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German Pages 224 Year 2015
Peter Seibert (Hg.) Samuel Beckett und die Medien
2008-04-15 10-29-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0324176207198604|(S.
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Peter Seibert (Hg.) Samuel Beckett und die Medien. Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts
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Druck gefördert durch die IAG Kulturforschung an der Universität Kassel
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © René Münzer, Photocase 2008 Lektorat & Satz: Peter Seibert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-843-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT VORWORT PETER SEIBERT 7
VON HELLERAU BIS ZUM HELLESPONT ERIKA TOPHOVEN 15
SAMUEL BECKETT ALS REGISSEUR SEINER EIGENEN THEATERSTÜCKE VOLKER CANARIS 27
SAMUEL BECKETT, DIE AUFHEBUNG DER GATTUNGSGRENZEN UND DIE METALITERATUR KONRAD SCHOELL 49
ALL THAT FALL – BECKETTS SPIELERISCHES „ROAD AUDIO PLAY“ MARK-OLIVER CARL UND SIMONE MALAGUTI 65
SAMUEL BECKETTS FILM ROLF BREUER 87
IHRE EIGENE ANDERE: ZU SAMUEL BECKETTS ROCKABY MARTIN SCHWAB 93
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT INGO BERENSMEYER 117
BECKETTS UND BACONS MÜNDER MICHAEL LOMMEL 137
FERNSEHTHEATER – VIDEOPERFORMANCE. SAMUEL BECKETT UND DIE VIDEOKUNST INGA LEMKE 157
VON CALIGARI BIS RONDINONE. BECKETTS STUMMFILMREZEPTION ALS ANREGER NEUESTER VIDEOKUNST GABY HARTEL 189
ZUR ENTSTEHUNG DES HÖRSPIELS: IMMER DEIN, TUISSIMUS NACH SAMUEL BECKETTS ROMAN TRAUM VON MEHR BIS MINDER SCHÖNEN FRAUEN BERND HEINZ 209
AUTORINNEN UND AUTOREN 221
VORWORT PETER SEIBERT
1 Eine Mediengeschichte Becketts, die nicht nur dessen eigene Medienarbeiten berücksichtigt, sondern auch die medialen Umsetzungen und Transformationen seines Werks durch andere, könnte künstlerische und mediale Entwicklungen vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie in einem Brennglas reflektieren. Ein solches Projekt wäre ebenso aufschlussreich wie ehrgeizig und ist bislang allenfalls in einzelnen Medien, für einzelne Arbeiten Becketts angegangen worden. Zu den zentralen Aufgaben eines solchen Projekts müsste notwendigerweise das Skizzieren einer Bühnen- und Fernsehgeschichte von „Warten auf Godot“ gehören, zu der dementsprechend auch einige der genannten Ansätze vorliegen. Nimmt man die Fernsehgeschichte „Godots“ und vergleicht z.B. den Fernsehfilm Rolf Hädrichs aus dem Jahre 1963 mit der Studioproduktion Rüdiger Grafs auf der Grundlage der Tabori-Inszenierung von 1984, so scheint, dass sich zwischen beiden Adaptionen eine grundlegende Veränderung in der Transformationsstrategie vollzogen hat. Inwieweit es sich bei dieser Veränderung um einen Zufallsbefund handelt oder mit ihr bereits eine mediengeschichtliche Tendenz markiert ist, könnte – zumal dieser Vergleich die Fernsehadaption der Baseler Inszenierung (1970) ebenso ausklammert wie „Waiting for Godot“ in der Regie Michael Lindsay-Hoggs (2001) – erst durch eine Kontextualisierung geklärt werden. Der Fernsehfilm Hädrichs beginnt mit der Weiteinstellung einer ausgedörrten, unwirtlichen Karstlandschaft; durch einen Kameraschwenk wird die Endlosigkeit der unbewohnbaren Einöde, das transzendentale Verlorensein und das Unbehauste der beiden Protagonisten schon ausgestellt, bevor diese selbst ins Bild gerückt werden. Schon in der ersten Einstellung wird das Stück als Spiel um
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PETER SEIBERT
Erlösung oder Nichterlösung des Menschen aus einer existenziellen Not (das Leiden wird durch die brennende Sonne und die spitzen Steine sinnfällig) exponiert. Wenn der Junge im zweiten Akt wieder als Bote Godots auftritt, erfährt der Raum seine metaphysische Dimensionierung, der Auftritt des Jungen wird, zumal durch das Aufreißen der Wolken, als Epiphanie gestaltet. Folgerichtig travestiert der Baum, unter dem das dramatische Geschehen stattfindet, zum Holz Golgothas, von dem eine metaphysische Heilsbotschaft allerdings eben nicht mehr ausgehen kann. Hädrich hat eine konsistente und auch medienästhetisch überzeugende Deutung vorgelegt, gründend auf den interpretatorischen Vorgaben der fünfziger und frühen sechziger Jahren, inszeniert wie ein Echo noch auf die theologisch grundierte deutschsprachige Erstaufführung durch Stroux. Bei Hädrich reißt der Himmel auf, bei der Tabori-Adaption öffnen und schließen sich die Studiotüren und begrenzen den Raum als mediale Produktionsstätte – unterschiedlicher können Raumkonzepte kaum gedacht werden. Bei Taboris Bühnenbearbeitung war es das Theater, das als Spielort stets kenntlich blieb, war es das Schauspielen selbst, waren es die Auf- und Abtritte der namentlich aufgerufenen Schauspieler und der von ihnen dargestellten Figuren, war es überhaupt die ausgespielte Spannung zwischen Schauspielern und Rolle, war es der Suhrkamp-Band und der Rollentext, die Probensituation und der Verweis auf Inszenierungstraditionen, die bestimmend blieben. In der Fernsehadaption wurde zusätzlich auch das zweite Medium, das Fernsehen, permanent in Szene gesetzt: das Studio, der Probentisch, die Beleuchtung, die Kabel, Kameras und Kameraleute, die Regie über die Off-Stimme usw. Wenn die Figuren als Chiffren einer Grundbefindlichkeit des Menschen bei Hädrich aus der Zeit und der Geschichte fallen, holt sie bei der TaboriAdaption ein Wecker, der sich auf dem Probentisch befindet, zurück in eine Echtzeit, aber in die Echtzeit einer Aufführung.
2 Die Verschiebung, die sich zwischen Hädrich und Tabori/Graf damit abzeichnet, ist die zwischen einer Inszenierung, die dominant als Hermeneutik verstanden und betrieben wird und einem Inszenierungsmodus, der primär daran interessiert scheint, den SpielCharakter auszustellen und mit diesem die medienästhetischen As8
VORWORT
pekte auszuloten und offenzulegen. Die Medialität selbst wird mehr und mehr zum Thema der zweiten Transformation. Selbstverständlich wäre es falsch, dabei auf Trennschärfen zu beharren. Der eine Modus bleibt durchaus im anderen erhalten und zweifellos hat Hädrich sich mit Zuschreibungen an die Medien auseinandergesetzt und ästhetisch auf diese reagiert, so wie Tabori sich den hermeneutischen Traditionen und den entsprechenden Kontroversen nicht verschließt. Dennoch wird in der Fernsehgeschichte Becketts am Beispiel der „Godot“-Adaptionen etwas erkennbar, was in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Beckett erst später einsetzt, eben die Veränderung der Perspektive von einer hermeneutischen hin zu einer, die man – unpräzise und wenig differenzierend – als medienwissenschaftliche bezeichnen könnte. So polysem die Werke Becketts erscheinen mussten und so sehr sie schon von daher noch einmal eingeladen haben zu hermeneutischen Anstrengungen oder (an Adorno erinnernd) zu theoretisch hochgerüsteten „Verstehensversuchen“, so heftig waren solche Arbeiten doch von einem vom Autor selbst gepflegten antihermeneutischen Effekt begleitet. Dies gilt für Becketts Abwehr von literaturwissenschaftlichen Interpretationsvorschlägen ebenso wie für seine eigenen Regiearbeiten. Schon an Stroux’ „Godot“ störte ihn eine bemühte Sinnsuche, gegen die er seine Berliner Inszenierung setzte, komponiert aus Rhythmus, Variationen, Echos, Choreographie, kurz: „Godot“ als ein als solches kenntlich gemachtes, streng komponiertes Schau-Spiel, eine Inszenierungskonzeption, der Asmus bei seiner fernsehmedialen Transformation folgte. Vergleichbar auch Becketts bühnentheatrale Einrichtung von „Das letzte Band“ für die Werkstatt des Schillertheaters (Berlin 1969), von der Canaris schrieb, es gäbe in der Inszenierung „keinen Hinweis“ darauf, was Beckett „gemeint“ habe: „Das, was auf der Bühne zu sehen ist, ist für sich; bedeutet nicht etwas für uns. (…) Das Prinzip des Spiels verwirklicht sich, indem seine Grundelemente immer wieder in ihrer Funktionalität zum Spielzusammenhang durchsichtig gemacht werden. Das Spiel mit den Elementen des Spiels stellt die konkrete Prägnanz dieses Spiels her – und vice versa.“1
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Volker Canaris: Auf die Stille haben wir gesetzt. In: Volker Canaris (Hrsg.): Samuel Beckett: Das letzte Band. Regiebuch der Berliner Inszenierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1970, S. 119-129, S. 120. 9
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3 Dass Beckett die hermeneutische Literaturwissenschaft unterschiedlicher Provenienz auf eine Probe stellte, die im Übrigen zu großen Leistungen in der Beckett-Philologie anspornte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Beckett spätestens seit den 60er Jahren zum Paradigma eines multimedialen Autors avancierte. Die Differenz Becketts zu den meisten der multimedialen Autoren – eine Differenz, in der die eigentliche Verunsicherung und Provokation der Textphilologien lag – bestand dabei in der Tatsache, dass er die Medien nicht einfach belieferte, sondern in den Medien und mit den Medien produzierte. Die hohe Reflektiertheit, mit der dies geschah, sein Rekurs auf Mediengeschichte(n) – vom Theater über den Film zum Hörfunk usw. – und das Innovieren der Medienästhetik sichern Beckett einen singulären Rang, sichern ihm eine Wirkung bis weit in die zeitgenössischen Medienkünste hinein, erforderten aber zugleich einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel, d.h. eine medienwissenschaftliche Neuorientierung in den Literaturwissenschaften, eine Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs. Erst in dem Maße, indem sich dieser Prozess vollzog, konnte sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf den späteren Beckett richten. Damit rückten Fragen der Medialität bei Beckett ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, die nun mit Forschungsparadigmen wie Intertextualität und Intermedialität, wie sie in den achtziger Jahren reüssierten, beantwortet wurden. Der lange Prozess ist bekannt, während dessen die audiovisuellen Medien erst die Dignität eines Forschungsbereichs erlangten. Dies war kein immanent wissenschaftlicher Vorgang, sondern bedurfte des Abbaus massiver bildungsbürgerlicher Vorurteile in der Gesellschaft gegen die Massenmedien. Auch wenn Adorno die Nähe seiner ästhetischen Theorie zu Becketts künstlerischer Praxis beschwor und ihn als Kronzeugen in seiner Auseinandersetzung mit Hochhuth, respektive in seiner Ablehnung von Schillerscher Dramaturgie bzw. dem Realismuspostulat von Georg Lukács aufrief, zeigte sich in der Medienfrage, wie weit beider Positionen auseinander lagen. Die Pejorisierung der modernen Massenmedien, die – außerhalb der Avantgardebewegungen – nachhaltig zu einem distanzierten, allenfalls ambivalenten Verhältnis der künstlerischen und literarischen Intelligenz zu Film, Funk, Fernsehen geführt hatte, war durch die kulturindustriell begründeten Vorbehalte Adornos theore10
VORWORT
tisch noch einmal bestätigt worden. Adornos Verdikt traf vor allem das Fernsehen, das er im „Prolog zum Fernsehen“ bekanntlich auf der untersten Stufe seiner Medienhierarchie angesiedelt hatte, indem er ihm jede Bekunstungsfähigkeit absprach, und dem er nur eine affirmative, sänftigende Funktion zuerkennen wollte. Beckett demonstrierte sehr früh – als die Wissenschaft noch zögerte, sich auf die neuen Medien einzulassen –, dass der Zustand, in dem sich die Medien befanden, nicht als deren ästhetische Substanz genommen, ihnen aber durchaus neue Qualitäten abgetrotzt werden konnten. Film gegen Film, Fernsehen gegen das Fernsehen zu machen, schien Beckett, Avantgardepositionen aufnehmend, möglich und notwendig. Was das Fernsehen betrifft, fand Beckett eine fernsehgeschichtliche Ausnahmesituation vor, die in Nischen, welche bald vom Quotenfernsehen leer geräumt wurden, Experimentiermöglichkeiten zuließ, die den Charakter des Mediums als Massenmedium unterlaufen mussten. Dieser besonderen Situation verdankt sich auch die Gruppe der Mitarbeiter mit einem hohen Innovationspotential, die Beckett zur Verfügung stand. Dass das Ende dieser mediengeschichtlichen Phase nicht das Ende der medienästhetischen Wirkung Becketts war, begründet sich nicht zuletzt in einer Videokunst, die nicht nur die Anregungen Becketts aufgenommen und weiterentwickelt hat, sondern in der auch ästhetisch radikalisiert wurde, was das Fernsehen bereit war zu verspielen. Beckett, dessen Werk sich aus einer kaum mehr rekonstruierbaren Fülle aus Referenzen an und Reaktionen auf künstlerische und medienästhetische Traditionen speist, wurde so zum Anreger nicht nur einer avancierten internationalen Literatur – herausgegriffen soll nur Paul Auster sein –, er fungiert längst als Impulsgeber in verschiedenen Künsten und Medien. Aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Medienkünsten ist in den letzten Jahren eine Beckett-Forschung entstanden, die nicht nur die nationalphilologische Enge, die durch Beckett selbst ad absurdum geführt worden ist, längst aufgegeben hat, sondern sich als im wahrsten Wortsinne interdisziplinäre konstituierte.
4 Die folgenden Beiträge gehen zurück auf eine Vorlesungsreihe, die zu Becketts 100. Geburtstag in Kassel veranstaltet wurde, jener Stadt also, in die der junge Beckett einer Geliebten nachreiste und in 11
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der er sich mehrmals längere Zeit aufhielt. In sein frühes literarisches Prosawerk hat dieser Kasseler Aufenthalt Eingang gefunden. Die Vorlesung sollte eben jene Verschiebung des wissenschaftlichen Interesses von literaturwissenschaftlich-hermeneutischen Fragestellungen zu medienanalytischen, produktions- und wirkungsästhetischen markieren. Dass damit zugleich dem späteren Beckett größere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, liegt auf der Hand. Um ein möglichst breites Spektrum von Beckett-Forschern zum Thema „Beckett und die Medien“ zu Wort kommen zu lassen, waren sowohl Wissenschaftler eingeladen, die bereits seit den Anfängen einer Beckett-Philologie dieser wichtige Impulse gaben und sich durch ihre Beiträge auch in der aktuellen Diskussion zur Medialität Becketts engagieren (dazu gehören der Anglist Rolf Breuer und der Romanist Konrad Schoell), als auch jüngere Wissenschaftler, die sich in ihren letzten Publikationen vehement für einen Perspektivenwechsel eingesetzt haben: Ingo Berensmeyer, Inga Lemke, Michael Lommel. Auch sie kommen aus den anglistischen, romanistischen, germanistischen, kunstwissenschaftlichen Disziplinen; den Arbeiten aller Genannten ist aber die Transzendierung dieser Disziplinen durch einen medienwissenschaftlichen „turn“ zu eigen. Von Martin Schwab, dessen Beckett-Arbeiten im US-amerikanischen Kontext entstanden sind, wird die Medialität Becketts dagegen aus einer philosophischen Perspektive fokussiert. Da außerhalb der akademisch organisierten Wissenschaften – aber nicht weniger reflektiert als dort – schon früh auch die visuellen, auditiven Gestaltungsformen bei Beckett diskutiert und für die eigene Praxis umgesetzt wurden, war es geboten, auch Vertreter aus andern Bereichen, wie dem Kulturjournalismus oder der Ausstellungspraxis (Gaby Hartel), in die Diskussion mit einzubeziehen. Dass darunter „Zeitzeugen“ waren, Menschen, die noch mit Beckett zusammenarbeiten durften (wie Erika Tophoven, Walter D. Asmus, Volker Canaris), war Teil eines Konzepts der Vorlesungen, die sich nicht ausschließlich auf akademischen Bahnen „Beckett und den Medien“ nähern sollten. Mit den „Zeitzeugen“ beginnt der Band, wobei der erste Beitrag, Erika Tophovens Recherche und Dechiffrierung von biographischen Anspielungen, literarischen Verweisen, Zitatallusionen, Mythenrezeptionen usw. in „Smeraldina’s Billet-doux“ (aus dem 1934 erschienen Sammelband „More Pricks than Kicks“), auch als Reminiszenz an den Veranstaltungsort Kassel, dem historischen und lokalen Umfeld dieses Textes, zu lesen ist. Das Medium, das Erika 12
VORWORT
Tophoven hier diskutiert, ist der literarische Brief. Von der Theaterarbeit Becketts berichtet im Anschluss daran Volker Canaris. Wenn im Folgenden die einzelnen Medien von den skripturalen, über die auditiven hin zu den audiovisuellen den Turnus der Veranstaltungen und die Gliederung des Bandes vorgeben, so hat diese Systematik nur heuristischen Wert: Die einzelnen Beiträge selbst demonstrieren, wie wenig Buchtext, Hörfunk, Film, Fernsehen bei Beckett monomedial gedacht werden können, wie sehr das intermediale Beziehungs- und Referenzgeflecht, unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Definition von Intermedialität, konstitutiv für die Arbeiten Becketts ist. Der Band schließt mit einem Nachtrag, der wiederum eine Reminiszenz an Kassel enthält, indem er sich bezieht auf den „Kassel“-Roman Becketts von 1932 „The Dream of fair to middling women“ (in deutscher Übersetzung 1998: „Traum von mehr bis minder schönen Frauen“): Im zeitlichen Kontext zu „Beckett und die Medien“ entstand ein Hörspiel (als Variante zu „Beckett in den Medien“), das noch im Beckett-Jahr gesendet wurde und einen Hörspielpreis erhielt. Da das Hörspiel in seiner Audio-Version hier nicht zu publizieren ist, sollen wenigstens die Reflexionen seines Autors, Bernd Heinz, dokumentiert werden. Dass die Beiträger aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen kamen, bescherte (abgesehen von den unterschiedlichen Zugängen zum Thema) mehr als nur eine Abwechslung der Temperamente. Diese Lebendigkeit sollte gerettet werden, indem für die Publikation möglichst wenige Eingriffe in die Vorträge vorgenommen wurden, Stil und Duktus der Mündlichkeit bewahrt blieben. Dies erklärt den unterschiedlichen Status und Typus der Beiträge, erklärt aber leider auch, dass der Vortrag von Walter D. Asmus bei seiner Verschriftlichung so viel verloren hätte, dass es geraten schien, dieses Vorhaben aufzugeben. Simone Malaguti ist zu danken für die organisatorische Unterstützung, Mark-Oliver Carl für seine technische Begleitung der Veranstaltungen. Beide haben die Publikation mit vorbereitet, haben transkribiert, Korrektur gelesen. Mit beiden wurde die Konzeption der Vorlesungsreihe und der Publikation erarbeitet. Finanziell getragen wurde die Vortragsreihe von der Universität Kassel, dem Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften und der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Kulturforschung. Zu danken habe ich auch der „Samuel-Beckett-Gesellschaft“ in Kassel für die Kooperation. 13
PETER SEIBERT
Kristin Manke, Bernd Maubach, Patrick Pfannkuche und Janna Franziska Rakowski gilt mein Dank für die Vorbereitung zur Drucklegung.
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VON HELLERAU
BIS ZUM
H E L L E SP O N T
ERIKA TOPHOVEN
Der Liebesbrief der Smeraldina – The Smeraldina’s Billet-doux – begleitet mich seit über fünfundzwanzig Jahren. Er lag lange Zeit auf meinem Schreibtisch als eine der Kurzgeschichten des 1934 erschienenen Sammelbandes More Pricks than Kicks, der in den siebziger Jahren ins Deutsche übersetzt werden sollte. Mein Mann hoffte im Stillen, ich würde mich heranwagen, aber ich traute mich nicht. Mir blieb vieles unverständlich, zu viel, um die Problemstellen an ein oder zwei Nachmittagen mit dem Autor klären zu können, wie es bei unseren anderen Übersetzungen stets der Fall war. Aber das Buch sollte erscheinen, und so kam es wohl, dass Christian Enzensberger, zusammen mit studentischen Arbeitsgruppen am Anglistischen Institut der Universität München, die Übersetzung in Angriff nahm. Im Frühjahr 1989 erschienen zu unserer Überraschung, als Band 1000 der Bibliothek Suhrkamp, die Erzählungen, „…die uns mehr als zehn Jahre in Atem gehalten haben“, wie die damalige Lektorin des Verlages, Frau Elisabeth Borchers, uns am 16.3.1989 schrieb. „Es wird Sie hoffentlich freuen, dass es dennoch geworden ist!“ Es war keine reine Freude. Elmar Tophoven starb wenige Wochen später, Samuel Beckett am Ende desselben Jahres. Bald nach Becketts Tod durfte dann auch sein erster Roman Dream of Fair to Middling Women erscheinen, den er zu Lebzeiten nicht mehr hatte publiziert sehen wollen. Bei der Veröffentlichung zeigte sich, dass Smeraldina’s Billet-doux ursprünglich für diesen Roman konzipiert worden war. Man findet ihn nach etwa fünfzig Seiten als einen in den Text eingeschobenen Brief, ohne Titel, nur durch drei Sternchen vom fortlaufenden Romantext abgehoben. Der junge Beckett hatte Teile seines Jugendromans, den seinerzeit kein Verleger drucken wollte, zu den zehn Kurzgeschichten des Bandes More Pricks than Kicks umgearbeitet. Smeraldina’s Billet-doux resp. the German Letter, wie Beckett ihn in Dream bezeichnet, wur-
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ERIKA TOPHOVEN
de fast unverändert als Kurzgeschichte in den Sammelband übernommen. Für den deutschen Leser gibt es infolgedessen zwei Übertragungen dieses Briefes, eine in dem Band von Christian Enzensberger Mehr Prügel als Flügel und eine zweite in der Romanübersetzung Traum von mehr bis minder schönen Frauen von Wolfgang Held. Ich lasse im Folgenden beide Übersetzungen unberücksichtigt und gehe zurück auf das Original. Was brachte mich Anfang 2006 auf die Idee, diesen Brief als Ausgangspunkt für meinen Beitrag in Kassel zu wählen? Es waren zwei Gründe: Der fiktive Liebesbrief liest sich, als habe ihn die Smeraldina 1928 oder 1929, wenige Wochen vor Weihnachten, in sehnsüchtiger Erwartung ihres Bel(-aqua) in Kassel geschrieben, und der zweite Grund, es ist ein witziger Text, geschrieben in einem komischen englisch-deutschen Kauderwelsch, aus dem sich herauslesen lässt, wie intensiv sich der junge Beckett schon in jenen Jahren mit der deutschen Literatur beschäftigt hat. Ich hatte zwar Bedenken, ob dieser Brief in die Vortragsreihe „Beckett und die Medien“ hineinpasste, denn er ist kein Kommunikationsmittel im üblichen Sinne, vermittelt aber gerade in dieser ungewohnten Form Einblick in die Vielschichtigkeit Beckettscher Texte. Ich ahnte nicht, was mir bevorstand und ging etwas leichtfertig an die Arbeit. Der erste Gedanke war sogar, ihn als Comic-Serie zu bringen. Ich suchte zwanzig amüsante Stellen aus, und der Cartoonist Niels Olaf Schröder, ebenso begeistert von der Idee wie ich, entwarf dazu ein Leporello mit zwanzig Zeichnungen. Bei näherer Betrachtung erging es mir jedoch bald so, wie Beckett es vom Anstarren einer Rasenfläche in Mal vu mal dit/Schlecht gesehen schlecht gesagt (1981) beschreibt: Anfangs scheint sich kein Hälmchen zu bewegen, doch je öfter und je länger man darauf starrt, desto mehr gerät alles in Bewegung, und es stellt sich immer häufiger die alte Frage „Was soll es bedeuten?“ Samuel Beckett hat seinen Dream, und damit auch den Brief der Smeraldina, 1931/32 geschrieben. Sprachspiele und -spielereien waren bei all seiner Gelehrsamkeit (Gelehrte/Geleerte) für ihn ein Hauptvergnügen. So erfand er beispielsweise einen französischen Dichter namens Jean du Chas und schrieb dessen angebliche Gedichte selbst, „that amused me for a couple of days“, berichtet er seinem Freund Thomas MacGreevy. Im November 1931 hielt er vor der Modern Language Society in Dublin einen raffiniert verklausulierten Vortrag über diesen Jean du Chas. Die Übersetzung des viel16
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deutigen Textes, der 2003 in dem Suhrkamp-Band Dante und der Hummer – Gesammelte Prosa unter dem Titel Der Konzentrismus erschien, bereitete mir nicht weniger Mühe als bei näherer Hinsicht die Textanalyse von Smeraldina’s Billet-doux, denn es zeigt sich hier wie da, dass es bis ins kleinste ausgetüftelte Texte sind, strotzend von literarischen und philosophischen Anspielungen aller Art, und dass nur der sie genüsslich liest, der unter der Oberfläche der Wörter andere Bedeutungswerte erkennt. Nach monatelanger Beschäftigung mit dem Text begann ich in dem kleinen Brief ein festes Gefüge von Motiven zu erkennen, die mich in mäandrischer Weise von einer kleinen Stadt in Österreich nach Hellas führten, an die Meerenge zwischen Sestos und Abydos, von Hellerau (Laxenburg) zum Hellespont. Samuel Becketts erste Reise in ein deutschsprachiges Land führte ihn im Oktober 1928 nicht, wie lange Zeit angenommen, nach Kassel „in the pleasant land of Hesse, the German Garden“, sondern nach Österreich, an den Südrand des Wiener Waldes. Der weitgehend autobiographische Roman Dream schildert am Anfang eine Abschiedsszene am Pier von Dun Laoghaire, jenem Hafen südlich von Dublin, von wo die Schiffe ablegen zum europäischen Kontinent. An Deck steht die Smeraldina, alias Becketts Kusine Peggy Sinclair, die nach einem sommerlangen Zusammensein mit ihrem Bel-aqua, alias Samuel Beckett, abreist, „to study the pianoforte“ in einem Städtchen Mödelberg, zehn Meilen südlich von Wien. Wenige Wochen später folgt ihr der junge Verliebte, bevor er seinen Posten als Austausch-Lektor für Englisch an der Ecole Normale Supérieure in Paris antritt. Es ist Oktober 1928. Die Reise von Dublin per Schiff nach Ostende und von dort 29 Stunden auf einer harten Holzbank dritter Klasse bis zum Wiener Westbahnhof ist strapaziös. Wie geht es weiter? Alle Örtlichkeiten im Roman werden unverschlüsselt beim Namen genannt, sei es in Kassel, Paris oder Dublin. Auch Wien und der Wiener Wald sind auffindbar, aber ein Ort namens Mödelberg ist in ganz Österreich nicht zu finden. Als ich kurz nach Erscheinen von Dream auf Spurensuche ging, glaubte ich, in der Stadt Mödling den Ort gefunden zu haben, wo sich Ende der zwanziger Jahre jene very vanguard Schule Dunkelbrau befand, an der die Smeraldina Harmonie, Anatomie, Psychologie, Improvisation und noch manches andere studierte. Irrtum. Eine Schule namens Dunkelbrau hatte es in Mödling nie gegeben. Erst ein erfahrener
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ERIKA TOPHOVEN
Heraldiker brachte Licht in das Dunkel. Hier seine Worte, die ich noch am selben Abend auf meinem Anrufbeantworter vernahm: Hier Professor Weyss in Mödling. Sie waren heute bei mir im Museum und haben nach einer Schule gefragt. Die Schule heißt HELLERAU und ist in Laxenburg. Das sind also verdrehte Worte von Beckett, der aus Hellerau DUNKELBRAU und aus Laxenburg Mödelberg gemacht hat. Diese Rhythmikschule war die ganz berühmte Schule, die neue, damals ganz moderne Tänze gelehrt hat. Hellerau Laxenburg – das sind die gesuchten Worte.
Nun war alles klar. Am nächsten Morgen fuhr ich in das 10 km von Mödling entfernte Laxenburg und stand vor dem Blauen Hof, „the big blue Hof, where he lived, in a high dark room smelling of damp coverlets, with a glass-door opening onto the park.“ Und zehn Minuten entfernt, mitten im Park lag das Alte Schloss mit dem Torbogen, unter dem er sich abends von der Madonna verabschiedete – „kissing the Madonna good-night under the arch of the school buildings“ – und wo heute die Tafel hängt: IM ALTEN SCHLOSS ZU LAXENBURG BEFAND SICH IN DEN JAHREN 1925-1938 DIE VON STUDENTEN UND PÄDAGOGEN AUS DER GANZEN WELT BESUCHTE SCHULE FÜR RHYTHMUS; MUSIK UND KÖRPERBILDUNG „HELLERAU-LAXENBURG“.
Dunkelbrau – Hellerau: Der Brief der Smeraldina ist voll von solchen Gegensatzpaaren, bis zum Postskriptum: „One day nearer to the silent night“. „Konstellationen von Licht und Schatten, Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, weiß und schwarz spielen in allen Medien eine Rolle, mit denen Beckett sich befasst hat,“ schreibt Michael Lommel in seinem Buch Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel. Hellerau Laxenburg ist vielleicht ein erstes Beispiel dafür. Die Schwarz-Weiß-Metaphorik ist besonders auffallend in Becketts Einakter Krapp’s Last Tape. Beim Abhören eines alten Tonbandes stößt Krapp auf die Stelle: „Flagging pursuit of happiness. Unattainable laxation. Sneers at what he calls his youth and thanks to God that it’s over. Pause. False ring there…“ Laxation, ein ungebräuchliches Wort, könnte hier in metaphorischem Sinne gemeint sein. Es gelang Krapp nicht, etwas endgültig abzuführen, 18
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was vielleicht in der Wortbildung lax-ation steckt, die Erinnerung an glückliche Tage in Laxenburg. Der Name Hellerau muss bei Beckett eine Fülle von Assoziationen geweckt haben. Für deutsche Ohren hat er einen hellen Klang, für englische steckt darin „hell“, die Hölle. Zwischen Himmel und Hölle bewegen sich auch die Gedanken und Gefühle der Smeraldina. Sie beteuert ihrem Bel, wie sehr sie ihn liebt, und zwar auf deutsch: „über alles in dieser Welt, mehr als alles auf Himmel, Erde und Hölle.“ Aber ihre Liebe ist durchaus irdischer Art: „Oh! Bel I love you terrible, I want you terrible“, und sie wünscht sich seinen weichen weißen Körper naked! – so in der Romanfassung, Nagelnackt! in dem zwei Jahre später erschienenen Kurzgeschichtenband. Nagelnackt – eine Beckettsche Wortbildung aus nagelneu und splitternackt? Die Wiederkehr des Nagels in Becketts Werk ist auffällig. Hier nur ein paar Beispiele: In Endspiel sind es neben Hamm, dem Hammer, drei Nägel: Clov (clou), Nagg (Nagel) und Nell (nail). In Film hängt das Bild mit dem Antlitz Gottvaters an einem lang herausstehenden Nagel. Auch nahe der linken Schläfe von „O“ ragt ein dicker Nagel hervor. In Mal vu mal dit hängt der fischförmige Schuhknöpfer mit seinem Haken an einem Nagel, sein Griff schuppenähnlich bosseliert. Es liegt nahe, in dem ungewöhnlichen deutschen Wort Nagelnackt, mit großem Anfangsbuchstaben und Ausrufezeichen, ein christliches Symbol zu erkennen, einen Hinweis auf die Kreuzigung. Drei Nägel gehören zu den Passionswerkzeugen. Hinzu kommt, dass die Smeraldina in ihrem Liebesbrief gleich am Anfang den Film Der lebende Leichnam erwähnt, die Verfilmung eines Dramas von Tolstoi, dessen Erstaufführung im Theater in der Josefstadt, Regie Max Reinhardt, gerade in jenen Wochen stattfand, als Beckett zu Besuch in Laxenburg weilte. Ob er die Aufführung gesehen hat, lässt sich nicht nachweisen, aber der Titel, wiederum ein Oxymoron, wird ihm aufgefallen sein, da die Presse ausführlich über die Premiere berichtete. Es besteht auch eine Beziehung zwischen dem Nagelnackt! und dem Bild der Pietà von Perugino, das Beckett in jener Zeit in der National Gallery in Dublin bewunderte. In seinem Brief vom 22.12.1931 an seinen Freund Thomas MacGreevy schildert er ausführlich seine Eindrücke von dem Bild: I have been several times to look at the new Perugino Pietà in the National Gallery here. It’s buried behind a formidable blindage of shining glass, so that one is obliged to take cognisance of it progressively, square
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inch by square inch. It’s all messed up by restorers, but the Xist and the woman are lovely.
Er träumt sich schon am Anfang von Dream in die Lage der Christusfigur im Schoße der Muttergottes, die ihm wie in einen überirdischen Glanz gehüllt erscheint. Der ironische Ton täuscht nicht darüber hinweg, dass seine Liebe zu der leibhaftigen Smeraldina nach der anfänglichen Großen Liebe später als Paravent für eine über das Irdische hinausreichende höhere Liebe zu verstehen ist, ähnlich wie Beatrice bei Dante oder Laura bei Petrarca. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man sich den ganzen Namen Smeraldina Rima ansieht und bei Rima die Silben vertauscht zu Ma-ri oder die Kurzform Smerry als Saint Mary liest. Der Kosename Smeraldina – kleiner Smaragd –, der auch zu den in der Bibel und bei Dante erwähnten Edelsteinen zählt, ist aber wohl vor allem als Hinweis auf die Begegnung der beiden Verliebten auf der grünen Insel zu verstehen, auf Irland „the Emerald Island“, wie sie seit ihrer Unabhängigkeit oft genannt wird. Man findet auch interessante Parallelen zu Namen und Motiven des Billet-doux in Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris. Die Hauptperson darin ist die junge Zigeunerin Esmeralda, die einen Smaragd als Talisman um den Hals trägt. War es die Namensgleichheit von Margaret Ruth Sinclair mit Goethes Gretchen, die den Autor dazu führte, die Smeraldina, auf deutsch, Gretchens Klagelied anstimmen zu lassen? „Meine Ruh ist hin mein Herz ist schwer ich finde sie nimmer und nimmer mehr…“ Es ist erstaunlich, dass Beckett als Sprachanfänger im Deutschen so bald zum Faust griff und, wie man inzwischen weiß, ganze Hefte mit Anmerkungen zu seiner Faust-Lektüre füllte. Vor Antritt seiner Deutschlandreise 1936 frischte er seine Deutschkenntnisse auf, indem er wieder den Faust las. Es ist heute denkbar, dass der erste Anstoß zur Faust-Lektüre von Hellerau Laxenburg ausging, denn gerade während seines Aufenthalts dort probte die Tanzgruppe unter der bekannten Tänzerin Valeria Kratina ihren Auftritt bei der Festaufführung des Faust zum 40jährigen Bestehen des Burgtheaters in Wien. „Einzelne Bilder, namentlich die Walpurgisnacht, waren grandios“, wie die Presse berichtet, „Ein toller Wirbel, bei dem auch die Wolken am Himmel einen grauenhaften Tanz aufführten. Man hat ein Bild von einer derartigen hinreißenden Dämonie auf der Bühne überhaupt noch niemals gesehen.“ Verständnisschwierigkeiten wird es bei einer Faust-Aufführung für den irischen Gast nicht
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gegeben haben. Er kannte zweifellos die Bearbeitung des Stoffes von Christopher Marlowe: The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus (1604). Als er 1931 mit dem Schreiben des Romans begann, müssen ihm schon die ersten Sätze aus Goethes Faust aus der Seele gesprochen haben: „Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn…“ Becketts Überdruss an seiner Lehrtätigkeit wurde in den folgenden Monaten immer größer, bis er Ende Dezember 1931 beschloss, seine Universitätskarriere abzubrechen. Es war kein Pakt mit dem Teufel, den er einging, aber ein Aufbruch, ein Schritt ins Ungewisse. Er kehrte der Universität und Irland den Rücken und reiste, mit dem halbfertigen Manuskript von Dream in der Tasche, zunächst nach Deutschland, wo 1932 allerorten des hundertsten Todestages von Goethe gedacht wurde, vermutlich im Übermaß, sodass Beckett in der ersten Fassung des Billet-doux mokierend zu dem Gretchen-Vers in Klammern „Herr Geheimrat Johann Wolfgang Goethes Faust“ hinzusetzt. In der späteren Fassung bleibt nur die Anmerkung Goethes Faust bestehen. Beckett scheint sich zu jener Zeit auch gleich andere Werke von Goethe vorgenommen zu haben, wie Zitate in Rezensionen oder in seinen Briefen an MacGreevy beweisen. Am. 29.5.1931 teilt er MacGreevy mit, dass er mit der German Comedy begonnen hat und fügt hinzu, wieder auf deutsch, „Was ich weiß, kann jeder wissen, mein Herz hab ich allein!!“ (Werther II, 9.Mai). Die Lektüre dieses tränenreichen Briefromans mag ihn zu den Herzensergießungen der Smeraldina angeregt haben. Beckett parodiert ihre Sturm- und Dranggefühle und verleiht dem Brief noch eine zusätzliche Komik durch fehlerhafte Orthographie und Syntax. Mag sein, dass Peggys Briefe Sprachschnitzer im Englischen enthielten, weil sie seit ihrem elften Lebensjahr in Deutschland zur Schule gegangen war. Aber all die kleinen Stolpersteine im Text sind nicht willkürlich gesetzt. Manche verweisen auf eine veraltete Schreibweise – cam, els, writ, asswell – wie sie zu Shakespeares Zeiten üblich war, andere wiederum sind versteckte Fingerzeige auf Zeitgenossen (T.S.Eliot, genannt Opossum: „I supose“, Ezra Pound: a few dont’s, Joyce: „Our Exagmination round His Factification for Incamination of Work in Progress“, dessen Titel Joyce von ex agmine ableitete, bei Smeraldina ein Hinweis darauf das Wörtchen „agsactly“, u.a.m.). Der Name des florentinischen Geigenbauers, Belaqua, „der Dante einst ein erstes Viertel-Lächeln abgewann und nun vielleicht 21
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endlich mit irgendeiner Schar Glückseliger Loblieder singt,“ wie es bei Beckett in Compagnie/Gesellschaft heißt, Belaqua wird von der Smeraldina im Brief immer nur zärtlich oder beschwörend Bel genannt. Das Bel Bel Bel hört sich an wie das Läuten einer Glocke, sei es die Schiffsglocke, die alle Passagiere an Bord ruft oder das Läuten der Meerjungfrauen in Shakespeares The Tempest, wo der Luftgeist Ariel die Seenymphen hört: „Ding-dong. Ariel: Hark! now I hear them, – Ding,dong, bell.“ Ding-dong ist der Titel einer anderen Geschichte in dem Sammelband More Pricks than Kicks. Das Wort „Sturm“ ist ein Schlüsselwort im Brief der Smeraldina. Nicht ohne Grund erwähnt sie gleich zu Anfang den Besuch einen Filmes, der sie in Höhen und Tiefen des Gefühls versetzte: „I think I have never enjoyed or felt so sad at a Film as at that one, Sturm uber Asien, if it comes to Paris (erste Fassung), to Dublin (spätere Fassung), you must go and see it…“ Dieser grandiose Stummfilm von Wsewolod Pudowkin war 1929 eine Sensation und eröffnete eine Reihe herrlicher russischer Filme. Sie scheinen auch auf den jungen Beckett eine ungeheure Wirkung gehabt zu haben, der ein paar Jahre später sich sogar um einen Regieassistentenposten bei Eisenstein in Moskau bewarb. The Tempest war auch das Theaterstück, das Beckett beim Antritt seines Lektorenpostens an der E.N.S. mit seinem einzigen Studenten, Georges Pelorson, las. Pelorson alias Belmont berichtet in seinen Erinnerungen Souvenirs d’outre-monde über diese Zeit. Sie lasen das Stück mit verteilten Rollen, der junge Student, etwas verlegen, die Rolle der Miranda. Er war froh, wie er schreibt, als sie noch vor der Liebesszene beschlossen, ihre weiteren Sprachübungen ins nächstgelegene Bistro zu verlegen. Ein höllischer Sturm wütete auch einstmals an einer sagenumwobenen Meerenge, zwischen Sestos und Abydos, dem früheren Hellespont, heute die Dardanellen. Der Name „Helle“ geht auf die Jungfrau Helle zurück, die in den Wassern der Meerenge ertrank. Es heißt, dass in grauer Vorzeit ein Geschwisterpaar, Phrixos und Helle, von ihrer Stiefmutter für schlechte Ernten verantwortlich gemacht, den Göttern geopfert werden sollten. Sie wurden jedoch durch ihre Mutter Nephele gerettet, die ihnen einen Widder mit goldenem Vlies zuführte, der sie fort trug. Auf dem Weg über das Meer nach Kolchis fiel Helle an der Stelle, die später zum Andenken an sie der Hellespont genannt wurde, in die See. Phrixos aber kam heil ans Ziel, opferte den Widder und rettete das goldene Vlies, das zum 22
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Ausgangspunkt für die Argonautensage wurde. Im Billet-doux entsteht damit eine weitere Motivkette. Beckett ist am 13.April, im Sternzeichen des Widders geboren, französisch „bélier.“ Zur Geburt unseres Sohnes Philippe, der am 12.4.1965 zur Welt kam, gratulierte Beckett dem „petit bélier“ und schrieb versehentlich darunter sein eigenes Geburtsdatum: 13.4.1906. Andrew Belis war das Pseudonym, mit dem Beckett Anfang der dreißiger Jahre Texte signierte, laut James Knowlson der Name seiner Großmutter mütterlicherseits. Wahrscheinlich kommen auch hier mehrere Bedeutungen zusammen, vielleicht spielt sogar der Name des russischen Symbolisten Andrej Belyj (1880-1934) mit hinein. In dem Billet-doux sind es Wörter wie „Wollworth“, „Mammy“, „furcoat“, „agsactly“, die auf biblische Bilder hindeuten, auf das Lamm Gottes, auf Schafe und Böcke, auf den guten Hirten, auf Kain und Abel (Bela-qua/Abelqua) und auf „den lautern Strom des lebendigen Wassers“ (Bel/Lebaqua), wie es am Ende der Offenbarung Johannis heißt. Doch vielleicht dachte Beckett hier nur an das „eau de vie“ der Iren, an ihren Whiskey, ihr Aquavit. Der Hellespont ist auch der Ort der tragischen Liebesgeschichte von Hero und Leander. Das Thema wurde bereits in der hellenistischen Literatur behandelt, aber erst durch Ovid in den Jahren um Christi Geburt in der römischen Literatur bekannt, nicht, wie so oft, durch seine Metamorphosen sondern durch seine Sammlung Briefe der Heroinen, fünfzehn fiktive, im Versmaß der Liebeselegie gehaltene Briefe, in denen Frauen der mythischen Vorzeit den fernen Geliebten ihr Liebesleid klagen. Ovid durchmisst darin alle Stadien: Eifersucht, Trennungsschmerz, verzehrende Erinnerung, Treue und Tändelei, den Ruf nach dem Geliebten und den Schrei nach dem Tode, alles in der intimen Form von Briefen. Chaucer hat eine Reihe davon in seine Sammlung The Legend of Good Women aufgenommen, was wiederum Beckett zu seinem Titel Dream of Fair to Middling Women anregte. Später griff Marlowe das Thema von Hero und Leander auf, wurde jedoch vor Abschluss der Arbeit ermordet. Shakespeare führte sie fort und nahm sie als Vorlage für sein Kleinepos Venus und Adonis. Aufsehen erregte Lord Byron, als er am 8. Mai 1810 den Hellespont in einer Stunde und zehn Minuten durchschwamm. „Die eigentliche Entfernung beträgt nicht mehr als eine Meile, aber die Strömung macht es zu einem gewagten Unternehmen – so sehr, dass ich mich frage, ob Leanders eheliche Kräfte auf seinem Weg ins Paradies nicht erschöpft worden sind,“ berichtet er. 23
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Das Thema muss Beckett besonders angerührt haben. Vielleicht wurde er schon im Oktober 1928 auf Grillparzers Bearbeitung dieses Stoffes aufmerksam, denn, wie der Schluss des Billet-doux zeigt, kannte er Des Meeres und der Liebe Wellen schon 1931/32, als er Dream schrieb. In einem Brief an MacGreevy von 1936 erwähnt er Grillparzer: „…I am reading Grillparzer, but not the best of him (Hero & Leander), only the Jason-Medea trilogy, of which third part at least is magnificent.“ Mitte der fünfziger Jahre übersetzte mein Mann Becketts Roman Malone meurt. Darin befindet sich folgende Stelle: „…Ou c’est peut-être un soir d’automne et ces feuilles qui tournoient dans l’air, venues d’on ne sait où, car ici il n’y a pas d’arbres, ne sont plus les premières de l’année, vertes à peine, mais des vieilles, qui ont connu les longues joies de l’été…“ Die vorgeschlagene Fassung entsprach nicht den Wünschen des Autors, der bei der Zeile „qui ont connu les longues joies de l’été“ an die Worte der Hero bei Grillparzer gedacht hatte: Der Tag wird kommen und die stille Nacht, Der Lenz, der Herbst, des langen Sommers Freuden, Du aber nie, Leander, hörst du? nie! Nie, nimmer, nimmer, nie!
Die Smeraldina erwartet ihren Bel zu Weihnachten, zur stillen Nacht. Die erste Zeile des Grillparzer-Verses steht schon – auf deutsch – im Billet-doux: Der Tag wird kommen und die stille NACHT!!! I dont genau know when but if I dident think so I would cullaps with this agony, thes terrible long dark nights and onely your image to console me.
Beckett spielt hier wieder mit mehreren Bedeutungen, mit dem allbekannten Weihnachtlied „Stille Nacht, heilige Nacht“, das er zweifellos auch in Kassel gehört hat, dem Grillparzer-Vers, und auch mit der biblischen Bedeutung der Weihnacht, der Geburt des Heilands und seinem mit dem Wort „agony“ schon angedeuteten Tod. Geburt – Liebe – Tod –, die drei großen Themen, die jede menschliche Existenz auf Erden bestimmen und die von Samuel 24
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Beckett, sei es in dieser frühen spielerischen Form, sei es am Ende seines Lebens mit seinem letzten Text Stirrings Still immer neuen Ausdruck fanden. „L’Amour et la Mort – caesura – n’est qu’une mesme chose“ – heißt es am Schluss der Kurzgeschichte Love and Lethe in dem Sammelband. Bei Ronsard lautet der Vers – es ist die Schlusszeile seines Gedichts La Salade – „Naissance et mort est une même chose.“ P.S.: No symbols where none intended/Weh dem, der Symbole sieht/Honni soit qui symboles y voit (Watt addenda).
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SAMUEL BECKETT ALS REGISSEUR EIGENEN THEATERSTÜCKE
SEINER
VOLKER CANARIS Eine Vorbemerkung zu meinem Vortrag.1 Ich habe eines nicht getan: Ich habe keine Videoaufzeichnung von Samuel Becketts Inszenierungen mitgebracht. Meine Erfahrung ist, gerade da ich in beiden Medien gearbeitet habe und auch darüber nachgedacht habe, was ihre Eigenarten sind, dass die Videoaufzeichnungen von Theaterinszenierungen letztlich nur Hilfsmittel sind für das, was von dem transitorischen Vorgang Theater tatsächlich als Lebendiges übrig bleibt, nämlich die eigene Erinnerung. Ich habe mich dazu entschlossen, Ihnen lieber aus meiner Erinnerung zum heutigen Thema vorzutragen sowie aus Dokumenten, Kritiken, Regiebüchern, Erinnerungen von Leuten, die sehr viel stärker als ich bei der Arbeit Becketts dabei waren, zu zitieren. Mein Vortrag wird deshalb eine Collage aus Dingen sein, die ich vorbereitet habe und zitiere und Anderem, das ich versuche, aus dem Stehgreif oder in der freien Rede zu vermitteln. Zum Thema, zur Formulierung des Themas „Beckett als Regisseur seiner eigenen Stücke“: Ich muss das einschränken. Es handelt sich um drei Inszenierungen, um die es mir geht und von deren Grundzügen und Eigenarten ich berichten will. Beckett hat auch in England und Frankreich selbst inszeniert. Worüber ich sprechen will, sind aber 3 ½ eigene Inszenierungen, die er in Berlin am Schillertheater als Regisseur gemacht hat: in deutscher Sprache mit den Schauspielern bzw. an den verschiedenen Spielstätten des Schillertheaters – Sie wissen, dass das Schillertheater als selbstständige bzw. staatliche Bühne seit 15 Jahren überhaupt nicht mehr existiert, 1
Transkription des Vortrags, gehalten im Rahmen der Kasseler Ringvorlesung „Beckett und die Medien“ im Sommersemester 2006. 27
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dass also auch dieser theaterhistorische Ort nach der Wende der Abwicklung zum Opfer gefallen ist. Warum Beckett und Deutschland? Warum über Beckett als Regisseur seiner Stücke in deutscher Sprache sprechen? Zunächst: Die Aufführungen, über die ich reden werde, habe ich persönlich gesehen. Es sind drei: Die Inszenierung von Endspiel (1967) in der Werkstatt des Schillertheaters, die Inszenierung von Das letzte Band (1969) in der Werkstatt des Schillertheaters und die Inszenierung von Warten auf Godot (1975) auf der großen Bühne des Schillertheaters. Die halbe Inszenierung, von der ich gesprochen habe, hat 1965 stattgefunden. Es war auch Warten auf Godot, auch auf der großen Bühne des Schillertheaters, und warum diese halbe Inszenierung in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielt, werde ich gleich sagen. Über Beckett und Deutschland nur einige Worte: Es ist bekannt, wie stark schon die deutsche Sprache durch seine deutschen Kindermädchen für ihn eine Rolle gespielt hat. Hinzu kommen seine reisende Liebschaft mit seiner Cousine hier in Kassel und die große Deutschlandreise vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es gibt inzwischen ein sehr schönes Buch von Erika Tophoven über diese Reise oder zumindest deren Berliner Abschnitt. Aus dem Artikel, den Werner Spies zum 100. Geburtstag Becketts in der FAZ zu diesem Buch geschrieben hat, möchte ich folgendes zitieren: Becketts scharfes und träumerisches Auge beschreibt eine längst verlorene Zeit. Die Reise bricht in die Fensterlosigkeit, in die sich der Autor zurückzuziehen begann, Luken hinein. Durch diese erblicken wir Hildesheim, Braunschweig, Dresden, Kassel, Berlin, München, begegnen Musik, Museen und Menschen. Wie der Öffner in Cascando lässt Beckett uns in eine unwiederbringlich schmerzhaft schöne Welt eindringen. Es gibt kein zweites Erinnerungsbuch aus dem sich das Endspiel Deutschlands, der Untergang seiner Städte, Museen, seiner Bildung und Tradition mit derart heftiger Tristesse erfahren ließe.
Interessant ist, und das sieht man auch in Erika Tophovens Buch Becketts Berlin, dass von Museen, von Musik usw. die Rede ist, nicht aber vom Theater. Die Geschichte zwischen Beckett und dem Schillertheater begann unmittelbar nach der Uraufführung von Warten auf Godot. 1953 fand diese in der Regie von Roger Blin in Paris statt, und das Schillertheater bzw. dessen damaliger und langjähriger Chefdrama28
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turg Albert Bessler hat das Stück gelesen und es dem Intendanten Boleslaw Barlog zur deutschsprachigen Erstaufführung nahe gelegt. Diese fand dann im Herbst 1953 in Berlin statt. Es folgten weitere Inszenierungen, immer als deutschsprachige Erstaufführungen: 1957 wieder Das Endspiel, 1959 Das letzte Band und 1961 Glückliche Tage. Die Erstaufführung von 1953, im Schlossparktheater von Karl-Heinz Stroux inszeniert, war ein Skandal, erzeugte Verwirrung, Ablehnung, aber auch eine irritierte Faszination beim Publikum und bei den Kritikern. Beckett war selber da, Barlog hatte ihn eingeladen. Beckett war gekommen und fand die Aufführung, höflich wie er war, „zu deutsch“. Was meinte er damit? Ich habe die Aufführung nicht gesehen, habe aber sechs Jahre später eine Düsseldorfer Inszenierung des Stücks von demselben Regisseur, KarlHeinz Stroux, gesehen und kann mir ungefähr vorstellen, was er mit „zu deutsch“ meinte: sie war dunkel, sie war menschelnd, sie war bedeutungsschwer, bar jeder Leichtigkeit, bar jeder Komik, bar jedes spielerischen Aspekts und sie drückte auf die Bedeutung des Spiels von den Gott suchenden Menschen, die keine Antwort bekommen. Beckett hat dies, wie gesagt, höflich artikuliert: „deutsch“. Es gibt einen sehr schönen Bericht von dem Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft über eine Begegnung mit Beckett nach der Premiere. Sie fand in Mampes Guter Stube, einer Kneipe am Kurfürstendamm, zusammen mit Elmar Tophoven statt, der sie vermittelt hatte. Interessant daran ist zweierlei: In diesem Gespräch hat Beckett trotz der bohrenden Fragen von Friedrich Luft jegliche Auskunft über das, was dieses Stück zu bedeuten habe, verweigert. Er hat immer wieder nur auf das „Spiel“ verwiesen. Zweitens – und das beschreibt Friedrich Luft mit einer Mischung aus Resignation, Ironie und Bewunderung - bestand das Gespräch in erster Linie aus Schweigen. Beckett hat auf die ihm eigene, unnachahmliche Weise höflich, liebenswürdig, freundschaftlich geschwiegen. Warum hat sich das Berliner Theater damals um diesen unbekannten Autor so kontinuierlich gekümmert? Sicher weil die Theaterleute gleich gespürt haben, dass da ein ungewöhnliches Theatertalent war, eine ungewöhnliche Theatersprache und dass dort große, wichtige, spannende Rollen waren. Theater entscheidet sich letztlich immer für die guten Rollen. Die großen Schauspieler des damaligen Ensembles, Walter Franck, Bernhard Minetti, Berta Drews, Alfred Schieske usw. waren in diesen Aufführungen zu sehen und die großen Regisseure Stroux, Hans Bauer, Walter Henn – die Namen wer29
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den Ihnen allen nichts mehr sagen oder nur den wenigsten von Ihnen – haben diese Stücke inszeniert. Beckett war also von Anfang an sehr hoch in der deutschen Theaterszene angesiedelt und von Berlin aus sind seine Stücke durch die ganze Republik gegangen, sind Bestandteil der Spielpläne geworden – nicht nur der Offtheater, der Kammertheater, der Studententheater, sondern auch und vor allem der großen repräsentativen städtischen und staatlichen Bühnen mit all ihren Möglichkeiten. Vielleicht hat es auch eine Rolle gespielt, dass diese Stücke um „Nichts“ von Samuel Beckett im Westberlin der 50er Jahre einen Gegenentwurf zu eben jenem Theater darstellten, das im russischen Sektor als „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ auf die Bühne kam, also dem Theater Bertolt Brechts, der dort in Modellinszenierungen seine eigenen Stücke inszenierte. Wenn Sie so wollen war auch Beckett – unbewusst oder bewusst – ein Teil eines politischen Programms. „Ohne das Theater wäre Samuel Beckett ein ziemlich unbekannter Schriftsteller“, hat Georg Hensel in einem Resümee formuliert, das er in einem Buch zum 80. Geburtstag von Samuel Beckett geschrieben hat. Erstaunlich: Beckett war kein großer Theatergänger. Er ging ungern ins Theater und wenn, dann nur, wie er selber berichtet hat, um befreundete Schauspieler zu sehen. Die Schauspieler haben ihn allerdings von Anfang an interessiert, danach erst die Inszenierung seiner eigenen Stücke. Schon bei der Uraufführung von Godot durch Roger Blin 1953 in Paris hat Beckett, so wird berichtet, an den Proben teilgenommen und auf die Inszenierung Einfluss genommen. Zu dem ersten direkten Kontakt mit dem Schillertheater kam es 1965. Damals, immerhin erst 12 Jahre nach der Erstaufführung von Warten auf Godot (übrigens: Wir warten auf Godot hieß es 1953), machte das Schillertheater wieder eine Inszenierung von diesem Stück, diesmal auf der großen Bühne. Der Regisseur war Derryk Mendel, der schon in Berlin in der Werkstatt kleinere Stücke von Beckett inszeniert hatte und mit ihm befreundet war. Wenn ich mich recht erinnere, spielte er ein Jahr später die Hauptrolle in Becketts Film He Joe. Mendel kam mit den Schauspielern nicht zurecht. Die großen Stars des Schillertheaters, Bernhard Minetti an der Spitze, aber auch Stefan Wigger und Horst Bollmann ließen den Regisseur aus der Provinz – Mendel kam aus Ulm, wo er Spiel uraufgeführt hatte – ‚auflaufen’, wie man im Theaterjargon sagt. Drei Wochen vor der Premiere wussten Bessler, der Chefdramaturg, und 30
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Barlog, der Intendant, sich nicht anders zu helfen, als Beckett zu fragen, ob er kommen wolle, um beizustehen. Er kam ausdrücklich, um seinen Freund Mendel zu unterstützen. Auf diese Weise hat er zum ersten Mal sozusagen Regie führend, Co-Regie führend, assistierend, wie auch immer, die Bühne des Schillertheaters betreten. Auf der Bühne standen Stefan Wigger, Horst Bollmann, Bernhard Minetti und Klaus Herm. Drei von diesen Schauspielern, bezeichnenderweise Minetti nicht, wurden dann zu Becketts Schauspielern in Berlin. In der Inszenierung, die er 10 Jahre später gemacht hat, traten diese drei – Wigger, Bollmann und Herm – in einer etwas anderen Konstellation auf, zu der gleich noch etwas zu sagen sein wird. Aus dieser Zusammenarbeit entstand der Gedanke, Beckett tatsächlich die Regie eines seiner eigenen Stücke, jetzt nicht als ‚Nothelfer’ (man darf das über Beckett nicht sagen, aber es war so) zu übertragen, sondern von Anfang an. Das geschah 1967. Bessler und Barlog boten Beckett an: „Suchen Sie sich aus, welches Stück sie inszenieren wollen.“ Er entschied sich für Endspiel – mit der Bemerkung, es sei sein Lieblingsstück. Diese Endspiel-Inszenierung hat den Ruhm Samuel Becketts als Regisseur seiner eigenen Stücke in Deutschland, in Europa, im Welttheater begründet, ausgehend von der kleinen Bühne des Schillertheaters in Westberlin. Aus mancherlei Gründen zeigt sich da bereits Wesentliches, was den Regisseur Beckett im Umgang mit seinen eigenen Stücken auszeichnet. Zunächst einmal ganz entschieden, was ich eben schon aus dem Gespräch mit Friedrich Luft zitiert habe: die Zurückweisung der Erwartung, er solle, er wolle, er werde in der Inszenierung die Bedeutung des Stückes erklären oder auch nur zur Klärung beizutragen. Auf die Frage, was denn das Ganze solle, welche Rätsel, welche Lösungen im Endspiel formuliert und angeboten würden, hat Beckett geantwortet: „Endspiel will bloßes Spiel sein.“ Es folgt die entscheidende Formulierung: „Nichts weniger“. Das Spiel, das Spielen, der Stellenwert des Stückes als Spiel steht in der Sicht des Autors höher als das, was an Bedeutungen, an Aussagen, an Rätseln und Lösungen in ihm verborgen sein mag. Dieses ist sicher auch vor dem Hintergrund des berühmten Essays Versuch, das ‚Endspiel’ zu verstehen (1961) von Theodor Adorno zu sehen, also vor dem Hintergrund einer philosophischen Untersuchung des Stückes, die Beckett strikt abgelehnt hat. Der zweite Satz der Antwort auf die Frage, ob denn der Autor die Rätsel und Lösungen vielleicht beantworten könne, lautete lapidar: „Der dieses Spiels nicht.“ Bezeichnen31
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derweise hat er nicht gesagt: ‚ich nicht’, sondern ‚der Autors dieses Spiels nicht’. Wir kommen nachher noch einmal darauf zurück, warum ich denke, dass diese Formulierung äußerst signifikant ist. Die Inszenierung von Beckett ist außerordentlich gut dokumentiert, weil der Sekretär der Akademie der Künste in Berlin, Michael Haerdter, – sein Regieassistent war. (Beckett hat immer in der Akademie gewohnt, während er in Berlin inszeniert hat.) Diese Inszenierung hat er außerordentlich genau mit einem Probenbericht dokumentiert, der bei Suhrkamp veröffentlicht worden ist. Ich will aus diesen Probenberichten und aus diesen Erfahrungen zitieren, was Michael Haerdter formuliert hat. Zweierlei ist m. E. außerordentlich wichtig. Erstens: Beckett hat auf die Frage von Haerdter gesagt, seine Inszenierung sei eine mögliche szenische Lesart des Stückes. Er sei nicht derjenige, der die szenische Interpretation des Stückes gäbe – die philosophische ohnehin nicht. Also eine Interpretation auf der Bühne, abhängig von den Schauspielern, von den Umständen vom Raum, dessen Größe, seiner Atmosphäre usw. Auch darin war Beckett der absolute Gegenpol zum Theatermann Brecht, der ja behauptet hat, er würde Modellinszenierungen erstellen, über die es Modellbücher gäbe und die dann in der Provinz nachinszeniert werden könnten - also eine völlig andere, aus meiner Sicht eher absurde Art, mit Theater umzugehen. Beckett sagt: „Meine Interpretation ist eine, das Stück ist offen.“ Das Wort kommt vor: „offen“ für andere Lesarten, andere Schauspieler, andere Regisseure. Viele Lesarten sind möglich. Und ein Zweites wird in den Anmerkungen von Michael Haerdter sehr deutlich. Da kommt immer wieder das Wort „Echo“ vor. Ich bin der Ansicht, Beckett hat dieses Wort bei der Inszenierung benutzt, um Korrespondenzen zwischen Gesten, Bewegungen, auch zwischen Worten auf der Bühne herzustellen, durch Wiederholungen, durch kleine Variationen, jedenfalls durch Dinge, Worte, Laute, Bewegungen, Requisiten, Kostüme usw., die sich aus dem Spiel heraus aufeinander beziehen, um dadurch, eben nicht durch die Interpretation des Sinnzusammenhangs, den szenischen Sinn zu stiften. Dieses Wort „Echo“ wird uns später noch wieder begegnen. Ich möchte Sie gerne etwas hören lassen von denen, die bei der Inszenierung dabei waren. In erster Linie etwas von den Spielern. In jener Endspiel-Inszenierung war der Spieler des Hamm Ernst Schröder – ich sage mit Absicht der Spieler und nicht der Schauspieler, warum werden sie später noch hören –, Ernst Schröder hat 32
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im Tagesspiegel, von den Proben berichtet. Ich lese Ihnen, damit sie die Authentizität mitbekommen etwas vor von dem, was Schröder, der ein sehr intelligenter, ein sehr reflektierter Schauspieler war, für die Zeitung formuliert hat: „Wie Feuer und Asche ist dies Spiel“, sagte Beckett, während der Zuschauerraum eindunkelte zur Generalprobe. Beim Frühstücksbier sei es ihm eingefallen. Hamm und Clov seien beide auf Stille und innere Betrachtung eingestellt, aber immer wieder stört einer den anderen. Immer der andere ist der Störenfried, dann lodert plötzlich Feuer aus der Asche der Stille. „Sie können jetzt machen, was sie wollen, der Text gehört Ihnen, der Aufbau stimmt.“ Ich konnte nicht machen, was ich wollte. Abgesehen davon, dass ich es nicht vorhatte. Ich konnte nur das machen, was musikalisch richtig war. Spekulative Interpretationsgelüste waren auf der ersten Probe im Keim erstickt worden, als Beckett auf unsere Frage hin die Phonetik der Rollennamen bekannt gab. Wer Adorno oder Esslin gelesen hatte, wurde auf den Teppich zurückgeholt. Hamm ist die Abkürzung des deutschen Wortes „Hammer“. Clov ist französisch „clou“, der Nagel, und daher nicht „clove“ auszusprechen. Nagg ist die Abkürzung des deutschen „Nagels“. Nell kommt vom Englischen „nail“, der Nagel. „Also ein Spiel für einen Hammer und drei Nägel?“ – Frage des Schauspielers. Antwort Becketts: „Wenn Sie so wollen.“
Ich unterbreche das Zitat, um hierzu zwei Anmerkungen zu machen: Erstens: Es ist natürlich ein wunderbares Beispiel, wie Beckett bei seinem Text bleibt, keine Silbe preisgibt, aber auch nur bei den Silben bleibt. Der nächste Punkt, der von großer Relevanz ist für die gesamte Arbeit Becketts am Theater: Er sagt nicht ja oder nein, sondern er sagt: „Wenn Sie so wollen.“ D.h., er überlässt es den Schauspielern nicht aus Beliebigkeit, sondern aus der Überzeugung und, nach meinem Dafürhalten, später auch aus der Erfahrung heraus, dass sie diesen Freiraum brauchen. Die Freiheit sich zu entscheiden, wie sie es lesen wollen. Und das Zweite: Ein Hammer, drei Nägel? Die Konstellation des Stückes wird nicht weltanschaulich, nicht einmal situativ geklärt, sondern durch bestimmte Grundelemente von Theater. Energie, Dynamik und die Beziehung zwischen diesen Komponenten: der Hammer, der auf die drei Nägel einschlägt. Weiter muss man dies nicht interpretieren. Erstmal geht es darum. Also, wenn Sie so wollen: Ein Spiel in jedem Fall, das sich nur auf der Bühne aufschließt und über das man außerhalb der 33
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Bühne gar nicht sprechen sollte. Es entsteht erst im Raum und Beckett bestand darauf, dass dieser Raum für die Schauspieler eine vierte Wand besitzen sollte – gegen den Zuschauer hin. Für den speziellen Raum müssen wir die genauen Zeiten finden, in denen das Spiel abzulaufen hat, und auf der kleinen Bühne können die Pausen kleiner sein. Die Gänge sind es ja ohnehin und die Gesten müssen so klein wie möglich gehalten werden. Die große Geste würde den Raum noch kleiner machen. An einer anderen Stelle erzählt Schröder von einer Begegnung mit Beckett, die bezeichnend ist für die Sehnsucht, das Verlangen des Schauspielers nach einer Anleitung, bezeichnend aber auch für Becketts Art zu antworten: Natürlich versuchte ich dem wortkargen Mann gelegentlich doch eine Äußerung über die Psychologie der Rolle, das braucht der Schauspieler, Psychologie der Rolle, dem Regisseur zu entlocken. Ich sagte ihm schließlich, der Schauspieler auf der Probe erforsche nicht nur seine Rolle, er erforsche ja auch sich selbst unter der Lupe der Rolle und schließlich sei die Lupe in unserem Falle besonders getrübt durch den Filter des Autors. Beckett bestätigte das lächelnd. Wir arbeiteten am vorletzten Monolog Hamms: „Man weint und weint um nichts, um nicht zu lachen. Und nach und nach wird man wirklich traurig. Alle, denen ich hätte helfen können, helfen, die ich hätte retten können, retten. Sie krochen aus allen Ecken.“ „Ironie in das Wort Helfen,“ bittet Beckett, „denn was hilft ein Kilo Getreide gegen die Hungersnot auf die Welt.“ Ich frage Beckett, ob der mächtige Hamm nicht doch ein schlechtes Gewissen habe. Pause. Er schaut mich an, ein verschmitztes Gesicht, ein wenig verwundert und ein ganz klein wenig glücklich und er sagt leise: „Glauben Sie?“ Ich kenne keinen Autor und keinen Regisseur, der so geantwortet hätte. In diesem Moment aber begann Hamm zu atmen, wie ein Mensch, er war keine Rolle mehr. Hamm war ein Bekannter von Beckett und mir.
