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German Pages 368 Year 2015
Sonja Lehmann, Karina Müller-Wienbergen, Julia Elena Thiel (Hg.) Neue Muster, alte Maschen?
Dynamiken von Raum und Geschlecht | Band 2
Editorial Die Buchreihe »Dynamiken von Raum und Geschlecht« dokumentiert die Ergebnisse des gleichnamigen DFG-Graduiertenkollegs 1599 der Universitäten Göttingen und Kassel, das die Wechselwirkungen von Raum und Geschlecht aus interdisziplinärer Perspektive analysiert und neue Perspektiven für Analysen global-lokaler Zusammenhänge entwickelt. Die zentrale Herausforderung der in dieser Reihe publizierten Forschung ist es, die Konfigurationen von Raum und Geschlecht in ihrer kulturellen Dynamik und Variabilität wahrzunehmen, sie theoretisch-terminologisch zu modellieren sowie historisch zu kontextualisieren. Beteiligt sind die Disziplinen Geschichts- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Ethnologie, Ethik der Medizin, Theologie, Arabistik/Islamwissenschaft und Kulturanthropologie. Die Reihe wird herausgegeben von Rebekka Habermas und Nikola Roßbach.
Sonja Lehmann, Karina Müller-Wienbergen, Julia Elena Thiel (Hg.)
Neue Muster, alte Maschen? Interdisziplinäre Perspektiven auf die Verschränkungen von Geschlecht und Raum
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
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Inhalt
Vorwort
Helga Meise | 9 Von Mustern und Maschen Zur Verschränkung von Geschlecht und Raum
Sonja Lehmann, Karina Müller-Wienbergen, Julia Elena Thiel | 11
I DIMENSIONEN DES THEORETISCHEN Dimensionen des Theoretischen
Stephan Günzel | 19 Differentielles Denken, heterogene Räume und Konzepte von Alltäglichkeit Anknüpfungen an Henri Lefebvres Raumkonzept aus feministischer Perspektive
Jenny Bauer | 23 Fernsehlandschaft Medialer Raum und hegemoniale Geschlechterordnung in der US-Zeitgeschichte
Felix Krämer | 43 Nietzsche, Warburg, Salome Dance and the Tragic Spirit
Victoria Mateos de Manuel | 63
II DIMENSIONEN DER VERKÖRPERUNG Verkörperungen im Raum Einige Überlegungen aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin
Antje Flüchter | 85
Verkörperungsprozesse und die Transformation des Urbanen Der Trendsport Parkour im raum- und geschlechtersoziologischen Fokus
Natalie Schilling | 91 Die Entfernung von sich selbst Verkörperungen des Ich-Verlusts durch Raumerleben im Werk von Marlene Streeruwitz
Carina Bücker | 113 Körper-Raum zwischen Materialität und Metaphorik Eine erzähltheoretische Vermessung am Beispiel Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981)
Urania Milevski | 133
III DIMENSIONEN DER VERORTUNG Dimensionen der Verortung
Sabine Hark | 155 »Da dachte ich mir, komm, ich geb mir Mühe und zeige denen, dass ein Ausländer auch von der Haupt auf die Real gehen könnte« Intersektionale Perspektiven auf Selbstpositionierungen Jugendlicher im Kontext von Raum, Geschlecht und Gewaltabstinenz
Mart Busche | 159 Freiräume? Geschlechterkonstruktionen und -konflikte in der westdeutschen Hausbesetzungsbewegung der 1980er Jahre
Jan-Henrik Friedrichs | 181 On Section 377 and Gender/Sexuality Framing Queer Activism in New Delhi
Janina Geist | 207 Alternate Ways of Doing Gender in Social Spaces? Über Positionierungsprozesse gleichgeschlechtlich liebender Frauen in Indonesien
Kristina Schneider | 229
IV DIMENSIONEN DER VERFLECHTUNG Space, Power, Transgression
Nikita Dhawan | 253 Produktive Flexibilität und Eigensinn Die Räume einer vergeschlechtlichten Segregation in der Agrikultur Andalusiens
Olaf Tietje | 257 (K)Ein Haus für alle? Verflechtungen von Raum und Gewalt am Beispiel der Erzählung von Josef und Potifars Frau
Nele Spiering | 277 Haushalt, Hörsaal, Freudenhaus Verflechtungen von Raum und Geschlecht im jüdischen Assimilationsdiskurs
Sylvia Jaworski | 299 Critical Crafting und Craftivism Textile Handarbeit, Feminismus und Widerstand
Sarah Held | 321 »Der Typ, der... « Der #aufschrei als vergeschlechtlichte Gegenöffentlichkeit im Cyberspace
Anna K Dreher | 341
Autor_innen | 363
Vorwort H ELGA M EISE
Ein Band, der die Verschränkungen von Geschlecht und Raum in den Blick nimmt, muss beide Begriffe immer wieder neu befragen. Die hier versammelten Aufsätze, hervorgegangen aus einer Tagung des an den Universitäten Kassel und Göttingen angesiedelten Graduiertenkollegs Dynamiken von Raum und Geschlecht, nehmen diese Herausforderung begierig an, indem sie die Begriffe als Untersuchungskategorien erproben. Auch in Zeiten von Globalisierung und weltweiter Vernetzung noch als Naturgegebenheit aufgefasst, wird Geschlecht so in je unterschiedlichen Kontexten als soziales und kulturelles Konstrukt fassbar. Es prägt die Subjekte und ihre Handlungsräume, erlaubt ihnen aber gleichzeitig, bestehende Normen zu unterlaufen, um selbstbestimmte Handlungen und ein eigenes Selbstverständnis ins Spiel zu bringen. Führt das Geschlecht damit gleichsam direkt zu heute lebenden oder erfundenen Subjekten, ihren Lebensumständen, ihren Vorstellungen und Wünschen, erscheint die andere Kategorie, die des Raumes, fast als Um- oder Abweg. Denn sie entführt – entweder in weit entfernte, geografisch identifizierbare Räume, von Andalusien bis nach Indonesien, von Marokko bis in die Vereinigten Staaten von Amerika, oder in nahe und bekannte, vermeintlich klar begrenzte Räume: in den Körper eines einzelnen Subjekts und dessen Wahrnehmung, in ein Haus, eine Stadt und auf das Land, aber auch in medial hervorgebrachte Räume, die der textilen Handarbeit, die der Literatur oder des Televisuellen. Wie sich jedoch zeigt, führen auch diese Räume zu den Subjekten. Denn sie erweisen sich ihrerseits als sozial produziert, bedenkt man, dass sich in ihnen immer wie auch bei der Kategorie Geschlecht Definitionen und Diskurse mit den Handlungen der einzelnen Subjekte überkreuzen und überlagern. Der Band lässt so die je spezifische Verschränkung, den je spezifischen Umgang mit der Konstruktion von Geschlecht und Raum in unterschiedlichen familiären und gesellschaftlichen, lokalen und überlokalen Kontexten unserer
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wie auch vergangener Zeiten Revue passieren. Die in den Blick tretenden handelnden Subjekte werden als Grenzgänger_innen kenntlich, suchen sie sich doch mit heterosexuellen Normen, die der Sicherung von Herrschaftsverhältnissen dienen, zu arrangieren, diese zu bekräftigen oder sie zu unterhöhlen. Meist wissen sie den ihnen dabei je zur Verfügung stehenden Raum nicht nur zu nutzen und neu zu vermessen, sondern auch deutlich sichtbar zu machen.
Von Mustern und Maschen Zur Verschränkung von Geschlecht und Raum
S ONJA L EHMANN , K ARINA M ÜLLER -W IENBERGEN UND J ULIA
E LENA T HIEL
Der umstrickte Baum unseres Titelbildes zeigt, wie durch ungewohnte Farben und Muster neue An- und Einsichten entstehen: Die ihn umgebenden Maschen und Muster lenken die Aufmerksamkeit des_der Betrachter_in auf vorher unsichtbare Figuren und Strukturen. Das Bild weist darauf hin, dass sich Wahrnehmung und Verortung von Dingen durch neue Konturierungen verändern können, so dass diese folglich in neuem Licht erscheinen. Einen ebensolchen Perspektivwechsel auf Materialitäten, soziale Beziehungen und diskursive Formationen anzuwenden, ist das Interesse der Beiträge dieses Tagungsbandes: Sie untersuchen, ob und inwiefern ›Muster‹ und ›Maschen‹ immer wiederkehren, ineinandergreifen oder sich gegenseitig bedingen, Neues hervorbringen oder Altes festsetzen. Um diese Texturen in ihrer Beschaffenheit und ihrer Verwobenheit besser verstehen zu können, werden in den hier versammelten Beiträgen die Kategorien Geschlecht und Raum miteinander verschränkt. Dabei richtet sich der Blick auf Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten. Denn gerade in Geschlechterfragen stehen neue Impulse und altbekannte Strukturen in einem dynamischen, oftmals umkämpften Verhältnis zueinander. Die angestrebte Verräumlichung von Geschlechterfragen provoziert darüber hinaus Perspektivwechsel, die scheinbar Etabliertes auf den Prüfstand stellen. In den Beiträgen wird deutlich, dass neue Muster nicht bloß alte Maschen in neuem Gewand sind. Vielmehr sind Neues und Altes untrennbar miteinander verflochten und es bedarf eines genauen Hinsehens, um Wirkrichtungen und
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Einflüsse zu erkennen und zu differenzieren. So mögen manche Muster, die sich in spezifischen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen andeuten oder ausprägen, nach außen neu und uneingeschränkt emanzipatorisch erscheinen. Jedoch können bei genauerer Untersuchung besonders widerständige und hartnäkkige Maschen zum Vorschein kommen, deren Vorhandensein zur Vorsicht mahnt. Die hier versammelten Beiträge wurden im Oktober 2013 im Rahmen eines Symposiums des DFG-Graduiertenkollegs Dynamiken von Raum und Geschlecht vorgestellt und diskutiert, das die zwar überall präsenten aber kaum diskutierten Verschränkungen von Geschlecht und Raum auf verschiedenen Ebenen zur Debatte stellte. Mit der Einteilung in die vier Sektionen Dimensionen des Theoretischen, Dimensionen der Verkörperung, Dimensionen der Verortung und Dimensionen der Verflechtung lädt der Band dazu ein, die große Bandbreite möglicher Zugänge zum Thema mit Ankerpunkten für den Erkenntnisgewinn zu strukturieren. Um diesen Aspekt zu verstärken, werden die Sektionen durch einleitende Kommentare von Stephan Günzel, Antje Flüchter, Sabine Hark und Nikita Dhawan begleitet. Als ehemalige Gastwissenschaftler_innen des Kollegs stellen sie hier ein weiteres Mal ihre Expertise zur Verfügung und spannen jeweils einen theoretisch-thematisch-methodischen Horizont auf, der die Beiträge der jeweiligen Sektionen verknüpft. Diese Sektionseinteilung wird von den Texten selbst immer wieder unterlaufen und in Frage gestellt: Sie bilden dadurch das Geflecht der Muster und Maschen mit seinen Überkreuzungen, Verknotungen und potentiellen Verwirrungen ab, das die Dynamiken von Geschlecht und Raum prägt. Die Beiträge zeigen aber auch, dass neue Einblicke gerade dort erkennbar werden, wo eben diesen komplexen Verschränkungen nachgespürt wird. Die Aufsätze zur Sektion Dimensionen des Theoretischen zielen darauf ab, durch die Weiterentwicklung unterschiedlicher theoretischer Ansätze die Fäden des Geflechts von Raum und Geschlecht neu anzuordnen. Der Abschnitt wird eingeleitet mit einem Text von Jenny Bauer, in dem sie zwei meist unabhängig voneinander betrachtete Ansätze, nämlich Henri Lefebvres in der Geschlechterforschung selten rezipierte Raumtheorie und feministische Theorien von Alltäglichkeit, miteinander verwebt. Bauer entwirft damit für die feministische Theorie ein neues Handwerkszeug, um den analytischen Blick für das Nachdenken über Alltäglichkeit zu schärfen. Diesem Beitrag folgt der von Felix Krämer, der in einem ganz anderen Kontext einen ebensolchen Brückenschlag zwischen zwei Theorierichtungen unternimmt. Er stellt sich der Aufgabe, eine Kulturgeschichte des Politischen mit einer medial vermittelten, topologischen Struktur zusammenzudenken. Dafür postuliert Krämer in seinem Beitrag die Televisualisierung des Politischen. Anhand von Nachrichtenbeiträgen dreier US-amerikanischer Fern-
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sehsender aus den 1970er und frühen 1980er Jahren über Schönheitswettbewerbe, Männlichkeitskrisen und Führungsfiguren geht er den Verquickungen vom Kommunikationsraum Fernsehen und den zeitgenössischen Geschlechterverhandlungen nach. Victoria Mateos de Manuels Überlegungen zur Rolle von Geschlecht in der Philosophie des Tanzes runden die Sektion ab. Indem sie die Behandlung des Themas ›Tanz‹ bei Friedrich Nietzsche auf vergeschlechtlichte Muster hin untersucht, mit dem Werk Aby Warburgs vergleicht und mit zeitgenössischen geschlechterpolitischen Entwicklungen in Verbindung setzt, liest sie philosophische Ansätze Nietzsches und Warburgs gegen den Strich. Diese Lesart beleuchtet die zugrunde liegenden Dichotomien von Natur und Kultur, Männlichkeit und Weiblichkeit und eröffnet damit eine bisher vernachlässigte Perspektive. Das folgende Kapitel zu Dimensionen der Verkörperung wendet sich mit dem Körper einem Schwerpunkt zu, der in Arbeiten der Geschlechterforschung bereits intensiv behandelt wurde. Das Hinzuziehen der Kategorie ›Raum‹ erlaubt es, neue Zugänge für einen erweiterten Erkenntnisgewinn zu suchen. Die Trendsportart Parkour steht im Fokus des Beitrages von Natalie Schilling. So wie ein Parkoursportler »andere Wege einschlägt, als die, die ihm auf architektonische oder kulturelle Art und Weise vorgegeben sind«, stellt sich Schilling mithilfe etablierter soziologischer Theorien folgender Frage: Inwieweit besitzt diese Sportart tatsächlich das Potenzial, sich den städtischen Raum neu anzueignen, diesen umzudeuten und dabei das Verhältnis zum eigenen Körper zu verändern? Aus einem anderen Blickwinkel nähert sich Carina Bücker den Verwobenheiten von Körper und Stadtraum: Sie diskutiert in ihrem Beitrag die zentrale Rolle des Körpers für die Darstellung des Ich-Verlusts im Roman Entfernung. von Marlene Streeruwitz und zeigt, wie diese mit der Darstellung der urbanen Umgebung der Protagonistin zusammenhängt. Mit Verweis auf literaturwissenschaftliche und soziologische Diskussionen von Raum und Körper arbeitet Bücker heraus, wie zentral geschlechterpolitische Fragestellungen für die Streeruwitzsche Poetik sind. Eine ähnliche Thematik wird auch von Urania Milevski aufgegriffen, die konträr gedachte Theorien miteinander verbindet und um interdisziplinäre Ansätze ergänzt, um neue Analyseansätze für die Narratologie zu gewinnen. Am Beispiel von Libuše Moníkovás Eine Schädigung zeigt Milevski, dass eine narratologisch oft praktizierte strikte Trennung verschiedener Schulen nur ein eingeschränktes Bild zeigt – ein Bild, das sie durch ihre Perspektive zu erweitern weiß. Das dynamische Verhältnis von Akteur_innen und ihrer Umwelt zieht sich als roter Faden durch die Beiträge der Sektion Dimensionen der Verortung. Mart Busche widmet sich der Frage nach Gewaltabstinenz bei Jugendlichen und somit
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einem Thema, das in der Forschung oftmals in den Hintergrund rückt. Im Fokus steht das Selbstverständnis der Akteur_innen, dem eine bewusste Abkehr von der Ausübung der eigenen physischen Verletzungsmacht zugrunde liegt. Dank der von Busche gewählten intersektionalen Forschungsperspektive treten Faktoren zu Tage, welche auf das Bestehen von Strukturen verweisen, die auf komplexe Weise mit gesellschaftlichen Differenzfaktoren wie Religionszugehörigkeit, Ethnizität und Geschlecht in Zusammenhang stehen. Auch Jan-Henrik Friedrichs geht dem Umgang mit Konflikten nach. Er verortet seine Analyse in der Berliner Hausbesetzerszene der 1980er Jahre und hinterfragt den emanzipatorischen Charakter der Geschlechterverhältnisse in den besetzten Häusern. Mit Gewinn für die Diskussionen um die Dynamiken von Geschlecht und Raum kontrastiert Friedrichs den heterotopen Ort des Freiraums mit Alltagsszenen in den Häusern und mit dem in der Besetzerszene vorherrschenden, archaischen wie kriegerischen Männlichkeitsideal. Exklusive Frauenräume erscheinen dabei als eine von vielen Möglichkeiten, den Geschlechterkonflikten zu begegnen. Den Kampf um Freiräume für die queere Community in Delhi in Indien und ihre gesellschaftliche Anerkennung untersucht Janina Geist. Auf der Grundlage ihrer ethnografischen Feldforschungen erörtert sie, inwiefern Sexualität und Gender in den Debatten um den Artikel 377 des Indian Penal Code, der queere Sexualität unter Strafe stellt, eine Rolle spielten. Sie fragt zudem nach den geschlechtsspezifischen Bedingungen und Sichtbarkeiten queeren Engagements und zeigt auf, wie dieses durch die jeweils spezifischen Verortungen der Akteur_innen strukturiert wird. Von Geists Ausführungen zu queerer Politik in Indien führt Kristina Schneiders Beitrag die Lesenden nach Indonesien, um dort Positionierungsprozesse von Lesbi/an in verschiedenen sozialen Räumen in den Blick zu nehmen. Mit Bezug auf Interviews, die im Rahmen ihrer Feldforschung vorwiegend in Yogyakarta entstanden sind, zeigt Schneider, welch vielfältige Strategien der Positionierung indonesische Butchi im täglichen Wechsel zwischen familiären Räumen, beruflichen Kontexten und anderen sozialen Interaktionsräumen entwickeln. Schneiders Forschungsperspektive zeichnet dabei ein Wechselspiel aus Widerständigkeit und strategischer Anpassung nach, das nicht ohne Folgen für persönliche Beziehungen und das Selbstverständnis der Akteur_innen bleibt. Unter der Überschrift Dimensionen der Verflechtung rollen die Beitragenden sich überkreuzende Beziehungen aus ungewohnter Perspektive neu auf. Olaf Tietjes Beitrag geht geschlechterspezifischen Gehaltsunterschieden in der andalusischen Landarbeit auf die Spur, die auf den ersten Blick mit alten Verhältnissen zu brechen scheinen. Wie Tietje allerdings auf Basis seiner raumtheoretisch beeinflussten Forschungsperspektive herausarbeitet, ist die höhere Bezahlung von als weiblich kategorisierten Arbeiten mit migrationspolitischen Erwägungen
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und Ansprüchen an das Verhalten von Landarbeiter_innen verwoben, welche im Zuge der Neoliberalisierung und Globalisierung landwirtschaftlicher Produktion ins Zentrum rücken. Nele Spiering thematisiert anschließend mit ihrer Analyse der biblischen Erzählung von Joseph und Potifars Frau einen ganz anderen zeitlichen Rahmen. Durch eine intersektionale Herangehensweise und das Hinzuziehen von interdisziplinären Theorien zeigt sie auf, dass vergeschlechtlichte strukturelle Gewalt nicht neu, sondern bereits in alttestamentarischer Zeit in der Beziehung von Raum und Geschlecht zu finden ist. Sylvia Jaworski widmet sich mit ihrem Beitrag den kontroversen Diskussionen um den Begriff der Assimilation. Auf der Folie der Verflechtungen von Raum und Geschlecht untersucht sie den von Selig Schachnowitz 1912 veröffentlichten Bildungsroman Luftmenschen. An dieser Schnittstelle von Literaturwissenschaften und Jüdischen Studien kann Jaworski im Rahmen ihrer Analyse zeigen, dass es sich bei dem fiktional aufgearbeiteten Assimilationsprozess des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert um ein mehrdimensionales, transkulturelles Phänomen handelt. Sarah Held wiederum wendet sich mit der Analyse der Projekte home sweet home und The Monument Quilt den konkreten Maschen und Mustern textilaktivistischer Künstler_innen zu. Sie untersucht, wie Prozesse gesellschaftlicher Raumnahme und -verwehrung subversiv in Frage gestellt werden können, um den roten Faden altbekannter Darstellungen von Geschlecht und Gewalt umzustricken, ein öffentliches Forum für die Opfer sexueller Gewalt zu schaffen und auf diesem Wege gesellschaftliche Debatten über Geschlechterverhältnisse anzustoßen. Mit dem #aufschrei diskutiert Anna Dreher schließlich ein aktuelles Phänomen, das im Jahr 2013 geschlechterpolitische Fragen ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rücken wollte. Wie Drehers Analyse demonstriert, ist die Meinungsäußerung im Cyberspace jedoch nicht unumfochten. Sie ist vielmehr von Öffnungen und Schließungen diskursiver Räume geprägt, welche von verschiedenen Akteur_innen und Interessensgruppen immer wieder neu konstituiert werden. Gemeinsam beleuchten die Beiträge dieses Bandes vielfältige Aspekte im komplexen Geflecht der Kategorien Geschlecht und Raum. Dabei liegt die Stärke dieser Sammlung gerade in der Diversität und Heterogenität der versammelten Themen und Ansätze, die eine weitgefächerte, kritische Suche nach neuen Deutungsmustern abbilden. Es wird evident, dass im Zusammendenken von Geschlecht und Raum erkenntnistheoretisches Potenzial liegt, das das Tableau bisheriger Forschungsergebnisse bereichern kann.
