelingen konnte. Der Versuch zur Vernichtung der Geschichte äußerte sich nicht zuletzt in diesem Motiv, das am deutlichsten von den Futuristen propagiert wurde. Der Bruch mit der alten Ordnung, den der Krieg geschaffen hatte, musste vervollständigt werden. Die Beseitigung der alten Ordnung, ihrer „relativen“ Werte und Halbwahrheiten erwies sich als Experimentierfeld für die Konstruktion des Neuen und zugleich Ewigen. Die Zeit war reif für Erneuerung und für gewalttätige Utopien. Genau dieser Gestus der Erneuerung, der von der Forschung jahrzehntelang als reaktionär verstanden wurde, weil es sich um die Erneuerung einer vermeintlichen Ewigkeit handelte, ist mit dem Ordnung auflösenden Geist der Moderne gleichzusetzen. Handelte es sich doch um den Versuch, angesichts des als Chaos empfundenen Niedergangs, der Aufgabe der Ordnung der Zeit nachzukommen.
b. Der Mythos als Antwort auf die Krise der Vernunft D’Annunzio, die Futuristen, Jünger sowie zahlreiche weitere rechte wie linke Revolutionäre und Intellektuelle europaweit suchten in der Folge des Ersten Weltkrieges einen Ausweg aus dem „Ausnahmezustand“, also aus der, so Carl Schmitt in seiner Politische[n] Theologie, „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“.28 Suspendiert war die Ordnung, weil es an einem intersubjektiv Unumstrittenen mangelte. Dabei herrschte gerade kein Mangel an Kandidaten für den Posten des „heiligen realissimum“. Doch genau diese Vielfalt und Uneindeutigkeit wurde als Kollaps der Ordnung überhaupt wahrgenommen. Das Gespenst der Kontingenz ging um und daraus ergab sich die Aufgabe, aber eben auch die Gelegenheit, eine Neue Ordnung zu etablieren. Die Stimmen der Wenigen, welche die Lösung in der „Kontingenztoleranz“, im Leben mit der Ambivalenz und im „Ausnahmezustand“ sahen, gingen unter im Getöse derer, welche die Beseitigung der Kontingenz und des Chaos sowie die Herstellung von Eindeutigkeit zur Notwendigkeit er28
Carl Schmitt: Politische Theologie, München u.a. 1934 [Or. 1922], S. 18f., zit. nach Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 200.
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klärten.29 Es galt, so Siegfried Kracauer, „in den erfüllten Raum der durch einen höchsten transzendenten Sinn überdachten Wirklichkeit zu gelangen“, „eine vertriebene Menschheit wieder in die neu-alten Bereiche der gotterfüllten Wirklichkeit zu führen“ und die „transzendentale Obdachlosigkeit“ oder „Heimatlosigkeit“, so Lukács, zu überwinden.30 Die anvisierte Beseitigung des „Ausnahmezustands“ oder der „Krise“31 durch die Herstellung oder das Auffinden einer „durch einen höchsten transzendenten Sinn überdachten Wirklichkeit“ kennt eine historische Parallele, die den Mythosbegriff verdeutlicht. In den Frühromantikern kann man Vorboten sehen, die den drohenden „Ausnahmezustand“ bereits erkannten.32 Schon sie stellten fest, dass der analytische, also Ordnung auflösende Geist der Aufklärung nicht nur zu einer Befreiung unmündiger Bürger geführt habe, sondern zugleich zu einer Zerstörung des Zusammenhalts der Gesellschaft. Die Aufklärung hatte nicht nur die Ordnung des Ancien Régime delegitimiert, sondern die Möglichkeit von Ordnung überhaupt gefährdet. Diese Gefährdung wollten die Frühromantiker durch eine „Neue Mythologie“ beseitigen, die in der Idee der Freiheit wurzelte und eine neu-alte „gotterfüllte Wirklichkeit“ schaffen sollte. Der Rückgriff auf die Frühromantiker dient der Klärung eines Problembewusstseins und einer Bewältigungsstrategie, welche die Aufgabe der Ordnung von Anbeginn an begleiteten. Von dieser Parallelität auf eine direkte Kontinuität zwischen der Romantik und insbesondere dem deutschen Faschismus zu schließen, wäre jedoch falsch. Die Idee einer Neuen Mythologie tauchte erstmals im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus auf. Der oder die Autoren, es ist nämlich ungeklärt, ob Schelling, Hegel oder Hölderlin den Text verfasste, der auf das Jahr 1797 datiert wird, glaubten, mit einer Neuen Mythologie die atomisierende Wirkung der analytischen, aufklärerischen Vernunft aufheben und dem „mechanistischen Staat“ der vereinzelten Individuen eine organische Gemeinschaft entgegenstellen zu können.33 Die analytische Rationalität der Aufklärung habe „alle synthetischen Positivitäten (die Glaubensgewissheiten, das Gottesgnadentum, die Privilegien, auch das Selbstbewusstsein und die Moral)“ geschleift.34 Aus der berechtigten Kritik an der Legitimation des Feuda29
Vgl. Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 211. Siegfried Kracauer: Soziologie als Wissenschaft, in: Siegfried Kracauer: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M. 1974, S. 7 zit. nach: Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 201. Zur transzendentalen Obdachlosigkeit siehe: Lukács: Die Theorie des Romans. 31 Zum Begriff der Krise in diesem Kontext siehe: Makropoulos: Krise und Kontingenz. 32 Zur Frühromantik siehe: Frank: Der kommende Gott; ders.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M. 1989; ders.: „Unendliche Annäherung.“ Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997; Für einen Überblick zur Romantik siehe: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007. 33 Zur Datierung vor allem zur umstrittenen Autorschaft des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus siehe: Christoph Jamme/Helmut Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“, Frankfurt/M. 1984. 34 Frank: Gott im Exil, S. 10. 30
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lismus und Absolutismus sei eine alleszermalmende analytische Rationalität erwachsen, die jedoch vor keiner „synthetischen Positivität“ Halt machte.35 Damit bestünde jedoch die Gefahr, dass sich politische Herrschaft und Gesellschaft, ja Ordnung überhaupt nicht mehr legitimieren ließen. Denn eine (stabile) Ordnung beruhe eben auf „synthetischen Formationen“ und bedürfe der „transzendenten Legitimation“. Die Neue Mythologie sollte „die Selbstaufhebung der legitimierenden Kraft von Vernunft umwenden, indem die selbstzerstörerischen Kräfte der Analyse an ihre Abhängigkeit von einer fundierenden Synthese erinnert werden, die nicht mehr wie früher, in religiösen Traditionen überkommen sein muß, sondern das Resultat einer solidarischen Erfindung sein könnte: das Werk von Dichtern und Schriftstellern […]. Die Dichtung (für Wagner und Nietzsche auch die Musik) wird diese Neue Mythologie nicht nur vorbereiten, sondern selbst sein.“36
Die „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“, welche auch die Frühromantiker als Bedrohung wahrnahmen, und die Suche nach Ordnung waren durch den schleichenden „Tod Gottes“ eingetreten, den die Aufklärung vorangetrieben hatte.37 Das Fortschrittsnarrativ beziehungsweise der Vernunftmythos vermochten, zeitweise in das Sinnvakuum einzudringen und es auszufüllen, das heißt, die Stelle „Gottes“ einzunehmen.38 Doch bereits die Romantiker hatten erkannt, dass die Vernunft sich selbst des eigenen Fundamentes beraube und dass sie es nicht vermöge, sich selbst zu legitimieren. Da in der „Idee der Schönheit“, so die Verfasser des Systemprogramms, „Wahrheit und Güte […] verschwistert“ seien, gälte es, der Poesie wieder einen höheren Stellenwert als „Lehrerin der Menschheit“ einzuräumen und eine „Mythologie der Vernunft“ ins Leben zu rufen.39 Auf den Stellenwert der Poesie beziehungsweise der Ästhetik wird noch zurückzukommen sein. Zunächst ist aber festzuhalten, dass die von den Frühromantikern anvisierte Lösung des durch die aufklärerische Kritik ausgelösten „Ausnahmezustands“ in einem poetischen, also der dichterisch-schöpferischen Leistung des Menschen entsprungenen, Metanarrativ gesucht wurde. Es handelte sich um eine scheinbar paradoxe, wenn nicht aporetische Situation, welche die Suche nach Ordnung insgesamt prägte: Man suchte ein Absolutes, welches als Mittel35
Siehe auch für das Folgende: Frank: Der kommende Gott, S. 188ff. Frank: Gott im Exil, S. 11. 37 Siehe hierzu: Martin Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist Tot“, in: Ders.: Holzwege. GA 5, hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1977, S. 209–267. 38 Vgl. hierzu: Frank: Der kommende Gott, S. 192: „Einerseits kritisiert die (um ihre praktische Dimension beraubte) Wissenschaft die Dogmatik der traditionellen, z.B. der religiösen Erklärungsmodelle und begründet gerade durch diese nichts verschonende Negativität ihren Anspruch auf allgemeine Geltung. Andererseits entzieht sie eben dadurch, dass sie nun selbst Legitimationsfunktion übernommen hat, die tatsächlich existierenden asymmetrischen Funktionsverhältnisse, denen sie als Produktivkraft ersten Ranges dient, der Kritik: An die Stelle des kritisierten Mythos ist die Ideologie der autonomen Rationalität getreten; d.h., rationale Verfahren sind selbst mythoid geworden“. 39 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Jamme/Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft, S. 11–14, S. 12f. 36
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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punkt einer nicht kontingenten Ordnung dienen sollte. Dieses Absolute ließ sich jedoch „nur“ poetisch stiften. Infolge der Aufklärung wurden religiöse und ästhetische Wahrheiten delegitimiert und Vernunftwahrheiten verabsolutiert. Ein poetisch gestiftetes Absolutes war somit von vornherein dem Kontingenz-Vorwurf ausgesetzt.40 Die Suche nach und die Aufgabe der Ordnung ergaben sich aus dem Vermögen des aufklärerischen und Ordnung auflösenden Bewusstseins, Mythen zu dekonstruieren und zu historisieren. Das Bedürfnis nach Ordnung war damit jedoch nicht beseitigt. Und so bestand die einzige „Lösung“ des Ausnahmezustandes weiterhin in einem Mythos, der jedoch sogleich der Dekonstruktion anheimgegeben war. Es ist diese Situation, die in der Folge des Ersten Weltkrieges zur Radikalisierung beitrug. Denn der Faschismus lässt sich als ein Versuch verstehen, eine den „Ausnahmezustand“ beseitigende Neue Mythologie zu etablieren. Erst eine Preisgabe der Suche nach Ordnung aufgrund der Akzeptanz der Unmöglichkeit der Ordnung hätte ein Leben im „Ausnahmezustand“ und mit der Kontingenz und Ambivalenz ermöglicht. Die Versuche wie jene Warburgs, mit Hilfe der Wissenschaft und der Vernunft den „Absolutismus der Wirklichkeit“ abzuwehren, vermochten den „Ausnahmezustand“ keineswegs zu beseitigen. Vielmehr verstärkten sie das Gefühl, es gäbe auch in der Vernunft keinen Halt. Es genüge an dieser Stelle der Hinweis auf Max Webers am 7. November 1917 in München gehaltene Rede Wissenschaft als Beruf, um in Erinnerung zu rufen, dass die Unmöglichkeit der Selbstlegitimation der und Sinngebung durch die Wissenschaft während und nach dem Ersten Weltkrieg von Intellektuellen als drängendes Problem wahrgenommen wurde. Viele, insbesondere unter den Jüngeren, suchten nach einer Lösung dieses Problems oder vielmehr die Erlösung in einer Art Religion, und das heißt in einer mythischen Ordnung:
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Siehe zu dieser paradoxen Situation gerade die von Makropoulos beschriebene Kritik Walter Benjamins an Carl Schmitts Souveränitätslehre und an den ästhetischen Totalitätskonstruktionen: Makropoulos: Haltlose Souveränität, S. 206 und ders.: Modernität als ontologischer Ausnahmezustand?, S. 103–158. Siehe zudem Frank: Gott im Exil, S. 23. Dort wird Nietzsches Konzeption des Übermenschen erläutert. Dieser Übermensch zeichnete sich gegenüber dem „bisherigen Menschen“ dadurch aus, dass es ihm gelang, in dem „Ausnahmezustand“ zu leben und ihn als „Dichter seines Lebens“ zu überwinden: „Der bisherige Mensch […] bedurfte, um leben zu können, einer übersinnlichen Garantie, eines obersten Haltepunktes. Wenn er dessen nun beraubt ist, könnte er leben nur unter der Aussicht, durch selbstgeschaffene Werte sich zu stützen. Aber Werte, die man selbst geschaffen hat, sind von den religiösen Werten grundsätzlich dadurch unterschieden, dass sie auf den Schaffenden zurückfallen, d.h. im Wortsinne relativ: auf mich, den Schaffenden, bezüglich sind; während die zerstörten Werte, deren Haltlosigkeit sich nun herausstellt, unabhängig vom Menschensubjekt da zu sein schienen, und nur in dieser Unabhängigkeit waren sie absolut (‚los-gelöst‘), d.h. gültig und haltspendend. Der Übermensch wäre also das Ideal eines Menschenwesens, das mit diesem Entzug des Absoluten dennoch leben könnte, selbst gottähnlich geworden oder glaubend an einen neuen Gott, den Nietzsche Leben nennt und für den in seinem Werk der Name Dionysos einsteht.“
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III. Ewige Ordnung
„Und heute? Wer – außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen ‚Sinn‘ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen ‚Sinn‘ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg ‚zu Gott‘? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird – mag er es sich eingestehen oder nicht – in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein. Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen: dies oder etwas dem Sinn nach Gleiches ist eine der Grundparolen, die man aus allem Empfinden unserer religiös gestimmten oder nach religiösem Erlebnis strebenden Jugend heraushört.“41
Anschließend zitierte Weber Tolstoj: „‚Sie [die Wissenschaft] ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: »Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?« keine Antwort gibt.‘ Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar.“ Weber glaubte, die Wissenschaft könne demjenigen, der die Frage richtig stelle, zumindest helfen. Ob ihm die Mehrheit seiner Zuhörer zustimmte, steht zu bezweifeln. Sie und die Jahrgänge, die ihnen folgten, lehnten Wissenschaft und Technik keineswegs per se ab. Sie suchten diese jedoch in einen anderen „überhistorischen“ Kontext einzubetten, der ihr Sinnbedürfnis und ihre Sehnsucht nach einer transzendentalen Heimat eher zu stillen versprach. Dieser Kontext gestattete es ihnen auch, die instrumentelle Vernunft und „Wissenschaft“ für jene menschenverachtenden und tödlichen Gärtnerambitionen des nationalsozialistischen Staates einzusetzen.42 Viele von ihnen flohen aus der „entzauberten Welt“ in jenen Mythos, dessen Angelpunkt die Nation oder das Volk bildete und der den Gebrauch von Wissenschaft und Technik, und sei es auch zum millionenfachen Massenmord, mit vermeintlichem Sinn auflud.43
c. Der Mythos als Antwort auf die Krise des Historismus Die religiöse Gestimmtheit, das Streben nach einem religiösen Erlebnis, das Weber an der Jugend feststellte, ging auf in der faschistischen politischen Religion. Die mythische Ordnung, die dieser „Religion“ zugrunde lag, löste zudem ein weiteres zeitgenössisches Problem; wie bereits verdeutlicht wurde, „die oder eine Leistung des Mythos liegt im normativen Bereich.“44 Der 41
Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 12f. Dort (S. 13) auch das folgende Zitat. Siehe hierzu: Bauman: Modernity and the Holocaust und ders.: Moderne und Ambivalenz, insbes. S. 51–81; Peukert: Die Genesis der „Endlösung“ aus dem Geist der Wissenschaft. 43 Siehe hierzu Ulrich Herbert: Best, S. 51–100 sowie Wildt: Die Generation des Unbedingten, S. 72–142. 44 Frank: Gott im Exil, S. 16. 42