Ich denke, das ist genau der Vorgang, nicht des Autors, der dieses vermutlich verweigert hätte, sondern des Spielleiters, der mit dem Spieler die Erfahrung über die Rolle macht und dann auch noch keine Auskunft gibt, jedenfalls keine definitive, sondern seine Zustimmung in einer Frage formuliert und die Antwort dem Schauspieler überlässt. Dieses Grundelement von jeder sinnvollen und großen Theaterregie, hat Beckett schon bei dieser seiner ersten Inszenierung offensichtlich internalisiert gehabt. Er wusste sie instinktiv, woher auch immer, er hat sie praktiziert.
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Der damalige deutsche Kritikerpapst Henning Rischbieter, Chefredakteur und Herausgeber von Theater heute, der „Bibel“ des deutschen Theaters jener Zeit, hat seine Kritik über diese Inszenierung vom Endspiel in Berlin begonnen mit dem Satz: „Ich empfand sie als die endgültige Inthronisierung des Klassikers Beckett.“ Und über diesen Begriff des Klassikers Beckett im Zusammenhang mit den Inszenierungen seiner eigenen Stücke werden wir später noch genauer nachdenken müssen. Die Inszenierung entstand 1967. Sie wurde eingeladen zum Berliner Theatertreffen 1968. 1968, man muss sich erinnern, was damals in der Republik und vor allem auch auf dem Theater los war. Es ging um das Theater als politisches Instrument, um Agitationstheater, um Straßentheater, um Bewusstseinserweiterung im Theater und, und, und. Jedenfalls ging es um das Theater als politisches Medium. In dieser Zeit hat die Zeitschrift Theater heute, von Rischbieter herausgegeben, diese Aufführung vom Endspiel in Becketts eigener Inszenierung zur Aufführung des Jahres gekürt – gegen den allgemeinen Trend. Obwohl in der Zeitschrift jede Menge Artikel, Debatten, Diskussionen und Reportagen über eben jenes Agitationstheater waren (das Stück des Jahres war Kaspar von Peter Handke). Also: Diese „klassische“, den Klassiker Beckett inthronisierende Inszenierung wurde zur Inszenierung des Jahres gekürt. Ein damals 24 Jahre alter Redakteur von Theater heute, also nicht Rischbieter, und nicht der Herausgeber Melchinger, sondern jener 24-jährige nachdem dieser zunächst einmal seinen ganzen politischen Generationsgenossen, die sozusagen für das „richtige Theater“ gegenüber dem „guten“ plädierten, die Leviten gelesen hatte – schrieb: Beckett our contemporary: unser Autor. Adorno 1961 hatte es offensichtlich noch leichter bei seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen. Da gab es z.B. noch so etwas wie ein zerbombtes Bewusstsein, ein ziemlich erlittenes, zerschlagen passives Zeitgefühl. Endspiel bot zugleich einen Vorschein auf postkatastrophale Zustände und die Bombe, mit der man leben musste. Dieses Grauens-Emblem des kalten Krieges hing noch im Himmel des prosperierenden Nachkriegsdeutschlands. Inzwischen ist dies Grauen in Form von vielen kleinen Napalmbomben Wirklichkeit geworden. D.h. die Halluzination von der Bombe hat sich in den Bomben auf Vietnam stückweise materialisiert. Ein guter Teil Irrealität, die das Stück bei seiner Entstehung möglicherweise inspiriert haben mag, ist unserem Bewusstsein auf solche Weise mittlerweile abhanden gekommen. Also suchen wir jetzt den Autor, der uns die Gesetze dieser ausweglosen Bana35
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lität enthüllt, mit denen das Undenkbare zusehends in unsere Wirklichkeit überführt wird.
Was den Klassiker auf dem Theater ausmacht, nämlich, dass ein scheinbar altes, ein scheinbar unzeitgemäßes Stück gleichwohl in der Zeit und für die Zeit wirkt, weil es etwas Überzeitliches zu sagen hat, das hat jener 24-jährige Kritiker 1968 schon gewusst und formuliert. Er hieß Botho Strauß. Er war damals Kritiker bei Theater heute, hat dann sehr schnell, wenn man so sagen will, die Seiten gewechselt. Beckett hat als nächstes am Schiller-Theater in der Werkstatt Das letzte Band inszeniert, zusammen mit Martin Held. Über diese Inszenierung habe ich ein kleines Bändchen herausgegeben. Daraus möchte ich Ihnen etwas vorlesen, was ich aus eigenem Erleben, ich sage dies ganz vorsichtig, als die Kunst des Regisseurs Beckett im Umgang mit seinen eigenen Stücken wahrgenommen habe. Ich bin damals als Lektor des Suhrkamp-Verlags eine Woche auf den Endproben gewesen und habe die Aufführung immer wieder fotografiert. Für dieses kleine Büchlein in der Edition Suhrkamp habe ich dann mit dem Darsteller Martin Held lange geredet. Er hat mir jede einzelne Regieanweisung Becketts in die Feder diktiert, er hat mir jede einzelne Textänderung ebenso in die Feder diktiert, und ich habe es alles getreulich notiert und veröffentlicht. Was ich damals geschrieben habe, beginnt mit einem BeckettZitat: „Auf die Stille haben wir gesetzt.“ Dieser Satz Becketts, gesagt an einem Probenvormittag, wenige Tage vor der Premiere, bezeichnet den Kern von Arbeitsweise und Arbeitsergebnis der Berliner Inszenierung von Das letzte Band. Das Zentrum der Aufführung ist jener Moment, da Martin Held in völliger Reglosigkeit versinkt, den Kopf am Tonbandgerät birgt, nur noch auf die Stimme lauscht, auf seine Stimme, und nur eine Bewegung zu sehen ist: das gleichmäßige Sich-Drehen der Spulen. In diesem Moment werden die entscheidenden Aspekte der Welt Becketts ganz deutlich, wird erkennbar, dass Stille Konzentration auf Laute ist, Ruhe Konzentration auf einen Vorgang, Bewusstsein Konzentration auf sich selbst, dass Erinnerung Konzentration auf die Gegenwärtigkeit des Vergangenen heißt und dass Existieren an das Bewusstsein von Vergänglichkeit gebunden ist. Diese Bezüge können Beckett und Held nur klar legen, weil sie auf „Bedeutung“ gerade nicht zielen. Ganz im Gegenteil: Sie beschränken sich auf die reinen Elemente des Spiels, auf
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Bewegung und Ruhe, auf Sprechen und Hören, auf Gegenstände und Gesten, auf Helligkeit und Dunkel. Da ist zu Beginn des Spiels zu sehen, wie ein alter Mann am Tisch in einem Lichtkreis sitzt, um ihn herum ist es dunkel. Der Mann blickt vor sich hin, zieht die Arme zu sich heran, legt sie um seinen Körper. Er fingert eine Uhr aus seiner Tasche, führt sie vor die Augen, grunzt, blickt über die linke Schulter hinter sich, beginnt zu schmatzen, steht auf, öffnet, sich bückend, die Schublade des Tisches, holt eine Banane heraus… So geht das immer weiter. Man könnte das interpretieren als eine Chiffre von menschlicher Existenz. Der Fleck Behausung inmitten der undurchschaubaren Welt. Die Aussicht in das Unbekannte, in die Zukunft. Die frierend erfahrene Einsamkeit, das Bewusstwerden der Zeit als schmerzliches Begreifen der eigenen Existenz, als Innewerden des Vergehens. Die Reduktion auf das physische Vegetieren als gierig ergriffener Ausweg: die Banane. Man könnte das so interpretieren, doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass Beckett das so gemeint hat. Das Prinzip der Inszenierung ist es, keine Differenz zwischen dem Ablauf des Spiels und seiner Bedeutung für den Zuschauer entstehen zu lassen. Das, was auf der Bühne zu sehen ist, steht für sich, bedeutet nicht etwas für uns. Gerade dieses Verfahren, das die Identität von Text und Interpretation leistet, hat zur Folge, dass die Inszenierung dem Zuschauer eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten anbietet. Die Hermetik des Spiels schlägt um in Offenheit. Die Einfachheit der Vorgänge erweist sich als Reichtum, die Reduktion bis zur Abstraktion vorgetrieben, führt zum ganz Konkreten. Das Prinzip des Spiels verwirklicht sich, indem seine Grundelemente immer wieder in ihrer Funktionalität im Spielzusammenhang durchsichtig gemacht werden. Das Spiel mit den Elementen des Spiels stellt die konkrete Prägnanz dieses Spiels her und vice versa. Ich exemplifiziere dies dann an verschiedenen Elementen des Theaterspiels. Ich will Ihnen noch aus der Umsetzung dieses Prinzips durch den Schauspieler im Zusammenhang mit dem Regisseursautor ein Beispiel für das, was ich eben „Echo“ genannt habe, vorlesen: Es gibt im Spiel Martin Helds eine mehrfach wiederholte Bewegung. Diese Bewegung, ein leichtes Heben des vorher gebeugten Oberkörpers, eine aufmerkende Geste des Kopfes, eine Fixierung der Augen auf einen Punkt im Dunklen ist als Reaktion auf bestimmte Textpassagen gesetzt, rückt damit diese Passage in einen Zusammenhang, schlüsselt ihre Bezüge auf. 37
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Auf diese Weise erhält das dunkle Dienstmädchen die gleiche Funktion im Spiel wie Bianca und das Mädchen in einem schäbigen grünen Mantel auf einem Bahnsteig und jene sie, die das Zentrum der Erinnerung an die Fahrt im Nachen einnimmt und die Trägerinnen der Augen, die wie Chrysolithe waren. Insgesamt signalisiert die beschriebene Bewegung einen Zusammenhang, den Krapp schon zu Beginn des Spiels als verabschiedet bezeichnet hat. Liebe! Die geistige Substanz des Textes, Liebe als Impuls aus dem vergangenen Leben erscheint in szenischer Materialisierung in einer erinnernden, antwortenden Geste. Die den Text stark bestimmende Qualität der Liebe als einstmals entscheidender vitaler Kraft erscheint in der quantitativen Häufung der Wiederkehr der gleichen Körperbewegung in den Echos.
Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter auf die wirklich unglaublich faszinierende Art und Weise ein, wie Martin Held, selbstverständlich von Beckett angeleitet, angestiftet vom Spielleiter Beckett, mit seiner Stimme und eben nicht mit einer Stimme, sondern mit seinen verschiedenen Stimmen dieses Spiel strukturiert hat, indem er sich nämlich als Krapp der Zeit von damals, eingefroren auf dem Tonband, erinnert. In der nun medial vergegenwärtigten Gegenwart war Krapp 38 oder 39 Jahre. Diese Stimme auf dem Tonband ist ebenfalls Martin Helds Stimme, aber sie ist aufgenommen 1969 und es ist eine vollkommen andere Stimme, eben eine junge, männliche, selbstbewusste Stimme – anders als jene alte, greinende, entweder spöttische oder larmoyante, mal plappernde, mal obszön stammelnde, kaputte Greisenstimme, mit der Krapp, der auf der Bühne sitzt, spricht. Das unglaublich Faszinierende ist, dass er in einen Dialog mit sich selbst eintritt. Dieses scheinbare Monodrama, wo einer immer nur plappert und redet und redet, wird zum Dialog, natürlich zum Dialog mit sich selbst. Der lebendige Mensch tritt in den Dialog mit dem Menschen auf dem Tonband. Gelingen konnte dieses dialogische Spiel nur, weil Beckett mit Martin Held einen der ganz großen Schauspieler der Nachkriegszeit zur Verfügung hatte. Es gibt einige Prinzipien, die für Becketts Inszenierungen insgesamt gelten. Das ist meine eigene Erinnerung, das ist aber auch alles das, was in den äußerst sorgfältigen Arbeitsdokumenten immer wiederkehrt. Zunächst: Beckett war glänzend vorbereitet. Er kam mit einem fertigen Regiebuch. Das widerspricht scheinbar dem, was ich eben über die Offenheit gesagt habe. Erste Konstante: In diesem Regiebuch wurde zunächst nur eines festgelegt: der räumliche, der zeitliche, der bezifferbare, der mess38
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bare Zusammenhang des Ablaufs der Inszenierung, d.h. wie oft etwas wiederholt wurde, ob zweimal, ob viermal, ob fünfmal, ob ein Gang dreimal zu gehen war usw. Beckett fixierte schriftlich wie viele Schritte zu gehen waren, wo die Echos waren, wo sich Gesten, Bewegungen, Requisiten, Kostüme usw. echoartig korrespondierten. Zweite Konstante: Während der Inszenierung wurde die Übersetzung, also der Text, kurz das, was der Autor „literarisch mitgebracht hatte“, überarbeitet, konkretisiert, auf die Bedürfnisse, nein, auf die Situation des jeweiligen Inszenierungsmoments hin überprüft und geändert. Die Rollen- und Soufflierbücher, die aus diesen Inszenierungen hervorgingen, sind nicht grundlegende, aber in vielen Details äußerst signifikante Redaktionen, die sich nicht nur auf die Übersetzung der Tophovens, sondern auch auf das Stück selbst beziehen. Aufgrund seiner Arbeit an der Inszenierung hat Beckett nicht selten kleine, aber wesentliche Veränderungen in das Stück eingebaut. Er hat die Übersetzung sehr oft korrigiert, z.B. indem er sehr deutlich diese Echos betont. Oft hat Tophoven nach dem schönen literarischen Prinzip variatio delectat dort, wo Beckett dasselbe Wort benutzt hat, ein anderes gewählt, weil es eleganter ist oder weil es zeigt – ich übertreibe –, dass der Übersetzer noch ein weiteres Wort weiß. Es ist insofern etwas überspitzt, da dies das Prinzip Tophovens, einem großartigen Übersetzer, war. Beckett hat diesen Eingriff radikal rückgängig gemacht, um diese Korrespondenzen, diese Echos herzustellen. Verglichen mit dem Original Krapp’s last tape, das Beckett selbst vom Englischen ins Französische übersetzte, hat er in die deutschen Fassung sogar vermehrt solche Korrespondenzen eingefügt, wie es der Anhang des Regiebändchens dokumentiert. Des Weiteren benutzte er in den Übersetzungen Trivialisierungen, Ruppigkeiten, nicht literarische und dem Spiel ‚angemessene’ Formulierungen. Ganz signifikant geschieht dies in Warten auf Godot. Im von Tophoven übersetzten Text heißt es, als sie sich aufhängen wollen (ich zitiere frei): „hast du nicht ne Kordel?“. Beckett hat es für die Inszenierung geändert in: „hast du nicht einen Strick?“. Becketts Begründung: Im Deutschen hänge man sich nicht mit einer Kordel auf, sondern am Strick. Das zeigt, wie unglaublich genau Beckett mit Sprache umgehen konnte, auch mit der deutschen Sprache. Dieses Beispiel mag prima vista trivial erscheinen, ich bin aber überzeugt, dass man über diesen Zusammenhang zwischen Inszenierungsarbeit, Übersetzungsarbeit und der Rückwirkung auf die 39
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Fassungen der Stücke unendlich Vieles, unendlich Genaues und für den Autor Beckett Signifikantes herausbringen könnte. Ich komme zu einem zweiten Beispiel, wo Beckett aus der Bühnenarbeit heraus einfach die Übersetzung und möglicherweise auch das eigene Original abänderte. Es gibt im Stück Das letztes Band eine Stelle, in der Krapp, und zwar der reale, körperlich anwesende Krapp, nicht der auf dem Tonband, von seiner Begegnung mit einer alten Hure berichtet – spöttisch, mit einer gewissen Altersgeilheit, stolz, dass er immer noch potent ist, aber irgendwie auch degoutant. „Dafür habe ich mich aufgespart“, sagt er verächtlich, „für sie habe ich mich aufgespart.“ In der Urfassung des Stückes, die in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde, heißt es anschließend, wiederum mit einer Mischung aus Selbstironie und Degoutanz: „immer noch besser, als ein Tritt zwischen die Beine.“ Beckett hat bei der Probe mit Martin Held diesen Ausdruck folgendermaßen konkretisiert: „immer noch besser als zwischen Daumen und Zeigefinger.“ Das heißt, der Onaniervorgang, denn um den geht es hier, wird erstens verbal und zweitens gestisch benannt, deswegen handelt es sich um einen Theatervorgang. Was meine ich mit ‚gestisch benannt’? Lassen Sie mich ein letztes kleines Beispiel aus dem Stück Das letzte Band zitieren. Es gibt dort eine Stelle, wo von Stechpalmen die Rede ist. Krapp spricht von Stechpalmen, in Tophovens korrekter Übersetzung lesen wir: „Stechpalmen mit den roten Beeren“. Als mir Martin Held den Bühnentext Becketts Wort für Wort zitierte, sagte er: „Stechpalmen, die mit den roten Beeren“; daraufhin entgegnete ich: „Moment, Herr Held, bei mir steht aber ‚Stechpalmen mit den roten Beeren’, denn ich wollte ja wirklich jeden Buchstaben notieren. Held wiederholte: „Nein, er hat gesagt, die mit den roten Beeren.“ Becketts Begründung für die Änderung sei gewesen: „Es gibt auch Stechpalmen ohne rote Beeren.“ Aber ich glaube, dass das nicht der entscheidende Grund ist. Diese Formulierung, „Stechpalmen, die mit den roten Beeren“ ist das, was man ‚gestisches Sprechen’ nennt. Das ist der Satz, wie ihn der Schauspieler, der vor seinem Auge die Stechpalmen, die mit den roten Beeren, sieht, so formulieren kann, dass die Sprache, der Ausdruck und in diesem Fall sogar die Formulierung Körper wird, Theater wird. Was ganz bezeichnend war für Becketts Inszenierung ist ein Grundmuster von Ordnung, von Maß, von Rhythmus, von einer genau bestimmten Abfolge der Bewegung, Schnelligkeit, Langsamkeit, hell und dunkel im Raum, im Rhythmus der Sprache, ein metrisches Maß. Man40
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che Kritiker sind soweit gegangen zu sagen, seine Inszenierungen erinnern an Mozartsche Kammermusik. Da ich von Musik nichts verstehe, kann ich das so nicht unterschreiben, aber die Sprachbehandlung in Becketts Inszenierung war von einer unglaublichen Genauigkeit und tatsächlich von einer großen Musikalität. Diese findet sich auch in der Struktur der Texte, wenn man sie liest, laut liest und sich die Sprache der Aufführung im Ohr noch einmal vergegenwärtigt. Ich möchte über die Arbeitsweise, die Arbeitsmethode von Beckett, ein Zitat von Walter Asmus einfügen, der lange Zeit Becketts Regieassistent war und heute als Leiter und Professor der Hannoverschen Schauspielschule mein Kollege in Hannover ist. Asmus war sowohl bei den Fernseh- und Rundfunkproduktionen als auch bei der Godot-Inszenierung im Schillertheater Becketts Regieassistent. Von allen an der Produktion Beteiligten wird Beckett von vornherein soviel Sympathie entgegengebracht, wird er menschlich so geschätzt, dass sich diese bei der Arbeit oft eher zweitrangige Ebene im Arbeitsprozess niederschlagen muss. Er wird nicht nur als Autorität akzeptiert, als kompetenter Regisseur seines eigenen Textes, sondern der Umgang mit ihm zeichnet sich aus durch Behutsamkeit, Aufmerksamkeit, Entgegenkommen, Offenheit. Kriterien für Verhaltensweisen, die sein eigenes Verhalten freisetzt. Becketts makelloses Deutsch, das sich durch eine sehr typische idiomatische Exaktheit auszeichnet, weist in der Diktion eine ebenso typische leichte Überakzentuierung auf, welche den Ton aller Beteiligten zu prägen scheint. Sprache gerät allgemein zu leichter Überakzentuierung, in der sich Sorgfalt und Bewusstheit ausdrücken. Durch genaues und geduldiges Hinhören und behutsames Formulieren werden auf diese Weise Missverständnisse von vornherein weitgehend vermieden. Der tägliche Umgangston erhält einen seltsam herrschaftsfreien Akzent, den man am Theater sonst oft weniger gewohnt ist. Kommt es bei der Arbeit doch einmal zu Missverständnissen, und seien sie nur akustisch bedingt, so ist jeder auch nur indirekt Beteiligte bereit, sie aufklären zu helfen. Denn eine Atmosphäre ständiger konzentrierter Wachsamkeit, eine Lust am Verfolgen von Prozessen, in die der Einzelne vielleicht nicht unmittelbar involviert ist, ist ein weiteres Resultat des herrschaftsfreien Arbeitsverhältnisses. Eine Begegnung mit Beckett scheint zwangsläufig in Heiligenverehrung zu münden, jedoch seine eigene Nüchternheit, sein rationa-
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les Vorgehen bei der Probenarbeit, sein unprätentiöses Auftreten zwingen dazu, diese Haltung ihm gegenüber zu reflektieren.
Es folgt am Ende eine wichtige zusammenfassende Passage über Becketts Bühnenarbeit, vor allem über seine Zusammenarbeit mit den Schauspielern: Das hohe Maß von Bewusstheit und Selbstkontrolle wirkt sich nicht als Dressurakt auf die Schauspieler aus, sondern wird im Gegenteil von ihnen bewusst übernommen, verinnerlicht und gestaltet. Das Fazit über Becketts Arbeit könnte lauten: Er inszeniert unter Bedingungen, die jeder Regisseur sich wünscht, mit einer großartigen Besetzung auf eine Art und Weise, die viele Regisseure meinen, dass auch sie inszenieren: Er leistet menschliche Theaterarbeit.
Walter Asmus weiß, wovon er redet, er ist dabei gewesen. Beckett hat sich am Anfang eher distanziert zu diesem Job des Regisseurs, um es mal so salopp zu sagen, geäußert. Er hat zu Haerdter gesagt, bei Endspiel habe er lange gezögert, den Vertrag zu unterschreiben, weil er sich vor der Verantwortung gescheut hätte. Er gab sich überzeugt, Inszenieren sei anstrengend. Dieses hat sich im Laufe der Zeit ganz offensichtlich geändert, was sicherlich dazu beigetragen hat, was ich oben unter „Inthronisation eines Klassikers“ angedeutet habe. Dazu noch eine Ausführung: Was ist an dieser Art, wie Beckett mit dem Theater umgegangen ist, zumal als Regisseur seiner eigenen Stücke, als Merkmal eines Klassikers zu werten? Dass Beckett längst ein Klassiker der deutschen Bühne geworden ist – und nicht nur der deutschen Bühne – sieht man schon quantitativ: In meiner Zeit am Düsseldorfer Theater haben wir nicht weniger als acht Stücke von Beckett produziert, wesentlich mehr als von Goethe, Schiller und Kleist zusammen. Wir haben genauso viele Stücke von Beckett produziert wie von Shakespeare. Zum Klassiker, um erst einmal etwas aus meiner Sicht Grundsätzlicheres zu sagen, gehört aber doch mehreres. Zum Beispiel: Dass wir das Gefühl haben, hier ist etwas formuliert, das einerseits große Gültigkeit hat, feste Form, endgültige sprachliche, künstlerische Gestaltung, kaum Veränderbares (dass es am Theater dann doch immer wieder verändert wird, wissen wir und sahen wir eben am Beispiel des Autors Beckett, der seinen eigenen Text redigierte). Gleichzeitig beinhaltet der Begriff Klassiker auf dem Theater, dass ein solches Stück offen ist für das Spielen, für das Wahrneh42
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men in der jeweiligen Zeit und dass es seine Eigenart, seine Realität durch diesen Spielvorgang verändert. Das heißt, dass diesem scheinbar Überzeitlichen dialektisch auch das entspricht, was immer nur punktuell und zeitgemäß in dem Stück zu finden ist. Hugo von Hofmannsthal hat das sehr präzise beschrieben, als er davon gesprochen hat, dass, je größer ein Theaterdichter ist – und er meinte vor allem Sophokles, Calderon und Shakespeare –, also je näher er am Klassiker ist, desto inkompletter der Text ist. Der Text wird erst fertig durch das Spiel, also wird er jedes Mal anders fertig. Ich habe, mich an Rischbieter anschließend, und viele andere haben das wiederholt, vom Klassiker Beckett gesprochen und geschrieben. Wie aber hat sich der ‚Theatermann’ Beckett selber wahrgenommen? Ich zitiere ein kleines Grußwort, das Beckett im Juli 1985 geschrieben hat, also 10 Jahre nach der GodotAufführung, als aus Anlass seines 80. Geburtstags in Berlin ein Buch über seine Berliner Theaterarbeit herausgegeben wurde; der Text heißt (es ist auf Englisch geschrieben, ich zitiere ihn in deutscher Übersetzung): Ich ergreife gern die Gelegenheit, dem Schillertheater meinen Dank auszudrücken, der Intendanz und den Mitarbeitern für die großzügige Hilfe und Unterstützung über all die Jahre hinweg, meinen Regieassistenten und vor allen Dingen den Schauspielern, mit denen ich zu arbeiten das Vergnügen hatte.
Das ist alles noch die von Beckett immer wieder überlieferte Höflichkeit. Dann aber fährt er fort: Ich erinnere mich wehmütig an diese glücklichen und aufregenden Zeiten (im Original steht natürlich nicht Zeiten, sondern happy days und der Übersetzer hat es nicht gemerkt, Anm. V.C.), als ich solcher Freundschaft und Nachsicht begegnete und soviel über Theater im Allgemeinen und über meine eigenen Stücke erfuhr.
Wie ist dies zu verstehen: „über meine eigenen Stücke erfuhr“ durch die Theaterarbeit? Vor dem Hintergrund dessen, was ich eben über den Klassiker gesagt habe, heißt dies: Die Offenheit, die Inkomplettheit des eigenen Textes erfährt er im Umgang des Inszenierens, des Auf-die-Bühne-Bringens, des Spiel-Werden-Lassens.
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Nun sind diese eigenen Stücke natürlich zunächst einmal auch deswegen Klassiker, weil sie archetypische Stücke sind oder zumindest archetypische Situationen in ihnen formuliert sind, in die dann eine enorme Zeiterfahrung einfließt: Da sind Leute unterwegs auf der Landstraße, unbehaust, kommen nicht an, kommen aber auch nicht von der Stelle, sind bestellt und werden nicht abgeholt, warten und bekommen keine Antwort. Da ist ein Mächtiger, der gleichzeitig der Blinde und der Lahme ist, in Personalunion sozusagen, der einen Knecht hat und gleichzeitig von ihm abhängig ist und auch dieser Knecht, der seinen Herrn beherrscht, kann zwar gehen, aber nicht sitzen und nicht richtig stehen. Und wenn er in die Welt schaut, was sieht er? Er kommentiert es als gut bzw. sehr gut: „Nichts, nichts, nichts“. Da sind alte Leute, denen nicht einmal ein anständiger Tod zugebilligt wird, sondern die in Mülltonnen entsorgt werden oder in der Dachkammer verkümmern und verkommen. Da ist jemand, der sich am Schopf des eigenen Geplappers aus dem Sumpf zieht und dabei immer tiefer in diesen Sumpf hineinsinkt. Da wird die Wahrscheinlichkeit der Erlösung zunächst relativ optimistisch als fifty-fifty bezeichnet. Sie erinnern sich an die Stelle über die zwei Schächer in Warten auf Godot. „Einer wird erlöst, das ist ein guter Prozentsatz“, kommentiert Estragon das Neue Testament. Und dann verflüchtigt sich der gute Prozentsatz aufgrund der sehr unsicheren Nachrichtenlage und es wird immer weniger, weil zwei Evangelisten überhaupt nicht darüber berichtet haben und der vierte hat gesagt, sie sind beide verdammt worden. Die fifty-fiftyChance verschwindet. Sie strebt sozusagen gegen Null. Diese Erfahrung, wenn Sie so wollen, der modernen Welt und ihrer Anonymisierung, die in der Kommunikation mit sich selbst plötzlich nur noch in der Konserve (Tonband) möglich ist, das ist sicher etwas Archetypisches. Etwas, das Beckett auch zum Klassiker gemacht hat. Aber was hat er denn, dieser klassische Autor, im Sinne des inkompletten Autors als Regisseur mit seinen Spielern (den players) herausgefunden? Seine Stücke lassen viele Antworten zu, die immer nur Lesarten darstellen, die man auch als Literaturwissenschaftler sehr wohl herausfinden kann – sicherlich zum großen Unmut von Samuel Beckett, weil er genau dieses nicht wollte. Ich wage mich vor zu einer Antwort, einer Behauptung, in Erinnerung an meine Wahrnehmung seiner Inszenierungen am Theater und auch nach dem Forschen und Nachlesen in den Materialien und Dokumenten, die ich für die Vorbereitung dieses Vortrags wieder 44
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konsultiert habe. Beckett hat gefunden: die Freiheit in der unerbittlichen, strengen und von ihm selber angeordneten Spielanordnung des lebendigen Theaters. Die Brüderlichkeit im Aneinandergekettet sein. Die Komik und die Dialektik des grausamen Machtspiels von Herr und Knecht. Die Lebendigkeit des Vergangenen. Die Schönheit der Erinnerung. Die Poesie des Schweigens. Die Kraft der Sehnsucht nach Nähe und Kommunikation in der Einsamkeit. Die Hoffnung in der Ausweglosigkeit. Den Trost in der Verlassenheit. Die Glut in der Asche und den Frieden des Endens. Ich werde nie das letzte Bild der Inszenierung von Endspiel vergessen, wo sich Ernst Schröder das Tuch über das Gesicht legt und Horst Bollmann als Clov sich nach vorne beugt. Sein Gesicht wird durch den Hut verdeckt, den er auf dem Kopf hat. Er will ja angeblich gehen, natürlich geht er nicht. Da geht der Vorhang zu. Nicht wie bei Brecht, der Vorhang zu und alle Fragen offen. Sondern der Vorhang geht zu und einerseits wissen wir, das Spiel beginnt von neuem. Gleichzeitig hat dieser Moment eben das, was ich eben gesagt, was ich so empfunden habe, etwas Friedliches, etwas, ich will nicht sagen Versöhnliches, aber in diesem Enden, das kein Enden sein wird, ist ein immer neuer Anfang. Nicht gleichzeitig, nicht schon im Text, aber in der Wahrnehmung auf der Bühne. Dieses Moment, wie ich es gerade skizziert habe, findet sich weniger in den Texten, hier sind eher die negativen Pole formuliert, festgeschrieben. Im Spiel auf der Bühne, in der Lebendigkeit der Spieler entsteht dagegen etwas Neues, etwas Anderes, etwas Offenes im Werk dieses Klassikers durch die Arbeit dieses Regisseurs. Es entsteht Hoffnung… Ich will Ihnen zum Schluss noch die kleine Geschichte anfügen, wie ich Beckett selbst kennen gelernt und dabei einige Dinge erfahren habe, die unbedingt zu meinem Thema gehören: Ich war bei den letzten Probentagen der Inszenierung von Das letzte Band dabei und habe Beckett genauso wahrgenommen, wie ich es schon von anderen gehört hatte. Konzentriert, ruhig, unglaublich aufmerksam. Er konnte unglaublich gut zuhören. Er konnte sehr schlecht sehen, bis er sich sehr spät in seinem Leben einer Staroperation unterzogen hat. Er war sehr kurzsichtig, hat deswegen während der Proben immer – was ein absolutes Sakrileg ist, aber die Schauspieler haben es toleriert – auf der Bühne direkt neben den Schauspielern gesessen. Bei diesen Endproben hat er sich natürlich nicht neben Martin Held gesetzt, sondern saß im Zuschauerraum an seinem Regiepult 45
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und hatte ein Fernglas. Er guckte mit einem Opernglas, obwohl die Schiller-Theater-Werkstatt ein kleiner Raum ist. So schlecht er sehen konnte, so genau wollte er es. Und es war für mich ganz klar – ich war damals 27 Jahre alt und deswegen sehr empfänglich für solche Eindrücke –, das war ein großer Mann! (Friedrich Luft hat sich nach seiner Begegnung mit Beckett in Mampes Guter Stube mit folgendem Goethe-Zitat zu ihm bekannt: „Es ist eine Wollust, so einen großen Mann zu sehen.“) Und dann kam der Schock: Probenpause. Martin Held ging in die Kantine, Beckett blieb an seinem Regiepult, ich blieb ebenfalls sitzen. Der Regieassistent kam, und es passierte nun etwas vollkommen Triviales: Der große Mann, dem ich, wie Walter Asmus das vor mir bereits formuliert hatte, ebenfalls Heiligenverehrung entgegenbrachte, und der wenige Wochen später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, er bekam vom Regieassistenten das Frühstücksbier gebracht. Und dieses Bier war nicht etwa ein Guinness, das gab es in der Kantine des Schiller-Theaters nicht, sondern es war ein Berliner Kindl oder Schultheiß und war in einer Tulpe frisch gezapft, und Beckett hat es ausgetrunken. Ich fand das so schockierend, dass ich dies bis heute nicht vergessen habe. Warum erzähle ich das? Weil es sozusagen genau das Prinzip ist. Den großen Mann habe ich wohl gesehen und er war von einer großen Konzentration und gewissen Unnahbarkeit und gleichzeitig von einer unglaublichen Direktheit. Ich habe ihn dann gebeten, ihn fotografieren zu dürfen; daraufhin hat er sich einfach geduldig und konzentriert vorn übergebeugt. Immer an seiner Gitane ziehend, eine der filterlosen natürlich, hat er sich von mir fotografieren lassen bis mein Film zu Ende war. Diese Begegnung war eindrucksvoll, weil sie mir etwas von dem direkt zu sehen, zu erfahren gab, was alle, die wirklich mit ihm gearbeitet hatten, berichtet haben über diesen großen Mann, diesen Klassiker. Und dann habe ich, als ich wieder in Frankfurt war, das mehrfach erwähnte Büchlein geschrieben, das in der Suhrkamp-Edition gedruckt worden ist. Der Verlag hat es ihm zugeschickt und wenige Tage später bekam ich einen kleinen Antwortbrief von Beckett, man würde heute sagen ein Billett, handschriftlich mit Kugelschreiber. Und da waren am Anfang auf Französisch die üblichen Höflichkeiten, also: Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief, das kleine schöne Buch. Und dann kommen Sätze, die erstaunlich sind für jemanden, der mich überhaupt nicht kannte. Für einen kleinen, in der Tat vollkommen unwichtigen Dramaturgen in seinem Verlag. Sätze, die 46
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mit Sicherheit sehr präzise formuliert sind, weil sie etwas Beckettsches formulieren; etwas von dem transportieren, was ich als Utopie – ich habe eben dieses Wort nicht benutzt, ich habe es gemeint – als Hoffnung, als Zugewinn der Erfahrung in der Theaterarbeit gemeint habe. Der Brief ist unterschrieben très cordialment Samuel Beckett. Da heißt es erst: „il m’a fait (das Buch) retrouver ce temps si passé (die vergangene Zeit, die er wieder gefunden hat durch mein Buch), si passé déjà, et le goût de tout d’amitié, de plaisir et de paix.“ Das ist es: der Geschmack, die Ahnung von Freundschaft, Freude und Frieden. Das schreibt er 1970 an Herrn Volker Canaris in Frankfurt beim Suhrkamp-Verlag. Das kann nur bedeuten – denn ich war vollkommen unwichtig, das Buch war ein kleines, schönes Buch nicht mehr und nicht weniger; vor allem nicht mehr –, dass das, was ich eben als den Zugewinn Becketts, den er erfahren hat (what I learned about my own plays), dass sich das, was er verloren hat nach dem Ende der Arbeit am Theater, in diesem Buch wieder gefunden hat durch die Erinnerung, für die mein kleiner Band ein Medium darstellte. Dass Inszenierungs-Arbeit tatsächlich jenen Zugewinn enthielt, den der Klassiker und den der Spielleiter mit seinen Spielern zusammen im Spielvorgang gefunden hat. Sie können sich denken, dass ich dieses Billettchen wie meinen Augapfel hüte.
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AUFHEBUNG DER DIE METALITERATUR
DIE
UND
KONRAD SCHOELL
1 Samuel Beckett war Literaturwissenschaftler, Romanist, wie seine frühe Arbeit über Proust zeigt; ein Mann von großer Belesenheit in zeitgenössischer und älterer, vor allem französischer und italienischer Literatur sowie in (deutscher) Philosophie, aber auch mit starkem Interesse an Musik und bildender Kunst, wie die inzwischen bekannt gewordenen Tagebücher von seiner Deutschlandreise 19361937 zeigen.1 Wir haben erfahren, dass er in jungen Jahren auch großes Interesse an dem noch jungen Medium Film hatte2 – und dennoch sind die Werke in englischer, danach in französischer Sprache aus den 30er Jahren, die zum Teil erst Jahre, Jahrzehnte nach der Abfassung veröffentlicht wurden mit geringen Ausnahmen bis zu seinem 50. Lebensjahr literarische Arbeiten im engeren Sinn, Arbeiten, die in die gewohnten literarischen Gattungen eingeordnet werden können: Gedichte, Erzählungen, Novellen, Romane und – spät in dieser Reihe, aber umso auffallender: Theaterstücke. Erst nach dem Erfolg der Romantrilogie und der Novellen, erst nach dem sensationellen Erfolg des ersten aufgeführten Theaterstücks En attendant Godot (1953) hat Beckett auf Anregung der BBC mit All That Fall (1957) das Genre Hörspiel und mit Acte sans 1
2
Über Becketts Beziehungen zu Deutschland, zunächst zu Kassel (1928-32), dann Hamburg, Berlin usw. vgl. u.a.: Therese FischerSeidel/Marion Fries-Dieckmann (Hrsg.): Der unbekannte Beckett: Samuel Beckett und die deutsche Kultur. Frankfurt/M: Suhrkamp 2005. Vgl. den Beitrag von Gaby Hartel im genannten Band. 49
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paroles I das Genre Pantomime als neue Ausdrucksmittel neben dem gedruckten Wort gefunden. Mit Embers (1959), Words and Music (1962), Cascando (1963) und einigen Bruchstücken gingen die Hörfunkwerke weiter. Mit Acte sans paroles II (1961) setzte er die Arbeit an der Pantomime fort, und mit Film (1965) und Eh Joe (1966) begann die Film- und Fernseharbeit, an die sich weitere Stücke fürs Fernsehen und vor allem die eigene Regiearbeit im Theater und im Studio anschlossen. Etwa Mitte der 60er Jahre, ich betone es gerne immer wieder: im Alter von fast 60 Jahren, begann sowohl Becketts eigene Regiearbeit am Theater als auch sein immer neues Engagement für Produktionen in den neuen Medien. Das heißt aber natürlich nicht, dass nicht auch noch in den 60er, 70er und 80er Jahren Texte in anderen Genres entstanden wären, darunter so charakteristische und bleibende dramatische Werke wie Play, Not I , Rockaby und narrative Werke wie Company, Mal vu mal dit und viele andere. Ohne auf all diese zum Teil auch sehr kurzen Texte eingehen zu können, ist meine These in diesem Zusammenhang, dass vor allem im Spätwerk Samuel Becketts die literaturwissenschaftliche Unterscheidung zwischen den Genres eine wesentlich geringere Rolle spielt als die Darstellung der Welt Samuel Becketts, d.h. seiner Figuren und vor allem von deren oftmals vereinsamter Situation, ihrer reduzierten und konzentrierten Existenz in einem Endzustand mit Rückblick auf die Vergangenheit und damit auch deren Aufarbeitung. Becketts Texte der Haupt- und vor allem der Spätschaffensphase sind Texte, die allmählich über die Reduktion der körperlichen Fähigkeiten und den Verlust der menschlichen Beziehungen auf das Ende hinzielen. In dieser thematischen Ausrichtung gibt es kaum nennenswerte Unterschiede zwischen den Genres und den einzelnen Texten aus drei Jahrzehnten, obwohl die Variationsbreite der Akzentuierung innerhalb dieser Themenkreise groß ist und die Konzentration und Reduktion von Phase zu Phase, fast von Werk zu Werk zunimmt.3 Die zweite Tendenz dieser Texte, fast gegenläufig zur Reduktion, wie es scheint, ist die verbreitete Ausrichtung auf die Refle-
3
Als Erörterung der Verfahren der Reduktion, auch der Abstraktion oder Minimalisierung (Enoch Brater) vgl. Konrad Schoell: Beckett et le théâtre abstrait. In: Revue d’Histoire du Théâtre 1997, S. 111-124. 50
SAMUEL BECKETT, DIE AUFHEBUNG DER GATTUNGSGRENZEN UND DIE METALITERATUR
xionsebene, auf die Metafiktion, auf das Metatheater: Der Roman oder die Erzählung werden zur Geschichte vom Schreiben oder Erzählen oder über dessen Scheitern – so in der Romantrilogie und weit darüber hinaus. Das dramatische Spiel wird zum Spiel über das Spiel. Natürlich ist Catastrophe in seiner besonders deutlichen Theater-im-Theater-Situation einer Aufführungsprobe ein Sonderfall, aber jede Beckett-Figur könnte seinen Einsatz wie Hamm in Fin de partie mit „A moi de jouer“ kommentieren oder wie Winnie in Happy Days feststellen: „Someone is looking at me still“ und somit aus dem geschlossenen Raum der Bühne herausreichen und das Theater bewusst machen.
2 Beckett hat zwar am Anfang seiner Schriftstellerkarriere beim ersten Aufenthalt in Paris für das (auf Englisch verfasste) Gedicht Whoroscope einen Preis erhalten und in den 30er Jahren den Gedichtband Echo’s Bones veröffentlicht, aber unter seinen Werken der Hauptschaffenszeit und der Spätphase ist die gebundene Dichtkunst (Lyrik) nur gering vertreten. Und die Literaturwissenschaft hat sich nur selten mit den „Nebenwerken“ beschäftigt. Es lohnt sich aber, die fast wie Haikus auftretenden kurzen Gedichte der Sammlung von 1978 Mirlitonnades (Flötentöne) näher anzuschauen, weil sie nämlich in der gewollten Konzisheit unter allen Texten Becketts am deutlichsten die allgemeine Tendenz zur Konzentration zeigen. Der erste Text4 der Sammlung: en face le pire jusqu’à ce qu’il fasse rire (S. 10)
ist eine generalisierende Selbstaussage und somit zugleich die Zusammenfassung einer Tendenz des Gesamtwerks, die von Kritikern oft, allzu oft, herausgestellte pessimistische Weltsicht, sowie aber – was nicht vergessen werden darf – als zweite Phase deren Überwin4
Verwendete Ausgabe: Samuel Beckett: Flötentöne. Französisch/ Deutsch. Aus dem Französischen von Elmar Tophoven und Karl Krolow. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982. 51
KONRAD SCHOELL
dung im überlegenen, Dauer und Intensität des Schlimmsten (le pire) bestreitenden Lachen, dem gelegentlichen Lachen und zähen Durchhalten Vladimirs und Estragons, Hamms und sogar seines verkrüppelten Vaters Nagg. Mit diesem Einleitungsgedicht der Sammlung haben sich Kritiker und Interpreten mehrfach unter dem Aspekt von Becketts Humor beschäftigt.5 Betrachten wir hier noch ein anderes Gedicht aus derselben Sammlung: écoute-les s’ajouter les mots aux mots sans mot les pas aux pas un à un (20)
Es handelt sich wieder um ein sehr knappes lyrisches Gedicht. Aber ist es denn Lyrik in irgendeinem anerkannten Sinn, vielleicht „moderne Lyrik“ wie vor genau 50 Jahren Hugo Friedrich sie uns zu erkennen gelehrt hat?6 Immerhin ist eine Anrede, ein Du beteiligt, das auch den Leser einbezieht, aber die Verdichtung und Aussparung macht das Gedicht zu einem reflexiven Text, der über die Deskription hinaus bis ins Objektive reicht. Natürlich habe ich von den 35 kurzen Gedichten mit Bedacht dieses „écoute-les“ ausgewählt, weil es ein Gedicht über die Sprache ist, aber es ist nicht das einzige in dem Bändchen: Ein Gedicht über die Perzeption und Rezeption der Wörter, der Worte, d. h. der Dichtung. Als solches übersteigt es Klang und Inhalt, Aufforderung und Feststellung und wird zur Reflexion über Dichtung. Es sei mir erlaubt, etwas rasch zu verallgemeinern: Poesie wird zur Metapoesie.
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Vgl. Konrad Schoell: En face le pire jusqu’à ce qu’il fasse rire. Komik und Humor bei Beckett. In: Peter Brockmeier/Carola Veit (Hrsg.): Komik und Solipsismus im Werk Samuel Becketts. Stuttgart: Metzler 1996, S. 109-129. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart. Hamburg: Rowohlt 1956 u.ö. 52
SAMUEL BECKETT, DIE AUFHEBUNG DER GATTUNGSGRENZEN UND DIE METALITERATUR
In den acht kurzen Versen des Gedichts können wir sogar zwei unterschiedliche metapoetische Aussagen erkennen: Nach der Aufforderung an den Leser/Hörer (und zugleich an das Ich selbst), auf die Wörter zu achten, intellektuell bis zum Verstummen, folgt – jetzt handlungsbezogen – die Aufmerksamkeit auf das Geschehen, das Tun: „(s’ajouter) les pas aux pas, un à un“. Wenn wir an die doppelte Aktivität Beckettscher Figuren denken (falls Aktivität überhaupt das richtige Wort für sie ist), so erkennen wir die dem Wort zugekehrten Redner, Schriftsteller, Dichter und Bekenner einerseits, die Estragon, Hamm, Krapp, Malone auf der einen Seite und die unruhig handelnden, aktiven, pseudoaktiven Bewegungstypen Clov, Molloy, die vorwärts kriechenden Figuren Pim usw. in Comment c’est sowie (im Gegensatz zu den resignierten Belaqua-Typen die Mehrzahl der nach oben strebenden Figuren in Le dépeupleur, auf die wir noch zurückkommen. Die bereits erwähnte Pantomime Acte sans paroles II lebt ganz von der unmittelbaren Gegenüberstellung der beiden Typen.
3 Auch in den deskriptiven und narrativen Genres versuchen wir unsere Feststellungen sehr konkret am Textmaterial abzuleiten. Den Text, der uns als Beispiel für deskriptive fiktionale Prosa dienen soll, imagination morte imaginez (1965), kann ich trotz seiner Kürze, nur in Auszügen des Beginns und des Schlusses vorlegen. Abbildung 1 soll diese verdeutlichen.7 imagination morte imaginez Nulle part trace de vie, dites-vous, pah, qu’à cela ne tienne, imagination pas morte, si, bon, imagination morte imaginez. Iles, eaux, azur, verdure, fixez, pff, muscade, une éternité, taisez. Jusqu’à toute blanche dans la blancheur sur la rotonde. Pas d’entrée, entrez. Mesurez. Diamètre 80 centimètres, même distance du sol au sommet de la voûte. Deux diamètres à angle droit AB CD partagent en demi-cercles ACB BDA le sol blanc. Par terre deux corps blancs, chacun dans son demi-cercle […]. (51)
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Samuel Beckett: Têtes-mortes. Paris: Minuit 1967. 53
KONRAD SCHOELL
Abbildung 1: graphische Darstellung der Grundsituation (Illustration von Iris Schoell) Die Einordnung des Textes als deskriptive Prosa ist zweifellos auch fragwürdig, denn bei einer Länge von, je nach Ausgabe, etwa fünf Seiten, enthält er ca. 12 Anreden an den Leser, dieses Mal in der 2. Person Plural bzw. der Höflichkeitsform. Es sind Aufforderungen, die der Leser allerdings, obwohl oder gerade weil sie sehr konkrete Handlungsanweisungen sind, nur in der im Titel angesprochenen Imagination („Traum“ ist vielleicht nicht die ganz passende Übersetzung) ausführen kann: „entrez, sortez, rentrez, reculez“ usw. am Beginn des Textes bis „Laissez-les là“ gegen Ende, auf das wir noch zurückkommen. Imagination morte imaginez ist im Kern die durch Maßzahlen der Größe (Zentimeter) und der Zeit (Sekunden), durch Angaben zur Temperatur (warm-kalt) und zur Farbe (weiß) sowie durch die geometrische Umschreibung des Handlungsortes, des Rundbaus, versuchte objektive Beschreibung einer Szenerie. Diese wird durch die optische, akustische und taktile Wahrnehmung – oder auch NullWahrnehmung – auf die menschliche Präsenz und Empfindung bezogen, wodurch die schon im ersten Satz angesprochene Person, das ist der Leser, direkt involviert wird. Die Beschreibung lebt vom Gegensatz zwischen der genannten Genauigkeit und der eingeschränkten Sichtmöglichkeit, sowie in einem weiteren Sinn aus dem Kontrast zwischen Sterilität und Leben. Denn in der engen Rotunde liegen Rücken an Rücken mit angezogenen Knien nahezu unbeweglich eine weibliche und eine männliche Gestalt, die von Zeit zu Zeit ab54
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wechselnd ihr ein sichtbares Auge öffnen und deren Lebendigkeit nur durch den Test mit dem Spiegel nachgewiesen werden könnte. Toujours par terre, plié en trois, la tête contre le mur entre B et C, les pieds contre le mur entre C et A, c’est à dire inscrit dans le demi-cercle ACB, se confondant avec le sol n’était la longue chevelure d’une blancheur incertaine, un corps blanc finalement de femme. Contenu similairement dans l’autre demi-cercle […] le partenaire. […] Présentez une glace aux lèvres, elle s’embue. (55f.)
In der nahezu vollständigen Regungslosigkeit wird gegen Schluss des Textes das Thema des Endes, des Endes allen Lebens angesprochen: „Mais non, la vie s’achève et non, il n’y a rien ailleurs, et plus question de retrouver ce point blanc perdu dans la blancheur […]“ (57). Der sehr suggestive Text geht auch über andere Beckettsche narrative Prosatexte hinaus. In der Betonung des Deskriptiven und der Exaktheit der Anweisungen an den Leser steht imagination morte imaginez den späteren Arbeiten Becketts für die neuen Medien Film und Fernsehen überaus nah. Trotz der Anweisungen, die vielfach in die Proxemik reichen, die also Bewegungsanweisungen sind, hat dieser Prosatext etwas stark Statisches, was die beiden Figuren und letztlich auch, trotz der atmosphärischen Veränderungen, die Szenerie betrifft. Man muss sogar sagen, die „Regieanweisungen“ vor allem der ersten Seite „entrez, sortez, reculez“ usw. wären für den scheinbar so aufgeforderten Beobachter, den phantasierenden Menschen oder den Träumer, ja gar nicht durchführbar bei 80 cm höchster Höhe der Rotunde. Hingegen hätte eine ferngesteuerte Kamera wohl ausreichend Platz, diesen Raum auszumessen und die beiden Figuren zu beobachten. Aber wir sind ja im Bereich der Phantasie, der Imagination. Im Vergleich dazu soll noch ein zweiter Text aus dem Genre an der Grenze zwischen deskriptivem und narrativem Text genannt werden, der schon erwähnt wurde und hier nur kurz vorgestellt wird: Le dépeupleur.8 Vergleichbar mit imagination morte imaginez ist Le dépeupleur zunächst in seiner Bildhaftigkeit als die Darstellung eines geschlossenen Raumes, den der Leser als Beobachter von außen, aber auch, 8
Samuel Beckett: Le dépeupleur. Paris: Minuit 1970. 55
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unbeteiligt, von innen sieht. Im Gegensatz zur Isolierung der Figuren zu zweit in imagination morte imaginez und zu ihrer Verurteilung zum Nichtstun-Können, zum Ertragen der Verhältnisse, herrscht in Le dépeupleur trotz und innerhalb aller Deskription eine eigene Dynamik in dem allerdings wiederum geschlossenen Raum, der hier Zylinderform hat.9 Eine große Zahl von Wesen, reduzierten menschlichen Wesen, sind zum Teil in ständiger Bewegung beim Versuch des Aufstiegs in dem Zylinder-Purgatorium durch Tunnels bis in die obersten Nischen, von denen man sich Befreiung verspricht; andere Insassen allerdings haben die Beckett oft beschäftigende Haltung und Einstellung Belacquas gewonnen, der Figur aus Dantes Divina Commedia (Purg IV), auf die Beckett immer wieder anspielt und mit der er sich auch persönlich zu identifizieren neigt,10 nämlich die träge abwartende Ruhe und gar Resignation. Wir lassen hier einmal beiseite, dass es in diesem Purgatorium außer der Rangordnung auch feste Verhaltensregeln darüber gibt, wer, wo, wann den Aufstieg unternehmen darf. Mit seiner inneren Dynamik und seiner extremen Bildhaftigkeit kann dieser deskriptiv-narrative Beckett-Text als ein weiteres Beispiel der Genre-Aufhebung gelten, das darüber hinaus auch den Ausgangspunkt für Dramatisierungen gegeben hat: Die amerikanische Truppe Mabou Mines unter Lee Breuers Regie hat eine eigene Theaterversion unter anderem bei den Berliner Festwochen 1976 gespielt und George Tabori hat 1980 in München das VerwaiserProjekt inszeniert.
4 Wenn hier kein Textauszug aus Becketts Romanwerk vorgelegt wird, dann kann als Grund dafür gelten, dass die narrative Prosa nur schwer ohne Verarbeitung, ohne Medialisierung unter unser Gene-
Zu Der Verwaiser, so der deutsche Titel, existiert ein reicher Materialienband: Manuel Lichtwitz (Hrsg.): Materialien zu Samuel Becketts „Der Verwaiser“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. 10 Auch die männliche Hauptfigur seines ersten Romans Dream of Fair to Middling Women, die sehr viel von Beckett selbst hat, wird Belacqua und abgekürzt Bel genannt. 9
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ralthema „Beckett und die Medien“ subsumiert werden kann, wenn wir wie üblich unter „Medien“ nur die neuen, papierunabhängigen Medien verstehen. Es wäre aber eine bedauerliche Einschränkung und ein Verlust, wenn im Ganzen der Beckett-Ringvorlesung zwar die Poesie und hier zuletzt die deskriptive Prosa neben Radio, Film, Fernsehen vorkäme, nicht aber das bedeutende Romanwerk Becketts – und vielleicht ebenso wenig die großen Theaterstücke. Unter dem übergreifenden Titel dieses Beitrags muss ich sogleich einschränken und präzisieren, dass das Romanwerk, auf das ich hier kurz eingehen möchte, das sind die französisch geschriebenen Romane der 50er Jahre, die Trilogie Molloy, Malone meurt, L’innommable, nicht so sehr Gattungsgrenzen „aufhebt“, wie das im großenteils späteren darstellenden Werk der Fall ist, als vielmehr die Grenzen und Möglichkeiten des Genres ganz ausschöpft. Wenn die Grundsituation des Romans seit dem höfischen Roman des Mittelalters und dem nachfolgenden Abenteuerroman die Suche ist und die damit verbundene Wanderung,11 so erfüllen diese BeckettRomane, nehmen wir als Beispiel Molloy, genau dieses thematische Kriterium. Molloy, der Ich-Erzähler des ersten Teils und eine der Hauptfiguren, ist mit dem Fahrrad und zuletzt kriechend unterwegs auf der Suche nach seiner Mutter, im Sinne einer Heimkehr. Moran, die Hauptfigur des zweiten Teils, wird ausgeschickt, um seinerseits Molloy zu suchen, und muss darüber einen Bericht schreiben. Die von außen gestellte Aufgabe gelingt ihm insofern, als er von einem zu Beginn bürgerlich eingeordneten Menschen während seiner Wanderung und im Verlauf der Suche Molloy immer ähnlicher wird – und viele Interpreten daher diesen zweiten Teil (Moran) als in der Geschichte von Moran-Molloys Verfall vorausgehend verstehen.12 Molloy mit seinen beiden Teilen, mit den hintereinander geschobenen Hauptfiguren Molloy und Moran, welche, freiwillig oder verpflichtet, die Geschichte, den Roman, aufschreiben müssen, ist der Roman eines Romans, ein Metaroman. Und ähnlich verhält es sich mit den Erzählerfiguren der beiden anderen Romane der Trilogie.