I Dimensionen des Theoretischen
Dimensionen des Theoretischen S TEPHAN G ÜNZEL
Innerhalb der sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumtheorie hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass Raum keine Kategorie des Starren oder Materiellen ist, sondern dass damit auf eine Dynamik räumlicher Verhältnisse rekurriert wird. Dies bildet den eigentlichen Kern des sogenannten spatial turn, in dessen Wende es also nicht nur um die Wende zum Raum, sondern auch um eine Wende im Denken des Raums geht. Im Zuge dessen wurde vor allem die Behauptung einer dialektischen Produktion desselben nach Henri Lefebvre aufgegriffen, die von diesem bereits 1974 auf Französisch in La production de l’espace veröffentlicht worden war, aber erst im Zuge der englischen Übersetzung von 1991 in der dann gerade anhebenden Raumdebatte eine Rolle zu spielen begann. Namentlich Edward Soja griff in seiner Veröffentlichung Thirdspace von 1996 auf Lefebvre zurück, indem er die drei ›Dimensionen‹ der Raumproduktion detailliert diskutierte. Die von Soja (etymologisch falsch) so bezeichnete ›Trialektik‹ besteht aus der räumlichen Praxis, der Repräsentation von Raum (oder Raumrepräsentationen) und den Repräsentationsräumen, die ihrerseits in den Modalitäten von ›wahrgenommen‹, ›konzipiert‹ beziehungsweise ›gelebt‹ ins Sein treten. Die damit einhergehenden begrifflichen Konfusionen sind von Lefebvre intendiert, da er damit nicht zuletzt das Bewusstsein für die Prozessualität der Raumproduktion aufrechterhalten möchte und die Aspekte selbst nicht wieder zu starren Entitäten verkommen lassen will. Insbesondere geht es dabei also um die ›Vernähung‹ von Raumrepräsentationen und Repräsentationsräumen sowie um die Verbindung zwischen diesen als gelebte Räume und der (wahrgenommenen) Raumpraxis, die ihrerseits eine Voraussetzung jener sind. Die deutlichste Unterscheidung oder auch Kluft besteht damit zwischen der Praxis und der Repräsentation von Raum: Leicht nachvollziehbar lassen sich unter dem ersten die Handlungen einzelner Menschen fassen, die – weil zugleich
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sinnlich wahrnehmbar – räumlich beschreibbar sind; unter dem zweiten aber die – zumeist szientifischen oder intelligiblen – Abbildungen oder Konzeptionen eines bestehenden oder herbeizuführenden Raums (wie etwa in Form von Karten beziehungsweise architektonischen Plänen). Diese Option weist zugleich darauf hin, dass eine Produktion von Raum auch reproduktiv sein kann und es in den meisten Fällen auch ist, wenngleich jede Reproduktion eines Territoriums zugleich dessen imaginäre Erzeugung im Rahmen der Karte und also eine Produktion von Raum ist. Diese Binnendialektik zeigt zugleich, wie aus Raumrepräsentationen Repräsentationsräume werden. Es handelt sich dabei abermals nämlich nicht um eine materielle Unterscheidung (der eine Raum hier, der andere da), sondern um eine modale Unterscheidung: Raum ist als konzipierter thematisch und ›insistiert‹ oder als gelebter. Eine Karte, die nicht als unschuldige Abbildung eines Territoriums, sondern als dessen fiktionale Erschaffung betrachtet wird, lässt das (gleiche) Kartenbild zu einem Repräsentationsraum werden. Solcherart kann die historisch-kulturwissenschaftliche Besprechung oder ästhetischkünstlerische Auseinandersetzung mit kartografischen Artefakten nicht nur als Aufweis der Karte als kollektiv gelebte Struktur betrachtet werden, sondern selbst als eine repräsentationsräumliche Gegenpraxis verstanden werden. Entscheidend für diese ›produktive‹ Sicht des Raums ist ein topologisches Bewusstsein für Strukturen. Der gemeinhin gegen strukturalistische Ansätze vorgebrachten Kritik, Strukturen seien unflexibel und eben Festschreibungen, kann darüber hinaus entgegengehalten werden, dass dies nur dann zutrifft, wenn diese topografisch aufgefasst werden. Doch Strukturen sind keine Karten des Raums, sondern Diagramme, das heißt sie weisen Relationen auf, die als wahrnehmbarer Raum unterschiedlich ausgeprägt sein können. So kann etwa die Geschlechterdifferenz als das Gegenüberliegen zweier Türen auftreten, als Prinzip einer Sitzordnung identifizierbar sein oder als Dichotomie in der Wissensvermittlung gegeben sein. Topologisch gesehen, handelt es sich dabei aber stets um die gleiche Raumstruktur. Im Rahmen von Raumanalysen können diese Strukturen nun ihrerseits an Repräsentationsräumen festgemacht werden, die exemplarisch sind sowohl für eine betreffenden Kultur als auch für die Struktur selbst. Eine Dynamik von Raum(-ordnungen) kann darüber spezifischer werden und unterscheidet zwischen bloßen topografischen und echten topologischen Veränderungen, das heißt Strukturbildungen. Die Beiträge dieser Sektion widmen sich in unterschiedlicher Weise der Verbindung von Raum- und Geschlechtertheorie und stehen alle in einem Bezug zur triadischen Raumbeschreibung von Lefebvre, insofern sie zwar nur in einem Fall dessen Theorie diskutieren, aber zugleich selbst Beispiele für eine Raumforschung im Ausgang von jeweils einem der drei Momente sind:
D IMENSIONEN DES T HEORETISCHEN
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So setzt sich der erste Beitrag von Jenny Bauer – der in Lefebvres Modell im Bereich des konzipierten Raums anzusetzen wäre – direkt mit der bislang noch recht verhaltenen Rezeption von Lefebvres Raumtheorie in den Gender Studies auseinander und weist dabei zum einen auf die bislang zu wenig genutzten Möglichkeiten der vielfachen Triasbildung innerhalb der drei Raumaspekte sowie zum anderen auf die Hinzunahme von Lefebvres postum veröffentlichter Rhythmusanalyse hin, mit der in einem noch höheren Maße die Dynamik der Raumproduktion denkbar wird. Gerade von hier aus zeigt es sich, dass die triadische Beschreibung von Raum die Geschlechterdifferenz unterläuft, ohne dabei in negative Konzeptionen, wie die der (sich entziehenden) différance nach Jacques Derrida, zu verfallen. Dennoch ist auch Lefebvres Denken nicht frei von klassischen Dualismen – allen voran die von Produktion (der Waren) und Reproduktion (durch Arbeit), die es gelten würde, nach ihren impliziten und genderspezifischen Voraussetzungen zu hinterfragen. Der zweite Beitrag von Felix Krämer – der in Lefebvres Modell im Bereich des gelebten Raums anzusetzen wäre – setzt dagegen bei medienhistorischen Beispielen an, die es raumtheoretisch zu durchdringen gilt. Im Näheren geht es um die Berichterstattung über die Emanzipationsbewegung in den Nachrichten der großen Kanäle des US-Fernsehens in den 1960er und 1970er Jahren, die im Wesentlichen auf eine Stigmatisierung von Frauen zugunsten der männlichen Führungsrolle, welche nicht nur im Einzelnen, konkret, sondern auch diffus metaphorisch auf die moralische Führung des Landes bezogen wurde. Raumtheoretisch wird der Diskurs nun durch das mediale Dispositiv des Fernsehens untersucht, wobei sich zeigt, dass die ›Medienlandschaft‹ weniger eine topografische denn eine topologische Ordnung aufweist – also jenen Aspekt, der im Ausgang von Lefebvre konstitutiv ist für Repräsentationsräume, in denen dann wiederum Repräsentationen von Raum und Körpern aufgehoben sind. Der letzte Beitrag von Victoria Mateos de Manuel – der in Lefebvres Modell dem Bereich des wahrgenommenen Raums zugehören würde – geht von der philosophischen Figur des Tanzes bei Friedrich Nietzsche aus und untersucht die Referenz auf diese Raumpraxis in der Rezeption der Figur bei Aby Warburg hinsichtlich der jeweils vorhandenen Geschlechterimplikationen und Deutungen. Aus Sicht der Genderforschung zu kritisieren ist vor allem das (männliche) Phantasma der Philosophie, dass es einen vordiskursiven Raum reiner Praxis gäbe, wie er bei Nietzsche und Warburg insinuiert wird. Tanz wäre dann der vitalistische Ausdruck einer reinen Natur oder der abgründigen, irrationalen Wahrheit, die nicht rational zu durchdringen ist, wie im Falle des von Nietzsche vorgebrachten – von ihm auf die kulturelle Praxis der griechischen Antike projizierten – Beispiels des dionysischen Rauschzustandes. Mit Lefebvre gesprochen wä-
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re diese Praxis selbst wieder eingebettet in kulturelle Repräsentationsräume, deren Strukturen es zu beschreiben gilt.
Differentielles Denken, heterogene Räume und Konzepte von Alltäglichkeit Anknüpfungen an Henri Lefebvres Raumkonzept aus feministischer Perspektive
J ENNY B AUER
»Es ist ein merkwürdiger Tatbestand, dass das thematisch so umfassende, gedanklich originäre und historisch wie zeitgeschichtlich beziehungsreiche Werk des französischen Philosophen Henri Lefebvre bislang kaum eine weitreichende und tiefgreifende Wirkung gehabt hat.«1
E INLEITUNG Im Kontext der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geisteswissenschaften wurden in den letzten Jahrzehnten in derart regelmäßiger Abfolge turns vollzogen, dass der Taumel in die jeweils neueste Richtung Kritiker_innen schnell zu Spott verleitet. Skepsis gegenüber dem Erkenntniswert des Raumes als zentraler Analysekategorie begleitet demgemäß auch den sogenannten spatial turn. Umso nötiger erscheint eine genaue Begriffsdefinition: Vor diesem Hintergrund ist zu diskutieren, was eine ›räumliche Wende‹ überhaupt beinhaltet und wie sich ›Raum‹ definieren lässt. Für Dirk Quadflieg liegt das Potential einer räumlichen Wende darin, den Raum als »mögliche Reflexionskategorie« zu erkennen, »mit der sich auch ande-
1
Vgl. Fahrenbach, Helmut: »Henri Lefebvre und die ›Metaphilosophie‹ der Praxis«, in: Michael Grauer/Wolfdietrich Schmidt-Kowarzik (Hg.), Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis, Kassel 1982, S. 80-108, hier S. 82.
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re Untersuchungsbereiche auf neue und erhellende Weise erschließen lassen«.2 Raumtheorie wird nach diesem Verständnis als eine Verräumlichung des Denkens definiert. Wie Quadflieg kritisch bemerkt, werde eine solche reflexive Wende in den meisten Ansätzen des spatial turn jedoch gerade nicht vollzogen, stattdessen wende man sich konkreten lebensweltlichen Räumen als Untersuchungsgegenstand zu.3 Als entscheidendes Kriterium eines räumlich orientierten Denkens beschreibt Quadflieg hingegen ein »differentielles und an Relationalität orientiertes Analyseverfahren […]«.4 Für ein solches Verfahren lassen sich in philosophischen und sprachtheoretischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele finden, etwa die Adaption von Platos Konzept der chora durch Julia Kristeva und Jacques Derrida, Derridas Entwurf von différance, der Begriff des Rhizoms bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, Michel Foucaults Idee des Archivs oder dessen Beschreibung von Räumen des Wissens. Nach Quadfliegs Definition erschließt sich eine räumliche Wende vor allem auf der Ebene theoretischer Reflexion. Interessant ist das von Quadflieg erhobene Postulat vor allem aus gendertheoretischer Perspektive, da dieser die Fokussierung auf das Differentielle eingeschrieben ist. Umgekehrt macht die Geografin Gillian Rose auf die zentrale Bedeutung des Raumes im feministischen Diskurs aufmerksam: »Feminist writing makes use of spatial images extraordinarily often.«5 Im Anschluss an diese Beobachtung soll erörtert werden, welche Rolle dem Raum nicht nur als Metapher, sondern als Strukturprinzip feministischer Theorie zukommt. Was den Raumbegriff betrifft, so besteht im sogenannten spatial turn weitgehend Konsens darüber, diesen als relational, das heißt in seinem Verhältnis von Personen, Dingen und Distanzen zu begreifen. Als einer der avanciertesten Beiträge zum gegenwärtigen Raumdiskurs kann Henri Lefebvres La production de l’espace (1974) gelten.6 Der französische Philosoph und Soziologe entwickelte ein Verständnis von Raum als einem Produkt sozialer und kultureller Interak-
2
Quadflieg, Dirk: »›Zum Öffnen zweimal drehen‹. Der spatial turn und die doppelte Wende des Raumbegriffs«, in: Suzana Alpsancar/Petra Gehring/Marc Rölli (Hg.), Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011, S. 21-38, hier S. 22.
3
Ebd.
4
Ebd., S. 26.
5
Vgl. Rose, Gillian: Feminism and Geography. The Limits of Geographical Know-
6
Vgl. Lefebvre, Henri: La production de l’espace, Paris 1974. Im Folgenden nach der
ledge, Oxford 1993, S. 140. englischen Übersetzung zitiert: Lefebvre, Henri: The Production of Space, übers. v. Donald Nicholson-Smith, 29. Auflage, Oxford 2010 [1991].
D IFFERENTIELLES D ENKEN , HETEROGENE R ÄUME
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tion, welches gegenwärtig zum leitenden Paradigma des spatial turn erhoben wird. Die Rezeption seiner Gedanken vollzieht sich jedoch oftmals unmarkiert; aufgrund der relativen Unbekanntheit des Sozialphilosophen soll ein kurzer Überblick über die Auseinandersetzungen, die mit seinem Werk erfolgten, gegeben werden. Vor diesem Hintergrund kann ein Ausblick auf das derzeit kontinuierlich wachsende Lektüreangebot zu Lefebvre erfolgen. Auch eine ausführliche Beschäftigung mit seinem eigenwilligen Raumkonzept erfolgt eher selten, so dass dieses im Folgenden in seinen Grundzügen vorgestellt werden soll. Welche Schnittstellen sich zwischen Raum- und Gendertheorie eröffnen, ist abschließend zu erörtern.
H ENRI L EFEBVRE : R EZEPTIONSLINIEN E NGLAND /USA UND D EUTSCHLAND
IN
F RANKREICH ,
Ein umfassender Überblick über die Rezeption der Werke Lefebvres kann im vorliegenden Kontext nicht erstellt werden, doch es kann ein Blick auf einige ›Schlaglichter‹ erfolgen. Unter Berücksichtigung des interdisziplinären Kontextes dieses Bandes wird zudem bewusst auf eine Ausführung zum Stellenwert seiner Arbeiten in einzelnen Disziplinen zugunsten einer Perspektivierung auf allgemeinere Entwicklungslinien verzichtet. Auffällig sind kulturelle Diskrepanzen in der Rezeption – so verläuft diese in Frankreich, England und Deutschland recht unterschiedlich. Vor der Frage, welche Rolle die Lektüre Lefebvres in Deutschland spielt oder gespielt hat, steht dessen eigene Beschäftigung mit der deutschsprachigen Philosophie. So rezipierte er zu Beginn seiner Laufbahn intensiv jene Philosophen, die aus französischer Perspektive als Vertreter der »›deutsche[n] Dialektik‹«7 gelten. Schelling, der »Vater aller Realdialektiker«,8 wird von Lefebvre positiv bedacht. Hegels Verständnis von Dialektik verändert Lefebvre im Rekurs auf Marx.9 Früh führte er Marx als Theoretiker in Frankreich ein;10 auch für die französische Rezeption
7
Schmid, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, München 2005, S. 14.
8
Schwab, Jens Peter: »L’homme total«. Die Entfremdungsproblematik im Werk von Henri Lefebvre, Frankfurt a.M./Bern/New York 1983, S. 62.
9
Vgl. C. Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft, S. 100.
10 Vgl. ebd., S. 10.
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der Schriften Hegels spielte er eine wichtige Rolle.11 Zentral ist zudem die Auseinandersetzung mit Nietzsche: Der Adaption von dessen Konzept des Übermenschen im faschistischen Deutschland will Lefebvre eine Interpretation entgegensetzen, die »Nietzsches Bedeutung für die marxistische Lehre«12 hervorhebt. Das langjährige Mitglied der Parti Communiste Français (PCF) nahm parteiintern aufgrund seiner Distanzierung vom stalinistischen Russland eine isolierte Position ein;13 später wurde er aus diesem Grund zum Vertreter eines undogmatischen Marxismus deklariert. Der marxistische Theoretiker wird als »[t]rop philosophe pour être communiste, trop communiste pour être philosophe«14 charakterisiert. Diese Zwischenstellung trug zu der marginalen Rezeption im eigenen Land bei: »[…] French interest in Lefebvre seemed to die along with the man.«15 Die Beobachtung, dass seine Schriften in Frankreich wenig Beachtung finden, macht bezeichnenderweise der englische Politikwissenschaftler und Geograf Stuart Elden. Doch auch hier zeichnet sich seit den 1990er Jahren eine Wende ab: »Under the initiative of ›old‹ Lefebvreans[…] and, ironically, intellectuals close to the PCF, a broad range of Lefebvre’s books have been reissued by French publishers.«16 Tradiert werden Lefebvres Arbeiten in Frankreich gegenwärtig unter anderem durch seinen langjährigen Mitarbeiter Rémi Hess, der verschiedene Publikationen zu Leben und Werk seines Lehrers verfasst hat.17 Auch an anderer Stelle
11 Vgl. Elden, Stuart: Understanding Henri Lefebvre. Theory and the Possible, London/New York 2004, S. 68. 12 Meyer, Kurt: Henri Lefebvre. Ein romantischer Revolutionär, Wien 1973, S. 32f. Vgl. auch Lefebvre, Henri: Nietzsche, mit einem Vorwort neu hg. v. Michel Trebitsch, Paris 2003 [1939]. 13 Vgl. u.a. ebd., S. 54-60. 14 Trebitsch, Michel: »Henri Lefebvre (1901–1991)«, http://www.ihtp.cnrs.fr/Trebitsch/ henri_lefevbre.html vom 16.04.2004. 15 Elden, Stuart: »Some are Born Posthumously: The French Afterlife of Henri Lefebvre«, in: Historical Materialism 14/4 (2006), S. 185-202, hier S. 186. 16 Kipfer, Stefan/Goonewardena, Kanishka/Schmid, Christian/Milgrom, Richard: »On the production on Henri Lefebvre«, in: dies. (Hg.), Space, Difference, Everyday Life. Reading Henri Lefebvre, New York 2008, S. 1-23, hier S. 5. Die Autoren nennen unter anderem die Titel Métaphilosophie, Nietzsche, Le nationalisme contre les nations und La production de l’espace. Vgl. ebd., S. 18. 17 Vgl. Hess, Rémi: Henri Lefebvre et la pensée du possible. Théorie des moments et construction de la personne, Paris 2009; Deulceux, Sandrine/Hess, Rémi: Henri Lefebvre. Vie, œuvres, concepts, Paris 2009.