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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Krieg, die Auflösung der alten Ordnung und die Revolution führten zum Kollaps der Werte und Normen der betroffenen Gesellschaften.45 Doch in ihren Grundfesten waren diese Werte und Normen, wenn auch nicht für die Mehrheit der Zeitgenossen, bereits zuvor erschüttert worden. Denn ihre Gültigkeit hatte sich als bloß als temporär erwiesen. Da es hier unmöglich ist, den Kontext der Krise des Historismus und des Problems des Werterelativismus eingehend zu behandeln, mag es genügen, das Krisenbewusstsein vor Augen zu führen.46 Die Krise des Historismus war eine Krise, die, war man nicht bereit, die Suche nach Ordnung preiszugeben, allein durch eine mythische Ordnung beseitigt zu werden vermochte. Das Denken in historischen Verlaufskategorien war im Zuge der Aufklärung aufgekommen.47 Es handelte sich um ein Produkt, aber auch um eine Voraussetzung der Fortsetzung der Kritik an den metaphysisch-religiösen Grundpfeilern der Ordnung des Ancien Régime. Aus der Kritik an den metaphysischen, nicht mittels der Vernunft erkennbaren Fundamenten der Ordnung entwickelte sich eine Kritik ihrer historischen, und das heißt zeitbedingten und relativen Fundamente. Der Theologe Ernst Troeltsch veröffentlichte im Juni 1922 in der Neuen Rundschau seinen Essay Die Krisis des Historismus. Da Troeltsch den Zusammenhang von Werterelativismus und Historismus prägnant herausarbeitete, sei er ausführlicher zitiert. „Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward [im Laufe des 19. Jahrhunderts] Parole und neue Werttafeln gab es im Grunde nicht. […] Den Gipfel der Verwirrung hat zuletzt der Weltkrieg geschaffen, der eine Menge alter Selbstverständlichkeiten und entsprechender historischer Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat. […] Aber da diese Werte selbst alte historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge.“48
45 Diesen Kollaps hat Martin Geyer an der Stadt München herausgearbeitet, siehe: Geyer: Verkehrte Welt. 46 Zum antihistoristischen Komplex siehe: Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit; ders.: Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hrsg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2007, S. 175–202; Jaeger: Theorietypen der Krise des Historismus, S. 52–70; Wolfgang Hardtwig: Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Jahrbuch des historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 47–75; Kroll: Utopie als Ideologie; Mai: Agrarische Transition und industrielle Krise; Makropoulos: Haltlose Souveränität; ders.: Krise und Kontingenz; Nowak: Die „antihistoristische Revolution“; Oexle: Von Nietzsche zu Max Weber u. ders.: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. 47 Siehe hierzu: Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog/Ders. (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 269–282; ders.: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. 48 Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Friedrich Wilhelm Graf/Volker Drehsen/Gangolf Hübinger/Trutz Rendtorff, Bd. 15. Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923) hrsg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit,
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III. Ewige Ordnung
In einer weiteren Passage verdeutlicht Troeltsch diesen Zusammenhang zwischen dem Wertezerfall und -relativismus und der „Krise der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge“ nochmals: „Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. […] [E]s [das historische Verstehen] erschüttert […] alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen. […] Das geistige Leben ist nicht mehr Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, auch nicht mehr Erhellung der allgemein-menschlichen Vernunft- oder Commonsense-Wahrheiten gegenüber den Irrungen des Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des Naturrechts und ein darauf begründeter Umbau von Staat und Gesellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden.“
Selbst die Vernunft hatte sich als eine historische, relative erwiesen. Sie war nicht jenes universelle und ewige, gottgleiche Licht der Wahrheit, für welche sie von den Aufklärern wie auch von Warburg gehalten worden war. Alles fließt. Darin gründete die Krise. Und lösen ließ sich die Krise mutmaßlich allein durch das Aussteigen aus dem Fluss, aus der Zeit, durch die Flucht in ein (vermeintlich) Ewiges.49 Der Faschismus wurde als Lösung des Problems wahrgenommen, denn er schien den Strom des Werdens und das Zerfließen der Werte aufhalten zu können. Der Faschismus, man denke an die Erörterungen zu Eliade, suchte die Geschichte zu vernichten, die Zeit zu regenerieren und den historischen Ereignissen eine außer- oder übergeschichtliche Bedeutung beizugeben. Zudem sehnte er „ewige Werte“ herbei. Ewig waren diese Werte, weil sie einen Zusammenhang mit dem Heiligen aufwiesen, mit der ewigen, dem historischen Werden per definitionem ausgenommenen Nation oder mit dem ebenfalls der Geschichtlichkeit entrissenen Volk also. Ein solcher Ausstieg aus der historischen Zeit und dem historischen Verstehen war allein in einer und durch eine mythische Ordnung möglich. Ein kurzer Blick auf Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung hilft, diesen Zusammenhang zwischen dem Mythos und „dauerhaften“ Werten zu verdeutlichen. In seiner antihistoristischen Gründungsschrift machte Nietzsche darauf aufmerksam, dass ein Übermaß an Historie zur Zerstörung der illusorischen, indes aber notwendigen Lebensgrundlagen eines GemeinweBerlin u.a. 2002, S. 433–455, S. 447–449. Dort (S. 437f.) auch das folgende Zitat [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.]. 49 Siehe Doering-Manteuffel: Mensch, Maschine, Zeit sowie Hardtwig: Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik.
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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sens führe. Eine Kultur, das Leben könne nur in einem mythischen Sinnhorizont gedeihen.50 In der Fähigkeit, „unhistorisch empfinden zu können“, im mythischen Denken also, liege das Fundament, „auf dem erst etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann“, und weiter heißt es: „Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschließenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das vergangene Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen.“51
Jene „umhüllende Atmosphäre […], in der sich Leben allein erzeugt“ ist die mythisch vernichtete Geschichte. Der Mythos erweist sich für ein Bewusstsein, das Ambivalenz vernichten und Eindeutigkeit herstellen will, als lebensnotwendig, obwohl Nietzsche eingesteht, dass „das Unhistorische und das Historische […] für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur [gleichermaßen] nöthig“ seien.52 Aber der „historische Sinn“ entwurzele, „wenn er ungebändigt“ walte, die Zukunft, da er eine illusionslose Welt hinterlasse.53 Die Wissenschaft, so Nietzsche, bedürfe einer „höheren Aufsicht und Überwachung“, nur dann sei es möglich, die „historische Krankheit“ zu heilen.54 Die Historie als Wissenschaft müsse durch Kunst, durch Religion, durch den Mythos eingehegt werden. Die Historie, so Nietzsche, müsse es ertragen, selbst „zum Kunstwerk umgebildet“ zu werden. Denn Kunst und Religion seien „überhistorische“ Mächte, „die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt […]. Die Wissenschaft […] sieht in jener Kraft, in diesen Mächten gegnerische Mächte und Kräfte; denn sie hält nur die Betrachtung der Dinge für die wahre und richtige, also für die wissenschaftliche Betrachtung, welche überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges sieht;“
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Vgl. Gadamer: Mythos und Vernunft, S. 165. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 252f. Ebd., S. 252. 53 KSA I/295. Siehe auch KSA I/296, dort heißt es: „Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, daß bei der historischen Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames zu Tage tritt, dass die pietätvolle Illusions-Stimmung, in der Alles, was Leben will, allein leben kann, nothwendig zerstiebt.“ 54 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 331. Dort (S. 331 u. S. 331) auch die folgenden Zitate. 51 52
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III. Ewige Ordnung
Gleich den Frühromantikern machte auch Nietzsche auf die „selbstzerstörerischen Kräfte der Analyse“ aufmerksam und erinnerte an deren „Abhängigkeit von einer fundierenden Synthese.“55 Die durch den Historismus bewirkte Relativierung der Werte ließ sich ebenso wie die Krise der Vernunft nur mittels „überhistorischer Mächte“, die im und durch den Mythos etabliert würden, beseitigen. Das Leben bedürfe, so das am Grunde der Moderne stehende Paradox, des Ordnung auflösenden Bewusstseins, aber auch des Ordnung generierenden Bewusstseins, der Mythen beseitigenden und Freiheit erzeugenden und der Mythen stiftenden und Ordnung schaffenden Mächte. In der Folge des Ersten Weltkrieges galt das Handeln gemäß zeit- und kontextabhängiger Werte als „Ausnahmezustand“, der sich durch „ewige Werte“ beheben ließ. Nietzsche wusste, dass solche ewigen Werte Illusionen waren und dass alles historisch bedingt und dem Werden ausgesetzt war. Gerade deswegen sah er allerdings die Notwendigkeit einer „umhüllenden Atmosphäre“, denn er glaubte, der Mensch vermöge allein, in einer solchen illusorischen Atmosphäre zu leben. Dass ihre mythische, „überhistorische“ Ordnung auf einer Illusion gründe, war den allermeisten Faschisten nicht bewusst. Im Gegensatz zu Nietzsche ist bei ihnen nicht davon auszugehen, dass sie aus der Einsicht in die Unmöglichkeit des Überhistorischen sich für die Stiftung des Überhistorischen entscheiden, denn damit wären sie der Kontingenz nicht entkommen. Dass es sich bei der Vorstellung einer ewigen Nation oder eines ewigen Volkes um eine „Illusion“ handle, auf welcher der Faschismus beruhe, scheint – denn bekanntlich lassen sich Bewusstseinsinhalte historisch nicht ermitteln –, wenn überhaupt, allein jenen radikalen Intellektuellen und Nihilisten bewusst gewesen zu sein, die sich beispielsweise im Reichssicherheitshauptamt sammelten. Zeitweise galten ihnen allein der Krieg und der Kampf als ewige Prinzipien. „Wo es keine allgemeingültigen Ziele mehr gebe (sondern nur Interessen)“, so Ulrich Herbert zu Werner Bests Aufsatz Der Krieg und das Recht aus dem Jahr 1930, „müsse ‚aus dieser Bejahung der Wirklichkeit, aus der Ablehnung eines Erlösungsziels … eine andere Sittlichkeit erwachsen als aus der Teleologie der anderen Lehren.‘ […] [W]o kein Wert mit Anspruch auf Sicherheit und Dauer existiere, [bliebe] als Maß der Sittlichkeit nicht ein Inhalt, sondern nur die Form.“56 Weil alles fließt, bleibt nur der Kampf als ewiges Prinzip. Mit dieser Ablehnung absoluter Werte und utopischer Ideale konnte in der Öffentlichkeit nicht geworben werden. Ein solches „heroisches“ Denken der Kontingenz menschlicher Existenz war allein der „weltanschaulichen“ Elite vorbehalten, deren Ideologie sich in der Folge im Kampf und im Mord erschöpfte.57 Doch 55
Frank: Gott im Exil, S. 11. Herbert: Best, S. 97. 57 Siehe Ebd., S. 100. Herbert konstatiert, in Bests Aufsatz von 1930 habe „eine explizite Orientierung auf das ‚Volk‘ als ‚höchsten Lebenszweck‘“ gefehlt.“ Weiter führt er aus, dass dies jedoch keinen Widerspruch zu Bests eigenen späteren Aussagen darstelle, nach denen er hier ein „‚nichtteleologisches und pessimistisches‘“ Weltbild gezeichnet habe, „das im 56
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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selbst diese „Elite“, so scheint es, besann sich doch immer wieder auf die Kategorie des Volkes beziehungsweise auf das „Leben“ der „Blut- und Schicksalsgemeinschaft“ als Letztwert. Es scheint, als gehörte auch diese nihilistische Elite zuweilen zu jenen verachteten „[A]nderen, denen nur der Glaube an ein letztes Ziel den gegenwärtigen Kampf erträglich macht.“58 Den „anderen“, darunter auch Hitlers mystischer „Chefideologe“ Alfred Rosenberg, galten Nation und Volk abseits philosophischer Erkenntnis und intellektueller Reflexion schlichtweg als „heiliges realissimum“. Sie glaubten nicht nur an „das Blut“ und an „das Volk“, sie meinten, dessen Wahrheit und Gültigkeit ließe sich auch wissenschaftlich beweisen.59 Sie übertrugen die mythische Struktur und das Wesen des Transzendenten auf ein Immanentes; ein Innerweltliches, sei es die „Nation“, das „Volk“ oder das „Blut“, erhielt den Status des Übersinnlichen und vice versa. Mit dieser Übertragung und Vereinigung war es möglich, sowohl der zeitgenössischen Wissenschaftsgläubigkeit als auch der Sehnsucht nach einer transzendentalen Heimat genüge zu tun und eine Ordnung zu stiften, die mythischer Natur war und dennoch den epochenspezifischen Anspruch auf „wissenschaftliche Wahrheit“ umfassen konnte. In dieser Doppelstruktur spiegelt sich das Paradoxe und Aporetische der gesamten modernen Existenz wider, die abschließend nochmals aufgegriffen werden wird. Einerseits herrschte eine Ordnungssehnsucht, die allein von einem Mythos gestillt zu werden vermochte. Andererseits war (und ist) die Moderne mythoskritisch, und das heißt sowohl fähig, Mythen zu dekonstruieren, als auch unfähig, an einen Mythos nur zu glauben, ohne zugleich zu wissen. Der Rückgriff auf Nietzsche diente, ebenso wie jener auf die Frühromantiker, nicht dem Aufweis einer Kontinuität zwischen diesem Denker und dem Faschismus. Es galt vielmehr, das Problem zu verdeutlichen, welches sich im Zuge der Auflösung der alten, „göttlichen“ Ordnung ergeben hatte. Nietzsche Gegensatz zu der ‚teleologischen und optimistischen »völkischen Lebensauffassung«, welche ich sonst und auch weiterhin vertrat‘ gestanden habe.“ Ob nun das „Volk“, wie Herbert meint, beziehungsweise dessen Fortbestand für Best und seine Mittäter, kein Erlösungsziel war oder doch, kann hier nicht geklärt werden. Es scheint allerdings plausibel anzunehmen, dass die „Volkserhaltung“ oder der Kampf für das „Leben“ der „Bluts- und Schicksalsgemeinschaft“ zur Rechtfertigung des eigenen mörderischen Handelns immer wieder herangezogen wurde und als „Enthemmungs- und Entlastungsdiskurs“ diente. Insofern bedürften auch die sich zu „sachlichen“, „kalten“ Nihilisten stilisierenden Täter des RSHA insbesondere in jenen Grenzsituationen, die das eigene, vor allem aber die unzähligen Leben anderer betrafen, eines höheren Ziels, „dessen Berechtigung nicht mehr der Gegenstand der Reflexion war, sondern vorausgesetzt wurde und so die anerzogenen humanitären Prinzipien außer Kraft setzte.“ Es scheint, als spreche das eher dafür, dass auch die faschistischen Intellektuellen eines Absoluten oder Heiligen bedurften, das im Mittelpunkt der Ordnung stand. Siehe: ebd., S. 528 sowie Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. 58 Best: Der Krieg und das Recht, S. 152. 59 Zu Alfred Rosenberg und seinem Der Mythus des 20. Jahrhunderts siehe: Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005 sowie Frank: Gott im Exil, S. 105–130.