11 Rolf Breuer hat seine neue einführende Gesamtdarstellung des Werks Becketts unter den Begriff der „Quest“ gestellt. Rolf Breuer: Samuel Beckett. Eine Einführung. München: Fink 2005. 12 Vgl. Konrad Schoell: Samuel Beckett: Molloy. In: Walter Pabst (Hrsg.): Der moderne französische Roman. Berlin: Erich Schmidt 1968, S. 213-230. 57
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Malone im zweiten Band der Trilogie ist längst auf der Stufe von Molloy angekommen; im Bett, kaum beweglich, aber in der Pflicht, eine Geschichte, seine Geschichte als eine Art Bilanz vor dem Ende aufzuschreiben. Und die Hauptfigur im dritten Band, L’innommable, ist eine weiter reduzierte, pflanzenartig lebende unbewegliche Figur auf der (gedanklichen, sprachlichen) Suche nach der eigenen Identität. Jede der späteren Figuren, L’innommable als letzter, behauptet der Erfinder aller in der Trilogie vorausgehender Figuren zu sein. Vielleicht ist erkennbar geworden, dass es hier weniger als in den Werken Becketts in anderen Genres um die Aufhebung der Gattungsgrenzen im Sinne einer Verschmelzung verschiedener Gattungen geht, als, wie schon angedeutet, um die Ausschöpfung der Möglichkeiten des Genres bis ins letzte und um die Reflexion über das Schreiben. Daher sind die Romane der Trilogie vor allem von meinem zweiten Thema her zu betrachten und in diesem Zusammenhang besonders aussagekräftig: Die Einheit der Romantrilogie besteht im Thema des Schreibens. Jeder der Romanhelden ist eine fiktive Ausgeburt des nachfolgenden. Erfindungen, erfundene Figuren, verweisen immer zurück auf die Erfinder. Der Roman und vor allem die Abfolge der Trilogie wird zum Roman über den Roman, doch dahinter steht eine höhere Macht, die das Erzählen, d.h. das Schreiben fordert.13
5 Ebenso wie wir uns hier trotz der Hochschätzung der großen Romane unter dem Aspekt der Gattungsgrenzen mehr mit späteren deskriptiven und kürzeren Prosatexten beschäftig haben, werden bei den darstellenden Genres hier nicht die Bühnentexte im Mittelpunkt unseres heutigen Interesses stehen, obwohl sie Becketts Ruhm begründet haben und zu Recht bis heute Hauptursache seiner prominenten Stellung in der Literatur des 20. Jahrhunderts sind. Ich meine
13 Dass eine solche Aufgabe für den internen Be-Schreiber mit großen Risiken behaftet ist und daher keineswegs immer zur Zufriedenheit gelingt, beweist allein schon der Titel des späten Prosatextes Mal vu mal dit (1981). Vgl. Konrad Schoell: Exakte Beschreibung und vorsichtige Einschränkung. Bemerkungen zu Becketts Prosastil. In: ZFSL 96, 1986, S. 13-21. 58
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natürlich die Reihe von En attendant Godot, Fin de partie, Krapp’s Last Tape, Happy Days bis Play. Statt ihrer, aber immer vor dem Hintergrund dieser genannten darstellerischen Hauptwerke, werden an einzelnen Beispielen die Pantomime, das Hörspiel, ein kurzes Theaterstück, die Filme und Fernsehspiele uns unter dem Aspekt der Ausfüllung der Möglichkeiten eines jeden der Genres und der eventuellen Überschreitung dieser Möglichkeiten, der Vermischung sowie der Metaliteratur beschäftigen. In den beiden Pantomimen aus der Mitte der 50er Jahre, Acte sans paroles I mit nur einem Darsteller und Acte sans paroles II mit zweien im Kontrast, benutzt Beckett das Genre Pantomime sehr streng. Das heißt, er isoliert das Medium menschlicher Körper in seinen Ausdrucksformen Proxemik, Gestik und – in geringem Maß – Mimik. Beide Stücke werden wie Versuche aus der Verhaltensforschung oder eine Art Dressur präsentiert, wobei aus der Sicht der späteren Filme, aber auch im Vergleich mit der Romantrilogie besonders auffällt, dass die Autorität, welche Befehle erteilt oder Reaktionen fordert, völlig außerhalb steht und anonym bleibt. Es handelt sich in der ersten Pantomime um die Verhaltensanpassung einer menschlichen Figur an die von Willkür gelenkten äußeren Einflüsse. Acte sans paroles II, das Stück, das uns hier mehr beschäftigen soll, ist ganz sinnfällig auf die Körpersprache reduziert.14 Im Vergleich mit der ersten Pantomime, aber auch mit vielen der nachfolgenden Werke für Film und Fernsehen erscheint das Stück als besonders didaktisch zubereitet durch die schon erwähnte extrem kontrastierende Darstellung der beiden auftretenden gegensätzlichen Typen, von denen der erste (A) ruhig, langsam, träumerisch, nach innen gekehrt auftritt („prie, rêvasse, prend une pilule“), der zweite (B) aktiv, hektisch, ständig unter Hochdruck: „…sort une montre…fait quelques pas de gymnastique…sort une brosse à dents…“ Der Anstoß kommt für beide nacheinander von außen, sinnfällig durch einen Stachel, der mit seiner Brutalität Reaktionen herausfordert. Die konkrete Präsenz des Stachels, seine mechanische Bewegung wird von Beckett wie in späteren Stücktexten immer häufiger und dort vor allem in Bezug auf die Präsenz einer Kamera durch eine Zeichnung als „Nebentext“ festgelegt. Anders chiffriert finden wir hier dieselbe Einwirkung einer unerbittlichen äußeren Macht wie in Play, dem Theaterstück, in dem
14 Samuel Beckett: Comédie et actes divers. Paris: Minuit 1966. 59
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ein Scheinwerferkegel die Reaktionen der Figuren, das heißt ihre Reden herausfordert – allerdings mit dem Unterschied, dass ein solcher Anstoß hier in der Pantomime für jede der beiden Figuren nur einmal zu Tagesbeginn erfolgt und daher in seiner Forderung nach Reaktion weniger bedrohlich ist. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass die gegensätzlichen Figuren A und B zu Beginn nebeneinander liegen, aber in keinem erkennbaren persönlichen Verhältnis zueinander stehen. In den späteren Werken Becketts findet sich die eingreifende äußere Macht nicht mehr ganz so gegenständlich wie durch den Stachel verkörpert, aber genau so insistierend und unausweichlich in ihren Forderungen: der Scheinwerfer im mehrfach genannten Theaterstück Play, in…but the clouds und anderen Spielen, die Kamera in Eh Joe usw.15 Aber aus der materiellen, technisierten Präsenz einer fordernden Autorität entwickelt sich doch auch wieder eine erkennbare menschliche Autorität wie Croak im Hörspiel Words and Music (im Gegensatz zu dem rein funktionalen „Öffner“ im sonst parallelen Hörspiel Cascando).16
6 Als Beispiel eines Theatertextes betrachten wir hier vor allem einen der späten kurzen Beckett-Texte: Ohio Impromptu von 1981.17 Natürlich kannte der Romanist Beckett die französische Tradition der dramatischen Impromptu-Stücke von Molière über Giraudoux bis zu Ionesco. Die Stücke, die die Dramatiker und/oder Schauspieler selbst in der Situation der Probe auf die Bühne bringen. Genau in dieser Linie des Metatheaters steht er mit dem bereits erwähnten Stück Catastrophe (1982), dem Theaterstück über eine Theaterprobe, aber auch Ohio Impromptu gehört in die Richtung der Brechung des Theatergeschehens oder auch mit einer in der Gattung Roman seit André Gide verbreiteten Bezeichnung für die Doppelung der Fiktion der „mise en abyme“: die Geschichte ist die Geschichte
15 Samuel Beckett: Collected Shorter Plays. London: Faber & Faber 1984. 16 Samuel Beckett: Words and Music. In: Collected Shorter Plays; Cascando. In: Comédie et actes divers. Paris: Minuit 1966. 17 Samuel Beckett: Collected Shorter Plays. 60
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einer Geschichte, das Stück ist die Darstellung eines Stücks – ganz in dem Sinn, wie wir eingangs festgestellt haben: Beckett schreibt Metatheater, Metaromane. R [Reading] Little is left to tell. In a last – [L knocks with left hand on the table.] Little is left to tell. [Pause. Knock.] In a last attempt to obtain relief he moved from where they had been so long together to a single room on the far bank. From its single window he could see the downstream extremity of the Isle of Swans. [Pause.] Relief he had hoped would flow from unfamiliarity. Unfamiliar room. Unfamiliar scene. Out to where nothing ever shared. From this he had once half hoped some measure of relief might flow. [Pause.] (285)
Bei Ohio Impromptu handelt es sich auch um einen metafiktionalen Text. Dies geschieht so, dass eine der beiden Figuren, der Leser (Reader) dem anderen, dem Hörer (Listener) aus den letzten Seiten eines Buches vorliest, auf denen davon die Rede ist, dass eine männliche Person geschickt wurde/wird, um einem anderen vorzulesen, bis die Binnengeschichte zu Ende ist – und damit auch das Stück schließt. Die Ausgangssituation in der Rahmenhandlung ist gekennzeichnet durch einen großen Verlust der Hauptfigur, des Listener, Verlust einer geliebten Person durch den Tod zweifellos, dessen schmerzlichen Folgen er durch den nachfolgenden Umzug in ein fremdes Viertel auf der Suche nach Ruhe (relief) entgehen wollte. Es folgt aber alsbald die Erkenntnis, dass diese Entscheidung falsch war, dass der Trost (comfort) auf andere Weise hätte gefunden werden müssen. Die zweite Figur, der Vorleser, könnte ja ein wirklicher Tröster sein. One night as he sat trembling head in hands from head to foot a man appeared to him and said, I have been sent by – and here he named the dear name – to comfort you. Then drawing a worn volume from the pocket of his long black coat he sat and read till dawn. Then disappeared without a word. (287)
Im Rahmen von Becketts Spätwerk fällt besonders auf, dass die beiden Figuren Leser und Hörer sich in äußerlichen Elementen der 61
KONRAD SCHOELL
Theatersemiotik: Kostüm, Frisur, Haltung immer näher kommen, so wie in anderen Texten die Stimme und von ihr abgespaltene Figur zusammen eine Einheit bilden. Sie gleichen sich zum Verschmelzen, so dass der Reader also ein alter ego der Hauptfigur Listener ist: „With never a word exchanged they grew to be as one.“ (287) Ihre enge Zusammengehörigkeit wird schon dadurch signalisiert, dass sie gemeinsam nur einen Hut (auf dem Tisch vor sich liegen) haben. Im Vergleich mit der langen Liste der Beckett-Werke in den narrativen und in den dramatischen Genres erkennen wir den Zusammenfall von dargestelltem (dramatischem) und vorgelesenem, berichteten (d. h. narrativem) Geschehen als Übereinstimmung von Wiederaufnahme der Vergangenheit und Bewusstmachung der Gegenwart. In ähnlicher Weise, aber durch die äußere Macht des Scheinwerfers bedrängend und bedrohlich, findet sich der Zusammenfall von berichteter Vergangenheit und gefährdeter Gegenwart auch im mehrfach erwähnten Theaterstück Play. Ohio Impromptu kennt immerhin noch ein Minimum an gegenwärtiger Handlung durch die Unterbrechung des Vorlesens und die abschließende Verabschiedung. Es ist im Wesentlichen durch die Binnengeschichte gekennzeichnet als Wiederholung und Bericht. Wir sehen in diesem Text den untrennbaren Zusammenfall von Elementen der Dramatik mit solchen der Narration und somit eine Aufhebung der Gattungsgrenzen. Natürlich handelt es sich um eine noch weiter zu begründende Verallgemeinerung, wenn wir zusammenfassen: In den reduzierten darstellenden Genres und Werken (Pantomime, Hörspiel) benutzt Beckett das jeweilige Medium in seiner Beschränktheit optisch oder gelegentlich akustisch, um gerade trotz absichtlicher Beschränkung die darin liegenden Möglichkeiten erkennen zu lassen. Soweit geht er bis an die Grenzen des Genres, des Mediums, aber in einem weiteren Schritt hebelt er sie aus. Zwar hat er außer Breath (1969) kein Stück geschrieben ohne wenigstens schemenhaft erkennbare menschliche Figuren wie etwa die vier gleichen männlichen Figuren in Quad (1982) darzustellen. Es ist aber, ist er nicht so weit gegangen wie Jean Tardieu in seinem Stück aus den 50er Jahren Une voix sans personne, in dem tatsächlich keine Figur, kein Darsteller auftritt. Beckett hat die Spezifika der Genres so reduziert und sie so stark vermischt, dass ein Beckettscher Film, ein Hörspiel, eine Pan-
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SAMUEL BECKETT, DIE AUFHEBUNG DER GATTUNGSGRENZEN UND DIE METALITERATUR
tomime trotz Ausschöpfung der jeweiligen Form alle die typische Beckett-Prägungen der Minimalisierung zeigen.
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ALL THAT FALL – BECKETTS SPIELERISCHES „R O A D A U D I O P L A Y “ MARK-OLIVER CARL UND SIMONE MALAGUTI
1. Einleitung Samuel Becketts erstes Hörspiel, das er 1956 für die BBC produzierte, ist lange Zeit als einer von Becketts mimetischsten, realistischsten Texten rezipiert und interpretiert worden.1 In All That Fall würden sich menschliche Tragödien naturalistisch gezeichneter Charaktere abspielen, so befanden z. B. Henner Laass und Martin Esslin. Damit wäre All That Fall nicht nur in scharfen Kontrast zu Becketts späteren minimalistischen und radikal antimimetischen Medientexten gebracht, sondern auch ein Stück von Becketts erfolgreichen dramatischen Texten der 1950er, von der spezifisch Beckettschen Variante des „high absurdism“ eines En attendant Godot oder Fin de partie, weg gerückt. 1
Vgl. Henner Laass: Samuel Beckett. Dramatische Form als Medium der Reflexion. Bonn: Bouvier 1978, S. 105-107; Martin Esslin: Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks. In: Hartmut Engelhardt (Hrsg.): Samuel Beckett. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 169; Michael Issacharoff: Performing Texts. Philadelphia: Pennsylvania UP 1988, S. 67; Clas Ziliacus: Beckett and Broadcasting. A Study of the Works of Samuel Beckett for and in Radio and Television. In: AAAH (51) 2, S. 58; Germaine Baril: From Characters to Discrete Events. The Evolving Concept of Dramatis Personae in Beckett’s Audio Plays. In: The Review of Contemporary Fiction, 1987, S. 113; Shimon Levy: Samuel Beckett’s Self-Referential Drama. Basingstroke: Macmillan 1990; für eine Übersicht vgl. Joachim Becker: NichtIch-Identität. Ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 104. 65
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In den letzten Jahren sind jedoch vermehrt Zweifel an dieser Perspektive aufgekommen.2 Petra Maria Meyer weist 1997 auf das substanzlos Musikhafte an All That Fall hin: Nachdem die sogenannte wahre Welt in ihrer Scheinhaftigkeit demaskiert und die Illusion einer „realistischen Wirklichkeit“ durchbrochen wurde […] [lässt sich] aus dem Geiste der Musik […] ein neuer Schein aufbauen, der redlich genug ist, sich als solcher auszuweisen.3
Joachim Becker thematisiert 1998 in Nicht-Ich-Identität ebenfalls diese Unwirklichkeit und bezieht dies insbesondere auf die Figuren im Hörspiel, in denen er keineswegs realistisch gezeichnete Charaktere, sondern unklare Gestalten sieht, in deren „ontologische[r] Unsicherheit“ er eine Analogie zu Dantes „Limbus und […] Fegefeuer als Zwischenreiche von Verbannung und Erlösung“ erkennt.4 Laut Becker ist der Seinszustand der Figuren in All That Fall in der Schwebe, er ist nicht entschieden, unterwegs zwischen hier und dort, Sein oder Nichtsein. Dieser schwebende Zustand kann allerdings nicht nur, wie bei Becker, als inhaltliche Beschäftigung mit dem Liminalen gedeutet werden. Auch muss er nicht unaussprechliches Grauen, eine „Rundfunkhölle“5 (Becker), sein, ist doch jedem Schwebezustand zugleich auch eine außergewöhnliche Leichtigkeit inne. Beckett verurteilt seine Gestalten nicht. In der Unklarheit steckt auch die Offenheit. Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, ist auch unbedingt zu fragen, was hier so vieles zum Schweben bringt. Die Antwort ist im freien Umgang des Medienmanipulators Beckett mit vielem, was uns gemeinhin wie unverrückbare Naturgesetzlichkeiten erscheint, und in seinem Sinn für das Spiel zu suchen. All That Fall ist ein Beckettsches Spiel. Johan Huizinga definierte Spiele in seiner bahnbrechenden Schrift Homo Ludens als eine freie und um des Vergnügens am Spiel selbst willen veranstaltete Tätigkeit, die sich eben dadurch und
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Vgl. J. Becker: Nicht-Ich-Identität, S. 98-118; Petra Maria Meyer: Gedächtniskultur des Hörens. Medientransformation von Beckett über Cage bis Mayröcker. Düsseldorf: Parerga 1997, S. 29-35. P. M. Meyer: Gedächtniskultur des Hörens, S. 31. Vgl. J. Becker: Nicht-Ich-Identität, S. 100. Ebd. 66
ALL THAT FALL – BECKETTS SPIELERISCHES „ROAD AUDIO PLAY“
durch die Außerkraftsetzung allgemeiner Lebensregeln von einem Alltagsleben, das von der unausweichlichen Beschäftigung mit unmittelbaren Bedürfnissen geprägt ist, unterscheidet, und zugleich auch auf es zurückwirkt, indem es kulturelle Deutungsmuster schafft, die in vielerlei Weise das menschliche Leben prägen.6 Huizinga sah Dichtung und Theater – womit implizit auch das Hörspiel gemeint wäre – generell als Spiele an.7 Die Pflicht zur Wahrheitstreue ist aufgehoben und durch die eigenen Spielregeln der Fiktion ersetzt, die logische Verknüpfung ist aufgelöst und durch die assoziative ersetzt. Huizinga zitiert dabei Francis Bacons Ausspruch, Dichtung sei die Ahnung einer Lehre.8 Dass auch Becketts HörSpiel in diesem Sinn ein Spiel ist, versteht sich allerdings von selbst, an seinem fiktionalen Charakter ist bisher kein Zweifel geäußert worden. Doch die Perspektive auf All That Fall als Spiel drängt quasi dazu, auf einer zweiten Ebene fortgesetzt – und dabei über Huizinga hinaus getrieben – zu werden. Huizinga sah in der Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts eine abnehmende Spieltendenz, die er auf das Eindringen kommerzieller Praktiken in die Kunst durch das Einfallstor der Individualisierung von Kunstproduktion und rezeption sowie die Konstruktion zwanghafter Originalität zurückführte: Der Snobismus breitet sich mächtig über das Publikum aus. Zu gleicher Zeit wird krampfhafte Originalitätssucht ein Hauptimpuls für die Produktion. Dies dauernde Bedürfnis nach dem jeweils Neuen und Unerhörten schleppt die Kunst von den Hängen des Impressionismus in die Auswüchse, die sie im zwanzigsten Jahrhundert erlebt. Für die schädlichen Faktoren des modernen Produktionsprozesses ist die Kunst zugänglicher als die Wissenschaft. Mechanisierung, Reklame, Effekthascherei können der Kunst mehr anhaben, weil sie unmittelbarer für den Markt und mit technischen Mitteln arbeitet. In all diesem muss man das Spielelement in weiter Ferne suchen. Die Kunst hat seit dem achtzehnten Jahrhundert, gerade indem sie dem Menschen als Kulturfaktor bewusst wurde, allem Anschein nach an Spielqualität mehr verloren als gewonnen.9
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Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt 1956, S. 14-19. Vgl. ebd., S. 117-133. Vgl. ebd., S. 118. Ebd., S. 192. 67
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So nachvollziehbar Huizinga die spielfeindlichen Einflüsse industrieller Marktförmigkeit auf Kunst und Literatur auch aufdeckt, verbirgt sich in seiner Argumentation doch ein innerer Widerspruch: Wie kann die Kunstfeindlichkeit zugleich aus der mechanisiertindustrialisierten Produktionsweise und aus der Jagd nach Neuem resultieren? Uniformität und Originalität mögen sich hier dialektisch zueinander verhalten, dasselbe Ding werden sie dadurch keinesfalls. Wenn überhaupt von beiden Faktoren eine Spielfeindlichkeit ausgeht, dann muss es eine jeweils andere sein. Doch Huizingas Kulturpessimismus scheint einer näheren Betrachtung nicht standhalten zu können. Einer der Gründe hierfür mag in der Widersprüchlichkeit von Huizingas Spieldefinition begründet liegen, hatte er doch das Spiel nicht nur als frei und selbstverliebt, sondern auch als regelgeleitet definiert. Huizinga meinte, jedes Spiel „binde und löse“.10 Auch wenn dies auf viele Spiele zutreffen mag, erscheint uns dieses Kriterium keineswegs als allgemein zutreffend. Im Widerstreit zwischen Freiheit und Regelhaftigkeit sind wir geneigt, die Freiheit als den eigentlicheren Wesenszug allen Spiels anzusehen. So erklärt sich auch, warum Spiele wie Kunst, Literatur, Theater und schließlich auch Hör-Spiele etwas von ihrem Spielcharakter einbüßen können. Huizingas Feststellung, dass Spiele zur Regelbildung neigen, ist ja nicht unzutreffend – doch genau diese Regelbildung lässt das unbedingt freie Spiel als solches erlahmen und damit auch seine kulturelle Kreativität. Die Erstarrung in Spielregeln ist ein Verdinglichungsprozess in der Sphäre spielerischen Umgangs, der ganz ähnlich kontraproduktive Auswirkungen hat wie die Verdinglichungsprozesse im „eigentlichen“, alltäglichen Zusammenleben der Menschen, und der aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit jenen in Zusammenhang steht. Die Kommerzialisierung des Ästhetischen und ihre Suche nach billig (also standardisiert) reproduzierbaren und zugleich erfolgreich verkaufbaren Schablonen bringt das Gleichgewicht aus Freiheit und Regelhaftigkeit, aus Binden und Lösen durcheinander. Um weiter spielerisch bleiben zu können (oder wieder spielerisch zu werden), ist ein Spiel nächsthöherer Ebene immer wieder unerlässlich: das Spiel mit dem Spiel, ein freier, uneigentlicher Um-
10 Ebd., S. 18. 68
ALL THAT FALL – BECKETTS SPIELERISCHES „ROAD AUDIO PLAY“
gang mit den Regeln des eigenen Spiels, und damit ihre Außerkraftsetzung um des bloßen Vergnügens an dieser freien Handlung willen. Mit einer Regel zu spielen ist etwas anderes, als sie bloß zu übertreten. Es bedingt, dass man das Eigentliche, Reguläre, Erwartbare zitiert, ins Spiel bringt, so tut, als ob es gälte – und es dann seiner Macht entkleidet. Dies bringt die Verhältnisse in einem Spiel wie Becketts Hör-Spiel All That Fall in die u.a. von Becker beobachtete Schwebe. Ein anderes Bild für das Spiel als das der Schwebe wäre das des Unterwegsseins: Alles, was unterwegs ist, ist in einem ungewissen Zwischenraum. Die festen Regeln des Ausgangspunktes liegen hinter einem, eine neue feste Ordnung am Zielpunkt ist noch nicht erreicht. So lässt sich Becketts Spiel begreifen: Er greift diverse etablierte und erstarrte Spiel-Regeln auf und, indem er sie ihrer Macht entkleidet, bringt er sie in Bewegung, ohne damit eine neue Ordnung errichtet zu haben. Das Schweben und insbesondere die Bewegung und das Unterwegssein sind zugleich auch inhaltliche Leitmotive in Becketts Hörspiel. Im Folgenden wollen wir untersuchen, wie Beckett mit dem Medium Hörspiel/Hörfunk, mit diversen Textgenres und mit Motiven anderer Texte spielt, indem er deren erstarrte Regeln zitiert und dann ins Tanzen und Schweben bringt.
2 . D a s G e n r e sp i e l : To move or not to move? Nach Hartel treffen wir motivisch und strukturell bei Beckett immer wieder auf „alte Bekannte“11: So wie Beckett Sprüche, Handlungen, Figuren und Motive seiner eigenen Arbeiten variiert, tauchen auch transformierte und neu kombinierte Elemente aus der Weltliteratur und den visuellen Künste in seinen Werken immer wieder auf. Beckett hat, wie Bourdieu12 sagt, „sens du jeu“: Er hat zwar um die
11 Gabriele Hartel: „…the eyes take over…“ – Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“. Eine Untersuchung von „The Lost Ones“, „I’ll Seen I’ll Said“ und „Stirrings Still“ im Kontext der visuellen Kunst. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004 (=Horizonte: 33). 12 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (=Edition Neue Folge Band 985). 69
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Zugehörigkeit von Figuren, Handlungen oder Motive gewusst, aber solche starren Rahmen nie anerkannt. Dass eine Figur oder ein Motiv einem bestimmten Genre, der Literatur oder den visuellen Künsten – Malerei, Film oder Fernsehen – angehört, spielt für Beckett keine Rolle. Er setzt sich über literarische und künstlerische Traditionen hinweg, löst Motive und Figuren aus dem Medium heraus, in dem sie geprägt bzw. gespeichert wurden, und betreibt mit ihnen ständig parodierende und grenzüberschreitende Experimente. Auch die Grenze zwischen höheren Künsten und Unterhaltungsindustrie überschreitet er dabei: Bei seinem Bestreben, die Kunstsprache zu vitalisieren, schaute Beckett auch auf die Unterhaltungsindustrie seiner Zeit: Vaudeville, Varieté, Zirkus, Detektivromane und der Stummfilm waren große Inspirationsquellen und bestimmen die Dramaturgie vieler seiner Werke.13
In All That Fall14 treffen wir auf Konventionen der Literatur und des Films. In der Geschichte von Mrs. Rooney, die unterwegs von ihrem Haus zum Bahnhof ist, spielt Beckett im Hörspiel mit dem Muster der Reiseliteratur und des Reisefilms, indem er auf seine Weise gewöhnliche Motive und Themen des Genres (Reise, Fahrt, Wanderung, Spaziergang, unvorhergesehene Begegnungen, das Wechselverhältnis zwischen den Ausbrechern und der Umwelt) aufgreift, die den Erfolg dieses Genres begründeten. Zum Beispiel: Statt eines jungen starken Mannes, dessen geistige Kühnheit und körperliche Kraft ihm zu jeder Eroberung und jedem Sieg verhilft, ist die Hauptfigur eine alte und kranke Frau; deren Schwäche jede praktische Handlung erschwert. Statt der Segnungen der individuellen und räumlichen Freiheit malt die Akustik der Straße die Gefangenschaft der Erinnerungen und der Einbildungskraft dieser Frau aus. Die Vorstellung einer in der realen Welt handelnden Hauptfigur mit einem gesunden, heldenhaften Körper und mit klaren Zielen wird aufgehoben. An ihre Stelle tritt Mrs. Rooney, die als Nicht-Körper
13 G. Hartel: „…the eyes take over…“, S. 49. 14 Samuel Beckett: All that fall. London: Faber and Faber 1957. Der Einfachheit halber enthalten die Zitate aus diesem Hörspiel auf den folgenden Seiten nur die Seitenzahl. 70
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und als eine amorphe Gestalt15 gekennzeichnet wird, die sich denkend, nachdenkend, phantasierend fortbewegt. Somit versetzt sich die alte Dame Rooney oft in eine ebenso formlose, haltlose Welt (ihrer Phantasie, Erinnerungen, unerfüllten Wünschen) und verliert tatsächlich den Boden unter den Füßen. In solchen Momenten scheinen Mrs. Rooney und ihre Welt die physikalischen Gesetze und die logischen Verknüpfungen der realen Welt, wie wir sie erfahren, zu überwinden. Mrs. Rooney und ihre Welt erheben sich in die Luft, in den Himmel: Mr. Slocum: (cooly). May I then offer you a seat, Madam? Mrs. Rooney: (with exaggerated enthusiasm). Oh that would be heavenly, Mr. Slocum, just simply heavenly. (Dubiously.) But would I ever get in, you look very high off the ground today, these new balloon tyres I presume. [...] No... I’ll never do it... you’ll have to get down, Mr. Slocum (...). (13)
Somit befinden sich die Figuren zwar auf der Straße, aber sie sind in einem Schwebezustand, in einer Zwischenwelt zwischen dem Realen und dem Imaginären, die nicht nur aus einem Unterwegssein der horizontalen Linearität (suggeriert durch die Vorstellung einer Straße) und der Fortbewegung auf der Erde, sondern auch aus den Ups und Downs des Fliegens oder des Schwebens besteht.16 Beginnend mit Homers Odyssee gehört das Bewegungsprinzip, das Reisen und das Unterwegssein zu den ältesten Traditionsbeständen der abendländischen Literatur, in deren zahlreichen Schilderungen sich das real Erfahrbare und das Fiktive durchdringen. In der historischen Entwicklung des Genres gibt es zwei dominante Konzeptionen:17 das heldenhafte oder das erzwungene, pikareske Unterwegssein. Die erste Konzeption betont die Herausforderung an 15 Herr Rooney sagt zu Frau Rooney: „Two hundred pounds of unhealthy fat!“ S. 30. 16 Mr. Slocum: „You’ll get down, Mrs. Rooney, you’ll get down. We may not get you up, but I warrant you we’ll get you down.“ S. 14; Mr. Barrel: „(…) Well, Mrs. Rooney, it’s nice to see you up and down about again. You were laid up there a long time.“ S. 17 und Mrs. Rooney zu Mr. Rooney: „We are down. […].“ S. 29. 17 Vgl. Horst Daemmrich: Fahrt (Reise, Lebensfahrt). In: ders.: Themen und Motive in der Literatur: ein Handbuch. Tübingen; Basel: Francke 1995, S. 127-133; Reiseliteratur. In: Brockhaus 2004, S. 679-680. 71
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die Hauptfigur, z.B. ein Land für sich zu erkunden oder die Welt neu zu erobern. Das Geschehen kann dabei heroisch wirken, wie in den Entdeckungsgeschichten des 16. Jahrhunderts (z.B. Os Lusíadas, 1572) oder in den Western. Hier kann der Held eine gewisse Freiheit auskosten, muss aber gegen das Böse oder das Unbekannte kämpfen. Die Reiseerlebnisse werden gepriesen und der Held wird bei der Rückkehr für seine Taten und Klugheit belohnt. Er erringt zumindest Ruhm und Ehre. Die Schilderung kann auch informativen Charakters sein, wie Chateaubriands Voyage en Amérique (1793) oder Goethes Italienische Reise (1816-1817). In diesen Fällen konzentriert sich die Erzählung auf persönliche Eindrücke des Reisenden als Beobachter einer fremden Kultur. Die andere Konzeption, das erzwungene und pikareske Unterwegssein, wird oft mit einer individuellen Ruhelosigkeit (oft als Folge einer Desillusionierung oder Enttäuschung) in Verbindung gebracht, die die Hauptfigur zwingt, aus ihrem konventionellen Leben oder ihrer Umgebung auszubrechen. Diese Figur begibt sich sowohl auf eine Reise, als auch auf eine Suche – religiöser, existentieller, gesellschaftlicher oder beruflicher Art. Auch hier erwarten die Hauptfigur Pausen oder „Stationen“ während der Reise, die sie eher als Chancen denn als Hindernisse für die eigene Entfaltung begreift. Immer hat diese Figur hier etwas zu erlernen oder eine Besonderheit ihrer Persönlichkeit zu beweisen. Die Landschaft oder die ihr begegnenden Personen dieser Stationen enthalten also symbolische Werte.18 Diese zweite Konzeption wurde strukturbildendes Prinzip sowohl für den Schelmen- und Bildungsroman als auch für den Roadmovie. Oft erleben die repräsentativsten Figuren dieser Konzeption das Unterwegssein mit Freude und Begeisterung, denn sie hoffen, dass ihre Existenz dadurch einen neuen Sinn gewinnen wird. Dazu gehört die positive Vorstellung der Bewegung als Freiheit, als Abenteuer der Lebensfahrt und als persönliche Bereicherung, oder die Ansicht, dass der Zustand des Unterwegsseins in einer besonderen Landschaft nach der Überwindung von etlichen Hindernissen zu einem „Lustort“19 führt, auf dem den Wanderer oder den Reisenden
18 Vgl. Sarah Bryant-Bertail: The True-Real Woman: Maddy Rooney as Picara in All That Fall. In: www.tau.ac.il/arts/publication/assaphth11/ bertail.html. 2004, S. 2, 20.12.2006. 19 Vgl. Horst S. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur: ein Handbuch, S. 122. 72
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Zugänge zur Welterkenntnis, Selbstbestätigung und -verwirklichung erwarten. Bekannte Beispiele sind Cervantes` Don Quijote (16051615), Jonathan Swifts Gullivers Reisen (1726), Voltaires Candide (1759), Goethes Wilhelm Meister (1795-1821) und Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). Romane oder Filme ab der 1950er Jahren bedienen sich auch oft des pikaresken Unterwegsseins, wobei dies mehr mit einer Orientierungslosigkeit als Freiheit gleichgesetzt wird. Das Unterwegssein ist für die Helden von Salingers The Catcher in the Rye (1951) und von Burroughs On the Road (1957) die einzige Form des Ausbruchs aus der Konformität der Wohlstandsgesellschaft. Für die Figur in Fellinis La Strada (1954) ist das Unterwegssein auf der Straße gleich ihrem Leben.20 Vergleicht man die erste Hörspielarbeit von Beckett, All that fall (1956), mit dem nur drei Jahre zuvor verfassten erfolgreichem Theaterstück Warten auf Godot, ist das Bewegungsprinzip in erstem auffällig: Während Wladimir und Estragon bis zum Ende des Stücks umsonst auf jemanden warten, der nicht wie abgesprochen kommt; entscheidet sich Mrs. Rooney in All that fall, nicht auf ihren Mann zu warten. Ähnlich wie Wladimir und Estragon begegnet Mrs. Rooney anderen Figuren auf ihrem Weg zum Bahnhof. Allerdings mit einem Unterschied: Während die beiden ihre Besucher nicht kennen und mit ihnen eine Freundschaft auf der Landstraße schließen, trifft Mrs. Rooney unterwegs alte Bekannte, die ihr nicht unbedingt freundlich gegenüberstehen. Versucht man Verbindungen mit anderen Figuren und Werken Becketts herzustellen, dann erscheint Mrs. Rooney als ein Gegensatz zu der späteren alten weiblichen Figur F. in Rockaby, die ihr Haus nicht verlässt und immer in ihrem Schaukelstuhl sitzt, bis sie zum Stillstand kommt. In diesem Sinn ist Mrs. Rooney nicht nur ein Gegenentwurf zu den Beckettschen Figuren in Warten auf Godot und in Rockaby, sondern auch ein Verstoß gegen die weiblichen Stereotype des Genres der Reiseliteratur oder des Roadmovies, in denen die Landstraßen hauptsächlich Schauplatz für junge starke Männer sind. Frauen werden hingegen in diesem Genre fast immer als die hinter sich gelassenen, wartenden oder begleitenden Figuren dargestellt. Mrs. Rooney empfindet das typische weibliche Warten und das Zuhausesein, wie man es aus der Reiseliteratur und dem Reisefilm
20 Vgl. Marcus Stiglegger: Roadmovies. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam 2002, S. 514-517. 73
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kennt, als einsam, langweilig und sogar bedrohlich; als ob man in einem alten Gebäude lebte, das nie repariert wird und langsam verfällt, wie ihre Bemerkung verrät: „Poor woman. All alone in that ruinous old house.“ (7) Ob diese Bemerkung sie selbst oder eine Frau, die sie unterwegs sieht, betrifft, ist ungewiss. Wichtig ist, dass hier das sichere Zuhause von Mrs. Rooney anders interpretiert wird: es handelt sich nicht um einen schützenden Raum. Das Zuhause blendet einen aus dem äußeren Leben aus, aus der Öffentlichkeit. Das setzt Ortsgebundenheit und Routine des Tagesablaufes voraus und verlangt, dass man sich den immer gleichen Situationen und Spielregeln dieser Routine und dieses Ortes anpasst, bis man situationsadäquat ohne Nachdenken handelt. Dieser Zustand führt nicht nur zu einer gewissen physischen Immobilität, sondern auch zu einer geistigen Atrophie; in der die Wiederholung und das Looping von Ideen und des Habitus die Neuigkeiten verdecken und mit dem Schwund der Existenz drohen. Mrs. Rooneys Existenz ist davon schon bedroht. Die alte Dame ist geistig und körperlich so krank, dass sie dies selbst zugibt: „Oh I am just a hysterical old hag I know, destroyed with sorrow and pining and gently and church-going and fat and rheumatism and childlessness“ (9). Ihr Mann, Mr. Rooney, ist ebenso in der Routine versunken, die für ihn selbstverständlich geworden ist. Er kennt nur die festen Regeln seines Tagesablaufs. Deshalb übersieht (er ist sogar schon blind!) und überhört er das Neue im Alltäglichen: Mr. Rooney: Why are you here? You did not notify me. Mrs. Rooney: I wanted to give you a surprise. For your birthday. Mr. Rooney: My birthday? Mrs. Rooney: Don’t you remember? I wished you your happy returns in the bathroom. Mr. Rooney: I did not hear you. (27)
Mrs. Rooney traut sich allerdings, die Regel zu verletzten: Trotz ihres Alters und ihrer Krankheiten verlässt sie ohne Ankündigung ihren Platz, zieht gehend und schwebend durch die Landstraße bis zum Bahnhof, wo Mr. Rooney mit dem Zug ankommen wird. Für ihre gewagte Tat erringt sie aber nichts, sie wird als eine Verrückte bezeichnet: Mrs. Rooney: Kiss me!
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Mr. Rooney: Kiss you? In public? On the plattform? Before the boy? Have you taken leave of your senses? (27)
Sie versucht sich in die Rolle einer picara auf der Straße zu versetzen, die sich halb schwebend, halb gehend, aber immer denkend fortbewegt. Anders die männlichen Figuren, alte Bekannte, die sie unterwegs trifft: Alle besitzen ein Verkehrsmittel (Karre, Rad, Auto) und scheinen klarere Ziele zu haben, wie die traditionellen Rolle des Helden der Reiseliteratur und des Reisefilms. Wenn sie diese Männer trifft, steigt sie zwar aus ihrem denkenden und schwebenden Zustand aus und versucht, mit ihnen eine Begegnung von Gleichem zu Gleichem zu haben. Aber in einer Welt von unklaren und formlosen Gestalten erweist sich jedes Treffen als unmöglich. Diese Bekannten, die mit einer realistischeren und logischeren Welt als Mrs. Rooneys Welt zu tun haben, möchten sie zwar aus Höflichkeit eine Weile begleiten und unterhalten, aber sie machen Bemerkungen, die Mrs. Rooney aufregen und nerven. Schließlich verlieren die Männer ihre Geduld und lassen die alte Mrs. Rooney allein. Anders als in der Genretradition des Schelmen- oder Bildungsromans, wo die negativen Eigenschaften des Helden während der Erzählung verringert und korrigiert werden, wird das negative Bild Mrs. Rooneys als einer alt-gemütlichen, dicken, kinderlosen, hysterischen und rheumatischen Frau durch diese Begegnungen nicht korrigiert, es wird stets nur bestätigt. Für die alte, kranke und dicke Frau scheint das Unterwegssein keine Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Ihr Spaziergang durch die idyllische englische countryside erweist sich also als ein anstrengendes, riskantes und herausforderndes Unternehmen. Sie ärgert sich: „I should not be out at all! I should never leave the grounds!“ (19); und sagt ihrem Mann: „I had such a time getting here! Such horrid nasty people! Be nice to me, Dan, be nice to me today!“ (27) Aber auch wenn das Unterwegssein Mrs. Rooney nicht gegen das unvermeidliche, traurige Ende ihrer hoffungslosen Existenz helfen kann, zieht die Bewegung im Freien und in der Öffentlichkeit sie an. Denn dieser Zustand wird trotz aller Risiken als lebendigere Lebensform – im Gegensatz zu einem stationären, nur scheinbarem geschützten Zuhause – und als spielerische Überlebensstrategie angesehen. Sie erkennt zwar eine gewisse Ausweglosigkeit: „It is suicide to be abroad. But what is it to be at home, Mr. Tyler, what is it to be at home? A lingering dissolution.“ (10), verabscheut aber den
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Plan ihres Mannes in Rente zu gehen: „Retire! And live at home? On your grant!“ (29). Dagegen wehrt sich Mr. Rooney: „Trudge this hellish road for the last time. Sit at home on the remnants of my bottom counting the hours – till the next meal. (Pause.) The very thought puts life in me!“ (29) Während der Stillstand und das Zuhause Mr. Rooney lebendig machen, sind es die Bewegung und das Unterwegssein, die Leben in Mrs. Rooney bringen: Sie wird dadurch sichtbar, kann das Leben sehen, etwas erleben und sich selbst und anderen begegnen. Ganz anders als die anderen männlichen Figuren, die Mrs. Rooney unterwegs trifft, empfindet ihr Mann das Leben auf der Straße und im Zug als Last. Denn Mr. Rooney ist im Gegensatz zu diesen Männern blind und ist deswegen immer auf die Hilfe von anderen Personen, besonders wenn er unterwegs ist, angewiesen. Das Unterwegssein bedeutet für ihn also keine Freiheit, die wir von Reiseliteratur und -film gewöhnt sind. Außerdem ist er auf der Straße ständig sinnlich überfordert, da er die äußeren Geräusche und Zeichen wahrnehmen muss, um sich zu orientieren und sicher zu gehen. Er schimpft deswegen sogar mit Mrs. Rooney: „Once and for all, do not ask me to speak and move at the same time.“ (28) Der Stillstand bietet ihm also eine gewisse Entlastung. Er kann sich dadurch nicht nur auf seine eigene Gedanken besser konzentrieren, sondern auch besser reden oder erzählen. Durch die unterschiedliche Lebensperspektive oder Lebenserwartung – Mrs. Rooneys Neigung zur Beweglichkeit und Mr. Rooneys Verlangen nach Stillstand – wird in All That Fall nicht nur mit den Schemata eines Genres, sondern auch mit dessen Leitmotiv gespielt. Dieses lässt sich hier als die folgende Fragestellung formulieren: To move or not to move? That’s the question. Der Schwebezustand scheint hierfür eine Lösung zu bieten.
3. Becketts Medienspiel: Sehen oder Hören Auch in All That Fall arbeitete Beckett „mit der gezielten Akzentuierung und Analyse des Medienspezifischen“21, so dass die Frage To move or not to move? auf der medialen Ebene die Spezifizität des
21 Vgl. Lemke in diesem Band. 76
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Genres (Unterwegssein) im Hörspiel herausfordert. Das Problem scheint auf dieser Ebene also nicht nur Mr. und Mrs. Rooney zu betreffen, sondern das Medium Hörspiel selbst, dessen Motive, Figuren und Handlungen hauptsächlich durch Stimmen, Geräusche, Musik und Ton ausgemalt werden. In diesen Sinn geht es in All That Fall also nicht nur um die Spannung zwischen Bewegung und Nicht-Bewegung, sondern auch um die Frage, ob und inwieweit die medialen Konventionen und Möglichkeiten eines Mediums (gedruckte Literatur oder Film) in einem anderen Medium eingesetzt werden können, das aus akustischen und akustisch-verbalen Zeichen besteht. Becketts Auseinandersetzung mit dieser Frage ergibt in den Hörspielen nach Lommel22 eine Durchkreuzung von Wahrnehmungsgewohnheiten. Im Hörspiel All That Fall werden z.B. erwartungsgemäß oft das Akustische und der Gehörsinn betont, doch auch auf andere Wahrnehmungssinne wird zurückgegriffen, so dass die Frage aufkommt, ob es hier hauptsächlich um das Sehen oder um das Hören geht. Auf diese Weise spielt Beckett mit unseren Wahrnehmungsgewonheiten und dekonstruiert die Illusion der Hörspiele. Dieses Spiel lässt sich in All That Fall z. B. gleich am Anfang des Hörspiels beobachten, wenn Beckett seine Figuren in eine Welt versetzt, die eher durch Geräusche als mit den Augen wahrzunehmen ist. Statt ihn zu sehen, spürt oder hört Mrs. Rooney jemanden, der mit einem Karren unterwegs ist: „Is that you, Christy?“ (7). Wie der Zuschauer ein Hörspiel nur hören kann, so kann auch Mrs. Rooney in der fiktiven Welt des Hörspiels scheinbar nur hören. Denn die Figur Christy ist keine materialisierte Form bzw. kein körperliche autonomes Wesen, das zu sehen ist. Christy wird stets als ein Assoziationsspiel von Geräuschen und räumlichen Bezügen (der sich bewegende Karren, der Gang des Esels auf der Straße) begriffen, an die sich Mrs. Rooney erinnert. Diese Anfangsszene führt die medialen Bedingungen des Hörspiels vor, die den Figuren Körper, Bewegung, Gestik und Mimik verweigern. Die agierenden Personen im Hörspiel sind als unsichtbare Körper oder als körperlose Stimmen gegenwärtig. Nur durch ihre Äußerungen, die Ausdruckfähigkeit der Stimmen (z.B. Wortwahl, Ton, rhythmische Lautgebärden
22 Michael Lommel: Samuel Beckett. Synästhesie als Medienspiel. München: Fink 2006, S. 122. 77
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und sprachlicher Rhythmus), Geräusche und räumliche Bezüge, die von den Geräuschen geschaffen werden, können die Figuren existieren und wahrgenommen werden. Je mehr die Figuren diese Elemente variieren, desto mehr sind sie als Figuren im Hörspiel zu begreifen. Obwohl Mrs. Rooney nicht ein Hörspiel hört, sind die Bedingungen diese Mediums hier die Bedingungen ihrer fiktiven Realität. Es ließe sich auch sagen: Sie scheint sich ihrer Existenz als Hörspielfigur ganz bewusst zu sein, weil ihr Gehörsinn hier in Anspruch genommen wird (sie erkennt ja die Geräusche und formuliert ihre Frage, als ob sie ihn nur hört!). Mehr als die anderen Personen im Hörspiel scheint Mrs. Rooney diese mediale Realität wichtig zu sein, so dass sie ständig mit ihrer Stimme spielt. Sie überschreitet somit sogar einen gewissen Grad der Normalität beim Sprechen und hält ihre eigene Ausdrucksfähigkeit für komisch. Sie spricht darüber mit Christy: „Do you find anything... bizarre about my way of speaking? (Pause) I do not mean the voice. (Pause). No, I mean the words. (Pause. More to herself.) I use none but the simplest words, I hope, and yet I sometimes find my way of speaking very... bizarre. (Pause) (8). Mrs. Rooney erkennt ihre rein hörspielerische Stimm-Existenz (ihre NichtExistenz). Indem sie das tut, werden die Bedingungen des Mediums in der Geschichte semantisiert und mit ihrer destruktiven Selbstwahrnehmung verwechselt. Sie meint: „Alive? (…) Speak for yourself, Mr. Tyler. I am not half alive nor anything approaching it.“ (11-12) und bittet: „Don’t mind me. Don’t take any notice of me. I do not exist.“ (16) Aber das Versprechen, dass Mrs. Rooney sich ihrer hörspielerischen Stimm- und Geräusch-Existenz bewusst ist, wird nicht immer eingehalten. Die Illusion wird z.B. dekonstruiert, als ihr Mr. Tyler mit seinem Fahrrad nah kommt. Plötzlich kennt sie keine Geräuschassoziation mehr. Mr. Tyler muss sich rechtfertigen und behauptet: „I rang my bell, Mrs. Rooney, the moment I sighted you I started tinkling my bell, now don’t you deny it.“ Aber sie ist der folgenden Meinung: „your bell is one thing, Mr. Tyler, and you are another.“ Plötzlich besteht sie doch auf ihren Körper und auf seiner Visualität. Mrs. Rooney ärgert sich später darüber, dass Mrs. Fitt sie nicht sieht: „Am I then invisible, Miss Fitt?“ (19) Somit geht es im Hörspiel abwechselnd um das Sehen und um das Hören. Und dies verknüpft sich mit dem Bewegungsprinzip. Das ist an einer Stelle des Gespräches zwischen Mrs. Rooney und 78
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Mr. Tyler zu beobachten, in der sie seine Aufforderung „Come, Mrs. Rooney“ (12) dreimal verweigert. Aber das heißt nicht, dass sie nicht weiter geht. Sie möchte sich aber auch in eine Welt des Hörens und des Denkens versetzen: „Go, Mr. Tyler, go on and leave me, listening to the cooing of the ringdoves. (Cooing) If you see my poor blind Dan tell him I was on my way (...).“ (12) Von dieser Welt des Hörens und Sehens, der unmittelbaren Wirklichkeit, ist es nur einen Schritt zu einer Welt zwischen dem Realen und dem Imaginären, einer Welt des Phantasierens und des Grübelns, in der Wünsche, Erinnerungen und Gefühle wie Enttäuschungen oder Freude auftauchen. In dieser von ihrer Einbildungskraft hergestellten Welt führt Mrs. Rooney Selbstgespräche. Dadurch verliert sie schließlich den Bezug zur Gegenwart und erzählt eine Geschichte, die kaum einen Zusammenhang mit dem, was gerade geschieht, aufweist. Diese Zusammenhangslosigkeit bricht infolgedessen mit der Vorstellung des Unterwegsseins als einer nur räumlichen linearen Fortbewegung. Dies wird im Hörspiel besonders auffällig, wenn sich Mrs. Rooneys Stimme und Stimmung verändern. Im Gespräch mit Mr. Tyler sagt sie plötzlich weinend: „Say to him, your poor wife, she told me to tell you (…)…she simply went back home…straight back home…“ (12) Gleich danach empört sie sich. Sie fragt laut und energisch: „Can’t you see I’m in trouble?“. Schließlich ruft sie leise und jammernd eine gewisse „Minnie.“ Plötzlich schildert sie eine Geschichte über diese Minnie, die wahrscheinlich ihre verstorbene Tochter ist: „In her forties now she’d be, I don’t know, fifty girding up her lovely little loins, getting ready for the change…“ (12) Dann bricht sie mit der Geschichte ab, hebt die Grenzen dieser Phantasiewelt auf und kommt zurück zum Geschehen auf der Landstraße. Da trifft sie eine dritte Bekanntschaft, Mr. Slocum, und führt mit ihm ein Gespräch. Aber auch dieses enthält zweideutige Sätze, die Bezug auf ihre persönlichen Erlebnisse oder Erinnerungen nehmen. Diese Komposition, die die normale Alltagssituation und Mrs. Rooneys Erinnerungsfragmente vermischt, prägt das Hörspiel von Anfang an. Auf die ländlichen und idyllischen Geräusche in der ersten Szene folgen eine Pause (ca. fünf Sekunden) und dann eine fast bedrohliche Szene, die aus mühsamen Schritten und einem müden Atem entsteht. Zehn Sekunden später ist eine funebre Oper zu hören. Dann jammert Mrs. Rooney mit ältlicher Stimme: „Poor woman. All alone in that ruinous old house.“ (7) Mrs. Rooney 79
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murmelt unverständlich und traurig ein Lied. Dann begegnet sie ihrem ersten Bekannten, Christy, mit dem sie sich unterhält. Aber plötzlich gibt es eine Pause. Christy verschwindet und Mrs. Rooney gerät in ein seltsames Selbstgespräch, das anfänglich mit Christys Esel zu tun hat, das sich allerdings später auf schmerzhafte Erinnerungen bezieht: „So long ago…No! No!“ (9) Dann fängt sie zu weinen an, und ruft: „Minnie! Little Minnie!“. Mrs. Rooney wirkt dann aber wieder gestärkt, als sie ihren zweiten Bekannten, Mr. Tyler trifft. Nach einer Weile beginnt sie wieder mit einer weinerlichen Klage und mit dem Ausruf „Minnie! Little Minnie!“ Ihren Begleiter verlässt sie unerwartet. Dann bricht sie in ein hexenartiges, wildes Gelächter aus. Diese Komposition wiederholt sich bis zum Ende des Hörspiels jedes Mal, wenn sie jemandem unterwegs begegnet. Allmählich wird es sehr schwierig zu unterscheiden, welche Szenen aus Mrs. Rooneys Phantasie oder Vergangenheit sind, welche Stimmen sie tatsächlich hört und welche Geschehen tatsächlich stattfinden (oder stattgefunden haben). Außerdem schaffen die unterschiedlichen Stimmen und Stimmungen von Mrs. Rooney weder eine einheitliche, kontinuierliche Geräuschkulisse, noch vermitteln sie eine konkrete Raumerfahrung. Sie rufen stets verschiedene akustische Schichten23 hervor, die oft räumlich oder zeitlich nicht zueinander passen. Die Mischung von tatsächlich Gehörtem oder Gesehenem mit dem, was Mrs. Rooney denkt, steigert sich, als sie ihren Mann trifft. Da Mr. Rooney blind, aber trotzdem beruflich aktiv ist, gibt es zwischen den beiden sehr disparate Vorstellungen und Wahrnehmungsgewohnheiten. Könnte es hieran liegen, dass sie wenig Verständnis füreinander haben? Wenn sie von ihm einen Kuss oder eine Umarmung verlangt, sagt er ihr: „Have you taken leave of your senses?“ oder „Have you been drinking again?“ Außerdem hat er auch eine gewisse Neigung, seine Gedanken schweifen zu lassen und diese laut auszusprechen („I dream of other roads, in other lands. Of another home, another – (he hesitates) – another home.“) (32), so dass sie diese manchmal nicht versteht und ihn fragt: „What is the matter, Dan? Are you not well?“ (31) Die Kommunikation zwischen den beiden ergibt keinen Zusammenhang, sie ist kein Dialog, sondern eine Reihung von Fragen, Antworten oder Aussagen und besteht aus einer Mischung von Geräuschen und Stimmen, die die
23 Vgl. J. Becker: Nicht-Ich-Identität, S. 104. 80
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Rooneys in ihren realen und imaginären Spaziergänge hervorbringen. Die alltägliche Situation einer Frau, die unterwegs von ihrem Haus zum Bahnhof ist, wird surrealistisch und hyperrealistisch. Nach Hartel liegt gerade in dieser Transformation der Wert dieses Hörspiels, in dem „die rudimentäre Geschichte zugunsten einer Komposition aus Geräusch, Sprache/Wortklang, Musik und Stille zurückgestellt wird.“24
4. Becketts Motivspiel mit d e r Re l i g i o n s k r i ti k All That Fall spielt nicht nur mit den Regeln des Hörspiels/Hörfunks und mit den Regeln der Genres Reiseliteratur, Bildungsroman und road movie. Auch die Regeln für das Verwenden inhaltlicher Motive der Weltkultur in Gestalt intertextueller Wiederaufnahmen bringt Beckett ins Spiel, nur um sie der Ungewissheit, dem „freien Spiel“ zu überantworten. Dies wird am Beispiel des Psalm-Zitats besonders deutlich, aus dem ein Teil auch im Titel auftaucht. Die Auseinandersetzung der Literatur mit der Religion ist seit jeher ein kontroverses Feld, und spätestens seit der Aufklärung – seit also Religion nicht mehr der selbstverständliche Maßstab für Literatur, sondern vielmehr das Thema von Literatur sein (oder auch nicht sein) kann – ist es zum mehr oder weniger ungeschriebenen Gesetz geworden, dass der Rezipient von einem Text, der schon im Titel Worte aus der Bibel wieder aufnimmt, entweder positive Bezüge auf diese Religion oder eine literarische Abrechnung mit der Religion erwarten dürfte. Die Intensität der religionskritischen Kontroverse hat die Regel entstehen lassen, dass die Aufnahme religiöser Motive zugleich auch eine Stellungnahme impliziert. All That Fall bietet zunächst einmal fraglos Anlass, eine solche Stellungnahme zu erwarten. Es aktiviert die Erwartungshaltung des Zuhörers, indem es die Regel von der Zustimmung oder Ablehnung eines religiösen Zitats zu befolgen scheint. Becketts Hörspiel scheint sich für die Religionskritik zu entscheiden:
24 Gaby Hartel: Am Nerv der Zeit – Im Innern der Stimme. Samuel Becketts unmittelbare Kunst. In: ders.: Samuel Beckett. Wir sind Zauberer. Godot und die anderen. Berlin: Der Hörverlag 2006, S. 23. 81
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Mr. Rooney: Has he announced the text? Mrs. Rooney: „The Lord upholdeth all that fall and raiseth up all those that be bowed down.“ (Silence. They join in wild laughter. […](39)
Der Psalmvers vom Herrgott, der die Fallenden hält und die Gebeugten aufrichtet, lässt das alte, sich mühsam vorwärts schleppende Ehepaar laut auflachen – ihre wohl lebendigste Reaktion im ganzen Hörspiel. Die Bibelworte scheinen durch die Lebenssituation der Rooneys so deutlich widerlegt, dass sie ihnen nur ein zynisches Lachen entlocken. Die These von All That Fall als Religionskritik konsolidiert sich weiter, wenn man annimmt, dass Mr. Rooney auf der Zugfahrt einen kleinen Jungen aus dem Fenster geworfen und auf die Schienen hat fallen lassen, wie Meyer ausführt: Das nach dem 145. Psalm […] geradezu zynisch betitelte Hörspiel deutet den Mord an einem Kind an […] [, es lässt] den Verdacht im Hör-Raum stehen […], dass Dan Rooney ein Kind aus dem Zug stieß, das der Herr nicht gehalten hat.25
Folgt man dieser Deutung, so lacht das alte Ehepaar über den Psalm 145 nicht nur verbittert, sondern auch bösartig: Dan Rooney muss beim Gedanken daran lachen, als wie falsch sich angesichts seiner Tat die Bibelworte doch erwiesen haben bzw. wie ironisch ein solcher Predigttext gerade jetzt ist, wo Mr. Rooney das Gegenteil des in ihm Gesagten erlebt und erwirkt hat. Damit ist der Zuhörer hinreichend animiert, Becketts Hörspiel als eine neuerliche Diskussion der Theodizee-Frage, warum Gott das Unheil und das Böse geschehen lasse, und als Gott verneinende, atheistische Antwort auf dieselbe aufzufassen: Die Antwort ist Gelächter. Doch auf den zweiten Blick verschwimmt die Klarheit und tritt zugunsten des „Verdachts“ (Meyer) zurück. Hat Dan Rooney das Kind wirklich aus dem Zug gestoßen? Jerry sagt lediglich „It was a little child fell out of the carriage, Ma’am. On to the line, Ma`am. Under the wheels, Ma`am.“ (41) Auch rückblickend erlangt der Leser an keiner anderen Stelle Gewissheit – er kann nur, wenn er durchschaut, was hier gespielt wird, entdecken, an welchen Stellen
25 P. M. Meyer: Gedächtniskultur des Hörens, S. 30. 82
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ungewisse Andeutungen ihm den Verdacht nahe gelegt haben: Die schreienden Kinder auf der Straße, die Mr. und Mrs. Rooney hinterherrufen, sind die „Lynch“-Zwillinge (31) – ein Name, der die Assoziationen zur Lynchjustiz an für schuldig gehaltenen fliegen lässt und dem Kindergeschrei plötzlich etwas Anklagendes verleiht. Mr. Rooneys Ausführungen, die zunächst einmal wie eine übertriebene Reaktion auf das Kindergeschrei wirken, tragen den bedeutendsten Teil zur Hörerlenkung bei: Did you ever wish to kill a child? (Pause.) Nip some young doom in the bud. (Pause.) Many a time at night, in winter, on the black road home, I nearly attacked the boy. (Pause.) Poor Jerry! (Pause.) What restrained me then? (Pause.) Not fear of man. (31)
Auch Mr. Rooneys Reaktion, als Jerry sagt, er habe etwas fallen gelassen und seine Frau ihn fragt, was es sei, schürt den Verdacht: Jerry: (panting) You dropped something, sir. Mr. Barrell told me to run after you. Mrs. Rooney: Show. (She takes the object.) What is it? (She examines it.) What is this thing, Dan? Mr. Rooney: Perhaps it is not mine at all. Jerry: Mr. Barrell said it was, sir. Mrs. Rooney: It looks like a kind of ball. And yet it is not a ball. Mr. Rooney: Give it to me. Mrs. Rooney: (giving it) What is it, Dan? Mr. Rooney: It is a thing I carry about with me. Mrs. Rooney: Yes, but what ------Mr. Rooney: (violently) It is a thing I carry about with me! (40)
Zuerst erkennt Mr. Rooney nicht an, dass der Gegenstand ihm gehöre, dann will er ihn sofort haben, aber nicht sagen, was es ist – ein höchst verdächtiges Verhalten… Nur, welcher Zusammenhang könnte hier bestehen? Was sollte ein Ding, das aussieht wie ein Ball, aber keiner ist, mit dem Tod des Jungen zu tun haben? Ein Mordwerkzeug ist es wohl nicht. Ein Kinderspielzeug des Opfers? Warum sollte Dan Rooney so etwas mitgenommen haben – nur um es dann am Bahnhof fallen zu lassen? Die Frage bleibt, wie so vieles in diesem Hörspiel, offen. Die anderen Hinweise sind ähnlicher Natur. Dass Dan Rooney seine Frau fragt, ob sie jemals den Wunsch hatte, ein Kind zu töten, 83
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macht ihn nicht zum Täter – warum sollte ein Täter solche Fragen stellen, mit denen er doch überhaupt erst den Verdacht auf sich lenkt? Die Misanthropie und der Weltekel des ewig kranken Dan Rooney erscheinen zudem Grund genug zur Aussage, ein Kind zu töten bedeute ein junges Elend im Keim zu ersticken. Der Name der Lynch-Zwillinge beweist überhaupt nichts. Ob der möglicherweise blinde, jedenfalls aber sehr alte Mr Rooney überhaupt in der Lage gewesen wäre, ein Kind zu übermannen und aus dem Zugfenster zu schleudern, kann zudem ebenfalls nicht unbedingt vorausgesetzt werden. Wenn aber nicht sicher ist, ob Dan Rooney ein Mörder ist, der aus Bosheit über die Psalm-Worte lacht, verliert die Aussage, All That Fall sei eine drastische Religionskritik, etwas von ihrer Gewissheit. Dennoch bleiben zunächst noch genügend Anhaltspunkte für eine religionskritische Interpretation. Ob nun ermordet oder verunglückt – das tote Kind wurde jedenfalls nicht „vom Herrn gehalten“. Auch das elende Leben des alten Rooney-Ehepaares, das in Klagen wie dieser gipfelt: Oh I am just a hysterical old bag I know, destroyed with sorrow and pinning and gentility and church-going and fat and rheumatism and childlessness. […] Oh let me just flop down flat on the road like a big fat jelly out of a bowl and never move again! A great big slop thick with grit and dust and flies, they would have to scoop me up with a shovel. (9) […] It is suicide to be abroad. But what is it to be at home, Mr Tyler, what is it to be at home? A lingering dissolution. (10f)
ist in sich Anklage genug, um die Theodizee-Frage als gestellt (und mit Gelächter beantwortet) zu betrachten. Oder fällt die Antwort am Ende gar nicht negativ aus? Mrs. Rooney klagt und beschwert sich das ganze Hörspiel hindurch, aber trifft der Satz von den Fallenden, die gehalten werden, und den Gebeugten, die aufgerichtet werden, wirklich nicht auf sie zu? Als sich Mrs. Rooney über ihr einsames und ungeliebtes Leben beschwert, kommt Mr. Tyler auf seinem Fahrrad daher und führt ein Gespräch mit ihr, obwohl dieses Gespräch und Mrs. Rooneys aggressiver Fatalismus ihm schwer zusetzen. Als es scheint, als könnte Mrs. Rooney angesichts ihres Alters und all der Unwägbarkeiten der Landstraße wie z. B. Connollys Lastwagen, der sie im Vorbeirasen über 84
ALL THAT FALL – BECKETTS SPIELERISCHES „ROAD AUDIO PLAY“
und über mit Staub bedeckt, nicht mehr – oder zumindest nicht mehr rechtzeitig – zum Bahnhof gelangen, kommt Mr. Slocum des Wegs und nimmt sie in seinem Fahrzeug mit – obwohl er enorme Kräfte aufbieten muss, um Mrs. Rooney in seinen Wagen und wieder aus ihm heraus zu bekommen. Immer wieder also kommt, wie aus dem Nichts, jemand wie gerufen und richtet sie auf, wenn sie gebeugt ist, oder hält sie, wenn sie zu fallen bzw. hilft ihr, wenn sie zu scheitern droht. Auch wenn Mrs. Rooney selbst verlangt: „just let me flop down on the road“, so kommt ihr doch Tommy zu Hilfe und bugsiert sie unter äußerster Kraftaufbietung kontrolliert aus Mr. Slocums Wagen, anstatt sie einfach herausfallen zu lassen. Die Welt scheint doch nicht so eindeutig böse zu sein, wie das Rooney-Ehepaar immer wieder befindet. Wer All That Fall also nur als negative Beantwortung der Theodizee-Frage interpretiert, blendet diese Aspekte aus. Aber auch eine positive Beantwortung, die es zuließe, die Welt von All That Fall als beste aller möglichen Welten zu interpretieren, scheint nicht haltbar: Immerhin kommen das unschuldige Kind und das Huhn auf der Landstraße während des Stückes unter die Räder. Becketts Hörspiel klingt zunächst wie Religionskritik und aktiviert damit eine Erwartungshaltung, bringt die etablierte Regel ins Spiel, dass, sobald ein Text wie die Bibel in der Literatur zitiert wird, eine Stellungnahme erfolgt, entweder für oder gegen jenen Aspekt der Religion oder gar Religion im Allgemeinen. Wer jedoch genauer hinhört, muss merken, dass mit dieser Regel hier bloß gespielt wird. Das Stück tut so, als würde es auf die Theodizee antworten, verweigert dann aber die Antwort. In der lächerlichen Zeichnung der Figur Mrs. Rooneys, die ständig die Weltklage führt, wird sogar nicht nur die Antwort verweigert, sondern bereits die Frage verlacht. Beckett spielt hier mit den „Regeln“ intertextueller Wiederaufnahme religiöser Thematik, indem er sie zitiert, dann jedoch nicht befolgt. Sein Motivspiel zweiter Ordnung befreit: Es schafft einen Freiraum und es ruft die Freiheit literarischen und künstlerischen Spiels, religiöse Worte auch aufgreifen zu können, ohne Partei im uralten Konflikt ergreifen zu müssen, in Erinnerung. Damit sind drei Aspekte von Becketts spielerischem Umgang mit den allzu etablierten „Spielregeln“, denen auch Hörspiele gemeinhin folgen, benannt. All That Fall spielt mit (und nicht nach) den Spielregeln des Mediums Hörspiel, die u. a. besagen, dass zu 85
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einer ertönenden Stimme auch ein Wesen gehören müsse und dass das Gehörte einer fiktiv sichtbaren Welt entstamme, man sich zum Hören also auch ein Sehen vorstellen kann und soll, indem es diese Spielregeln zitiert und dann immer wieder durchbricht – damit weist es auf nichtmimetische und selbstreflexive Möglichkeiten des Hörspiels hin, Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Verbreiterung des Horizontes eines Mediums, die dann u. a. in Deutschland in den 1960ern im „Neuen Hörspiel“ genutzt wurden. All That Fall spielt aber auch mit (und nicht nach) den Spielregeln der Genres „Bildungsroman“, „Reiseliteratur“ und road movie, die u. a. besagen, dass der Aufbruch von einem Ort und das Unterwegssein mit einer Weiterentwicklung der Charaktere und/oder mit Freiheit, oft auch mit Leichtigkeit des Seins verbunden sei. Schließlich spielt All That Fall mit (und nicht nach) den Spielregeln für das Aufgreifen religiöser Motive, indem es die Anpassung an die Konvention der Parteinahme vortäuscht, dann aber zweifelhaft macht – damit zeigt es Möglichkeiten auf, die im leichten postmodernen Spiel mit solch „ernsten“ Themen und Motiven umgesetzt wurden, das sich von der Schwere der „Stellungnahme“, der Unterordnung unter einen der „kriegerischen Topoi“26 (Barthes) verabschiedet hat.