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werden Biografie und Bibliografie des Denkers gleichermaßen beleuchtet, in Frankreich durch Hugues Lethierry,18 in den USA durch Rob Shields19 und in England durch Stuart Elden.20 Eine Arbeit des Philosophen Vincent Cespedes zum Verhältnis Lefebvres zur französischen Studentenbewegung der 1968er Jahre,21 auf welche er als Lehrer Daniel Cohn-Bendits und Jean Baudrillards Einfluss nahm, gehört zu den aktuellsten Publikationen im französischsprachigen Raum. Michel Trebitsch – von Elden als »the most interesting of the writers on Lefebvre«22 bezeichnet – konstatiert, dass der Denker in Frankreich in erster Linie als Soziologe wahrgenommen werde, in Deutschland, Italien und den USA dagegen eher dessen philosophische Ansätze diskutiert würden.23 Im Gegensatz zu Trebitsch ist Elden der Ansicht, dass in der französischen Rezeption der ›philosophische‹ Gehalt eine größere Rolle spiele als andernorts.24 Am intensivsten werden Lefebvres Arbeiten in den letzten Jahren im angloamerikanischen Raum rezipiert. Edward Sojas postmoderne Adaption seiner Raumtheorie hat dem steigenden Interesse an den Arbeiten des Philosophen in den letzten Jahrzehnten Vorschub geleistet;25 gleichzeitig hat sein ›verkürztes‹ Verständnis derselben auch Kritik hervorgerufen.26 Wurde noch vor gut einem Jahrzehnt konstatiert, das Werk des französischen Denkers bleibe »to be discovered, rather than rediscovered«,27 so entwickelte sich seitdem »an academic industry on Lefebvre«.28 Seit den 1990er Jahren wurde nicht nur La production
18 Vgl. Lethierry, Hugues: Penser avec Henri Lefebvre. Sauver la vie et la ville?, Lyon 2009. 19 Vgl. Shields, Rob: Lefebvre, Love & Struggle. Spatial Dialectics, New York 1999. 20 Vgl. S. Elden: Understanding Lefebvre. 21 Vgl. Cespedes, Vincent: Mai 68. La philosophie est dans la rue!, Paris 2008. 22 Ebd., S. 188. 23 Vgl. M. Trebitsch: »Henri Lefebvre (1901–1991)«. 24 Vgl. S. Elden: »French Afterlife«, S. 197. 25 Vgl. v. a. Soja, Edward: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places, Oxford 1996. 26 Vgl. z.B. Elden, Stuart: »Politics, Philosophy, Geography: Henri Lefebvre in Recent Angloamerican Scholarship«, in: Antipode. A Radical Journal of Geography 33/5 (2001), S. 809-825. 27 Elden, Stuart/Lebas, Elizabeth: »Introduction: Coming to Terms with Lefebvre«, in: Henri Lefebvre: Key Writings, dies./Eleonore Kofman (Hg.), London/New York 2003, S. xi-xix, hier S. xi. 28 S. Kipfer/K. Goonewardena/C. Schmid/R. Milgrom: »On the production on Henri Lefebvre«, S. 5.
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de l’espace ins Englische übersetzt, sondern auch zahlreiche weitere Schriften. So übertrugen Eleonore Kofman und Elizabeth Lebas 1996 in der Sammlung Writings on Cities verschiedene Beiträge Lefebvres, die besonders im Kontext der Urban Studies Beachtung finden.29 State, Space, World gibt einen Überblick über staatssoziologische Schriften;30 zu diesem Kontext hat in den letzten Jahren insbesondere der amerikanische Soziologe Neil Brenner gearbeitet.31 Mit Key Writings wurde eine Textsammlung vorgestellt, die über Lefebvres Arbeiten zu Raum und Urbanität hinausgeht und die Diversität seiner Themen herausstellt;32 einen vergleichbaren Ansatz verfolgt die internationale Publikation Reading Henri Lefebvre.33 Rhythmanalysis, eine posthum veröffentlichte Textsammlung zu seinem letzten Projekt, wurde 2009 von Stuart Elden und Gerald Moore übersetzt.34 Elden nimmt mittlerweile eine zentrale Position in der englischsprachigen Rezeption ein, die mit einer regen Publikationstätigkeit einhergeht.35 Während die Übersetzungen ins Englische einen wesentlichen Anteil an der steigenden Popularität von Lefebvres Arbeiten haben, bleibt eine ähnliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum bislang aus: Bis heute liegt keine deutsche Übersetzung von La production de l’espace vor. Über die Problematik der ›Übersetzbarkeit‹ seiner Werke sind zugleich verschiedene Überlegungen angestellt worden. So beschreibt Kurt Meyer dessen Offenheit für verschiedenste Themengebiete als Herausforderung:
29 Vgl. Lefebvre, Henri: Writings on Cities, hg. u. übers. v. Eleonore Kofman/Elizabeth Lebas, Oxford 1996. 30 Vgl. Lefebvre, Henri: State, Space, World. Selected Essays, hg. v. Neil Brenner/Stuart Elden, übers. v. Gerald Moore/dens., Minneapolis 2009. 31 Vgl. z.B. Brenner, Neil: »State Theory in Political Conjuncture: Henri Lefebvre’s ›Comments on a New State Form‹«, in: Antipode. A Radical Journal of Geography 33/5 (2001), S. 783-808. 32 Vgl. Lefebvre, Henri: Key Writings, hg. v. Stuart Elden/Elizabeth Lebas/Eleonore Kofman, London/New York 2003. 33 Goonewardena, Kanishka/Kipfer, Stefan/Milgrom, Richard/Schmid, Christian (Hg.), Space, Difference, Everyday Life. Reading Henri Lefebvre, New York 2008. 34 Vgl. Lefebvre, Henri: Rhythmanalysis. Space, Time, and Everyday Life, hg. u. übers. v. Stuart Elden/Gerald Moore, London/New York 2004. 35 Vgl. neben den bereits genannten z.B. Elden, Stuart: »Between Marx and Heidegger: Politics, Philosophy and Lefebvre’s The Production of Space«, in: Antipode. A Radical Journal of Geography 36/1 (2004), S. 86-105.
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»Lefebvre […] stellt Zusammenhänge her, ja er wechselt mit Leichtigkeit von einem Thema zum andern und erwartet mit Selbstverständlichkeit vom Leser, daß er die gleiche Beweglichkeit mitbringe und die Vielfalt von Bezügen sofort erfasse. Mit welchem Gegenstand man sich auch beschäftigt, bei Henri Lefebvre stößt man immer auf das Problem, eine außerordentliche Fülle von Gedanken und Aspekten miteinander in Verbindung bringen zu müssen, was beinahe unmöglich ist. Es besteht deswegen die Gefahr, daß sich der Leser mit dem Autor zusammen in einem Labyrinth verirrt.«36
Mehr noch als die Hürde der thematischen Diversität stellt Helmut Fahrenbach als problematisch dar, dass Lefebvres Werk »sich gegen direkte Zugänge und vor allem eine systematische Rezeption […] zu sperren scheint«. Dieser Umstand resultiere aus einem »diskursiv offene[n], fragende[n] Denkstil«.37 Hierzu bemerkt Ulrich Müller-Schöll: »Unglücklicherweise hat Lefebvre nicht zwischen dem (metaphysischen) System-Anspruch und der systematischen Gliederung einer theoretischen Fragestellung unterschieden. Wer von ihm ein ›enchaînement rigoureux des concepts‹ […] wünschte, dem hielt er entgegen, man brauche dem Markt der Systeme kein weiteres hinzufügen.«38 Diese Faktoren stellen mögliche Erklärungsansätze zu ausbleibenden Übersetzungen und dem damit verbundenen geringen Bekanntheitsgrad des Philosophen dar. Zugleich zeichnet sich ab, dass die Schriften Lefebvres selbst einen Forschungsgegenstand bilden, der als solcher aus übersetzungstheoretischer Perspektive erst noch zu erschließen wäre. In Deutschland wurde ein Teil seiner Arbeiten vornehmlich in den 1960er Jahren auf sein Verhältnis zum Marxismus hin rezipiert.39 Im Zuge dessen wurden in den 1970er Jahren verschiedene seiner Schriften zum Verhältnis von Gesellschaft, Produktion und Individuum ins Deutsche übertragen.40 Der Umstand, dass der Marxismus im Verlauf der 1980er Jahre zunehmend seine Stellung als ein leitendes theoretisches Paradigma einbüßte, ist im Kontext der deutschsprachigen Rezeption zu berücksichtigen. Charakteristisch scheint eine Trennung in
36 Ebd., S. 40f. 37 H. Fahrenbach: »Praxis«, S. 84. 38 Müller-Schöll, Ulrich: Das System und der Rest. Kritische Theorie in der Perspektive Henri Lefebvres, Mössingen-Talheim 1999, S. 54f. 39 Vgl. zu einem Überblick über entsprechende Arbeiten K. Meyer: Revolutionär, S. 163f. 40 Vgl. u.a. Lefebvre, Henri: Sprache und Gesellschaft, Düsseldorf 1973; ders.: Kritik des Alltagslebens. Grundriss zu einer Soziologie der Alltäglichkeit, München 1975; ders.: Metaphilosophie. Prolegomena, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M. 1975.
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der Rezeption von Lefebvre als marxistischem Theoretiker, dessen Raumkonzept nur am Rande interessiert, und als Raumtheoretiker, dessen marxistische Positionen fragwürdig erscheinen, zu sein. Diese Trennung schlägt sich in Form von zwei zeitlich zu unterscheidenden ›Konjunkturwellen‹ (vor und nach dem spatial turn) in der Auseinandersetzung mit Lefebvre nieder, die wenig Bezug zueinander aufweisen. Welche Gültigkeit man dem ›ideologischen Erbe‹ Lefebvres auch zu- oder absprechen mag, fest steht, dass es von fundamentaler Bedeutung ist, um dessen Beweggründe und die daraus resultierende Formulierung seiner Methoden zu verstehen, bauen doch dessen Arbeiten zentral auf seinen MarxLektüren auf. Erst vor diesem Hintergrund kann erörtert werden, welche Relevanz seine Theorien heute noch haben. Auch wenn die Querverbindung naheliegt, wurde das Verhältnis des französischen Kollegen zur Kritischen Theorie bislang nur ansatzweise diskutiert. Obwohl Lefebvre ›große‹ zeitgenössische Denker wie Ernst Bloch oder Jürgen Habermas rezipierte und sich einige offensichtliche Querverweise finden lassen,41 haben seine Werke in Deutschland nie einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad erlangt. Auch aus internationaler Perspektive ergibt sich kein anderes Bild: »Lefebvre plays no role at all in Jameson’s most original contribution to marxist [sic] theory. […] Neither does he appear in Terry Eagleton’s popular and pioneering studies. […] Martin Jay devotes a chapter to him in Marxism and Totality, the quality of which stands in negative contrast to the breadth and depth of his treatment of George Lukács, Jean-Paul Sartre, and the Frankfurt School thinkers in the same book.«42
Jens Peter Schwab sieht die ausbleibende Rezeption in diesem Kontext darin begründet, dass Lefebvre Georg Lukács’ Theorie der Verdinglichung, eine theoretische Grundlage der Frankfurter Schule, vehement abgelehnt habe.43 Diese Distanzierung beschreibt Schwab als ein eklatantes Missverständnis der Theorien Lukács’ durch Lefebvre, weswegen dieser ein »inkonsequent[es] Theoriegebäude«44 errichte. Dessen Position im marxistischen Diskurs seiner Zeit sowie mögliche wechselseitige intellektuelle Einflüsse sind aus wissenschaftshistorischer Perspektive im Detail jedoch erst noch zu erschließen.
41 H. Fahrenbach: »Praxis«, S. 84. Vgl. zu einer vergleichenden Lektüre von Henri Lefebvre und Ernst Bloch U. Müller-Schöll: Das System und der Rest. 42 S. Kipfer/K. Goonewardena/C. Schmid/R. Milgrom: »On the production on Henri Lefebvre«, S. 10f. 43 Vgl. J.P. Schwab: Entfremdungsproblematik, S. 92f. 44 Vgl. ebd., S. 99.
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Mit Stadt, Raum und Gesellschaft hat Christian Schmid eine deutschsprachige Arbeit vorgelegt, die sich den epistemologischen Grundlagen der Raumtheorie Lefebvres widmet.45 Unter Einbezug kulturwissenschaftlicher Perspektiven nimmt auch Jan Engelke eine Charakteristik dieses dreigeteilten Raumkonzepts vor.46 Ähnlich wie in England und den USA stellen Lefebvres Beiträge zur Stadtsoziologie gegenwärtig einen zentralen Referenzpunkt dar.47 Seine Bedeutung als Vordenker des spatial turn wird hierzulande jedoch häufig noch ausgeblendet.
D IE T HEORIE
VON DER
P RODUKTION
DES
R AUMES
La production de l’espace ist das Werk, in dem Lefebvre eine umfassende Theorie des Raumes erstellt. Das Buch kann als ›Alterswerk‹ verstanden werden: Hier konvergieren Überlegungen und Konzepte, die sein Verfasser in einer mehr als dreißigjährigen Schaffensperiode entwickelt und in zahlreichen früheren Schriften ausformuliert hat. Maßgeblich ist die Annahme einer historischen und sozialen Verfasstheit des Raumes: »[…] every society […] produces a space, its own space«.48 Diese Produktion des Raumes vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen. Ausgangspunkt für diese Theorie ist die Beobachtung, dass verschiedene Konzeptionen des Raumes, wie sie beispielsweise in der Physik, der Mathematik, der Philosophie, der Geografie, der Architektur, der Soziologie, der Geschichte und der Kunst/Literatur entworfen werden, nicht in Zusammenhang miteinander gebracht würden. Die dort vorgenommen unterschiedlichen und teils divergierenden Vorstellungen von Raum will Lefebvre jedoch nicht gegeneinander ausgespielt wissen. Zentral ist für seine Raumtheorie vielmehr die Idee einer Produktion des Raumes auf all den genannten Ebenen: Physischer, mentaler und sozialer Raum überlappten einander und stünden in Verbindung miteinander.49
45 Vgl. C. Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft. 46 Vgl. Engelke, Jan: Kulturpoetiken des Raumes. Die Verschränkung von Raum-, Textund Kulturtheorie, Würzburg 2009. 47 Vgl. z.B. Vogelpohl, Anne/Ronneberger, Klaus: »Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes und die Urbanisierung der Gesellschaft«, in: Jürgen Oßenbrügge/Anne Vogelpohl (Hg.), Theorien in der Raum- und Stadtforschung. Einführungen, Münster 2014, S. 251-270. 48 H. Lefebvre: The Production, S. 31. 49 Vgl. ebd., S. 14.
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Diese Theorie zielt darauf ab, die genannten divergenten Definitionsweisen von Raum gleichermaßen zu berücksichtigen. Hierfür fingiert Lefebvre Modelle, die sich aus einer »›triadische[n] Dialektik‹«50 ableiten. Dabei kommen theoretische Ansätze zum Tragen, mit denen er sich bereits lange beschäftigt hat: Erst mit seinem Raumkonzept hat er »die dreidimensionale Dialektik […] in ihrer ganzen Breite und Tiefe zur Anwendung gebracht«.51 Das dem dialektischen Denken inhärente Moment eines unüberwindbaren Widerspruchs liege in der Trennung von abstraktem und physischem/sozialen Raum: »[…] mental space becomes […] the locus of a ›theoretical practice‹ which is separated from social practice […]«.52 Genau hier setzt Lefebvres Kritik an, denn im okzidentalen Denken werde die »pure form« vom »impure content«53 getrennt. Mit seinem Modell zielt er darauf ab, die Heterogenität des sozialen Raums fassbar zu machen: »Mit der Zerlegung des Einheitlichkeit und Ganzheit suggerierenden Raum-Begriffs in eine Dreiheit werden Oppositionen, Differenzen und Widersprüche, aber auch Ähnlichkeiten, Analogien und Äquivalenzen unmittelbar in das Analyseraster eingeführt.«54 Zentral steht in diesem Raummodell eine Trias, mittels derer die verschiedenen Dimensionen von Raum erfasst werden können: Die ›spatial practice‹ (›la pratique spatiale‹), die ›representations of space‹ (›les représentations de l’espace‹) und die ›representational spaces‹ (›les espaces de représentation‹).55 Während die spatial practice sich auf die Bewegungen der Menschen im Alltag beziehe, würden die representations of space durch abstrakte Raumkonzepte erzeugt, wie sie etwa die Philosophie generiere.56 Die Architektur könne beispielsweise als Disziplin gelten, durch die abstrakte oder mentale (Stadt-)Räume entworfen würden. Diese übten Einfluss auf die soziale Realität der Gesellschaft und damit auf die räumliche Praxis der Menschen aus. Zugleich könne diese ›abstrakte‹ Dimension den Raum niemals in seiner Gesamtheit erfassen: Die Bewegung der Einzelnen im sozialen Raum ist Lefebvre zufolge unberechenbar, nicht vorhersehbar und daher komplexer als der geplante Raum sie vorstruktu-
50 C. Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft, S. 307. 51 Ebd. 52 H. Lefebvre: The Production, S. 6. 53 Ebd., S. 97. 54 J. Engelke: Kulturpoetiken, S. 57. 55 Vgl. H. Lefebvre: The Production, S. 33, H. Lefebvre: La production, S. 42f. Die Bezeichnungen aus dem Originaltext wurden an dieser Stelle zusätzlich eingefügt, da ihre Konnotationen mit denen der englischen Begriffe nicht immer deckungsgleich sind. 56 Vgl. H. Lefebvre: The Production, S. 38f.