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III. Ewige Ordnung
nahm ebenso wie die Frühromantiker dieses Problem seismographisch wahr und machte es zum Gegenstand seines Denkens. Die Lösung des Problems meinte er, im Mythos gefunden zu haben. Es wäre nun verfehlt, diesen philosophischen Reflexionsgrad auf die Mehrheit der Zeitgenossen zu übertragen. Hier wird nicht nahegelegt, den Faschismus als eine bewusste oder gar manipulative Mythenstiftung als Antwort auf die Suche nach Ordnung zu verstehen, wie sie Nietzsche oder die Frühromantiker vorschlugen. Vielmehr wird der Faschismus als Reaktion auf die Suche nach Ordnung begriffen und als Versuch gedacht, jenes sich zwar wandelnde und radikalisierende Problem zu lösen, welches bereits die Frühromantiker und Nietzsche für die Moderne diagnostizierten. Es ist gezeigt worden, dass sich die Aufgabe der Ordnung nur mit einem Mythos bewältigen ließ. Denn nur im Mythos gibt es jenes „Überhistorische“, welches dem permanenten Werden entgegengesetzt werden kann, und nur im Mythos vermögen Ambivalenz und Kontingenz in einer Eindeutigkeit aufgehoben und überwunden zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Sehnsucht nach Ordnung zu groß, das Chaos und der „Absolutismus der Wirklichkeit“ zu bedrängend und der Glaube an die Machbarkeit von Ordnung zu stark, als dass für die Mehrzahl der Menschen ein Leben mit der Kontingenz und Ambivalenz möglich gewesen wäre.60 Diese „Lösung“ setzt die Einsicht in die menschenverachtenden und mörderischen Folgen der Ordnungsuche, in die Grenzen menschlicher Machbarkeit und in die Unmöglichkeit einer (ab)geschlossenen Ordnung voraus. Ob damit die Sehnsucht nach Ordnung überwunden ist, steht zu bezweifeln. Das Projekt der Ordnung wurde jedenfalls mancherorts bereits preisgegeben.
d. Ästhetisierung der Politik im und durch den Mythos Bevor nochmals die Komplementarität von Mythos und Moderne zur Sprache kommt, sei in aller Kürze die ästhetische Dimension des Mythos angesprochen, die anhand der d’annunzianischen, jüngerschen und futuristischen Werke, der populären Darstellungen des Luftkrieges und der Esposizione dell’Aeronautica italiana aufgezeigt worden ist. Es wird geklärt, inwiefern die „überhistorischen Mächte“ Kunst und Religion als Einheit verstanden werden können, die zudem „politisch“ ist. Nachdem diese Einheit von politischer Kunst und politischer Religion im Mythos geklärt ist, wird sie auf den Faschismus und seine aviatischen „Mythen des Alltags“ übertragen. Neben der übersinnlichen Wahrheit der Religion war im Zuge der Aufklärung, nicht zuletzt durch die „Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik“,61 insbesondere die Wahrheit der Kunst entmachtet worden. Als wahr galt allein das, was sich mit den Mitteln der Vernunft erweisen und wis60 61
Siehe Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 364ff. Siehe hierzu und zur „Wahrheit des Kunstwerks“: Gadamer: Wahrheit und Methode.
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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senschaftlich beweisen ließ, während das, woran geglaubt wurde, und das, was als schön empfunden wurde, sich mit den Kategorien wahr oder falsch nicht fassen ließ. Die dem Kunstwerk und der Religion eigene Wahrheit gründet in ihrer spezifischen Aussageweise, welche die mythische ist. Die semiotische Struktur des Mythos kann hier, da keine linguistisch-strukturale Analyse der aviatischen Narrative vorgenommen wurde, nicht weiter thematisiert werden.62 Der Zusammenhang von Religion und Kunst und somit von Sakralisierung und Ästhetisierung im Mythos soll dennoch – und zwar erneut mit Hilfe der Frühromantiker und Nietzsche – kursorisch geklärt werden. 63 Kunst und Religion wurden von den Frühromantikern, sowie von Nietzsche und Wagner weder als getrennte noch als private Angelegenheiten gedacht. Genau gegen diese „Privatisierung“ von Kunst und Religion, die eine Entfremdung, eine Zersplitterung der Gemeinschaft und die Individualisierung zur Folge gehabt hätten, wandten sich jene Intellektuellen, die auf der Suche nach einer Neuen Mythologie waren. Sowohl die Kunst als auch die Religion wurden geradezu als das Gegenteil des Privaten gedacht. Es sollte sich um eine „öffentliche Angelegenheit“, um eine res publica handeln. Denn erst durch eine „öffentliche“ und politische Kunst und Religion ließ sich Gemeinschaft stiften. Kunst und Religion wurden als Träger des Nomos einer Gesellschaft verstanden. Sie vermittelten der Gemeinschaft ihre Normen und Werte. Die Frühromantiker gingen dabei ebenso wie Wagner und Nietzsche vom Vorbild der griechischen Tragödie aus. Die Tragödie war durch ihre Verankerung in der griechischen Mythologie nicht das Werk eines einzelnen Künstlers und also kein rein subjektives und daher kontingentes Produkt. Sie erkannten in der Tragödie eine „wahre und allgemeingültige Poesie“, weil sie „aus der geistigen Heimat eines Volkes, aus einem wahrhaft öffentlichen Leben“ stammte und weil sie „aus der Totalität einer Nation, die sich als solche zugleich als Identität – als Individuum – verhält“, geboren wurde.64 Die Tragödie brachte nämlich die Wertansichten der „gesamten“ Gemeinschaft zum Ausdruck. Durch die Teilhabe der Zuschauer an der Aufführung, die im Rahmen des öffentlichen Kultes stattfand, erfolgte eine Regeneration der „sittliche[n] Totalität des Volkes“.65 Denn die Tragödie wurde als jener Ort betrachtet, „an 62 Siehe: Barthes: Mythen des Alltags, S. 85–123; Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen u. Frank: Der kommende Gott, S. 107f. 63 Verkürzend lässt sich behaupten, auch die Frühromantiker hätten erkannt, dass es außer der wissenschaftlichen Wahrheit und ihrer Aussageweise, also nebst den propositionalen, wahren Sätzen über Sachverhalte, eine weitere, ja übergeordnete und ursprünglichere Wahrheit gebe, namentlich die in der Kunst beheimatete poetische Wahrheit. Erst im schöpferischen Dichterwort werde Welt überhaupt erschlossen und als sinnhaft erfahrbar gemacht. Siehe: Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 16ff. 64 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, zit. nach Frank: Der kommende Gott, S. 200. 65 Jamme: „Gott an hat ein Gewand“, S. 274.
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welchem die gesellschaftliche Synthesis der Einwohner des Gemeinwesens als solche in kultischer Form begangen wurde.“66 Sie war eine religiöse und ästhetische Feier, in der sich die Gemeinschaft konstituierte und sich ihrer Werte vergewisserte. Bei der Tragödie habe es sich um „eine beneidenswerte (verlorene) Einheit von kultischer Handlung, ästhetischer Darstellung und politischer Repräsentation“ gehandelt. Die Tragödie war eine „Repräsentation des öffentlichen Lebens“.67 Doch lässt sich diese Perspektive auf den Faschismus übertragen? Die Übertragung ist dann zum Scheitern verurteilt, wenn man sie allein auf das Schauspiel und die „hohe“ Kultur und Kunst während des Faschismus beschränkt. Zwar gab es mit dem Thingspiel68 und den italienischen Versuchen zur Etablierung eines „Theaters der Massen für die Massen“69 auch konkrete Parallelen, doch ihnen war wenig Erfolg beschieden. Dennoch kannte die faschistische Gemeinschaft religiöse und ästhetische Feiern, auf denen sie sich konstituierte und sich ihrer Normen und Werte versicherte.70 Die Parteitage in Nürnberg sind ebenso wie die Heldenbeisetzungen, die Ausstellung zum zehnten Jahrestag der faschistischen Revolution oder die EAI,71 um nur wenige Beispiele zu nennen, als ebensolche kultischen und ästhetischen Veranstaltungen zu verstehen. Doch die ästhetische Inszenierung und Objektivierung des Mythos lässt sich im Zeitalter der Massen auch anderswo suchen. Roland Barthes fand die französischen „Mythen des Alltags“ der Nachkriegszeit in den Erzeugnissen der Populärkultur, in Zeitungen und Illustrierten, in Filmen und Photographien, selbst in Automobilen. Hier wird davon ausgegangen, dass im „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ das Kunstwerk zwar seine ursprünglich kultische Aura verloren haben mag, dass die Erzeugnisse der Massenkultur aber dennoch Träger des Mythos sind.72 In den vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, inwiefern sie als Medium je66 Frank: Gott im Exil, S. 11. Dort (S. 72) auch das folgende Zitat [Hervorhebung durch den Verfasser, F.E.]. 67 Siehe Frank: Der kommende Gott, S. 197ff. 68 Siehe: Erika Fischer-Lichte: Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theater, London 2005; Henning Eichberg u.a.: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart 1977; Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, S. 435–447; Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die ‚ThingBewegung‘ im Dritten Reich, Marburg 1983. 69 Siehe: Günter Berghaus (Hrsg.): Fascism and Theatre. Comparative Studies on the Aesthetics and Politics of Performance in Europe, 1925–1945, Providence, RI u.a. 1996 sowie Schnapp: Staging Fascism. 70 Siehe: Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden; Gentile: Il culto del littorio; ders.: The Struggle for Modernity; Mosse: Die Nationalisierung der Massen; ders.: Toward a General Theory of Fascism, in: Ders.: The Fascist Revolution. Toward a General Theory of Fascism, New York, NY 1999, S. 1–44; ders.: Fascist Aesthetics and Society: Some Considerations, in: ebd. S. 45–53; Vondung: Magie und Manipulation. 71 Siehe zur Ausstellung der faschistischen Revolution: Fogu: The Historic Imaginary sowie Schnapp: Anno X. 72 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
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ner gesellschaftlich relevanten Narrative gelesen werden können, deren Leistung im normativen Bereich liegt. Auch in den Massenmedien wurde „ein in Natur oder Menschentum Existierendes bezogen auf eine Sphäre des Heiligen und durch diesen Zusammenhang begründet.“73 Und die populären Fliegerheldennarrative glichen, wenn auch nicht in ihrem Vollzug, so doch in ihrer Funktion durchaus der griechischen Tragödie oder den wagnerschen Opern. Sie waren Träger des Mythos, und die Helden waren Medien der zu vermittelnden Werte und Normen, die sich die Gesellschaft aneignete, indem sie die Vorbilder nachahmte, sich die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster aneignete und das Narrativ in das eigene Leben einschrieb. Die Frühromantiker vertrauten darauf, dass die „Neue Mythologie“ aus dem „Volk“ selbst entstünde. So hieß es in Schellings Würzburger Vorlesung über die Philosophie der Kunst von 1804: „Nur aus der geistigen Einheit eines Volks, aus einem wahrhaft öffentlichen Leben, kann die wahre und allgemeingültige Poesie sich erheben – wie nur in der geistigen und politischen Einheit eines Volks Wissenschaft und Religion ihre Objektivität finden.“74 Das ersehnte mythische Werk des Dichters wurde nicht als dessen subjektive Leistung betrachtet. Der Dichter erschien vielmehr als Sprachrohr des Gemeinwesens. Die Poeten sollten auf der Grundlage nicht zuletzt der Volksmärchen und -lieder den ersehnten neu-alten, Gemeinschaft stiftenden Mythos schöpfen, der in der Sprache und in dem das Volk und die „Nation“ durchwaltenden Geist verwurzelt sein sollte. Der in der Tradition der deutschen Romantik ebenso wie des französischen Frühsozialismus stehende Richard Wagner glaubte, durch Rückbezug auf die germanischen Sagen in seinen Gesamtkunstwerken den Volkswillen zum Ausdruck bringen und eine mythische Gemeinschaft stiften zu können. Der Dichter habe die Aufgabe, „das objektive Band, welches das Volk in der Stunde der äußersten Entfremdung des Menschen vom Menschen als eine tatsächliche Not- und Elendsgemeinschaft schon vereint, im ‚Kunstwerk der Zukunft‘ zu seinem bewussten Besitz werden zu lassen.“75 Der Künstler wurde von Wagner als Medium gedacht, welches den Mythos, dessen „einziger Dichter und Künstler (wie in alten Zeiten) das Volk in Wahrheit bereits […] war“,76 bloß hervorbringe. Der Künstler war jenes Sprachrohr, dessen das Volk bedurfte, um sich selbst zu artikulieren, er war der Standort an dem das Allgemeine zum Ausdruck gebracht wurde, jene Position, an der sich der Diskurs objektivierte und multiplizierte. Die Untersuchung hat gezeigt, dass es sich beim faschistischen Mythos um eine für „wahr und allgemeingültig“ gehaltene Poesie handelte, die „aus der geistigen Heimat eines Volkes“ stammte. Um Missverständnisse zu vermei73 74 75 76
Frank: Gott im Exil, S. 16. Schelling: Philosophie der Kunst, zit. nach Frank: Der kommende Gott, S. 200. Frank: Gott im Exil, S. 76. Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, zit. nach Frank: Gott im Exil, S. 76.