26 Vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text. Übers. v. Traugott König. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 44. 86
SAMUEL BECKETTS FILM ROLF BREUER
1. Handlungsskizze Becketts Drehbuch stammt von 1963, die etwa 25 Minuten dauernde filmische Realisierung von Alan Schneider mit Buster Keaton stammt von 1964. Film zeigt einen Mann, der von einer ununterdrückbaren Angst vor dem Angeschautwerden beherrscht wird. Sobald die Kamera aus seinem Rücken hervortritt und als „Auge“ für ihn sichtbar wird, wendet er sich zusammenzuckend ab und flieht. Die Handlung besteht aus mehreren Beispielen dieses Fluchtverhaltens, erst auf der Straße, dann im Treppenhaus, zuletzt in einem Zimmer, das – wie eine Anmerkung Becketts sagt – vermutlich das Zimmer seiner Mutter ist. (Wie so viele Helden Becketts, etwa Murphy oder Molloy, versucht der Mann, sein Leben zurückzugehen, zurückzunehmen, denn bei Beckett heißt „his mother’s room“ stets „his mother’s womb“.) Der Mann entfernt nun der Reihe nach alles, was Augen hat und ihn anschauen könnte oder ihn ans Angeschautwerden erinnern könnte: Der Fenstervorhang wird zugezogen, der Spiegel wird mit einem Tuch verhängt, Katze und Hund werden aus dem Zimmer gescheucht, der Käfig mit dem Papagei und das Aquarium mit dem Goldfisch werden zugedeckt, das Bild Gottvaters mit den strengen großen Augen reißt er von der Wand, und schließlich zerreißt er einige Fotos, die ihn als jungen Mann (mit Braut und Kind) und als Baby (mit der Mutter) zeigen. Zuletzt, als er erschöpft im Schaukelstuhl (bei Beckett ebenfalls ein wohlbekanntes Uterus-Symbol) eingeschlafen ist, sieht das KameraObjektiv seine Chance gekommen und tastet sich frontal an ihn heran, und als der Mann unter der Wucht dieses Blickes aufwacht, da kehrt sich die Subjekt-Objekt-Richtung plötzlich in eine ObjektSubjekt-Richtung um; das heißt, wir sehen nun durch die Augen des Mannes die Kamera, die ihn verfolgt hat, und sehen – wiederum
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ROLF BREUER
sein Gesicht, sein Auge! Wir erkennen diesen Richtungswechsel daran, dass (1) die Wand hinter dem Kopf plötzlich eine andere ist und dass (2) jetzt alles wie durch eine milchige Schicht hindurch gesehen erscheint, und das erklärt sich dadurch, dass die Augen des Mannes offenbar vom grauen Star befallen sind, was man vorher daran sehen konnte, dass er einen Film (daher, unter anderem, der Titel) über der Hornhaut hat. Zuerst also sehen wir durch das klare Auge des „Erzählmediums“ (der Introspektion) das verschleierte Auge des Mannes; dann sehen wir durch das verschleierte Auge des Mannes das klare, kalte Auge der Introspektion.
2. Film als Stummfilm Film ist ein Stummfilm, aber nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes, dass er nämlich keine Tonspur hätte, sondern in dem Sinne, dass in dem Film geschwiegen wird. (Nur da kann ja von Schweigen gesprochen werden, wo Reden möglich wäre.) Wie kann man nun aber erkennen, dass geschwiegen wird und nicht einfach die Tonspur fehlt? In der Straßenszene lässt Beckett eine Frau zu ihrem Mann „sssh!“ sagen. Beckett unterbricht also die Stille durch einen Laut, der Stille so als Schweigen kenntlich macht. Subtilerweise ist dieser Laut eine Aufforderung zum Schweigen. Näher kann man ans beredte Schweigen nicht kommen, besser das Schweigen nicht realisieren.
3 . D i e Ro l l e d e r K a m e r a Für das Medium Film ist es normal, ja konstitutiv, dass die Kamera für die handelnden Personen unsichtbar bzw. inexistent ist. Wie aus der Inhaltsübersicht deutlich wurde, spielt die Kamera in Becketts Film hingegen eine bedeutende Rolle. Sie ist in mancher Hinsicht wohl sogar die Hauptfigur. In diesem Sinne ist Film ein Film über die Kamera, also „a film about film“, und das ist eine weitere Erklärung des generischen Titels.
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SAMUEL BECKETTS FILM
4 . S e l b st b e o b ac h tu n g : B e r k e l e y Beckett nennt die beiden Protagonisten, den Mann und die Kamera, O und E, Abkürzungen für „Object“ und „Eye“. Ursprünglich sollte der Titel von Film auch „The Eye“ heißen. Offensichtlich ist Film bezogen auf die lange Tradition europäischer Reflektionen auf Selbst (eye = I), Identität und Subjekt, eine Tradition, die durch Namen wie Descartes, Berkeley, Kant, Fichte, Hegel und Max Stirner charakterisiert wird. Angesichts der Kürze von Film und auch seiner künstlerischen Grenzen mag diese Liste von Namen unangemessen großartig erscheinen. Immerhin war es Beckett selbst, der dem Drehbuch das Motto „Esse est percipi“ voranstellte und damit eine philosophische Deutung geradezu herausforderte. „Unthinking things“, sagte George Berkeley in seinem Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710), haben eine absolute Existenz nur insofern, als sie wahrgenommen werden. „Their esse is percipi“, eine Doktrin, die in der Formulierung esse est percipi Philosophiegeschichte gemacht hat. (Bei „denkenden Dingen“ ist es bei Beckett auch nicht anders, wie man an dem absolut gesetzten „esse est percipi“ sieht.) Bei Berkeley, dem Bischof der anglikanischen Kirche, war der Beobachter par excellence natürlich Gott, und nur in seiner Wahrnehmung existieren wir. In Becketts Film ist Gott durch den Menschen ersetzt: Nur „self-perception maintains in being“, wie das Drehbuch sagt. In den Worten einer Kritikerin: „self-perception replaces divine observation“. Jedoch ist der Mensch nicht Gott, der Vertreter nur ein schwacher Ersatz, und so führt die Säkularisierung von Berkeleys esse est percipi bei Beckett zur völligen Überforderung des Selbst-Beobachters Mensch. Entsprechend sagte Beckett in einem Interview: „self-perception is the most frightening of all human observations […] when man faces himself, he is looking into the abyss.“ So versucht der Selbstbeobachter in Film denn auch, seiner unmöglichen Aufgabe zu entfliehen, allerdings erfolglos, weil es natürlich keinen Weg zurück gibt in die Zeit der Unschuld und Bewusstlosigkeit. Beckett zeigt, wie dieser Versuch zu Weltverlust, Einsamkeit und Angst führt.
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ROLF BREUER
5 . S p al tu n g v o n S e i n u n d B e w u s st s t e i n : Kleist Auch ein deutscher Text des frühen 19. Jahrhunderts kann zur Deutung von Becketts Film herangezogen werden. Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater (1810), den Beckett sehr schätzte. In diesem stark von Kant und Schiller (und besonders dessen Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung) beeinflussten Essay skizziert Kleist eine Geschichte der Menschheit in drei Epochen. Das erste Stadium ist das der bewusstlosen Existenz, repräsentiert durch das Tier oder die titelgebende Marionette; das zweite Stadium ist das der Spaltung von Sein und Bewusstsein bzw. von Objekt und Subjekt der Wahrnehmung, die in einen Verlust der Anmut führt, in den Verlust der Einheit des Ichs mit sich selbst, und dieses Stadium wird durch den Menschen repräsentiert; das dritte Stadium ist das einer zukünftigen neuen Harmonie, in der „Anmut“ und „Grazie“ wiederkehren werden, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist,“ ein Stadium, das durch den Gott repräsentiert wird. In diesem Sinne verkörpern viele Figuren bei Beckett und im besonderen der namenlose Mann in Film einen Zwischenzustand zwischen dem Glück der Bewusstlosigkeit und dem Glück des unendlichen Bewusststeins.
6 . D i e Un m ö g l i c h k e i t d e r S e l b s te i n h o l u n g : Infiniter Regress Berkeleys Versuch einer Versöhnung von Subjekt und Objekt ist zwar auch für Becketts Figuren das Ziel, aber der Weg dorthin (die Methode Descartes’) erweist sich als unendlich lang, so dass sie nie ankommen. Die Cartesianische Spaltung in Sein und Bewusstsein bleibt bestehen. Sie kann nicht etwa dadurch beseitigt werden, dass man das Subjekt der Beobachtung zum Objekt der Beobachtung macht. Wenn sich das Subjekt selbst einzuholen versucht, ergibt sich lediglich ein regressus ad infinitum. Selbstbeobachtung ist, jedenfalls laut Film, nicht die Methode, mit der man Identität und Harmonie mit sich selbst herstellen kann. Auch der folgende Versuch, sich durch Flucht zu entkommen, muss scheitern. Descartes’ Dualismus ist bei Beckett allemal stärker als Berkeleys Monismus, 90
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wenn letzterer auch das Ziel ist. Die Wahrnehmung ausschließlich auf sich selbst zu richten, ist eine Obsession, die einen unfrei und unglücklich macht. Man findet sich nicht in Selbstvergewisserung, sondern verliert sich in Strukturen infiniten Regresses, wie sie in Becketts Werk so häufig sind.
7 . I n f i n i t e r R e g r e s s i n W ai t i n g f o r G o do t Ich erwähne nur ein besonders schönes Beispiel. In Waiting for Godot, gegen Ende, ist Estragon gerade wieder einmal eingeschlafen. Vladimir schaut ihn an und sagt dann: „At me too someone is looking, of me too someone is saying, He is sleeping, he knows nothing, let him sleep on. Pause. I can’t go on! Pause. What have I said?“ Und es stimmt ja, dass ihn auch jemand anschaut, nämlich die Zuschauer. Und wenn die Zuschauer klug sind und Vladimirs – bzw. Becketts – Logik verstehen, dann erkennen sie, dass ihnen vielleicht auch jemand zuschaut, nämlich der Kritiker, welcher über sie schreibt. Und wenn der klug ist, weiß er, dass ihm auch wieder Zuhörer zuhören und denken: „Er spricht ja ganz nett über Abgrund und Selbstreflexivität, aber letztendlich schläft er auch und weiß nichts. Er glaubt, Illusionen zu zerstören und dadurch Lebenssinn zu finden. Aber auch das Zerstören von Illusionen ist nur eine Illusion von Lebenssinn.“ Und wenn Sie, meine Zuhörer, bereit sind, diese Einsicht auf sich selbst anzuwenden, dann ist das ganz im Sinne Becketts!
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IHRE
ANDERE: BECKETTS ROCKABY
EIGENE
ZU SAMUEL
MARTIN SCHWAB „To be my own other“ Beckett1
„Car je est un autre“ Rimbaud2
1. Einleitung Rockaby3 ist eines der vielen Beckettstücke, die Selbstaufhebung thematisieren. Als andere Beispiele seien nur Murphy, der Unnamable und Film genannt. Zwar dreht es sich jedes Mal um das gleiche existentielle Projekt, aber ästhetisch ist jedes dieser Werke anders konzipiert und anders gewertet. Beckett und Beethoven vereint, dass sie Variationsreihen durchspielen, deren Originalität in den Variati-
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Rockaby, E: 281, Zeile 30/D: 105 Zeile 36. Im englischen Text heißt es: „was her own other“, in der deutschen Übersetzung: „dass sie selbst die andere sei.“ Brief an P. Demeny, 15 Mai 1871. In: Arthur Rimbaud: Oeuvres completes. Paris: Gallimard 1972, S. 250. Ich zitiere Rockaby in der englischen Originalversion nach Samuel Beckett: Collected Shorter Plays. New York: Grove Press 1984, und in der deutschen Übersetzung von Erika und Elmar Tophoven in Samuel Beckett: Werke V, Supplementband I, Szenen/Prosa/Verse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. Hinweise sind durch „E“: für Englisch und „D“: für Deutsch gekennzeichnet. Ich gebe nicht nur die Seitenzahl, sondern auch die Zeilenzahl des Verweises an, um das Auffinden der Passagen zu erleichtern. Wenn ich im Folgenden eigene Übersetzungen vorziehe, bleibt dabei außer acht, dass Erika und Elmar Tophoven sich bei ihren Vorschlägen auch auf eine autorisierte und von Beckett leicht veränderte französische Fassung beziehen. Vgl. die Anmerkung in der Suhrkampausgabe, S. 265. 93
MARTIN SCHWAB
onsmodi liegt. Becketts Figuren stellen uns dieses Spiel explizit vor Augen – ihr Autor tut es auf verdecktere Weise. Es kommt also alles darauf an, Rockaby in seiner Spezifität zu erfassen, in beiden Hinsichten: als fiktionales und als ästhetisches Projekt. Dies ist die früheste Schwierigkeit für meine Interpretation: Wie sollen wir die Selbstaufhebung der Frau, der Figur F, auffassen? Selbstmord bietet sich an, ist aber nicht der richtige Begriff. Hier geht es um ein Leben, dessen Sinnlichkeit Affiziertheitsnot ist; ein Leben dessen Begehren auf Mitwelt geht, das heißt auf Kontakt mit einer anderen, einer, mit der Frau ihre Welt teilt; ein Leben, dessen Sinnbedarf sich als Interpretationssucht äußert. F empfindet dieses Leben als Last und ergreift Maßnahmen, sich von ihr zu befreien. Selbstmord will auch deshalb nicht recht passen, weil er das Ende des Lebens bedeutet, und dadurch an Gründe gebunden ist, nicht weiter leben zu wollen. Sollte ein Leben, das unter den Lasten lebt, die ich angeführt habe, seine Befreiung oder Erleichterung nicht so suchen, dass es sie erlebt und weiter erleben kann? Selbstmord ist auch aus einem hermeneutischen Grund eine problematische Charakterisierung der Handlung, die wir sehen. Das Stück sagt uns nichts darüber, was für ein Zustand oder – „Un“-Zustand – nach dem Endes des Schaukelns und dem Erlöschen der Beleuchtung eintritt. Wir können die medialen Bestimmungen Schaukelstillstand und „Licht-aus“ nicht einfach als Tod lesen (Abb. 2).
Abbildung 1: Billie Whitelaw in Rockaby (1984) Selbst wenn man das Ende „Tod“ nennen wollte, könnte F ihren Selbstmord nicht jederzeit auf weniger komplizierte Weise vollziehen? Warum also geht F so vor, wie sie es tut? Ist, was die Handlung abschließt, vielleicht doch nur eine Art Schlaf? Was wissen wir 94
IHRE EIGENE ANDERE: ZU SAMUEL BECKETTS ROCKABY
eigentlich mit Sicherheit? Ich habe gerade die medialen Bestimmungen des Skriptes genannt: „Ende des Schaukelns“, „geschlossene Augen“, „Aufhören der Stimme‚ „Erlöschen des Lichtes“.4 Die medialen Bestimmungen des Endes mögen eindeutig sein, die fiktionalen des Endens sind es nicht. Tod, Übergang ins Nirwana, meditativer Zustand oder – warum nicht? – Einschlafen stehen zur Wahl. Wer sich für eine Variante und gegen die anderen entscheidet, stülpt dem Stück Eindeutigkeit über, tut ihm dadurch Gewalt an, und vergibt die Chance einer Pointe, die ich meiner Deutung zugrunde legen will. Das Ende ist „Stillung“. Der Terminus soll offen lassen, worin genau die Stillung besteht, aber Stille der vorher bestehenden Unruhe(n) bedeuten. Ich werde also von „Selbststillung“ reden. F stellt sich still, bzw. lässt sich still stellen. Die Idee des Stillens passt auch zum Titel: Rockaby lehnt sich an Lullaby an; Schaukelstuhl-Wiegenlied; Schaukelstuhl-Einschläferungslied Schaukelstuhl-Einschlaflied; Bewegtheit-Stillungslied. Die Endsilben „…a-by“ sind ohnehin mit einer Bewegung weg mehr als mit einer Bewegung hin assoziiert: davon, daneben, vorbei: Abschiednahme. Auch „Stillen“ blickt zurück auf die Unruhe, die vorhergeht, „Stillen“ wie wenn ein Baby gestillt wird, Übergang von Bewegtheit und Unruhe zu Unbewegtheit und Ruhe. Ist unser Text liedhaft? Musikalisches steht nicht im Vordergrund, obwohl man sich den Text musikalisch gesprochen vorstellen kann. Ich sehe den Text eher gedichtnah, auch schon in seiner graphischen Anordnung und den refrainhaften Wiederholungen, die ihn einteilen. Die Bezüge zu anderen Genres sind deutlich, bleiben aber dem Drama unter- und eingeordnet. Wir wohnen einer komplexen Handlung bei. Der Text ist „Stillungs-Text“ und dient als „Skript“ einer ‚StillungsHandlung’. Bewegtheit wird gestillt.
2 . E i n P r o b l e m u n d se i n e L ö s u n g Die Motti zu Beginn sollen meine Grundidee anzeigen. Wir können zwei Dinge mit uns tun, die sich nicht von selbst verstehen. Wir können mit uns als einem anderen umgehen. Wir können uns teilen und die Teile miteinander umgehen lassen. Ich will zeigen: Rockaby geht von einem Paradox der Selbst-Stillung aus und führt eine Lö-
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Rockaby, E: 282 Zeilen 15-16/D: 106 Zeilen 24-25. 95
MARTIN SCHWAB
sung dieses Paradoxons vor. Das Paradoxon ist praktischer Natur. Es stellt eine Aufgabe, die unlösbar scheint. Nicht weil die Mittel fehlen – Selbstmord ist so gut wie immer eine der Möglichkeiten, ihm den Boden zu entziehen5 – sondern weil die notwendigen Mittel verhindern, dass die Handelnde ihr Ziel erreicht oder die selbstgestellte Aufgabe löst. Genauerhin, und mit Bezug auf Rockaby: F will Selbststillung als Tat. Selbststillung ist aber nicht möglich in Form einer Tat. Denn jede Tat ist Betätigung des Selbstverhältnisses, und als solche, Selbstaktivierung. Die Anlage von Rockaby wendet Descartes’ „cogito“-Argument, performativ: „Ich bin, wenn und indem und dadurch, dass ich handle.“ Das Kartesische Argument „ich kann nicht nicht-sein, wenn ich denke, bin also auch dann, wenn ich denke, dass ich nicht bin“ wird von Beckett in seine Konsequenz getrieben: Selbst-Stillung „in der Tat“ ist absurd. Rockaby erprobt eine mediale Lösung für dieses Paradoxon. Seine Handlung teilt die Stillungshandlung in drei und überträgt jeden der Teile an eine, je andere, Instanz, oder, wenn man will, stellt eine Maschine aus drei zusammenwirkenden Maschinenteilen dar. Selbständerung mittels Selbstdifferenzierung! F stellt sich eine Maschine für die Stillungsaktion bereit, indem sie den einheitlichen Handlungskomplex differenziert. Zwei Differenzierungen arbeiten zusammen. Die eine ist zeitlich, wird aber medial verbunden im Ablauf des Dramas und der Geschichten, die in es hineinspielen. Die andere ist funktional und teilt die Stillungshandlung in einen Teil mit medialer Funktion und einen Teil mit Subjekt-Objektfunktion. Zeitlich haben wir es zu tun mit einer Vorgeschichte, die wir aus dem erschließen müssen, was uns die Stimme S sagt. Der Entschluss zur Selbststillung und die Konzeption der Stillungshandlung kommen zeitlich in Anschluss an diese Vorgeschichte. Dann muss das Arrangement ausgedacht und hergestellt werden, in dem die Stillungshandlung abläuft. Schließlich geschieht die Stillung. Nur die letztere erleben wir mit als Zuschauer.
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Vgl. Søren Kierkegaard: Entweder/Oder. Gütersloh: Mohn 1979, „Diapsalmata“, 33: „Ich bin es somit nicht, der da Herr meines Lebens ist, ich bin nur ein Faden mehr, der in des Lebens Kattun hineingesponnen werden soll! Nun wohl, vermag ich gleich nicht zu spinnen, so vermag ich doch den Faden abzuschneiden.“ 96
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3 . M a sc hi n e l l e s u n d D i sp o si ti v Ich bediene mich bei der Interpretation zweier Begriffe, die ich von Foucault und Deleuze-Guattari ausleihe. Es sind die des „Dispositivs“ (Foucault) und der „Maschine“ (Deleuze-Guattari). Medium der Selbststillung ist die Maschinenanordnung oder, vielleicht besser: das Dispositiv von F, S, Schaukelstuhl und Tonband. Maschinell ist eine Anordnung, deren Teile in Anschlüssen Flüsse ermöglichen und leiten, in denen Energie fließt und in diesem Fließen Flusslust oder -befriedigung erzeugt, bzw. in Abtrennungen Flüsse unterbrechen, gleichfalls mit affektiver Wirkung. Das Dispositiv gliedert sich in zwei funktional differenzierte Teile: Tonband und Schaukelstuhl als Medien auf der einen Seite, F als Subjekt und Objekt der Stillung auf der anderen Seite. Schaukelapparatur und Tonbandaufnahme müssen so programmiert werden, dass gerade der Ablauf möglich wird, den wir im Stück erleben. Das heißt, dass die Äußerung „weiter“ das Tonband und die Schaukelbewegung einschaltet. Komplizierter und nicht eindeutig ist das Auslösen des Anhaltens. Mehrere im Chor gesprochene „Zeit, dass sie endet“ haben keine Anhaltewirkung.6 Alle Zäsuren ereignen sich jedoch auf „Gemeinsames Echo“ der zuletzt, und wiederholt gesprochenen Wendungen. 7 Es sind also die Wiederholungen der gemeinsam gesprochenen Sequenzen, die Anhaltewirkung haben für das Laufen des Tonbandes und das Schaukeln des Stuhls. (Nicht alle Inszenierungen, die ich gesehen habe, benutzen dieses eindeutig beschriebene Signal). Zwischen diesem Anfang und jenem Ende der zwei Bewegungen „Schaukeln“ und „Erklingen der Tonbandstimme“ bewegen sich die beiden Maschinenteile Tonband und Schaukelstuhl „selbsttätig“, ohne dass F dazu beiträgt. Zur Vorbereitung gehört natürlich auch, dass F mit dem Text und dem erwartbaren Verhalten der Maschinenteile vertraut ist. Wie sollte F die Maschine sonst steuern? Wichtig ist insbesondere, dass F die Einsatzstellen
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Zum Beispiel Rockaby, E: 275 Zeile 16/D: 99 Zeile 15. Es ist festgelegt, dass alle kursiv geschriebenen Passagen von S und F gemeinsam gesprochen werden: E: 274, Notes Voice/D: 108, Regieanweisungen Stimme. Vgl. loc. cit., E: 276 Zeile 27/D: 100 Zeile 26; E: 278 Zeile 14; D: 102 Zeile 15; E: 280 Zeile 2/D: 104 Zeile 6; E: 282 Zeile 15/D: 106 Zeile 23. 97
MARTIN SCHWAB
ihres „Skripts“ kennt, denn die Stellen, wo F das Schaukeln und die Stimme anhalten kann, sind fest einprogrammiert. Die Handlung von Rockaby besteht nun darin, dieses Dispositiv ins Werk zu setzen. Im Vorgang wirken dann als Maschinenteile oder Teilmaschinen: F im Stuhl – wahrnehmend, aufnehmend, sprechend, sich erinnernd; das Tonband mit Fs Stimme; der Schaukelstuhl und sein Antriebsmechanismus; das Innere der F mit seinen Gedanken, Gefühlen und Motiven; schließlich die Umgebung als Wahrnehmungsfeld der F. Flüsse zwischen diesen Teilen sind, unter anderem, das Sprechen von F und S; das Hören und Geschaukeltwerden von F; das Schaukeln des Stuhls, in dem F sitzt zusammen mit dem Antrieb, der das Schaukeln auslöst und aufrecht erhält; die innere Bewegtheit und das Bewegtheitsbedürfnis der F; die Wahrnehmungen und das Aufnehmen von Sinn auf Seiten der F. Diese Flüsse werden durch Konnexionen in Gang gesetzt, in Konnexionen (teilweise) unterhalten und in Dekonnexionen unterbrochen, und zwar genau dann, wenn die Maschinenteile F, Stuhl, Tonband sich aneinander koppeln bzw. voneinander abkoppeln. Das „weiter“ aus dem Mund der F löst das Strömen der Rede S aus, gleichzeitig das Schaukeln des Stuhles. Das Strömen der Rede hört und nimmt auf F, etc. Die Fälle, in denen F eine Wiederholung der Stimme S zum zweiten Mal so begleitet, dass beide im Chor erklingen („Echo“), hält das Tonband und darüber S an und stoppt den Antriebsmechanismus des Stuhls. Darin ist das Anhaltesignal, ein Strömen im Strom, Stoppsignal, und in dieser Funktion Dekonnexion. Geschaukeltwerden und Aufnahme dessen, was S sagt, schwächen die inneren Antriebe und den Reizbedarf von F. Hinreichende Schwächung der inneren Antriebe vermindert die Energie, die für Übergänge zur Verfügung steht. Ich finde die kleine Selbstmaschine der F elegant und subtil. Sie ist das Medium, in dem die Selbststillung sich artikuliert und vollzieht. Auf dieser Grundlage ergibt sich eine neue Formulierung des Paradoxons und seiner Lösung: Erfinde, stelle her und bediene Dich einer Maschine, deren Tätigkeiten so verzahnt sind, dass die Maschine von innen, von einem ihrer Teile aus, reguliert werden kann, und zwar so, dass ihre Bewegtheit intern ausgelöst und gestoppt werden kann, aber für den Maschinenteil, der Subjekt ist, von außen und anderswoher kommt. Dieses Maschinenarrangement resultiert in einer Erweiterung des Subjekts und einer Selbstdistanzierung des Subjekts. Das Subjekt integriert sich als Teil, notabene als regulie98
IHRE EIGENE ANDERE: ZU SAMUEL BECKETTS ROCKABY
render, aktiver Teil, in diese Anordnung, aber ebenso als empfangender, und darin passiver Teil (Objekt).8 Dispositive sind auch Arrangements, in denen Macht sich organisiert, und von denen Macht über diejenigen ausgeht, die im Dispositivbereich angesiedelt sind. Macht ist hier als Konstituent und Medium,9 nicht als Übermächtigungsinstrument konzipiert. Zwei Grundmächte stehen gegeneinander: Der Antrieb des Lebens, den „weiter“ zusammenfasst: weiter leben. Seinen Hauptausdruck findet dieser Antrieb in unserem Sinn- und Sinnenbedarf. Ich habe ihn oben auch als Reizbedarf charakterisiert. Ihm steht entgegen der Wille zur Stille. Dieser Wille ist die schwächere Macht, weil er sich für uns nur innerhalb des Lebens und nur nachträglich zur Geltung bringen kann. Das Dispositiv von Rockaby verschafft diesem Willen zur Stille eine Handlungsmöglichkeit, die ihn aus der Paradoxie herausführt. Das Arrangement ist ein Dispositiv der Gegenmacht, auf deren Seite das Subjekt F sich stellt. Die Anordnung der Maschine teilt den Stillungsvorgang auf in Rezeption und Verarbeitung auf der einen Seite, Aktivität und Auslösung auf der anderen. Dies tut sie so, dass die Auslösung durch F auf die Tätigkeit der „anderen“ Teile gerichtet ist, und dass sie die Tätigkeit der anderen Teile von außen und rezipierend erleben kann. Sie wird geschaukelt, lässt sich schaukeln, lässt schaukeln. Sie sprach – anderswo – aufs Band; nun lässt sie sprechen; lässt sich sprechen; vernimmt ihr Eigenes, das von anderswoher ihr zugesprochen wird. Wie wir von Kleinkindern, psychisch Bedrohten und
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Die psychoanalytischen Theorien Melanie Kleins operieren mit Begriffen, die Deleuze und Guattari später in ihre Maschinentheorie übertragen. Klein war wohl die erste, die Übergangsobjekte als Subjekterweiterungen und Mittel der Arbeit des werdenden Subjektes an sich selbst theoretisch thematisiert hat. Vgl. Melanie Klein: Die Psychoanalyse des Kindes. Wien: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1932 und die frühen Schriften von Klein, abgedruckt in: Frühstadien des Ödipuskomplexes. Frankfurt/M: Fischer 1985. Darin kommen die sonst weit auseinanderliegenden Machtttheorien von Foucault und Luhmann überein. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, „Die Entfaltung der Wahrheit“, Kapitel 2 „Methode“ und Dispositive der Macht – Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978. Niklas Luhmann: Macht. Stuttgart: Enke 1988. 99
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Meditierenden wissen, eignen sich Geschaukeltwerden und Anhören einer rhythmisch wiederholenden Stimme zum Stillen. Das Auslöseund Anhalte-Handeln erleben wir in den Redesequenzen der F, das Rezeptionsbenehmen verfolgen wir in den körperlichen Veränderungen bei F: dem Schwächerwerden ihrer Stimme, der Länge der Pause, dem Herabsinken des Kopfes etc.
4 . D r am a ti sc h e s „Niemand redet mit mir als ich selbst… Mit dir, mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, lass mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg, und lüge mich in die Vielheit… hinein, … denn mein Herz… erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich zwei wäre.“ Nietzsche10
Das Drama des Stillens – Selbststillens – entfaltet sich also in der Form einer selbstregulierten Abfolge. Ihre Phasen sind Übergänge rhythmischer Veränderung von Bewegtheitsmotivation. Die Motivation, in Bewegung zu sein, vermindert sich von Sequenz zu Sequenz, bis sie so niedrig wird, dass sie nicht mehr stark genug ist, die Regung „weiter“ – das ist eine Anstoßmotivation – aus sich heraus zu erzeugen. Sie ist am Ende nur gerade noch stark genug, ein letztes Mal Anhalteverhalten zu üben: „rock her off“/„schaukele sie still“. Das Spannungsmoment, oder, wenn man will, der Konflikt, der das Drama aufspannt und antreibt, liegt in der Spannung zwischen verfolgter Absicht – Stillung durch einsames Handeln – und dem Widerstand des Lebens, das sich stillen will. Das kurze Stück – je nach Inszenierung zwischen 8 und 14 Minuten – teilt sich in 4 Sequenzen. Die vier Teile präsentieren sich schon formal als einge10 Von mir stark gekürzte Fassung vom Beginn eines Nachlassfragments von 1872, dem Nietzsche den Titel Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst gegeben hat. Abgedruckt in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 7. Nachlass Sommer 1872 – Anfang 1873, 19 [131], S. 460-461. 100
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teilt: Fünfmal geht, was wir auf der Bühne sehen, über von Nichtschaukeln in Schaukeln bzw. Schaukeln in Nicht-Schaukeln. Zwischen dem Anfang und dem Ende kommen so vier Abläufe zu liegen, jeweils durch Anhalten, Stillstand und Schweigen, und „weiter“ ab- bzw. eingegrenzt sind. Ich versuche nun, das „Drama“ der „Bewegung zum Ende“ in seinem Ablauf zu deuten. Was passiert eigentlich in diesem ‚Drama?’ Es ist die Handlung des Endens, die Beckett so oft thematisiert hat. Ein Übergang findet statt von der konkreten Existenz, die uns die Stimme schildert über das viergliedrige Geschehen der Bühne, in die Stille, das Nicht-mehr-schauen: „halt an ihre Augen, Scheißleben, schaukle sie von dannen.“11 Aber: sehen wir den Erfolg, der hier angesprochen wird? Wir hören ein letztes Mal im Chor „schaukle sie von dannen.“ Aber wir erfahren nichts darüber, wie es weitergeht. Leben ist ebenso möglich wie Tod, endgültiges Schließen der Augen ebenso möglich wie ein neues Weiter nach einer Zeit der Ruhe. Nur die Stimmen, beide Stimmen, werden im Verlauf schwächer und leiser. Ich denke, wie eingangs gesagt, dass es ein hermeneutischer Fehler ist, auf ein definitives „Ende“, ein Ende des Aufhörens, ein Ende der Bühnenfiktion, zu schließen, wenn Rockaby aufhört, auch wenn der Text Anreize in diese Richtung setzt. Die Offenheit des Endes erlaubt, ein Enden zu erleben, das nicht auf ein Ende, sondern nur auf sich selbst bezogen ist, so wie Kierkegaards Krankheit zum Tode nicht auf den Tod als Ende bezogen ist. Der einfachste Reim, den wir uns auf das Bühnengeschehen machen können, ist dieser: Die Stimme S sagt, was der Szene, der wir beiwohnen, vorausgeht und sie motiviert. Und dies ist eine Motivation zum „Nicht-mehr-erwartend, Nicht-mehr-bedürftig-sein“. In der Vergangenheit relativ zu dieser Gegenwart gab es eine Frau – wir denken: diese Frau. Sie verbrachte ihre Zeit damit, aus dem einzigen Fenster ihres Zimmers hinauszuschauen auf andere Fenster (z. B. Abb. 2).
11 Rockaby, E: 282, Zeile 10-14/D: 106, Zeilen 17-22. Übersetzung verändert. 101
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Abbildung 2: Katie Taber für die Internetwerbung einer anderen Aufführung von Rockaby Sie war auch draußen, vor dem Haus. Auch dort hat sie Ausschau gehalten. Was sie sehen wollte war ein Wesen wie sie, ein anderes wie sie. (Ich habe dieses „wie sie“ durchgängig als weiblich aufgefasst). Es zeigte sich aber keines. Nachdem sie lange dies und nur dies zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat, wird sie der unerfüllten Suche leid, und beschließt, es sei Zeit, zu enden. Wir sehen jetzt auf der Bühne den Vollzug dieses Endens: Sie spricht ihre Vorgeschichte und ihren Entschluss aufs Band, Erklärung ihres Entschlusses – Erklärung im doppelten Sinne des Wortes als Aufklärung über und als erklärender Vollzug (eine Erklärung abgeben). Dann setzt sie sich in den Schaukelstuhl, in dem bereits ihre Mutter die Zeit vor ihrem Sterben zugebracht hat, und lässt sich beim, vielleicht durch das Zuhören ihrer eigenen Stimme und Vorgeschichte einlullen. So verabschiedet sie sich von ihrem bisherigen Leben. Zugleich verabschiedet sie dieses Leben im Ereignis des induzierten Wegdämmerns, indem der Reiz nicht Anreiz, sondern, sit venia verbi, „Weg-Reiz“ wird. Vielleicht liegen die Dinge so, wie eben dargestellt. Dann haben wir es mit einem klassischen narrativen Fall zu tun: wir sehen ein Geschehen, dessen Motivation aus seiner gleichfalls erzählten Vergangenheit entspringt: Historische Rationalisierung des dramatischen Geschehens. Ebenso möglich ist aber auch eine andere Auffassung. F könnte sich den Stillungstext auch nur nach Stillungseignung und zu Stillungszwecken zurechtgelegt haben. Wir denken schließlich nicht, dass Pommerland abgebrannt ist, wenn wir unseren Kindern „Maikäfer flieg!“ vorsingen. Die Stimme – eine Figur im Stück – redet 102
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im Imperfekt von einem vergangenen Tag, an dem eine in der dritten Person bezeichnete weibliche Person zu sich sagte, es sei Zeit anzuhalten. Ich gehe also davon aus, dass F sich von ihrer eigenen Stimme etwas vorsagen lässt, was sie vielleicht gar nicht erlebt hat und werde im Folgenden diese verfremdende Lesart zugrunde legen, weil sie interessantere Interpretationsperspektiven eröffnet. Ihre Grundannahme lautet: Wir wissen nicht, ob die, von der S redet, fiktionsintern die Vorgeschichte der F darstellt. Unter diesem Aspekt lässt sich die Frage nach der Stillungseignung des Textes anders und radikaler stellen, als es die Annahme der Selbsthistorisierung tut. Ich befrage nun jede der Sequenzen auf ihre Stillungseignung hin. Die erste Sequenz spricht von einem Wesen, weiblich, das nach einer anderen lebenden Seele sucht, sich sagt, dass es Zeit sei, aufzuhören. Die Suche scheint intensiv gewesen zu sein oder zu sein: die Suchende war „ganz Augen“12 und sah hin und her und von oben nach unten. In anderen Worten: sie suchte „allseits“.13 Die Frau, von der die Stimme in der dritten Person und der Vergangenheit redet, hat vergeblich gesucht, und dachte, es sei Zeit zu enden. Der Text, der diese Grundkonstellation in Form einer Idee ausspricht, wiederholt sich von Sequenz zu Sequenz und hält diese Konstellation als Hintergrund all der weiteren Vorgänge fest, die S im Verlauf einführt. Diese Grundkonstellation wird durch Details und Zusatzinformationen nur angereichert. Es sind erst die neu hinzukommenden Elemente, die der Geschichte, die S erzählt, jeweils eine Richtung geben, die auf die konkrete F in ihrem Schaukelstuhl zuläuft. Erst in der letzten Sequenz kommen die erzählte Kette von Vorgängen und die Situation der F zur Deckung. Die erste Sequenz legt also nur das Fundament der Stillungshandlung in Form von Vorstellungen. Es sind: die Idee einer erfolglosen Suche als Unruhe,
12 Loc. cit. E: 275, Zeile 18/D: 99, Zeile 17. 13 Loc. cit. E: 275, Zeilen 19-27/D: 99, Zeilen 18-26. Die beiden Formeln kommen in der ersten Sequenz viermal vor (einmal mit einer kleinen Variation). „All eyes – all sides“ hat doppelte Reimstruktur und rhythmische Übereinstimmung. Ich denke, dass dies innerlich als Klammer, und nach außen hin als Persuasionsintention zu bestimmen ist, die sich an die Ordnung der Formeln und ihre Wiederholung knüpft: Sich-hineinreden-lassen. 103
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die Idee des Aufgebens dieser Suche als Motivation, und die Artikulation des Ziels als Enden. In der zweiten Sequenz kommt neu hinzu, dass die Frau, von der die Rede ist, nach drinnen zurückgekehrt ist, sich an ihr Fenster gesetzt, das Rollo hochgezogen hat, und nun auf diese Weise Ausschau gehalten hat nach einem Wesen wie sie. Hier stellt sich F im Auffassen dessen, was sie hört, eine zeitliche Folge vor. S sagt über die Frau ihrer Rede, dass sie draußen gesucht hat. Diese Deutung passt zu den Bemerkungen zur Allseitigkeit und die Suche in der vertikalen Richtung in der ersten Sequenz.14 Dort wäre sie hin- und hergegangen und hätte den gesamten Raum abgesucht. In der Stadt gehören dazu auch die oberen Stockwerke, zu denen man hochsehen muss, wenn man auf Straßenniveau steht. Die Suche draußen war erfolglos. Daraufhin, sagt S über die, von der sie spricht, sei sie zurückgekehrt und habe sich nun an ihr Fenster gesetzt, und ihre Suche nach anderen lebenden Seelen von dort aus fortgesetzt. Stillungsrelevant scheinen mir hier die Ideen der Rückkehr nach innen, in einen Innenraum, und der Wandlung der Suche von aktiv zu passiv. Es tritt aber noch ein weiteres, rätselhaftes und leicht überlesenes Stück Information hinzu. S sagt auch, dass die anderen, diejenigen, die die Frau von der S spricht, sucht und erwartet an den Fenstern, auf die die Suchende nun aus ihrem Fenster blickt, auch diese anderen seien in ihre Häuser und an ihre Fenster zurückgekehrt. Gäbe es sie, dann wäre dies der Ort, wo sie erscheinen würden, und aus Sicht derjenigen, die nun nach Meinung derjenigen, die vom Fenster aus sucht, erscheinen müssten. Zweierlei bleibt dabei offen. Warum eigentlich die Rückkehr ins Haus und ans Fenster? Vermindert die Suchende dadurch nicht freiwillig ihre Chance, Wesen wie sie anzutreffen? Woher die Annahme, die möglichen anderen seien möglicherweise gleichfalls in ihre Häuser zurückgekehrt und dort fixiert? Das ist keine plausible Faktenannahme, nicht einmal zur Erklärung dafür, dass draußen niemand anzutreffen war. Sinn macht diese Annahme dagegen als Wunschdenken. Die Frau, die S vorstellt, will, dass es so ist, vielleicht weil sie nur noch einen Anblick sucht, vielleicht weil sie verzweifelt ist darüber, dass ihre Suche unerfüllt
14 Loc. cit., „high and low“/„oben und unten“. E: 275, Zeile 20/D: 99, Zeile 19. 104
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blieb: Lieber annehmen, es gebe andere, aber sie hielten sich versteckt, als annehmen, es gebe keine anderen. Was könnte die Stillbedeutung der sonderbaren Vermutung sein, es gebe vielleicht andere, aber sie würden, wenn überhaupt, nur an ihren Fenstern auftauchen? Einen Anhaltspunkt liefert eine Passage des Textes, die wir möglicherweise gegen unser erstes Verständnis lesen müssen:15 for another at her window another like herself a little like another living soul one other living soul at her window gone in like herself gone back in
für eine andere eine anderen an ihrem Fenster eine andere wie sie ein wenig wie sie eine andere lebende Seele eine einzige andere lebende Seele an ihrem Fenster hineingegangen wie sie endlich hineingegangen wie sie
Können wir diese Passage und das Sich-zeigen „für einen anderen an ihrem Fenster?“ nicht auch auffassen als Versuch, gefunden zu werden von einer anderen die, wie sie, sucht? Die, von der die Rede ist, dächte dann an ein anderes weibliches Wesen, das, symmetrisch zu ihr, der hier Suchenden, gleichfalls nur an ihrem Fenster erfolglos nach einer Seele Ausschau hält, wie sie. Die von der die Rede ist, böte sich und ihren offenen Laden dann an als Zeichen ihrer Präsenz. (Meine Lesart beruht auf der Mehrdeutigkeit der Referenz von sie. Das Pronomen kann sich auf die beziehen, von der S als der Suchenden redet oder auf die, nach denen diese Suchende Ausschau hält.) Halten wir fest: Sequenz 2 hat hinzugefügt an neuer Information, dass jemand – eine weibliche Person – sich von draußen nach drinnen begibt, und das zum wiederholten Male („wieder“),16 sich ruhig an ihr Fenster setzt, das Rollo hochzieht, und dass die Suchende sowohl nach anderen wie sie sucht, als auch sich exponiert, um gefunden zu werden. Rückgang, Innenwendung, Passivität der
15 Loc. cit., E: 277, Zeilen 21-29/D: 101, Zeilen 22-30. Übersetzung geändert. 16 Loc. cit., E: 276, Zeile 34/D: 100, Zeile 34. Die deutsche Übersetzung gibt das „back“ in „went back in“ nicht wieder. 105
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Suche, und passives Angebot gefunden zu werden sind die stillungsgeigneten Elemente dieser Vorstellungen. In der dritten Sequenz erhalten wir von S als neue Information, dass alle Fenster gegenüber die einzigen Fenster ihrer Räume sind, und die Rollläden aller Fenster immer geschlossen waren und blieben. Nur ihrer, der Suchenden Rollladen, war hochgezogen.17 Kein Wort der Erklärung dafür, woher die Frau, von der S redet, weiß, dass jedes Fenster ein einziges Fenster ist, oder – relativiert – dass sie in ihrer Beobachtungszeit nie einen offenen Laden gesehen hat. War sie in den anderen Häusern? Schläft sie nie? Ist sie immer aufmerksam? Auch hier wieder: die Stillungsfunktion des Textes ist wichtiger als die Konsistenz der Geschichte. Nun lässt sich F von S sagen, eine Suchende sage sich, sie solle es aufgeben, einem Gesicht hinter der Scheibe Bedeutsamkeit beizumessen.18 Jetzt wird aber auch die Erwartung, die zuvor nur in einer Mehrdeutigkeit auftauchte, klarer formuliert: die Erwartung eines Gesichts das, wie sie, Ausschau hält nach einem anderen Wesen, das wäre wie das des suchenden Gegenübers:19 famished eyes like hers to see be seen no a blind up like hers
von hungrigen Augen wie ihre zu sehen gesehen zu werden nein ein geöffneter Laden
Deutlicher als zuvor wird hier eine typische Beckettsymmetrie artikuliert: wie hier, so auch dort. S redet von einer Erwartungserwartung in Luhmanns Sinn:20 die, von der die Rede ist, erwartet, dass, was sie tut, erwartet wird von der anderen Seite – und sie setzt vor17 Loc. cit., E: 278, Zeilen 28-30/D: 102, Zeilen 30-32. 18 „never mind a face“/„keine Rede von einem Gesicht“ – loc. cit, E: 279, Zeile 5/D: 103, Zeile 8. Ich lese „never mind“ anders als die Übersetzer und gebe der Wendung den Sinn: „mach Dir nichts draus“. 19 Loc. cit., E: 279, Zeilen 7-13/D: 103, Zeilen 10-16. Übersetzung geändert. 20 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 411-426. 106
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aus, dass sie in dem, was sie tut, die andere Erwartung erfüllen würde. Je konkreter die Erwartung und der Verlauf des Endens im Text der S, desto unwahrscheinlicher wird die Minigeschichte, die uns da von S berichtet wird. Eine Frau sucht nach einer ähnlichen Seele – draußen zuerst, findet niemanden, kehrt in ihre Wohnstätte zurück und installiert sich am Fenster, um nun Ausschau zu halten nach einer – warum eigentlich nur nach einem weiblichen anderen Wesen? –, eine die, draußen und erfolglos wie sie, gesucht hat und sich nun, in veränderter Suche, am Fenster zeigt, sei es in der Veränderung des Rollladens, sei es im Erscheinen eines Gesichts. Die zuletzt hinzugekommene Symmetrie von Eigenem und Fremdem, ja, die ganze Geschichte, die S darbietet, muss anders motiviert sein als durch Selbsthistorisierung. Wir werden im Gebrauch der Geschichte und des Textes durch F nach dem Sinn suchen müssen, den gerade diese Informationen und gerade diese Reihung der Informationen haben. Das Medienelement „Plot“ – Geschichte – erhält seinen Sinn aus der Arbeit, die es für die fiktionale Figur F haben soll, und seine Geltung durch den Effekt, zu dem es dann auch beiträgt. Man beachte die Beckettsche Umkehrung: Nicht als Bedeutungsträger für die Wirklichkeit der Figur wird die mediale Bestimmung „Fiktion“ eingesetzt, sondern von der, von anderswoher konstituierten Figur wird die Fiktion … wie? – nun: eben als Medium – eingesetzt. F, über S, die Stimme der F auf dem Tonband, (be)-handelt das Medium instrumentell. Das Medium ist Mittel zum Zweck. Und da es Mittel der Selbststillung ist, wird das Medium auch zum Mittel dafür: Geschichte oder, wenn man will, „Vorgeschichte“, hat ihre Bedeutung nicht als Historie, sondern in ihrem Beitrag zur fiktionalen „Darstellung“ der Selbststillung. Ich gebrauche hier „Darstellung“ im chemischen Sinn, als Herstellung des Dargestellten. Gleichzeitig wird uns gezeigt, wie problematisch die Vorurteile und Automatismen unserer Aufnahme sind. Wir erklären fast automatisch ein Geschehen, das wir sehen, durch seine Vorgeschichte. Im Fall von Rockaby: Aha – sie begeht Selbstmord aus Verzweiflung darüber, dass ihre Suche nach einem anderen gleichartigen Wesen erfolglos gewesen ist. Jetzt hat sich aber herausgestellt: Sie stellt sich still, und wir wissen nicht, warum. Was wir wissen können, ist die praktische Paradoxie der Selbststillung. Auch können wir die Maschinenein107
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richtung erkennen. Von ihr aus können wir zurückschließen auf die Paradoxie; denn, was wir sehen, kann als Lösung der Paradoxie aufgefasst werden. Wir, die Interpreten, haben sozusagen, eine Lösung gesehen, und konstruieren das Problem zu dieser Lösung. Am Ende wissen wir allerdings nicht einmal mit Sicherheit, dass die Selbststillung das letzte erkennbare Ziel der F ist. Vielleicht hat die Figur nur den Ehrgeiz, ein Problem zu lösen. Dann wird auch die Stillung zum Mittel. Schon Molloy wirft seine Lutschsteine weg, nachdem er das Problem gelöst hat, das er sich selbst gestellt hat.21 Entsprechend könnte in Rockaby die fiktive Vorgeschichte bloßes Mittel sein für den Zweck der F, sich etwas zu beweisen. Was F tut kann auch einfach dem Ziel dienen, sich der Einschränkung zu entwinden, die ihr das Paradox auferlegt und ihren Machtbereich zu erweitern. Ich kehre mit diesem vorläufigen Fazit zur Interpretation der Sequenzen zurück. Die vierte lässt die weibliche Figur, von der S redet, ihre Rollos schließen, in ihrem Haus eine steile Treppe hinuntersteigen, sich in den mütterlichen Schaukelstuhl setzen.. Die Mutter galt als „nicht richtig im Kopf.“22 Sie saß einfach da, in ihrem besten Schwarzen. Bis sie eines Nachts tot war, gestorben in ihrem Schaukelstuhl:23 dead one day no night dead one night in the rocker in her best black head fallen rocker rocking rocking away
tot eines Tags nein Nachts tot eines Nachts im Stuhl im besten Schwarzen herunterhängend der Kopf schaukelnd der Stuhl weiter schaukelnd
Der Stuhl wurde also schon zu Mutters Zeiten mechanisch bewegt. Auch sie schon ließ sich schaukeln. Im Fall der Mutter: Schaukelnder, wippender Übergang vom Leben zum Tod.
21 Vgl. Samuel Beckett: Molloy. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 95103. 22 Rockaby, E: 280, Zeile 24/D: 104, Zeile 29. 23 Loc. cit., E: 280, Zeile 28-36/D: 104, Zeile 33-105, Zeile 5. 108
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Trotz dieser Parallelität, ist man, meine ich, nicht berechtigt anzunehmen, dass, was F tut, dasselbe ist wie das, was der Mutter, S zufolge, widerfahren ist. Dazu müssten Sterbensideen im gesehenen Stück ausgespielt werden. Die Versuchung, das gesprochene Geschehen (Darstellung der S) mit dem gesehenen Geschehen zu parallelisieren, ist an dieser Stelle besonders groß. Man denkt dann, F sterbe wie ihre Mutter, nicht zwar in der Form erlittenen Todes, dafür von eigener Hand, oder besser: aus „eigenem Mund“. Ich denke, dass der Text hier eine Falle aufstellt für den Leser. Beckett zwingt uns oft dazu, ihn zu verfehlen, wenn wir bei unseren Seh- und Dankgewohnheiten bleiben. Seine Texte sind auf ostraniene (Schklowskij) hin angelegt, auf innovative Leistungen der Rezeption, die Vertrautheit überwinden. Die Versuchung zur Parallelisierung ist auch deshalb so stark, weil nun die gesprochene Geschichte das gesehene Bühnengeschehen einholt:24 so in the end close of a long day in the end went down down the steep chair let down the blind and down right down into the old rocker those arms at last and rocked rocked with closed eyed closing eyes she so long all eyes famished eyes
so daß am Ende am Ende eines langen Tages schließlich hinunterging die steile Treppe hinunter das Rollo herunterließ ganz hinunter in den alten Schaukelstuhl diese Arme endlich und schaukelte schaukelte mit geschlossenen Augen Augen schließend sie, ganz Auge so lange ausgehungertes Auge
Ich gehe weiter davon aus, dass die Passage diejenige betrifft, von der S redet. Die Beschreibung ist in der Erzählzeit der Vergangenheit gehalten, wie schon die gesamte „Vorgeschichte“. Aber ihr Inhalt passt nun auch auf das Geschehen, dem wir beiwohnen. F sitzt im Stuhl, sie lässt sich schaukeln, sie öffnet und schließt die Augen. Übrigens schließt sie ihre Augen an dieser Stelle des Stücks, ohne 24 Loc. cit., E: 280 Zeile 37, 281 Zeile 14/D: 105 Zeilen 6-20. Übersetzung leicht verändert. 109
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sie im weiteren Verlauf wieder zu öffnen.25 Schon gestillt also „die Leidenschaft der Möglichkeit, das Auge, welches ewig jung und ewig glühend überall Möglichkeit erblickt.“26 Danach sehen und hören wir F noch mehr tun und sagen von dem, was S ihr vorsagt:27 saying to the rocker rock her off stop her eyes fuck life stop her eyes rock her off rock her off
dem Stuhl sagend schaukel sie weg/still/von dannen halt an ihre Augen scheiß auf das Leben halt an ihre Augen schaukel sie still schaukel sie still
Was genau geschieht am Ende; und wie, wodurch geschieht es? Welchen Beitrag leisten die zitierten Passagen zu diesem Ende? Mit anderen Worten: Was spielt sich in den Drama ab, dem wir beiwohnen? Beginnen wir beim Ende: Der Kopf von F „senkt sich und kommt zur Ruhe.“28 Ihre Augen sind schon seit der Mitte der 4. Sequenz geschlossen und bleiben es bis zum Ende.29 Wir hören und sehen F aus ihrem eigenen Mund sprechen. Sie sagt „schaukel sie still“ im Chor mit der Bandstimme und als Echo auf die gleiche Wendung. Dieses Sprechen der F ist die leiseste Version der 10 Gelegenheiten, bei denen F ihre Stimme in der Gegenwart der Zuschauer erhebt.30 Das Schaukeln hält nicht einfach an. Es kommt zum Erliegen:31 Langsames Ausschaukeln nach Anhalten des Antriebs. Ich 25 Loc. cit. E: 273, Notes Eyes/D: 107, Regieanweisungen Augen,. 26 Søren Kierkegaard: Entweder/Oder, Gütersloh: Mohn 1985, „Diapsalmata“, 45. Kierkegaards Dichter bewundert, was Becketts F überwinden will: den Sinnbedarf des Auges. 27 Rockaby, E: 283 Zeilen 8-14/D: 106 Zeilen 16-22. Übersetzung stark verändert. 28 Loc. cit., E: 273, Notes on Light/D: 107, Regieanweisung Beleuchtung. 29 Loc. cit., E: 273, Notes on Eyes/D: 107, Regieanweisung Augen. 30 Loc. cit., E: 275, Notes Voice/D: 108, Regieanweisung Stimme. 31 Loc. cit. „coming to rest of rock“ (E: 282 Zeile 15). Das „Ende des Wippens“ in der deutschen Übersetzung gibt diese Nuance nicht wieder (D: 106 Zeile 24). 110
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habe diese Details einzeln aufgeführt um zu zeigen, in wie vielen Bewegtheiten die Stillungsmaschine zu Stillständen kommt. Stillheit – Resultat und Erfolg des Stillens – schließt ein, dass an dieser Stelle keine Motivation zu weiterem Anstoßverhalten mehr stark genug ist, sich in Bewegungsverhalten umzusetzen. Gleichzeitig zeigt sich in den geschlossenen Augen und dem gesenkten Kopf die Reduktion der inneren Motivation zur Wachheit, vielleicht überhaupt die Abwesenheit der Offenheit für Reize. Das Stillen ist geglückt. Seltener Fall einer Beckettschen Hauptfigur, die einen existentiellen Erfolg anstrebt und ihn auch erreicht! Wenn man will: ein Happy End. Auf der anderen Seite gibt es natürlich bei Beckett auch Erfolge, starke Erfolge sogar. Sie sind freilich eher prozessualer oder modaler Natur, Erfolge, die im Vorgang bestehen oder in der Art und Weise einer Durchführung. Auch der Erfolg der F scheint mir, wie schon gesagt, eher in diese Kategorie zu gehören. Wie aber wird der Stillungserfolg „errungen“? Der Ablauf besteht einerseits darin, vom Schaukelstuhl umarmt und gewiegt zu werden. Hinzu kommt das Wiegenliedhafte der Stimme. Welchen Beitrag aber leisten das Vorspielen, Anhören, und die affektive Antwort auf das, was die Stimme sagt? Dies ist die Stelle, an der der Sinngehalt der Geschichte, die S artikuliert, seine Stillungseignung zeigen soll. Durchgehaltener Hintergrund ist der einer Frau, die lange, und auf verschiedene Weise nach einer anderen lebenden Seele Ausschau hält. Dies ist der einzige Lebensinhalt, von dem uns die Stimme erzählt. Dieser Lebensinhalt oder Lebenssinn kommt an sein Ende, wenn sie – immer die, von der die Rede ist – sich sagt, es sei Zeit zu enden, das heißt, aufzuhören, sich von diesem Sinn leiten zu lassen. Die Bewegtheit des Lebens endet nicht mit der Ziellosigkeit, pace Hesses Siddharta. Sie wird nämlich angetrieben vom dem Begehren nach, und dem Andrängen sinnlicher Antriebe aus unserem Inneren. „Wach leben,“ sagt Dieter Henrich übertreibend, „heißt, Differenzen gewahren“, und vielleicht verdankt er Beckett diese Einsicht.32 Wer sein Leben still stellen will, muss deshalb seine innere Bewegtheit zur Ruhe bringen, die Unruhe, die in dem Bedürfnis nach und der Motivation durch sinnliche Reize besteht. Das Stillen, habe ich gesagt, geschieht als selbstregulierte Abfolge einer Sequenz, deren Phasen Übergänge rhythmischer Verän-
32 Dieter Henrich: Glück und Not. In: ders.: Selbstverhältnisse. Stuttgart: Reclam 1982, S. 131. 111
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derung und Verminderung von Bewegtheitsmotivation sind. Die Motivation soll sich von Sequenz zu Sequenz vermindern, bis sie so niedrig wird, dass sie kein „weiter“ zu Anstoßhandeln mehr motiviert. Sie ist gerade noch stark genug für das Echo des „rock her off“, das das Ende einleitet und bedeutet. Welchen Fortschritt, welche konsekutive Annäherung an das Gestilltsein wollen wir welchen Faktoren zuschreiben? Ich sehe relativ geringe Stillungseignung in der bloßen Rede vom Enden und der Aufgabe der Suche. Immerhin werden die Themen der Suche und des Aufgebens eingeführt. Diese Rede kann übrigens ebensogut affektiv stimulierende oder verstimmende Wirkung haben als beruhigende, betrifft sie doch die Erfolglosigkeit eines Lebensprojektes. Wenn der präsentierte Gehalt die F gar nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontierte, wäre die Gefahr, dass diese Rede Verzweiflung auslöst, freilich gering. Hinzu kommt als weitere mögliche Quelle von Unruhe, dass der Entschluss des Endens die Figur vor die Frage stellt, wie dieses Enden, das an der Zeit sein soll, denn herbeigeführt werden kann. Innerhalb der Funktion dessen, was konsequent, dass die Tonbandstimme während der ersten drei Sequenzen nicht leiser wird. Nicht Einschläfern, sondern Einstimmung ist das strategische Mittel der Stillung. Von der zweiten Sequenz an kommt zu den Wiederholungen des Stillungsprojektes je ein Element einer Narration neu hinzu. In Sequenz 2 ist es die Rückkehr und die Fortsetzung der Suche vom Fensterplatz aus. Still sitzen, statt herumgehen und mit den Augen nach allen Seiten suchen. Darin drückt sich bereits eine gewisse Resignation aus, denn der Suchbereich vermindert sich, in eins mit dem Suchmodus: Übergang vom aktiven zum passiven Suchen. Auch wird ein erster Bezug hergestellt zu F und ihrer Situation; denn wie die, von der die Rede ist, so sitzt auch sie still, nur sie im Schaukelstuhl, der sie wiegt. Beschränkung, Passivität und Rückzug ins Innere sind Bedeutsamkeiten, die die Stillungsneigung fördern sollten und Stillungsfortschritte darstellen. Man denke etwa an Goethes Wanderers Nachtlied, sein „Über allen Wipfeln ist Ruh“ und sein „warte nur balde, ruhest du auch“. Diese Stimmung verstärkt noch der Gedanke, dass mögliche andere lebende Seelen sich gleichfalls ins Innere zurückgezogen haben. Er evoziert Gemeinsamkeit und Übereinstimmung. Die Einstimmung schreitet fort. Das Stillen positiviert sich.