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riert. Als dritten Begriff, der die Überlagerung materieller und immaterieller Aspekte erfassen soll, führt er daher den Begriff der representational spaces ein: Der physische Raum erfahre durch Symbolisierung eine Aneignung und Umdeutung.57 Diskurse über den Raum und Handlungen im sozialen Raum werden so in einem einzigen Modell erfasst: »Für die räumliche Praxis ist die Reproduktion sozialer Beziehungen dominant, der Komplex von Wissen(sproduktion) und Macht dominiert die Repräsentationen des Raumes, die Räume der Repräsentation werden einmal […] mit Erinnerungen und Symbolen korreliert, aber auch mit Bildern, mit Kunst. Üblicherweise Getrenntes soll hier amalgamiert werden: Reales wie Imaginäres ist […] aufgehoben […].«58
Die Tatsache, dass Lefebvre dieses Dreiermodell um eine Vielzahl weiterer ›Triaden‹ ergänzt, trägt nicht eben dazu bei, das Verständnis seiner Theorie zu vereinfachen. Die Materialität des Raumes wird Lefebvre zufolge vom Individuum über den Körper und seine Wahrnehmung erfasst, der in diesem Punkt auf die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys rekurriert. Die zweite Triade bezieht sich daher auf den Einsatz des Körpers und dessen Konzeptualisierung durch Kultur und (Natur-)Wissenschaften59 – die erste Triade hingegen befasst sich mit den materiellen und imaginären Dimensionen des Raumes. Parallel zur räumlichen Praxis steht der Begriff des perceived space (espace perçu), der die Wahrnehmung des Raumes durch das Individuum erfasst. Als conceived space (espace conçu) werden äquivalent zu den Repräsentationen des Raumes erdachte oder genauer gesagt geplante Räume bezeichnet. Der materielle Raum wird vom Subjekt erlebt und erfahren; gleichzeitig wird er von Imaginationen, Symbolen und Erinnerungen überlagert.60 Dieses Moment bezeichnet Lefebvre als den lived space (espace vécu). Der ›gelebte‹ Raum wird gleichermaßen erfahren und erfühlt, hier überlagern sich materielle und immaterielle Aspekte des Diskurses um den Körper: »As for representations of the body, they derive from accumulated scientific knowledge, disseminated with an admixture of ideology: from knowledge of anatomy, of physiology, of sickness and its cure, and of the body’s relations with its surroundings or ›milieu‹. Bodily lived experience, for its part, maybe [sic] both highly complex and quite peculiar, be-
57 Vgl. ebd., S. 39. 58 J. Engelke: Kulturpoetiken, S. 49. 59 Vgl. ebd., S. 40. 60 Vgl. H. Lefebvre: The Production, S. 39.
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cause ›culture‹ intervenes here, with its illusionary immediacy, via symbolisms […]. The ›heart‹ as lived is strangely different from the heart as thought and perceived.«61
Hier zeichnet sich bereits eine Verschränkung der verschiedenen Ebenen ab. Für Lefebvre ist es essenziell, diese in einen dynamischen Zusammenhang zu stellen: »[…] the lived, conceived and perceived realms should be interconnected, so that the ›subject‹, the individual member of a given social group, may move from one to another without confusion […].« 62 Ein möglicher Grund für die lange ausbleibende Rezeption der Arbeiten Lefebvres im Kontext des spatial turn könnte darin gesehen werden, dass man sich bereits bei der Beschreibung seiner eigenwilligen Raumbegriffe ›verhaken‹ kann: Hier wird nicht eben eine Raumtheorie ›to go‹ angeboten. Akzeptiert man jedoch die Unübersichtlichkeit der Fülle an Referenzpunkten sowie die Tatsache, dass das Modell bewusst ›lückenhaft‹ bleibt, kann dies den Zugang zu einem versierten Raumkonzept eröffnen, das in seiner Anschlussfähigkeit an Fragestellungen etwa nach der Historizität von Räumen, deren kultureller Verfasstheit oder der zeitlichen ›Taktung‹ des Raumes noch längst nicht vollständig erforscht ist. Gerade durch seine Diversität erweist sich Lefebvres multidimensionales Raumkonzept als ein Modell, das für verschiedenste Fragestellungen offen steht und insbesondere für trans- und interdisziplinäre Perspektiven geradezu prädestiniert erscheint.
P OSITIONIERUNGEN
FEMINISTISCHER
K RITIK
Kann der Marxismus als eine theoretische Richtung gesehen werden, von der aus eine fundamentale Kritik des gesellschaftlichen Status quo geübt wird, so ist dieser von feministischer Seite aus seinerseits auf ›Blindstellen‹ hin untersucht worden. In ihrem Essay »The Technology of Gender« setzt sich die feministische Theoretikerin Teresa de Lauretis kritisch mit den Positionen Louis Althussers als einem der führenden zeitgenössischen Marxisten auseinander. Sie bemängelt, dass Gender-Aspekte im traditionellen marxistischen Denken nicht mit den Funktionsweisen der ›Ideologie‹ in Zusammenhang gebracht, sondern als »marginal issue, one limited to ›the woman question‹«63 betrachtet würden. Fra-
61 Ebd., S. 40. 62 Ebd. 63 De Lauretis, Teresa: »The Technology of Gender«, in: dies., Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington, Indiana 1987, S. 1-30, hier S. 6.
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gen von Gender, Sexualität und Subjektivität erschienen in diesem Kontext als »located in the private sphere of reproduction«.64 Die feministische Forschung hat diese ›Blindstellen‹ mittlerweile gut aufgearbeitet und gezeigt, dass die Geschlechtersegregation ein wesentliches Fundament der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse darstellt.65 Nicht aber um eine Positionsbestimmung von feministischer und marxistischer/Kritischer Theorie kann und soll es im Folgenden gehen, sondern um zwei Fragen: 1.) Welchen Lösungsansatz wählt de Lauretis für ihre Kritik? 2.) Inwiefern ist dieser aus raumtheoretischer Perspektive interessant beziehungsweise welche Rolle kann Lefebvres Raumtheorie in diesem Kontext einnehmen? Ausgehend von ihrer Kritik an Althusser sucht de Lauretis nach einer Konzeption, die eine »possibility of agency«66 mit einschließt. Hierfür generiert sie den Begriff eines ›Subjekts des Feminismus‹ als ein theoretisches, idealistisches Konstrukts, das nicht mit »real historical beings and social subjects«67 gleichzusetzen sei. Indem das ›Subjekt des Feminismus‹ als divergentes Denkkonstrukt vorgestellt wird, versucht de Lauretis, auf epistemologischer Ebene die Reproduktion einer Geschlechterdichotomie aufzulösen. Eben diesen Ansatz beschreibt die Geografin Gillian Rose als ein an Differentialität orientiertes Denken.68 De Lauretis stellt ihre Theorien also auf das Fundament eines ›räumlichen‹ Denkens im Sinne Quadfliegs. Im Anschluss daran geht Rose der Frage nach, welche praktischen Konsequenzen de Lauretis’ Ansatz im Hinblick auf ein feministisches Raumverständnis haben könnte. Sie stellt die Beobachtung der Frequenz räumlicher Metaphorik an den Beginn ihrer Überlegungen: »Both the differences within the subject of feminism and the possiblity of her self-representation have been articulated by feminists through spatial images.«69 Die Selbstartikulation des Anderen bewege sich, so führt Rose mit direktem Verweis auf de Lauretis aus, zwischen dem Repräsentierten und dem, was durch den hegemonialen Diskurs nicht repräsentierbar gemacht werde: »[…] the feminist subject has two places at once: ›It is a movement between the
64 Ebd. 65 Vgl. für den deutschsprachigen Kontext z.B. Knapp, Gudrun-Axeli: Im Widerstreit. Umrisse einer Programmatik feministischer Theorie, Wiesbaden 2012. 66 T. de Lauretis: »Technology«, S. 9. 67 Ebd., S. 9f. 68 Vgl. G. Rose: Feminism and Geography, S. 138. 69 Ebd., S. 138f.
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(represented) discursive space made available by hegemonic discourses and the space-off, the elsewhere, of those discourses. […]‹«.70 Dieser Status des feministischen Subjekts zwischen Repräsentation und Nicht-Repräsentierbarkeit erfordere ein Verständnis von »complex and contradictory spatialities« – Rose spricht auch von einem »[p]aradoxical space«.71 Wie aber werden diese »heterogenous geometries«72 fassbar gemacht? An dieser Stelle führt Rose den Begriff des Alltags ein: »They are lived, experienced and felt.«73 Alltag ist ein Konzept, das in der feministischen Theorie eine große Rolle spielt. Als Vorreiterin in der Formulierung einer feministischen Epistemologie gilt Nancy Hartsock, die mit Bezug auf die marxistische Standpunkttheorie ihren Fokus auf das Alltagsleben von Frauen richtet.74 Insbesondere in der feministischen Literaturwissenschaft älteren Datums wird diskutiert, wie der Alltag ästhetisch konzipiert werden kann. So verfasst Hélène Cixous mit ihrem Essay »Vivre l’orange« eine Art Hymne auf die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector, die sie als ideale Vertreterin der écriture féminine vorstellt. Diese nicht an ein Geschlecht gebundene Form des ›weiblichen Schreibens‹ richtet sich gegen eine ›männliche‹ Erzählung ›großer Geschichte(n)‹.75 Als ein weiteres Beispiel kann Christa Wolfs »Poetik des Alltags« gelten, deren letztes Zeugnis die 2003 unter dem Titel Ein Tag im Jahr. 1960-2000 veröffentlichte Sammlung biografischer Erzählungen darstellt.76
70 Vgl. ebd., S. 140. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 140f. 73 Vgl. G. Rose: Feminism and Geography, S. 140f. 74 Vgl. Hartsock, Nancy: »The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism«, in: Sandra Harding/Merrill B. Hintikka (Hg.), Discovering Reality: Feminist Perspectives on Epistemology, Methodology, and Philosophy of Science, Dordrecht u.a. 1983, S. 283-310. Vgl. auch Bauer, Robin: »Grundlagen der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung«, in: Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006, S. 247-280, hier S. 262-264. 75 Vgl. z.B. Sollte-Gresser, Christiane: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (19291949), Würzburg 2010, S. 205-231. 76 Vgl. z.B. von Ankum, Katharina: Die Rezeption von Christa Wolf in Ost und West. Von Moskauer Novelle bis ›Selbstversuch‹, Amsterdam 1992, S. 14.
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Auch in diesem Punkt knüpft Rose an de Lauretis an, die die Möglichkeit widerständischer Aneignung im Alltag verortet: »To assert that the social representation of gender affects its subjective construction and that, vice versa, the subjective representation of gender – or self-representation – affects its social construction, leaves open a possibility of agency at the subjective and even individual level of micropolitical and everyday practices […].«77
Doch was genau beinhaltet ein räumliches Konzept des Alltäglichen und welche Relevanz kann es als methodisches Instrument entfalten? Hier bleiben Rose und de Lauretis die Antwort schuldig.
L EFEBVRE
ALS
T HEORETIKER
DES
A LLTÄGLICHEN
Während de Lauretis bemängelt, dass das Moment des Alltäglichen bei Althusser nicht berücksichtigt werde,78 stellt dieses ein Kernkonzept Lefebvres dar. In ihrer Kritik an Althussers ›einseitigem‹ Marxismus sind sich de Lauretis und Lefebvre somit einig.79 Wie Kurt Mayer ausführt, beschreibt letzterer das Alltagsleben als einen Ablauf von Routinen: »Einerseits ist es trivial und armselig, […] dann nämlich, wenn man das Repetitive der immer gleichen Gesten betrachtet: Aufstehen am Morgen, Kaffee trinken, das Haus verlassen, Plätze überqueren, die Zeitung lesen und so fort.«80 Diese Entwicklung lässt sich mit dem Begriff der ›Entfremdung‹ belegen. Die Tristesse des Alltäglichen ergibt sich aus einer für die moderne (das heißt kapitalistische) Gesellschaft charakteristische Teilung des sozialen Lebens in verschiedene Bereiche: »Heute besteht die Alltäglichkeit aus der Aufspaltung des ›wirklichen‹ Lebens in getrennte, funktionale, organisierte (und als solche strukturierte) Sektoren: Arbeit (Fabrik oder Büro), Privatleben (Familie und Wohnort) und Freizeit. Die Trennung dieser drei Bereiche ist ablesbar am Gelände der menschlichen Ballungsräume, wie sie geworden sind und wie man sie gebaut hat. In der Siedlung und Stadt von einst waren diese Aspekte des menschlichen Lebens noch vereint (nicht ohne ein paar schwere Mängel). Heute, da sie getrennt
77 T. de Lauretis: »Technology«, S. 9. 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. z.B. S. Elden: Understanding Lefebvre, S. 25. 80 K. Meyer: Revolutionär, S. 126.
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sind, werden sie zusammengehalten durch gemeinsame Merkmale, die eben dadurch die Einheit des Alltäglichen konstituieren.«81
In diesem Zusammenhang werden Gender-Diskrepanzen explizit angesprochen, die auch für den gegenwärtigen Diskurs von Raum und Geschlecht noch Relevanz haben: »Unter diesem Aspekt lastet das größte Gewicht auf den Frauen. Sie verrichten täglich immer die gleichen Arbeiten im Haushalt, die Kinder verlangen die notwendigen und immer gleichen Handreichungen; den Frauen obliegt im allgemeinen die Verrichtung der niedrigen Arbeit […].«82 Der Alltag wird bei Lefebvre jedoch nicht nur durch einen ermüdenden Ablauf immer gleicher Routinen beschrieben. Zugleich wird hier eine (subversive) Umdeutung durch das Individuum möglich, indem dieses eine kreative (poietische) Beziehung zum eigenen Sein eingeht. Diese Akte der Aneignung des Alltags setzen eine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Hierarchien voraus: »Le processus de réalisation implique une attitude critique […] vis-à-vis des représentations de la nature, du sexe, du pouvoir, de la vie et de la mort, etc.«83 Als früher und entschiedener Kritiker des Strukturalismus, den er als eine die Komplexität des Alltags reduzierende Theorie betrachtet, sucht Lefebvre Momente des Differentiellen in seine Gedankenführung einzubauen, wo immer es ihm möglich ist. Dies gilt insbesondere für seine Raumtheorie: »The placing of the body and its creation of a differential field runs throughout Production of Space.«84 Durch Veröffentlichungen wie Le manifest différentialiste85 ist der Soziologe auch darüber hinaus als ein Denker des Differentiellen einzuordnen: »Lefebvre traced the philosophical genesis and genealogy of the concept of difference and how we might pursue a strategy and a method based on difference.«86
81 H. Lefebvre: Metaphilosophie, S. 120. 82 K. Meyer: Revolutionär, S. 126. 83 Lefebvre, Henri: La présence et l’absence. Contribution à la théorie des représentations, Tournai 1980, S. 212f. 84 Kofman, Eleonore/Lebas, Elizabeth: »Lost in Transposition. Time, Space, and the City«, in: H. Lefebvre: Writings on Cities, S. 3-60, hier S. 32. 85 Lefebvre, Henri: Le manifeste différentialiste, Paris 1970. 86 E. Kofman/E. Lebas: »Lost in Transposition«, S. 26.
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Die Konzeption des Alltäglichen steht im Zentrum von Lefebvres Denken. In drei Schriften arbeitet er eine ›Kritik des Alltagslebens‹ aus.87 Darüber hinaus erweist sich das Alltägliche als zentraler Bestandteil seiner Raumtheorie. So »spielt in seiner triadischen Modellierung des sozialen Raumes die Praxis […] eine tragende Rolle. Gleichzeitig führt Lefebvre in diesem Dreierschema das Erlebte oder Gelebte ein, in räumlichen Begriffen sind dies die Räume der Repräsentation.«88 Was mit dem Begriff des vécu gemeint ist, wird in Metaphilosophie noch einmal präzisiert: »Das ›Erlebte‹ (oder Gelebte: le vécu) läßt sich auf Weniges reduzieren: es ist ein philosophischer Name für die Alltäglichkeit.«89 In diesem Zusammenhang prägt Lefebvre den Begriff des ›Residuums‹ als einer Art ›Lücke im System‹. Das Alltägliche oder die Praxis wird dabei als Residuum der Philosophie verstanden.90 Durch den Begriff des vécu wird das Alltägliche in die Produktion des Raumes integriert und zwar als eben jene »everyday practices«, von denen de Lauretis spricht. Alltag im sozialen Raum beschreibt Lefebvre als »lived time, everyday time, […] bodies with their opacity, their warmth, their life and their death«.91 Seine 1992 posthum veröffentlichte Arbeit Éléments de rythmanalyse92 widmet sich den zeitlichen Strukturen des Alltäglichen, die hier als Rhythmen beschrieben werden. Raum und Zeit schließen sich in diesem Konzept nicht aus, sondern ergänzen einander: »If, for Lefebvre, considerations of space are closely tied to (rather than ontologically distinct from) those of time, this is particularly clear at the level of everyday life, which can also be understood as a confluence of multiple rhythms.«93 Erstaunlicherweise bezieht sich auch Gillian Rose trotz ihrer Betonung des Alltäglichen in ihrer Studie nicht auf Lefebvre, weder in affirmativer Weise noch
87 Vgl. Lefebvre, Henri: Critique de la vie quotidienne. I. Introduction, Paris 1958; ders.: Critique de la vie quotidienne. II. Fondements d’une sociologie de la quotidienneté, Paris 1961; ders.: Critique de la vie quotidienne. III. De la modernité au modernisme, Paris 1981. Auch diese Ausgaben wurden ins Englische übersetzt. 88 J. Engelke: Kulturpoetiken, S. 61f. 89 H. Lefebvre: Metaphilosophie, S. 80. 90 Vgl. ebd. 91 H. Lefebvre: The Production, S. 97. Vgl. ausführlicher hierzu Kapitel III meiner Dissertationsschrift. 92 Lefebvre, Henri: Éléments de rythmanalyse. Introduction à la connaissance de rythmes, Paris 1992. 93 S. Kipfer/K. Goonewardena/C. Schmid/R. Milgrom: »On the Production on Henri Lefebvre«, S. 15.
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in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Theorie. Stuart Elden weist zudem darauf hin, dass dessen Bedeutung für die französische Rezeption Hegels in Judith Butlers Subjects of Desire unerwähnt bleibt.94 So offenbart sich auch im feministischen Diskurs die angesprochene ›Lücke‹ in der Rezeption der Arbeiten Lefebvres. Vice versa lässt sich schwer abschätzen, inwiefern sich Lefebvre bei seiner Konzeption des Alltäglichen von feministischen Denker_innen inspirieren ließ. Beispielsweise kritisiert er wie diese das Modell des Philosophen als eines »geistige[n] Vater[s]« als eine patriarchale Konstruktion, die vom Alltäglichen enthoben ist: »Wie der Philosoph einen Teil seines Prestiges und seiner Macht aus der Vaterschaft entlieh, so wurden umgekehrt der Vaterschaft ähnliche Dienste durch die Philosophie erwiesen. Der Sohn ist der Sohn seines Vaters, er wiederholt den philosophischen Diskurs seit Aristoteles und drängt damit zugleich die Frau, die Natur und die Gesellschaft, d.h. die Praxis beiseite. Der Vater bringt die Form herbei und drückt sie der unförmigen Materie auf, der reinen und leeren Fähigkeit: der Frau. […] So stützen sich die philosophische Vaterschaft und die der Familie seit Jahrhunderten gegenseitig; beide theoretisieren sie anfechtbare Gebräuche oder Normen, die inzwischen verschlissen sind. – Der Vater hat seine Größe gehabt. […] Indessen haben die malträtierten oder mißachteten Elemente – die Frau, das Kind, die Gesellschaft – ihre ›Realität‹ zurückgewonnen[…].«95
Auch in diesem Punkt ist eine wechselseitige Einflussnahme bislang unerforscht.
A USBLICK Es zeigt sich, dass gerade Ansätze, die darauf abzielen, eine Genderperspektive in den Raumdiskurs einzubringen, durch Lefebvres differenzierte Darstellungen von Raum und Alltag gewinnen können. Die Diversität seines Werkes eröffnet eine Vielzahl möglicher Zugänge für verschiedene Disziplinen. Aus feministischer Perspektive wären Aspekte von Lefebvres Werk selbst noch kritisch zu beleuchten: So fasst dieser unter dem Begriff der Produktion die Bereiche der Produktion (von Waren und Gütern) und der (biologischen) Reproduktion (von Arbeitskraft) und behält damit eine ›klassisch marxistische‹ Einteilung bei. Diese Dichotomisierung wäre um heterogenere Genderkonzepte, wie sie de Lauretis
94 Vgl. S. Elden: Understanding Lefebvre, S. 68. 95 H. Lefebvre: Metaphilosophie, S. 108f.
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und Rose vorschlagen, zu ergänzen. Herauszustellen, in welchem Verhältnis bei Lefebvre binäre (Geschlechter-)Modelle im Vergleich zu der ausgeprägten Betonung des Differentiellen stehen, hieße, den Verbindungslinien von Raum und Geschlecht auf theoretischer Ebene weiter nachzugehen.