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den, eine Erläuterung: Anhand der populären Kriegsbücher ist verdeutlicht worden, wie die sich formierende faschistische mythische Ordnung über die massenmedialen Kanäle, die sich vor und während des Ersten Weltkrieges durch den Konsum ausbreiteten, in die Gesellschaft diffundierte. In der populären Kultur wurde ebenso wie in den öffentlichen Reden und Bauwerken oder in der Elitenkultur eines D’Annunzio, Marinetti oder Jünger eine neue Ordnung errichtet. Die untersuchten Medien, vom Groschenroman und der Illustrierten bis zum Gemälde der futuristischen Aeropittura, und ihre Schöpfer leisteten alle eine Arbeit am Mythos. Er wurde nicht von einem Einzelnen gestiftet, sondern von den Vielen, von den anonymen Medienarbeitern bis zu den wortführenden Prominenten. Die Werke transportierten stets Normen und Werte, Gesellschafts- und Menschenbilder. Und aus Texten wurde faktische, konkrete Wirklichkeit, als die Rezipienten diese Werte, Normen und Menschenbilder auf ihr eigenes Leben übertrugen und anfingen, ihre Realität nach den vermittelten Mustern wahrzunehmen und zu deuten. Es ist deutlich geworden, dass die Figur des Fliegers als Versuch zu verstehen ist, einen neuen, an die gewandelten Bedingungen angepassten Menschen zu bauen; einen Neuen Menschen, der ein integraler Bestandteil nicht nur der regenerierten Nation, sondern einer neuen Ordnung sein würde. Die von den Fliegerhelden bereits verkörperten Werte „Männlichkeit“, Heroismus, Opferbereitschaft, Aufbruchsgeist, ihr Höher- und Weiterhinaus-Streben galt es nachzuahmen, um zu einem „Volk von Fliegern“ zu werden. Das Individuum, so wurde an den Fliegerheldenkonstrukten und ihrer Transformation in der Nachkriegszeit deutlich, sollte verwandelt werden; der Einzelne war nunmehr nichts, das Volk, die Nation waren alles. In den populären Medien ebenso wie in den Werken der Hochkultur wurde die Massengesellschaft zur Gemeinschaft umgedeutet, das entfremdete Rädchen im mechanistischen Getriebe wurde zum Neuen faschistischen Menschen verwandelt, der als organisches Glied dieses Kollektivs verstanden wurde, das auf Exklusionsprinzipien gründete. Aus „fliegenden Schwertern“ waren Flugscharen geworden. Aus der vermeintlich chaotischen Unordnung war eine hierarchische Gliederung hervorgegangen, innerhalb derer der Flieger einen Neuen Adel darstellte, der in seiner Bereitschaft gründete, sich selbst für die Gemeinschaft zu opfern. Es wäre verfehlt, die polyphone Arbeit am Mythos nur unter dem Aspekt der manipulativen Propaganda zu betrachten, wie dies sowohl Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz als auch Horkheimer und Adorno in ihren Ausführungen zur Kulturindustrie taten.77 Die Verbreitung des faschistischen Mythos ging keineswegs allein von einer zentral gesteuerten Maschinerie aus. Produktion und Streuung des Mythos waren vielfältiger als es die mar77
Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 506ff. u. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung.
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xistische These von einem monolithischen, manipulativen (spätkapitalistischen) faschistischen Propagandaapparat, der einen das „Proletariat“ täuschenden Schein erzeugte, nahelegte. Die Untersuchung des Aviatikdiskurses hat erwiesen, dass zentrale Topoi und Sagbarkeitsregeln des faschistischen Mythos bereits während des Ersten Weltkrieges in relativer Autonomie von der staatlichen Meinungslenkung etabliert wurden. Es waren vielfach schriftstellerische Laien und Dilettanten, die, auf der Grundlage ihres sich radikalisierenden Graswurzelnationalismus, eine Unmenge an hurrapatriotischer, kriegsbejahender „Literatur“ produzierten, in der dem Krieg, dem Töten und dem Opfer des eigenen Lebens im Namen der Nation ein Sinn gegeben wurde.78 Diese „literarische Mobilmachung“ war spontan. Sie war nicht von oben initiiert, sondern stammte „aus der geistigen Heimat eines Volkes“, aus den Diskursen und aus der sich formierenden Ordnung. Die Sprecher versuchten, die Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges zu ordnen, und griffen hierbei auf vergesellschaftete Deutungskategorien zurück, die aktualisiert und dadurch verwandelt wurden. Sicherlich waren sie von der Propaganda beeinflusst, doch der Schlüssel zum Verständnis ihrer Aussagen ist in deren Funktion zu sehen, namentlich der Bewältigung der beängstigenden und zunächst sinnentleerten Kriegswirklichkeit. Die Aneignung und Veräußerung der vorliegenden sprachlichen Strukturen zur Deutung dieser gewandelten und bedrohlichen Wirklichkeit führte zu einer Veränderung dieser Strukturen, zu einem Wandel des Mythos und der Ordnung. Die Bedeutungsnetzwerke und Aussageregeln wurden schrittweise modifiziert. Bestehende Verknüpfungen, so beispielsweise zwischen Opfer und Wiedergeburt, wurden zur Deutung der Kriegswirklichkeit herangezogen und dadurch in einen anderen diskursiven Kontext verlagert. Ließ sich der Wirklichkeit durch diese Übersetzung ein Sinn abgewinnen, so führte dies zu einer Häufung ähnlicher Aussagen, also zu Einschreibungen in den Diskurs. Diese Aussagen, die zur Deutung der Kriegswirklichkeit zur Verfügung standen, wurden wiederum durch die staatliche Zensur entweder sanktioniert und marginalisiert oder eben gefördert. Das führte zum Verschwinden gegenläufiger Diskurse und zur weiteren Häufung bestimmter Einschreibungen in den Diskurs, mittels derer nach und nach eine neue mythische Ordnung errichtet wurde. Damit eine Aussage als wahr und sinnvoll galt, bedurfte es immer häufiger der Verknüpfung mit der Nation oder dem Volk, und nur mit der Nation oder dem Volk. Aus dieser Perspektive erweist sich der Prozess der Mythisierung als Marginalisierung gewisser Deutungskategorien und der Etablierung und Potenzierung anderer. Der Mythos stellt eine diskursive Hegemonie dar. Und das heißt, er kann als Ergebnis der Reduktion der sinnvoll erscheinenden Aussagen betrachtet werden, die allesamt auf ein Verabsolutiertes, das kein Anderes 78
Siehe u.a. Fries: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg; Schneider: Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg.
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neben sich duldet, zurückgeführt werden können. Das „intersubjektiv Unumstrittene“, also das Heilige, das im Zentrum des Mythos steht und mit dem die Aussagen verknüpft sind, ist als Produkt der Deutungspraxis zu verstehen. Unumstritten ist das, was sich als Sinngarant bewährt, und das heißt das, was es vermag, die Welt geordnet erscheinen zu lassen. Es gilt, noch auf einen wesentlichen Aspekt dieser diskursiven Praxis aufmerksam zu machen, der den Zusammenhang mit der Ästhetisierung nochmals in Erinnerung ruft; die Möglichkeit der Partizipation. Mit Partizipation ist hier gewiss nicht die Teilhabe am politischen Prozess im Sinne einer demokratischen Volkssouveränität gemeint, sondern vielmehr eine Teilhabe am „Sinn“. Benjamins Feststellung, dass der Faschismus sein „Heil“ darin sähe, „die Massen zu ihrem Ausdruck (beleibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen“, ließe sich damit durchaus in Einklang bringen.79 Die Partizipation der Massen beschränkte sich auf die Teilhabe an der Sinngemeinschaft, sei es durch „erbauliche“ Lektüre einer Heldenbiographie, durch die Identifikation mit dem Protagonisten, durch die staunende Bewunderung eines futuristischen Gemäldes oder die Teilnahme an einer Massenveranstaltung wie der EAI.80 Die Faschisten etablierten diese Möglichkeit der Teilhabe und stillten damit offensichtlich das Sinnbedürfnis einer desorientierten Gesellschaft. Die Teilhabe am mythischen Sinn, die Beseitigung der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ wog offensichtlich schwerer als die Aussicht, am demokratischen politischen Prozess partizipieren zu können. Es wäre zwar sicherlich verfehlt, die aktive Produktion des mythischen Sinns in allen gesellschaftlichen Teilbereichen und Schichten zu vermuten. Die Sprecher im Diskurs entstammten vornehmlich den gehobenen und mittleren Schichten der Gesellschaft, die sich zu artikulieren und Gehör zu verschaffen vermochten, weil sie die entsprechenden Sprecherpositionen innehatten. Der faschistische Machtapparat grenzte Sprecher, die eine abweichende Meinung vertraten, aus, terrorisierte sie und marginalisierte ihre Aussagen. Doch die „passive“ Reproduktion und Aktualisierung des mythischen Sinns war ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das auf einem gesamtgesellschaftlichen Bedürfnis beruhte. Insofern erweist sich die These, dass die faschistische Elite selbst nicht an den Mythos glaubte, sondern ihn nur instrumentell und manipulativ einsetzte, als verfehlt.81 Die Faschisten und zukünftigen Machthaber waren von der Sehnsucht nach Ordnung und transzendentaler Heimat ebenfalls betroffen. Sie knüpften an zahlreiche bestehende Traditionen an und formulierten daraus eine Antwort auf diese Sehnsucht, welche nicht nur exklusiv, sondern auch integrativ wirkte. Die „kulturelle 79
Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 506. Vgl. George L. Mosse: Fascism and the French Revolution, in: Ders.: The Fascist Revolution. Toward a General Theory of Fascism, New York, NY 1999, S. 69–93, S. 73. 81 Siehe hierzu Gentile: The Struggle for Modernity, S. 77ff. sowie Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München u.a. 1984, S. 106ff. 80
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Revolution“, so George L. Mosse, welche die Faschisten einleiteten, beruhte auf einem populären Konsens.82 Der faschistische Mythos erwuchs aus dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont der nationalen Kollektive.83 Im und durch den Mythos wurde das „Heilige“ etabliert und zum Ausdruck gebracht. Insofern war der Mythos zugleich Urheber und Träger des „heiligen realissimum“. Sakralisierung der Politik und deren Ästhetisierung sind im Mythos demnach vereint, denn das „Heilige“ wird im Mythos nicht nur konstituiert, es wird auch sinnlich erfahrbar. Durch die analytische Trennung von Sakralisierung und Ästhetisierung geht jene Einheit verloren, mittels derer die Faschisten Gemeinschaft herzustellen suchten. Diese Einheit des ästhetisierenden und sakralisierenden Moments des Mythos wurde an den Futuristen und der EAI ebenso deutlich wie an den populären Kriegsbüchern oder an D’Annunzio. Letzterer war nicht nur ein Priester und Prophet der Nation und des Krieges, er war stets auch Künstler. Mit D’Annunzio betrat ein Typus die politische Bühne des 20. Jahrhunderts, der nicht nur aufgrund seiner Eigenschaft als „charismatischer Führer“ und seiner mise en scène für Mussolini wie auch für Hitler ein Referenzpunkt blieb.84 Entscheidend scheint jedoch ein weiterer Aspekt, nämlich die Verschmelzung von Kunst und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die Geschichte schien diesen Künstler-Politikern ein formbarer Stoff zu sein. Und als ein formbarer und zu ordnender Stoff erschien ihnen auch der Mensch. In ihren Augen ließ er sich zu einem Neuen Menschen und die Gesellschaft zu einem „Volk von Fliegern“ umgestalten. Dass sie daran keinen Zweifel hegten, findet in einem Zitat Mussolinis seinen Ausdruck. Als sich bereits im Juni 1940 die unzulängliche Vorbereitung und Ausrüstung, die Schwäche der italienischen Streitkräfte zeigte, wuchs Mussolinis Wut gegen das ihm zur Verfügung stehende „Material“. An seinem Können und seiner Kunst sowie deren Möglichkeit zweifelte er hingegen nicht: „Es ist der Stoff der mir fehlt. Auch Michelangelo bedurfte des Marmors, um seine Statuen zu machen. Hätte er nur Ton gehabt, wäre er bloß ein Töpfer gewesen.“85 Die Moderne als Sehnsucht nach Ordnung und als Aufgabe der Ordnung findet in dieser Wirklichkeitsauffassung einen ihrer deutlichsten Ausdrücke.