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Zudem nähert sich die Narration des Textes von Sequenz zu Sequenz mehr der Situation, in der F sich befindet, immer wieder affektive Werte setzend, die in Richtung der Stillung weisen oder leiten. In Sequenz 3 liegt die Betonung auf der Vorstellung, dass mögliche andere lebende Seelen hinter den Rollos gleichfalls den Blickhunger aufgegeben haben könnten. Damit tritt an die Stelle des Einsamkeitsgefühls ein imaginäres Kollektiv von Stillenden, in das sich das Projekt von F als eines von vielen einfügt. Einsamkeit – ein Stachel – wird so durch imaginäre Einstimmung ins Kollektiv ersetzt, an die Stelle isolierender Verzweiflung tritt eine Art Gemeinschaftsgefühl. Aktion im Kollektiv verringert bekanntlich die Hemmschwelle, die der individuellen Tat entgegensteht. Die Rede von den anderen hinter den Fenstern gegenüber hat noch eine andere Beruhigungsfunktion. Hinter der Einstimmung ins Kollektiv steht auch die Aussichtslosigkeit, ja die fehlende Legitimation der Suche nach anderen, die suchen, wie sie. Die anderen suchen nicht, weshalb das soziale Projekt der Suche nach einem Leben in Geselligkeit33 eher Abfall ist als Integration. In Sequenz 4 schließlich holt die Stimme die Situation der F ein. S spricht F, egal nun, ob F hinunterging in den Raum mit dem Stuhl – dort jedenfalls sitzt sie nun im mütterlichen Stuhl (Arme!)34 und lässt sich wiegen. So wie zuvor die Rückkehr ins Haus der Rückgang in die Innerlichkeit ist, so nun das Herunterlassen des Rollladens das Schließen der Lider, die von nun auch an geschlossen bleiben. Die, über die die Stimme redet, entspricht mehr und mehr der, zu der die Stimme redet. Eingestimmt und „eingeredet“ von S kann sich F der Suggestion hingeben, sie würde gehalten, ihre Augen würden angehalten, sie scheiße auf das Leben. Vor allem aber kann sie nun, am Ende, sich wie von außen den Befehl geben und geben lassen: „rock her off“. In der Vergangenheitsform, hörend als gesprochen von außen, hörend über eine sie die sie nicht ist, die ihr
33 Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Reclam: Ditzingen 1998. Die Selbstgenügsamkeit der Menschen vor der Vergesellschaftung. Rousseaus stolze und selbstgenügsame Einzelgänger hätten einen, der sich ihnen anschließen wollte, sicher entrüstet zurückgewiesen. 34 Vergleiche die Regieanweisung „Abgerundete, sich nach innen biegende Armlehnen um Umarmen zu suggerieren.“ Rockaby, E: 273, Notes Chair/D: 107, Regieanweisung Schaukelstuhl. 113
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oder der sie dauernd näher rückt, einer sie überdies, die schon erfolgreich ausgeführt hat, was sie, die F, dabei ist zu unternehmen. Diese sie „war ihre eigene andere“.35 In dieser Wendung gibt sich F in der Stimme S, die ihre Stimme ist, die Differenzierung an, mit deren Hilfe sie ihr Stillungsparadox löst. In S tritt F sich gegenüber als „ihre eigene andere“. Die Konturen der Geschichte, gefasst in der Erzählform der Vergangenheit, und ausgedrückt in der Distanzform der dritten Person – sie – diese Konturen werden nun als Mittel und Medium der Stillung deutlich. Ihr Charakter als Mittel liegt darin, dass F sich wie von außen wegsprechen lässt aus ihrer Verankerung im Leben. Es kommt dabei nicht darauf an, F zu überzeugen. Wir haben es ebensowenig mit der Rhetorik des Diskurses zu tun wie mit derjenigen der überwältigenden Suggestion. Wir können getrost annehmen, dass es der F von Anfang an ernst ist mit ihrem Projekt des Stillens. Entscheidend ist die handelnde Überwindung der Widerstände gegen das Stillen, die von Innen her kommen. F lässt sich ihr Projekt vorsagen als das einer anderen – oder als ihres, gesehen von außen und als schon geschehen. Weiter lässt sie sich vorsagen ihre Resignation, ihre Passivität und ihre Rückwendung ins Innere; dann ihre Übereinstimmung mit Anderen; schließlich ihre Stillung als Entschluss und Abkehr, Umwertung von Leben. In all dem bleibt der Stillungsvorgang Handlung der F, denn sie hat den Text aufgesetzt, sie setzt sich ihm aus, und sie überlässt sich ihm. Am Ende: Hier stehen wir, mit unserem Selbstgefühl, unserem Handlungsstolz, unserem Glücksstreben. Aber auch das sind wir: Abhängige unserer Begierden, Getriebene unserer Bedürfnisse, Eingeschränkte unserer geringen Reichweite. Becketts Figuren bewegen sich in den Feldern solcher Spannungen. Die Hochgefühle scheinen unerreichbar, die Abhängigkeiten unabschüttelbar, die Beschränkungen unüberwindbar. Bleiben also nur Einsicht und Resignation, allenfalls stoischer Griff nach dem Unerreichbaren? Gegen diese Konsequenz führt uns Beckett unsere Plastizität vor. In der Fähigkeit zur Selbstveränderung eröffnen sich Alternativen, die jenseits der Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit, von Selbstbe-
35 „was her own other“ (Loc. cit., E: 281 Zeile 30). Die deutsche Übersetzung sagt „dass sie selbst die andere sei“ (D: 105 Zeile 36), und liest die Wendung als Identifikation. Ich lese sie als Selbstveränderung im Sinne von Rimbauds „je est un autre.“ 114
IHRE EIGENE ANDERE: ZU SAMUEL BECKETTS ROCKABY
stimmung und Fremdbestimmung angesiedelt sind. Es kommt nur darauf an, sie zu ergreifen. Im Medium treten wir aus uns heraus und als anders uns gegenüber. So setzen wir uns in die Lage, Subjekt und Objekt zugleich zu sein, ohne das eine aufzugeben, wenn wir das andere vollziehen. Unsere, immer begrenzte, Souveränität beruht auf der Fähigkeit der Selbstveränderung.
Abbildung 3: Samuel Beckett und Billie Whitelaw sprechen über den Text in Rockaby
Abbildung 4: Illustration des Bewegungs- und Stückablaufs in Rockaby
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A U G E N ( T ) R Ä U ME : Z U R M E D I A L I T Ä T DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT INGO BERENSMEYER
Ich weiss, es gibt Leute, empfindsame und intelligente Leute, für die es an Stillschweigen gar nicht fehlt. Ich kann nicht umhin anzunehmen, dass sie schwerhörig sind. Denn im Walde der Symbole, die keine sind, schweigen die Vöglein der Deutung, die keine ist, nie.1
Dieses etwas kryptische Zitat aus Becketts berühmtem auf Deutsch verfassten Brief an Axel Kaun von 1937 lässt durchblicken, dass es Anlässe gibt, bei denen die einzige angemessene Verhaltensweise das Schweigen ist: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“2 Es gibt jedoch Momente, in denen das Verstehenwollen zu groß ist, um auf „Deutung“ verzichten zu können, auch und gerade dort, wo die vermeintlichen „Symbole“, wie bei Beckett, nichts mehr symbolisieren. Aber es scheint sich in den vergangenen Jahren doch etwas verändert zu haben im Nichtschweigen der professionellen Deutungsvöglein – nämlich eine Verschiebung von eher literaturwissenschaftlich-hermeneutischen Interpretationsansätzen zu stärker medienanalytischen, produktions- und wirkungsästhetischen Perspektiven, von der Frage „Was hat Beckett damit gemeint?“ zu den Fragen „Wie hat er das gemacht?“ und „Welche Wirkungen – auch Medienwirkungen – werden dabei erzeugt?“ Endlich hat damit, und das zeigt auch der Titel „Beckett und die Medien“, Becketts lebenslange Aufmerksamkeit für die bildende Kunst, insbesondere für die audiovisuellen Medien, den Status literaturwissenschaftlicher Randbemerkungen verlassen und ist in den
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Samuel Beckett: Disjecta. New York: Grove Press 1984, S. 53. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus §7. In: Werkausgabe, Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 85. 117
INGO BERENSMEYER
Mittelpunkt der Beckett-Forschung gerückt. Dies mag Teil eines Prozesses der Historisierung sein, der Einordnung des Beckettschen Werks zum einen in größere kulturelle Zusammenhänge seiner Entstehungszeit, zum anderen in eine längere kunst- und mediengeschichtliche Traditionsreihe. Angesichts der Tatsache, dass Beckett sich sein Leben lang für Malerei, Skulptur und auch für Film und Fernsehen interessiert hat, scheint zudem die These zumindest auf ihn nicht zuzutreffen, in der Moderne habe sich eine „Abwertung des Visuellen“ in Literatur und Kunst durchgesetzt.3 Im Gegenteil: Gaby Hartel stellt in ihrem Buch „...the eyes take over...“ – Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“ die These auf, Becketts kontinuierliche Beschäftigung mit visuellen Gestaltungsformen korrespondiere mit seiner radikalen Sprachkritik. Dies zeige sich insbesondere, so Hartel, in einer charakteristischen Akzentverlagerung, die dazu führt, „dass auf motivischer wie auf struktureller Ebene pikturale oder zeichnerisch-geometrische Sinnträger in dem Maße die Bildung von Textsinn übernehmen, in dem Beckett die Sprache als Kommunikationsträger zweifelhaft wird“.4 Waren in den sechziger und siebziger Jahren noch hauptsächlich sprachzentrierte Ansätze vorherrschend mit Titeln wie Becketts Prosa als Metasprache,5 so sind inzwischen eher medienbewusste Zugänge zu Beckett auf dem Vormarsch. Gaby Hartel und auch Michael Lommel verweisen auf die intermediale Grenzverwischung zwischen unterschiedlichen Bildtypen und Medien sowie zwischen literarischen und audiovisuellen Darstellungsformen, die Beckett besonders eigen sind. Lommel spricht in diesem Zusammenhang von Synästhesie als Medienspiel,6 Hartel von einer retinalen Prosa,7
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Vgl. z. B. Martin Jay: Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1993. Gabriele Hartel: „…the eyes take over…“ – Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“. Eine Untersuchung von „The Lost Ones“, „Ill Seen Ill Said“ und „Stirrings Still“ im Kontext der visuellen Kunst. Trier: WVT 2004, S. 1. Manfred Smuda: Becketts Prosa als Metasprache. München: Fink 1970. Michael Lommel: Samuel Beckett: Synästhesie als Medienspiel. München: Fink 2006. G. Hartel: „…the eyes take over…“, S. 2. 118
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
die in der Übersetzung von einem Medium ins andere auf eine gesteigerte Visualität abzielt und dabei die Grenzen der jeweiligen Medien bewusst verwischt oder überschreitet. Ich möchte mich dieser neueren Forschungsrichtung anschließen, indem ich mich dem zuwende, was man noch vor einigen Jahren als Wirkungsästhetik bezeichnet hätte. Es geht mir dabei weniger um den strukturbezogenen Nachweis intermedialer Bezüge zwischen Texten, Klängen und Bildern bei Beckett, deren Wirkung sich vielleicht im Begriff der Synästhesie bündeln lässt; noch geht es mir um den Nachweis einer Akzentverlagerung von der Sprache zum „gesagten Bild“. Es geht mir vielmehr um den Versuch eines stärker ganzheitlichen Zugangs zu etwas, das man – mit aller gebührenden Vorsicht und Vorläufigkeit, und ohne diesen Begriff allzu eng definieren zu wollen – als Medialität bei Beckett bezeichnen könnte; mithin nicht so sehr um „Textsinn“, wie das bei Hartel (erstaunerlicherweise) immer noch heißt, sondern eher um Suggestivitätsmuster, um einen Faszinationstyp: um ein Bündel von Medienwirkungen, denen man sich aufgrund unseres anthropologischen und neurophysiologischen Zuschnitts nur schwer entziehen kann, deren Mehrdimensionalität und Vielschichtigkeit sich aber kaum mit Begriffen wie „Sinn“ oder auch „Kommunikation“ (auch nicht ex negativo) noch hinreichend beschreiben lässt. Die Tatsache, dass zahlreiche Arbeiten Becketts sich nicht auf eine bestimmte Gattung oder auf eine etablierte Kunstform oder auf ein bestimmtes Medium festlegen lassen, spricht meines Erachtens für den Befund, dass mit Beckett eine neue Stufe im künstlerischen Umgang mit verschiedenen Medien und in der Reflexion von Medialität als einer (vielleicht) anthropologischen Grundsituation erreicht ist. „Beckett und die Medien“, das heißt für mich nicht: Hier ist ein Schriftsteller, der sich auch für andere Medien interessiert hat, sondern Becketts Werk ist durch und durch eine Auseinandersetzung mit Medien und mit Medialität als Lebensform. Dem möchte ich im Folgenden nachgehen, indem ich mich der Frage der Räumlichkeit und der räumlichen Wahrnehmung bei Beckett zuwende; dies soll an einer Reihe von Beispielen sowohl aus der Prosa als auch aus dem dramatischen und filmischen Werk geschehen. Ich versuche dabei, Medialität bei Beckett in der Verbindung von Augen-Räumen und Augen-Träumen zu denken: in der paradoxen Kreuzung von Wahrnehmung mit offenen Augen und von Wahrnehmung mit geschlossenen Augen. Die Wahrnehmung realer 119
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und imaginärer Räume bei Beckett steht mir dabei stellvertretend für ein ästhetisches Grundprinzip, das ich als Grenzüberschreitung, als Entgrenzung beschreiben möchte: Entgrenzung des realen Raumes in einen Zwischenraum des Imaginären, der sich durch die Kreuzung von realer und „retinaler“ Wahrnehmung eröffnet. Hiermit sind für mich das Wirkungspotential und die enorme Attraktivität des Beckettschen Werks – auch und gerade im Vergleich mit seinen eigenen Vorbildern und Zeitgenossen – angedeutet. Die eindrücklichsten und stärksten Effekte entstehen gerade dann, wenn äußere Wahrnehmung erschwert wird, wenn das im Text Dargestellte oder das auf der Bühne, der Leinwand oder dem Bildschirm Gesehene sich der Vorstellbarkeit entzieht. Beispielhaft hierfür steht eine Sprache, in welcher der Bedeutungsgehalt der Worte in ihrem Bezug zu dem, was wir gemeinhin als Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit aufzufassen genötigt sind, radikal abnimmt und die Worte stattdessen einen suggestiven Nachhall gewinnen, der zu Reflexionen über die Funktion von Sprache und über die mediale Vermitteltheit von Wahrnehmung Anlass gibt. Dichtung, so kann man in Becketts erstem Roman nachlesen, befasst sich nicht mit normaler Wahrnehmung, in der „Wort und Bild übereinstimmen“,8 sondern mit gestörter Wahrnehmung, die er als entweder kurz- oder weitsichtig bezeichnet, wodurch das Verhältnis von Wort und Bild (image) verzerrt wird. Die nachhaltige Wirkung einer „weitsichtigen“ Sprache, die das Wirkliche in einen imaginären Möglichkeitsbereich hinein entgrenzt, ähnelt mithin dem Wahrnehmungsphänomen des Nachbilds, das sich auf der Retina des Auges für eine Zeitlang physisch einprägt: „a verbal retina“.9 Ich möchte Sie also auf eine Spurensuche durch Becketts Werk einladen, indem wir diesem Effekt der verbalen Retina, der Verschränkung und Entgrenzung von Augenräumen und Augenträumen an einigen Beispielen nachgehen. Ich möchte dies weniger in einem theoretischen Rahmen tun, als durch eine Reihe von mehr oder weniger locker gefügten Impressionen und Assoziationen zum Thema „Augen bei Beckett“ und „Räume bei Beckett“. Wenn ich damit Becketts Ideal des „Stillschweigens“ mit Worten und Bildern nachspüre, so in dem Bewußtsein, oder mit der Warnung im Hinterkopf,
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Samuel Beckett: Dream of Fair to Middling Women. London: Calder 1993, S. 170, meine Übersetzung. Ebd., S. 171. 120
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dass es nicht darum gehen kann, „Symbole, die keine sind“ mit einer dem Werk und seinen Wirkungen fremden Theoriesprache zu überziehen, in die es sich nur partiell übersetzen, mit der es sich aber nicht „erklären“ lässt. Das Problem, der Zwiespalt von Gegenstands- und Beschreibungssprache zieht sich bereits durch Becketts eigenes Schreiben und gehört insofern selbst bereits zum Gegenstandsbereich des Themas „Medialität bei Beckett“. Was sind das für Räume, mit denen wir in Becketts Werken konfrontiert werden? Denken Sie an die Bühnenräume mit ihrem oft minimalistischen Dekor; den Mangel an Szenenwechseln; oft ist, wie in Not I, der Raum fast zur Gänze in Dunkelheit gehüllt. Denken Sie an die Räume, die Ihnen vielleicht aus Becketts Prosatexten in Erinnerung sind: an das Zimmer Malones in Malone stirbt etwa, oder an den weniger leicht zu identifizierenden Raum, in dem der Namenlose sich aufhält. Es sind Räume, die – wie in Warten auf Godot – zwar prinzipiell offen sind, denn es kommen Figuren herein und hinaus, aus denen es aber für die Protagonisten kein Entrinnen gibt: Sie können nicht weg. Becketts Räume sind in der Regel also sowohl offen als auch geschlossen. Es sind zudem Räume, in denen es zu vorübergehenden, intermediären und intermedialen Schwebezuständen kommen kann, die nur mit geschlossenen Augen – also im Übergang von außen nach innen – zu erfahren sind. In Becketts Film (1963-1965) sucht der Protagonist, gespielt von der SlapstickIkone Buster Keaton (Abb. 1), die Reziprozität von Sehen und Gesehenwerden auszuhebeln, indem er sich in ein weitgehend leeres Zimmer zurückzieht und alles daraus verbannt, was Augen hat: die Katze, den Hund, den Vogel, den Goldfisch, das eigene Spiegelbild und selbst die alten Fotografien, die er zunächst liebevoll betrachtet und dann wütend zerreißt. Sogar der Schaukelstuhl, dessen Lehne am oberen Ende zwei runde, augenähnliche Öffnungen hat, wirkt bedrohlich. Heißt das Neid des Einäugigen auf alles, was zwei Augen hat? Im Schaukelstuhl sitzend, nimmt er seine Hände vor die Augen – beide Hände, wohlgemerkt, obwohl ja sein linkes Auge bereits von einer Augenklappe verdeckt wird – um nicht seinem Anderen, seinem imaginären „Doppel-Selbst“ ins starrende Auge sehen zu müssen; wie ein Kind, das denkt, es sei unsichtbar, wenn es die eigenen Augen schließt. Die doppelte, tragikomische Pointe des Films liegt darin, dass Keaton zum einen seiner Eigenwahrnehmung und zum anderen dem technischen Dispositiv des ihn beobachtenden Kamera-Auges nicht entrinnen kann. Der Film liefert 121
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insofern eine mehrstufige Illustration der Problematik von Medialität und Wahrnehmung, allerdings – wie häufig bei Beckett – ins Komische gewendet.
Abbildung 1: Buster Keaton in Film (1965) Ein ähnlicher Umgang mit diesem Thema findet sich in zahlreichen anderen Werken Becketts. Schon der recht träge und apathische Belacqua, die Hauptfigur der frühen Prosa Becketts, verschließt seine Augen vor der Außenwelt und wendet sich nach innen, um sich wie in einer Parodie auf die Phänomenologie Edmund Husserls auf den reinen Bewusstseinsakt zu konzentrieren. Die Augen werden von Belacqua als „Nebenpforten des Geistes“ verspottet und gefürchtet: „They were safer closed“, heißt es in der Erzählung „Yellow“ aus dem Band More Pricks than Kicks von 1934.10 Das Bewußtsein wird Belacqua zu Platons Höhle, mit dem entscheidendenUnterschied, dass er sich bewusst in diese Höhle zurückzieht und gar nicht mehr daran denkt sie zu verlassen. Belacqua zieht die Schatten an den Wänden dieser inneren Höhle dem äußeren Licht der wahren Wirklichkeit vor, ja er zweifelt – wie viele Figuren Becketts – am Wahrheitswert des äußeren Lichts und an seiner Existenz. Die innere Höhle des Geistes ist, wie es in Dream of Fair to Middling Women heißt, ein Krankenzimmer, eine Heilanstalt: „the mind [...] its own asylum.“11 Der Rückzug aus der äußeren Wirklichkeit ist aber, wie in Film, nur um den Preis des Verschließens der Augen zu haben. Zugleich
10 Samuel Beckett: More Pricks than Kicks. London: Calder 1993, S. 173. 11 Samuel Beckett: Dream of Fair to Middling Women. London: Calder 1993, S. 44. 122
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
scheint diese Abwendung von äußerer Wahrnehmung einen manischen, nie versiegenden Redefluß in Gang zu setzen, der sich noch in der großen Romantrilogie der fünfziger Jahre (Molloy, Malone stirbt, Der Namenlose) unstillbar fortsetzt. Wo das Auge sich schließt, muss der Mund geöffnet werden. Bestes Beispiel hierfür ist das Stück Not I, in welchem nur ein grell beleuchteter sprechender Mund auf der Bühne zu sehen ist. Im Titel Not I – Nicht Ich – mag auch ein Wortspiel enthalten sein, das auf die lautliche Gleichheit von I und eye, dem Ich und dem Auge, abzielt. Der Mund wäre demnach das Nicht-Auge, das nichts Äußeres wahrnehmen kann, aber zum Sich-Äußern des Inneren verdammt ist. Auch Murphy in Becketts gleichnamigem Roman, der als Pfleger in einer psychiatrischen Heilanstalt arbeitet, zieht sich in den Innenraum seines Geistes zurück: „Murphy’s mind pictured itself as a large hollow sphere, hermetically closed to the universe without. This was not an impoverishment, for it excluded nothing that it did not itself contain.“12 Murphys Bewusstsein ist kein Instrument, sondern ein Raum, ein höhlenartiger, hermetisch abgeschlossener Hohlraum für solipsistische Projektionen. Dieses Motiv der Überblendung von Welt- und/als Schädelinnenraum ist ein Grundmotiv bei Beckett, das zunehmend radikalisiert wird bis zu den Kreis- und Zylinderwelten der späten Kurzprosa, vor allem in den 60er und 70er Jahren.13 Man hat diese Texte
12 Samuel Beckett: Murphy. Montreuil, London: Calder 1993, S. 63. „Murphys Bewusstsein stellte sich selbst als eine geräumige Hohlkugel vor, hermetisch gegen das äußere Universum verschlossen. Dies stellte keine Verarmung dar, denn es schloss nichts aus, was es nicht selbst enthielt“ (Übers. IB). 13 Siehe zur Überblendung von Zimmer, Schädel und Erzählerbewußtsein in der Trilogie Claudia Becker: ‚We are needless to say in a skull’ – Zimmer- und Schädelszenerien bei Samuel Beckett. In: dies.: Zimmer-Kopf-Welten. Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert. München: Fink 1990, S. 116-125; Marianne Kesting: Die Welt im Schädel. Beckett und Malewitsch. In: Sprache im technischen Zeitalter, 18. Jg., H. 66, 1978, S. 114-126; sowie W. Iser: Subjektivität als Selbstaufhebung ihrer Manifestationen. S. Beckett: Molloy, Malone Dies, The Unnamable. In: ders.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München: Fink3 1994, S. 252-273. Zu den Residuen der Subjektivität in 123
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nicht zu Unrecht als „closed space fiction“ bezeichnet.14 In ihnen werden höhlenartige Räume entworfen und im Detail mit geradezu manischer Sorgfalt und wissenschaftlicher Akribie beschrieben. Der Schädel-Innenraum ist manchmal eine Rotunde, manchmal ein Kubus, ein kleines Mausoleum,15 ein Pantheon oder Gewölbe. Er wird mit besonderer Intensität zuerst in dem 1964 geschriebenen Text All Strange Away geschildert und schließlich ein Jahr später in dessen Weiterentwicklung, Imagination Dead Imagine. „Five foot square, six high, no way in, none out, try for him there“ (169). In einer früheren Fassung lautet der entsprechende Satz: „A closed space five foot square by six high, try for him there“ (272). Assoziationen an Dantes Inferno und wiederum an das platonische Höhlengleichnis bieten sich an. Auch hier ist immer wieder der Gesichtssinn angesprochen und die Augen spielen eine entscheidende Rolle: „Imagine eyes burnt ashen blue and lashes gone, lifetime of unseeing glaring“ (170).16 „And always there among them somewhere the glaring eyes now clearer still in that flashes of vision few and far now rive their unseeingness“ (172).17 Die Erzählerstimme, die (sich? oder die Leser?) auffordert, sich vor dem inneren Auge etwas vorzustellen („imagine“), beschäftigt sich wieder und wieder mit der wechselnden Abfolge von Licht und
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Becketts Prosa der 1960er Jahre siehe auch Ruben Rabinowitz: The Self Contained: Beckett’s Fiction in the 1960s. In: James Acheson u. Kateryna Arthur (Hrsg.): Beckett’s Later Fiction and Drama. Texts for Company. Houndmills, London: Macmillan 1987, S. 50-64. Vgl. S. E. Gontarski: Introduction. From Unabandoned Works: Samuel Beckett’s Short Prose. In: S. Beckett: The Complete Short Prose. 1929-1989. New York: Grove 1995, xi-xxxii, xxviii. Anglo-irisch: „beehive tomb“ – Beckett: The Complete Short Prose. 1929-1989. New York: Grove 1995, S. 176. Ich zitiere im Folgenden aus dieser Ausgabe und belege Zitate mittels Klammern im Text. Ich beziehe mich der Einfachheit halber auf Becketts englische Fassungen, selbst dann, wenn die Texte zuerst in französischer Sprache entstanden sind. „Stelle vor Augen verbrannt aschblau und Wimpern fort, lebenslang blickloses Starren“ (Übers. IB). „Und immer dort bei ihnen irgendwo die starrenden Augen nun noch klarer da selten kurze Blitze des Sehens ihre Blicklosigkeit spalten“ (Übers. IB). 124
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
Dunkelheit in der Rotunde: „Sudden gleam perhaps better fixed and all this flowing and ebbing to full and empty more harm than good and better unchanging black or glare one or the other or between the two soft white unchanging“ (179).18 Das hieße, keinen Unterschied mehr zwischen Hell und Dunkel machen, und das Hin- und Herpendeln stillstellen, von dem auch die syntaktische Bewegung des Textes bestimmt wird: But leave for the moment as seen from outset and never doubted slow on and off thirty seconds to glare and black any length through slow lightening and darkening greys from nothing for no reason yet imagined (179).19
In Imagination Dead Imagine ist neben dem Atem und dem Schweiß jeweils das linke Auge der beiden in der Rotunde liegenden Körper ihr einziges Lebenszeichen: „They might well pass for inanimate but for the left eyes which at incalculable intervals suddenly open wide and gaze in unblinking exposure long beyond what is humanly possible“ (184).20 Und auch die Erzählerstimme fordert (sich) wiederholt zum Hinschauen auf: „Look“, „[l]ast look“, „look away then“ (181) usw.; ja es ist sogar die Rede von einem „eye of prey“ (185), dem voyeuristischen Blick, der auf Beute aus ist, ein entkörperlichtes Beobachterauge ähnlich dem Dispositiv der Kamera im Kinofilm. Die deutsche Übersetzung des Titels dieses kurzen Textes, Ausgeträumt träumen, schwächt die präzise Paradoxie ab, die im französischen Imagination morte imaginez oder im englischen Imagination dead imagine steckt: Sich den Tod der Vorstellungskraft vorzu-
18 „Plötzliches Gleißen vielleicht besser fixiert und all dies Anschwellen und Verebben nach voll und leer eher schädlich als gut und besser unverändert schwarz oder hell das eine oder das andere oder zwischen den beiden sanftes Weiß unverändert“ (Übers. IB). 19 „Aber lasse für den Moment wie von Anfang gesehen und nie bezweifelt langsam an und aus dreißig Sekunden bis hell und schwarz Länge beliebig durch langsam heller und dunkler werdendes Grau aus dem Nichts aus noch keinem vorgestellten Grund“ (Übers. IB). 20 „Man könnte sie wohl für unbelebt halten, wären da nicht die linken Augen, welche in unberechenbaren Intervallen plötzlich ganz weit aufgehen und ohne zu blinzeln blicken lange weit über das Menschenmögliche hinaus“ (Übers. IB). 125
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stellen; sich vorzustellen, dass es keine Vorstellungen mehr gebe. Geradezu besessen umkreisen die späten Texte die Vorstellungskraft und Sehfähigkeit des inneren Auges als des Beobachters der Schädelinnenwelt. Was diese Räume als literarische Miniaturen auszeichnet, ist extreme formale Konzentration, die eine maximale Wirkung erzeugt. Mediengeschichtlich verweisen sie, wie bereits angedeutet, auf das klassische Höhlengleichnis. Aber die Höhle als innerer Projektionsraum visuell-imaginativer Wahrnehmung ist bei Beckett nicht mehr von einer Außenwelt wahrer Ideen zu unterscheiden; es gibt aus dieser Höhle keinen Ausgang. Mit Hans Blumenberg gesprochen: „Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, dass man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist.“21 Das in der Höhle Wahrgenommene und seine Vermittlung durch den Erzähler lassen sich nicht mehr an eine stabile (bei Platon etwa durch die Welt der Ideen garantierte) Realität rückbinden. Weder der Ort des Geschehens noch der Ort des Erzählens lassen sich mit zureichender Genauigkeit lokalisieren und identifizieren. Die Texträume werden zunehmend ortlos. Damit lösen die Texte sich nicht nur von gattungslogischen Vorgaben der Erzähltradition, etwa des Romans, sondern auch von der abendländischen Tradition mimetischen Erzählens überhaupt. Sie stehen nicht mehr im Dienst der „Entfaltung von Anderem“, sondern artikulieren nurmehr die eigene „Selbstentfaltung“, indem sie nichts mehr darstellen, was über ihr eigenes Sich-Entfalten hinausgeht.22 Dies gilt auch und insbesondere für die drei Kurzromane der achtziger Jahre, Company, Ill Seen Ill Said und Worstward Ho. Claudia Becker spricht in ihrer Diskussion dieser späten Prosatexte mit Marianne Kesting von einer „totalisierten Innenwelt“ und von „Innenspiegelungen“.23 Diese Begriffe sind insofern problematisch, als sie noch einem mimetischen Paradigma verpflichtet sind. Denn die Pointe dieser Texte ist ja gerade die, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen kontinuierlich zusammenbricht oder
21 Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 89. 22 Wolfgang Iser: Auktorialität: Die Nullstelle des Diskurses. In: Klaus Städtke/Ralph Kray (Hrsg.): Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 219-41, 239. 23 Claudia Becker: „We are needless to say in a skull“ (Anm. 13), S. 129f. 126
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wenn nicht zum Kippen, so doch wenigstens zum Oszillieren gebracht wird: Sie sind weder innen noch außen räumlich zu lokalisieren. Begriffe wie „Welt“ und „Spiegel“ lassen sich dann allenfalls noch in einem metaphorischen Sinn verwenden; aber es bliebe aufzuzeigen, wofür diese Metaphern noch Metaphern sein sollen, wenn Referenzialität in den Texten weitgehend getilgt und durch eine Bewegung ersetzt ist, die nur noch sich selbst entfaltet und auf keiner Vorgegebenheit mehr beruht, auch nicht auf konkret-bildliche Vorstellbarkeit mehr Wert legt: „No symbols where none intended“. Ein Beispiel: In Worstward Ho (1983) ist die Selbstreferenz des inneren Schauens, der Schwebezustand von Beobachter und Raum auf seinen Höhepunkt gebracht: „In the skull the skull alone to be seen. The staring eyes.“24 Schädel und Blick: „Skull and stare alone. Scene and seer of all“ (101). Das unübersetzbare Wortspiel hier hebt auf den Gleichklang zwischen „scene“, Szene, und „seen“, gesehen oder das Gesehene, ab. Seher und Gesehenes, Außensicht und Innensicht fallen zusammen – die Augen sind dabei fest verschlossen, „[c]lenched eyes clamped to clenched staring eyes“ (100); um es mit Stanley Kubrick zu formulieren: Eyes Wide Shut. Beobachter, Beobachtung und Beobachtetes fallen zusammen. Die unaufhebbare Paradoxie dieses wahrhaft utopischen, nicht lokalisierbaren, über keine räumliche Ausdehnung verfügenden Raumes bringt ein Absatz in Worstward Ho prägnant auf den Punkt: A place. Where none. A time when try see. Try say. How small. How vast. How if not boundless bounded. Whence the dim. Not now. Know better now. Unknow better now. Know only no out of. No knowing how know only no out of. Into only. Hence another. Another place where none. Whither once whence no return. No. No place but the one. None but the one where none. Whence never once in. Somehow in. Beyondless. Thenceless there. Thitherless there. Thenceless thitherless there. (92)25 24 Samuel Beckett: Nohow On. Company. Ill Seen Ill Said. Worstward Ho. New York: Grove 1996, S. 102. Weitere Zitate werden mit Seitenzahl im Haupttext belegt. 25 „Ein Ort. Wo keiner. Eine Zeit als Versuche sehen. Versuche sagen. Wie klein. Wie weit. Wie wenn nicht grenzenlos begrenzt. Woher das Dämmern. Nicht jetzt. Wisse jetzt besser. Entwisse jetzt besser. Wisse nur kein Hinaus. Kein Wissen wie wisse nur kein Hinaus. Hinein nur. Daher ein anderer. Ein anderer Ort wo keiner. Wohin einmal woher keine Rückkehr. Nein. Kein Ort außer dem einen. Keiner außer 127
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Der Raum, der hier umschrieben, aber nicht beschrieben wird, ist ein ortloser Vorstellungsraum, ohne genaue räumliche und zeitliche Koordinaten. Die erzählende Stimme thematisiert ihr Nichtwissen oder Halbwissen um diesen Raum, aus dem es aus unbekannten Gründen keinen Ausgang gibt („know“/„unknow“, „no knowing how know only no out of“). In der iterativen Dynamik der Sätze, die häufig Variationen des vorangegangenen Satzes sind, bricht die Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache, zwischen Gegenstandsebene und Beschreibungsebene zusammen. Der umschriebene Raum hat wie die Sätze, die ihn umschreiben, kein „Jenseits“; es gibt hier, wie bei Derrida, kein Außen des Textes in einem ganz radikalen Sinne: keinen anderen Zugang als den Text selbst, aus dessen suggestiver Dynamik er hervorgeht und in dem er sich entfaltet. Ein solcher intermediärer Raum lässt sich im Medium der Sprache nicht darstellen, noch wird er durch Becketts Sprache negiert, sondern er gewinnt eine eigene mediale Präsenz im Gesagten, als dessen unsagbarer Grund. Was hier umschrieben wird, ist der undarstellbare Möglichkeitsraum, aus dem Kreativität hervorgeht. Das Unsagbare, von der Sprache Ausgeschlossene wirkt auf das Gesagte zurück und versieht das in der Sprache Realisierte mit einem Index der Vorläufigkeit und Unvollkommenheit: Es könnte immer auch anders, und anderes, gesagt werden. So verlagert sich die Aufmerksamkeit vom Gesagten auf das, was darin nicht gesagt werden kann, und damit auf den Ursprung, auf die Nullstelle jeglicher textueller Hervorbringungen. Die Aufmerksamkeit wird von der Inhaltsebene des Textes auf seine mediale Konstitution verschoben, von der Form der konkret vorliegenden Sätze auf ihren medialen Hintergrund, auf Sprache als ein eher lose gekoppeltes Möglichkeitsrepertoire. Das ist bereits angelegt in Becketts früher Formulierung einer weitsichtigen, einer „retinalen Prosa“. Somit wird das Medium Sprache durch Beckett nicht zerstört, wie es das Ziel einiger moderner Avantgardebewegungen war, sondern vielmehr in einem kontinuierlichen Prozess des Weitermachens
dem einen wo keiner. Woher niemals sobald einmal hinein. Irgendwie hinein. Jenseitslos. Dort ohne dorther. Dort ohne dorthin. Dort ohne dorther ohne dorthin“ (Übers. IB). 128
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und zugleich des Nichtweiterkönnens („I can’t go on, I’ll go on“26), in einer kontinuierlichen Dynamik von Setzung und Löschung, von festen und lockeren Kopplungen bestätigt – jedoch nicht in seiner kommunikativen Funktion, sondern in dem, was Beckett (ebenfalls im Brief an Axel Kaun) die „Dissonanz von Mitteln und Gebrauch“ genannt hat.27 Gleiches gilt analog für die anderen Medien, mit denen Beckett gearbeitet hat. Sprache ist hier nur das Beispiel, das dem Literaturwissenschaftler immer als erstes in den Sinn kommt; eine déformation professionelle. In der Sprache ist diese Dissonanz vielleicht auch am ehesten ausgeschöpft, weshalb sich der späte Beckett anderen Medien verstärkt zuwendet. Wiederholung und Rückkopplung sind formale Bewegungen, die den Vollzug des Hin und Her zwischen Medien und Formen ermöglichen, ohne dass dieses Hin und Her jemals stillgestellt oder mit einem der beiden Pole Medium und Form identisch werden könnte: „To and fro in shadow from inner to outershadow/from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither“.28 Diese unstillbare Dynamik eines Hin und Her, das nie mit einem seiner Pole – hier „self“ und „unself“, Subjekt und Objekt, Gegenstand und Beschreibung, Objekt- und Metasprache – zusammenfällt, kann sich nur im Zwischenraum eines Weder-Noch entfalten: „neither“. Sie ist dabei keineswegs auf das Medium der Sprache oder der Schrift festgelegt. Sie zeigt sich etwa auch in der Koppelung von Bewegung und Stillstand, von Dynamik und Statik, die sich in zahlreichen Stücken Becketts findet. Ein visuelles Beispiel findet sich im Schlusstableau von Becketts eigener Inszenierung des Stücks Das letzte Band: Die schwankende und langsam ausschwingende Lampe über dem ruhenden Krapp. In diesem Bild kommen Bewegung und Stillstand zusammen, wie im Titel von Becketts letztem Prosatext, Stirrings Still. Um deutlich zu machen, dass diese formale Bewegung nicht auf Sprache festgelegt ist, möchte ich noch kurz auf Becketts Fernseh-
26 Samuel Beckett: Molloy, Malone Dies, The Unnamable. London: Calder 1994, S. 418. 27 S. Beckett: Disjecta, S. 53. 28 S. Beckett: „neither“, Complete Short Prose, S. 258. „Hin und her im Schatten vom inneren zum äußeren Schatten/vom undurchdringlichen Selbst zum undurchdringlichen Nichtselbst durch keines von beiden“ (Übers. IB). 129
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spiel Quadrat I und II eingehen, produziert vom Süddeutschen Rundfunk 1981. Auch in diesem „Stück für vier Spieler, Licht und Perkussion“29 sind eine geometrische Grundstruktur und räumliche Bewegung die entscheidenden Elemente. Das Stück, das viele Anknüpfungspunkte an die Performance- und Videokunst bietet, kommt völlig ohne gesprochenen Text aus. Es gibt nur noch gleichsam reine Räumlichkeit und darin Bewegungen und Klänge, die die Medialität der Raumerfahrung akzentuieren: Der Raum ist begrenzt auf das Viereck des Bildschirms, auf den der Zuschauer fixieren muss wie der in Platons Höhle angekettete Betrachter auf die Schatten an der Wand. Wieder ist das Kameraauge ein unerbittlicher, diesmal unbewegter Beobachter. Erst eine, dann zwei, dann drei, dann vier Figuren (gekleidet in eine weiße, gelbe, blaue und rote Kutte) huschen an den Seiten eines Quadrats entlang und kreuzen über die Diagonalen (Abb.2), wobei sie den Mittelpunkt, der im Skript als eine Art Gefahrenzone deklariert wird, strikt vermeiden: Sie wenden sich immer nach links. Das Stück ist, ähnlich wie Comédie/Play, repetitiv aufgebaut und suggeriert potentielle Unendlichkeit, indem es am Ende zu seinem Anfang zurückkehrt: „Without interruption begin repeat and fade out on 1 pacing alone.“30 Quadrat zeigt die grundlegende Dynamik von Medien und Formen bei Beckett in seiner Auseinandersetzung mit Räumlichkeit: Die Schnelligkeit der exakt choreographierten Bewegung der vier Spieler in einem genau abgezirkelten Raum erinnert an Paul Virilios „rasenden Stillstand“.31 Es entsteht ein reines Bewegungsbild. Und selbst wo sich Erstarrung und Langsamkeit und Erschöpfung breit machen, wie im zweiten Durchlauf des Stücks, der ja laut Beckett hunderttausend Jahre später stattfindet, ist letztlich alles noch immer in unaufhaltsamer, wenn auch langsamerer Bewegung.
29 Samuel Beckett: Quad. In: ders.: The Complete Dramatic Works. London, Boston: Faber and Faber 1990, S. 449-454, 451. 30 S. Beckett: Quad, S. 452. 31 Siehe Paul Virilio: Rasender Stillstand. Frankfurt/M.: Fischer 1997. 130
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
Abbildung 2: Standbild aus Quadrat (1981) Bei aller Verschiedenheit der Ausdrucksmedien, mit denen Beckett gearbeitet hat, lässt sich eine erstaunliche Einheitlichkeit und Wiedererkennbarkeit bestimmter ästhetischer Verfahren festhalten. Die bekannten Schlagworte, mit denen man diese Verfahren bedacht hat – wie Reduktion, Verknappung, Verarmung, Negation, Stillosigkeit und dergleichen – heben allesamt auf die Abweichung von einem implizit vorausgesetzten Normalzustand ab; sie führen jedoch kaum jemals über eine Hermeneutik der Ratlosigkeit hinaus, wie sie u.a. Adornos berühmten „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ auszeichnet.32 Über Becketts Umgang mit räumlichen Dispositionen habe ich mich diesen Verfahren von einer anderen Seite her genähert, indem ich versucht habe, aus Becketts medialem Umgang mit Räumlichkeit einen anderen Zugang zu den Formgesetzen seines künstlerischen Schaffens zu erschließen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es mir dabei nicht darum geht, Becketts Werk mit einer weiteren Theoriesprache zu überziehen und „erklären“ zu wollen. Mozarts Musik lässt sich auch nicht erklären – sie ist „vollkommen verständlich und vollkommen unerklärlich“.33 Der Vergleich mit Mozart stammt aus Becketts frühem und sehr witzigen Pseudo-Manifest über den „Konzentrismus“, eine von ihm erfundene Avantgardebewegung en miniature („Le Concentrisme“, ca. 1930). Wenn man sich auf die Wirkungen dieser Kunst einlässt, kann man starke Erfahrungen machen; und diese sind allemal wichtiger als wissenschaftliche Erklärungen. Aber zurück zur Frage der Räumlichkeit bei Beckett. Becketts Räume, so ließen sich die vorangegangenen Impressionen vielleicht 32 Siehe Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 281-321. 33 S. Beckett: Disjecta, S. 42 (Übers. IB). 131
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zusammenfassen, schweben als intermediäre Räume zwischen Innenwelt und Außenwelt. Sie sind medial konstituierte, künstlich und künstlerisch vermittelte Zwischenräume, deren spezifische formale Eigenschaften sich einer bestimmten für Beckett charakteristischen Technik verdanken. Diese Technik könnte man vielleicht in Anklang an Becketts eigene Formulierung in einem frühen Essay („Dante. Bruno. Vico... Joyce“, 1929) als „the cyclic dynamism of the intermediate“34 bezeichnen: als die in sich kreisende Dynamik der Zwischenwelt, des Intermediären. Diese Technik und ihre formalen Regelmäßigkeiten basieren auf einer paradoxen Bewegung, die außer ihrer eigenen Selbstentfaltung „nichts“ präsentieren, „nichts“ darstellen, „nichts“ markieren, keine Assoziationen wecken will, und die jedoch dabei stets auch den unmarkierten Raum als Möglichkeitshorizont mit andeutet. (Eine von Becketts Lieblingsstellen bei Shakespeare war nicht zufällig Macbeths Monolog des „Signifying nothing“: Nichts bedeuten/das Nichts bedeuten.) Es liegt natürlich nahe, diese Entgrenzung von Wahrnehmung mit traditionellen Transzendierungstechniken wie Mystik, Zenbuddhismus oder Gnosis in Verbindung zu bringen; es wäre jedoch verfehlt, sie damit gleichzusetzen. Ich möchte diesen künstlerischen Vorgang vielmehr als eine Auseinandersetzung mit Medialität verstanden wissen, als einen immer wieder aufs Neue auszuhandelnden kreativen Umgang mit dem sinnesphysiologischen menschlichen Wahrnehmungsapparat im Zusammenspiel mit den materiellen Gegebenheiten verschiedener Ausdrucksmedien und dem Wechselspiel von Medien und Formen. Auch Becketts Worte sind insofern medial konzipiert und nicht als „Sinn“- oder „Kommunikationsträger“ misszuverstehen, als sie, bildlich gesprochen, Spuren und Flecken hinterlassen: „a stain upon the silence“,35 einen Fleck auf der Stille oder dem Schweigen, ein Nachbild auf der „verbal retina“. Der imaginäre Raum, der dadurch eröffnet wird, ist nicht leer, wie das Schweigen (auch nicht „absurd“!), aber auch nicht mit konkreten Referenzen, mit Sinn oder Kommunikation gefüllt. Er ist zunächst einmal nicht mehr als ein Fleck, eine Störung oder Irritation des Wahrnehmungsapparats, die jedoch dazu führen kann, dass der Wahrnehmende auf die Konstitu-
34 S. Beckett: Disjecta, S. 29. 35 Beckett zit. nach Deirdre Bair: Samuel Beckett. London: Macmillan 1980, S. 539. 132
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
tion, die mediale Verfasstheit, seiner Wahrnehmungsvollzüge aufmerksam gemacht wird. Es geht also, wie Hartel (2004) bemerkt, nicht um einen primär optischen Reiz, „der konkret den Gesichtssinn anspricht“, sondern um die Erzeugung imaginärer Bilder, „die nur durch das lesende und imaginierende Bewußtsein aufs ‚innere Gesichtsfeld’ projiziert werden können“ (Hartel 2004: 19). Becketts intermediale Grenzüberschreitungen sind mithin Überschreitungen nach innen. Dies gilt auch dann, wenn es sich „nur“ um Prosatexte handelt, die in keinen anderen Aufführungskontext eingebettet sind als den des Gelesen- oder Vorgelesenwerdens. Zwar ist es sicher richtig, dass Becketts Ästhetik gespeist ist aus den revolutionären künstlerischen Bewegungen der europäischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, vom Futurismus bis zum Surrealismus, und doch ist das Grundprinzip seiner Auseinandersetzung mit der Medialität der Wahrnehmung, die Grenzüberschreitung von außen nach innen, schon bei dem von Beckett bewunderten Maler Caspar David Friedrich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisbar. Beckett schließt insofern auch an die Tradition der deutschen Romantik an. „Schließe“, schreibt Friedrich, „dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“36 Der in dieser Wanderung „von außen nach innen“ sich öffnende Grenzraum ist ein Schwellenraum, dessen ontologischer und phänomenologischer Status unbestimmt bleibt und bleiben muss, da er ständig zwischen beiden Seiten der Innen-Außen-Grenze hin und her pendelt, oszilliert: „To and fro in shadow from inner to outershadow/from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither.“ Er gehört weder ganz zum Subjekt, noch gehört er gänzlich in den Objektbereich der Wahrnehmung und des Wahrgenommenwerdens (das ja für Beckett in Berkeleys Satz „esse est percipi“, Sein ist Wahrgenommenwerden, zum Seinsmodus alles Wirklichen avanciert). Er ist – im klassischen Wortsinn – medial: dem Zwischenreich zwischen Aktiv und Passiv zugehörig.
36 Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen. Hrsg. von Sigrid Hinz. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1968, S. 94, zit. nach Kylikki Zacharias: Was du im Dunkeln gesehen 19992005. In: Hubertus Gaßner (Hrsg.): Caspar David Friedrich – Die Erfindung der Romantik. München: Hirmer 2006, S. 66-73, 67. 133
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Dieser liminale Raum, dieser Zwischenraum zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung, zwischen inneren und äußeren Bildern, zwischen Aktiv und Passiv, lässt sich nur schwer beschreiben, denn er sperrt sich gegen klassische philosophische Begriffe wie Subjekt und Objekt; er entzieht sich hermeneutischen und rein kognitiven Zugangsweisen.37 Da er nichts anderes symbolisiert als sich selbst, bringt er die Vöglein der Deutung in arge Bedrängnis. (Allenfalls die entwicklungspsychologische Spieltheorie etwa eines D. W. Winnicott könnte, so scheint mir, mit ihrer Theorie intermediärer Spiel-Räume und ihren zwischen Subjekt- und Objektstatus oszillierenden „Übergangsobjekten“ eine mögliche analytische Begrifflichkeit im Umgang mit Becketts Medienkunst bereithalten.38) Aber dieser liminale Zwischenraum kann sich der sinnlichen Erfahrung der Leser oder Zuschauer bei der Lektüre oder im Theater ganz unmittelbar eröffnen – sofern man willens und bereit ist, sich auf eine solche Erfahrung der Entgrenzung einzulassen. Becketts Umgang mit Räumen – offenen und geschlossenen, inneren und äußeren – liefert ein Beispiel für die Grundprinzipien seines künstlerischen Umgangs mit den medialen Vermittlungsbedingungen menschlicher Wahrnehmung und Wirklichkeitserfahrung. Indem er Gewohnheitsmuster der Alltagswahrnehmung irritiert, indem er das Korrespondenzverhältnis zwischen Worten und Vorstellungsbildern konsequent aufbricht, erzeugt er den Effekt einer „verbalen Retina“, einer Verlängerung von Sinneseindrücken in den Bereich des Imaginären hinein: Es kommt zu einer Entgrenzung von äußerem und innerem Wahrnehmungsraum, zu keiner Übersetzung oder Gleichsetzung von außen nach innen oder von innen nach außen, sondern zur Erzeugung eines intermediären Zwischenraums, der in einem stetigen Hin-und-her-Pendeln ständig neu besetzt, wieder ausradiert und wieder neu besetzt werden muss. Aus dieser Bewegung entsteht eine Dynamik, die „zyklische Dynamik des Dazwi-
37 Zu diesem Schluß kommt auch Eckart Voigts-Virchow: Quad I and Teletubbies or: ‚Aistheticǥ Panopticism versus Reading Beckett. In: Angela Moorjani/Carola Veit (Hrsg.): Samuel Beckett: Endlessness in the Year 2000. Amsterdam: Rodopi 2001, S. 210-218. 38 D. W. Winnicott: Playing and Reality. London: Tavistock 1971; vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 76f. 134
AUGEN(T)RÄUME: ZUR MEDIALITÄT DES RAUMES BEI SAMUEL BECKETT
schen“: Eine suggestive Sogwirkung, die aus der Konfrontation des Wahrnehmungsapparats mit sich selbst, mit seinen eigenen Setzungen und Voraussetzungen, resultiert. Das Medium der Schrift liefert dabei ein anschauliches Beispiel für die formale Bewegung, mit der die Entgrenzung von traditionellen Sinn- und Kommunikationsmustern in einen liminalen Grenzbereich des Imaginären vorangetrieben wird. Diese formale Bewegung, die Becketts Texte auszeichnet, ist auch für seine Arbeiten in anderen Medien als der Sprache relevant. In der Schrift, in dem durch sie eröffneten Wechselspiel zwischen Worten und ihrem assoziativen Horizont, ihrer „verbalen Retina“, erweist sich womöglich die Grundstruktur der Medialität bei Beckett. Die Schrift mag insofern als dasjenige Medium gelten, das der Vielfalt medialer Darstellungsformen in Becketts Werk den Takt angibt, indem sie einen bestimmten Rhythmus des Setzens und Löschens, des Markierens und Tilgens, des Hin und Her zwischen Medien und Formen als unendliche Spielbewegung des Imaginären ins Werk setzt.
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BECKETTS
UND
BACONS MÜNDER
MICHAEL LOMMEL
1. Deleuze über Beckett und Bacon „You must distort to transform what is called appearance into image.“ Francis Bacon
Gilles Deleuze sieht in seinem Buch Logik der Sensation, das er über den Maler Francis Bacon geschrieben hat, Gemeinsamkeiten zwischen den beiden irischen Künstlern Beckett (1906-1989) und Bacon (1909-1992), die beide in Dublin geboren wurden und Zeitgenossen waren.1 In der Malerei, schreibt Deleuze, kommt es darauf an, Kräfte zu malen, die auf die abgebildeten Figuren einwirken, Kräfte, die sonst unsichtbar oder nur in ihren Auswirkungen erkennbar sind. Um diese Kräfte und Energien einzufangen, beschreitet Francis Bacon mit seiner Malweise einen eigenen, sozusagen mittleren Weg zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit: Er gelangt von der Figur zum Figuralen, indem er die Menschen oder Menschenpaare, die auf seinen Bildern zu sehen sind, isoliert, sie wie auf einer Bühne in karge, fast leere Räume platziert. Becketts minimalistische Theater- und Fernsehräume in Ghost Trio, He Joe, Come and Go, Footfalls, A Piece of Monologue und das Zimmer in Film sind Bacons gemalten Räumen sehr ähnlich. Was meint Deleuze mit dem Ausdruck „figural“? Das Figurale vermittelt zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Bacon und Beckett versuchen die Figur den Geschichten, die mit einem Bild oder mit der Sprache erzählt werden, zu entreißen. Nicht die Figuren als solche, die Bacon malt, die Männer, Frauen und Menschenpaare für
1
Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. München: Fink 1995. Vgl. auch Michael Lommel: Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel. München: Fink 2006, S. 23-30. 137
MICHAEL LOMMEL
sich betrachtet, sondern die Linien, Formen und Farben des Gemäldes vereinigen die Sensation. Deshalb ist Bacon für Deleuze ein Erbe Paul Cézannes, des Malers der befreiten Farbsensation. Deleuze beharrt darauf, dass Becketts und Bacons Figuren weder figurativ noch ungegenständlich sind. Sie sind figural. Und es sind nicht die Geschichten, die Beckett erzählt, sondern die körperlichen Gesten, Bewegungen und Sprachmuster, die eine Sensation vereinigen. Wenn die Sensation wichtiger ist als das Schauspiel, dann müssen, wie in Becketts Theaterstücken Rockaby, Not I und Quad, die herkömmlichen Merkmale des Schauspiels aufgegeben werden. Die Figuren sind bei Bacon und Beckett dennoch als menschliche Gestalten erkennbar, auch wenn sie, wie in Bacons Triptych von 1972, in den Malgrund auslaufen, oder, in Becketts Theaterstück Play, nur mit ihren Köpfen aus großen Urnen herausschauen. So bleiben in Becketts Werken Fabelreste übrig, zersprengte Teile von Geschichten, Handlungen und Lebensläufen, die sich dem Konkreten, der Eindeutigkeit verweigern. Dass diese Literatur des Figuralen, des zerschneidenden Erzählens, bei dem die Erzählbausteine und Fabelreste allerdings um so sorgfältiger komponiert sind und einer strengen Erzählökonomie folgen, nicht mit Beckett endet, zeigt der jüngste Roman von Paul Auster mit dem bezeichnenden Titel Travels in the Scriptorium.2 Nun muss ich noch, bevor ich dieses einleitende Kapitel beende, den für die Überlegungen von Deleuze wichtigen Begriff der Sensation erläutern. Er kommt bereits im Titel seines Buchs Logique de la Sensation vor und bezeichnet die Wahrnehmungsform des Figuralen. Sensation hat zwei Bedeutungen. Der Begriff bezeichnet einer-
2
Gaby Hartel betont „Becketts Methode, narrative Elemente zu figuralen Grundformen zu verdichten.“ Siehe Gaby Hartel: „...the eyes take over...“ Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“. Eine Untersuchung von „The Lost Ones“, „Ill Seen Ill Said“ und „Stirrings Still“ im Kontext der visuellen Kunst. Trier: WVT 2004, S. 67. Paul Auster scheint in seinem jüngsten Roman der Devise ‚Back to Beckett’ zu folgen. Nachdem bereits die „New York-Trilogie“ in der Tradition Becketts stand (und besonders „Molloy“ zum Vorbild hatte), denkt man bei „Travels in the Scriptorium“ an „Malone meurt“, „Cascando“ und „Embers“, an fiktive Erzähler, die sich mit ihren eignen Geschöpfen unterhalten und – wie der Ouvreur in „Cascando“ – Erzählstimmen scheinbar willkürlich öffnen und schließen. 138
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
seits körperliche Empfindungen, Affekte und Erregungen, die durch Zustandsveränderungen des Organismus und des Nervensystems hervorgerufen werden. Andererseits heftet sich etwa um 1800 eine zweite Bedeutung an den Terminus: das Sensationelle, Aufsehen erregende, unerwartete, erstaunliche Ereignis, das Spektakel. Bacon und Beckett konzentrieren sich – sagt Deleuze – auf die erstgenannte Bedeutung der Sensation, den affektiven Erregungszustand, die sinnliche Empfindung, das Sensuelle.