Fernsehlandschaft Medialer Raum und hegemoniale Geschlechterordnung in der US-Zeitgeschichte
F ELIX K RÄMER
Ende November des Jahres 1969 kam Anchorman Howard Smith in den ABCAbendnachrichten auf feministische Gruppen zu sprechen. Sie schienen überall auf der Welt zu protestieren. Der Studioreporter kommentierte einen Bericht über Aktivistinnen, die um ein neues Scheidungsrecht in Italien kämpften: Man könne diese Frauen wohl als »militante Feministinnen« bezeichnen. Eine ganz ähnliche Ansammlung von Frauen sei gestern am Abend in London aktiv geworden, nämlich als dort Miss World gekrönt wurde. Demonstrantinnen seien vor dem Gebäude auf und ab marschiert und hätten gerufen: »Beauty contests are cattle markets« und »don’t make women sex objects«. Dies berichtete der Sprecher mit weit in die Stirn gezogenen Augenbrauen. Auch in Washington, fuhr er mit anhaltend besorgter Miene fort, hätten solche Bewegungen ihre Anliegen anscheinend schon in politische Repräsentation umgemünzt. Allein drei Frauen seien in der engeren Auswahl für die Nominierung zu Supreme CourtRichterinnen. Nach all diesen Nachrichten zeigte sich der ABC-Mann erleichtert, als er verkünden konnte, ganz gleich wie befreit Frauen auch seien, sie blieben einer großen Tradition verpflichtet: »… der andauernden Veränderung der Mode!«1
1
ABC, EN – Nov. 28, 1969 – Women’s Liberation/Contest/Court Seat. Die Diskursanalyse, die dieser Betrachtung zugrunde liegt, war möglich durch das Vanderbilt Television News Archive, einem reichhaltigen Archiv für die zeitgeschichtliche Historiografie, in dem die Fernsehnachrichten der US-Kabelsender ABC, CBS und NBC nach Schlagworten
zu
durchsuchen
sind.
Vgl.
http://tvnews.vanderbilt.edu/
vom
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Neben der anscheinend recht bedrohlichen Aussicht einer Berufung von Frauen auf Richterstühle, waren vor allem Schönheitswettbewerbe Kulminationspunkte in der Auseinandersetzung zwischen Feministinnen und dominanten Pressestimmen an der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren. Insbesondere die Macher der in diesem Text eingehender analysierten TV-Nachrichten von ABC, CBS und NBC, den sogenannten Big Three in der Fernsehlandschaft der Vereinigten Staaten jener Zeit, schienen sich immer wieder für solche Veranstaltungen zu interessieren. Das kann mit erwarteten Zuschauerinteressen oder mit Androzentrismus in den Programmdirektionen erklärt werden; im diskursiven Effekt wurden in den Berichten Frauen als Objekte in Szene gesetzt, die sich ihrer medialen Rolle nicht bewusst waren. Doch auch Berichte über Feministinnen und ihre Aktionen auf der ganzen Welt, die nationale TV-Stationen in den Vereinigten Staaten sendeten, fokussierten letztlich stets die Position der Frau in der US-Geschlechterordnung. Welche Körper, Figuren und Bewegungen auf welche Weise im Fernsehprogramm repräsentiert wurden, wirkte maßgeblich auf den Subjektivierungsrahmen der symbolischen Ordnung. In diesem Sinne lag Geschlecht bereits im Konstruktionsplan dessen, was ich in diesem Artikel als Televisualisierung des Politischen bezeichnen und für die US-Zeitgeschichte theoretisch und an konkreten Beispielen aus den Quellen zeigen möchte. In Ableitung des Verständnisses von Topologie, das Stephan Günzel ausarbeitet, wird auch der mediale Raum des Televisuellen in diesem Text in seiner Ausdehnung betrachtet. – Von frühen Berichten über feministische Proteste 1969 bis zu den Predigern eines Revivals der Religion um 1980 führt die Genealogie, die ich durch die Nachrichtenlandschaft verfolgen möchte. Gemäß Günzels Raumverständnisses erhält der Kommunikationsraum des Fernsehens in seinen Nachrichten zur fraglichen Zeit seine relationale Oberflächenbeziehung.2 Bezogen auf das Medium heißt das, Blickrichtung und Art, in der Reporter in Berichtsfilmen soziale und geschlechterpolitische Wahrheiten in laufenden Bil-
23.02.2014. Die Angaben der einzelnen Berichte sind eindeutig anhand der Sendedaten und Schlagworte im Online-Archiv zu identifizieren. Einsehbar sind die Berichte mit entsprechender Lizenz oder im Netz der Library of Congress in Washington, D.C.; Übersetzungen der Originalzitate aus den TV-Nachrichten stammen von mir. 2
Erhalten bedeutet hier, dass ein Raum eine signifikante Oberflächenbeziehung performativ eingeschrieben bekommt und gleichzeitig die Kongruenz der Beziehungen erhalten bleibt. Günzel, Stephan: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kulturund Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 21f. Vgl. zur Frage nach einem diskurs-raumtheoretischen Verständnis von Topologie auch Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 2006, S. 114ff.
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dern präsentierten, blieben kongruent und füllten den Kommunikationsraum immer wieder mit einer bestimmten Rationalität von Sichtweisen und Kommentaren. Diese raumzeitliche Struktur kann abgetragen und systematisch betrachtet werden. Schaut man beispielsweise auf die Nachrichtenwelt in einem bestimmten Monat oder im Umfeld eines spezifischen Ereignisses, lassen sich historische Momentaufnahmen der Realitätskonstruktion machen. Zudem reicherte sich das Fernsehen als topologische Struktur im zeitlichen Verlauf hegemonial an. Dies geschah unter anderem entlang einer seit dem Ende der 1960er Jahre neu eröffneten Geschlechterverhandlung, welche in den 1970er Jahren eine Hauptrolle in der politischen Auseinandersetzung zu spielen begann. Signifikante Kulminationspunkte stellten beispielsweise die unterschiedlichen Gerichtsurteile zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch dar, auf deren Darstellung im Fernsehen ich später noch genauer schauen werde. In den TV-Abendnachrichten wurden Emanzipationsbewegungen abgewertet und Äußerungen um ein bestimmtes Ideal männlicher Führung verdichtet. Dies war nicht allein in den Fernsehnachrichten der Fall, sondern war Teil einer breiten Diskursivierung der Geschlechterordnung in den 1970er und 1980er Jahren. Anhand der Nachrichtenlandschaft im Fernsehen lässt sich die Reproduktion hegemonialer Geschlechterdifferenz allerdings besonders evident nachvollziehen, begreift man die täglich ausgestrahlten Abendnachrichten im oben skizzierten Sinne als plastische topologische Einheit. Gegen Ende der 1970er Jahre stellte das Fernsehen in seinen Nachrichten politische Äußerungen in Farbe und zunehmend in ›live‹-Berichterstattungen dar.3 Nicht allein, dass die TV-Abendnachrichten als Teil der visuellen Kultur der 1970er Jahre in den USA zum wichtigsten Verteiler von Botschaften geworden waren; sie wurden im Zuge der Televisualisierung des Politischen zum seriellen Konstrukteur von Wahrheiten. Als Teil dessen entwickelte sich aus den Geschlechterverhandlungen die Forderung nach einer bestimmten moralischen Führung, die männlich zu sein hatte, wie gegen Ende dieses Textes noch eingehend gezeigt wird.4
3
Zur Entwicklung der Medienlandschaft in den USA vgl. Skewes, Elizabeth A./Black, Heather: »What’s News in the United States?«, in: Pamela J. Shoemaker/Akiba A. Cohen (Hg.), News around the World. Content, Practioners, and the Public, New York 2006, S. 309-332.
4
Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit wird zunächst in der von Raewyn Connell ausgearbeiteten Variante verwendet. Er erlaubt es, in einem von unterschiedlichen Achsen – »Rasse«, Klasse oder Sexualität – durchfurchten Geschlechtersystem Männlichkeitengeschichte als Machtanalyse zu konzipieren. Vgl. Connell, Raewyn: Masculinities, Cambridge 1995.
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Zuerst will ich anhand von Forschungsliteratur erörtern, inwieweit das Fernsehen als ein historiografisch begehbarer Ort zu verstehen ist. Anschließend wird gefragt, welche Subjektformation in der zeitgeschichtlichen Ordnung verfestigt wurde.5 Schließlich soll eruiert werden, inwiefern das Fernsehen in den 1970er Jahren zu einem Raum des Politischen geworden ist.6 Entlang dieser drei Fragestränge verfolgt mein Beitrag das Ziel, eine Topologie des TV-Mediums zu erfassen, über die im Verlauf der 1970er Jahren die Geschlechterordnung in den USA mitgeprägt wurde. In einem ersten Schritt wird nun ein historiografischer Zugang zu Fernsehnachrichten als Quelle der Zeitgeschichte erarbeitet.
F ERNSEHNACHRICHTEN
IN DER
Z EITGESCHICHTE
Aus Sicht der Geschichtsschreibung muss das Wechselspiel zwischen der Historizität der Quelle ›Fernsehnachrichten‹ und den darin auftauchenden synchronen Äußerungen innerhalb des Wandels hin zu einer televisuellen Öffentlichkeit in
5
Subjektivierung wird hier in dem Sinne verwendet, in dem Judith Butler sie anschließend an Althusser und Foucault performativitätstheoretisch fasst. Vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001.
6
Der Begriff des Politischen wird in Abgrenzung zu einem Politikbegriff verwendet, in dem Politik als eine aushandlungsbereite, gesellschaftliche Sphäre konzipiert ist, wie etwa im Sinne einer deliberativen Demokratie. Dagegen wird Politik in diesem Text als durchmachtete Sphäre zum Untersuchungsgegenstand der raumzeitlichen Analyse. Das Politische – wie es sich im Anschluss an Ernesto Laclau ausbuchstabiert hat – wird verstanden als hegemoniale Reproduktion, die diskursiv hervorgebracht und von Macht durchdrungen ist. In diesem Sinne liegt das Politische des Hegemonialen in der Differenz von Ontologischem und Ontischem und wird auf dieser Ebene auch der Historiografie zugänglich. Vgl. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, S. 185ff. In den TV-Nachrichten spielen, neben medialen Eigenlogiken, kulturgeschichtliche Ereignisse, die sich als Realitäten präsentieren, die Hauptrolle. Diese werden scheinbar ohne zielgerichtete Intentionen und doch stets in bestimmten Kanalisierungen zur wahrnehmbaren politischen und sozialen Realität für viele Rezipient_innen. Fernsehnachrichten werden auf diese Weise zum Teil des Politischen. Vgl. Laclau, Ernesto: »Structure, History, and the Political«, in: Judith Butler/ders./Slavoj Žižek (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 182-212, sowie Laclau, Ernesto: On Populist Reason, London/New York 2005.
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den USA berücksichtigt werden. Fernsehnachrichten sind innerhalb der visuellen Kultur der Film- und Fernsehlandschaft eine Spezialform des kulturellen Gedächtnisses, weil sie am Tage ihrer Ausstrahlung behaupten Realität abzubilden und die Öffentlichkeit politisch zu informieren. Gleichwohl folgen sie bestimmten medialen Eigenlogiken, die den Rahmen ihrer Wahrheitsproduktion historisch spezifisch bedingen.7 Um diese Spezifik und gleichzeitig die Bedeutung der Quellengattung für die Zeitgeschichtsschreibung herauszuarbeiten, sollen nun anhand eines Blicks in die Forschungsliteratur medientheoretische Erwägungen zum Verhältnis von Fernsehmedium und Geschichte beziehungsweise Zeitgeschichtsschreibung betrachtet werden. Für die historiografische Annäherung an mediale Komplexe sind zunächst Überlegungen zur funktionalen Bedeutung des Fernsehens sinnvoll. Constanze Bausch beschreibt die kulturelle Bedeutung des Mediums folgendermaßen: »Gemeinschaften bedürfen eines gebildeten und verkörperten Bedeutungskonsenses, um ihre Zusammengehörigkeit und Kontinuität ebenso zu imaginieren wie zu inszenieren. Dieser Bedeutungskonsens wird in neuer, in technischer Weise auch anhand der Bilder des Massenmediums Fernsehen hervorgebracht und dargestellt, indem die televisuell ausgestrahlten Bilder Lebenshaltungen und Überzeugungen verdichtet aufführen. In Prozessen mimetischer Einverleibung werden diese bedeutenden Bilder des Fernsehens bei ihren Zuschauenden für Vorstellungswelten wie Handlungspraxen effektiv.«8
Dabei sind insbesondere Rückkopplungen zwischen televisuellen und soziokulturellen Zusammenhängen interessant. In seinen Nachrichten behauptet das Fernsehen Realität abzubilden. Diese Realität hat historische Bezüge und wird gleichzeitig im Moment der Ausstrahlung von Nachrichten erst geschaffen. Sprachtheoretisch ausgedrückt, stellt das Fernsehen auf synchroner Ebene historische Narrative in Bild und Text her, diachrone Diskurse werden dabei vom Fernsehprogramm inkorporiert. Die Kopplung von Historischem an den Modus der Vergegenwärtigung ist eine Doppelbewegung, die in historisierenden Analysen von TV-Nachrichten mitgedacht werden muss, weil sie sich immer wieder
7
Karis, Tim: »Die Produktivität der Massenmedien: Massenmediale Eigenlogiken als diskursive Machtstrukturen. Oder: ich lasse mir von einem kaputten Fernseher doch nicht vorschreiben, wann ich ins Bett zu gehen habe«, in: Philipp Dreesen et al. (Hg.), Mediendiskursanalyse. Diskurse/Dispositive – Medien – Macht, Wiesbaden 2012, S. 47-70.
8
Bausch, Constanze: Verkörperte Medien. Die soziale Macht televisueller Inszenierungen, Bielefeld 2006, S. 9.
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im alltäglichen Sendebetrieb in unterschiedlichen Formaten präsentiert.9 Darüber hinaus ist der Prozess des Sendens innerhalb eines sich transformierenden Systems der Öffentlichkeit innerhalb der 1970er Jahre zu verorten. Für diesen Zusammenhang grundlegend weist die Philosophin Sybille Krämer auf die prinzipielle Offenheit medial produzierter Diskurse hin.10 Das bedeutet, dass die jeweils hergestellten Texte und Kontexte nicht nur arbiträr sondern auch ambivalent sind. Sie konstituieren Geschichte auf performative Weise.11 Rainer Leschke wirbt im Anschluss an Sybille Krämer für ein Wahrnehmen von intermedialen Wechselwirkungen der Einzelmedien in einem Mediensystem und für ihre historische Kontextualisierung.12 Das Fernsehen muss also – bei jeder zeithistorischen Analyse – in den Kontext des jeweiligen Mediensystems sowie in den historischen Zusammenhang des Untersuchungsrahmens eingeordnet werden. Zudem ist die Mobilität verschiedener Themen und Bilder innerhalb unterschiedlicher Themenfelder und Zeitabschnitte zu beachten. Für die Forschungsliteratur ist zunächst festzustellen, dass es bislang lediglich einzelne Versuche gegeben hat, das Fernsehen als Massenmedium in die Wirkungsgeschichte seiner Zeit im Verlaufe der vergangenen 60 Jahre einzuordnen.13 Kommunikationsgeschichtliche Perspektiven verorten das Fernsehmedium zu wenig in seiner Plastizität im historischen Kontext. Die bisherigen mediengeschichtlichen Versuche, das Fernsehen zu historisieren, tendieren dazu, das Me-
9
Man denke an die vierteilige, 1978 produzierte und im deutschen Fernsehen 1979 ausgestrahlte Serie Holocaust als eines der prominentesten Beispiele für die historisierende Dimension eines Fernsehformats. Bösch, Frank: »Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 1-32.
10 Krämer, Sybille: »Boten, Engel, Geld, Computerviren. Medien als Überträger«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 14/2 (2005), S. 1524. 11 Vgl. zum Verständnis von Performativität Butler, Judith: Ha spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 210. 12 Leschke, Rainer: »Mediale Konstellationen und mechanische Bräute. Überlegungen zur Konzeption von Kommunikationsgeschichte«, in: Matthias Buck/Florian Hartling/Sebastian Pfau (Hg.), Randgänge der Mediengeschichte, Wiesbaden 2010, S. 2943, hier S. 40ff. 13 Lynn Spigel hat dagegen die Geschichte des Fernsehens in den USA nach dem zweiten Weltkrieg untersucht. Spigel, Lynn: Make Room of TV. Television and the Family Ideal of Postwar America, Chicago 1992.
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dium zu homologisieren.14 Eine monolithische Konzeption des Fernsehens als einheitliche technische Errungenschaft ist historiografisch betrachtet problematisch. Reduzierte man das Fernsehmedium auf seine Funktion als technische Errungenschaft, über welche lediglich Öffentlichkeit hergestellt wird, kämen Subjektivierungen zu kurz, die im Zusammenhang mit der Bilderproduktion des Mediums wirksam werden und die letztlich die Topologie erfüllen. Daher muss bei der Operationalisierung des Fernsehens als historische Quelle versucht werden, die zeitspezifische Topologie der jeweiligen Medienlandschaft mit zu analysieren. Dieses Problem kann mit einem weiten Dispositivbegriff angegangen werden, der über die technische Maschinerie hinausweist. Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier stellt gegen Ende seiner Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Medienbetrachtung und Zeitgeschichte fest, dass Medien »als Ort des kulturellen Gedächtnisses« Geschichte speichern und Vergangenes wieder aufrufen; in diesem Sinne seien insbesondere das Fernsehen, aber auch Radioprogramme oder Kinofilme »Formen ständigen Erinnerns«.15 Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist es umso erstaunlicher, dass gerade Fernsehnachrichten als Artikulationsräume noch nicht zum Gegenstand der Geschichtsanalytik im Hinblick auf die Geschlechterordnung geworden sind. Als Vorlage für ein historiografisches Programm verwendet Knut Hikkethier bereits den Dispositivbegriff für das Fernsehen. In Verbindung mit einer Geschlechtergeschichte muss dieser Begriff allerdings weiter gefasst sein als bei ihm und über die technischen Aspekte des Mediums hinausweisen.16 Wird ein
14 Faulstich, Werner: Grundkurs Fernsehanalyse, Stuttgart 2008. Zu wenig werden in vielen
kommunikationswissenschaftlichen
Historisierungen
die
von
Marshall
McLuhan bereits postulierten Inkorporierungen des Mediums in die Körper und darüber in die gesellschaftliche Ordnung analytisch verfolgt. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, McGraw Hill/New York 1964. Eine ähnliche Kritik äußert auch Frank Bösch in seiner Einführung in die Mediengeschichte am technikzentrierten Ansatz in der Analyse von Medien generell. Vgl. Bösch, Frank: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a.M. 2011, S. 58. 15 Hickethier, Knut: »Zeitgeschichte in der Mediengesellschaft. Dimensionen und Forschungsperspektiven«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), Abschnitt 20, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Hickethier-3-2009 vom 05.11.2014. 16 Knut Hickethier hat bereits 1995 über ein Dispositiv des Fernsehens geschrieben. Hickethier, Knut: »Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells«, in: montage/AV 4/1 (1995), S. 63-84.