82 Siehe Mosse: Toward a General Theory of Fascism, S. 3. u. Eksteins: Rites of Spring, S. 315. 83 Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. 84 Siehe Mosse: The Poet and the Exercise of Political Power, S. 87–103 sowie VogelWalter: D’Annunzio. 85 Benito Mussolini am 21.6.1940, in: Galeazzo Ciano: Diario 1937–1943, zit. nach Emilio Gentile: L’„uomo nuovo“ del fascismo, S. 260.
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e. Die Komplementarität von Mythos und Moderne An jenem 4. Januar 1889, als er in Turin zusammenbrach, richtete Nietzsche noch folgende Worte an seinen Freund und „Entdecker“ Georg Brandes: „Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück, mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren …“86 Das der Moderne zugrunde liegende Dilemma, ihre paradoxe Ausgangslage, werden von diesen wenigen Worten am treffendsten charakterisiert. Zygmunt Bauman bezieht das Zitat in seinem Buch Moderne und Ambivalenz auf die Entdeckung der Kontingenz. Hatte der Mensch die Zufälligkeit der Ordnung, ihre Nicht-Notwendigkeit entdeckt, war der Gedanke daran nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Jede Ordnung war nunmehr mit dem Makel behaftet, möglich sein zu können, aber nicht notwendig sein zu müssen. Dennoch oder gerade deswegen wurde Ordnung zum Wesenszug der Moderne, zu ihrer Obsession. Es ist hier nicht möglich, den Nexus zwischen der Entdeckung der Kontingenz und dem „Tod Gottes“, zwischen der Wahrnehmung der Welt als zu ordnendem Chaos und dem Aufkommen der Ordnung als Aufgabe ausführlich darzustellen. Da der Gedanke jedoch für das Verständnis der Komplementarität von Mythos und Moderne zentral ist, soll der Zusammenhang kurz erläutert werden.87 Nietzsche war es, der jenen „Ausnahmezustand“, den die Faschisten zu beheben suchten, am deutlichsten erfasste und beschrieb. Auch Nietzsche strebte danach, den „Ausnahmezustand“ durch eine mythische Ordnung zu beheben. Doch bei Nietzsche liegt auch der Keim jener „postmodernen“ Perspektive, von der aus hier auf die Moderne geschaut wird.88 Diese lässt sich verkürzt als die Einsicht in die Unmöglichkeit von Ordnung charakterisieren. Dieser Zwiespalt Nietzsches erlaubt es, zunächst mit ihm jene Zer86 Friedrich Nietzsche an Georg Brandes vom 4.1.1889, in: Nietzsche: Sämtliche Briefe, S. 573. Siehe hierzu auch: Martin Heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen 19975. 87 Der ungebräuchliche Begriff der Komplementarität scheint, das Verhältnis von Mythos und Moderne und zugleich die Beobachtung/Wahrnehmung dieses Verhältnisses am treffendsten zu charakterisieren. Der Begriff bezeichnet zum einen das komplementäre, also sich ergänzende Verhältnis zweier sich scheinbar gegenseitig ausschließender Begriffe. Zum anderen ist Komplementarität jenes von Niels Bohr 1927 in die Quantenphysik eingeführte Prinzip, das häufig mit dem Beispiel des Welle/Teilchen-Dualismus erläutert wird, also mit der Feststellung, dass atomare Teilchen zwei einander widersprechende Eigenschaften aufweisen. Da sie einerseits als Teilchen und andererseits als Wellen auftreten, sind zu ihrer Beobachtung unterschiedliche Messvorgänge notwendig. Carl Friedrich von Weizsäcker erläutert die Komplementarität der Messvorgänge beziehungsweise Forschungsansätze folgendermaßen: „Die Komplementarität besteht darin, daß sie nicht gleichzeitig benutzt werden können, gleichwohl beide benutzt werden müssen.“ Siehe: Carl Friedrich von Weizsäcker: Komplementarität und Logik, in: Ders.: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 19587, S. 281–331, S. 284. 88 Zum Eintritt in die Postmoderne mit Nietzsche siehe: Jürgen Habermas Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988; Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990 sowie zusammenfassend Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 19913.
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rissenheit zu verdeutlichen, welche für die Moderne insgesamt charakteristisch ist. In seinem zweibändigen Nietzsche-Buch, das 1961 erschien und auf seinen Arbeiten zu Nietzsche aus den 1930er und 1940er Jahren basierte, machte Heidegger unter dem Rubrum Der europäische Nihilismus auf ein der Sehnsucht nach Ordnung zugrundeliegendes Problem aufmerksam.89 Nietzsche habe mit dem Satz „Gott ist tot“ nicht allein den christlichen Gott gemeint.90 Der christliche Gott sei vielmehr „die Leitvorstellung für das ‚Übersinnliche‘ überhaupt und seine verschiedenen Deutungen, für die ‚Ideale‘ und ‚Normen‘, für die ‚Prinzipien‘ und ‚Regeln‘, für die ‚Ziele‘ und ‚Werte‘, die ‚über‘ dem Seienden aufgerichtet sind, um dem Seienden im Ganzen einen Zweck, eine Ordnung und – wie man kurz sagt – einen ‚Sinn zu geben‘. Nihilismus ist jener geschichtliche Vorgang, durch den das ‚Übersinnliche‘ in seiner Herrschaft hinfällig und nichtig wird, so dass das Seiende selbst seinen Wert und Sinn verliert.“91
Nietzsche hatte erkannt, dass mit dem „Tod Gottes“ nicht nur die alte Ordnung zerbrechen musste, sondern zugleich jegliche im Übersinnlichen, Absoluten verankerte Ordnung unmöglich geworden war. „Gottes Tod“ bedeutete die Auflösung des Übersinnlichen und der Metaphysik überhaupt. Damit ging die Auflösung des bisherigen „Sinns“ und „Zwecks“, den man der Welt gegeben hatte, einher. Sie verlor ihr Ziel und ihren Wert.92 Es ist nicht möglich, die Ursachen dieses Prozesses und seine Folgen darzulegen. Es handelt sich um ein Phänomen der longue durée, an dessen vorläufigem „Ende“ eine Erschütterung der Fundamente des abendländischen Denkens stand und der Versuch eingeleitet wurde, die Moderne „zu redigieren“.93 Die Moderne als Bewusstsein von Ordnung als Aufgabe erweist sich jedenfalls als Zwischenspiel. Sie scheint eingezwängt zwischen einem „vormodernen“ und einem „postmodernen“ Bewusstsein und changiert zwischen einem „kritischen“, Ordnung auflösenden und einem „mythischen“, Ordnung generierenden Denken.94 Und obwohl sich weder das mythische noch das kritische Denken an eine bestimmte Epoche binden lassen, son89 Siehe Martin Heidegger: Nietzsche I (1936–1939). GA 6.1, hrsg. v. Brigitte Schillbach, Frankfurt/M. 1996. Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Nietzsche siehe u.a. HansHelmuth Gander (Hrsg.): „Verwechselt mich vor allem nicht!“. Heidegger und Nietzsche, Frankfurt/M. 1994. Zu Heideggers eigener Begeisterung für den Nationalsozialismus und seiner Suche nach einem „anderen Anfang“ siehe: Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart 1990 sowie Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 160–176. 90 Siehe hierzu auch Martin Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege. GA 5, hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Hermann, Frankfurt/M. 1977 [Or. 1943], S. 209–267. 91 Martin Heidegger: Nietzsche II (1939–1946). GA 6.2, hrsg. v. Brigitte Schillbach, Frankfurt/M. 1997, S. 25. 92 Vgl. ebd., S. 53–59. 93 Für zwei divergierende Auffassungen dieses Prozesses siehe: Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne sowie Lyotard: Die Moderne redigieren, in: Ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 51–69. 94 Zum kritischen Denken siehe: Michel Foucault: Was ist Kritik, Berlin 1999.
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dern jeweils unterschiedliche, kontextbedingte Äußerungsformen fanden, die auf divergierende Bedürfnisse antworteten,95 scheint der Moderne das Wechselspiel von kritischem und mythischem Denken in herausragender Weise eigen. Dies ist nicht zuletzt deswegen der Fall, weil das Wechselspiel stets Gegenstand der Reflexion war und ist; gehörte es doch zu den legitimierenden Narrativen der Aufklärung, das mythische Denken überwunden zu haben. Es bleibt festzuhalten, dass Nietzsche sowohl die Sehnsucht nach Ordnung und deren Befriedigung im Mythos beschrieb als auch die Unmöglichkeit des Mythos in der Moderne erfasste und propagierte.96 Nietzsche war es, der die Aufklärung nochmals radikalisierte, indem er Kritik an der Kritik übte. Dabei tat sich ein Abgrund vor ihm auf. Die fundamentale Krise der abendländischen Rationalität, die sich Nietzsche offenbarte, lässt sich hier perspektivisch darauf „verkürzen“, dass der Mythos zugleich eine Notwendigkeit als auch eine Unmöglichkeit darstellte. Man hatte die Kontingenz entdeckt, nun bestand das Kunststück darin, sie zu verlieren. Der bedrohliche Zustand, der sich aus der Kontingenz von Ordnung ergab, wurde zur Aporie. Die Moderne bedarf des ordnenden Mythos und ist zugleich des Mythos nicht mehr fähig, sie ist mythossehnsüchtig und -anfällig und mythoskritisch. Sie wird zur Moderne, zur Sehnsucht nach Ordnung durch ihr Vermögen, Mythen zu hinterfragen, zu historisieren und ihrer Gültigkeit zu berauben. Zugleich ist die Moderne als Suche nach Ordnung angewiesen auf den Mythos, denn nur der Mythos vermag, Ordnung zu stiften und dadurch die Sehnsucht zu stillen. Hierin erweist sich das komplementäre Verhältnis von Mythos und Moderne. Die Moderne schließt die Gültigkeit des Mythos aus und strebt sie dennoch an. Die Aufklärung führte zu einer radikalen Hinterfragung der religiösmetaphysischen Ordnung, die in der Folge zunehmend hinfällig wurde. Der Bereich ihrer Gültigkeit wurde vielfach auf die Privatsphäre beschränkt. Der „Sinn“, der von ihr ausging, war fragil und fragwürdig geworden oder gar gänzlich erloschen. Doch damit war die Sehnsucht nach einer äquivalenten Ordnung nicht beseitigt. Vielmehr entwuchs die Sehnsucht nach Ordnung gerade jenem Zusammenbruch der Ordnung, der Folge der Entdeckung ihrer Kontingenz war. So heißt es bei Bauman: „Die Entdeckung, dass Ordnung nicht natürlich ist, war die Entdeckung der Ordnung als solcher. Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewusstsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer 95 Insofern lässt sich die Dialektik von Freiheit und Ordnung als anthropologische Konstante bezeichnen. 96 Siehe hierzu: Wolfgang Lange: Tod ist bei den Göttern immer nur ein Vorurteil. Zum Komplex des Mythos bei Nietzsche, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bilder einer Rekonstruktion, Frankfurt/M. 1983, S. 111–137 sowie Peter Pütz: Der Mythos bei Nietzsche, in: Helmut Koopmann (Hrsg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1979, S. 251–262.