2 . D e r S c h r e i o hn e S c h r e c k e n Die These von Deleuze lautet: Bacon wollte mit seinen Bildern das Sensationelle der Sensation zugunsten des Sensuellen abschaffen. Mit einer zugespitzten Formulierung nennt Deleuze dieses Projekt Bacons, das auch Becketts Projekt ist: „Schrei ohne Schrecken“. Damit meint Deleuze, dass Bacon den Schrei niemals aus dem Schrecken ableitet. Es kommt auf den Schrei selbst als reine Empfindungsqualität, als Sensation an und nicht auf die Geschichte, das Sensationelle und Erstaunliche, Unerträgliche und Empörende des Schreckens (Abb. 1). Abbildung 1: Francis Bacons Head VI (1949)
Über die Verunsicherung, in die Bacons Malerei hineinführt, hat man sich hinwegzusetzen versucht, indem man ihr „ein Vokabular der ausschließlich negativen Eigenschaften“ anheftete und Bacon
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zum „Hofmaler der Apokalypse“ machte.3 Deleuze folgt dieser Interpretation, die auch Beckett (und Kafka) zuteil wurde, ausdrücklich nicht. Der Schrei ohne Schrecken: Diese Formel übernimmt Deleuze aus dem Buch Alice in Wonderland von Lewis Carroll, das er bereits in seiner früheren Studie über die Logik des Sinns untersucht hatte. In Lewis Carrolls Roman trifft Alice auf ihrer Reise durch das Wunderland, jenseits des Spiegels, auf eine Katze, von der nur das Grinsen zurückbleibt, nachdem sie unsichtbar geworden ist: „All right“, said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone. „Well! I’ve often seen a cat without a grin“, thought Alive; „but a grin without a cat! It’s the most curious thing I ever saw in all my life!“4
Für Deleuze ist der Schrei ohne Schrecken wie das Grinsen ohne Katze, „a grin without a cat“. Der große Zeichner John Tenniel (1820-1914), der 1865 Alice in Wonderland illustriert hat, wendet einen Trick an, um den Moment des Verschwindens einzufangen: Der Katzenkörper wird eins mit der Schraffur, die den Schatten der Baumkronen darstellt (Abb. 2 und 3):
3
4
Till Briegleb: Der Körperfresser. Entgrenzte Grausamkeit: Die deformierten Porträts von Francis Bacon in der Hamburger Kunsthalle. In: Süddeutsche Zeitung, 12./13. November 2005, S. 14. „Es gibt wohl keinen Maler, in dessen Kunst so viele Schrecknisse des 20. Jahrhunderts hineingelesen wurden [...].“ Bacons rasante Pinselstriche zeugten allerdings „mehr von der Lust der Tat als vom Leid der Duldung [...]“ (ebd.). Und der Rezensent der „Zeit“ fragt sich, ob Bacon tatsächlich ein miserabilistischer Maler gewesen sei? „Was, wenn es ganz anders wäre? Wenn die zerstörten Gesichter aus der provokanten Lust stammten, aus der grandiosen Schöpfergier des Künstlers, der alles, was Form hat, die er nicht geschaffen hat, zurückverwandeln möchte in krude Formmasse, in fügsamen Malstoff?“ HansJoachim Müller: Immer ist Schrecken. In: Die Zeit, 29. September 2005, S. 68. Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland. Reissued London 1990, S. 56 f. 140
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
Abbildungen 2 und 3: John Tenniels, Alice in Wonderland (1865)
Denn Einzelbilder können den Übergang zur Unsichtbarkeit per se nicht wiedergeben. In seiner berühmten Verfilmung der AliceGeschichte (1951) konnte Walt Disney das Grinsen ohne Katze umstandslos übernehmen, weil Carrolls Idee wie für den Zeichentrickfilm gemacht scheint. Wie Carrolls „grin without a cat“ obliegt es Bacons grinsenden und schreienden Mündern, das Verschwinden, die Auslöschung oder Zersetzung des Körpers zu überleben.5 Bacons miteinander ringende und kopulierende Paare verschwimmen und verschmieren zur Unkenntlichkeit, lösen sich im je anderen Körper auf und werden zu einem einzigen Klumpen farbigen Fleisches.6 Doch die Zähne und Gebisse und das abscheuliche Grinsen hinter den aufgeworfenen Lippen sind von dieser Unkenntlichkeits-
5
6
Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. S. 23 f. Hilfreich ist auch Mirjam Schaubs Kapitel über Deleuze und Bacon in ihrem Buch: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare. München: Fink 2003, S. 44-67. Kein Zweifel, Bacon ist einer der großen Maler der wilden Begierde, des unauflöslichen Ineinanders von Lust und Gewalt. John Mayburys Film „Love is the Devil“ (1998), der die Liebesgeschichte zwischen Bacon und George Dyer erzählt, erhebt sich, indem er dieses Ineinander in surrealen Bewegungsbildern darstellt, über die üblichen pseudodokumentarischen Malerbiografien. 141
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bewegung nicht betroffen, wie ja auch die Zähne zu dem Wenigen gehören, was nach unserem Tod von uns übrig bleibt. Ich zitiere Deleuze: Wenn man es in einem Dilemma ausdrücken könnte, so würde man sagen: Entweder male ich den Schrecken, und ich male nicht den Schrei, da ich das Schreckliche figürlich darstelle; oder ich male den Schrei, und ich male nicht den sichtbaren Schrecken, ich werde den sichtbaren Schrecken immer weniger malen, da der Schrei gleichsam das Einfangen oder Aufspüren einer unsichtbaren Kraft ist.7
Der Schrecken muss aus dem Schrei abgeleitet werden, nicht umgekehrt: „auf diese Weise umfasst der Schrei alle Schrecken, ohne sich selbst einen [bestimmten, konkreten Schrecken, ML] zum Vor-Bild zu nehmen“, so kommentiert Friedrich Balke diese Passage von Deleuze.8 Das ist das künstlerische Vorhaben Becketts und Bacons. Der Schrei der sterbenden Amme in Sergej Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin (1925) war eine der Vorlagen, die Bacon für seine Bilder mit den aufgerissenen Mündern verwendete. Der Schrei aus einem Stummfilm hat mit der Malerei gemein, dass er lautlos ertönt und synästhetische Übersetzung erfordert (Abb. 4 und 5).
7
8
Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. S. 41. „Und es ist gewiß nicht leicht, auf den Schrecken oder die primäre Figuration zu verzichten. Man muß sich zuweilen gegen seine eigenen Instinkte wenden, auf seine Erfahrung verzichten“ (ebd., 29). Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt/M.: Campus Fachbuch 1998, S. 54. Vgl. auch Balke: Auf dem Rundgang. Bilder des Lebens bei Francis Bacon, Gilles Deleuze und Martin Heidegger (Ms.), der 2007 bei Diaphanes erscheint. 142
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
Abbildung 4: Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925)
Abbildung 5: Bacons Study for the Nurse in the Film Battleship Potemkin (1957)
Die Attraktionsmontage Eisensteins zeigt uns aber durchaus noch die Ursache für den Schrecken, der in dieser Großaufnahme dem Mund als Schrei entfährt: Die zaristischen Truppen schießen in die Menge und töten dabei auch die Amme, der eine Kugel ins Auge dringt. In Bacons Bildern hingegen kann man eine Ursache für den Schrei nicht mehr ausmachen. Ursache und Wirkung tauschen die
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Plätze: Der Schrecken folgt aus dem Schrei, nicht umgekehrt.9 Beckett, der die Malerei seiner Zeit äußerst aufmerksam verfolgte, wird die Bilder von Francis Bacon gekannt haben. Es ist aber nicht überliefert, ob Beckett sich zu Bacon geäußert hat. Man kann also nur darüber spekulieren, ob er, als er Stücke wie Not I schrieb, auch Motive Bacons im Kopf hatte. Unwahrscheinlich ist dies nicht. Bacons Leiber und Gesichter sind deformiert, sie sind verformt. Für einen Betrachter, der die Körper und Gesichter lediglich gegenständlich auffasst und mit realen Vorbildern vergleicht, sind sie Monster oder Zombies. Für einen Betrachter, der das Figurale an ihnen wahrnimmt, sind sie aber ganz natürlich.10 Denn sie geben Sensationen wieder und liefern keine Abbilder der Realität, genauer gesagt: Sie zeigen bestimmte Aspekte der Realität, die dem objektiven Blick und auch der Fotografie (dem im Wortsinn objektiven, nämlich technischen Blick) entgehen: Kräfte, Empfindungen, Energien, Intensitäten und Rhythmen. Daraus erklären sich die typischen Verwischungen in den Bildern von Francis Bacon, die ausgebürsteten, verschmierten und „zerknitterten Zonen“ vor allem in den Gesichtspartien, den Kopfportraits – und ganz besonders den Mündern.11 Oft haben die Figuren Bacons dort, wo der Mund sitzt, verwischte und verbürstete Farbzonen. Bacon verwendete Lappen, Handbesen, Schwämme und sogar alte Pullover, um Farbe und Kontur auf dem Bild zu verschmieren (Abb. 6):
9
Armin Zweite: Bacons Schrei. Beobachtungen zu einigen Gemälden des Künstlers. In: ders., in Zusammenarbeit mit Maria Müller (Hrsg.): Francis Bacon. Die Gewalt des Faktischen. München: Fink 2006, S. 69-104, hier S. 98. Vgl. auch Daria Kolacka: Bild – Affekt: Bacon, Stein und Eisenstein. In: ebd., S. 203-212. 10 Deleuze: Francis Bacon, S. 93. 11 Ebd., S. 18. Zwei pikturale Wertigkeiten besitzen Bacons Münder: Entweder bleiben sie das einzig Konkrete im verschmierten Antlitz (Unverwüstlichkeit der Zähne im abscheulichen Grinsen), oder sie werden, viel mehr noch als die Augen, von der figuralen In(ter)vention Bacons erfasst und deformiert, um die formlose Wahrheit jedes individuellen Ausdrucks zu formen. 144
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
Abbildung 6: Francis Bacons Self Portrait (1971)
Derart führt Bacons Maltechnik in das Bild eine Zone von Ununterscheidbarkeit ein, wie Deleuze sagt. Man darf sich das in einem höchst praktischen Sinne vorstellen. Sobald sich eine Form auf der Leinwand abzeichnet, interveniert Bacon durch Verwischung und Verbürstung. Die Form wäre Bacon noch zu gegenständlich, sie wäre ein Klischee. Durch die Verwischung und Verbürstung sind die Betrachter seiner Bilder herausgefordert, sich zu fragen, was sich in der Unbestimmtheitszone der Gesichter abspielt. Als wollte Bacon verhindern, dass sich die Form festlegt und rundet, sich für den Blick abschließt.
3. Der Mund in Not I Der Mund ist ein mehrwertiger, multisensorischer Körperteil, eine Körperöffnung, die verschiedene Funktionen hat, die zum Schmecken, Sprechen und Atmen dient.12 Der kauende und schmatzende Mund gemahnt an unser phylogenetisches Erbe, den Urmund, das Loch für die Nahrungsaufnahme. Sein Resonanzraum verstärkt die Schwingungen der Stimmbänder und bildet dadurch einen Laut-
12 „Die Tatsache, daß wir mit Zunge, Gaumen und Zähnen nicht nur essen und schmecken, sondern auch Laute bilden, daß es sich um ein multisensitives, aktives Sinnensystem handelt, scheint den Mund als ausdrucksbildende Größe zu prädestinieren“ (M. Schaub: Gilles Deleuze im Kino, S. 50). 145
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trichter für die Sprache, die so nach außen dringen kann und den Mund vom Maul des Tiers unterscheidet. Die Augen mögen die Fenster zur Seele sein. Mund und Mundpartie ermöglichen den Gesichtsausdruck und damit den Gefühlsausdruck der Menschen: „Der Blick bleibt nur dann lebendig, wenn ihm die angrenzende Mimik beispringt.“13 Über das zweideutige Lächeln der Mona Lisa spekulieren Kunsthistoriker seit Jahrhunderten. Daher sind Gesichter ohne Mund, wie in dem Alptraum, der Isaak Borg in Ingmar Bergmans Film Smultronstället (Wilde Erdbeeren) aus dem Schlaf reißt, genauso unheimlich wie Gesichter ohne Augen. Dem geknechteten Individuum, dem verwehrt ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu verschaffen, fehlt der Mund, so wie in einer Zeichentricksequenz des Films The Wall von Pink Floyd. Im Karneval und auf den Jahrmärkten des Mittelalters wurde der groteske Körper vorgeführt. Besonders diejenigen Körperteile wurden ausgestellt und grotesk in Szene gesetzt, in denen der Körper seine Grenzen – und damit die Grenzen zwischen ihm und anderen Körpern – überschreitet; in denen der Körper die Grenzen zwischen ihm und der Welt, zwischen Innen und Außen durchbricht. Der Mund ist ein solches Organ der Überschreitung. Körperteile, eigenwillige Organe und geteilte Körper beunruhigen „das Imaginäre der Menschen. Wie in einem Hologramm ist in jedem Körperteil der gesamte Körper enthalten [...].“14 In unseren Träumen werden die Körperteile isoliert, abgelöst, zerteilt und neu zusammengesetzt. Antonin Artaud und die Surrealisten greifen diese karnevaleske Tradition auf: das Eigenleben der Körperteile im Traum. Man kann das auf den Bildern von Salvador Dalí, den Fotografien von Man Ray und den Puppen-Szenen von Hans Bellmer sehen. In Becketts Theaterstück Not I sehen wir einen solchen isolierten Teil des Körpers. Der Mund ist vom Menschen, vom Körper abgelöst, als schwebte er frei im Raum. In dem Theaterstück, das 1972 in New York uraufgeführt wurde, bleibt die gesamte Bühne im Dunkeln. Nur der Mund, der sich zwanzig Zentimeter über der Bühne befindet, ist beleuchtet. Er wird von einem punktierenden Scheinwerferlicht angestrahlt. Die Schauspielerin, die den Mund
13 Ulrich Holbein: Samthase und Odradek. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 151. 14 Claudia Benthien/Christoph Wulf: Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile, S. 9-26, hier: S. 18. 146
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spielt, befindet sich demnach unter Bühnenniveau. Die Vorstellung, dass der Mund zu einem realen, hier nur unsichtbaren Menschen gehören könnte, durchkreuzt Beckett mit seiner Regieanweisung, denn sonst müsste sich der Mund ja auf Körperhöhe befinden. Die Stimme der Schauspielerin wird akustisch durch ein für die Zuschauer unsichtbares Mikrophon verstärkt. Der Mund beginnt schon zu sprechen, wenn sich das Saallicht im Theater verdunkelt, und er spricht am Ende weiter, wenn sich der Bühnenvorhang schließt. Das Stück heißt Not I, weil der Mund der Frau von sich selbst in der dritten Person Singular spricht, sich entschieden weigert, die dritte Person aufzugeben und „Ich“ zu sagen. Immer dann, wenn die Frau ihre Ich-Identität verweigert, wird ihr hastiges Sprechen zum Schrei, zum Schrei ohne Schrecken: „what .. who? .. no! .. she!“ Beckett hat den Sprachrhythmus des Stücks genau kalkuliert. Die Redeeinheiten, die Elmar Tophoven genauer untersucht hat, bestehen jeweils nur aus ein paar Wörtern oder Satzbruchstücken, die durch Pünktchen voneinander getrennt sind. Sie haben im Englischen, der Originalfassung, eine durchschnittliche Silbenlänge von 4,52. In der französischen Übersetzung, die Beckett selbst anfertigte, ist die durchschnittliche Silbenlänge dieser Redeeinheiten auf 3,95 reduziert. Tophoven weist darauf hin, dass damit die „wahrnehmungspsychologisch ideale Textportion von der Länge eines halben Alexandriners [...] fast immer unterschritten bleibt und der Redestrom damit weder klar anfangen noch eindeutig enden kann.“15 Es fällt schwer, die Bedeutung unmittelbar zu erfassen, zumal die Lebensgeschichte, die der Mund erzählt, elliptisch, in Sprüngen und Wiederholungen präsentiert wird. Es tritt eine Verschiebung zum Klang, zur Lautlichkeit und Musikalität, zum Rhythmus der Sprache auf – zur Sensation, wie Deleuze sagt, zum figuralen Sprechen. Der Rhythmus ist die vertikale Kommunikationsform der Sensation.16 Er verweist die Sprache onomatopoetisch zurück auf den Mund, der Geräusche und Klänge formt und sie in eine geregelte zeitliche Abfolge bringt.
15 Elmar Tophoven: Anmerkungen. In: Samuel Beckett: Theaterstücke. Dramatische Werke I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 259. 16 Vgl. Michael Lommel: Der Rhythmus als intermodale Kategorie. In: Joachim Paech, Jens Schröter: Untersuchungen zur Intermedialität. München: Fink 2007. 147
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Sensation bedeutet also: Wir hören zunächst nur den Redefluss, das Sprachgeräusch, bemerken die organische Realität des Mundes, noch bevor wir eine Geschichte und Bedeutung, ja überhaupt einen Zusammenhang identifizieren. Dennoch können wir, wenn wir das Stück gründlich (und mehrfach) lesen, herausfinden, über was der Mund spricht. Beckett hat zwar gesagt, dass es ihm in erster Linie auf Klang, Rhythmus und Musikalität ankomme. Doch seine Texte bergen unterhalb dieser klanglich-rhythmischen Oberfläche Tiefenschichten, die sich oft erst der konzentrierten, wiederholten Lektüre erschließen. Kaum ein Zuschauer, der zum ersten Mal Not I im Theater sieht und hört, würde diese Tiefenschichten sofort freilegen können. Dazu äußert sich Oliver Sturm: Wer den niedergeschriebenen Text der eigenen Analyse ausgeliefert vor sich liegen hat und in aller Ruhe ordnen, sortieren, vor- und zurückblättern kann, darf sich nicht darüber täuschen, dass Nicht Ich zunächst eine körperliche, nämlich akustische Sensation für den Zuschauer darstellt.17
Was erzählt uns der Mund, durch den der Redefluss der Frau entweicht? Ein Mädchen, eine Frühgeburt, ist als Waise in einem christlichen Heim aufgewachsen, ohne Liebe, wie es heißt. Sie hat ihr Leben lang kaum ein Wort gesprochen, obwohl sie biologisch durchaus zur Sprache fähig gewesen wäre. Bis sie dann als alte Frau, als Siebzigjährige, an einem Aprilmorgen eine Art Erweckungserlebnis hat. Plötzlich strömt aus ihr ein unablässiger Schwall von Worten hervor: eben jener Sprachstrom, den wir in Not I hören, der ihrer Kontrolle entzogen ist, den sie nicht abstellen kann, obwohl sie dies geradezu erfleht. Sie hat Schwierigkeiten, zu erfassen und zu verstehen, was da aus ihrem Mund hervorquillt – eine für Beckett typische Schleife: Thema des Erzählten ist das Erzählen, der Erzählvorgang selbst. Zu dieser Schleife, dieser Faltung des Gesagten ins Sagen kommt es nur, weil der Mund in Not I über die natürliche Rückkopplungsschleife allen Sprechens, ohne die wir unsere eigene Stimme nicht hören könnten, hinweg spricht. „Das Ohr bestätigt und steuert den Mund, der teils für sich uns teils für
17 Oliver Sturm: Der letzte Satz der letzten Seite ein letztes Mal. Der alte Beckett. Hamburg: Rowohlt 1994, S. 103. 148
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
andere sendet [...].“18 Mehr noch: Die Rückkopplungsschleife des Sich-selbst-Hörens hat sich in der voix automatique eingenistet. Die Regieanweisung wiederholt den Monolog; das Performativ wiederholt die Semantik: „scream ... [Screams.] ... then listen ... [Silence.] ... scream again ... [Screams again.] … then listen again … [Silence.]“.19 Automatisches Sprechen und Schreie ohne Schrecken haben sich wie eine künstliche Intelligenz verselbstständigt. Von den Wörtern, die der Mund absondert, versteht die Frau – jene Seelenschicht, die vielleicht noch Ich sagen könnte – kaum etwas, womöglich überhaupt nichts mehr. Weshalb soll man seine Zeit als Theaterbesucher dieser pathologischen Existenzform widmen? Einfach deshalb, weil Becketts Stück auf unsere eigenen unkontrollierten Bewusstseinsströme aufmerksam macht, ob sie nun artikuliert oder unartikuliert bleiben. Sind unsere Gedanken letztlich nicht mehr als physische Sensationen? Not I hat nichts von seiner Aktualität angebüßt, im Gegenteil: Die derzeitige Debatte zwischen Hirnforschern und Philosophen über die Freiheit des Menschen könnte aus Becketts Theaterstück einige Anregungen beziehen. Sind unsere Willensäußerungen, sobald sie uns bewusst werden, längst in den unbewussten Hirnvorgängen, die weitaus schneller als der reflexive Verstand und die Sprache operieren, bereits entschieden, so dass Freiheit und Ich-Identität nur von uns selbst konstruierte Illusionen sind? Solche Fragen, mit denen uns gegenwärtig die Hirnforschung konfrontiert, wirft Becketts Theaterstück bereits 1972 auf. Trotz seiner Aktualität wird Not I, wie nahezu alle Kurzdramen Becketts, auf den Theaterbühnen nur selten gespielt. Intendanten und Regisseure bringen meist nur die bekannteren Dramen En attendant Godot, Happy Days oder Krapp’s Last Tape auf die Bühne. Offenbar fehlt Ihnen der Mut, auch einmal eine Reihe kurzer Stücke an einem Theaterabend anzubieten. Im Jahr 2000 habe ich eine Aufführung von Not I in der Berliner Akademie der Künste gesehen.20
18 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 144. 19 Samuel Beckett: Not I. In: ders: Collected Shorter Plays. London: Faber and Faber 1984, S. 213-224, hier: S. 218. 20 Beckett in Berlin 2000. Internationales Festival 17.09.-1.10.2000. Das Theater Atelier Krakau spielte am 22.9.2006 „Nie ja“ („Not I“), Regie/Übersetzung: Marek Kedzierski, Mund: Dagmara Foniok, Vernehmer: Marek Kalita. 149
MICHAEL LOMMEL
Ich war überrascht von dem Live-Effekt, von der sinnlichen Wirkung, der sensation im Sinne von Deleuze. Ein winziger, beleuchteter, sprechender Mund in einem großen, fast stockdunklen Theatersaal: Not I ist ganz und gar Theater, kein Lesedrama. Tom Bishop vergleicht den Mund im Theater zu Recht mit dem Licht eines Scheinwerfers in der dunklen Nacht, als würde der Mund selbst leuchten.21 Mein Blick war wie gebannt. Bann bedeutete ursprünglich zauberhafte Gewalt. Fotografien, selbst Filmaufnahmen, können von der beklemmenden Atmosphäre und Spannung der LiveAufführung kaum einen Eindruck vermitteln.
4 . B i l l i e W hi t e l a w u n d J u l i a n n e M o o r e Beckett inszenierte Not I und einige andere Theaterstücke, nachdem sie auf der Bühne aufgeführt worden waren, noch einmal für das Fernsehen. Er war der Ansicht, dass sie im Fernsehen besser zur Geltung kämen, dort besser aufgehoben seien. Ich würde eher sagen, dass mit dem Wechsel vom Theater zu Film und Fernsehen etwas Neues, Eigenständiges entstanden ist. Ich möchte das am Beispiel zweier Übertragungen des Stücks Not I zeigen: der FernsehVersion von 1977, bei der Beckett Regie führte, mit Becketts Lieblingsschauspielerin und -sprecherin Billie Whitelaw als Mund, und der Filmfassung aus dem Jahr 2001, die Neil Jordan für das Projekts Beckett on Film gedreht hat.22 Hier spielt Julianne Moore, die mit Episodenfilmen wie Short Cuts, Magnolia und The Hours bekannt wurde, den Mund. Doch zuvor noch ein paar Überlegungen zum Medienwechsel von der Bühne zu Film und Fernsehen. Beide Fassungen – Whitelaw und Moore – unterscheiden sich von dem Theatererlebnis, das ich gerade aus meiner Sicht geschildert habe, zunächst dadurch, dass der Mund das gesamte Bild ausfüllt (Abb. 7, 8 und 9). Er wirkt übernatürlich und bedrohlich, kli-
21 Tom Bishop: Beckett Transposing, Beckett Transposed: Plays on Television. In: Alan Warren Friedman/Charles Rossman/Dina Sherzer (Hrsg.): Beckett Translating/Translating Beckett. Pennsylvania State University: University Park 1987, S. 167-173. 22 Beckett on Film – 19 Films x 19 Directors (2000): Not I, Regie: Neil Jordan, Mund: Julianne Moore. 150
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
nisch vergrößert, als käme die Stimme aus einer „kreißenden Öffnung“ hervor.23
Abbildungen 7 und 8: Billie Whitelaws Mund in Becketts Not I (1977)
Abbildung 9: Julianne Moores Mund in Becketts Not I (2001)
Im Theater zieht der winzige Mund inmitten der großen schwarzen Leere den Blick gleichsam magnetisch an. Auf dem Fernsehschirm und der Kinoleinwand wird unser Sichtfeld hingegen vollständig vom Mund eingenommen. Der „Auditor“, die stumme, verhüllte 23 Vgl. Joachim Becker: Nicht-Ich-Identität. Ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen. Tübingen: 1998, S. 238; Martin Esslin: Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks. In: Hartmut Engelhardt (Hrsg.): Samuel Beckett. Frankfurt/M.: Niemeyer 1984, S. 163-196, hier S. 192 f. 151
MICHAEL LOMMEL
Figur im Vordergrund, deren Ausrucksinventar im Theater auf ein mehrmaliges Heben der Schultern beschränkt ist und so den Hörvorgang selbst personifiziert, sozusagen zwischen Mund und Zuschauer vermittelt, rückt auf dem Bildschirm bzw. der Leinwand aus dem Sichtfeld. Die Detailaufnahme eines Mundes gibt es übrigens schon in Hitchcocks Film Psycho (1960), den Beckett durchaus gesehen haben könnte. Die wichtigste Veränderung gegenüber dem Theater besteht in beiden Fassungen darin, dass der Mund ein Abbild ist. Im Theater gibt es einen realen Bezug der Anwesenheit, einen Bezug zur Gegenwart, in der der Mund spricht. Es ist die Gegenwart, die wir Zuschauer zur selben Zeit im selben Raum mit der Schauspielerin, die den Mund spielt, teilen. Als technisches Abbild könnte der Mund etwas erzählen, das irgendwann einmal aufgezeichnet wurde. Um es vorwegzunehmen: Ich finde die ältere Version, die Fernsehfassung mit Billie Whitelaw, eindrucksvoller als die jüngere Filmfassung mit Julianne Moore. Whitelaw hebt die organische, körperhafte Seite der Lauterzeugung hervor (Joachim Becker), das Obszöne, die „Feuchtigkeit und Fleischlichkeit von Zunge und Lippen, die aggressive Härte der Zähne“ (Oliver Sturm),24 die Zweideutigkeit des geöffneten Mundes, der zugleich erogen und ekelerregend wirken kann. Der Mund selbst weist auf seine organische Dimension hin: ...her lips moving! ... as of course till then she had not ... and not alone the lips … the cheeks … the jaws … the whole face … all those- .. what? … the tongue? … yes … the tongue in the mouth … all those contortions without which … no speech possible … and yet in the ordinary way … not felt at all … so intent one is … on what one is saying … the whole being … hanging on its words … 25
24 J. Becker: Nicht-Ich-Identität, S. 221. „Der Sprachstrom erscheint der erzählten Figur weitgehend als begriffsloser Klang und wirkt wie das Summen in ihrem Kopf als Ausfluß einer Naturgewalt“ (ebd.); Oliver Sturm: Der letzte Satz der letzten Seite ein letztes Mal, S. 102. „Die Stimme bricht über den Zuschauer herein wie ein Naturereignis [...]“ (ebd., S. 103). 25 Samuel Beckett: Not I, S. 219. 152
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
Billie Whitelaws Mund tanzt auf dem Fernsehschirm wie ein im Bildkader eingesperrtes obszönes Tier, in der blinden Triebhaftigkeit des reinen Lebenswillens, einer Triebhaftigkeit, die umso mehr irritiert, als der Mund zum reinen Sprechwerkzeug, zum Sprachautomaten degradiert ist – wie Lucky in En Attendant Godot, der seinen Monolog erst abbricht, als Vladimir Luckys Hut lüpft. Nicht nur der von einer unsichtbaren Kraft gesteuerte Mund mit seinen Spasmen und Kontraktionen, seiner verkrampften Verschließung und dem entfesselten Schrei, der die Zähne freigibt, der Zunge, die ihrem eigenen (Lebens-)Willen zu gehorchen scheint und so beweglich ist wie die Schlange, mit der sie immer wieder verglichen wurde und die bekanntlich die Gestalt Satans im Garten Eden war – nicht nur der Mund also, auch die Stimme Whitelaws wirkt bedrohlicher, intensiver, manischer als die Stimme Julianne Moores. Deren Mund erinnert eher an eine Zahnpastareklame (nicht nur, weil Jordan einen Farbfilm gedreht hat). Jordan hat Julianne Moore aus fünf verschiedenen Kamerawinkeln aufgenommen und daraus einen 14minütigen Film montiert. Zwischen den Perspektiven schneidet Jordan dann hin und her, um so die Auflösung der Identität optisch wiederzugeben. Der Mund verliert die hypnotisierende Eindringlichkeit, die ihm auf der Theaterbühne und in der Fernsehfassung mit Billie Whitelaw zukommt.
5. Videomünder Zum Abschluss drei Beispiele aus der Videokunst, die an Becketts Not I anknüpfen, Videos und Installationen von Bruce Nauman, Danica Dakiü und Tony Oursler, in denen Münder eine Rolle spielen:26 • In Bruce Naumans Video Lip Sync (1968) wiederholt ein auf den Kopf gestellter Mund in extrem verlangsamtem Sprechtempo die Worte „Liiiip ... Syn ... k“ (Abb. 10). Die Wiener Ausstellung Samuel Beckett/Bruce Nauman (2000) hat die Verbindungslinien zwischen Beckett und Nauman nachgezeichnet. Über Lip Sync schreibt Kathryn Chiong in ihrem Aufsatz Naumans Beckett Gang, in Naumans Video werde „eine Reibung zwischen den Zeichen-Geräuschen und der Nachricht erzeugt. Besonders deutlich wird das, wenn sich der Mund nach einer
26 Vgl. auch den Beitrag von Gaby Hartel in diesem Band. 153
MICHAEL LOMMEL
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•
ermüdenden Redestrecke wieder schließt, wenn sich der Hals räuspert oder wenn wir die scharfe Betonung der Konsonanten p und k über das Mikrophon hören.“27 In Danica Dakiüs surrealem Video Autoporträt (1999) sehen wir das Gesicht einer Frau. Wie in Becketts Not I ist die räumliche und zeitliche Zuordnung ungewiss. Dort, wo die Augen sein müssten, befindet sich stattdessen ein zweiter Mund (Abb. 11). Die beiden Münder sprechen zwei verschiedene Sprachen, deutsch und bosnisch. Jeder in seinem eigenen Rhythmus. Auch Dakiü thematisiert die Teilung der Person, die Frage nach dem Ich-Bewusstsein. Wie Mouth in Not I ist die Person nur als sprechende existent. Es findet ein Tausch der Sinnesorgane statt: Der Sehsinn ist durch das Sprechen ersetzt worden.28 Über das Verhältnis von Mund und Auge schreibt Ulrich Holbein, nicht einmal die wohlgeformtesten Lippen könnten „die Blindheit und Urtümlichkeit des Mundes eskamotieren. Urmund und Kloake stehen dem Mund, ihrem Nachfahren, deutlicher an der Stirn geschrieben als dem Auge das früheste Lichtorgan des Tierreichs [...].“ Andererseits gilt: „Die Würde des Mundes besteht darin, Worte zu produzieren. So wird er, besonders auf Dauer, unterhaltsamer als jedes Auge, aussagefähiger noch als das ausdruckvollste Auge.“ Und die Lippenbewegungen des sprechenden Mundes sind womöglich, wie beim Mundauge in Dakiüs Autoporträt, der „Lidschlag des Lippen“.29 Wenn man einen Videokünstler nennen sollte, dessen Nähe zu Becketts Arrangements augenfällig ist, dann Tony Oursler, wenn auch mit einer mehr ins Gesellschaftskritische spielenden Note als das bei Beckett der Fall ist. Seine talking heads erinnern an die im Raum schwebenden (That Time, Quoi où?) oder rumpflosen Köpfe (Play, Nagg und Nell in Fin de Partie), an die plappernden Münder (Not I, Happy Days) im Werk Becketts. In Ourslers Videoinstallation von 1999 (ohne Titel), die
27 Kathryn Chiong: Naumans Beckett Gang. In: Michael Glasmeier et al. (Hrsg.): Samuel Beckett – Bruce Nauman. Wien: Brandstätter 2000, S. 170-195, hier: S. 100. 28 Vgl. Reinhard Spieler: Danica Dakiü. In: Armin Zweite, Doris Krystof, Reinhard Spieler (Hrsg.): Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 2000, S. 292-293. 29 Holbein: Samthase und Odradek, S. 148-152. 154
BECKETTS UND BACONS MÜNDER
im Jahr 2000 auf der Düsseldorfer Ausstellung Ich ist etwas Anderes zu sehen war, werden auf 25 ovale Fiberglaskörper Gesichter projiziert, kurze Filmsequenzen ein und desselben Gesichts, wie dem Betrachter allmählich klar wird, das der Schauspielerin Tracy Leipold gehört und während eines längeren Zeitraums von einer Kamera gefilmt wurde (Abb. 12). Leipolds Schauspielkunst ist auf Antlitz und Stimme beschränkt. Mal öffnet sich ein Mund, während sich auf einem anderen Gesicht die Augen schließen und ein weiteres Gesicht zornig oder empört den Mund verkrampft und die Stirn in Falten legt. „Diese Gesichter schauen traurig, ärgerlich oder fröhlich. Und sie sprechen dabei, wispern, flüstern, weinen, schreien zornig, um dann wieder zu schweigen. Satzfetzen lösen sich aus dem Sprachbrei, verständlich werden sie nur schwer.“30 Wie die Frau in Not I löst sich das Subjekt in Bruchstücke auf, sprechende Köperfragmente, über die sich in Tony Ourslers Installation der „Videoschleier“ legt.
Abbildung 10: Bruce Naumanns Lip Sync (1968)
Abbildung 11: Danica Dakiüs Autoporträt (1999)
30 Maria Müller: Tony Oursler. In: Zweite, Krystof, Spieler (Hrsg.): Ich ist etwas Anderes, S. 282. 155
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Abbildung 12: Tony Oursler (ohne Titel) (1999)
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FERNSEHTHEATER – VIDEOPERFORMANCE. S A M U E L B E C K E T T U N D D I E V I D EO K U N S T INGA LEMKE
In meinem Beitrag möchte ich mich Samuel Becketts Arbeiten für das Fernsehen widmen. Die Verwendung des Begriffs Fernsehtheater für Becketts „crazy inventions for television“,1 wie er sie selbst einmal genannt hat, impliziert eine spezifische Ästhetik im intermedialen Feld zweier Medien, eben zwischen dem Fernsehen und dem Theater. Eine intermediale Ästhetik, die auf der Grundlage des Medienwechsels von der Theaterbühne zum audiovisuellen Medium Fernsehen entstanden ist und in der die Kunstform des Theaters und fernsehmediale Formen eine produktive Synthese eingehen. Die Rede vom Fernsehtheater impliziert damit zugleich eine Ästhetik medialer Produktion, die sich durch ihre Fernsehspezifik auszeichnet, die die Gesetzmäßigkeiten des Bildschirms aufnimmt, ja diese reflektiert. Bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Beckett es zunächst ablehnte, seine für die Bühne geschriebenen Theaterstücke für das Fernsehen zu inszenieren. Die erste Fernsehfassung eines seiner Theaterstücke, die Produktion von Not I mit Billy Whitelaw durch die BBC (1977),2 genehmigte der Autor ent1
2
Reinhart Müller-Freienfels: Erinnerungen an Samuel Beckett beim SDR. In: Hermann Fünfgeld (Hrsg.): Von außen besehen. Markenzeichen des Süddeutschen Rundfunks. Stuttgart: SDR 1988, S. 415. Not I wurde unter der Regie von Anthony Page mit Billy Whitelaw in der Hauptrolle (ohne Auditor) für die BBC produziert und im April 1977 erstmals im britischen Fernsehen in der Reihe Shades (BBC2 TV), am 1. November 1977 im deutschen Fernsehen, in der von der BBC übernommenen Sendung Schatten des SDR, gesendet. In den darauf folgenden Jahren ging Beckett mit Hilfe seines langjährigen Bühnenassistenten Walter D. Asmus dazu über, auch andere Bühnen157
INGA LEMKE
sprechend erst auf der Grundlage der Überarbeitung der dramatischen Textvorlage, die den Verzicht auf die Figur des Auditors vorsah.3 Beckett arbeitete in seinen Stücken für das Fernsehen, ebenso wie in dem Theaterstück Play (1962), in dem Film Film (1963/64; Regie: Alan Schneider) und in seinen Stücken für das Radio Cascando (RTF 13.10.1963) und Words and Music (BBC 13.11.1962), mit der gezielten Akzentuierung und Analyse des Medienspezifischen. Und so erscheint es gleichermaßen bezeichnend wie erstaunlich, dass James Monaco in der überarbeiteten und erweiterten Fassung seiner Einführung in die Film- und Medienanalyse zur Klärung des Medien-Begriffs auf Samuel Beckett rekurriert: Eine der anschaulichsten Analysen der Unterschiede jener mannigfachen Kommunikations-Techniken, die mit dem Sammelbegriff „Medien“ bezeichnet werden, findet sich in einer Reihe von Stücken, die Samuel Beckett in den sechziger Jahren geschrieben hat. In Play, Film, He Joe, Cascando und Words and Music hat der Bühnenautor/ Romancier/ Dichter/ Kritiker, der sowohl englisch als auch französisch schrieb, das Wesen jeder einzelnen Form erfasst.4
Becketts Fernseharbeiten lassen sich auch als künstlerisches Experiment der Medienspezifik der Moderne lesen. In ihrer formalen Reduziertheit und Konzentration auf die Essenz des Mediums sind sie vergleichbar mit den ästhetischen Experimenten der MedienAvantgarden und der Videokunst, wie sie u.a. in den kunst- und
3
4
stücke für das Fernsehen einzurichten, z.B. Das letzte Band (WDR 24.1.1979) und Was, wo (SDR 13.4.1986). James Knowlson: State of play: performance changes and Beckett scholarship. In: Journal of Beckett Studies 10 (1985), S. 108-120, hier S. 119. Vgl. Therese Fischer-Seidel: Samuel Becketts Abschied: Nacht und Träume und das deutsche Fernsehen. In: Dies. (Hrsg.): Der unbekannte Beckett: Samuel Beckett und die deutsche Kultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 321; Jonas Bignell: Beckett in Television Studies. In: Journal of Beckett Studies 10, No. 1 (1985), S. 105-118, hier S. 112. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg: Tausend 1995, S. 444. 158
FERNSEHTHEATER – VIDEOPERFORMANCE. SAMUEL BECKETT UND DIE VIDEOKUNST
filmhistorischen Debatten und Retrospektiven zum „Film als Film“5 der 70er Jahre thematisiert wurden. War die Intention des „Films als Film“ im Avantgarde- und Experimentalfilm auf die Erforschung des Films als neue, spezifisch filmische Wahrnehmungsform gerichtet, so lassen sich Tendenzen der formalen Exploration, der Suche nach der „reinen“ Form des Mediums, nach seinen „Möglichkeiten in Licht, Farbe, Energie, Ton, Raum und Zeit etc.“, in der ersten Phase der Videokunst (1963 bis Mitte der 70er Jahre) als eine ähnliche, auf eine Ästhetik des Medienspezifischen gerichtete Bestrebung, im Sinne eines „Video als Video“, deuten.6 Enoch Brater hat in seiner Analyse der Poetik von Becketts Plays for Television7 Elemente einer essenzialistischen und formalistischen Ästhetik des Fernsehens herausgearbeitet, deren Tendenz zur Exploration des Medienspezifischen er, und dies erscheint mir besonders interessant, die Funktion eines Meta-Kommentars zum Medium zuordnet. Damit eröffnet er eine Perspektive, Becketts Fernseharbeiten nicht nur im Rahmen einer „minimalistischen“, selbst-reflexiven medialen Ästhetik der Avantgarden, sondern auch im Kontext der medienkritischen, d.h. fernseh-kritischen Tendenzen zu verorten, die für die frühe Videokunst gleichermaßen prägend waren. James Monaco gibt einer Interpretation Vorschub, die es nahe legt, Becketts Fernseharbeiten primär und ausschließlich als Beitrag zu einer formalistischen und essenzialistischen Konzeption von Fernsehen zu interpretieren. Ausgeklammert wären dabei allerdings die spezifischen technologischen und institutionellen Bedingungen, ebenso wie die gattungspoetologischen Definitionen und Zuschreibungen und die kulturellen Kontexte des Massenmediums Fernsehen, die nicht ontologisch gegeben, sondern einer historischen Entwicklung und einer medienimmanenten Eigendynamik unterworfen sind.
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6 7
Birgit Hein, Wulf Herzogenrath (Hrsg.): Film als Film. 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre. Stuttgart: Hatje 1977. Gerda Lampalzer: Videokunst. Historischer Überblick und theoretische Zugänge. Wien: Promedia 1992, S. 34. Enoch Brater: Towards a Poetics of Television Technology: Beckett’s Nacht und Träume and Quad. In: Modern Drama 1 (1985), S. 48-54; Ders.: Beyond Minimalism. Beckett’s Late Style In The Theater. New York, Oxford: Oxford University Press 1987. 159
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Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der spezifischen Ästhetik von Becketts Fernsehtheater ist auch vor dem Hintergrund und in Wechselwirkung mit der Entwicklung einer fernsehspezifischen Ästhetik und den Bedingungen massenmedialer Produktion zu sehen. Die Entwicklung einer eigenen Kunstform des Fernsehens, des Fernsehspiels oder „Television Drama“ als spezifischem Genre und zentraler Kunstform des Fernsehens in den 50er und frühen 60er Jahren und die Transformation fernsehmedialer Produktionsformen und -ästhetiken in Wechselwirkung mit der weiteren Entwicklung der TV-Technologie (von der „Live“-Produktion zum filmischen Editing, Montage, Schnitt) sind dabei ebenso relevant, wie die Definitionen und Funktionen von Fernsehen als kulturelle Form und als „Broadcasting“, als Medium der Massenkommunikation und Medium der Übertragung.8 Becketts Plays for Television wären also auch hinsichtlich ihrer Funktion als Meta-Kommentar zum Medium, als implizite Kritik der etablierten Kunstformen und Kommunikationsformen des Fernsehens zu befragen. Auf diesen Aspekt werde ich auch und insbesondere am Beispiel von Becketts erster Arbeit für das Fernsehen, He Joe, eingehen, und zwar anhand der von Beckett favorisierten ersten Fassung des SDR mit Deryk Mendel und Nancy Illig (SDR 13.4.1966). An dieser Stelle erscheint es mir auch wichtig, die Ausnahmestellung der Fernseharbeiten Becketts in den Produktionen des Fernsehens zu betonen. Für seine Fernseh-Experimente stand Beckett im Stuttgarter Fernsehstudio über all die Jahre ein festes Team zur Verfügung. Neben Reinhart Müller-Freienfels, der die Rolle des Produzenten übernahm, waren vor allem der Kameramann Jim Lewis, der Bühnenbildner Wolfgang Wahl und der Tontechniker Konrad Körte maßgeblich an den Produktionen beteiligt. Ein erster Kontakt Becketts zur Fernsehspiel-Redaktion des SDR (unter der Leitung von Reinhart Müller-Freienfels), die zu dieser Zeit in der Reihe Der Autor als Regisseur neue Impulse für die Entwicklung des Originalfernsehspiels suchte, entstand 1965 über die Vermittlung von Werner Spies (damals Korrespondent des SDR in Paris). Bereits ein Jahr
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Vgl. Linda Ben-Zwi: Samuel Beckett’s Media Plays. In: Modern Drama 1 (March 1985), S. 22-37; Clas Zilliacus: Beckett and Broadcasting. A Study of the Works of Samuel Beckett for Radio and Television. In: Acta Academiae Aboensis, Ser. A, Vol. 51, Nr. 2, Abo Sydvästkusten 1976. 160
FERNSEHTHEATER – VIDEOPERFORMANCE. SAMUEL BECKETT UND DIE VIDEOKUNST
später entstand daraus, nach den ersten Fernsehaufnahmen der englischen Fassung He Joe für die BBC in London (Regie: Alan Gibson) und WNDT in New York (Regie Alan Schneider),9 auf der Basis der deutschen Übersetzung He Joe durch Erika und Elmar Tophoven 1965, die Produktion von Becketts erstem Stück für das Fernsehen unter Becketts eigener Regie. Daraus entwickelten sich eine Kontinuität der Zusammenarbeit bis in die 80er Jahre hinein und ein Freiraum für das ästhetische Experiment, der in der Fernsehgeschichte seinesgleichen sucht. Die Offenheit der Fernsehspiel-Redaktion des Süddeutschen Rundfunks für Becketts Fernseh-Experimente lässt sich nicht auf eine bestimmte Phase ab Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre begrenzen.10 Das war eine kurze Phase der Experimente, der Öffnung der Fernsehstudios für künstlerische Aktivitäten. Dies galt nicht nur für den Bereich des Fernsehspiels, sondern auch für die elektronische Musik und die ersten Experimente mit neuen Formen eines multi-medialen Theaters11 sowie der damals im Entstehen be-
He Joe, Regie Alan Gibson, assistiert von Samuel Beckett, mit Jack MacGowran und Sian Philips, BBC2 TV, London, Juli 1966; He Joe, Regie Alan Schneider, mit George Rose und Rosemary Harris, WTNDT (Channel 13), New York 1966. Vgl. Knowlson (1985) a.a.O., S. 118-119. 10 Zu diesem Urteil kam Martin Mühleis, Autor des Beitrags Reinhart Müller-Freienfels – Ausgespielt (1991) in der Sendereihe Unsere Medien. Unsere Republik. Vier über uns. Porträts zur Fernsehgeschichte, einer selbstreferentiellen Sendung des SDR im Medienverbund für das Grimme-Institut Marl. Mühleis unterteilte in seinem Porträt des Fernsehspiel-Redakteurs Reinhart Müller-Freienfels dessen redaktionelle Arbeit in vier Phasen, wobei er die Zusammenarbeit mit Samuel Beckett unter dem Zwischentitel „verrückte Spiele“ in einem kurzen Zeitraum zwischen den frühen, zum Teil experimentellen Ansätzen auf der Suche nach einer originären Form des Fernsehspiels bis Mitte der 60er Jahre („die frühen Spiele“) und der zunächst zeitkritisch ausgerichteten, später am Spielfilm orientierten „Realismuswelle“ (Das Spiel mit der Wirklichkeit I und II) in den 70er und 80er Jahren ansiedelte. Tatsächlich ist in diesem Zeitraum nur eine Produktion, nämlich He Joe (1966) entstanden. 11 Z.B. Black Gate Cologne (WDR 1969), eine Aufführung des Stücks Black Air aus dem New Yorker Gate Theater, eine Multimedia9
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griffenen Videokunst, der neuen Kunstform des elektronischen Mediums, an deren Erforschung Bildhauer, Konzeptkünstler, Performer u.a. beteiligt waren.12 Das Fernsehen stellte seine Studios und seine Sendezeit zur Verfügung, um Künstlern die Möglichkeit zu geben, die ästhetischen Potentiale der neuen elektronischen Produktionsverfahren zu erproben. Der Bedarf ästhetischer Impulse zur Nutzung technologischer Innovation seitens der Fernsehanstalten korrelierte mit einer Entwicklung der Kunst vom Produkt zum Prozess, die mit der Notwendigkeit der Dokumentation des transitorischen KunstEreignisses durch die Medien (Fotografie, Film, Video), dem Bedürfnis nach Kommunikation von Kunst (anstelle von KunstKonsum) und der Offenheit für intermediale Experimente verbunden war, die auch die technischen Medien einbezogen. In diesem kurzen Zeitraum bestand die Möglichkeit, das Fernsehen zur Kommunikation künstlerischer Arbeiten zu nutzen, die eine entkonventionalisierte Ästhetik des Mediums jenseits der etablierten Kommunikations- und Wahrnehmungsformen ausloteten, und diese damit zugleich herausforderten, provozierten und kritisierten. Becketts Regiearbeit, so Peter Goßens in seinem Resümee zur Produktion von Samuel Becketts Fernseharbeiten beim SDR in Stuttgart, stand „von Anfang an im Zeichen der neuen Videotechnik, in der er im Laufe der Jahre neue Ausdrucksmöglichkeiten findet“.13 Und Werner Spies kommentierte rückblickend auf He Joe: „Strenggenommen handelt es sich um eine Videoproduktion. Videos kamen 1965 erstmals auf den Markt. Ab 1967 standen sie allgemein zur Verfüh-
Vorstellung mit Publikumsbeteiligung der Künstler Aldo Tambellini und Otto Piene, bei der Filmprojektionen, pneumatische und kinetische Objekte und live im Studio vorgenommene Manipulationen des elektronischen Bildes und des Tons zum Einsatz kamen. 12 Z.B. in der Fernsehgalerie Berlin von Gerry Schum, Land Art (SFB/ARD 1969) und Identifications (SWF 1970). 13 Peter Goßens: „We do it to have fun together“. Samuel Beckett beim SDR in Stuttgart. In: Ulrich Ott/Friedrich Pfäfflin/Thomas Scheuffelen (Hrsg.): SPUREN 50. Marbach am Neckar: Deutsches Literatur Archiv 2000, S. 2. 162
FERNSEHTHEATER – VIDEOPERFORMANCE. SAMUEL BECKETT UND DIE VIDEOKUNST
rung. Das Stück wurde mit der elektronischen Kamera aufgenommen. Es gab keine Schnitte (…).“14 Der Bekanntheitsgrad eines Autors wie Samuel Beckett erleichterte es freilich den Verantwortlichen der Redaktion, das „Wagnis“ der Zusammenarbeit einzugehen und die weitere Kooperation mit dem Autor/Regisseur zu pflegen. He Joe entstand im Vorfeld der Nominierung Becketts für den Nobelpreis, der ihm 1969 verliehen wurde, und wurde – wie das Gros der darauf folgenden Produktionen – als Jubiläumssendung eines bereits anerkannten zeitgenössischen Autors präsentiert (1966 wurde Beckett 60 Jahre alt). Die Gebundenheit an den Kalender gehört, ebenso wie die Einbettung in den erläuternden Kommentar eines als kompetent ausgewiesenen Fachmanns,15 zur Präsentationsstrategie solcher vom üblichen Programmangebot abweichenden, an ein Minderheitenpublikum adressierten, fernsehästhetisch explorativen „Inseln“ im Fernsehprogramm. He Joe beginnt wie eine konventionelle Bühnenaufzeichnung eines Theaterstücks. Die Totale zeigt einen kargen Bühnenraum, durch drei Vorhänge klar gegliedert, darin auf einem Bett sitzend einen Schauspieler (Deryk Mendel), den einzigen sichtbaren Akteur des Stücks. Der Schauspieler beginnt auf der Bühne zu agieren. Langsam, schlurfenden Schritts, begibt er sich sukzessive zum Fenster (rechts vorne), dann zum nächsten Fenster (hinten mitte) und zum dritten Fenster (vorne links). Sich dreimal vergewissernd, dass nichts und niemand in den Raum eindringt. Dabei dreimal mit einem lauten Geräusch die Vorhänge auf- und zuziehend. Die Kamera folgt der Personenbewegung des Mannes/Joes in angemessener Distanz durch den Raum, der in der Bewegung von rechts nach links zunehmend „humane“ Dimensionen annimmt, bis der Mann/Joe wieder seine Ausgangsposition einnimmt. Die Stille der Szene wird einzig durch das Geräusch des Auf-dem-BodenSchlurfens und des Vorhang-Zuziehens gestört.