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Männlichkeitsdispositiv in seinem Zusammenhang mit der Verbreitung des hegemonialen Ideals über das Fernsehen in den 1970er Jahren gelesen, ist Geschichte, Kultur und Politik über das Medium als Projektions- und Fabrikationsraum der Macht zugleich zu verstehen.17 Für eine solche Erweiterung des Blicks auf die kulturelle Bedeutung des Fernsehens gibt es in der Medienwissenschaft bereits Zugriffe, auf die eine historisierende Betrachtung der TV-Landschaft aufbauen kann. Markus Stauff beschreibt das Fernsehen machtanalytisch als Teil eines gouvernementalen Regimes.18 Er versteht das TV-Medium als Dispositiv, innerhalb dessen sich Strategien der Subjektivierung materialisieren.19 Aus dieser Perspektive weitet sich das Medium, wird zu einem kulturellen Artikulationsraum, in dem sich Subjektbildungen vollziehen. Das Fernsehen wird zum Raum des Politischen. Somit ist von einer bestimmten Topologie des Fernsehens auszugehen, die sich dynamisch wandelt. Blickt man dabei genauer auf die Geschlechterachse, fällt auf, dass in diese topologische Struktur in den US-Nachrichten der 1970er Jahre unter anderem die Abwertung des Feminismus und die Behauptung einer Krise der USMännlichkeit eingeschrieben ist. Die Krisentrope wurde im Fernsehprogramm gemeinsam mit der Forderung nach männlicher Führung wirksam. Als raumzeitliche Struktur integrierte sich das Medium auf diese Weise als wirksame Form ins Männlichkeitsdispositiv. Dieses Dispositiv überragte den Rahmen des Fernsehens historisch und war gleichzeitig Teil der synchronen Raumanordnung im Medium. Ich werde auf den Zusammenhang mit dem Männlichkeitsdispositiv am Ende dieses Textes zurückkommen, nachdem hier zunächst der diskursive Wandel der Themenwelten entlang der Geschlechterverhandlungen von Frauenkörpern über Schönheits-
17 Durch die Verwendung eines weiten Dispositivbegriffs kann das Dispositiv des Fernsehens andere Dispositiv-Formationen im politischen Raum ablösen, überwölben und ersetzen. So wird das Dispositiv Männlichkeit für den Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren Teil des Dispositivs Fernsehen in der US-Politik. Als Formation taucht in den USA die Figur der moral leadership genau an der Schaltstelle auf, als das Fernsehen zum Dispositiv wird und weist auf die Integration des einen Dispositivs in das andere hin. 18 Stauff, Markus: »Das neue Fernsehen«. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005, S. 144. 19 Stauffs Modell leitet sich aus Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität ab, er entwickelt aber darüber hinaus medienwissenschaftlich weiterführende Elemente einer noch zu konzipierenden historischen Dispositivanalyse. M. Stauff: Das neue Fernsehen, S. 109ff./203ff.
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wettbewerbe und Abtreibungsrechte bis hin zur angeblichen Krise der Männlichkeit quellenanalytisch gezeigt worden ist. Wie an keiner anderen Schnittstelle bündelten die Fernsehnachrichten der 1970er und 1980er Jahre solche Informationen.20 Die TV-Nachrichten verquickten Bilder mit Themen wie Figuren und kreierten Weltdeutungen vor dem Auge des Publikums. Der Blick wird nun zunächst auf Schönheitswettbewerbe gerichtet.
N ACHRICHTEN
ÜBER
F RAUENKÖRPER
UND
M ÄNNERKRISE
ABC-Reporter Harry Reasoner eröffnete einen Bericht zur Miss-World Wahl im Jahr 1971 mit den Worten: »Beauty contests in the United States are as American as, [let’s] say: apple pie.«21 Überall auf der Welt seien Schönheitswettbewerbe beliebt, allein die Frauenbewegung möge sie nicht, fasste der Bericht das Problem des dominanten Blickregimes zusammen. Ein Außenreporter interviewte Miss America und spielte sich als Kritiker ihrer Haltung auf. Der Schönheitswettbewerb war zu einem profilierten Feld im Kampf um die Repräsentation und Kommentierung von Frauenkörpern im TV-Medium geworden. Wie durch das Thema Abtreibung Rechte und Körperpraktiken von Frauen in den USA zum Gegenstand televisualisierter Innenpolitik wurden, so wurde über Berichte und Kommentare zu Schönheitswettbewerben auch das weibliche Äußere immer wieder zum Verhandlungsort der TV-Nachrichten. Im Speziellen zeigte sich in den Interviews mit Schönheitsköniginnen deutlich, dass die Kampfzone sich mit den visuellen Medienmöglichkeiten erweitert hatte.22 Man zeigte die Schön-
20 Nachrichtenagenturen, die in verschiedenen nationalen Kontexten im 19. Jahrhundert von Zeitungsverlegern ins Leben gerufen wurden, stellen ein Muster für solch kommunikativ-diskursive Nadelöhre dar. Die TV-Nachrichten verbanden die Information mit bewegten Bildern, die die Sender herstellten, und waren so Teil einer neuen Übersetzung dieser Mediengeschichte in eine neue visuelle Nachrichtenkultur aus bewegten Bildern. Vgl. zum US-Mediensystem Kleinsteuber, Hans J.: »Das Mediensystem der USA«, in: Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg (Hg.), Internationales Handbuch Medien, 28. Auflage, Hamburg 2009, S. 1216f. 21 ABC, EN – Nov. 10, 1971 – Miss World Contest. 22 Die Dimension des Visuellen ist in der historischen Diskursanalyse von medialen Räumen eminent wichtig. Vgl. u.a. Haas, Stefan: »Vom Schreiben in Bildern. Visualität, Narrativität und digitale Medien in den historischen Wissenschaften«, in: zeitenblicke 5/3 (2006), http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Haas/index_html vom 06.11. 2014.
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heitsköniginnen in der Interviewsituation im Bild, verlieh ihnen auf den ersten Blick eine ›authentische Stimme‹, sie verkörperten ihre Position im Fernsehbild, man urteilte sie aber gleichzeitig ab.23 Der sexualisierende Blick des Reporters blieb unthematisiert. Die Nachrichtenmänner gewannen vor ihrem Publikum auf diese Weise die Deutungshoheit über die Wettbewerbe von der Frauenbewegung zurück, wie einleitend bereits beschrieben wurde. Die Frauenbewegung markierten sie im selben Moment als verbohrt. Das Subjekt wurde als Mitwirkende ein wenig aktiver in Szene gesetzt, ohne dass sie den von außen gesetzten Rahmen hätte verlassen können. Der Nachrichtenreporter selbst nahm den Platz des richtenden Kritikers ein. Auch die Frage nach Abtreibungsrechten wurde zu einem Thema, über das die Sender ihr Publikum unterrichteten. Noch in schwarz-weiß wurden die TVZuschauer_innen seit den späten 1960er Jahren immer wieder über Gerichtsentscheidungen zum Thema Abortion ins Bild gesetzt, die beispielsweise in Washington, D.C. oder New York von den Gerichtsbarkeiten der jeweiligen Staaten gefällt worden waren. Das Jahr 1973 begann auch in der Fernsehwelt mit dem berühmten Urteil des Obersten Gerichts der USA, das die Debatte um Abtreibung auf eine andere Ebene rücken sollte: »The Supreme Court today ruled that abortion is completely a private matter to be decided by mother and doctor in the first three months of pregnancy«, berichtete Howard Smith für die ABC von der Entscheidung »Roe v. Wade«.24 Nach dieser Paraphrase des Urteilsspruchs wurde zunächst das Eingangsschild einer sogenannten ›Abtreibungsklinik‹, dann eine diffuse Gruppe von Frauen eingeblendet, von denen allerdings keine zu Wort kam. Die Reporterstimme berichtete von Frauen und Zahlen, von Schwangerschaftsabbrüchen in New York. Der Außenreporter erklärte hierzu, die meisten Frauen hätten in dem Gefühl gehandelt, »jedwedes moralische Recht« auf ihrer Seite zu haben. Daraufhin wurde ein Aktivist aus der Lebensrechtbewegung hinter seinem Schreibtisch sitzend eingeblendet, der sagen durfte, es werde immer nur über Frauen und ihre Entscheidung gesprochen, obwohl diese nur ein Drittel der Beteiligten stellten. Die anderen würden nicht gehört, der Vater oder das Kind, so die Klage des Abtreibungsgegners. Eine Frau, die für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch Stellung bezog, wurde im Gegensatz zum Abtreibungsgegner lediglich von hinten im Bild gezeigt. Ihre schweigende Gestalt war in der schwarzen Schattensilhouette einer anonymisierenden Inter-
23 Vgl. zum Komplex der Darstellung von Frauenkörpern in der Fernsehkultur der 1970er Jahre Levine, Elena: Wallowing in Sex. The New Sexual Culture of 1970s American Television, Durham 2007. 24 ABC, EN – Jan. 22, 1973 – Abortion.
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viewsituation zu erahnen, während die Sprecherstimme resümierte: »The arguments will go on, because perhaps more than any other issue in American life today the abortion question is loaded with the emotional arguments of life, death, and morality.«25 Diese Beispiele bieten zunächst nur einen Umriss dessen, welche Geschlechterverhandlungen dem Fernsehpublikum über Feminismus, Schönheitswettbewerbe und Schwangerschaftsabbrüche in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in die Wohnzimmer hinein transportiert wurden. Neben dem Verbreitungsrahmen sind es vor allem die Narrativstrukturen, der Repräsentationsrahmen der Berichte, also das Wie der Fernsehformatierung, die entscheidend in die Wahrheitsbildung über die Geschlechterrealitäten und damit verknüpfte Ereignisse hineinspielten. Behält der forschende Blick den diachronen Wandel der Themen im Auge, die über das US-Fernsehen in den 1970er Jahre verhandelt wurden, so zeichnet sich die Subjektformel einer Männlichkeitskrise deutlich ab. Diese äußerst wirkmächtige Krisenbeschreibung verdrängte ab Mitte der 1970er Jahre für einen langen Moment alle anderen Ansprüche und handelte von weißen Männern der Mitte. Wie war es von den Berichten über Schönheitswettbewerbe und Schwangerschaftsabbrüche zu dieser Krisendeklaration gekommen? Die Literaturwissenschaftlerin Sally Robinson zeigt in ihrem Buch Marked Men. White Masculinity in Crisis für die Literaturlandschaft der 1970er Jahre, wie dort eine bestimmte Männlichkeit zum Subjekt einer tiefgreifenden Krise erklärt wurde.26 Wie ich an anderer Stelle ausführen konnte, wurde die Krise in den USA Ende 1974 im medialen Feld gewissermaßen erfunden.27 Analog zu Literatur und Ratgebern war auch in den Fernsehnachrichten häufig von einer Krise des dominan-
25 ABC, EN – Jan. 22, 1973 – Abortion. 26 Robinson, Sally: Marked Men. White Masculinity in Crisis, New York 2000. Zum Zusammenhang von hegemonialer Männlichkeit und Krisenszenario vgl. außerdem: Sielke, Sabine: »›Crisis, What Crisis?‹ Männlichkeit, Körper und Transdisziplinarität«, in: Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hg.), Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007, S. 43-61, sowie Krämer, Felix/Mackert, Nina: »Wenn Subjekte die Krise bekommen. Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel einer Geschichte moderner Männlichkeit«, in: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 265279. 27 Krämer, Felix: »Playboy tells his story. Geschichte eines Krisenszenarios um die hegemoniale US-Männlichkeit der 1970er Jahre«, in: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 27/1 (2009), S. 83-96.
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ten Modells die Rede. Und dieses Krisenszenario war medial äußerst langlebig, wirkt sogar bis in gegenwärtige Krisenbeschreibungen nach.28 Die angebliche Erschütterung der Norm verlangte im Allgemeinen wie im Speziellen nach Lösungen. Und so wurde die Krisenproklamation zu einem Modus in der Aufmerksamkeitsökonomie. Damit war sie auch gleichzeitig ein Teil des kulturellen und materiellen Verteilungskampfes geworden. Ganz gleich welche Gruppen möglicherweise in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre unter wirtschaftlichen Druck geraten sein mochten, wer unter steigenden Preisen, Arbeitslosigkeit oder der Verknappung von gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten am meisten zu leiden hatte, die Krise wurde stets exklusiv für die dominante Norm weißer Männlichkeit der Mittelschicht reklamiert. Die Klagen um den Krisenmann stützten sich auf zwei aufeinander bezogene Szenarien. Erstens wurde die Potenz weißer Männlichkeit als bedroht in Szene gesetzt, sowohl im Hinblick auf (Hetero)-Sexualität und den Körper des Mannes als auch bezüglich der Kapazität, die Familie zu führen; in engem Zusammenhang damit wurde zweitens der treusorgende Familienvater problematisiert, der ›kastriert‹ erschien in seinen Kapazitäten, die Familie zu ernähren.29 Ich will auch diese Krisenbeschreibung mit Blick auf die Nachrichten als Quelle unterfüttern. Bereits Anfang 1974 zeichnete sich Krisenhaftes in einem ABC-Bericht ab, der sich im Februar mit den Auswirkungen von Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten für die Norm-Familie befasste.30 Innerhalb nur eines Monats seien die Preise für Essen und Benzin sprunghaft angestiegen, erklärte Moderator Howard Smith dem Publikum, Heizöl sogar um 13 Prozent. Auf das Jahr gesehen, hätten sich die Lebenshaltungskosten um 9,4 Prozent erhöht, so gewaltig wie seit 22 Jahren nicht mehr. Um Hauptbetroffene dieser eklatanten Preisexplosion vor die Kamera zu bekommen, hatte Reporter Jim Kincaid in einem Vorort von Chicago eine Familie der Mittelschicht besucht. Doppelbödig stellte der Nachrichtenmann fest, es sei schwierig, die Mittelschicht zu definieren, die Familien der Mitte zu finden, sei dagegen nicht kompliziert.
28 Vgl. zum Nachwirken bis in die Gegenwart Kappert, Ines: Der Mann in der Krise. Oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur, Bielefeld 2008 und Hämmerle, Christa/Opitz-Belakhal, Claudia: »Krise(n) der Männlichkeit«, in: L'Homme 19/2 (2008), S. 7-10. 29 Krämer, Felix: »Ernährer«, in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2012, S. 60-66. 30 ABC, EN – Feb. 22, 1974 – Costs of Living Incr./Effects On Middle-Class Family.
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Gefunden hatte der Reporter die Meyers. Mrs. Meyer arbeite in einem Teilzeitjob im Rathaus, stellte Kincaid dem Publikum das Objekt der Betrachtung vor. Der Journalist erklärte weiter, Mr. Meyer sei der Haupternährer der Familie und habe in den vergangenen Jahren in seinem Job jene Aufstiegsmöglichkeiten genutzt, mit denen wachsende Verantwortung und ein gestiegenes Einkommen einhergingen. Währenddessen wurde Mr. Meyer dabei gezeigt, wie er Untergebene verantwortungsvoll in deren Tätigkeiten einwies. Zwei Töchter hatten die Meyers – ein Zwillingspärchen, das im Bericht beim vierhändigen Spielen einer Fuge auf dem Klavier im Bild erschien. Dann wurde Marylin Meyer mit den Kindern hinter einem Einkaufswagen im Supermarkt gezeigt. Sie äußerte, dass alles für sie immer schwieriger werde. Während im Film abwägende Hände suchend durch Supermarktregale fuhren, war die Klage von Mrs. Meyer zu hören: »In the last couple of months we have noticed the squeeze … because I look at all the prices and I compare all the prices and I think twice: Do I really need it?« Früher habe Marilyn frei entscheiden können, ob sie arbeiten wolle, jetzt müsse sie dies tun. So erfuhr das Fernsehpublikum von der ökonomischen Zwangslage der Frau, die durch ein mangelhaftes Einkommen des Familienernährers hervorgerufen worden war. Und der Reporter erweiterte das bedrückende Szenario noch, indem er aufzählte, dass die neue ökonomische Lage für viele bedeute, einer Fahrgemeinschaft beizutreten, manches Vergnügen aufzugeben, Urlaubspläne zu streichen, sich den Gegebenheiten anzupassen oder sich schlicht Gedanken darüber machen zu müssen, wie es soweit gekommen sei. Schließlich erklärte Familienoberhaupt Dan Meyer, er sei ein Optimist, glaube an bessere Zeiten im nächsten Jahr. Man sei ja noch jung, allerdings habe er für dieses Jahr keine Hoffnung, fügte der Mann an. Der Reporter schloss mit der Beschreibung des Familienvaters als: »Worried? Yes! Hopeless? No!« Und ABC umschrieb die Bedeutung der Krise für die gesamte Familie folgendermaßen: »For Marilyn and Dan, I suppose it’s like one of those mornings when you wake up feeling not really bad and not really good. One of those uneasy feelings, you know something’s wrong, but you’re not sure what it is or what to do about it …« 31 Gegen Ende 1974 verdichteten sich die Probleme auf dem Arbeitsmarkt für solche Männer. ABC berichtete, während über andere Gruppen die Berichtslage dünn blieb.32 Der entsprechende Beitrag vom 4. Oktober 1974 handelte von steigenden Arbeitslosenzahlen. Nach einem Bericht über eine dramatische Sitzung im Bureau of Labor Statistics, im Zuge derer erklärt worden war, man befinde sich am Rande einer Depression, verkündete Howard Smith: »The level of un-
31 ABC, EN – Feb. 22, 1974 – Costs of Living Incr. / Effects On Middle-Class Family. 32 ABC, EN – Oct. 04, 1974 – Unemployment.
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employment has already reached crisis proportions in some parts of the country.« Doch die offiziellen Arbeitslosenzahlen im Rest des Landes von 5,8 Prozent sehen noch rosig aus gegenüber jenen von Flint in Michigan, so der folgende ABC-Bericht in dieser Nachrichtensendung. Die alarmierende Lage dort wurde wieder von Reporter Jim Kincaid beschrieben. Er berichtete von 15,1 Prozent Arbeitslosen, bevor mit dem Familienvater Jim Burgess wiederum ein Opfer der widrigen Umstände auf dem Arbeitsmarkt in den Blickpunkt rückte, der als Beispiel für ein orientierungsloses Subjekt in der Krise gezeigt wurde. Am Ende fasste der Bericht zusammen: »Surprisingly Jim Burgess expresses very little anger at the economic misfortunes of the past year. For one thing he doesn’t know who to be mad at. But who could blame him that he wonders that the American Dream that he had believed in is only that: a dream.«33 Auf den ersten Blick brachte das Jahr 1975 dem Fernsehpublikum eine geringe Zahl an Nachrichten von Krisenklagen. Bei genauerer Betrachtung hatten sich die Krisenszenarien allerdings immer tiefer in Gegenwartsbeschreibungen, in Körper und Normalitäten eingegraben, hatten sich vor den Augen des Fernsehpublikums intensiviert. Berichte über Zustände, in denen man sich im Jahr 1974 noch mehrheitlich unsicher über die letztgültige Dauer der krisenhaften Lage geäußert hatte, wurden nun mit einem Ton der Endgültigkeit versehen. Wenn eine Krise der Männlichkeit aufgetaucht war, hatte dies in der Nachrichtendarstellung stets unmittelbare Auswirkung auf die kriminellen Energien unter Jugendlichen. Von einem Anstieg der Gewalt an Schulen berichtete beispielsweise Walter Cronkite für CBS im April 1975.34 Um viel Geld ging es im Falle einer weiteren Krisenbeschreibung. Subjekt der Problematisierung waren nach den moralisch maroden Schulen und verletzten Lehrern vitale Körper, die durch Pfusch bei ärztlichen Behandlungen geschwächt wurden. Diese Malaise hatte sich aus der Mitte der Gesellschaft ausgebreitet und führte vom Krankenbett immer häufiger in die Gerichtssäle des Landes. Die malpractice crisis war der NBC im Juni 1975 sogar mehrere Special Reports wert.35 Mangelnde Zukunftschancen, ökonomische Zwangslagen in der Mittelschicht, kein Adressat für Schuldzuweisungen und ein körperverletzendes Gesundheitswesen, das waren Krisengeschichten, die ab Mitte der 1970er Jahre immer häufiger vom Männerkörper in die Klage um ein marodes Gemeinwesen zurück projiziert wurden. – Zunächst liefen die Krisengeschichten darauf hinaus, dass am Ende ein Vater oder ›ein ganz normaler Mann‹ zum Hauptopfer der Umstände wurde. Dann
33 ABC, EN – Oct. 04, 1974 – Unemployment. 34 CBS, EN – Apr. 09, 1975 – Juvenile Delinquency Report. 35 NBC, EN – Jun. 23, 1975 – Special Report / Malpractice.