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Obsession. […] Ordnung als Problem tauchte erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken. Die Erklärung der ‚NichtNatürlichkeit von Ordnung‘ stand für eine Ordnung, die bereits das Dunkel […] hinter sich gelassen hatte.“97
Die Aufgabe, eine neue Ordnung zu entwerfen, ergab sich also aus der Auflösung der alten, auf „Gott“ als „Heiligem“ gründenden mythischen Ordnung, die das kritische Denken eingeleitet hatte. Das kritische, Ordnung auflösende Denken war die Hebamme, aber auch der Totengräber der Ordnung. Denn das kritische, historische Denken machte und macht vor keinem Ordnungsentwurf Halt. Doch erst viel später scheint es denkbar geworden zu sein, daraus die Konsequenz zu ziehen, den Versuch zu wagen, auf jegliche im Absoluten gründende und alles umfassende Ordnung zu verzichten und mit der Ambivalenz und der Kontingenz zu leben.98 Doch auch diese Haltung vermag, sofern sie es nicht bereits ist, wiederum selbst mythoid und legitimatorisch zu werden. Mit der Entdeckung der „Nicht-Natürlichkeit von Ordnung“ ging die Entdeckung ihrer Unmöglichkeit einher. Und dennoch oder gerade deswegen wurde Ordnung zur Obsession. Denn obwohl die Ordnung von vornherein mit der Kontingenz konfrontiert war, war es nicht möglich, sofern dies überhaupt möglich ist, den Gedanken der Ordnung preiszugeben.99 Es war eben „kein Kunststück“ die Kontingenz zu finden, sondern eine Unmöglichkeit sie zu verlieren. Die Übertragung der Eigenschaften des Transzendenten auf ein Immanentes verstärkte das Problem nur. Der absolute Status des Übersinnlichen wurde auf ein Innerweltliches, sei es die Vernunft, die Nation, die Rasse oder das Proletariat, übertragen. An die Stelle des alten „Gottes“ trat damit aber bloß ein anderer, vermeintlich perfekterer „Gott“ oder „Götze“, dessen göttlicher Status hinter einer säkularen Fassade verborgen blieb. Der alte Mythos wurde durch neue Mythen ersetzt oder ergänzt, deren mythischer Charakter meist durch den Mantel der Wissenschaftlichkeit verdeckt wurde. Und so fungierte die alte Ordnung zugleich als Gegenbild und als Vorbild der zu etablierenden Ordnung. Der Verdacht der Unmöglichkeit der Ordnung wurde entweder gar nicht wahrgenommen
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Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 19 [Hervorhebungen im Or.]. Sogar Nietzsches Denken sei, so Heidegger, noch metaphysisch, obwohl gerade er die Unmöglichkeit der Metaphysik infolge von „Gottes Tod“ verkündet hatte. Siehe Heidegger: Nietzsche II, S. 257–333. 99 Es scheint sinnvoll, die Akzeptanz der Unmöglichkeit von Ordnung dem „postmodernen“ Bewusstsein zuzurechnen, die Entdeckung der Unmöglichkeit von Ordnung jedoch als dem modernen Bewusstsein zugehörig zu begreifen, da sie die Entdeckung der NichtNatürlichkeit von Ordnung logisch begleitete. Dies ist dann möglich, wenn man den Unterschied von „modern“ und „postmodern“ nicht als zeitliche Abfolge begreift. Vielmehr erweist sich auch hier ein komplementäres Verhältnis: das moderne und das postmoderne Bewusstsein sind, auch wenn sie sich gegenseitig auszuschließen scheinen, in ein und derselben Epoche und in ein und derselben Person möglich. 98
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III. Ewige Ordnung
oder durch die „wissenschaftliche Beweisbarkeit“ des Immanenten verdrängt. Solange die Auflösung der alten Ordnung als „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“ wahrgenommen wurde, ließ sich dieser nur mit einem in einem „Heiligen“ gründenden Mythos beheben. Denn nur mit dem in einem Überhistorischen gründenden Mythos lassen sich Kontingenz beseitigen und Eindeutigkeit und Sinn herstellen. Der Verzicht auf den Mythos hätte die Preisgabe der Ordnung als Aufgabe vorausgesetzt. Letzteres setzt aber nicht nur die Einsicht in die Unmöglichkeit der Ordnung voraus, sondern sowohl die Weigerung, die inhumanen „Nebenfolgen“ des Ordnens zu akzeptieren, als auch die Bereitschaft, mit der Ambivalenz zu leben. Dann erst ist es möglich, auf einen „grand récit“ zu verzichten.100 Der Verzicht auf den Mythos setzt voraus, dass der „Ausnahmezustand“ als Normalzustand hingenommen und/oder bejaht wird und dass man es erträgt, mit der Ambivalenz zu leben. Von diesem Standpunkt aus mutiert die Moderne zu einem tödlichen Zwischenspiel. Sie verfügt zwar über das Werkzeug, mit dessen Hilfe sie Ordnung zu zerstören und „Freiheit“ herzustellen vermag. Sie hat jedoch das Können und die Kunst nicht entwickelt, derer sie bedarf, um mit dem Werkzeug umzugehen. Das moderne Bewusstsein ist einerseits bestrebt, Mythen zu zerstören, und andererseits für den Mythos anfällig, denn das moderne Bewusstsein begreift die Freiheit als Abwesenheit von Ordnung, als Chaos und Anomie. Das moderne Bewusstsein sehnt sich einerseits nach einer notwendigen, gegebenen und „natürlichen“ Ordnung und rühmt sich zugleich der Entdeckung der Kontingenz. Es berauscht sich an der „kopernikanischen Revolution“ und die Machbarkeit und der Entwurf von Welt gestatten ihm seine Allmachtsphantasien. Zugleich schaudert es dem modernen Bewusstsein davor, dass die Welt nur sein Entwurf ist, denn ein menschlicher Entwurf vermag nicht, den ersehnten Halt zu geben. Die Radikalisierung, die der Moderne inhärent war und ist, entspringt nicht zuletzt dieser paradoxen Ausgangslage, die allein im Mythos ihr pharmakon fand. Der Mythos war das Heilmittel und das Gift der Moderne. 101 Auch hierin besteht die Komplementarität von Mythos und Moderne. „Wir erklären uns selbst, was jene Welt nicht war, was sie nicht enthielt, wessen sie sich nicht bewusst war, was sie nicht wahrnahm. Jene Welt hätte sich in unseren Beschreibungen selbst kaum wiedererkannt. Sie verstünde nicht, worüber wir reden. Sie hätte ein solches Verstehen nicht überlebt. Der Augenblick des Verstehens wäre das Zeichen ihres nahenden Todes gewesen. Und er war es. Historisch war dieses Verstehen der letzte Seufzer der vergehenden Welt; und der erste Laut der neugeborenen Moderne.“102
100
Siehe Lyotard: Das postmoderne Wissen. Zum Begriff des pharmakon siehe hierzu Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: Ders.: Dissemination, Wien 1995, S. 69–190. 102 Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 17. 101
2. Der Faschismus und die mythische Moderne
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Für Zygmunt Bauman stellt die Entdeckung der Kontingenz jenen „letzten Seufzer der vergehenden Welt“ dar. Doch auch die Entdeckung der Unmöglichkeit von Ordnung ist das Zeichen eines Endes. Das Kunststück wird sein, diese Entdeckung nicht mehr zu verlieren.
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Die uneinheitliche Zitierweise für L’Ala d’Italia ist der variierenden Nennung und Nummerierung der Zeitschrift selbst geschuldet.
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Modell des Aviatikdiskurses, eigene Graphik. Abb. 2: Aby Warburg, Skizze zum Briefmarkenentwurf Idea vincit, Warburg Institute Archive, London. Abb. 3: Otto Heinrich Strohmeyer, Idea Vincit, 1926. Harvard Art Museum, Fogg Art Museum, Gift of Paul J. Sachs, M3027. Photo: Allan Macintyre © President and Fellows of Harvard College. Abb. 4: Gabriele D’Annunzio, Wiener Flugblatt, Archivi del Vittoriale, Archivio Iconografico, Gardone Riviera. Abb. 5: D’Annunzio im Flugzeug, Archivi del Vittoriale, Archivio Iconografico, Gardone Riviera. Abb. 6: Einbandillustrationen von Kriegsbüchern der Verlage Ullstein und Scherl. Ullstein Verlag, Berlin sowie August Scherl Verlag, Berlin. Abb. 7: Das fliegende Schwert, Verlag des Deutschen Offizierblattes, Oldenburg. Abb. 8: Werbeanzeige für die Fokker-Werke Schwerin, aus: Deutsche Luftfahrerzeitschrift XX (1916), Nr. 21/22 vom 22. November 1916, S. 336. Abb. 9: Plakat Durch Arbeit zum Sieg! Durch Sieg zum Frieden!, Inv.-Nr.: P 55/485, Deutsches Historisches Museum, Berlin. Abb. 10: Trauerzug für Oswald Boelcke,Vogel & Vogel Verlag, Leipzig. Abb. 11: Anzahl der in Deutschland publizierten kriegsliterarischen Titel, eigene Graphik. Abb. 12: Giacomo Balla, Balbo e trasvolatori italiani, 1931. Museo Storico dell’Aeronautica, Bracciano u. Tullio Crali, Incuneandosi nell’abitato (In tuffo sulla città), 1939. Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (Mart), Rovereto. Abb. 13: Fassade des Palazzo dell’arte und der Eingang zur Ausstellung, Edizioni d’Arte Emilio Bestetti, Mailand. Abb. 14: Ausstellungsgrundriss der Esposizione dell’Aeronautica italiana, Edizioni d’Arte Emilio Bestetti, Mailand. Abb. 15: Thayaht, Il grande nocchiere. Wolfsoniana – Fondazione regionale per la Cultura e lo Spettacolo, Genua u. der Duce als Pilot in Guido Mattiolis Mussolini avitore, Casa Editrice Pinciana, Rom. Abb. 16: „Halle des Ikarus“, Edizioni d’Arte Emilio Bestetti, Mailand. Abb. 17: Triumph des Willens, 1934/35, Produktion: Reichsparteitagsfilm der L.R. StudioFilm, Berlin; Drehbuch und Regie: Leni Riefenstahl. Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin.
Register Absolutismus der Wirklichkeit 44, 55, 79, 80, 115, 144, 354, 402, 411, 418 Adorno, Theodor W. 24, 34, 39, 43, 45, 88, 142, 404, 422 Aeropittura 353, 371–375, 377f., 382, 390, 422 Albertini, Luigi 109, 155 Altomare, Libero (Remo Mannoni) 334, 363 Anarchist, preußischer 244f. Ancien Régime 45, 159, 409, 413 Antihistorismus 51, 53, 63, 106, 316, 318, 329, 338, 340, 345, 352, 380, 387, 406, 413f. Antisemitismus 71f. Associazione Nationalista Italiana (ANI) 342 Associazione Nazionale Combattenti (ANC) 364 Aufklärung 23f., 39, 44f., 47, 50, 52, 55, 69, 74f., 77, 86, 88f., 95, 96, 99f., 130, 141f., 152, 197, 229, 404, 406f., 409– 411, 413f., 418, 428 Aufstieg, Topos oder Sinnbild des 12, 77, 96f., 151, 159, 162f., 224, 229, 268, 284, 311, 347, 353, 358f. 363, 377, 380, 387, 393, 397 Augenzeugenschaft 170–173, 178 August Scherl Verlag 171, 175, 179, 180–182, 194, 195, 287, 320 Augusterlebnis 54, 71, 119, 249 Ausnahmezustand 12, 408–411, 416, 426, 430 Authentizität 122, 152, 167–189, 170– 174, 178f., 180, 185, 190 Avantgarde 40, 51, 124, 275, 317, 327, 335, 337, 340, 341, 343, 351, 364 366, 381 Azari, Fedele 353, 371, 373 Balbo, Italo 371, 374–377, 379, 382f., 394–397 Balla, Giacomo 334, 353, 371, 377 Baracca, Francesco 117, 216, 389 Barbusse, Henri 221 Barthes, Roland 155, 382, 420 Barzini, Luigi 160 Bauman, Zygmunt 24, 29, 34, 37, 39– 41, 43f., 46, 48, 100, 141, 404, 426, 428, 431 Begnac, Yvon de 336
Benjamin, Walter 51, 53, 106, 269, 352, 356, 411, 422, 424 Berger, Peter L. 114f., 130, 145 Beschleunigung (beschleunigter Wandel) 48f., 51, 141, 149, 257, 317, 340, 359, 360–362, 407 Best, Werner 297f., 416 Bielovucic Cavalié, Juan 359 Bildung 69, 71, 73f., 226, 275 Binswanger, Ludwig 78, 90, 94 Binswanger, Otto 278 Blériot, Louis 154–156 Bloy, Leon 297 Blumenberg, Hans 55, 79, 80, 318 Blut 74, 105, 107, 110f., 114, 206, 234f., 250f., 253f., 265, 268f., 273f., 276, 295, 302, 306, 324, 328, 344, 350, 352, 379, 417 Boccioni, Umberto 334, 343, 350f., 355 Boelcke, Oswald 185, 213, 215, 223, 281f., 298–301, 303–306 Böhme, Erwin 100, 232 Brandes, Georg 46, 426 Brod, Max 153 Buddecke, Hans Joachim 227, 255 Bürgerlichkeit, Umdeutung der 257– 268, 270– 279 Bürgertum 36, 68–76, 218, 249, 252, 262f., 267, 270, 276f., 281, 295, 342, 344, 349, 356, 366 Bürgertums, Feudalisierung des 277 Burgfrieden 247, 260 Buzzi, Paolo 334, 353 Cadorna, Luigi 118, 126, 212 Calderara, Mario 160 Caporetto 108, 119, 123, 131, 216 Caproni, Gianni 126, 212, 353, 389 Carboni, Erbeto 384 Carli, Mario 353, 364 Carlyle, Thomas 200–203 Cassirer, Ernst 79, 86, 96–99, 202 Cervantes, Miguel de 149f., 172, 308 Charisma 34, 203–205, 241, 270, 273f., 282, 284, 300, 302, 305, 425 Chartier, Roger 173 Christus, als Motiv 113f., 116, 135, 393 Chronopolitik 15, 50, 141, 317, 402, 405 combattentismo 136, 364 composite elite 276
474 Constantini, Vincenzo 385f. Corradini, Enrico 342f. Crali, Tullio 377f. Crociera del Decennale 375, 394 Curtiss, Glenn Hammond 160f. Cutry, Francesco 383 D’Annunzio, Gabriele 62, 101–105, 107–117, 120–127, 132–139, 142– 144, 151f., 159–166, 216, 339, 351, 364–370, 380f., 387f., 391–393, 402, 406, 408, 422, 425 da Vinci, Leonardo 387, 394 Dahrendorf, Ralf 35, 70 Dante Alighieri 107f., 111, 117, 333, 392 Darwin, Charles 357 Dekadenz 28, 52, 144, 159, 278, 297, 315–317, 325, 333, 365, 387, 401, 406f. Delmarle, Aimé Felix Mac 343 Denken – historisches 46 – mythisches 82, 89, 98, 131, 142, 159, 189, 207, 309, 319, 331, 354, 367, 404f., 415, 427f. Denkraum 79f., 82f., 86, 97, 142, 354 Depero, Fortunato 353, 371 Der Arbeiter, (Ernst Jünger) 264, 275, 289, 296 deus ex machina 224, 399 Deutsche Luftkriegsbeute-Ausstellung 242 Deutscher Flottenverein 197 Deutscher Luftflottenverein 197f., 208, 303 Dialektik von Freiheit und Ordnung 12, 43, 319, 428 Dolchstoßlegende 259 Dottori, Gerardo 353, 371, 373 Douhet, Giulio 125, 212, 216, 376 Douhetismus 125 Eddelbüttel, Friedrich Wilhelm 287 Eichler, Ernst Friedrich 185, 242 Eliade, Mircea 114, 144f., 206, 333, 405f., 414 Eliten, konservative 36, 177, 241, 243, 325, 365f., 368, 374 Emanzipation 29, 37, 74, 249, 407 Entente 72, 78, 105–107, 142, 214, 216, 252, 339 Entzauberung 42, 55, 83f., 87, 89, 100, 141–143, 189, 405, 412 Erlösung, Topos der 87f., 113f., 135– 137, 143, 326, 332, 386, 393, 401, 407, 411f., 416f.