14 Werner Spies: Der Betrachter macht das Bild. In: Michael Glasmeier (Hrsg.): Samuel Beckett, Bruce Nauman. Wien: Kunsthalle 2000, S. 146. 15 Walter Boehlich vom Suhrkamp-Verlag, der Beckett in Deutschland vertrat, sprach das einleitende Wort zu He Joe (1966), der Theaterkritiker Georg Hensel moderierte die Sendung Samuel Beckett zum 80. Geburtstag (1986). 163
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Plötzlich beginnt aus dem Off eine leise weibliche Stimme (Nancy Illig) auf „Joe“ einzureden. Immer wenn der Redefluss der Stimme für einen Moment innehält, nähert sich die Kamera in neun millimetergenau festgelegten Bewegungen Stück für Stück dem Darsteller an. Am Ende ist nur noch ein Ausschnitt seines Gesichts (Abb.1) zu sehen:
Abbildung 1: Standbild aus Samuel Beckett He Joe (1966) He Joe ist ein Theaterstück – für den Bildschirm geschaffen. Die Großaufnahme, nicht die Totale, entspricht dem kleinen Bildschirmformat. Die damit verbundene Nähe führt zu einer Intimisierung der Szene, einer Privatheit, die nicht der Rezeptionssituation im Theater, wohl aber der im Wohnzimmer entspricht. Beckett bezeichnete Fernsehen selber als „Keyhole-Art“.16 Die Kamera erlaubt den voyeuristischen Blick auf die private Welt, auf Innenräume. Unter diesem Gesichtspunkt ist He Joe eine Studioproduktion, ein Kammerspiel. He Joe ist ein Stück für einen Mann, eine Stimme und eine Kamera. Die Kamera wird hier selbst zum Akteur. Die Rolle des Schauspielers wird im Verlauf des Stücks auf die des Zuhörers reduziert. Sein Aktionsradius verlagert sich von der Proxemik über die Gestik hin zur Mimik. Statt ausspielender, raumgreifender Gesten finden wir eine zurückgenommene, sparsame Artikulation der Bewegung. Der Schauspieler spielt das, was er tut: durch den Raum schlurfen, Vorhänge zuziehen, zuhören. Die Stimme übernimmt
16 Vgl. Zilliacus: Beckett and Broadcasting, S. 191. 164
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einen gleichwertigen, wenn nicht dominanten Part. He Joe ist ein Stück für Audio-Vision. Ein Stück zum Sehen und Hören. Der szenische Dialog verlagert sich auf den Monolog einer Stimme, deren Herkunft nicht zu orten ist,17 und auf das Gesicht eines Mannes der schweigt. Der Monolog dringt gleich einem pausenlosen Bewusstseinsstrom, mit Unterbrechung, auf den Mann/Joe und den Zuschauer/Zuhörer ein. Das Gesicht des Mannes/Joe bleibt unbewegt. Erst am Ende, als die Stimme endgültig zum Schweigen kommt (sie sprach von „Mentalmord“), wendet er sich direkt in die Kamera mit einem Lächeln, einem Grinsen? Der eigentliche Gehalt des Stücks liegt dazwischen, er spielt sich im Inneren, im Kopf – des Mannes/Joes, des Zuschauers – ab. Beckett verzichtet darauf, den inneren Vorgang optisch auszuweiten. Auch in der Intimität des Fernsehspiels als Kammerspiel bleibt Becketts Kunst antipsychologisch. Wenngleich He Joe eine elektronische Aufzeichnung ist, bleibt darin das spontane Zusammenspiel von Stimme und Gesicht (Mimik und Gestik des Schauspielers) im Studio erhalten. Man hätte die Stimme gesondert aufnehmen und dem Darsteller vom Band zuspielen können. Aber genau hier wird der Technik die Grenze gesetzt, auf die es ankommt: Beckett wünschte das spontane Zusammenspiel von Stimme und Hören. Die „Stimme“ soll Joe im Auge haben, während er sie hört; von dort, wo sie spricht, hat man die Joes im Auge (…).18
Das Ampex-Verfahren erlaubte während der Aufnahme keine Korrektur. Es konnten lediglich immer wieder neue Versionen des Stücks aufgenommen werden. He Joe besteht aus einer einzigen,
17 Siegfried Melchinger beschrieb den Bühnenaufbau im Studio wegen der Dreharbeiten wie folgt: „Die Technik erfindet Beckettsche Dekorationen, die kein Fernseher sehen wird. Man hat mitten in der Halle einen Verschlag aufgebaut, mannshoch, rechteckig, mit dem Rauminhalt einer bequemen Kammer, die mit dicken Stoffen abgedeckt ist, abgedichtet gegen das Draußen. Dort die fragmentarische Höhle des Zimmers – hier das Gehäuse, aus dem ‚die Stimme’ auftaucht (…).“ Siegfried Melchinger: Regie Samuel Beckett. Der Autor im Umgang mit der Technik. In: Theater heute 5 (1966), S. 12. 18 Ebd. 165
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durchgedrehten ca. 30-minütigen Einstellung (Plansequenz). Es gibt keinen einzigen Schnitt in diesem Stück. So gesehen ist He Joe ein dokumentiertes Live-Spiel, beinahe Theater. Die Einmaligkeit und Transitorik des theatralen Ereignisses bleibt bei jeder der im Studio aufgezeichneten Versionen von He Joe erhalten. Dies zeigt sich im Vergleich der drei vom SDR in Stuttgart produzierten Fassungen von 1966, 197919 und 1990.20 Eine direkte Vergleichsmöglichkeit bot der WDR dem Fernsehzuschauer in einer Sendung am 10.3.1969, indem er die von Beckett inszenierte deutsche Originalversion, die französische Fassung des ORTF von 1968 Dis Joe21 und die englische Fassung der BBC von 1966 He Joe22 einander gegenüberstellte. Die Form des Live-Spiels, als einzige technisch mögliche Produktionsform, galt in der Frühzeit des Fernsehens zugleich als die ideale Fernsehspielform, da sie sich mit ihrer kontinuierlichen, nicht unterbrochenen Spielweise am ehesten dem Theater annäherte. Das Publikum als „mitschöpferischer Faktor des Theaterkunstwerks“, so wurde bereits 1956 kritisch konstatiert, geht allerdings beim Live-
19 He Joe, Regie Samuel Beckett, mit Heinz Bennent (Joe) und Irmgart Först (Stimme), SDR 13.9.1979. 20 He Joe, Regie Walter D. Asmus, mit Klaus Herm (Joe) und Billie Whitelaw (Stimme). Für Samuel Beckett, der zu dieser Zeit schwer erkrankt war, übernahm Walter D. Asmus die Regie. Diese Version von He Joe wurde 1988 vom SDR produziert und am 3.9.1990 in der ARD unter dem Titel 3 Beckett-Stücke zusammen mit den Fernsehversionen der Theaterstücke Footfalls und Rockaby ausgestrahlt. Letztere sind keine aus der Adaption eines Bühnenstücks hervorgegangenen Fernseh-Stücke, die im technischen Medium ein Äquivalent zur Theatervorlage suchen (wie Not I und Was, wo), sondern Aufzeichnungen einer ins Studio geholten Inszenierung eines Theaterstücks. Die Fernsehfassung von Footfalls basierte auf der Uraufführungsinszenierung des Autors am Royal Court Theater London (mit Billy Whitelaw und Christine Collin). Die Tonaufnahme für Rockaby stammte aus der Uraufführungsinszenierung an der New Yorker State University in der Inszenierung von Alan Schneider (mit Billy Whitelaw). 21 Dis Joe, Regie Michel Mitrani, mit Jean-Louis Barrault (Joe) und Madeleine Renault (Stimme), ORTF, Februar 1968. 22 Siehe Fußnote 9. 166
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Spiel im Fernsehen gegenüber dem Live-Spiel im Theater verloren: „der Fernsehteilnehmer erlebt eine Fernseh(theater)aufführung ohne Publikum“.23 Über die Aufspaltung der Handlung in Stimme und Gesicht führte Beckett das Publikum als „mitschöpferischen Faktor“ in seinem Fernseh-Theater wieder ein. Der Zuschauer/Zuhörer wird zum Mitgestalter des Kunstwerks. Er wird konsequent vom Raum des „als ob“ des Theaters (Totale), über den Raum filmischer Illusion (Halbtotale > Zoom) in den Bildraum physiologischer Intimität mit der Bildschirm-Persona (Großaufnahme) geführt, an dessen Oberfläche alle Verstehens- und Deutungsversuche abgleiten. Das Gesicht „Joes“ ist nicht zu lesen. Beckett arbeitet bewusst mit Ausdruckslosigkeit. Es ist die Stimme aus dem Off, die die Atmosphäre und den Gehalt des Stücks etabliert. Die Stimme der Erinnerung, des Bewusstseinsstroms, des schlechten Gewissens. Durch die doppelte Spaltung in Gesicht/Stimme und männlich/weiblich wird der Zuschauer/Zuhörer doppelt irritiert. Es gibt keine Handlung, keinen Ausdruck der Gefühle; keine Nahaufnahme seiner (Joes) Erinnerung, keine Stimme seines schlechten Gewissens, das dem „Mentalmord“ folgt. Die Kontrastierung des Audio- und Videoerlebens erzeugt zugleich einen Raum der Erfahrung. Im Zwischenraum von Gesicht und Stimme ist Raum für das psycho-physische Erleben und für die Imagination des Publikums. Beckett entwickelt in He Joe ein gezieltes Spiel mit den Wahrnehmungserfahrungen und Erwartungen des Zuschauers. Die Zurücknahme des Ausdrucks im Gesichts eines Mannes, der allein darstellt, was er tut, und die Monotonie der Stimme, die nicht ausdrückt, was sie sagt, stehen im Gegensatz zu einer Spielweise im Fernsehspiel, die „mehr den unmittelbaren Reflex der Aktion als die Aktion selber“ und so „den seelischen Gehalt zum Ausdruck bringt“.24 Humanität und Pathos der intendierten Psychologisierung und der propagierten „Innerlichkeit“ des frühen Fernsehspiels setzt Beckett die Ent-Individualisierung und Ent-Humanisierung (durch die Aufspaltung des Humanen in die Ebene des Sichtbaren und Hörbaren und den Einsatz der Kamera als Akteur) und die Vermei-
23 Hans Knudsen: Fernsehen und Theater. In: Rundfunk und Fernsehen 3 (1956), S. 233. 24 Hans Gottschalk: Grundsätzliche Überlegungen zum Fernsehspiel. In: Rundfunk und Fernsehen 2 (1956), S. 128. 167
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dung der Psychologisierung und des Melodramatischen entgegen. Dies erklärt auch seine Ablehnung der 1979 gedrehten Neuauflage von He Joe mit Heinz Bennent und Irmgard Först (SDR 13.9.1979), da in dieser Fernsehinszenierung die von ihm angestrebte Reduktion der melodramatischen Elemente nicht eingehalten wurde.25 Den aus der Tendenz des Fernsehens „auf Nähe“ und der optischen und räumlichen Komprimierung der Inszenierung im Fernsehstudio (Fernsehspiel als Kammerspiel) abgeleiteten gattungspoetologischen Forderungen einer „totalen Intensivierung“ und „Intimisierung“26 begegnet Beckett mit einer Ironisierung der Abgeschlossenheit und des Eingeschlossenseins des Mannes/Joe, durch seinen zwanghaften Verfolgungswahn und die daraus resultierenden Handlungen, der sich dennoch nicht des Eindringen des Außen in das Innen (durch die Stimme und die Kamera/Zoom) erwehren kann. Die Spannung des Stücks entsteht nicht durch die Darstellung und Aktion, sondern durch das forcierte Eindringen der Kamera, die Zwanghaftigkeit des Sprechens des Monologs, das stoische Schweigen und die Starre „Joes“. Sie haben etwas Gewaltsames. Der Zuschauer hat als Voyeur aus distanzierter Nähe an dieser Aktion teil, bis die Bildschirmpersona, der Mann/Joe, ihm seinen Blick direkt zuwendet - und den Voyeur selbst anschaut. Die Umkehrung der Situation und des Blicks, die direkte Adressierung des Zuschauers führt zum Distanzverlust. Zur Zerstörung der Illusion der „Nähe“ durch die unmittelbare Konfrontation. Und zu einer schockierenden Wendung, die der Schlusssequenz in Film vergleichbar ist. Die Situation des Mannes/Joe wird zum Spiegelbild der eigenen solipsistischen Situation des Zuschauers vor dem Fernseher, seiner Vereinsamung und Isolation im Rahmen massenmedialer Kommunikation. Beckett unterläuft Fernseh-Konventionen, indem er ihnen nur scheinbar folgt. Beckett „belieferte“ das Fernsehen nicht mit einem Produkt, das sich etablierten Konventionen des Mediums anpasst, wenngleich er mit ihnen spielt. Die Ästhetik seines Fernsehtheaters steht der geläufigen Fernsehästhetik entgegen. Dennoch ist das Fernsehspiel He Joe durchaus fernsehspezifisch, da es die optischen und akustischen Möglichkeiten des Mediums genau auslotet und
25 Vgl. Goßens: We do it to have fun together, S. 9. 26 Vgl. Gottschalk: Grundsätzliche Überlegungen zum Fernsehspiel, S. 123 u. 128. 168
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gezielt zum Einsatz bringt. Auch in seinen späteren Fernsehstücken arbeitet Beckett mit der akzentuierten Auswahl und Aufspaltung von Elementen des Medienspezifischen. Nicht nur die Kamera, Mimik, Gestik, Bewegung der Schauspieler, Stimme und szenische Gestaltung, auch rhythmische Geräusche, Musik, die Skala von Grautönen, Schwarz-Weiß oder Farbe, Geometrie und Mittel der Bildkomposition, Licht und Montage oder Überblendung gehen als eigenständige Elemente in seine Fernsehdramen ein. Becketts Hinwendung zum Fernsehen war gleichzeitig mit einer Erweiterung und Veränderung der theatralen Ausdrucksmöglichkeiten verbunden. Auffällig ist eine Tendenz zu Wiederholung und Rhythmisierung und zur bildhaften Verdichtung, sowie das exakte „Timing“ der Stücke. In Quadrat I und II (SDR 8.10.1981)27 verzichtet Beckett ganz auf den gesprochenen Text und verwendet stattdessen vier Schlaginstrumente, zu deren Klängen sich vier Spieler auf genau vorgeschriebenen Bahnen bewegen. Die Bewegungen der Darsteller, die Geräusche und geometrischen Formen verschmelzen zu einem, auf Sekunde und Zentimeter genau festgelegten, exakt ausgeklügelten Bild. Die „mathematische“ Exaktheit des beinahe tänzerischen Bewegungsablaufs ist gleichzeitig mit einer radikalen Beschneidung und Steigerung der schauspielerischen Möglichkeiten verbunden. Rückwirkungen der Fernseharbeiten auf das Theater zeigen sich vor allem in den immer dominanter werdenden Regieanweisungen der Bühnenstücke. Für die zunehmende Exaktheit, die Bildhaftigkeit und Komprimierung seines späten Theaterkonzepts, die sich auch in den dominanter werdenden Regieanweisungen seiner Stücke zeigen, war das Fernsehen die adäquate Bühne, das zudem dem Transitorischen des Theaters durch seine Materialität Dauer verleiht. Durchgängig ist den unter Becketts Regie realisierten FernsehStücken die Beschreibung des Darzustellenden aus der Perspektive der fehlenden vierten „Wand“ – eine Referenz an die Bühne. Bei Quadrat I und II wäre, wie bei He Joe,28 eine Re-Adaption auf die
27 Quadrat I und II. Regie Samuel Beckett und Bruno Voges, mit Helfried Foron, Jürg Hummel, Claudia Kupfer, Susanne Rehe, SDR 8.10.1981. 28 Tom Bishop hat 1987 darauf verwiesen, dass He Joe mindestens zweimal auf der Bühne aufgeführt wurde. „…in the past few years he Joe was adapted to the stage in two american productions (at the 169
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Bühne noch (oder wieder) denkbar, da das Stück aus einer einzigen Kameraperspektive (von schräg oben) gedreht ist und die Kamera in der Halbtotale verweilt, die das gesamte Spielfeld umfasst. Die komplexen Regieanweisungen, die sich nicht nur auf die Ausstattung, Kleidung, Lichtführung und Farbgebung, das darstellerische Personal und die Perkussions-Instrumente, sondern auch auf die Choreographie der tänzerischen Bewegung der Schauspieler und ihr Zusammenspiel mit den rhythmischen Geräuschen beziehen, und die fast mathematische Korrektheit, die Beckett für die Ausführung fordert, stellen allerdings höchste Anforderungen an das beteiligte Personal. Sie lassen das Gelingen einer solchen Aufführung unter Live-Bedingungen ohne Möglichkeit der korrigierenden Wiederholung zumindest sehr schwer erscheinen.29 Die 1977 entstandenen Stücke Geistertrio (SDR 1.11.1977)30 und Nur noch Gewölk… (SDR 1.11.1977),31 die beide in der von Martin Esslin in der BBC initiierten und ebenfalls im SDR realisierten Sendereihe Schatten 32 zu Becketts 70. Geburtstag ausgestrahlt
29 30 31 32
Beckett Festival in New York in 1978 and in Paris). It is the first Beckett television play to be adapted on stage.“ Tom Bishop: Beckett Transposing, Beckett Transposed: Plays on Television. In: Allen Warren Friedman/Charles Rossman/Diana Sherzer (Hrsg.): Beckett Translating/Translating Beckett. University Park/London: The Pennsylvania State University Press 1987, S.167-173; auf die Pariser Aufführung auf dem Festival d’Automne de Paris 1981 unter der Regie von Alan Schneider folgte nach Jonathan Kalb noch eine weitere Bühnenversion des Stücks, im Goodman Theater, Chicago 1983. Vgl. Jonathan Kalb: Beckett in Performance. Cambridge, New York u.a. 1989, S. 254. Eine Aufführung fand dennoch 1986 im American Folk Theater in New York statt. Vgl. Kalb: Beckett in Performance, S. 254. Geistertrio, Regie Samuel Beckett, mit Klaus Herm und Irmgard Först, SDR 1.11.1977. Nur noch Gewölk, Regie Samuel Beckett, mit Klaus Herm und Cornelia Boj, SDR 1.11.1977. Wie die Reihe Shades, die im April 1977 in BBC2 TV gesendet wurde, zeigte Schatten (SDR 1.11.1977) die englische Version von Not I (s.S. Anm. 2); anstelle der englischen Versionen von Ghost Trio und ...but the clouds, Regie Donald McWhinnie mit Ronald Pichup und Bille Whitelaw, sendete der SDR die unter Becketts Regie deutsch170
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wurden, und sein letztes Stück für das Fernsehen, Nacht und Träume (SDR 19.5.1983),33 sind reine Fernsehproduktionen, elektronisches Theater. Die theatralische Einheit von Raum, Zeit und Handlung wird hier durch die Montage zerlegt. Dabei entstehen, über die direkte Verknüpfung verschiedener Zeit- und Realitätsebenen, neue Traum-, Erinnerungs- und Wahrnehmungsräume. Die Darsteller werden nicht mehr als Handelnde, sondern als Wartende, Wahrnehmende und Träumende eingeführt. Wie „Joe“ sind sie isoliert, eingeschlossen in einen Raum, die Black-Box der Monitor-Bühne, in dem nur noch Schemen von Gegenständen und Körperhaftem zu erkennen sind. Schatten von Grau, dunkle Schatten und Schwarz, darin Lichterscheinungen und Projektionen. Die Figuren sind selbst Schemen, Doppelgänger ihrer selbst. Auffällig ist die zunehmende Abstraktion und die EntIndividualisierung und Ent-Körperlichung der Darsteller und des Raumes, wodurch der Eindruck einer betonten Bühnenhaftigkeit und Artifizialität entsteht.34 Im ersten Akt von Geistertrio ist es die Stimme aus dem Off die die Konstruktion des Raumes übernimmt. Ihr Kommentar überführt die Reihung formaler Variationen eines Rechtecks aus „Shades of Grey“35 in ein Bedeutungsgefüge, aus dem sich die Vorstellung eines Raumes formt. Und sie gibt der Kamera die Anweisung diese (erneut) vorzuführen. Beckett spielt damit auf die Faktizität des Fernsehbildes an, auf die rechteckige Oberfläche eines Monitors,
sprachige Fassung (s.S. Anm. 31 und Anm. 32). Vgl. (1985), S. 118119. 33 Nacht und Träume, Regie Samuel Beckett, mit Helfried Foron, Dirk Morgner und Stephan Pritz, SDR 19.5.1983. 34 Therese Fischer-Seidel hat in ihrer Analyse von Nacht und Träume auf den ursprünglich vorgesehenen Titel Nachtstück verwiesen, worin sie eine Referenz an Becketts Auseinandersetzung mit der deutschen Romantik, insbesondere mit E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken nachweist, die eine Anspielung auf die Figur des „automatons“ und des Doppelgängers nahe legt. Vgl. Therese Fischer-Seidel: Samuel Becketts Abschied: Nacht und Träume und das deutsche Fernsehen, S. 330f. 35 Um die in Geistertrio thematisierten „Nuancen der Farbe Grau“ auf der Ebene des Fernsehbildes adäquat umzusetzen, drehte man das Stück in Farbe, sendete es aber in Schwarz/Weiß. 171
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der die Gegenstände in eine schlecht aufgelöste Erscheinung in Schattierungen von Grau überführt. Und er greift die konventionalisierte Form der audiovisuellen Kommunikation im Fernsehen auf, in der dem „Realismus“ der Fernsehbilder der authentifizierende Kommentar zur Seite gestellt wird, und konterkariert sie zugleich. Ironisch wird über die Stimme die Vorherrschaft des rechten Winkels thematisiert und der Zuschauer aufgefordert, die Geometrie zu übersehen und auf die „humane“ Qualität zu achten. Diese vermag allein von der Musik, dem musikalischen Zitat von Beethovens Largo (aus dem 5. Klavier-Trio Opus 7/10) auszugehen, dem der Protagonist zusammengekauert vom Tonband lauscht. Die Zitate der Musik in Geistertrio und in Nacht und Träume (der Titel verweist bereits auf Franz Schuberts Lied Nacht und Träume)36 dienen, ebenso wie das Zitat des Gedichts (der Schlussverse aus William Butler Yeats Gedicht The Tower)37 in …nur noch Gewölk, der Allusion, der Anspielung auf ein vergangenes Ereignis, der Erinnerung und der Projektion auf ein Zukünftiges, den Traum, die Sehnsucht und die Hoffnung auf (transzendente) Erlösung. Die Erscheinungen und Projektionen, die diese auf der optischen Ebene einzulösen scheinen, wobei sie Bildkonventionen der christlichen Ikonographie oder des fotografischen Porträts zitieren, tauchen, ebenso wie der Junge in Geistertrio, der an den Jungen in Warten auf Godot erinnert, auf, um dann wieder zu verschwinden. (Fade in, Fade out). Geträumte Vision, Traum, transzendente Erscheinung, die das Warten, die Einsamkeit, das Dunkel durchbrechen – sie sind das was sie sind: sichtbare Projektionen, Einblendungen, Lichterscheinungen. Was bleibt, ist das diffuse Licht des rechteckigen Monitorbildes, Schatten von Grau, die, vorübergehend in ein „freundlicheres“ Licht getaucht, wieder in der Ungewissheit des Dunkels verschwinden. Das ist die einzige Gewissheit. (Nicht erlöst, nicht versöhnt).
36 Dessen Liedtext von Matthäus von Collin leicht variiert zunächst gesummt und dann gesungen wird: „Kehre wieder, heil’ge Nacht…/ holde Träume, ihr kehret wieder…/ holde Träume kehret wieder.“ Vgl. ebd., S. 323 u. 331. 37 Vgl. Goßens: We do it to have fun together, S. 9: „…nur noch Gewölk in den Höh’n…/ bald kein Horizont mehr…/müdes Vogelgestöhn…/dunkelnde Schatten umher“. 172
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In Ghost Trio, Nur noch Gewölk und Nacht und Träume nimmt Beckett eine Radikalisierung der Ästhetik seines Fernseh-Theaters vor, die in He Joe bereits angelegt war. In diesen Fernseh-TheaterStücken entwirft Beckett eine Ästhetik des Fernsehens, die sich aus der Realität der reinen Oberflächen, der Schattierungen von Grau (als Eigenschaften des Monitorbildes) und der Projektion von Licht (eine Anspielung auf den Film), des akustischen Kommentars aus dem Off, des schemenhaften und fragmentierten Zitats auf der Ebene des Bildes, des gesprochenen oder gesungenen Textes und der Musik (als Träger der Emotion) und der wiederholbaren Konserve (Tonband, Fernsehaufzeichnung) zu einem Simulacrum der Erscheinungen zusammenfügt. Damit entfernt er sich noch weiter von den ästhetischen Konventionen des Fernsehens, dessen neues Selbstverständnis als „Fenster zur Welt“ und die damit verbundene Propagierung eines „Fernseh-Realismus“, des kommentierten Dokuments und filmischer Produktionsweisen er konterkariert. Die Kritik am „Fernseh-Realismus“ und an dem, was David Ross „the finely crafted illusion“ von Fernsehen/TV nennt,38 war auch Gegenstand der medienkritischen Diskurse und einer künstlerischen Praxis von Video, die sich selbstreflexiv mit der Video-Technologie ebenso wie mit dem Verhältnis von Realität und Medienrealität und der Informations- und Unterhaltungsfunktion des Fernsehens auseinandersetzte. In Formen der „Aneignung“ („appropriation“),39 des direkten Zugriffs auf vorhandenes Material und die Bildwelt des Fernsehens, wurden der Stil, die Darstellungskonventionen und Repräsentationsformen des Fernsehens dekonstruiert.40 Die Thematisierung des Sehens und der Wahrnehmung (des Sehens vs. Wahrgenommenwerdens), der Zeitlichkeit (Erinnerung, Projektion in die Zukunft vs. Wiederholung, Gegenwärtigkeit) und des Doppelgänger-Motivs (als Motiv der Romantik vs. Metapher für die filmische Projektion und für die Spiegel-Funktion der Kamera) lassen eben-
38 David Ross: Truth and Consequences: American Television and Video Art. In: John G. Hanhardt (Hrsg.): Video Culture. A Critical Investigation. Rochester, N.Y: Peregrine Smith Books 1986, S. 169f. 39 Ebd. 40 Vgl. Bob Riley: Comic Horror: The Presence of Television in Video Art. In: Kathy Rae Huffman/Dorine Midnot: The Arts for Television. Amsterdam: Edition 1500 by The Stedelijk Museum Amsterdam 1987, S. 85-98. 173
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falls Referenzen erkennen, die Becketts Fernsehtheater mit den Videokunst-Experimenten der 70er Jahre verbinden. Es lässt sich vermuten, dass Samuel Beckett über seine Kontakte zur Pariser und New Yorker Kunstszene (zumindest retrospektiv) die künstlerischen Experimente im neuen Medium Video und die Tendenzen einer „performativen Wende“41 und der sich daraus entwickelnden intermedialen Experimente in der Kunst wahrgenommen hat, die sich fast zeitgleich mit seinen ersten Auseinandersetzungen mit dem Fernsehen entwickelt haben. Insbesondere in den USA hat sich umgekehrt eine neue Generation von Künstlern, die im Kontext der Minimal Art, oder besser, des „Minimalismus“,42 eine neue und erweiterte Auffassung der Malerei und der Skulptur,43
41 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 9. 42 Georg Stemmrich hat betont, dass „die Bezeichnung ‚Minimal Art’ [….] nur auf die bildende Kunst anzuwenden ist“, während „der Begriff des ‚Minimalismus’ [sich] auf ein historisches Gesamtphänomen“ bezieht, das „auch parallele Entwicklungen im Tanz […] und in der Musik […] umfasst. Dabei handelt es sich um parallele Entwicklungen, die sich erst Mitte der sechziger Jahre ihrer Affinitäten bewusst wurden und dadurch eine programmatische Zuspitzung erhielten.[...] Die Bezeichnung des ‚Minimalismus’ diente seit den späten sechziger Jahren nicht nur dazu, minimalistische Tendenzen in verschiedenen Künsten zusammenzufassen, sondern erschien gleichermaßen geeignet und bestimmt, die historischen Folgen der Minimal Art zu umreißen. So wurde der Begriff des ‚Minimalismus’ auch auf anschließende Kunstrichtungen ausgedehnt […]. Gerade auch künstlerische Positionen, die als Reaktionen auf die Minimal Art zu betrachten waren oder eine Kritik der Minimal Art implizierten, konnten auf diese Weise unter dem Begriff des ‚Minimalismus’ subsumiert werden.“ Georg Stemmrich: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Perspektive. Dresden, Basel 1995, S. 15-17. 43 Zu nennen sind hier insbesondere Robert Morris, Sol LeWitt, Carl Andre, Dan Flavin, Donald Judd als Vertreter einer programmatischen Thematisierung und Umsetzung der „Minimal Art“. Vgl. ebd. Eine Revision im Sinne eines (Post)-Minimalismus erfuhr diese insbesondere in den Werken und Schriften von Robert Morris und Sol LeWitt. 174
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des Tanzes44 und der Musik45 entwickelten, aus der Prozess- und Konzept-Kunst,46 Body Art, Land Art u.a. hervorgingen, sich mit dem schriftstellerischen und dramatischen Werk Samuel Becketts auseinandergesetzt. Die Bedeutung der ästhetischen Konzeption und „Haltung“ Becketts für diese amerikanischen Intellektuellen und Künstler charakterisiert Sabine Folie wie folgt: [Sie] […] nahmen das Werk Becketts „enthusiastisch“ auf und internalisierten es gewissermaßen. Die syntaktische Verstörung der Sprache, das Wiederholen der immergleichen Handlung und des immergleichen Sprechens, die Verfasstheit des Raumes und die Präsenz des Körpers in ihm führte vor, was einige Protagonisten der Minimal Art über die Verabschiedung des Autors, die Verweigerung von Sinn, den performativen Charakter der Sprache und der Erfahrung dachten – ohne dass hier in ver-
44 Eine minimalistische Tendenz im Bereich des „New Dance“ zeigte sich u.a. in den Arbeiten von Trisha Brown, Lucinda Childs, Simone Forti und Yvonne Rainer. Vgl. Stemmrich: Minimal Art, S. 15. 45 Hier sei insbesondere auf Philip Glass, La Monte Young, Steve Reich und Terry Riley verwiesen (vgl. ebd.), aber auch auf den CageSchüler Morton Feldman, aus dessen Begegnung mit Beckett 1976 das gemeinsame Opern-Projekt Neither (1977) entstand. Vgl. Sabine Folie: To and Fro in Shadow From inner To Outer Shadow. Samuel Becketts hybrider Modernismus zwischen Expressionismus und Minimal Art. In: Glasmeier: Samuel Beckett, Bruce Nauman. Wien: Kunsthalle 2000, S. 119. 46 Sabine Folie verweist hier insbesondere auf Eva Hesse und Sol Le Witt, „der sich in ‚Come and Go’ (1969) explizit auf das gleichnamige Theaterstück Becketts bezogen“ hat. Rosalind Krauss hat in einem Artikel in der Zeitschrift October bereits 1978 den Einfluss Becketts auf LeWitts Denken thematisiert, in dessen konzeptueller Kunst und Manifest Sentences on Conceptual Art (1969) sie eine Analogie zum „absurden Nominalismus“ und zum Drang zu gegen den Zufall gesetzten, als sinnvoll behaupteten, obsessiv vollzogenen sinnlosen Handlungen in Becketts literarischem Werk (z.B. in Molloy) sieht („Irrationale Gedanken sollen streng und logisch verfolgt werden“). Vgl. Krauss, Rosalind: Le Witt in Progress. In: Stemmrich, Minimal Art, S. 261-278. 175
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kürzter Weise behauptet würde, dass die Minimal Art sich Beckett verdankt.47
Sabine Folie verweist auf konkrete Referenzen sowie zahlreiche Analogiebezüge, die sich zwischen den künstlerischen Arbeiten und Texten der „Minimalisten“ und Becketts Werk herstellen lassen. Sie geht dabei u.a. auf Yvonne Rainers Konzeption des „New Dance“ und ihren Versuch der Umschreibung einer minimalistischen Tendenz im Tanz ein, die mir bezogen auf den in diesem Beitrag herzustellenden Bezug zwischen Becketts Fernsehtheater und der (post)minimalistischen Videoperformance besonders interessant erscheint. Zu deren Prämissen gehören, neben der, die „Hand“, und somit die Subjektivität des Künstlers minimierenden, „gefundene[n] Bewegung“, die „Gleichheit der Teile“, die „Wiederholung“ oder Reihung „diskreter Ereignisse“ sowie die, auf figürliche Referenz und Charakter-Darstellung verzichtende, „neutrale Vorführung“ und die „Literalness“ (Buchstäblichkeit) der „einzelne[n] Aktion“, deren Einfachheit und Bezogenheit auf den „menschlichen Maßstab“ einer Hierarchie der Teile und einer Monumentalität der Gesamtdarstellung entgegenstehen.48 Bezogen auf diese Fragestellung erscheint es mir relevant, auch einen anderen Schlüsseltext des „Minimalismus“ heranzuziehen, und zwar den 1968 in der Zeitschrift „Artforum“ erschienenen Text „Anti-Form“49 von Robert Morris, der die Minimal Art, phänomenologisch fundiert, kommentierte.50 Morris setzt in seinem Text den Maximen des (Greenbergschen) Modernismus, der Autonomie und Selbstreferentialität des (visuellen) Mediums, der Reinheit der medialen Form und der Abstraktion und dem „autobiographischen“, 47 Vgl. Folie: To and Fro in Shadow From inner To Outer Shadow, S. 117. 48 Ebd; Vgl. Yvonne Rainer: Ein Quasi-Überblick über einige „minimalistische“ Tendenzen in den quantitativ minimalen Tanz-Aktivitäten inmitten der Überfülle, oder: Eine Analyse von Trio A. In: Stemmrich: Minimal Art, S. 121-132. 49 Robert Morris: Anti-Form. In: G. Amstrong/P. R. Marshall (Hrsg.): The New Sculpture 1965-75. Between Geometry and Gesture. New York: Whitney Museum of American Art 1990, S. 100f. 50 Ders.: Anmerkungen über Skulptur. In: Stemmrich: Minimal Art, S. 92-120. 176
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Subjekt-bezogenen Gestus des abstrakten Expressionismus eine minimalistische Ästhetik entgegen, die die Form eines ästhetischen Objekts nicht als autonome, sondern vielmehr als relationale Größe begreift. Nicht das fertige Produkt, sondern der Prozess seiner Herstellung (und Rezeption) ist Gegenstand der minimalistischen Skulptur, deren „relationalen“ Charakter Morris bezogen auf das Verhältnis von Rationalität und Physikalität, von Konzeption und Prozessualität, von Abstraktion und Konkretheit des Formats, der Proportion, der Platzierung, von Ausdruck und Materialität, von Ordnung und Zufall oder Unbestimmtheit thematisiert. Dieser „relationale“ Charakter lässt sich meines Erachtens auch in den Fernseharbeiten Becketts wieder finden. Die Thematisierung der Vorherrschaft des rechten Winkels in Geistertrio und die Aufforderung des Zuschauers durch die Stimme, die Geometrie zu übersehen und auf die „humane“ Qualität zu achten, lässt sich in diesem Kontext auch als eine Anspielung auf eine „relationale“ minimalistische Ästhetik sehen. Beckett hat sich in seinem Werk, insbesondere im Zeitraum von 1945 bis 1953, immer wieder mit der Kunst der Abstraktion und der Informellen Malerei auseinandergesetzt.51 Seine kritische Sicht einer Kunst, die das Verhältnis einer „authentischen“, „umfassenden“ Beziehung zwischen dem Darstellenden und dem Dargestellten (Realismus) verloren hat und für die, anders als für den „Immaterialismus“ der abstrakten Malerei der Moderne, der auf den Anlass des Ausdrucks verzichtet, der Ausdruck als „ästhetisierender Automatismus“ (Informell, abstrakter Expressionismus) zum eigentlichen Problem der Darstellung wird, hat Beckett in seiner Auseinandersetzung mit der Malerei von Bram van Velde beschrieben. Diese mache „aus diesem unmöglichen und notwendigen Akt einen Akt des Ausdrucks, und sei es auch nur seiner selbst, seiner Unmöglichkeit, seiner Notwendigkeit“, der das Scheitern mitdenkt.52
51 Vgl. Lois Oppenheim: The Painted Word. Samuel Beckett’s Dialogue with Art. In: Ann Arbor, Mich.: The Univ. of Michigan Press 2000; Michael Glasmeier/Gaby Hartel (Hrsg.): Samuel Beckett: Das Gleiche noch mal anders. Texte zur Bildenden Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. 52 Vgl. Samuel Beckett: Bram van Felde. In: Glasmeier/Hartel: Samuel Beckett: Das Gleiche noch mal anders, S. 48f. 177
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Ohne spekulativ zu werden, kann man von einer Zeitgenossenschaft und von einer Verwandtschaft der künstlerischen Bestrebungen sprechen, die die Arbeiten der Künstler des Minimalismus mit dem Werk von Samuel Beckett verbindet. Aufzuführen wäre in diesem Zusammenhang vor allem die Infragestellung von „idealistischen“, symbolischen Werten zugunsten der konkreten Präsenz und Faktizität der Körper und Objekte und der dezidierte AntiIllusionismus und Anti-Psychologismus zugunsten einer „Literalness“ (Buchstäblichkeit) der körperlichen Handlungen, sowie die Auseinandersetzung mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung, in der der Betrachter das Kunstwerk nicht mehr aus der Distanz als eine „andauernde zeitlose Gegenwart“, sondern in einem situativen Kontext als Prozess erfährt. Es sind eben diese so beschriebenen Eigenschaften einer neuen Kunst, die Michael Fried 1967 in seiner unter dem Titel Art and Objecthood in der Zeitschrift Artforum erschienenen Polemik gegen die Minimal Art abwertend als „paradigmatisch theatralisch“ bezeichnet hat.53 Die Ausstellung Samuel Beckett/Bruce Nauman in der Kunsthalle Wien (2000) hat diese und andere Korrespondenzen zu dem Werk Becketts in einem „Parcours von Anspielungen, Verweisungen, Durchdringungen“54 am Beispiel des Bildhauers, Performers und Videokünstlers Bruce Nauman herausgearbeitet. Bruce Nauman hat die Fragestellungen einer „theatralischen“ oder „performativen“ minimalistischen Skulptur, der ein radikal verändertes Verhältnis zum Betrachter zugrunde liegt, auf die Ebene der Videoperformance übertragen. Abbildung 2 soll dies verdeutlichen:
53 Vgl. Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit. In: Stemmrich: Minimal Art, S. 334-374. 54 Vgl. Gerald Matt/Sabine Folie: Vorwort. In: Glasmeier: Samuel Beckett, Bruce Nauman, S. 7. 178
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Abbildung 2: Standbilder aus Nauman Slow Angel Walk (Beckett Walk) 1968/69. In einigen seiner Arbeiten hat Nauman sich auch ganz konkret auf Beckett berufen. So z.B. in Slow Angel Walk (Beckett Walk) (1968), einer Videoperformance, in der der Künstler mit seinem Körper eine Abfolge von Bewegungen vollzieht, die etwas Zwangsläufiges besitzt, die nach einem festen Muster, einem Schema, vergleichbar einer Versuchsanordnung, verläuft, ohne Sinn und Ziel. Es ist die Präsenz der Handlung und die Dauer, der schlichte, präzise Ablauf der Handlung, der (als einziges) tatsächlich Gegebenes konzediert werden kann. Einer Handlung, die an die vielzitierte Passage in Becketts Molloy und das Verteilen der vier mal vier Steine von der rechten Manteltasche zur linken Hosentasche zur rechten Hosentasche etc.55 und, mehr noch, an Watt erinnert, dessen Gang Nauman in Slow Angel Walk (Beckett Walk) aufnimmt und in seine künstlerische Selbstinszenierung überführt: Watts Gewohnheit, geradewegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, dass er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte […] und so weiter, immer und immer wieder, viele, viele Male, bis er sein Ziel erreichte und sich hinsetzen konnte.56
55 Samuel Beckett: Molloy. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1954, S. 81ff. 56 Samuel Beckett: Watt. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. II.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 234f; vgl. Christine Hoffmann: „…Ohne Hier, Ohne Da“. In: Glasmeier: Samuel Beckett, Bruce Nauman, S. 72. 179
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Naumans Beckett Walk, Becketts Gang Watts sind Handlungen, wie Versuchsanordnungen, wie ein Spiel ohne übergeordneten Sinn, in denen das „wohin“ der Handlung zurücktritt gegenüber der Spannung zwischen dem „was“ und dem „wie“, der Faktizität und der Performanz der Handlung. Und die wir auch in den Clownsspielen in Warten auf Godot wieder finden oder in den rhythmischen Bewegungen von Quadrat I und II. Die Choreographie ist bis ins Detail festgelegt (Abb. 3), den Übungen liegt eine strenge formale Ordnung zugrunde. Naumann wie Beckett haben Skizzen zu ihren Choreographien gezeichnet, die das mathematisch-visuelle Schema anschaulich machen.57
Abb. 3 Typoskript zu Beckett Quadrat I und II (1981), Diagramm der Spielfläche Anja Osswald vergleicht Becketts „Helden“ und den Performer Nauman in seinen Videos mit „Figuren in einem Schachspiel, die sich in streng strukturierten und nach einer immanenten Logik funk-
57 Vgl. Bruce Nauman: Beckett walk diagramm II. Right leg swings and stepps/left pivot and/step/first/swing to r[ight] 3 times/repeat (19681969) (Abb. in Glasmeier: Samuel Beckett, Bruce Nauman. a.a.O., S. 161); Samuel Beckett: Watt, Notizbuch 4, S. 125 (Abb. ebd., S.172); ders.: Manuskriptseite 3 zu He Joe (Abb. ebd., S. 177); ders.: Typoscript zu Quadrat I und II, Diagramme der Spielfläche (Abb. ebd., S. 190). 180
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tionierenden Systemen bewegen“.58 Becketts Figuren wie Naumans Selbstinszenierungen sind nicht auf die Repräsentation von Individuen gerichtet. Die Handlung Naumans in Slow Angle Walk (Beckett Walk) und anderen Videoperformances sind reine KörperHandlungen, in denen der Körper als „specific object“59 agiert. Nauman akzentuiert die Bewegung und die Faktizität seines Körpers „an sich“. Für diese Handlung hat Nauman die folgende Studie (Abb. 4) zu Slow Angle Walk entworfen:
Abbildung 4: Bruce Nauman Ohne Titel (Studie zu Slow Angle Walk), auch bekannt als Beckett Walk Diagram II 1968-69, Graphit und Farbstift auf Papier, 21,6x27,9 cm Die „Literalisierung“ der körperlichen Handlung und Gesten enthält sich jeglicher Form des emotionalen Ausdrucks, sie zeigt Motion statt Emotion. Dies verbindet Naumans Konzeption einer „neutral“ oder „task performance“60 auch mit Becketts Vorstellung des Spiels
58 Anja Osswald: Sexy Lies in Videotapes. Künstlerische Selbstinszenierungen im Video um 1970 bei Bruce Nauman, Vito Acconci, Joan Jonas. Berlin 2003. 59 Zum Begriff des Körpers als „specific object“ vgl. ebd. S. 81-96. 60 Bei der „neutral performance“ oder „task performance“ bzw. „tasklike-activity“, die von den Vertretern des Minimalismus entwickelt wurde, handelt es sich um eine physiologische und psycho-mentale Praxis der Performance, die auf Entpsychologisierung, Ereignislosigkeit und Wiederholung isolierter Aktionen beruht. In einer Art Ver181
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der Figuren in seinen Stücken. Die Fernsehstücke wie die frühen Dramen verzichten nicht nur auf die herkömmliche Gestaltung fest umrissener Charaktere und dialogisch motivierter Handlungen. Die Situation des Spiels (der Gedanken, der Pantomime, der Sprache), die szenische Aktion und das dialogisch/monologische Sprechen erhalten, ebenso wie Wiederholungen und Pausen etc., einen dramaturgischen Eigenwert. Die Handlungen und Dialoge/Monologe sind nicht psychologisch motiviert, sie schildern allgemeine menschliche Verhaltensweisen und eine Zuständlichkeit, z.B. den Zustand des Wartens, den Zwang zu sprechen, den Drang zum Spiel, und werden als das, was sie sind, vorgeführt. Wie z.B. in He Joe das Ziehen der Vorhänge und Schlurfen der Schritte und der Ausdrucks des Gesichts „Joes“ allein darstellen, was er tut, und die „Stimme“ nicht ausdrückt, was sie sagt, wobei deren Monotonie und die sich durch sie artikulierende „Leere“ in ein subtiles Spannungsverhältnis zum obzessiven und exzessiven Charakter der Handlung tritt. Gilles Deleuze hat in seinem 1992 erschienenen Essay über Quadrat I und II in dem Verhältnis exzessiver, serieller Handlung, die den Faktor der Ermüdung der handelnden Figuren einkalkuliert, zur programmatischen Ausblendung des möglichen Ziels der Handlung (hier des Ereignisses eines möglichen Zusammentreffens in der ausgesparten Mitte der räumlichen Anordnung), das Potential der Darstellung eines Raumes beschrieben, in dem sich, gerade durch die Verwehrung des in ihm angelegten Potentials (des Ereignisses), die „Erschöpfung“ erst artikuliert.61 Es bedarf der exzessiven Handlung, der Bewegung, um der Agonie, dem Stillstand, der „Leere“ Sichtbarkeit zu verleihen. „Das sinnlose Treiben dieser Wesen ist Ausdruck höchster Erschöpfung, da dieser Zustand Handeln bewusstlos macht“.62 In der Videoperformance Slow Angle Walk (Beckett Walk) wird der Körper des Künstlers zum Material einer „task performance“,
suchsanordnung wird das an die Alltagserfahrungen gebundene 1:1Prinzip der „Literalness“ plastisch-räumlicher und zeitlicher Erfahrung von Objekten und Aktionen erprobt. 61 Vgl. Deleuze: Erschöpft. In: Samuel Beckett: Quadrat. Stücke für das Fernsehen. Mit einem Essay von Gilles Deleuze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 76f. 62 Vgl. Glasmeier: Bewegter Stillstand. In: ders. Samuel Beckett, Bruce Nauman, S. 151. 182
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deren Dauer allein von der Länge des Videobandes (60 Minuten) und nicht von der Aus-Dauer des Künstlers und seines Körpers, den psychischen und physischen Grenzen des Selbst, abhängt, wie in den zahlreichen vor der Kamera inszenierten Grenz-Erfahrungen und Grenz-Überschreitungen in den Videoperformances dieser Zeit. Wenngleich die Ermüdung des Körpers des Künstlers gleichermaßen absehbar und Teil der Übung ist, so bleibt das Ereignis der körperlichen Erschöpfung, der Abbruch der Aktion und der Umschlag körperlicher Aktion in ihre Negation ausgespart. Jener Moment, den Gabriele Brandstetter als über die Theatralisation des Körpers vermittelten performativen Prozess der „Authentifizierung“ beschreibt.63 Obwohl Nauman seine Aktion mit höchster physischer Anstrengung und psychischer Konzentration durchgeführt hat, verweigert die „Neutralität“ der Aktion jede Form der Aufladung der Vorgänge mit Bedeutung oder Emotion. Stattdessen wird die Versuchsanordnung zum absurden Test, in dem das minimalistische Prinzip der Wahrnehmung („What you see is what you see is what you see“) mit der direkten körperlichen Erfahrung konfrontiert wird. In Slow Angle Walk (Beckett Walk) wird die Koordinierung der Bewegung, ihre Orientierung am rechten Winkel, am Quadrat auf dem Boden, an der Wand, der Horizontlinie mit ihrem Abbild und dessen Begrenzung durch den rechtwinkligen Bildschirm konfrontiert. Durch die Drehung des Blickwinkels der Kamera um 90 Grad wird die an der Alltagserfahrung orientierte Wahrnehmung verrückt und irritiert, die unbeholfen („clumsy“) erscheinenden Bewegungen werden leicht, das Prinzip der Schwerkraft scheint aufgehoben. Mit der Durchführung solcher „task performances“, in der der Künstler als handelnder und wahrnehmender Körper agiert, steht Naumans Videoperformance einer Tendenz der radikalen Subjektivierung des künstlerischen Ausdrucks und des physischen und psychischen Exzesses, der Psychologisierung und Rhetorik der durch die Performance vermittelten Erfahrung entgegen, wie sie sich in vielen Performances einer Ästhetik des „Authentischen“, der „Selbstzerstörer“ und „Selbstmörder“ in dieser Zeit zeigt (Marina Abramovic, Chris Burden, Gina Pane u.a.), aber auch zu Formen des Spektakels und des Glamours, des Trash und Camp, wie sie u.a.
63 Vgl. Gabriele Brandstetter u.a.: Freeing the Voice. Performance und Theatralisation. In: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 47ff. 183
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im Umfeld von Andy Warhols Silver Factory kultiviert wurden. Die Tendenz zur radikalen Subjektivierung des künstlerischen Ausdrucks in der Videoperformance konvergiert mit der SpiegelFunktion und der permanenten Gegenwärtigkeit des Videobildes im Video-Feedback, das das künstlerische Subjekt in einer Situation der räumlichen und zeitlichen Eingeschlossenheit (der Paranthese zwischen Kamera und Monitor) immer wieder auf sich selbst, auf seine aktuelle Gegenwärtigkeit zurückwirft – was Rosalind Krauss als „Ästhetik des Narzissmus“ beschreibt.64 Die physische und psychische Befindlichkeit des Künstlersubjekts, als Bedingung und konstitutives Moment des künstlerischen Ausdrucks im Medium, wird hier selbst zur Metapher des Sozialen. Diesen Tendenzen stellt Nauman die Irritation der Wahrnehmung und die Herstellung einer Gegenwärtigkeit, die jenseits der im Video-Medium angelegten Zeit-Schlaufe liegt, entgegen. In seinen Korridor-Installationen (Abb. 5) übertrug Bruce Nauman Situationen, die er zuvor im Studio als „task performance“ durchexerziert hat, auf die körperliche und mediale Selbstwahrnehmung des Betrachters.
Abb. 5: Bruce Nauman Corridor-Installation (1968) Der Künstler ist nicht mehr Akteur, sondern „Aktivateur“, Initiator für eine Versuchsanordnung physischen und psychischen Verhal-
64 Vgl. Rosalind Krauss: The Aesthetics of Narcissism. In: Hanhardt, Video Culture, S. 179ff. 184
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tens, in der sein künstlerisches Werk den Rahmen, die „Bühne“ stellt.65 Ebenso wie in seinen Film- und Videoperformances stellt Nauman in seinen Korridor- und Closed-Circuit-Installationen eine Situation der Erfahrung „zwischen“ der körperlichen Wahrnehmungserfahrung des Raumes und der perzeptiven Wahrnehmungserfahrung der Abbildung im Videomedium her. Über die „Mise-en-Situation“ des Videobildes, die dispositive Anordnung von Kameras und Monitoren in Relation zur umgebenden Raum-Architektur und zum Körper des Zuschauers/Betrachters wird eine Wahrnehmungssituation geschaffen, die den Betrachter unmittelbar in den Prozess der Genese des Videobildes einbezieht. Anne-Marie Duguet spricht von einem „Theater des Sehens und der Wahrnehmung“, das durch diese „Dramatisierung des Dispositivs“ entsteht.66 Die Enttäuschung und Irritation der Erwartungen des Betrachters auf der Ebene der visuellen Repräsentation wird dabei in einen Prozess der Erfahrung und Reflexion überführt. Es lassen sich durchaus Bezüge herstellen zwischen Becketts Fernsehtheater-Experimenten und „Schatten“-Reflexionen und Naumans Experimenten mit Körper, Raum und Video. Gemeinsam ist ihnen die Befragung der Transformationen des dreidimensionalen, physisch erfahrbaren Raumes in das elektronische Monitorbild, von An- und Abwesenheit, von körperlicher Präsenz und technologisch vermittelter Perzeption. Gemeinsam ist ihnen auch die Radikalität ihres künstlerischen Vorhabens. Gijs van Tuyl sieht eine Gemeinsamkeit der beiden Künstler in der „condition humaine“, die sich in Ihren Arbeiten artikuliere.67 Bruce Nauman ist mittlerweile einer der einflussreichsten Künstlers Amerikas. 1993 bis 1997 wurden ihm große Einzelausstellungen in Europa gewidmet, 1995 fand eine große NaumanRetrospektive im New Yorker MOMA statt. Nauman ist heute die „Vaterfigur“ für die Genealogien so unterschiedlicher Künstler wie Damian Hirst, Mike Kelley, Matthew Barney, Kiki Smith u.a. Ge-
65 Vgl. Richard Amstrong: Between Geometry and Gesture. In: Richard Amstrong/Marshall, The New Sculpture 1965-75, S. 16ff. 66 Anne-Marie Duguet: Dispositifs. In: Anne-Marie Duguet/Raymond Bellour: Vidéo. Communications 48, 1988, S. 277ff. 67 Gijs van Tuyl: Condition Humaine/Corps Humain. Bruce Nauman und Samuel Beckett. In: Bruce Nauman, Image/Text. 1966-1996. Ostfildern-Ruit: Cantz, 1997, S. 61-75. 185
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meinsam ist ihm mit Samuel Beckett der „Deep Impact“, den seine Arbeiten auf die Künstler der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart ausgeübt haben.68 Mit seinen Plays for Television weitete Beckett die Bühne ins Fernsehen aus. Mit seinem Fernsehtheater wurde er zugleich zum Protagonisten für eine andere Szene: der ästhetischen Exploration des Theatralen im elektronischen Medium in Formen der Videoperformance- und -installation, aber auch des Videotheaters und der Video-Erzählung sowie neueren Formen der digitalen Videoproduktion. In der Ausstellung The Arts for Television (1987) des Museum of Contemporary Art, Los Angeles und des Stedelijk Museum, Amsterdam wurde Samuel Becketts He Joe von der Kuratorin Dorine Mignot erstmals als Vorläufer einer neuen Tendenz des Videotheaters in der Kunst vorgestellt.69 Ein Jahr später, 1988, kuratierte der kanadische Künstler Stan Douglas eine Ausstellung über Samuel Becketts Teleplays.70 In seinen TV-Miniaturen und Minidramen, z.B. den Television Spots (1987/88) und den Monodramas und Loops (1992), die auch im Fernsehen gesendet wurden, greift er Becketts ästhetischen Ansatz in seinen Teleplays auf, indem er die ästhetische Fragestellung entlang spezifischer medialer Produktionsmodelle (TV, Hollywood) und ihrer spezifischen Parameter entwickelt. Becketts Fernseh- und Theaterarbeiten sind hier Vorbild für die Entwicklung einer neuen Tendenz des Narrativen in der Videokunst, die sich kritisch auf die kulturell dominierenden Formen der Erzählung und des Dramas in den Massenmedien bezieht. Auf der von Catherine David kuratierten Documenta X (1997) in Kassel war Beckett erstmals mit Quadrat I und II in Hans-Jürgen Syberbergs umstrittener Installation Cave of Memory (1997), einer Hommage an die Wort-Bild-Ton-Künstler Beckett, Mozart, Goethe, Kleist und Schleef, vertreten. Und auch die Arsenale-Ausstellung der 51. Biennale in Venedig 2005 bedachte Beckett mit einer Hommage, die der griechische Künstler Nikos Navridis in seiner Videoinstallation Breath (2005) ausführte. Einer Sound- und Bildprojek-
68 Vgl. Gerald Matt/Sabine Folie: Vorwort. In: Glasmeier, Samuel Beckett, Bruce Nauman, S. 6. 69 Dorine Mignot: Video and Theatre. In: Huffmann/Mignot (1987), The Arts for Television. a.a.O., S. 30ff. Amsterdam: Stedelijk Museum 1987. 70 Samuel Beckett: Teleplays. Vancouver: Vancouver Art Gallery 1988. 186
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tion eines Müllbergs, die sich im Raum ausbreitet und wieder verschwindet, den Betrachter/Zuschauer im Raum körperlich umhüllt, ergreift. Auch der umstrittene Turner-Preis-Träger Damien Hirst hat sich mit Breath bereits 2001 Becketts komprimiertestem Theaterstück, das weniger als eine Minute (45 seconds) dauert, gewidmet und es in einen digital animierten Bildwitz transformiert.71 Samuel Becketts crazy inventions for television sind mittlerweile in den Kanon der Bildenden Kunst aufgenommen. Das zeigt auch die Ausstellung 40 Jahre Videokunst (2006), in der die Originalfassung von He Joe aus dem Jahr 1966 neben anderen „Klassikern“ der Fernseh- und Videokunstgeschichte gezeigt wurde.72 Einzigartig ist die Radikalität der Reduktion und der Reflexivität von Becketts „Fernsehtheater“. Beckett hatte einen Freiraum für das ästhetische Experiment im Fernsehen, der heute selbst bei einem Kultursender wie arte oder 3Sat nicht mehr denkbar ist. Im Kontext des heutigen Spektrums medialer Produktionen – im Fernsehen wie auch in der Kunstausstellung – mögen die Fernseharbeiten Samuel Becketts wie Relikte der „Steinzeit des Fernsehens“ wirken, die in einem „post-modernistischen Zoo“ ausgestellt sind, wie Eckhardt Voigts-Virchow kritisch bemerkt hat, als eine „Kampfansage“ gegen seinen oberflächlichen Glanz.73 Die Wieder-Entdeckung Becketts durch eine neue Generation von Künstlern wird unter diesem Gesichtspunkt noch zu beobachten und zu bewerten sein.
71 Beckett on Film (2001), eine Koproduktion von Radio Telefis Eirann und Channel 4 u.a. mit Theater- und Filmregisseuren wie z.B. Atom Egoyan und Karel Reisz und Künstlern, u.a. Damien Hirst. 72 Rudolf Frieling/Wulf Herzogenrath (Hrsg.): 40 Jahre Videokunst.de. Digitales Erbe: Videokunst in Deutschland von 1963 bis Heute. Ostfildern-Ruit: Cantz 2006. 73 Virchow Voigts: Exhausted Cameras: Beckett in the TV Zoo. In: Jennifer Jeffers (Hrsg.): Samuel Beckett: A Casebook. Levittown: Garland 1998, S. 227. 187
VON CALIGARI BIS RONDINONE. B E C K E T T S S T U MM F I L M R E Z E P T I O N A L S A N R E G E R N E U E ST E R V I D E O K U N S T GABY HARTEL
Die fruchtbare Brisanz von Becketts Werk für die bildenden Künste ist zwar relativ spät erkannt worden, doch sie wurde pünktlich zur Jahrtausendwende publik gemacht. Mit der Ausstellung „Samuel Beckett/Bruce Nauman“ in der Kunsthalle Wien fing es 20001 an und wie unsere Zeiten so sind, hat dieser Zusammenhang nun den Status eines offenen Geheimnisses erreicht. So tauchten 2006, im Jubeljahr seines hundertsten Geburtstags, Becketts Prosawerke und die Filme, ja sogar sein berühmtestes Stück Warten auf Godot auf den Lehrplänen der Kunsthochschulen ebenso auf wie in den kulturellen Begleitprogrammen der Kunsthallen. Das ist erfreulich, denn Samuel Becketts Ästhetik, seine Konzentration auf das „innere Auge“, sein diskreter, medienübergreifender Einsatz von Grisaille wie auch seine spezielle Bildersprache scheinen inzwischen eine eigene Tradition geprägt zu haben, an der sich bildende Künstler schulen, sich orientieren und sich manchmal auch bedienen. Aus einer Fülle der von Becketts Bildkosmos angeregten oder in ihm agierenden Video- und Installationskünstler möchte ich vier herausragende Vertreter herausgreifen. Es sind: Bruce Nauman, Tony Oursler, Ugo Rondinone und Stan Douglas. Bruce Nauman (Jahrgang 1941) ist der älteste wie prominenteste unter ihnen und hat sich somit als erster dezidiert zum starken Einfluss seiner Beckett-Lektüre geäußert. Es war aber nicht die konkrete Visualität der Theaterstücke, sondern die von geloopten Unsinnsstrukturen und messerscharfen mentalen Bildern durchzogenen Romane, die Naumann las, als er in den Sehzigerjahren aus dem 1
Michael Glasmeier, Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman. Kunsthalle Wien: Wien 2000. 189
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damals die Kunst dominierenden Umfeld des reinen Konzeptualismus heraustrat und den Skulpturbegriff auf den Kopf stellte. Er tat dies, indem er „soft issues“ einführte, etwa den Körper des Künstlers, den ihn umgebenden (Atelier)Raum wie das sich mit seinem Körper durch den Raum bewegende „Ich“. Naumans Arbeiten ähneln seither mehr einem Tanz-, Körper-, Raum- oder Gegenstandstheater, und 2005 beeindruckte er die Besucher der gigantischen Turbinenhalle der Londoner „Tate Modern“, indem er den immensen Raum einzig mit der Aufnahme einer körperlosen Stimme bespielte und belebte. Hier kommen „diskrete Energien“ (Michael Glasmeier) zum Einsatz, wie sie Beckett nicht schöner hätte erfinden können. Angeregt von seiner Beckett-Lektüre eroberte Nauman auch immaterielle Kategorien als bildhauerisches Material: verfließende Zeit, klaustrophobische Enge, Langeweile, schier endlose „Übungen im Wiederholungsraum“ (wieder Glasmeier) sowie Selbstbeobachtung und Zuschauerinklusion. Das sind allesamt Kategorien, die aus der heutigen (Video)Installationskunst nicht mehr wegzudenken sind. In den Videoskulpturen Tony Ourslers (Jahrgang 1957) wird vor allem die ikonographisch-atmosphärische Ähnlichkeit zu Beckett spürbar, die selbst aus den unbewegten Reproduktionen seiner Arbeiten deutlich wird, wie ich meine. In den abgetrennten Köpfen seiner Videoskulpturen, die uns aus oft erschreckend irrealen Körper-, Objekt- und Raumkombinationen ansprechen, schimmert eine Ähnlichkeit auf zum beunruhigenden Displacement der in ihre Einzelteile zerlegten Beckettschen Personage, die uns mal nur als Kopf, mal als Mund oder „Raubauge“ aufschreckt. Hier sieht man im Vergleich, dass Comédie (1966), der immer noch wenig bekannte zweite 35-mm-Film des Autors, sehr zu Recht im Jahr 2001 einen Videokunstpreis auf der von Harald Szeemann ausgerichteten Biennale in Venedig erhielt, und derzeit (2007) von einer Berliner Galerie als Videoarbeit vertreten wird. Der Schweizer Ugo Rondinone (Jahrgang 1964) ist ein Vertreter der jüngeren, literarisch gebildeten Künstlergeneration, der sich explizit auf Becketts Bild- und Formensprache bezieht und seine Verehrung für den Autor ausdrückt, indem er seine Ausstellungen nach dessen Werken oder Textzitaten benennt, wie: now how on (Kunsthalle Wien 2002), Roundelay (Centre Pompidou 2004) oder Lessness (Galérie Almine Rech, Paris 2004). Doch mehr zu ihm später.
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Stan Douglas (Jahrgang 1960) ist es schließlich zu verdanken, dass der Nobelpreisträger noch zu Lebzeiten auch als bildender Künstler in Erscheinung trat. 1988 zeigte der damals 28-jährige begeisterte Beckettleser Douglas erstmals die wenig bekannten Filmund Videoarbeiten des Schriftstellers in einer Kunsthalle, der Vancouver Art Gallery2. Laut eigenen Aussagen zählt Becketts Fernsehgedicht Not I (1976) zu den Lieblingskunstwerken von Douglas, so dass es kaum überrascht, wenn man in seiner neuesten Arbeit Vidéo (Centre Pompidou 2007), einer Hommage an Becketts Film, nicht nur eine vergleichbare Atmosphäre des im Ungewissen Suchenden aufspürt, sondern auch Becketts strukturelles Markenzeichen der variierten Wiederholung. Bevor ich mich nun weiter mit diesen vier Künstlern in ihrer Verbindung zu Beckett beschäftige, will ich Ihnen meine These vorstellen. Sie lautet: einige formale Aspekte, die jüngere Video- und Installationskünstler an Beckett interessant finden, hat dieser selbst dem Stummfilm abgeguckt, ganz besonders dem deutschen Stummfilm, der in den prägenden Jahren der Bildungsbiografie des Autors besonders wichtig war. Ich erweitere damit auch Peter Weibels Beobachtung aus der Frühzeit der Videokunst, in der er die Prinzipien des Avantgardefilms für das „Video Tape Recording“ (Weibel) geltend machte.3 Diese Prinzipien sieht er vor allem in der Verweigerungshaltung gegenüber dem Unterhaltungsfilm begründet – es gibt in unserem Fall jedoch noch darüber hinausgehende, motivische und strukturelle Überschneidungen. Um Becketts ästhetische Position zu umreißen, blende ich siebzig Jahre zurück. Damals, d.h. in den ersten Monaten des Jahres 1936, saß ein, für damalige Verhältnisse, nicht mehr ganz junger Mann kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag scheinbar ziellos, sicher aber anstellungslos unter den Augen seiner Mutter herum. Er hatte eine viel versprechende Laufbahn als Universitätslehrer aufgegeben und machte wenig Anstalten, eine andere bürgerliche Karriere anzustreben. Sein künstlerisches Kapital belief sich auf eine Monografie über Marcel Proust (1931), einem unveröffentlichten Roman (1932), einen Band von Erzählungen (1934), zudem einem Ly-
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Samuel Beckett: Teleplays. Vancouver Art Gallery: Vancouver 1988. Peter Weibel: Zur Philosophie von VT &VTR. In: heute Kunst, Nr. 45, Dez. 1973 - Febr. 1974. 191
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rikpreis (1930), sowie mehrere Essays und Übersetzungen in der ambitionierten englischsprachigen Pariser Literaturzeitschrift transition. Gerade quälte er sich mit seinem neuen Roman Murphy ab, und schrieb am 25.3.1936 an seinen Freund Thomas MacGreevy: Murphy goes from bad to worse. I have written to Eisenstein asking him would he take me on at the Moscow State Institute of Cinematography if I went over. I have had no reply. Shall probably go soon whether or not.4
Beckett war also nicht ganz so apathisch, wie seine Mutter ihn wahrnahm. Er suchte tatsächlich Auswege aus der Sackgasse, und wenn seine Schreibhemmung unerträglich wurde, wanderte er kilometerweit mit wachem Auge durch Stadt und Umland und ließ die bewegten Bilder an sich vorbeiziehen. Oder er versenkte sich in den Räumen der Dubliner National Gallery stundenlang in seine Lieblingsgemälde. Oder er versackte ganz einfach im Pub. Aber selbst dort war sein Blick wendig, und aufmerksam auf die Gesichter, Szenen und optischen Eindrücke der Stadt gerichtet, wie wir in seiner frühen Prosa nachlesen können. Auch das Kino war ein lebenswichtiger Fluchtweg – und zwar ein sehr konstruktiver, wie sich von heute aus sagen lässt. So wie er las – durchaus high und low vermischend – so sah er sich auch Filme an. Ein Blick auf die Liste der während seiner Deutschlandreise (1936/37) gesehenen Titel enthüllt eine wilde Mischung: von Der Verräter über die Meuterei auf der Bounty, zu San Francisco oder dem Propagandaschinken Weiße Sklaven (der ab 1940 Die rote Bestie hieß).5 Meist ist der auch in filmischen Dingen geschmackssichere Beckett nicht begeistert – aber er schaut sich genau an, was man in Hollywood oder Babelsberg für ein Massenpublikum dreht. Wie Becketts Biografen von Deidre Bair bis James Knowslon6 berichten, studierte der junge Mann in Dublin, Berlin oder Paris bei
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Wenn nicht anders angegeben, befinden sich die von mir zitierten Briefe im Manuscript Deparment des Trinity College Dublin. Samuel Beckett: German Diaries, Notizbücher 1,2,3,6. Ich danke dem immer großzügig helfenden Mark Nixon für diese Information. Deirdre Bair: Samuel Beckett. A Biography. New York: Harcourt Brace Jovanovich 1978. James Knowlson: Damned to Fame. A Life of Samuel Beckett. London: Simon and Schuster 1996. Gaby Hartel, 192
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seinen Besuchen der Lichtspiele die Kunstgriffe der Macher, die Fähigkeiten der Schauspieler und die Anwendung der Filmsprache. Schon am 29.1.1936 wird klar, dass er aus diesem Interesse einen Beruf machen will. Beckett schreibt in einem Brief an MacGreevy: I met one Fitzgerald, cinematography expert [...]. He was very nice and showed me a little film on a pillow cover. He has a good 16mm camera and projector and seems to know a lot about the actual tricks of photography. Mais pauvre en génie. And no interest in montage. How should one set about getting into a good studio or even a bad one simply to pick up the trade?