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wurde die Forderung nach viriler Führung an vielen Stellen zur Quintessenz. So wurde in vielen Nachrichtengeschichten und Special Reports die Krise der Männer für den weiteren Kreis des nationalen Schicksals rationalisiert.
E RWECKUNG DER M ÄNNER IM TELEVISUELLEN R AUM : D ISPOSITIV UND MORALISCHE F ÜHRUNG Die Abendnachrichten brachten, anmoderiert von ihren Anchor-Männern (und später Anchor-Frauen), die Wahrheiten des Tages über die Bildschirme der TVGeräte in die Wohnzimmer vieler Menschen. Die Bilder und Deutungen korrelierten mit anderen Elementen diskursiven Wandels innerhalb der politischen Öffentlichkeit. Nachdem aus dem Feld der Identitätspolitik zu Beginn der 1970er Jahre von den Nachrichten vor allem über Proteste der Frauenbewegung, über die Gay Liberation oder über die Aktivitäten von Black Panther Mitgliedern berichtet worden war und sich Aktivist_innen doch selten selbst hatten artikulieren dürfen, waren es Ende der 1970er Jahre evangelikale Kirchenmänner, die sich ins politische Feld des Fernsehens in den USA schoben. Politisierende Pastoren versuchten zu mobilisieren gegen Abtreibung, Homosexualität und emanzipative Politikformen, beschworen die heile Familie und verkörperten die geforderten moralischen Führer, um die angebliche Krise zu überwinden. Im Gegensatz zu den Aktivist_innen der genannten Emanzipationsbewegungen sendeten diese Pastoren auch über eigene Kanäle. Jerry Falwell war sicher einer der prominentesten politischen Prediger zu dieser Zeit. Die Männer des Glaubens tauchten in der Öffentlichkeit auf – entweder geschmäht als Eindringlinge in die angeblich säkulare Sphäre der Politik oder gefeiert als führende Gewährsmänner einer Rückkehr des Glaubens. In beiden Fällen präsentierten sie sich auf breiter, performativer Artikulationsbasis in den Mainstream-Nachrichten als symbolische Figuren mit Zukunft. Die TVNachrichten von ABC, CBS und NBC, welche über ein Revival der Religion berichteten, verschafften dem Phänomen in Reportagen eine gewisse mediale Realität. Insbesondere im Wahlkampf zwischen Präsident Carter und Ronald Reagan sendeten die Mainstream-Sender immer wieder zu den führenden Köpfen der Rückkehr der Religion. So berichtete beispielsweise die ABC an drei Tagen Ende September 1980, kurz vor der Wahl in einem Special Assignment über Politics and Religion.36 In solchen Berichten, die meist vom Anchorman mit dem
36 ABC, EN – Sept. 23/24/25, 1980 – Special Assignment (Politics and Religion).
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Ausdruck der Verwunderung eingeleitet wurden, hoben Außenreporter Pastoren über Interviews in den Rang politischer Gesprächspartner. Doch nicht erst die explizit politisch predigenden evangelikalen Pastoren waren ein Ausdruck dafür, dass sich die Rede von einer Krise der Männlichkeit über das Fernsehen in Figuren männlicher Führungsversprechen zu materialisieren begann. Die Anchor-Männer der Nachrichtenredaktionen stellten, ebenfalls in der Funktion als Wahrheitsverkünder, bereits eine signifikante Oberfläche des Gendering im Fernsehen dar. Wie an den Quellenausschnitten gezeigt wurde, waren die Berichte nicht allein in den Sprecherpositionen gegendert. Geschlechterdifferenz wurde vielmehr reproduziert in den Narrativen und der Art, wie über Auseinandersetzungen im Feld, über geschlechtliche Identität und die soziale Ordnung berichtet wurde. ›Der weibliche Körper‹ als problematischer Verhandlungsgegenstand und mit zunehmender Intensität auch männliche Führung lagen als Muster direkt im Konstruktionsplan der ›Televisualisierung des Politischen‹. Führung und Männlichkeit wurden insbesondere in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre (wieder) eng miteinander verknüpft. Die Reproduktion des Männlichen in den allabendlichen Nachrichten und in Politiksendungen begreife ich als das den Raum bestimmende Dispositiv. Männlichkeit wurde darin ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt über die Behauptung der Männlichkeitskrise ins Zentrum der Aufmerksamkeitsökonomie gerückt, wie neben meiner Fernsehanalyse bereits verschiedene Arbeiten auf anderen Betrachtungsfolien gezeigt haben.37 Blickt man auf Gender als eine Untersuchungskategorie, die intersektional durchzogen ist von Identitätsachsen wie Weiß- und Schwarzsein, Homo- oder Heterosexuellsein, Weiblichkeiten und Männlichkeiten und historischen Machtkämpfen um die Querlinien zu diesen groben Kategorisierungen, so lassen sich die hegemonialen Operationen körpergeschichtlich herausarbeiten.38 Die Krisenproklamation in den TV-Nachrichten wird auf diese Weise als Gegenbewegung zur politischen Aktivierung marginalisierter Gruppen lesbar. Die Politik des Privaten kam auf diesem Wege über die Öffentlichkeit wieder ins Private, wurde über die Fernsehgeräte in Wohnzimmer gesendet, bebildert und kommentiert von Mainstream-Journalist_innen. Das Fernsehen und die Formate der Nachrich-
37 Vgl. zur Ausdehnung der Krise in den USA der 1970er Jahre S. Robinson: Marked Men, S. 5f. 38 König, Christiane/Perinelli, Massimo/Stieglitz, Olaf: »Einleitung Praktiken«, in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2012, S. 13f. Vgl. zum Begriff der Intersektionalität AG Queer Studies (Hg.): Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen, Hamburg 2009, S. 19ff.
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ten, der Berichtsfilm, dessen Bildschnitte, die Off-Kommentare und die abschließende Reportereinschätzung am Ende der Beiträge wurden so zum Organ einer zeitgeschichtlichen Bewegung, die ihrerseits synchroner Teil des Politischen war und auf die Ordnung der 1980er Jahre hinwirkte. Die machtvolle Zentrierung eines weißen Männlichkeitsideals als ultimativem Opfer wurde auf den beschriebenen Wegen im US-Nachrichtenfernsehen immer weiter bis in die Berichterstattung über Politiker betrieben, wie zum Beispiel Präsident Carter, der als gescheitert in Szene gesetzt wurde.39 Es herrschte eine Diffusion der Krisendiskurse, in die gleichzeitig etliche Dinge hegemonial eingeschrieben werden konnten. Führung, Opferstatus und Schuld abstrahierten sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und verbanden sich neu in einer aus der Krise abgeleiteten Forderung nach ›moralischer Führung‹, an der plötzlich überall Mangel zu herrschen schien.40 Schließlich kam diese Forderung über die Fernsehlandschaften mit dem angesprochenen Revival der Religion zusammen, das über die Fernsehbilder als Aufbruch einer Masse von Amerikaner_innen in Szene gesetzt wurde.41 In den Fernsehnachrichten tauchten im Zuge der medialen Konjunktur von Religion Gottesdienste auf, sowie Prediger und neue Politiker. Um 1980 war aus dieser Konfiguration die Forderung nach moral leadership geworden, in die nun liberale Journalist_innen wie rechte Prediger aus unterschiedlichen Beweggründen, dabei aber doch gemeinsam, einstimmten. Der Begriff der moralischen Führung setzte sich aus eben jener religiösen Erweckung und einem Männlichkeitsrevival zusammen, das in vielen Bereichen die Geschlechterordnung der 1980er Jahre dominieren sollte. Politiker mussten im Fernsehen zu Predigern werden und Prediger wurden Politiker. Es hatte sich eine evangelikal geprägte Form der Führung über das Fernsehen in der Öffentlichkeit festgesetzt. Das Führungsideal war weiß, männlich und sollte von Wiedergeburt erweckt sein. Wie an der TVBerichterstattung zum Attentat auf Ronald Reagan zu erkennen, schoben sich im
39 Im Gegensatz zu seinem Nachfolger Ronald Reagan wurde Carter als gescheitert dargestellt, da er die Krise angeblich nicht durch wiedergeborene Glaubensfestigkeit meistern konnte. Krämer, Felix: »Der Fall Carter. Das Scheitern eines US-Präsidenten in den Fernsehnachrichten zwischen 1975 und 1981« (erscheint voraussichtlich 2016). 40 Die Argumentation führe ich in meiner Dissertation weiter aus. Vgl. Krämer, Felix: Moral Leaders. Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre, Bielefeld 2015. 41 So beispielsweise in einer NBC-Nachrichtensendung, in der über eine »Rally for Jesus« in der Hauptstadt im April 1980 berichtet wurde. NBC, EN – Apr. 29, 1980 – Washington, DC / Religious Rally.
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Zuge der performativen Bildung dieses Ideals die TV-Übertragungen immer dichter an Ereignisse heran, die sie selbst als nationale Medienereignisse mit hervorbrachten.42 Das Televisuelle war Teil des Raums des Politischen geworden und darin wurde der moral leader zur entscheidenden Schaltstelle. Auch die Zuschreibungen weiblicher Körper blieben, präsentiert unter der Ägide männlicher Führung, dem Publikum nicht vorenthalten. Nicht per Zufall brachten ausgerechnet Pastoren wie Jerry Falwell in Unterhaltungsshows Mitte der 1980er Jahre das Anti-Abtreibungsthema wieder in die Bilderfluten des Fernsehens zurück. Jerry Falwell veranstaltete kurz vor Weihnachten 1985 eine Show, über welche sich der Pastor als moralische Führungsgestalt inszenierte, die vor der Kulisse eines ›ganz normalen Wohnzimmers‹ alle Krisen zu kontern schien. Thema war ›die Errettung‹ von Kindern vor Abtreibung. Subjekt der Sendung waren Frauen, welche von angeblicher Armut im Glauben geschlagen und von falschen Versprechen auf Selbstbestimmung verführt worden waren. Die Old Time Gospel Hour-Sendung aus der Vorweihnachtszeit im Dezember 1985 mit dem Plan, »die Babys zu retten«, zeigte den Pastor als Prediger, Politiker und Unterhalter. In der Sendung spiegelt sich der Übergang zwischen TVUnterhaltung und Geschlechterpolitik sowie die Zentrierung auf eine männliche weiße Predigerfigur. Zu Beginn der Sendung saß der weiße Polit-Pastor in Großaufnahme vor der Kamera mit einem Kind auf dem Schoß, das seine Organisation vor der Abtreibung bewahrt hatte, wie das Publikum erfuhr. Das beschriebene Bild stellt an dieser Stelle ein vorläufiges Ende des Erzählstranges dar, den ich zu Raum und Männlichkeitsdispositiv durch die Fernsehlandschaft in den USA von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre verfolgt habe.43 Abtreibung und der weibliche Körper wurden darin immer wieder als fragil und als Problem markiert. Über das Fernsehen wurden Fragen nach der Geschlechterordnung in den USA in den Mainstream transportiert und dem Nachrichtenpublikum Deutungen aus Perspektive eines normativen Ideals geliefert, das weiß, männlich und christlich sein musste. Über Krisenbehauptung und die Forderung nach moralischer Führung arbeitete sich der Kommunikationsraum des Fernsehens nicht unwesentlich in die Politik der 1980er Jahre ein, das Jahrzehnt, welches evangelikale Pastoren zur Schicksalsdekade ausgerufen hatten.44 Diese Geschichte endete natürlich nicht in einer evangelikalen Führungsfigur 1985 mit einem Baby auf dem Schoß in einer Fernsehshow, doch stellt diese
42 F. Krämer: Moral Leaders, S. 159ff. 43 Video: Jerry Falwell Live. A Plan to Save the Babies, Old-time Gospel Hour, Prod. Dec. 19, 1985. 44 Moral Majority Report, The Decade of Destiny, Dec. 1979, S. 3.
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Formation einen visuellen Meilenstein dar, was den Zusammenhang von moral leadership und Anti-Abtreibungspolitik im Fernsehen betrifft.
S CHLUSS Das Fernsehen der 1970er Jahre hatte über seine Abendnachrichten bereits eine Schlüsselrolle zwischen Öffentlichkeit und Privatem besetzt. In seinen seriell produzierten Sendungen war es symbolisch wie kommerziell der wichtigste Umschlagplatz der Informationsverbreitung geworden, hatte begonnen, die Öffentlichkeit ins Private und private Bildergeschichten aus dem Alltag der Menschen in die Öffentlichkeit zu transportieren. Das Fernsehen war ein dynamischer Raum und dabei wirkte es gleichzeitig äußerst konservativ in der US-Zeitgeschichte, was an der beschriebenen Geschlechterperformanz evident wird. Bis in die Gegenwart der virtuellen Welt sind die Spuren des US-Fernsehens darüber hinaus zu verfolgen. So ist beispielsweise von einem CNN-Effekt die Rede, wenn es gegenwärtig in der weltweit ausgestrahlten Sendelandschaft zur Konzentration auf ein Thema kommt, wenn der US-amerikanische Sender, das Cable News Network (CNN) berichtet. Diese Knotenfunktion hatten auch die Fernsehnachrichten im US-Kontext der 1970er und 1980er Jahre. Die Abendnachrichten von ABC, CBS und NBC waren im nationalen Mediensystem die diskursiven Nadelöhre der gesellschaftspolitischen Problematisierung, bündelten und lenkten Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang muss die normative Whiteness der betrachteten Fernsehlandschaft ebenso ins Zentrum der Kritik rücken, wie es für die diskursive Geschlechterpolitik gezeigt worden ist.45 Im oben zitierten Sinne Sybille Krämers würde ich auch an dieser Stelle die Ambivalenz und prinzipielle Offenheit der beschriebenen medialen Diskurse behaupten. Ziel der Überlegung war es, ein Terrain für die Analyse zu erstellen,
45 Die performative Abwertung von Anliegen der African Americans oder der Gay Liberation, queerer Bewegungen generell könnten in ähnlicher Weise diskursanalytisch innerhalb der Fernsehtopologie herausgearbeitet werden. Die Geschichte politischer Verschiebungen hätte auch bei der Berichterstattung über segregierte Friedhöfe, die Black Panther Bewegung, die Stonewall Riots oder an anderen markanten Punkten innerhalb der identitätspolitischen Auseinandersetzung beginnen können. Die Geschlechterachse ist darin nicht weniger verwoben als in feministischen Protesten gegen Schönheitswettbewerbe und in Abtreibungsrechten und -möglichkeiten. Auch letztere besitzen Klassendimensionen und sind zudem immanenter Teil der Geschichte des Rassismus.
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auf dem eine medial vermittelte, topologische Struktur mit einer Kulturgeschichte des Politischen verbunden werden kann. Insofern wurden in diesem Text Spuren verfolgt, auf denen ich mich der Fernsehlandschaft in der Zeitgeschichte der Vereinigten Staaten nähern konnte. Die theoretischen Überlegungen wurden konkret in einen Zusammenhang mit der Geschlechterordnung der 1970er und beginnenden 1980er Jahren gebracht. Ich hoffe, dass mein Beitrag über dieses spezifisch zeithistorische Erkenntnisinteresse hinaus auch Teil der theoretischen Synthese von Raum- und Geschlechterforschung werden kann beziehungsweise sich weiter verfolgen lässt. Im Anschluss an Markus Stauffs Überlegungen, würde ich dafür werben, das Fernsehen weiterreichend als Quellen für zeitgeschichtliche Untersuchungen ernst zu nehmen. Im Hinblick auf die Untersuchungskategorie Gender würde ich dafür plädieren, das Medium zum historischen Ausgangspunkt einer intersektionalen Geschlechteranalyse zu verstehen und das Fernsehen und seine Botschaften als einen dynamischen, performativen Raum zu begreifen, in dem sich Subjektivierungen ausbildeten und ausbilden. Möglicherweise ist das Fernsehen auf kulturgeschichtlichem Terrain dann doch mehr als diskursives Panopticon aufzufassen, denn als Aufklärungsmaschine. Das Fernsehen produzierte in der USÖffentlichkeit der 1970er und 1980er Jahre entscheidende Momente des Politischen. – Von der Geschlechterordnung bis zu der Forderung nach moralischer Führung war dies keineswegs unbedeutend in der Architektur der Öffentlichkeit. In den TV-Nachrichten wurde über Schönheitswettbewerbe und Berichte zur Abtreibungsdebatte und Männlichkeitskrise Geschlechterpolitik immer wieder mitgeschrieben. Ein historisches darüber Hinwegzappen gab es innerhalb der betrachteten Zeit jedenfalls kaum.
Nietzsche, Warburg, Salome Dance and the Tragic Spirit
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I NTRODUCTION The turn of the century heralded an especially productive period for the development of new approaches to dance, both as an artistic expression and as an object of theoretical reflection. A remarkable renewal of the aesthetics of dance took place at that very moment:1 the appearance of modern dance with performers such as Ruth Saint Denis, Isadora Duncan, and Loie Füller; the trend of café-concerts in Paris which gave rise to various forms of entertainment such as cabaret, music hall, vaudeville, burlesque and freak shows; and, last but not least, the invention of photography, followed by the cinema, with the scientific objective of analysing movement.2 As Rae Beth Gordon and Didi Huberman ex-
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I would like to express my sincere appreciation and heartful thanks to the translator Na Nandhorn Clauder, who undertook the English editing and proofreading of this text.
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For further information on dance innovations in the 19th and the beginning of the 20th century see Guest, Ivor: The Romantic Ballet in Paris, Hampshire 2008; Ginot, Isabelle/Michel, Marcelle: La danse au XXe siècle, Paris 2002; Abad Carles, Ana: Historia del ballet y de la danza moderna, Madrid 2004.
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This can be observed in Baldus’ first photos of movement in 1855, Marey’s and Muybridge’s zootrope in 1878 and Marey’s chronotography in 1884. In the case of cinema it is remarkable that dance also took a central role in the first films, for example in August and Louis Lumière’s Le squelette joyeaux (1897) or George Méliès Le Cake Walk Infernal (1903). For more information see Betton, Gérard: Histoire du cinema,
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plain, during this period movement and gesture were a leitmotiv overlapping with scientific theories, sociology, politics and the scenic arts.3 Dance was an epistemic symptom of that time, in which the body was reconfiguring its semantic meaning through the intersection of art, politics and science. During that period of rich activity in the scenic arts, dance increasingly became an object of study and philosophical reflection. This was mainly, but not exclusively, through Nietzsche’s work, which contains numerous references to dance as an object of reflection. Thanks to Nietzsche, dance was no longer uniquely addressed as a privileged object of thought, but also as a subject that managed to create metaphors for life and through which a number of philosophical issues could be confronted. Furthermore, it provided a pre-discursive space, that is a sort of return to a ›primitive‹ place where the conditions of logic, reason, and discourse were not yet to be found. Unable to put a subject like dance into words, thought encountered its limits as well as a state of exception. Nietzsche’s notion of dance as a pre-discursive expression and as a symbol of the tragic spirit would later be transformed by Aby Warburg in his concept of pathosformel, the expression of feelings through gestures and movements which have universal value, refer to a collective human memory, and do not only respond to particular cultural forms.4 My aim in this article is twofold. Firstly, I want to contextualize the role of dance as an expression of Nietzsche’s notion of the tragic spirit and of Warburg’s concept of pathosformel. According to both authors, dance is understood as vital force, intensification, Dionysian ecstasy and excess that cannot be represented through the logic of reason. Nietzsche and Warburg believe that dance brings to light the limit of language because its force, expression, and rapture cannot be expressed through language; on the contrary, it can only be sensed and
Paris 1984; Daual, Jean-Luc: La photographie. Histoire d’un art, Paris 1982; de Baecque, Antoine: »Écrans. Le corps au cinema«, in: Jean-Jacques Courtine (ed.), Histoire du corps 3. Les mutations du regard. Le XXe siècle, Paris 2005, pp. 372-391. 3
See Gordon, Rae Beth: Dances with Darwin 1875-1910. Vernacular Modernity in France, Ashgate 2009; id.: De Charcot à Charlotte. Mises en scène du corps patologique, Rennes 2001; Didi-Huberman, Georges: Invention de l’hysterie. Charcot et l’iconographie photographie de la salpêtriere, Paris 1982.