Register Esposizione dell’Aeronautica italiana (EAI) 22, 63, 317, 375, 383, 385f., 388f., 392–394, 396f., 403, 418, 420, 424f. Eulenburg und Hertefeld, Phillip Fürst zu 279 Euringer, Richard 238 Faschismus – als Bewegung 29, 31, 34, 58 – als fluides (diffuses oder pluralistisches) Phänomen 58–61 273, 367f. – als „kulturelle Revolution“ (cultural revolution) 29, 58, 61 – als politischer Modernismus 30, 32, 336, 402 – ästhetische Dimension des 30, 106, 150, 336, 386, 403, 418–425 – marxistische Deutung des 26, 367, 422f. – und Aviatik/Fliegerei 12–17, 143, 216, 238, 269f., 286–288, 293f., 310f., 315, 346, 353, 361, 371, 374– 382, 383–397, 399, 422–425 – und Beschleunigung 36, 317, 360– 363, 408 – und Ernst Jünger 285, 289–297, 329, 333f. – und Futurismus 317, 334–338, 361, 363–366, 369–374 – und Moderne (Forschungsdiskussion) 24f., 30, 32, 33–40, 100 – und Mythos 12, 30, 54f., 61f., 131, 144, 150, 159, 162, 165, 302, 308, 316, 362, 367, 369, 401–405, 411, 414, 416, 418, 421, 422–425 – und „Neue Zeit“/temporale Dynamik der Moderne 52–54, 57, 61, 297, 315, 399, 402, 405–408 – und Palingenese 54, 143, 251, 253, 268, 273, 302, 310, 316, 325, 332, 369, 402, 405–408 – Verständnis und Arbeitsdefinition des 12, 25–40, 45, 58–62, 100, 127–131, 139f., 367f., 411, 414, 418, 424 Faschismusdefinition – nach Griffin 31 – nach Nolte 27–29 – nach Payne 30 Faschismusforschung – vergleichende, 1. Phase 26 – vergleichende, 2. Phase 26–31 – vergleichende, 3. Phase 31–33, 58f. faschistisches Minimum 28, 31 Fasci di combattimento 138, 315 Feldbücherei 186f.
Register Fichte, Johann Gottlieb 245 Fillia (Colombo, Luigi) 353, 371, 373 Fiume (Rijeka) 62, 105, 127, 131f., 135–139, 395 Fliegerass, Geburtsstunde des 216 Flugschau von Brescia 15, 62, 151, 153, 155, 157, 160, 165, 308 Fokker, Anthony 211, 226, 242 Folgore, Luciano (Omero Vecchi) 353, 378 Forlanini, Enrico 387 Fortschritt 29, 35, 38, 48, 50– 53, 57, 61f., 69, 73f., 76f., 81–83, 89, 95, 98–100, 106, 141f., 144, 152, 154, 159, 229, 256, 318f., 344, 346, 352, 407 Fortschrittsglauben 77, 229, 291f., 316, 318, 360 Foucault, Michel 20f., 37, 58, 149, 202 Frank, Hans 59, 367 Französische Revolution 17, 23f., 38, 43, 52, 127, 290, 407 Freud, Sigmund 77f., 100 Fritzsche, Peter 13, 35, 40, 158, 232, 250, 401 Frontgemeinschaft 136, 260, 272, 290 Frühromantik 403, 409f., 416f., 419, 421 Führerheld 201, 205, 305 Führertum 30, 269, 270–272, 284 Fussell, Paul 14, 23, 62, 84, 150, 203, 223, 308 Futurismus 334–337, 339–341, 343– 346, 350f., 353, 355, 360f., 364, 370, 374 Gadamer, Hans Georg 17f. Garibaldi, Giuseppe 104, 106, 111 Gärtnerstaat 39, 412 Gefallenenkult 30, 116, 127, 326 Geiger, Carl, Oberbibliothekar 183– 185 „Geist von 1914“ 144, 247, 250f., 259f., 267, 285, 310 Geldnexus 260 Gemeinschaft – hierarchische 266, 268, 284, 299, 310, 422 – nationale 250f., 257, 284, 310 Gemeinschaft der Frontkämpfer/-soldaten Siehe Frontgemeinschaft Generation von 1914 163 Genette, Gérard 173, 181 Gentile, Emilio 25, 27f., 30–32, 54, 59, 127–129, 336f., 343, 382, 403, 405 George, Stefan 203, 392
475 Geschichtlichkeit 46, 99, 316, 318, 334, 345, 350, 352, 414 Geschwindigkeit 160, 162, 228, 341, 344, 350, 355, 358–364, 372, 392 Giolitti, Giovanni 133 Giovinezza 395 Giurati, Giovanni 396 Gontermann, Heinrich 228, 233, 250 Göring, Hermann 59, 261, 385, 396, 398 Greif- und Denkmensch 80f., 83 Griffin, Roger 25, 28, 31–33, 45, 54, 59, 139, 402, 405 guerra festa (Kriegsfest) 144, 355 Hackenberger, Willi 189, 190–193 Haffner, Sebastian 187 Haller, Hanns 268–270 Hausse der Kriegsliteratur 170, 183f., 186, 204f., 320f., 323 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 86, 409 Heidegger, Martin 28, 51, 53, 58, 80, 289, 292, 296f., 427 Heine, Heinrich 88, 299, 335 Helden, technische 12, 200, 224–229, 246, 263, 266, 276, 279, 284–294 Herf, Jeffrey 23, 37, 38, 52, 229 Himmler, Heinrich 188, 293, 361 Hindenburg, Paul von 215, 242, 259, 325 Hindenburgprogramm 215, 258 Historie – antiquarische 327f., 334, 340 – kritische 321, 327 – monumentalische 32, 54, 63, 316, 322 Historismus 17, 48, 50f., 316, 334, 405, 413, 416 Historismus, Krise des 17, 51, 63, 131, 403, 405, 412f. Hitler, Adolf 37, 59, 202, 204, 250f., 259, 269, 368, 398–401, 417, 425 Hoeppner, Ernst von 208 Höhlengleichnis 96–98 Hölderlin, Friedrich 297, 409 Homer 108, 356, 357 Horaz 206, 243 Horkheimer, Max 24–26, 34, 39, 43, 45, 88, 142, 404, 422 Hugenberg, Alfred 320 Huxley, Aldous 341 Ikarus, Mythos (oder Topos des) 27, 62, 83f., 97f., 102f., 117, 123, 143, 164, 315, 354, 375, 379f., 387, 390–393
476 Il Popolo d’Italia 138, 273, 315, 375, 381, 384 imitatio heroica bzw. dei 206 Immelmann, Max 180, 182, 228, 239– 241, 248f., 252, 306 Individualismus (auch Individualisierung) 41, 165, 237f., 257, 262–265, 271, 290f., 304, 309, 384, 395f., 414, 419 Industrielle Revolution 23, 38, 44 Industrieproletariat 266, 284f., 288, 290, 294f. Interventionismus (auch Interventionisten) 105–108, 119, 339 invention of tradition 304, 387 Irredentismus (auch Irredenta) 106, 111, 135, 137, 339, 342, 387 Italienisch-Türkischer Krieg 212, 387 Jagd, Topos der 234, 279 Jean Paul 81, 345 Jugend 34, 75, 105, 108, 179, 182, 194, 207, 249f., 263, 278, 296, 302f., 316, 325–327, 331–333, 348, 351, 364, 379, 380, 393, 395f., 412 Jung, Edgar Julius 272–275, 306 Jünger, Ernst 22, 53, 63, 86f., 113, 220, 223, 225f., 234f., 237, 244f., 249, 258, 263–265, 272, 275f., 285, 289– 298, 311, 316–318, 320–322, 327– 334, 337, 350, 354, 356, 402, 405, 408, 422 Jünger, Friedrich Georg 263, 265 Kafka, Franz 153–155, 159, 165 Kameradschaft 30, 259f., 262, 272, 282, 284, 286, 288, 320 Kant, Immanuel 43, 69 Kellogg, Frank Billings 95 Killinger, Erich 174f., 181, 185, 255 Konservativismus 61, 247, 333 Konsum 167–189, 196, 308, 323, 422 Kontingenz 12, 17, 44, 46, 49, 53, 144, 297, 319, 324, 332, 402–404, 408, 411, 416, 418, 426, 428–431 Koselleck, Reinhart 47–50, 100 Kracauer, Siegfried 171f., 409 Kraft durch Freude (KDF) 285 Kriegsjugendgeneration 188, 297, 308, 325f., 331 Krimer (Cristoforo Mercati) 379f. Kult der Geschwindigkeit 228, 392 Kult der Gewalt 235 Kultur, „primitive“ 80 Kulturindustrie 168, 237, 240, 243, 308, 422 Kulturprozesses, Stufenmodell des 81f.
Register Kybele 104 Laiblin, Louis 183–185 Lamszus, Wilhelm 230 Langemarck 134, 207, 218, 262f., 326 Langemarck-Mythos 218, 262f. Le Bon, Gustave 122 Lessing, Theodor 318, 319, 330 levée en masse 258 Lévi-Strauss, Claude 36, 142, 368 Liberalismus 23f., 30, 32, 36, 61, 69, 74, 78, 100, 264, 267, 275, 331, 405 Liebenberger Tafelrunde 279 Lindbergh, Charles 14, 157 literariness of real life, curious 62, 150, 151, 167, 196, 203, 308 Londoner Protokoll 107 Longoni, Attilio 381 Löwith, Karl 249 Ludendorff, Erich 215, 290 Luftfahrtindustrie 157f., 210, 212, 308 Luftstreitkräfte, soziale Zusammensetzung der 280 Luftwaffe, italienische Siehe Regia Aeronautica Luftwaffe, nationalsozialistische 248, 261, 287f., 304f., 398 Lukács, Georg 11, 409 Machtergreifung 259, 315 maggio radioso 54, 105, 107, 119 Mann, Michael 33, 59 Marinetti, Benedetta Cappa 353, 371 Marinetti, Filippo Tommaso 60, 108, 144, 334–340, 343–349, 351–353, 355–359, 363–371, 373, 422 Marsch auf Rom 13, 315, 366, 385f. Marsch von Ronchi 106, 138 Marx, Karl 36, 41, 43, 86, 237 Marxismus 27, 32, 58, 61, 267f., 331 Maschinenkrieg 197, 224–229, 276, 278f., 281, 287, 290, 310, 354, 378 Maschinenkrieger 276, 278f., 281, 287 Massengesellschaft 22, 60, 62, 198, 247, 258f., 263, 267, 272, 367f., 422 Massenkrieg 152, 168, 220, 232 Massenlesestoffe 63, 166f. Matteotti, Giacomo 368 Mattioli, Guido 13, 380, 389–391 Medienarbeiter 168, 189f., 196, 422 Medienlandschaft 167f. Meinecke, Friedrich 71 Menschmaschine 164 Michaehelles, Ernesto (Thayaht) 390f. Misogynie 162, 346 Mobilmachung
Register – literarische 22, 63, 152, 168, 216, 308, 423 – totale 257–259, 263, 289–291, 296 Moderne – als dialektischer Prozess der Ordnungsdeligitimation und -errichtung 46 – als Ethos 40, 46f., 319, 360 – als Kategorie der Gesellschaftsbeschreibung 41 – ambivalente 24, 43 – andere (alternative) 14, 33, 139, 219, 316, 336f., 342 – Basisprozesse der (modernistisches Minimum) 41 – flüchtige 47, 52 – Geist der 39, 43– 47, 49, 51, 76, 86, 88, 319, 335, 368, 408 – liberale 16, 24, 45, 67f., 229 – marxistische 16, 101 – multiple 41f. – mythische 14–17, 23, 32, 62, 67, 81, 86, 103, 141, 150, 295f., 298, 306, 317, 337, 340, 398–431 – Zeitlichkeit der mythischen 340, 344 – Projekt der 34, 39, 100, 404 – temporale Dimension der 41, 47–54 – Zeiterfahrung oder Zeitlichkeit der 48f., 100 Moderne und der Holocaust 34, 36, 39 Modernisierungstheorie 24, 34–38, 41f., 55, 100 Modernismus 32, 335f., 341, 360, 378, 383, 402 – reaktionärer (reactionary modernism) 23, 38, 229, 337 Modernität 24, 30, 33, 35, 37, 40, 42, 45, 159, 295f., 385, 390 Moeller van den Bruck, Arthur 32, 333, 361 Morasso, Mario 342 Mosse, George L. 25, 29–31, 58f., 73, 116, 122, 127f., 134, 143, 405, 425 Mostra della rivoluzione fascista 382, 386 Müller, Max 268f., 284, 304 Müller, Wulf Dieter 296 Musil, Robert 224 Mussolini, Benito 13, 30, 56, 102, 104, 106, 108, 121, 138–140, 144, 204, 273, 315, 335f., 364–370, 374–376, 380, 384–387, 389–391, 393–395, 425 Muzio, Giovanni 383 Mythos – als Beglaubigungsart 56, 144 – als Diskursform 57, 368, 419, 423
477 – als falsche Erzählung 54 – als Mittel zur Abwehr des Absolutismus der Wirklichkeit 55, 144, 354 – als pharmakon 430 – als soziale Praxis 56, 421 – ästhetische und religiöse Dimension des 105, 150, 397, 403, 418–425 – Definition des 54–57 – Diffusion des 150, 152, 299, 309, 422f. – Komplementarität von M. und Moderne 402, 417, 426, 428, 430 – Medien (auch mediale Kanäle) des 152, 165, 381–383, 385, 395, 397, 420f. – palingenetischer (der Erneuerung und der Wiedergeburt) 17, 159, 246, 251, 273, 302, 304, 311, 316, 320, 354, 369, 381, 388, 402, 405–407 – und Aufklärung 39, 44–45, 54f., 86, 88, 95, 100, 141f., 404, 409–411, 428 – und die Krise der Vernunft 17, 63, 403, 408–412, 416 – und die Krise des Historismus 17, 63, 131, 403, 405, 412–418 – und Gemeinschaft (siehe auch Mythos vom „Geist von 1914“) 55f., 144, 206, 251, 266, 273, 299, 317, 320, 336, 348, 354, 395, 401, 403, 409, 419, 421–425 – und Helden 206f., 299 – und Historie (auch Geschichtsschreibung) 318, 330, 403, 414f. – und Logos 54, 57, 80–83, 85, 88, 99f., 142 – und Mafarka 348f. – und Magie 83, 88, 103, 141 – und politische Religion 130f., 143, 403 – Unmöglichkeit des 29, 51f., 297f., 411, 416, 426–431 – vom „Geist von 1914“ 144, 247, 250f. – Zeit des (auch mythische Zeit) 57, 107, 144f., 306, 333, 343, 362, 387 Natale di Sangue 366 Nationalismus 23, 30, 71–74, 77, 118f., 133, 158, 177f., 246f., 298, 310, 321, 331, 344, 351, 366 – modernistischer 339, 343 – neuer 247, 294f., 328, 342 – Radikal- und populistischer Ultranationalismus 229, 247, 252f., 261, 295, 344