An den Schlagwörtern montage oder génie – letzteres mag sich auch auf den Fachbegriff aus dem französischen Experimentalfilm, fotogénie, beziehen -, sehen wir, dass der junge Filmfan seine Hausaufgaben gemacht hat. „Montage“ ist das zeitgenössische Zauberwort der Filmproduktion und bezieht sich auf die Kunst, intersubjektive Verbindungen zwischen Filmemacher und Publikum zu schaffen und damit die Möglichkeit, objektive und subjektive Wirklichkeiten mit einander zu verbinden.7 Erkenntnisse aus Wlsewolod Pudowkins Ästhetik scheinen uns bei der Lektüre des späteren Beckett auf Schritt und Tritt zu begegnen wie etwa die folgende: „The particular, the detail, will always be a synomym of intensification.“8 Am 29.1.1936 berichtet Beckett von seinen Versuchen, sich wenigstens ins Fach einzulesen, wo er schon, wie wir eben gehört haben, keine Möglichkeiten einer praktischen Ausbildung sieht. Er schreibt an MacGreevy: I borrowed a lot of works on cinema from young Montgomery...: Pudovkin, Arnheim and backnumbers of „Close-Up“ with stuff by Eisen-
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Carola Veit: Samuel Beckett. Basisbiografie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. Vgl. Gaby Hartel: No Stone Unturned. Samuel Beckett sucht und findet ästhetische Anregungen im frühen deutschen Film. In: Therese Fischer-Seidel/Marion Dieckmann (Hrsg.): Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur. Suhrkamp: Frankfurt/M. 2005. Vgl. Hartel: „…the eyes take over…“. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. 193
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stein. How I would love to go to Moscow and work under Eisenstein for a year. Then one would be beautifully qualified for exertions on another plane…9
Was er da lernen wolle, fragt sein Freund und Beckett antwortet: „What I would learn under a person like Pudovkin is how to handle a camera, the higher chores of the editing bench, zoom, of which I know as little as of quantity surveying.“10 Es ist also das Handwerk, die technische Herstellung einer Bildsprache, die ihn interessiert: Kameraführung, Schnitt, Zoom. Während der sprachkritische Schriftsteller Beckett über den vitalisierenden Einfluss des Films auf sein Leben nachdachte, wusste er wohl, dass dieser Schritt vom Autor zum Filmmenschen kulturhistorisch nicht ganz neu war. Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin oder Heinrich Mann verfassten aus eben diesem Grund Drehbücher, und auch die Avantgardisten in Frankreich oder England hatten seit 1906 bereits in mehreren Kinodebatten die Veränderung von Kunst und Literatur durch das neue Medium diskutiert. „Basis für alle neue Kunst ist das Kino“, schrieb etwa Ivan Goll 1920.11 Und auch Virginia Woolf sah 1926 die Zukunft des Kinos als Kunst gerade nicht im Abfilmen traditioneller Theater- und Romanstoffe, sondern im Herstellen von symbolhaften Schattenfiguren und ausdruckstarken Atmosphären, die einen spontanen Konnex zum Unbewussten des Publikum herstellen könnten und es somit vielleicht sogar tiefer berühren als ein sprachliches Kunstwerk.12 Auch der von Beckett bewunderte Proust orientierte sich stark an der Fotografie und verstand das Werk des Schriftstellers „als eine Art optische(s) Instrument, das er [der Autor] dem Leser anbietet, damit dieser etwas in sich erkennen kann, was er ohne dieses Buch vielleicht nicht in sich gesehen hätte.“13
9 Brief vom 29.1.1936. 10 Brief vom 6.2.1936. 11 Ivan Goll: Das Kinodrama. In: Die neue Schaubühne 2, Heft 6, Juni 1920, S. 142. 12 Vgl. Virginia Woolf: The Cinema. In: A. McNeillie (Hrsg.): The Essays of Virginia Woolf. Band 4, 1925-28. London: Paperback 1994. 13 Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit, zitiert aus: Hartel: „…the eyes take over…“, S. 94. 194
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So versprach sich der dreißigjährige Beckett von seiner Beschäftigung mit dem Film wohl ebenfalls einen Ausweg aus der biografischen wie künstlerischen Sackgasse. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Beckett schon 1929 (also sieben Jahre bevor er konkrete Gedanken zum Film aufschrieb) in seiner ersten Publikation über Joyce für eine authentische, vitale, gestische, ja regelrecht körperliche Sprache eingetreten war. Allesamt Qualitäten, die für den Film unerlässlich sind. Beckett muss so intensiv über die Analogien zwischen Schreiben und Filmen nachgedacht haben, dass er im März 1936 spontan eine strukturelle Parallele zwischen Eisensteins Film Die Generallinie (1926-29) und dem Gedicht eines Freundes zog: One [poem] in which the rhyme mouth-drouth occurs repeatedly like the bull let loose among the cows in Eisenstein’s General Line, a reference which I confess only occurs to me this moment […].14
Wie bereits erwähnt stand der Namen Eisenstein schon seit zwei Monaten im Raum, wenn der Autor über künstlerische Fluchtmöglichkeiten nachdachte, aber nun war er von der Sehnsucht zur Tat geschritten und hatte sich am Moskauer Staatsinstitut für Cinematographie beworben. In diesem Schreiben empfiehlt er sich nicht nur als „serious cinéaste, worthy of admission“, er hebt auch sein Verständnis der Sprache als sekundär, als Mittel zum Zweck, hervor wenn er schreibt: „it is because I realize that the script is function to its means of realization that I am anxious to make contact with your mastery of these.“15 Wie eng Beckett tatsächlich mit den Debatten der Zeit vertaut war, zeigt vor allem seine Hervorhebung des Stummfilms als Filmkunst. Gern zitiert wird ja der Brief an MacGreevy vom 6.2.1936, in dem Beckett hofft, that a backwater may be created for the two-dimensional silent film that had barely emerged from its rudiment when it was swamped. Then there would be two separate things and no question of a fight between them or rather a row. 14 Brief an Arland Ussher, 25.3.1936 Harry Ransom Humanities Research Center, the University of Texas at Austin. 15 Jay Leyda (Hrsg.): Eisenstein 2. A Premature Celebration of Eisenstein’s Centenary. London: Dobson 1988. 195
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Was weniger bekannt ist: für diesen Gedanken könnte der deutsche Filmtheoretiker Rudolf Arnheim Pate gestanden haben, den Beckett nach einen Aussagen 1936 las. Arnheim hatte geschrieben, dass die zeitgenössische Entwicklung im Film „dabei zu sein [scheint], die schönen Möglichkeiten des bewegten Bildes durch den gesprochenen Dialog an ihren weiteren Wirkungsmöglichkeiten zu hindern“. Weiter beklagt er, dass die künstlerisch so wertvolle, vom Stummfilm entwickelte Bildsymbolik nun bald so überflüssig werde wie das merkwürdig aufgeladene Raumerleben der materiellen Welt durch die Stummheit. Dabei beziehe der Film doch „nach wie vor aus der Bildwirkung seinen stärksten Ausdruck.“16 Diese Studie konnte wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nicht mehr in Deutschland erscheinen und wurde 1936, in englischer Übersetzung in England veröffentlicht. Auch Eisenstein argumentierte, dass der Stummfilm die Sinne verfeinern und schärfen könne, bis hin zu dem Punkt, an dem man „Licht zu hören und Ton zu sehen“ bekäme.17 Beckett selbst hat es sich nicht nur zum Ziel gesetzt, die sinnliche Aufmerksamkeit seines Publikums zu steigern, indem er mit einer Poetik des sich auflösenden Bildes arbeitete. Er zitiert meines Erachtens auch Eisenstein direkt, wenn er in seinem Hörspiel Cascando zu erhöhter Sensibilität auffordert, indem der von Stimmen verfolgte Protagonist Henry beschwörend „listen to the light!“ ausruft. Was Beckett zusammen mit der zeitgenössischen Avantgarde der Praktiker und Theoretiker am Film reizte, war der direkte Zugriff auf Körper und Psyche des Zuschauers. Das direkte optische Erleben, so hoffte man, verhindere eine bequeme, träge Rezeption, und erlaube es, über die Schaulust der Menschen und ihre wahrnehmenden Körper die Emotionen und das Irrationale zu erreichen. Beckett blieb seinen früh gefunden ästhetischen Überzeugungen treu und vertraute noch Jahre später, als er längst auch selbst Filme machte, der Schauspielerin Jessica Tandy an: „I’m not unduly concerned with intelligibility. I hope this play may work on the nerves of the audience, not its intellect.“18 Im Klartext: er will das, was die
16 Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst. München, Wien: Carl Hanser 1979. 17 Zitiert aus: Jay Leyda (Hrsg.): Eisenstein 2, S. 59. 18 Über Not I, zitiert aus: Enoch Brater: Why Beckett. London: Faber 1986. 196
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Kunsterneuerer jeder Epoche wollen: den Leuten mit seinem Werk unter die Haut gehen. Das tat und tut man damals wie heute am geschicktesten über den Umweg des Populären. Egal, ob nun der Kunsthistoriker Erwin Panofsky 1936 in seinem Essay Style and Medium in the Motion Picture die Freude am „movement for movement’s sake“19 lobt und „the sheer delight that things seemed to move, no matter what the things were“20 oder ob Videokünstler von Bruce Nauman bis Stan Douglas sich die Medienerfahrung des Publikums zunutze machten, um es in die Arbeit zu integrieren. Wichtig ist: Sie alle setzen auf das bewegte Bild als Transmittor, da es immer noch, in den Worten Panofkys, vor allem eines ist: „the only visual art entirely alive.“21 Dieses Vertrauen auf die Faszination des Sehens, auf das Spiel wie das Experimentieren mit der direkten, körperlichen Wirkung des Mediums (das Befremden vor dem gespiegelten Leben, das Erschaudern vor der Begegnung mit dem eigenen Schatten, später das unerwartete Spiel mit übergroßen Geräuschen oder Musik im sonst eher stummen Filmraum), bleibt auch in Becketts anspruchsvollen Kunstfilmen bestehen. Walter Benjamin charakterisierte das in der Frühzeit des Films neu entdeckte Körper-, Raum- und Sehgefühl als etwas, das den Betrachter mit neuen Aspekten beschießt, wobei, so Benjamin, das „ablenkende […] Element [des Films ein] taktiles [ist].“22 „Bildliche Taktilität“: Das ist kein Paradox für jemanden wie Beckett, der gern im Zwischenreich des „l’oeil-main“ schrieb. Wichtig ist für Benjamin, dass die „chocartigen“ Sensationen des Films den eigenständigen, geistigen Assoziationsfluss des Zuschauers durchbrechen, ihn so in den Film hinein ziehen und damit zum Mitspieler machen. Der Betrachter wird Teil und Mitausführender des Kunstwerks – auch dies eine entscheidende Sache in Becketts Oeuvre wie in der von mir erwähnten Videokunst. Ist es eben dieser Effekt den Bruce Nauman meint, wenn er auf von seiner Kunst er-
19 Erwin Panofsky: Style and Medium in the Motion Pictures. In: Erwin Panofsky: Three Essays on Style. Hrsg. von Irving Lavin Cambridge/Mass.: MIT 1997, S. 91-129. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. 197
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wartet, sie möge den Betrachter treffen „wie ein Schlag ins Genick?“23 Auch wenn mir der Gestus der gleiche zu sein scheint, steige ich hier so weit zurück in die Filmgeschichte, für den Fall dass uns heutigen Filmkonsumenten dieses mediale Urgefühl, mit dem eben auch die zeitgenössische Videokunst spielt, vielleicht abhanden gekommen ist. Beckett fühlte sich wohl in Deutschland, dem Land, in dem er nicht nur bei ihm sehr nahe stehenden Verwandten kurzfristig eine Wahlheimat fand. Es war auch das Land, auf das man bis in die frühen Dreißigerjahre schaute, um zu sehen, wie sich die Filmkunst entwickelte. Manchmal wurde der junge Ire regelrecht sentimental beim Gedanken an Deutschland, wie 1932 um die Weihnachtszeit, als ihn etwas befiel, das er sein „German fever“ nannte. Damit meinte er die ganze „Brothers Grimm-machinery“:24 rote Kirchtürme, Tannenbäumchen, Bierfahrten im Schnee, und homerische Abenddämmerungen. Was Beckett hier ironisch umreißt, ist eine Sache, die ihm durchaus etwas bedeutete: Die emotionale Intensität und das suggestiv Atmosphärische einer von der deutschen Romantik geprägten Empfindsamkeit.25 Das sind allesamt Topoi auch des expressionistischen deutschen Stummfilms, der in Becketts Gesamtwerk immer wieder in Anspielungen auf Kamera, Lichtsetzung, Dramaturgie, Personage auftaucht. Wir kennen das aus Becketts Fernsehfilmen und aus den suggestiven Videoinstallationen Ugo Rondinones, den beklemmenden Verfolgungssituationen Stan Douglas’ oder der grotesken Bedrohlichkeit der Dingwelt eines Tony Oursler. Welche Filme Beckett außer den in seinem deutschen Tagebuch erwähnten gesehen haben mag, ist noch nicht bis ins Einzelne bekannt. Doch musste ein serious cinéaste und Leser der ambitionierten Filmzeitschift Close-up, jemand der Eisensteins Generallinie kannte, auch Klassiker wie Metropolis (1926) oder Das Cabinett des Dr. Caligari (1919/20) (Abb. 1) gesehen haben. Immerhin geht
23 Vgl. Michael Glasmeier/Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman, S. 13. 24 Beide Zitate: Brief vom 21.11.1932. 25 Ich danke Mark Nixon für die großzügig gewährten Einblicke in seine unveröffentlichte Dissertation, der ich diese Information entnommen habe. 198
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aus Becketts Hamburger Tagebuch von 1936 hervor, wie sehr seine Eindrücke nicht nur von Gemälden sondern auch von Filmen geprägt waren. Während seines Aufenthalts ging Beckett einmal zu Fuß zu den Landungsbrücken und durch den Elbtunnel. Den empfand er als „beeindruckend und alptraumhaft, vor allem die Fahrschächte (dt. im Original) […]. Und Wendeltreppen wie im expressionistischen, deutschen Film. Das ganze irgendwie kinematisch.“26 Abbildung 1: Standbild aus Wieners Caligari (1919)
Was war nun das Spezielle, das Markenzeichen des klassischen deutschen Films: eine Neigung zu innerseelischen Vorgängen und deren symbolhafter Objektivierung, dann auch die Übertragung romantischer Märchenmotive in den Film. Allgemein wichtig dabei war, dass in einem deutschen künstlerischen Film stets das Bestreben durchschimmern [wird…], Atmosphäre, […] erstehen zu lassen, sie als metaphysisch empfundene Ausleuchtung dem geheimnisvollen Helldunkel zuzugesellen. Im Grunde umfließt die Stimmung Personen wie Gegenstände. Sie bedeutet einen lang aushallenden Akkord – nicht umsonst spricht ja schon
26 Manuskript von James Knowlsons Radioessay „Beckett in Hamburg“, Radio Bremen 2000. 199
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Novalis von dem „musikalischen Seelenverhältnis“ der Stimmung, von der „Akustik der Seele“: Sie ist die mystische Harmonie im fließenden Chaos der Dinge […]
so Lotte Eisner, die Grande-Dame der frühen Filmkritik.27 Diese Stimmung tauche, so Eisner, häufig auf als nebelige, verschleierte, melancholische Landschaft oder als ein schattenverwischter Innenraum. Wir kennen diese Bilderwelten aus Becketts anspielungsreichem Chiaroscuro, den undeutlich dunstigen Landschaften und schummrigen „usual chambers“ (Beckett), die zum genauen Hinsehen auffordern oder die sich in höllischem Halblicht aufzulösen scheinen. Eher selten sind diese Atmosphären so ironisch gebrochen wie im „Molloy“, wo es heißt: „Ich mag es nicht, wenn sich die Schatten lichten, das ist mir irgendwie verdächtig.“28 Um nicht zu sehr dem Gefühl zu verfallen, setzten nichterzählende Avantgardefilmer wie Marcel Duchamp auf ein Spiel mit den physikalischen Aspekten der menschlichen Wahrnehmung und auch Beckett experimentierte mit solche Mitteln, wie etwa im unveröffentlichten Vidéo-Cassette-Projet (1972). Dieses in der Forschung bisher übersehene Manuskript befindet sich in der Samuel Beckett Foundation, im englischen Reading, und ein Aufsatz von Mark Nixon über dieses Projekt erscheint in der von Ulrika Maude herausgegebenen Sondernummer des Journal of Beckett Studies zu Samuel Beckett und den Medien (2007). Dass der Mensch selbst Produzent der optischen Erfahrung ist, ist eine relativ junge Erkenntnis und auch Beckett experimentierte – erfolglos – mit diesem Aspekt in seinem ebenfalls aufgegebenen Werk Long Observation of the Ray (1975-76). Die Versuchsanordnung dort besteht einzig aus einem Raum und einem diesen durchstreifenden, untersuchenden Lichtstrahl. Stellt man sich den Innenraum als Bewusstseinsraum vor, wie es oft in der Deutung des Spätwerks geschieht, dann hätten wir hier genau die Gelenkstelle zwischen dem frühen Film und der späten Videokunst, die den Betrachter oft jenseits einer konventionellen Erzählung als einzigen wahrnehmenden „Animator“ der Szene einsetzt (beispielsweise in Naumans Going Around
27 Lotte Eisner: Die Dämonische Leinwand. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. 28 Samuel Beckett: The Beckett Trilogy, Molloy, Malone Dies, The Unnamable. London: Farber and Farber 1979. 200
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the Corner Piece von 1970. Siehe Abbildung 2).29 Schade, dass Beckett das Projekt nicht weiter verfolgte. Abbildung 2: Bruce Naumans Going Around the Corner Piece (1970)
Diese ursprüngliche Beobachtung jedenfalls taucht etwa zeitgleich auf mit der Entdeckung der Fotografie und dem Motiv des technisch produzierten Spiegelbilds wie des Schattens als Sinnbild der Identitätsspaltung, des „anderen Ich“, des „Bösen in der eigenen Seele“. Hinter dem Fotopapier und später auf der Filmleinwand vermutete man die Entfesselung unbekannter Kräfte.30 Wieder war es Walter Benjamin, der auf den Beobachterstatus der Kamera aufmerksam machte und diesen mit dem befremdeten Verhalten des Menschen vor seinem Spiegelbild verglich. „Das Pu-
29 Vgl. Gabriele Hartel: Bruce Nauman, Going Around The Corner Piece. In: Christine Van Assche (Hrsg.): Centre Pompidou. Collection New Media Installations. Paris: Centre Pompidou 2006, S. 122. 30 Vgl. etwa: Jonathan Crary: Techniques of the Observer: on Vision and Modernity in the 19th Century. Cambridge, Mass.: MIT 1991. 201
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blikum“, schreibt er, „fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet.“31 Wie seine Zeitgenossen setze Beckett die Kamera selbst metaphorisch ein: als neues, wildes Auge, das erbarmungslos registriert, was ihm unter die Linse kommt. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsässer spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Tyrannei des Auges“, „Eye of Prey“, „Raubauge“, heißt die kalt beobachtende Instanz in Becketts Prosatext Imagination Dead Imagine und dieses Raubauge taucht immer wieder bei ihm auf. Vor einem solch testenden Auge verwandelte der Stummfilm den Schauspieler in eine Requisite, in etwas tänzerisch Marionettenhaftes. Denn von Brecht bis Arnheim waren sich die Filminteressierten darüber einig, dass der Schauspieler dann am besten und bildlich effektvollsten eingesetzt war, wenn er Teil des Dekors wurde. Alles in allem kann man bei diesen Kriterien auf Becketts Film oder Comédie, He Joe oder das Geistertrio hinweisen. Der Verfolgungs- und Beobachtertopos ist jedoch auch eine große Parallele zur heutigen Videokunst. Wenn etwa Bruce Nauman in den Korridorarbeiten seiner Closed-Circuit-Arbeiten den Betrachter immer wieder auf sich selbst in Rückenansicht treffen lässt oder Ugo Rondinone in Roundelay eine romantische Suche auch als Verfolgung inszeniert. In der gesellschaftskritischen Ausstellungspraxis der letzten Jahre war diese alte Metaphorik im neuen Gewand immer wieder Thema und wohl deshalb, weil dieser Aspekt in der Natur des Mediums liegt – daran hat sich von damals bis heute nichts geändert. Den beklemmenden Eindruck des Beobachtet-Werdens erhöht im Stummfilm noch ein belebtes sehr graphisches Dekor, das symbolisch mit dem Schauspieler interagiert, ihn bedroht oder mit ihm aus einer anderen Welt kommuniziert. Dieses Gefühl überkommt uns nicht nur in Becketts Prosatext „Schlecht gesehen schlecht gesagt“ – eine unheimlich belebte Umgebung bestimmt auch die Atmosphäre in Rondinones I Never Sleep (1999) oder Douglas’ Der Sandmann (1995). In solchen Momenten ist Becketts „Brothers Grimm-machinery“ besonders gut zu beobachten, eine „Suggestionsmaschine“ die auf eine unheimliche Gegenwelt hinweist.
31 Walter Benjamin: Das Kunstwerk, S. 24. 202
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Um den Betrachter aus seiner sicheren Alltagswelt zu reißen und konstruktiv zu desorientieren, setzte man in der Frühzeit des Kinos gern den pulsierenden Rhythmus des Filmbildes ein – eine entscheidende Rolle in der emotionalen Filmsprache der Zeit, was Becketts Bekannter Marcel Duchamp in seinem Experimentalfilm Aenemic Cinéma von 1926 sehr schön mit der Vorstellung des „wilden, neuen Auges“ verbindet. Der Filmrhythmus sei „eine Potenz, die jenseits der Tatsachenlogik und Realität Visionen erzeugt, wie sie nur im Verein von Filmband und Linse zustande kommen. [...] Dort erst beginnt die filmische Fabulierfreude, und hieraus kann sich einmal eine ‚symphonische Optik’ entwickeln“32 schrieb 1929 Henri Chomette, der Bruder des Regisseurs René Clair, dessen poetischer Nonsensefilm Entr’acte (1924) Saalschlachten auslöste. Ein solch poetischer Umgang mit optisch rhythmisierten Lichtspielen, Spiegelungen, in reine Form aufgelösten Alltagsgegenständen führten den Film in die Nähe der Musik. So war es nur konsequent, dass Walter Ruttmanns Berlin, Symphonie einer Großstadt (1927) auf Einladung Paul Hindemiths auf den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt. Interessant sind in diesem Kontext auch Becketts geschriebene optische Experimente, wie etwa folgende Szene aus Watt, vermutlich dem Roman, der Bruce Nauman zu seiner Arbeit Slow Angle Walk, (Beckett Walk) (1968) inspirierte. Hier steht: In a sense, it [die Begegnung mit dem Klavierstimmer-Duo, Gall, Vater & Sohn] resembled all the incidents of note in Mr. Nott’s house. [...]. It resembled them in the vigour with which it resembled a purely plastic content, and gradually lost, in the nice process of its light, its sound, its impact and its rhythm all meaning, even the most literal [...] it became a mere example of light commenting bodies and stillness motion and silence sound, and comment comment. This fragility of the outer meaning had a bad effect on Watt for it caused him to seek for another… .33
Als Beckett dann in den Sechzigerjahren sein Fach wechselte und fast dreißig Jahre nach seinem ersten gescheiterten Versuch nun doch Filmemacher wurde, blieb er mit den Arbeiten Film, Comédie 32 Ulrich Gregor, Enno Patalas: Geschichte des Films 1, 1895-1939. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1986, S. 72. 33 Samuel Beckett: Watt. London: Faber and Faber 1988. 203
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und den crazy TV-inventions beim Süddeutschen Rundfunk der Ästhetik des frühen Stummfilms treu. Gleichzeitig schuf er etwas radikal Neues, was in seinem Ausmaß nicht etwa der Literatur- und Theaterbetrieb erkannte, sondern die bildenden Künstler. Für den Kunstkritiker Werner Spies, ehemals Direktor des Centre Pompidou, besteht kein Zweifel, daran dass Beckett „unübersehbar am Beginn der Videokunst steht“ und dass sein Werk eine Inspirationsquelle für heutige Videokünstler darstellt.34 Interessant ist dabei, dass die zeitgenössische Videokunst sich gern auf die Merkmale konzentriert, die Beckett im deutschen Stummfilm entdeckte: dieses unheimliche Verfolgtwerden, die desorientierende „Unterwasseratmosphäre“, das Vampiristische, die romantische Ich-Suche. Was heute seltener auftaucht ist der Humor, mit dem Beckett manchmal die geisterhafte Ausstrahlung seiner Arbeiten bricht, wenn etwa „M“ im Film Comédie vom Schluckauf geplagt wird oder der Geist Ada im Hörspiel „Aschenglut“ sehr besorgt den noch lebenden Henry fragt, ob er wohl die warmen Unterhosen anhabe. Doch der Zusammenhang zwischen der Stummfilmästhetik, Beckett und meinen vier Künstlern besteht wohl vor allem in ihrer Sorge um die Mitarbeit des Zuschauers, der psychisch und körperlich in ihre Arbeiten hineingesaugt wird. Die medieneigenen Themen wie Beobachtung und Selbstbeobachtung helfen dabei ebenso mit wie sorgsam komponierte Atmosphären und Situationen. Bruce Nauman etwa macht das über Räume, in denen er sich als stellvertretender „Jedermann“ ausführlich mit sich selbst beschäftigt. Die bereits erwähnten Short Circuit-Installationen, die zur gleichen Zeit entstehen, wie sein „Beckett Walk“, machen den Betrachter durch Überwachungskameras zum Verfolger seiner selbst – wie wir es aus Film kennen. Bruce Nauman faszinierte an Becketts Romanen ein sehr systematische[r] Nonsense. Becketts Art, dieses Tun zu beschreiben, ihm eine Anzahl von Regeln zu geben, nach denen er vorgeht. Ich hatte ein paar Performances […] aufgrund dieser Regeln gemacht. Ein Problem zu erfinden, eine Behauptung, um zu sehen, ob es möglich ist. Das Problem war, dass die Behauptung gut genug sein musste. Man kriegt nur eine interessante Antwort, wenn man eine interessante Frage hat.35 34 Vgl. Michael Glasmeier, Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman, S. 146. 35 Ebd., S. 31. 204
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Aus diesem „systematischen Nonsense“ wurden unsinnige Bewegungsstudien, der Nauman sich mit der gleichen Akribie widmete, wie Becketts Figuren ihrem Tun. In seinen späteren Arbeiten bezeugen die, in absurden Handlungsloops gefangenen Clownsfiguren die Beschäftigung Naumans mit Beckett, und die Skulptur Hanged Man (1985) spielt sowohl auf den „Godot“-Baum als auch auf Vladimirs und Estragons Diskussion über die Konsequenzen des Selbstmords.36 Auch die klaustrophobisch wirkenden Korridorarbeiten Naumans sowie überhaupt sein performatives Körpertheater zeigen, wie sehr Becketts Beschäftigung mit der Körperlichkeit von dem jüngeren Künstler verarbeitet wurde. Für Nauman war Beckett der Autor, der sich mit der Frage beschäftigte, wie es sich anfühlt, als Mensch in einem ‚interesselosen‘ Universum zu leben. In der stark bildgeprägten, gestisch-rhythmisierten Sprache von Becketts Prosa, dem zwanghaft exzentrischen Verhalten seiner Figuren, ihrer Konzentration auf den eigenen Körper, wie auch den exakt ausgeleuchteten Räumen und genau choreographierten Bewegungen entdeckte der Künstler für sich brauchbares strukturelles und emotionales ‚Material‘. Tony Oursler gelingt es, den schockartigen Effekt des frühen Films wieder zu inszenieren. Eben durch die zusammengestückelten Köpfe und Körper, die aus umgestürzten Stühlen und Schatztruhen heraus unaufhörlich reden müssen, grotesk ausstaffiert und wieder quasselnd auf Stelzen herum stehen oder uns aus Ecken heraus unangenehmen überraschend ansprechen. Den Video-, Text-, und Performancekünstler Ugo Rondinone regt Beckett nicht nur thematisch und formal an. Er folgt ihm auch in dessen weit verzweigte Themenkomplexe und schreibt: „Was mich bei Beckett am meisten fasziniert, ist seine Auffassung vom Schreiben als Enzyklopädie [...]. Dieser Aspekt der Vielschichtigkeit und fragmentierten Identität untersucht das grundlegende Versagen der Vernunft – oder ihren Triumph.“37 Seine Arbeit In the Sweet Years Remaining (1996) präsentiert eine Erzählung in losen Standbildern. Dort bewegt sich eine Frau durch öde (Wald)-Landschaften – fast ausnahmslos in Rückenansicht. Es ist Winter, also: weißer Untergrund. Das Gesamtbild wird in Schnipseln angeboten und damit gewissermaßen zensiert von einem, der in Ausschnitten vorschreibt, was man zu sehen hat oder
36 Ebd. 37 Vgl. Gaby Hartel, Carola Veit (Hrsg.): Samuel Beckett. S. 134-135. 205
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nicht. Es ist ein Close-up hier und eine Halbtotale da. Der Hintergrund läßt nichts Spezifisches erkennen: alles ist in Schwarzweiß gehalten, nebelig und oft verwischt. So wird man zum Augenzeugen einer geheimnisvollen Suche, die etwas undurchsichtig Privates hat und die das Publikum fesselt obwohl (oder vielleicht gerade weil?) die Geschichte nur als fragmentierte Bildfolge existiert. Taktile Deutungshilfen gibt das Material: Ein Blick auf marodes Holz, zum Beispiel, aus dem eine Hütte gebaut ist, hinter der sich dieses Wesen ab und zu verschanzt. Zwischen den Bildfragmenten klaffen Lücken, weißliche, holzige Leerstellen im Text. Durch diese Ritzen in der Darstellung sickert Atmosphärisches, farbige Erinnerung. So baut sich der tastende Blick in erzwungener Langsamkeit das Bild zusammen: „Quadratzentimeter für Quadratzentimeter und nie vollständig und auf einmal“, wie Samuel Beckett den idealen Wahrnehmungsvorgang beschrieb. Und tatsächlich könnte diese Installation genauso gut als Beschreibung taugen für Becketts „Textfilm“ Schlecht gesehen schlecht gesagt (1981), der offen die suggestive „Brothers Grimm-machinery“ des Stummfilms in Gang setzt. Neben den motivisch-ikonographischen Ähnlichkeiten Rondinones zu Beckett – auch er arbeitet gerne mit wartenden PennerClowns als unseren Stellvertretern, mit Figuren in der Existenzkrise im endlosen Wartezustand unter dürren Baumskulpturen – sind die Überschneidungen gerade in einem eigenwilligen, erkenntnisorientierten Subjektivismus zu finden. In der Hinwendung zu universalen Innenwelten und fast archaischen Bildern. Wie Beckett ist Rondinone ein „mental traveller“ (William Blake) unterwegs ins schwer zu fassende Wirrwarr des Inneren. Rondinone bannt diese Innenbilder auch mit den Mitteln des Stummfilms. Stan Douglas wiederum ist fasziniert von den variantenreichen Wiederholungen in Becketts Werk (wie z. B. die Szenen (Abb. 3) in Quadrat, 1981) – wie schade, dass er das ultimative Unendlichkeitsstück seines Meisters, das unveröffentlichte Manuskript The Way (1981), nicht kannte38 – denn Douglas selbst arbeitet verstärkt mit Loops.39
38 In der Samuel Beckett Foundation, Reading. Vgl. auch: Michael Glasmeier, Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman, S. 146f. und 187. 39 Gaby Hartel: Gaby Hartel im Gespräch mit Stan Douglas. In: Ausstellungskatalog, Objet Beckett. Centre Pompidou: Paris 2007. 206
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Abbildung 3: Standbilder aus Becketts Quadrat (1981)
Auch beschäftigt ihn das Unheimliche, die Suche des Einzelnen – nach einem Verbrechen oder mysteriöser Vergangenheit – wie wir es aus Film, He Joe, Schlecht gesehen schlecht gesagt und zahlreichen weiteren Beckett-Werken kennen. Dies ist beispielsweise in seiner Videoarbeit Pursuit, Fear, Catastrophe: Ruskin, BC (1993) zu erleben. Douglas selbst findet, seine Arbeit Win, Place, Show (1998) habe sehr viel mit Beckett zu tun, da sie eine Endlosstory in Variationen abspielt. Außerdem reime sich der Titel auch auf Waiting for Godot.40 Wie man sieht, ist der Humor unseren Videokünstlern doch nicht ganz abhanden gekommen.
40 Im Gespräch mit Gaby Hartel, Berlin, Januar 2006. 207
ZUR ENTSTEHUNG DES HÖRSPIELS: IMMER DEIN, TUISSIMUS NACH S A M U E L B E C K E T T S R O M A N T R A UM V O N M E H R B I S M I N D E R S C HÖ N E N F R A U E N BERND HEINZ
1 . R o m an u n d B i o g r a p h i e Samuel Beckett hatte zu seinen Lebzeiten möglichst nichts von seinem Privatleben an die Öffentlichkeit dringen lassen. So blieb vieles um seine Person im Verborgenen. Vier Jahre nach seinem Tod 1989 erschien posthum ein autobiographischer Roman Dream of fair to middling women, den er 1932 verfasst, aber nicht zur Veröffentlichung freigegeben hatte. In deutscher Übersetzung erschien dieser Roman erst 1998 unter dem Titel Traum von mehr bis minder schönen Frauen.1 Durch ihn trat ein bis dahin „unbekannter“ junger Beckett zutage, von dem man lediglich wusste, dass er 1936-37 eine Art Studienreise durch Deutschland gemacht und darüber Reisetagebücher geführt hatte. James Knowlsons2 umfangreiche und autorisierte Biographie über Samuel Beckett brachte nach ihrem Erscheinen in Deutschland 2001 die Beckett-Forschung in Bewegung, so dass bis zum „Beckett-Jahr“ 2006 zahlreiche Publikationen zu diesem Thema erschienen waren. Es hatte sich herausgestellt, dass Becketts Jahre in Deutschland für sein späteres Werk und Leben äußerst bedeutend waren und dass
1 2
Samuel Beckett: Traum von mehr bis minder schönen Frauen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. James Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. 209
BERND HEINZ
alles mit einer Liebesbeziehung zu seiner Kusine in Kassel3 1928 begann. Er hatte gerade seine erste Stelle als Französischlehrer an einem Internat in Belfast beendet, als er in Dublin seine Kusine Peggy Sinclair aus Deutschland traf. Beide verliebten sich ineinander. Der Roman beginnt mit einer eindrucksvollen Abschiedsszene auf dem Pier. Der verliebte Romanheld Belacqua kann nur mühsam seine Tränen unterdrücken und schaut betroffen bis verwirrt der in rhythmischen großen Armbewegungen winkenden Smeraldina nach. Traurig bleibt er auf dem Pfosten des Piers sitzen, nachdem das Schiff längst ausgelaufen war. Und er harrt noch aus, als es leicht zu regnen beginnt, was seine Gefühlslage treffend unterstreicht, bis der Pierwärter kommt, um ihn zu vertreiben. Tatsächlich reiste er wenige Wochen später – nach heftigem Streit mit seiner Mutter – nach Kassel, um Peggy wiederzusehen. Kurze Zeit später besuchte Peggy bei Wien einen Kurs an einer Schule für Bewegungstanz. Beckett folgte ihr auch dorthin. Die Wien-Episode des Romans zeigt einen eifersüchtig verliebten Belacqua, der sinnlos versucht mit Hilfe kritischer Perspektiven eine emotionale Distanz zu gewinnen, um nicht leiden zu müssen. Er wartet Tag für Tag auf das Ende der Kursstunden, um Smerry ganz für sich zu haben. Nach dem Kurs fährt sie zurück nach Kassel und er über Paris nach Dublin. Sie hatten ein Wiedersehen über Weihnachten und Neujahr in Kassel verabredet. Die kurze Trennung überbrückten sie mit vielen Briefen. Nachdem Beckett inzwischen eine Stelle in Paris angetreten hatte, sah er sie so oft, wie es ihm möglich war. Im Roman wird diese etwa drei Jahre dauernde Beziehung und deren Scheitern stark fokussiert dargestellt. Eine Übertragung dieser Story in ein anderes Medium erforderte eine noch stärkere Konzentration auf den „Kern“ der Story.
2. Der Kern der Story Becketts autobiographischer Roman handelt von einer gescheiterten Liebesbeziehung zu Peggy Sinclair in den Jahren 1928-1931 in Kassel. Die Story vollzieht sich so konsequent in der Tragik des Schei-
3
Vgl. Samuel Beckett Gesellschaft (Hrsg.): Samuel Beckett und Kassel 1928-1932. Göttingen 2006. 210
ZUR ENTSTEHUNG DES HÖRSPIELS: IMMER DEIN, TUISSIMUS
terns, dass in ihrer präzisen Darstellung der Szenen das Komische unvermeidbar wird. Während das vordergründige Geschehen in häufigen Szenenwechseln, unterschiedlichen Perspektiven, Einblendungen und Überblendungen abläuft, ereignet sich das Wesentliche jenseits der Worte. Es gibt kein Vorher und Nachher, keinen Anfang, kein Ende. Inszeniert wurde das Scheitern einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die in scheinbar verschiedenen Welten lebten, und in der jeder Erwartungen an den anderen stellte, die nur enttäuscht werden konnten. Beide agierten entsprechend ihrer (begrenzten) Vorstellung von Realität, in die sie den anderen einschließen wollten. Dabei mochte sich Bel auf diese irreführende, vermeintliche Realität unmittelbarer Gegenwart möglichst gar nicht einlassen und betrachtete alles nur mit dem inneren Auge. Dieser Aspekt war für die Hörspielbearbeitung von zentraler Bedeutung.
3 . Z u r V o r g e sc h i c h t e d e r H ö r sp i e l b e a r b e i tu n g Im Zusammenhang mit der Planung einer interaktiven Dokumentation über Becketts Besuche in Kassel in den Jahren 1928-1932 boten die biographischen Fakten kaum Ansatzpunkte für eine rekonstruktive Darstellung. Auch im Roman fehlen entsprechende ausführliche Ortsbeschreibungen. Überaus anschaulich dagegen sind dort einzelne Szenen beschrieben, auf deren Grundlage es möglich wurde, die Story in prägnanten Einzelheiten zu rekonstruieren. Es entstanden Kurzdarstellungen für Dreharbeiten an Videoclips, die als Ergänzung der biographischen Dokumentation verwendet werden sollten. Mit der erheblich wachsenden Zahl der in Frage kommenden Szenen, stellte sich der „Kern“ der Story immer deutlicher dar. Dadurch lag es nahe, ein Konzept für ein Drehbuch ins Auge zu fassen. Die Verknüpfung der Handlungsfragmente erfolgte dabei entsprechend dem Roman, entlang des Geschehens aus der Perspektive des Romanhelden Belacqua, der die distanzierte Wahrnehmungsposition eines „Besuchers“ einnimmt. Die Basis für eine einheitliche visuelle Darstellung war damit gegeben. Auf der Basis dieses Drehbuchkonzepts entstand dann einige Zeit später eine Hörspielfassung. Der Wegfall der visuellen Gestaltungsmöglichkeiten erforderte eine erneute Konzentration auf den Romantext. Die Position des Erzählers im Roman erhält im Hörtext 211
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eine größere Distanz durch die Dynamik des gesprochenen Wortes. Dieser Umstand war bei der Auswahl des so genannten „Kommentartextes“ unbedingt zu berücksichtigen. Auch die Position des Helden war durch dramaturgische Hilfsmittel neu festzulegen. Der Roman liefert indessen fast alle Textelemente für eine solche Transformation.
4 . D i e H ö r sp i e l b e a r b e i tu n g Bei genauerer Betrachtung der von Beckett anschaulich beschriebenen Szenen, entdeckt man eine Abfolge scheinbar unbeweglicher Zustände, die, hintereinander gesetzt auf einer vorgestellten Zeitlinie, doch wieder ein äußerst bewegtes Bild abgeben. Dies zeigte sich schon bei der ersten Szenenfolge und setzte sich bei der weiteren Bearbeitung fort. Somit konnte ein Drehbuchkonzept vorskizziert werden, das diesen höchst lebendigen Ablauf in der Form der Darstellung des Romans im Wesentlichen beibehalten konnte. Die Authentizität des Romans in seiner direkten und unmittelbaren Darstellungsweise, seiner lebendigen Vielschichtigkeit auf dem Hintergrund der biographischen Tatsachen und vielleicht auch eine persönliche Betroffenheit, haben mich veranlasst, die Hörspielbearbeitung in Angriff zu nehmen. Der Roman lieferte insbesondere durch seinen autobiographischen Hintergrund hervorragendes Material für eine szenarische Darstellung. Bei genauerer Betrachtung der geeigneten Textabschnitte, der möglichen Kombinationen und der Art der Übergänge, reduzierten sich die notwendigen Umgestaltungen auf ein Minimum. Und das galt dementsprechend für die Probleme, die eine literarische Adaption gewöhnlich mit sich bringt. Grundsätzlich bleibt natürlich das Problem der Darstellung bzw. Inszenierung der Hauptfiguren des Romans. Im Roman nehmen sie nur vermittelt durch den Romantext Gestalt an. In der Dramaturgie des Hörspiels treten die Personen unmittelbar auf und werden damit zu Protagonisten. Da im Roman Smerry nur aus der Perspektive Bels in Erscheinung tritt, ist sie so kein wirklicher Gegenpart. Die Erzählperspektive bietet einer dramatischen Gestaltung kaum Möglichkeiten für eine angemessene Inszenierung. Smerry musste deshalb ein entsprechendes „Gegengewicht“ zum Romanhelden Bel 212
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erhalten. Die beste Möglichkeit bot sich durch Smerrys Brief. Im Roman bringt dieser Brief das Geschehen in Gang. Belacqua, der noch krank im Bett lag, als er ihn erhielt, wurde trotz seines Zustands veranlasst, eine lange Zugfahrt anzutreten. Der Brief besitzt demnach im Roman einen entscheidenden Stellenwert. Für die Hörspielfassung ist die Positionierung des Briefzitats ebenso wichtig wie die Auswahl seines Inhalts. Bei der Wahl des Inhalts war vor allem die „Gewichtung“ Smerrys entscheidend, die gewissermaßen vom abstrakten Bezugspunkt im Roman zu einem konkreten menschlichen Gegenüber im Hörspiel werden musste. Die ungeschickte Ausdrucksweise ihrer ehrlichen Liebe zu Bel erhält in dem Brief einen höchst authentischen Charakter und zeigt eine junge Frau in ihrer natürlichen, unkomplizierten Art, die sie als menschliches Wesen liebenswert macht. Smerry kann damit in lebendiger Gestalt aus dem Schatten der Perspektive des Romans hervortreten. Um ihr dabei das nötige Gegengewicht zu geben, äußert sich ihre Liebe in Bels innerer Stimme, die sich gerade dann zu Wort meldet, wenn er sich mit intellektuellen Erklärungen und Rechtfertigungen davon distanzieren möchte. Als Off-Stimme im Hörspiel bekommt sie gleichzeitig den Stellenwert eines Einspruchs von „Außen“. Damit steht sie im Widerspruch zu Bels Sicht- und Darstellungsweise, ohne dass das Hörspiel in dieser Frage vom Roman wesentlich abweicht. Denn im Roman selbst wird die Darstellbarkeit Smerrys ebenfalls negiert. Die Romandialoge konnten jetzt unverändert eingesetzt werden, da die Dialogpartner nunmehr gleichgewichtig „auf Augenhöhe“ im Hörspiel agieren konnten. Nur unter dieser Voraussetzung konnte das Thema vom Scheitern der Liebe in der Hörspielfassung entsprechend seiner Behandlung im Roman angegangen werden. Die Erzählperspektive im Roman ließ im Prinzip keine dramatischen Widersprüche zwischen Bel und Smerry zu. Bel reagiert dort nur aus der Reserve, reagiert auf Smerry als Objekt. Beide agieren in einer ihnen jeweils „eigenen“ Realität, die nichts verbindet. Geht der eine einen Schritt auf den anderen zu, weicht der andere einen Schritt zurück. Es kann dort zu keinen dramatischen Höhepunkten kommen, die die Entwicklung des Geschehens vorantreiben würden. Beckett verzichtet offenbar bewusst auf eine Entwicklung konstruktiver Spannungsbögen und konzentriert sich ganz und gar auf die Entwicklung des Inhalts, auf die Möglichkeiten seiner sprachlichen Darstellung. Er betont sogar ausdrücklich die Zusammenhangslosigkeit der Darstellung. So 213
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bleibt sein Alter Ego, Belacqua, beharrlich abwartend, was da kommt, sprachlich versiert genug, um elegant Problemen auszuweichen. Im Hörspiel, als dynamischer Variante des Romangeschehens, muss man sich deshalb Belacquas Position als die eines „Durchreisenden“ vorstellen, der sich auf nichts dauerhaft einlassen kann, was ihn aufhält. Diese Behandlung der Dimension „Zeit“ wurde deshalb zur wichtigsten Aufgabe für die Hörspielbearbeitung. Im Verlauf des Romans findet man zahllose Abschiede und Aufbrüche sowohl in ausführlich beschriebenen Szenarien als auch in kurzen Eindrücken. Durch Bels distanzierte Wahrnehmungsposition und seine konsequente Betrachtung realer Gegenwart mit dem „inneren Auge“, hält er im Geiste die Zeit an und erzeugt Intervalle, die ihre Darstellbarkeit bedingen. Deshalb wurde es wichtig, die Abschnitte der Erzählung sehr präzise auf die Dialoge abzustimmen, da dies die Basis für die endgültige Taktung des Ablaufs werden sollte. Im Gegensatz zur visuellen Darstellung sind im Hörspiel die Möglichkeiten eingeschränkt. So sah das Filmdrehbuch als Anfangsszene den ausführlich bildhaft beschriebenen Abschied auf dem Pier vor, der durch ein breites Repertoire von Kameraeinstellungen die Wahrnehmungsposition Bels verdeutlicht hätte. Für das Hörspiel dagegen war der Anstoß für den Handlungsablauf wichtiger. Der kurze Briefwechsel, die Verabredung und der Aufbruch ziehen Bel mitten ins Geschehen. Er wird aus seiner eigenen (ruhenden) Zeit herausgerissen und zum vorzeitigen Handeln gebracht. Ein definitiver Termin durchbricht seinen geplanten Zeitraum. Diese Art der Darstellung von Zeit entdeckte Beckett bei seiner Proustlektüre und beschrieb sie höchst inspiriert im ersten Abschnitt seines Traktats Marcel Proust: „Das schweigende Übereinkommen, dass die Zukunft beherrscht werden kann, wird zerstört.“4 Nach diesem ersten Akkord, dem Anstoß und dem Aufbruch, beginnt die Arbeit an der Taktung, der Aufeinanderfolge der Szenen und Erzählabschnitte. Damit das Ganze sich im stetigen Fluss vollzieht, in Schwung kommt und in Schwung bleibt, werden Szenen und Erzähltext dem Verlauf entsprechend hintereinander gesetzt, ergänzt oder reduziert. Auf dieser Bearbeitungsstufe löst sich der Hörtext vom Romantext und beginnt ein Eigenleben. Mit Hilfe von Hörproben wird jetzt endgültig über die Szenen und die Geschwin-
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Samuel Beckett: Marcel Proust. Zürich: Arche 1960. 214
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digkeit ihrer rhythmischen Abfolge entschieden. Die Abstimmung im Einzelnen folgt der Eigendynamik der einzelnen Szene oder des jeweiligen Textabschnitts. Bei dieser Loslösung vom Ursprungstext entsteht notwendigerweise ein neues Produkt. Zur Vorbereitung dieser Entscheidungen muss man sich erneut mit den Perspektiven und der Art der Darstellung in Becketts Roman auseinandersetzen, da Beckett dort seine ästhetischen Vorstellungen äußert. Bevor Belacqua sich auf die sehr abstrakte Höhe seiner Äußerungen über Kunst und Ästhetik erhebt, demonstriert Beckett das Thema Zeit im Geschehen um den Höhepunkt der Silvesternacht. Punkt Zwölf hatte Belacqua seine Blase erleichtert, hörte den Uhrschlag, den er mit der Klospülung beantwortete und dachte unwillkürlich an die „beachtliche Teilbarkeit von Zwölf“. Dieser präzise Zusammenfall von Ort und Zeitpunkt, hält das Ganze für einen Augenblick an, gefriert und objektiviert die Zeit, macht sie für einen Augenblick wahrnehmbar. Eingeleitet wurde diese Szene durch eine plötzliche Vorahnung Smerrys: „ …wie sie ihn da so ins Klo hinken sah, ging ihr plötzlich auf, dass da nichts zu machen war, dass der arme Bel verloren und sein Leben vielleicht schon vorbei war. Sie bedauerte ihn, und Tränen sammelten sich in ihren Augen.“5 Auch was die Taktung und den Rhythmus des szenarischen Ablaufs betrifft, kann man sich an Becketts Vorgaben im Roman orientieren. Manche Sätze folgen in ihrem syntaktischen Aufbau der Bewegung des dargestellten Geschehens. So beschreibt er die Fahrt mit dem Taxi vom Bahnhof zur Wohnung der Sinclairs in dem Auf und Ab eines einzigen Satzes, der genau den Bewegungen der Fahrt entsprechend der lokalen Gegebenheiten und Bels Wahrnehmungsperspektive folgt und ein bewegtes Gesamtbild vor Augen führt: Hinab dann die kopfsteingepflasterte Gasse trauriger Weihnachtsbäume, die zwischen Trambahn und Trottoir vielfach in grätiger Stauung zitterten, flog der prächtige Wagen zum Kirchturm hin, der in makellos majestätischer Ausrichtung die jetzt schemenhafte Größe des Herkules ausstach und die dürftigen Kaskaden, die lustlos und selbstvergessen herabfielen, das bisschen, was da war, und weil es wohl oder übel musste, runter in die
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Samuel Beckett: Traum von mehr bis minder schönen Frauen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 121. 215
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verstopfte Rinne der schneeverkleideten Hohenzollerngrotte zum Schloss.6
Dieser Satz gleicht dem Erleben der tatsächlichen Taxifahrt. Er rollt förmlich über das heute noch vorhandene Kopfsteinpflaster der ehemaligen Viktoriastraße (heute: Bürgermeister-Brunner-Straße) hinab zur ehemaligen Hohenzollernstraße (heute: Friedrich-EbertStraße), die sanft aufsteigt bis zur Friedenskirche, auf deren Höhe man dann bei guter Sicht den Herkules und die Kaskaden relativ gut in der Ferne erkennen kann; eine Entdeckung für einen Augenblick im Vorbeifahren, die einem normalerweise entgeht. Auch für Beckett konnte das nur ein kurzer Moment gewesen sein, da der Wagen von dort nach rechts in die ehemalige Landgrafenstraße (heute: Bodelschwinghstraße) einbiegen musste, um sein Fahrtziel zu erreichen. Diese Form konkreter Darstellung und präziser Beschreibung in der rhythmischen Abfolge eines einzigen Satzes geben einer Hörspielbearbeitung klare Bezugspunkte für eine angemessene Taktung und Geschwindigkeit des Ganzen. Auch die Klarheit der Darstellung durch scharfe Konturierung der Einzelheiten ist damit vorgegeben. Sind die wesentlichen Fragen nach der Art der Darstellung geklärt, wird durch letzte Hörproben (lautes Lesen und Sprechen!) das Drehbuch für eine konsequente Vertonungsarbeit fertig gestellt. Dabei wird auch der Klang des Hörtextes nochmals kritisch geprüft, denn die Sprache hat ihre eigene Musik, die sich an die Bedeutung der Worte heftet. Auf Besonderheiten, wie hier Hörproben aus dem englischen Originaltext, der mit deutschen Ausdrücken spielt oder einen leichten Akzent des Sprechers, muss man die Regie natürlich hinweisen. Das betrifft auch weiteres faktisches Wissen zum Thema, das dem Regisseur dazu verhilft, sich ein eigenes Bild zu machen. Je klarer Einzelheiten und Zusammenhänge, Themen und Inhalte, Figuren und Bezüge dem Drehbuch zu entnehmen sind, desto freier und zielgerichteter kann bei der Inszenierung und Vertonung verfahren werden. Bei der vorliegenden Hörspielbearbeitung stand die Komposition im Vordergrund, denn das Ergebnis war nur vorstellbar in einer Art „Sprachmusik“. Am Ende sollte der ungebremste Schwung des
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Ebd., S. 92. 216
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höchst sprachbegabten jungen Dichters, dessen kompromisslose Aufrichtigkeit sich entschieden und präzise darstellen, hörbar werden. Für diese Aufgabe kam nur ein Regisseur in Frage, der bereits Erfahrung mit der Inszenierung von Beckett-Stücken hatte, dessen Blick für die kompositorischen Elemente ihm eine sichere Entscheidungsgrundlage über die erforderlichen Konturierungen gab.
5 . G e s t al t u n g sp r i n z i p i e n Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Beckett seine Ansichten über Kunst und Ästhetik in Traum von mehr bis minder schönen Frauen an verschiedenen Stellen formuliert hat. Bei der Bearbeitung des Hörspiels traten die Themen Zeit und Scheitern immer deutlicher hervor. Es sind Themen, die das gesamte Werk Becketts bestimmen und in diesem Frühwerk bereits unter zahlreichen Perspektiven behandelt werden. Gleich am Anfang des Romans klärt er im Hinblick auf Belacquas Wahrnehmungsposition: Die reale Gegenwart war eine Plage, weil sie der Fantasie keine Pause gönnte. Ohne so weit gehen zu wollen wie Stendhal, der ... gesagt hat, dass die beste Musik (…) die Musik sei, die nach ein paar Takten unhörbar werde, behaupten wir doch steif und fest (…), dass der Gegenstand, der vor unseren Augen unsichtbar wird, sozusagen der hellste und beste ist.7
Deutlicher gesagt: Die äußere Realität war ihm zuwider, weil sie der Imagination keinen Raum bot. Denn: „Es geht nicht darum, sich etwas bewusst zu machen, sondern darum, ein inneres Bild einzufangen, um eine Innenaufnahme kurzum.“8 Wenige Seiten später führt er das weiter aus: Das Unbewegliche im Leeren, das ist endlich das Sichtbare, das reine Objekt. Ich sehe kein anderes. Die Hirnschale hat für diesen Artikel das Monopol. 7 8
Ebd., S. 19. Samuel Beckett: Die Welt und die Hose. In: Michael Glasmeier/Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman. Kunsthalle Wien: Wien 2000, S. 31. 217
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Dort kommt die Zeit bisweilen zur Ruhe... Dort gehen einem endlich die Augen auf, im Dunkeln.9
Belacquas Wahrnehmungsposition, seine Sicht auf die Dinge von Innen, richtet sich seismographisch auf jede Veränderung, unter der ein verborgener Ausdruck der Zeit zu entdecken wäre: „Denn darum geht es, nicht mehr diese entzückende und erschreckende Sache zu sehen, sondern in die Zeit, in die Blindheit zurückzukehren.“10 Wenn nun aber eine Darstellung der Zeit an sich nicht gelingen kann, wird sie doch zumindest sichtbar in der Veränderung. „Denn man wird der Zeit nur gewahr in den Dingen, die sie bewegt, die sie zu sehen verhindert.“11 Beckett geht noch weiter, indem er rhetorisch fragt: „Gibt es etwas, außer der Veränderung, das sich darstellen lässt?“12 Und, wenn man so will, kann man in seiner folgenden Ausführung die wesentlichen Gestaltungsprinzipien der Hörspielbearbeitung wieder erkennen: Denn man kann die Aufeinanderfolge nur darstellen durch die Zustände, die aufeinander folgen, nur dadurch, dass man sie zu einem schnellen Gleiten bringt, dass sie schließlich im Bild dieser Aufeinanderfolge miteinander verschmelzen, fast möchte ich sagen, sich stabilisieren. Die grundlegende Unsichtbarkeit der äußeren Dinge zu bezwingen, bis diese Unsichtbarkeit selbst verdinglicht, nicht bloß Bewusstsein einer Begrenzung wird, sondern etwas, das man sehen kann und sichtbar machen kann […].13
Doch Beckett schreibt hier nicht über Literatur, er schreibt über die Maler Bram und Ger van Velde, um seine Position zur Kunst der Moderne darzustellen. In einem Artikel über Bram van Velde stellt er wenige Jahre später fest: „ ...Künstler sein heißt, scheitern wie kein anderer zu scheitern wagt, dass Scheitern seine Welt ausmacht und dessen Verweigerung Desertion, Kunstgewerbe, gute Haus-
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Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. 218
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haltsführung, Leben.“14 Diese Konsequenz zieht er aus der Feststellung einer „Absenz von Beziehung“, die keine „Bezugspunkte“ bietet, aber zugleich eine „Präsenz von unerreichbaren Bezugspunkten bedeutet“. Genau in dieser Wahrnehmungsposition findet man Belacqua: … halten [wir] nur die immer größer werdende Unsicherheit der Beziehung selbst fest, die immer mehr vertieft zu werden scheint durch unser Bewusstsein von ihrer Schwäche, ihrer Unzulänglichkeit und der Hartnäckigkeit, die sie aufbringt, um auf Kosten von allem zu existieren, was sie ausschließt, von allem, dem gegenüber sie uns blind macht.15
Mit größtmöglicher Distanz versucht Belacqua diesem Scheitern zu entkommen, indem er es auf sich nimmt, es in eine „Art von syntaktischem Reigen“ stellt: So werden ihre Stimmen dahin gehen, beginnen und enden, die Silben tönen, tönen und gehen dahin, die zweite nach der ersten, die dritte nach der zweiten, und so fort und so weiter, der Reihe nach, bis zur letzten nach den übrigen, und zum Schweigen, mit etwas Glück, nach der letzten […].16
14 Samuel Beckett: Bram van Velde. In: Michael Glasmeier/Gaby Hartel et al. (Hrsg.): Samuel Beckett/Bruce Nauman. Kunsthalle Wien: Wien 2000, S. 49. 15 Ebd. S. 48. 16 Samuel Beckett: Traum von mehr bis minder schönen Frauen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 141. 219
AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Ingo Berensmeyer, geboren 1972 in Soest (Westfalen), Studium der Anglistik und allgemeinen Literaturwissenschaft. 1999 Promotion an der Universität Siegen, 2005 Habilitation. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt Der auktoriale Diskurs in vergleichender Sicht am Zentrum für Literaturforschung Berlin (19992000) und seit 2001 an der Universität Siegen. Lehrtätigkeit am Englischen Seminar der FU Berlin (1999-2000) und am Fachbereich Anglistik der Universität Siegen (seit 2001). Forschungsschwerpunkte u.a. englische und irische Literatur- und Kulturgeschichte seit der frühen Neuzeit, Literaturtheorie. Rolf Breuer, geboren 1940 in Wien, studierte Anglistik, Romanistik und Philosophie in Bonn und Göttingen. Seit 1979 ist er Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Samuel Beckett gehört zu seinen Forschungsschwerpunkten. Seit 1988 ist er im Beirat der Beckett International Foundation. Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht Rolf Breuer seit einigen Jahren auch literarische Texte. Volker Canaris, geboren 1942, studierte Germanistik, Geschichte, Vergleichende Literaturwissenschaft in München, Berlin und Bonn. 1970 Promotion über den jungen Brecht. 1969-1970 Theaterlektor beim Suhrkamp-Verlag. 1970-1979 Dramaturg in der Abteilung Fernsehspiel beim WDR. Dramaturgie und Produktion von Fernsehspielen bzw. Kino-Produktionen mit Wem Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Wolfgang Petersen u.a. Produktion von Theater im Fernsehen in Zusammenarbeit mit Peter Zadek, Peter Stein, Jürgen Flimm u.a. 1979-1985 Schauspieldirektor und Stellvertreter des Intendanten am Schauspielhaus Köln. 1986-1991 Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses. 1998-2000 Chefdramaturg am Thalia Theater Hamburg. 2000-2007 Leiter der Schauspielschule Stuttgart und Intendant des Wilhelma Theaters. 221
SAMUEL BECKETT UND DIE MEDIEN
Mark-Oliver Carl, geboren 1979, Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Kassel. 2007 Promotion über Intertextualität bei Ulrich Plenzdorf. Gaby Hartel, geboren 1961, promovierte zu Samuel Becketts Weg zum ‚gesagten Bild’. Sie arbeitet als freie Kultur-Journalistin, Radioautorin, Übersetzerin und Ausstellungsmacherin. 2000 war sie an der Ausstellung Samuel Beckett/Bruce Nauman beteiligt. 2006 erschien die zusammen mit Carola Veit verfasste Suhrkamp Basisbiographie zu Samuel Beckett. Gaby Hartel lebt in Berlin. Bernd Heinz, geboren 1947, studierte Germanistik, Philosophie, Soziologie und Pädagogik an der Universität Marburg. 1981 Promotion über Franz Kafka. 1983-1995 als wissenschaftlicher Gutachter und Archivar tätig. Seit 1996 ist er IT-Autor, Produzent und Verleger. Seine Bearbeitung eines Kapitels aus Becketts „Dream of fair to middling women“ war Grundlage für das Hörspiel „Immer dein, tuissimus“ (HR 2006). Inga Lemke, geboren 1960, Universitätsprofessorin für Medienästhetik an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Kunst- und Medienwissenschaftlerin. Mehrjährige wissenschaftliche Mitarbeit am Sonderforschungsbereich 240 „Bildschirmmedien“ an der Universität Siegen, zweijährige Visiting Scholarship an der New York University, freiberufliche journalistische Tätigkeit. Katalogbeiträge und Kritiken zur zeitgenössischen Kunst. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Medienkunst, Avantgarde- und Experimentalfilm, Theatralität und Performanz, Kunst und Visuelle Kultur, Medium Ausstellungen, mediale Aspekte der Repräsentation von Kunst, Theater, Literatur in Film und Fernsehen. Buchpublikationen: Documenta-Dokumentationen (Marburg: Jonas 1995); Theaterbühne - Fernsehbilder (Anif/Salzburg: Müller-Speiser 1998). Michael Lommel, Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Siegen. Promotion (2000) und Habilitation (2006). Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Gastprofessuren in Wien und Innsbruck. Forschungsschwerpunkte u.a. sind Medienphilosophie und Mediensynästhesie sowie komparatistische und intermediale Frage222
AUTORINNEN UND AUTOREN
stellungen. Zahlreiche Publikationen auf diesen Gebieten, u.a.: Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel, München 2006. Simone Malaguti, Studium der Romanistik und Germanistik an der Universidade de São Paulo und an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1993-2003 tätig als freie Übersetzerin, Lehrerin für Fremdsprachen und private Dozentin für Kommunikation. 2003-2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Kassel. 2007 Promotion über Filme von Wim Wenders. Weitere Publikationen zur Interkulturalität, Intertextualität, Literatur und Medien. Konrad Schoell, geboren 1938, promovierte 1966 an der Universität Freiburg zu dem Thema Das Theater Samuel Becketts. 1973 Habilitation an der Universität Erlangen. 1973-1995 Professor für Romanistik/Literaturwissenschaft an der Universität Kassel, 19952003 an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte u.a. Dramengeschichte, Gegenwartsliteratur und Gattungsgeschichte. Martin Schwab, Professor für Philosophie an der University of California in Irvine, promovierte 1978 an der Universität Bielefeld. Besonderer Schwerpunkt von Forschung und Lehre ist die Verbindung von Philosophie und Kunst, u.a. in Publikationen zu David Cronenberg, Thomas Pynchon und Samuel Beckett. Peter Seibert, geboren 1948 in Weiskirchen/Saar. Studium der Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte in Saarbrücken und Bonn. Promotion 1979, Habilitation 1987, Professur in Siegen für Sozialund Mediengeschichte der Literatur 1991, seit 2001 Professur für Neuere deutsche Literatur und Medien in Kassel. Publikationen u.a. zur Literarischen Geselligkeit und Mediengeschichte von Literatur. Erika Tophoven, geboren 1931 in Dessau, arbeitet seit 1957 als freischaffende Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen, u.a. von Werken der Autoren Samuel Beckett, Nathalie Sarraute, George Simenon und Victor Segalen. Zahlreiche Übersetzungen erarbeitete sie zusammen mit ihrem Mann Elmar Tophoven. Seit einigen Jahren gilt ihr besonderes Interesse dem jungen Beckett und dessen Zeit in Deutschland. 223
Kultur- und Medientheorie Michael Dürfeld Das Ornamentale und die architektonische Form Systemtheoretische Irritationen Mai 2008, 160 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-898-8
Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Mai 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9
Geert Lovink Zero Comments Elemente einer kritischen Internetkultur Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9
Ronald Kurt, Klaus Näumann (Hg.) Menschliches Handeln als Improvisation Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven März 2008, 238 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-754-7
Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart März 2008, 406 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9
Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung
Christian Bielefeldt, Udo Dahmen, Rolf Großmann (Hg.) PopMusicology Perspektiven der Popmusikwissenschaft
Mai 2008, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2
Februar 2008, 284 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-603-8
Derrick de Kerckhove, Martina Leeker, Kerstin Schmidt (Hg.) McLuhan neu lesen Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert
Cora von Pape Kunstkleider Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts
April 2008, 514 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. DVD, 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-762-2
Februar 2008, 228 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-825-4
Helge Meyer Schmerz als Bild Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art Januar 2008, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-868-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de