478 Nationalsozialismus 16, 24, 26, 29, 34– 37, 40, 59, 61, 128, 142, 202, 218, 250, 256, 259f., 262, 264, 266, 269f., 273, 285, 288, 295f., 304, 333, 399, 427 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 62, 273, 333, 360 Nationalsozialistisches Fliegerkorps (NSFK) 398 Nervosität 79, 278 Neue Mythologie 409–411, 419, 421 Neue Rechte 246f., 271, 273, 325, 327, 333 Neuer Adel 22, 134, 162, 246, 265f., 268–271, 275–279, 284, 310, 422 Neuer Mensch 15, 30, 39, 130, 134, 143, 151, 218–220, 225, 229, 246f., 266, 269f., 275, 293, 304, 315, 329f., 334, 342, 346–349, 354f., 359, 377, 393, 402, 422, 425 Nietzsche, Friedrich 12, 32, 46, 51, 54, 75, 123, 245, 249, 278, 289, 316, 318f., 322, 325, 328–330, 332–334, 345, 350f., 362f., 403, 405, 410f., 414– 417, 419, 426–429 Nolte, Ernst 27–29, 31, 37, 138 Nomos 12, 17, 44, 82, 115f., 126, 130f., 145, 369f., 401, 419 Obdachlosigkeit, transzendentale 11, 12, 29, 52, 54, 61, 297, 324, 367, 396, 400, 409, 424 Offizierskorps 118, 276f., 280 Opfer 63, 82, 105, 107, 110, 114–116, 123f., 134–136, 143f., 163f., 189, 205–207, 219f., 225, 232, 235, 246f., 251, 259, 269, 302, 325, 332, 334, 354, 379, 381, 386f., 393, 401f., 407f., 422f. Opferheld 200f., 205, 218, 236, 246, 262, 285 Ordnung – als Aufgabe 29, 44, 46, 99f., 141, 402, 408f., 411, 418, 425f., 427, 429f. – symbolisch-semantische 18f. – der Gesellschaft oder Gemeinschaft 15, 139, 244f., 253, 259–261, 263f., 266, 268, 294, 310, 396 – der Masse (auch der Massengesellschaft) 122, 198, 258– 260, 267, 272 – der Zeit (auch temporale oder zeitliche) 49–54, 98, 305f., 319f., 331f., 354, 389, 397, 402 – ewige 12, 57, 315, 361, 370, 379
Register – gedachte 245, 251, 256f., 261, 285, 310 – göttliche 29, 417 – kontingente 403 – lyrische 144, 363, 366, 369f. – marxistische 61, 62, 101, 199 – metaphysisch-religiöse (auch alte) 43– 46, 76, 413, 427, 429 – mythische 45, 55, 57, 61f., 113, 142, 144f., 150, 165, 207, 257, 308, 310, 337, 402, 405, 411–414, 416, 422f., 426f., 429 – perfekte 12, 17, 45 – politische 366, 369 – Suche (oder Sehnsucht) nach 12, 14, 17f., 29, 45, 47, 53, 62, 76, 131, 141, 145, 245, 311, 369f., 401, 402, 404, 410f., 413, 418, 424f., 427f. Ordnung und Chaos (Verhältnis von) 44–47, 49, 79, 426, 430 Ortega y Gasset, José 257 Pagano, Giuseppe 383 Palingenese 32, 54, 130, 139, 325, 337, 402 Panofsky, Erwin 68, 72, 75, 81, 96f. Papini, Giovanni 343 Paratexte, Peri- und Epitexte 152, 167, 173f., 176–181, 184f., 190, 308 parole in libertà 342 Partito Nazionale Fascista (PNF) 62, 273, 364–366, 368f., 396 Partito Popolare Italiano (PPI) 133 Passatismus 316, 334, 340, 342f., 345, 346f., 349–351, 365f. Paxton, Robert O. 33, 59 Payne, Stanley 28, 30f. Petersen, Julius 94, 329, 332 Peukert, Detlev J. K. 24, 35, 37–39, 266, 324 Plüschow, Günther 174f., 182, 185, 248, 252, 255 Politik – Ästhetisierung der 107, 336, 403, 418 – Sakralisierung der 127–129, 131, 134, 136, 369, 403, 425 Populärkultur 22, 63, 152, 177, 304, 309, 420 Prampolini, Enrico 353 Prinz, Michael 37, 72, 239 Prometheus 83f., 162, 315, 354 pulp fiction 181, 196 Quilici, Nello 379 Rapallo-Vertrag 217, 366
Register Rassismus 30, 255f., 273 Rationalismus 17, 23, 39, 41–43, 55, 69, 80f., 89, 100, 141f., 205, 343, 409f., 412, 428 Rausch der Geschwindigkeit 160, 162, 350 Realismus, heroischer 290, 296f. Realissimum, heiliges 61, 129f., 310, 408, 417, 425 Redslob, Edwin 90f. Reformbewegung 139, 326 Regia Aeronautica 355, 374f., 381, 384f., 394–396 Reichardt, Sven 32f., 59 Reichssicherheitshauptamt 416 Religion, politische 27, 30, 126–131, 134–136, 143, 332, 403, 412, 418 Remarque, Erich Maria 222, 320f., 323–325, 327, 331 Republik von Salò 336 Revolution – anthropologische 15, 27, 130, 342, 358, 368 – konservative 247 Revolutionäre, konservative 32, 38, 53, 207, 272f., 333 Richthofen, Lothar von 196 Richthofen, Manfred von 180, 182, 185, 195f., 214, 223, 234–236, 265, 281–284, 298–300, 304–307, 310 Riefenstahl, Leni 22, 399f. Risorgimento 106, 111, 138, 339 rites de passage 246f. Ritter, Rittertum (als Topos) 149, 172, 187, 213, 215, 218f., 229–238, 241f., 254, 268, 270, 274–282, 284, 304, 309f. Roehle, Reinhard 194f. Rom 84, 111, 119, 136, 138, 153, 353, 377, 384, 386, 395 – als Topos (auch romanità) 105, 107f., 111, 126, 138, 343, 361f., 374, 379, 389, 395 Romantik 11, 23, 38, 101, 130, 213, 296, 361, 409f., 421 Roosevelt, Franklin Delano 394 Rosenberg, Alfred 59, 417 Rostow, Walt W. 35, 36 Säkularisierung 41f., 50, 57, 127, 429 Salandra, Antonio 107, 110f. Salzmann, Erich von 195f. Sattelzeit 47, 50, 360 Schäfer, Emil 179, 248 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von 409, 421 Schlangenritual 78, 83, 85, 87, 89, 95f.
479 Schlangenritual-Vortrag 78, 85, 95f. Schlieffenplan 220 Schmitt, Carl 53, 408, 411 Schoenbaum, David 35, 269 Schönheit der Arbeit 285 Schopenhauer, Arthur 249 Schramm, Wilhelm von 272, 274 Schundliteratur 175, 181–183, 186 Schwarte, Max 288 Schwarz, Hans 134, 207, 326 Siegert, Wilhelm 210, 213, 215 Sironi, Mario 383f., 388 Soffici, Ardengo 343 Soldan, George 226 Solidarität, totale 257, 263–265, 310 Somenzi, Mino 352, 353, 371 Somme, Schlacht an der 197, 213– 215, 229, 301, 304 Sonderwegsthese 24, 35f., 38 Sonnino, Sydney 137 Sozialfaschismusthese 26 Spengler, Oswald 332f. Sport 151f., 154–157, 209, 232–234, 238, 240, 254, 282f., 308, 320, 389, 393 Stahlgestalt 270, 275, 278, 293, 304, 310 Star 237, 239, 240f. Stein, Gertrude 321 Stellungskrieg 200, 211, 213, 218–222, 230, 246, 279, 282, 309, 360 Sternhell, Zeev 58f. Stresemann, Gustav 68, 91–95 Strohmeyer, Otto Heinrich 68, 91–93, 95 Supf, Peter 398f. Symbolismus 102, 338 Tag der Luftwaffe 305 Tato (Sansone, Guglielmo) 353, 371 Technik 23, 38, 41, 77, 81–90, 124, 143, 154, 156, 158, 160, 162,168, 175f., 182, 197, 209f., 214, 219f., 224–230, 235–237, 255, 270, 276, 278f., 284–294, 296, 309f., 317, 350, 353f., 356, 358f., 376, 412 Technikbegeisterung 155, 158f., 187, 228, 350, 392 Thingspiel 420 Thomsen, Hermann von der Lieth 191f., 302 Tolstoj, Lew Nikolajewitsch 412 Tommei, Ugo 338 Totalitarismus 26–28, 35, 128–130, 296, 311, 336, 361, 368 Totem 15, 63, 80f., 381f.
480 Treves, Emilio u. Guido (auch das Verlagshaus) 109f., 112, 174, 375 Trient (Trento) 111 Triest 110–112, 132, 138, 342, 353 trincerocrazia 273 Troeltsch, Ernst 413f. Tucholsky, Kurt 157, 159 Tugend 203, 206, 218, 230, 248, 251, 256, 271, 274, 279, 305, 309f., 394, 396f. Turin 371, 426 Übermensch 62, 123, 143, 152f., 159, 162–165, 225, 278, 308, 330, 333, 345–348, 358f., 372, 392, 397, 411 Überwindung, Topos der 159 Udet, Ernst 180, 185, 226, 242, 248f. Ullstein Verlag 171, 174f., 181f., 186, 190, 193–196, 324 Universalismus 73 Valentiner, Max 194f. Vaterländisches Hilfsdienst-Gesetz 258 Verdun, Schlacht bei 197f., 213, 221f., 304 Vernunft (auch Krise der) 17, 23f., 39, 42, 52f., 55, 63, 69, 73–79, 82f., 89, 94, 96, 98, 100, 122, 142f., 145, 152, 205, 252, 403–406, 408–414, 416, 419, 429 Vertrag von Brest-Litowsk 216 Vertrag von Locarno 94 Vertrag von Versailles 94, 217 Virilität 124, 162, 189, 346, 372–374, 378, 380 Visconti di Modrone, Marcello 383 Vittoria mutilata (verstümmelter Sieg) 133, 137, 253, 311, 400 Vittorio Veneto 131, 216, 363, 379 vivere pericolosamente 124, 163, 227 Voegelin, Eric 27, 127, 128f.
Register Volksgemeinschaft 144, 246–265, 266– 298, 310 Vorwärts 218, 349, 361 Wagner, Richard 283, 399, 403, 410, 419, 421 Wahrheitspostulat 170, 172–174, 178, 185 Warburg, Aby 22, 62, 67–73, 75–101, 103f., 107–109, 124, 141f., 145, 152, 159, 278, 292, 318, 354, 358, 405, 411, 414 Weber, Max 24, 36, 38, 41–43, 55, 87, 203–205, 300, 404, 411f. Wegener, Georg 170, 230, 281f., 298, 300f. Weltbürgertum 70–73 Weltwirtschaftskrise 285, 324f. Werterelativismus 17, 403, 413 Wettlauf zum Meer 211, 221 Wien-Flug 123f. Wilhelm II. 269, 277 Wittgenstein, Ludwig 19, 60, 361 Wright, Gebrüder 83, 154 Wunder von Echterdingen 158 Zeit – heilige oder sakrale 54, 57, 206, 305, 309 – Ordnung der 15, 32, 49, 61, 88, 141f., 316f., 333, 369, 397, 407f. – profane 63, 116, 144f., 206f., 305, 309, 317, 333f., 338, 348, 362, 386f., 402, 405f. Zeppelin 84, 156, 158 Zeppelin, Ferdinand Graf von 158, 191 Zitelmann, Rainer 37 Zola, Émile 338 Zweig, Arnold 222, 225 Zweig, Stefan 77, 145
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse.
Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.
Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.
Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2 Band 2: Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9 Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6 Band 6: Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4
Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1 Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2 Band 10: Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8 Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6 Band 13: Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14: Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9 Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6 Band 17: Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7 Band 18: Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3 Band 19: Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1 Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0 Band 21: Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7
Band 22: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23: Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3 Band 24: Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25: Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2 Band 26: Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6 Band 27: Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3 Band 28: Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Band 29: Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abbildungen. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30: Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abbildungen. ISBN 978-3-486-58963-4 Band 31: Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abbildungen. ISBN 978-3-486-59809-4 Band 32: Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. Ca. 496 Seiten, 15 Abbildungen. ISBN 978-3-486-59810-0 Band 33: Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 Seiten, 6 Abbildungen. ISBN 978-3-486-59811-7 Band 34: Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5 Band 35: Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. Ca. 390 S. ISBN 978-3-486-59181-1
Band 36: Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. Ca. 528 S. ISBN 978-3-486-70496-9 Band 37: Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis in Zürich und Wien, 1840–1914 2011. Ca. 480 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3 Band 38: Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom BAMlag zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2011. Ca. 432 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5 Band 39: Stephanie Kleiner Staatsaktion und Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2011. Ca. 496 S., 20 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2