4
For further information on Warburg’s concept of pathosformel see: Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003; Port, Ulrich: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888), München 2005; Hurttig, Marcus Andrew/Ketelsen, Thomas (eds.): Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln 2012.
N IETZSCHE , W ARBURG , S ALOME
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experienced. Although it manifests itself within different cultural expressions, dance, according to Nietzsche and Warburg, is therefore connected to a primitive, wild and pre-discursive nature or vital force. According to both authors, through dance life itself is experienced. Secondly, I will apply a feminist critical analysis to this concept of dance as a pre-discursive space. The thesis articulated throughout this article is the following: the metaphysical power that is assigned to dance is an approach based on a wholly binary model. Nietzsche’s and Warburg’s proposals present dance as a reification of the modern nature-culture dichotomy and the gender roles associated with them – that is the dialectic culture-thought-man and nature-dancewoman. To develop this critique, I am going to base my analysis on an illustrating image which appears in the works of both authors: not only is life experienced through dance, but, according to Nietzsche and Warburg, life itself is a woman who dances. Nietzsche’s metaphor of the dancing women in the forest which appears in his book Also sprach Zarathustra (1883-1885) will be explained in the first section of this article. Warburg’s concept of pathosformel as embodied in the image of the nymph, a figure that is the subject of his personal correspondence with André Jolles in 1900, will be addressed in the second part. Finally, to apply Warburg’s and Nietzsche’s ideas about the dancing woman to a political context, I will introduce a short study about Salome as a contemporary myth in the scenic arts and literature in the third section of this article including some final conclusions. Salome appears as the frightening materialisation of the political obsession with the dancing woman at the fin de siècle and allows us to understand how the philosophical aesthetics of the period is linked to heteropatriarchal politics and scientific discourses that support gender binarism.
N IETZSCHE : D ANCE
AND THE
T RAGIC S PRIRIT
In Nietzsche’s philosophy, dance appears as a limit to thought and is explained within the Apollo-Dionysus dialectic.5 This dialectic, which he inherits from the
5
Nietzsche has greatly influenced not only the field of philosophy, but also the ones of literature and theology and his concepts have been discussed by many intellectuals such as Jaspers, Heidegger, Camus, Sartre, Deleuze, etc. To remark on the significance of Nietzsche’s philosophy (1844-1900) in our time, I would like to point out that Heidegger considered him, together with Plato, the founder of the history of philosophy; while Plato had created philosophy as metaphysics of ideas, he considered
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Will-Representation dialectic introduced by Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), was first presented by Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). It appears in a dance metaphor in the second part of the book Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-85) in the chapter »Das Tanzlied«, in which Zarathustra stands amidst a group of women who dance in the forest.6 In an atmosphere very similar to that in a scene from the ballet Giselle (1841), in which Albrecht goes to the forest at nightfall, encountering the spectral Giselle and the army of vengeful Wilis in a clearing, Zarathustra walks through the forest at dusk together with his disciples, where they meet some women who dance in a clearing hidden behind the undergrowth and trees. As soon as the women detect their presence, they stop dancing. Zarathustra then orders them to continue with their dance as he does not embody the presence of the »Geist der Schwere«,7 that is the appearance of thought that intrudes into life, which, in its attempts to follow the full course of life, does nothing apart from creating equivalences in order to make life emerge but, on the contrary, inevitably ends up defeating itself. Zarathustra then sings a song in honour of the devil of the spirit of gravity, which the young girls dance to. In this song Zarathustra sets out his thinking on the inability of thought to participate in life as it is, now materialised in the women’s dance: »In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und in’s Unergründliche schien ich mir da zu sinken.«8 Through the metaphor of the dancers in the forest, Nietzsche lets the reader assume that a thought on or rather in dance is almost a contradiction, or even impossible: in dance thought cannot manage to unfold itself. Philosophy remains helpless upon discovering dance, and through it the genius of music, the tragic spirit or ›primitive‹ nature, its state of exception: a state that haunts one and that can be experienced, but whose primitive space is closed to reflection and judgement; it is perhaps a state of wisdom, but not of thought. At the heart of this unsolvable tension between thought and dance lies the Apollo-Dionysus dialectic that Nietzsche had already introduced in his earlier
Nietzsche as having reinvented philosophy as metaphysics of life, and his concept of life gave rise to a whole Vitalist movement during the 20th century. 6
Nietzsche, Friedrich: »Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (18831885)«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (eds.), Nietzsche – Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 6, Band 1, Berlin 1968, pp. 135-137.
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Ibid., p. 135.
8
Ibid., p. 136.
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book Die Geburt der Tragödie.9 According to Nietzsche, concepts, thought or reason lead us to the following tragic event: the more we try to seize the reality of objects and life through concepts, and thus attempt to apprehend them within the logical structure of reason and language, the more these ›disappear‹ and stay unknown. On the one hand, the Apollonian pole of the dialectic creates images; it is the field of representation and formalisation, the sphere of names and numbers where everything can possibly be named and counted, thought and communicated. On the other hand, life is pure intuition, enigma. Life is not an object of knowledge, it is Dionysus, the field of will, of excess and intoxication, the sphere of the unnameable, the unimagined, the infinite, as well as a blind force in permanent movement and transmutation which cannot be named or expressed but which can, on the contrary, only be felt, experienced, lived. Therefore, human beings are unable to ›uncover‹ or know through reason what things are; moreover, human beings transform the being of objects by their attempt to hold it prisoner and immutable through the logic of reason and language. In Nietzsche’s philosophy, dance is, therefore, a metaphor for life and the Dyonisian. What Nietzsche tells us through the image of the women who dance in the forest and are discovered by Zarathustra is that there is a specific incapacity that is intrinsic to thought with regard to speaking about life, beyond being able to merely indicate it or encompass it. Thought-concept-death and dance-movement-life are the two extremes around which Nietzsche’s words pivot. In Nietzsche’s work, language and the word itself are already beginning to lose legitimacy. The word is mere ink on ever damper paper – an attempt to externalise the expression of the primitive emptiness that never suffices to revive the primitive impulse and that perhaps barely scratches the hidden depth of existence.10 Faced with word’s erratic will, the tragic spirit of music is introduced, which provides the gift of consolation that is able to yield to »einem übermächtigen Einheitsgefühle, welches an das Herz der Natur zurückführt.«11 In the Apol-
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Nietzsche, Friedrich: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (eds.), Nietzsche – Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 3, Band 1, Berlin 1972, pp. 17-152.
10 »[…] daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritte näher gebracht werden kann.« Cf. F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, pp. 47-48. 11 Ibid., p. 52.
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lo-Dionysus dialectic there is a return to nature, which, rather than being a bucolic image or »Tonmalerei«,12 is a melody, a primitive background noise to return to, a mythical space that reaches us as a rumour or primitive echo, haunting us without ever revealing itself – it can be sensed but never captured. The return to an original, pre-discursive nature occurs through the tragic spirit. It is a return in which man has forgotten how to walk and speak – the two signs of culture according to Nietzsche – but can dance and sing instead: »Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.«13
Between dance and thought, between nature and culture, an immeasurable abyss opens up. It is an outcome of the tension between these two irreconcilable extremes, which try blindly to approach one another, yet always miss the target in their endeavour. Moreover, and in clear consonance with the vitalist thought of the period, a gender dichotomy lies at the base of this unsolvable tension and configures the Apollo-Dionysus dialectic. The period from the end of the 19th century to approximately the end of the interwar period of the 20th century was a time clearly marked by vitalist thought.14 In Europe there had been a powerful concern for the question: »What
12 With the expression »Tonmalerei« (ibid., p. 109) Nietzsche referred to the antithesis of authentic or tragic music or rather, that which is not an echo of the primitive but has converted the melody into a crude imitation of things: »Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden.« (ibid., p. 108) 13 Ibid., p. 26. 14 To read further about vitalist philosophy and its relation to scientific knowledge see also Randall, John Hermann: »The Changing Impact of Darwin on Philosophy«, in: Journal of the History of Ideas 22 (1961), pp. 435-462. To explore the relationship between Romanticism, vitalism and nature in greater depth see Arz, Maike: Literatur und Lebenskraft. Vitalische Naturforschung und bügerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996; Jones, Donna V.: The Racial Discourses of Life Philosophy. Négritude, Vitalism, and Modernity, New York 2010.
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is the nature and origin of Life?«15 Moreover, beyond the general query of what life is, there was a specific concern regarding the question which kind of life is worth living, or in which type of life the ecstatic plus could be encountered that would make human existence not only a mechanical, organic event, but an exceptional, unique and unparalleled experience. According to vitalism, living beings and nature were understood as beings that exceed the mere mechanical and materialist sum of their parts. Going beyond their mere functionality, there was a »life force« in them, a concept introduced in the context of the Darwinist notion of life as survival instinct and later used by Hans Driesch.16 A crucial subject of vitalist science was the notion that life was articulated around two principles that were considered to be opposites: the femininemasculine dichotomy. As Laqueur explains in his book Making Sex, the Galenic model for the differentiation of the sexes had, by the end of the 17th century, been substituted by a dichotomous model.17 Galen had developed a model of vertical differentiation in which the female sexual organs were interpreted as the inverted version of the male sexual organs. This model was replaced by one based on the ontological divergence between the sexes, whereby they were no longer thought of as an inverse analogue but as a pair in opposition – the categories of man and woman were now understood as antonymic poles. On the basis of this sexual dichotomy, which also served to assign specific pathologies to each sex as well as to spread panic about the risk of contamination from the opposite sex, a number of other relevant scientific breakthroughs had already been made when Nietzsche's texts were being published. The scientific ›discovery‹ of the ovaries, which, unlike the testicles, had lacked a name or classification until then, took place at the beginning of the 19th century. The analogy between the notion of being ›in heat‹ and menstruation began to take hold from 1840 onwards until the beginning of the 20th century and legitimised the biological submission of women based on their animal conditioning arising from their ovarian cycle. Freud newly ›discovered‹ the clitoris after centuries of theoretical ostracism, although it was configured primarily in terms of sexual deviation, rather
15 Lofthouse, Richard A.: Vitalism in Modern Art c. 1900-1950. Otto Dix, Stanley Spencer, Max Beckmann, and Jacob Epstein, Lewinston/Queenston/Lampeter 2005, p. 3. 16 The concept of »life force« is also encountered in Driesch, Hans: The Science and Philosophy of the Organism, Aberdeen 1908; id.: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905. 17 Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge, Massachusetts/London 1990, pp. 160-178.
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than being a simple organ of pleasure. The gendered metaphysics transmitted by these scientific experiments that prevailed in vitalist philosophy and the concept of ›life force‹ as dialectic of the opposite sexes subsequently moved from science to aesthetics. Nietzsche’s Die Geburt der Tragödie is symptomatic in this regard, given that its Wagnerian prologue is followed by the statement that life depends on the duality of the sexes: »Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fort-währendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt.«18
Vitalist mysticism and the Apollo-Dionysus dialectic were, therefore, not only based on a philosophical perspective but also on a scientific worldview, which played the role of the theoretical branch of vitalist ontology. In this sense, dance appeared inside this vitalist dichotomy used by natural sciences and philosophy, and, using oppositional pairs, pursued similar approaches, albeit using a great variety of pseudonyms: nature-culture, Dionysus-Apollo, dance-thought, woman-man.
T HE L EGACY OF THE T RAGIC S PIRIT : A BY W ARBURG AND THE N YMPH Nietzsche’s notion of the tragic spirit provided a powerful legacy for the German art historian Aby Warburg. The image of the dancing woman, then, continued to embody the vital force and the tragic spirit through the figure of the nymph.19 In
18 F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, p. 21. 19 Aby Warburg (1866-1929) was famous for the investigation of paganism in the Italian Renaissance and for looking for the Dionysian elements that had lasted in the history of art. Atlas Mnemosyne was his unfinished and most famous work. It was a collection of images with very little text, the introduction was written in 1929. Through this archive of images, he was trying to narrate the history of European civilization. His work influenced authors like Panofsky, Gombrich, Benjamin or Cassirer.
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the introduction to the 1929 Atlas Mnemosyne,20 Warburg proposed a shift in the observation of the image towards gesture and movement, which, as opposed to the principles of stillness and simplicity, would be closer to the representation of life. The aim of this atlas of memory was »durch seine Bildmaterialien diesen Prozess [zu] illustrieren, den man als Versuch der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens bezeichnen könnte.«21 The introductory paragraphs to the panels of images that make up the unfinished Atlas Mnemosyne indicate the development of an epistemic shift provided by Warburg’s iconological perspective, which was subsequently discussed in the work of Didi-Huberman and Philippe-Alain Michaud.22 For Warburg the images referred to actions rather than static figures or photographs. They are seen as film stills and images in movement rather than a form of writing in images. They are not mere decorative figurations but pathosformel – images in whose movement lies an archive of memory. Warburg’s recourse to the concept of pathosformel implies a displacement towards the image’s dynamic expression in order to recover the spirit of antiquity, the excess, the tragic, and the figure of the Dionysian. The interest awakened by the image is, for Warburg, a nostalgia for a primitive dis-inhibition and the possibility for opening up an anachronism: the echo of an abysmal surrender – a sort of primitive ecstasy that inevitably leads us back to the tragic spirit that Nietzsche had written about years earlier. As in Nietzsche, dance provided a defining principle for Warburg’s project of creating an archive of pathosformel – an atlas of memory. The frenetic movement of dance would give rise to an intensification or enrapture of the expression; such ideas were already present, as Fernando Checa pointed out in the prologue of the Spanish edition of Atlas Mnemosyne, not only in Die Geburt der Tragödie, but also in The Twilight of the Idols, published in 1888, with the concept of »Rausch«.23
20 Although the Atlas Mnemosyne project began in 1905, it did not effectively start to be displayed as an apparatus until 1924 and it remained unfinished until Warburg’s death in 1929, the year in which he wrote the introduction to the Atlas. 21 Warburg, Aby: »Mnemosyne. Einleitung«, in: Martin Warnke/Claudia Brink (eds.), Gesammelte Schriften, Abteilung 2, Band 1, Berlin 2000, pp. 3-6: p. 3. 22 Véase Michaud, Philippe-Alain: Aby Warburg et l’image en mouvement, Paris 2012; Didi-Huberman, Georges: Atlas ou le gai savoir inquiet. L’Œil de l’histoire, 3, Paris 2011. 23 »Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner
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In addition to panel 32 of the Atlas Mnemosyne, entitled »Groteske. Tanz um die Frau im Mittelpunkt«24 and dedicated to different dances, and some images of panels 50-51,25 there is a symbol of dance that appears to be symptomatic in Warburg’s project. This is the nymph, the image of which is the focus of panel 46 »Ninfa. ›Eilbringitte‹ im Tornabuoni-Kreise. Domestizierung«26 and panel 47 »Ninfa als Schutzengel und als Kopfjägerin. Herbeitragen des Kopfes ›Heimkehr vom Tempel‹ als Schutz des Kindes in der Fremde (Tobiuzzolobilder als Votivbilder)«27 of the Atlas Mnemosyne. Furthermore, it was the subject of correspondence between Warburg and André Jolles in 1900. The topic of their correspondence was the figure of the nymph, which Taine saw in Ghirlandaio’s painting of The Nativity of Saint John28 in a passage from his Voyage en Italie. In his correspondence the nymph is referred to as a symbol of liberation and emancipation found in classical sculpture, in which the expression of unrestrained emotion was still possible. Who is the nymph? This was the question that Jolles and Warburg sought to answer in their exchange of letters. Their answers offer very similar proposals, some fragments of which are cited below: »Behind them, close to the open door, there runs -no, that is not the word, there flies, or rather there hovers -the object of my dreams, which slowly assumes the proportions of a charming nightmare. A fantastic figure -should I call her a servant girl, or rather a classical nymph? -enters the room... with a billowing veil. [...] Sometimes she was Salome dancing
Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprüngliche Form des Rausches.« Cf. Nietzsche, Friedrich: »Götzen-Dämmerung«, in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (eds.), Nietzsche – Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 6, Band 3, Berlin 1969, pp. 51-160: p. 110. 24 A. Warburg: »Atlas Mnemosyne«, pp. 54-55. 25 Ibid., pp. 92-93. 26 Ibid., pp. 84-85. 27 Ibid., pp. 86-87. 28 Works such as Journey in Italy are crucial to gain an understanding of the exoticism and eroticism in Romanticism. Racial, sexual, and national myths were generated through a corpus of ethnographic texts and these fed into the performing arts throughout the 20th century, for example, in the figure of Carmen, which was based on Mérimée’s 1845 travel novel, the consolidation of the myths of gypsy culture, bohemian life and dancers as femmes fatales, which was featured in Gautier’s 1840 Journey through Spain and in Lord Byron’s 1812 Childe Harold’s Pilgrimage.
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with her heart-dealing charm in front of her licentious tetrarch; sometimes she was Judith proudly and triumphantly carrying with a gay step the head of the murdered commander; then again she appeared to hide in the boy-like grace of little Tobias... Sometimes I saw her in a seraph flying towards God in adoration and then in a Gabriel announcing the good tidings. I saw her as a bridesmaid expressing innocent joy at the Sposalizio and again as a fleeing mother, the terror of death in her face, at the Massacre of the Innocents... I lost my reason. It was always she who brought life and movement into an otherwise calm scene. Indeed, she appeared to be the embodiment of movement... but it is very unpleasant to be her lover [...].«29 »On headhunting. Judith, Salome, maenad, via the Nymph as a bringer of fruit, Fortuna, the Hora of Autumn, to the server of water at the well, Rachel at the well, the fire fighter at the Borgo fire...« 30
The nymph is both dream and nightmare for Jolles as well as Warburg, who were both besotted and terrified by this prototypical performative character. They seemingly only sought to acknowledge it, when in effect they were building and consolidating it. The nymph, the dancing woman, is the symbol of the sublime, but also of the formless, the grotesque, the unthinkable and the uncontrollable. It implies the contemporaneous reappearance of the subject ›woman‹ as platonic idea. The dancing woman represents the image of the woman who would be all women, yet none at the same time – the dancing Salome, Judith, the mother, the angel of God, the lady of honour – that woman who is all women and therefore none, and that, like the concept of nature, ends up being a catch-all concept in which thought places its fears, limits, and violence. The nymph, the dancing woman, is not a subject in the sense of the Enlightenment, nor is she a citizen. She is an intellectual construct hidden behind the shadow of their own romantic fantasy and is, as Jolles states, »the embodiment of movement«.31 With Salome’s eroticism and dance against the word of John the Baptist, it is as if the mistrust of the Nietzschean »spirit of gravity« surfaced once more in the writing of Warburg and Jolles in the figure of the nymph, Salome, Judith or the symbol of the woman-movement, which leaves the intellectual in a state of fear.
29 Letter from Jolles to Warburg dated 23 November 1900 cited in Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Una biografia intelectual, Madrid 1992, pp. 107-108. 30 Ibid., p. 287. 31 Ibid., p. 108.
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Through the character of the dancing woman, movement was understood as plague, contagion, infection, fire. The intellectual horror and fascination with this character and her terrifying frenetic movement is to be considered in relation to the female pathology par excellence of the previous century – hysteria. The 19th century had been a century of hysteria, a wholly female pathology that became linked to men through fears of the feminisation of male bodies and the pathologisation of homosexuality in 1886. Hysteria, which began to be diagnosed 1900 B.C. and was changed a number of times in its scientific hypotheses during the 19th century by Charcot, was concerned with symptoms associated with excessive movement. As Chauvelot mentions, the symptoms classified under the diagnosis of hysteria were considered to be caused by the uterus, which brought about the illness due to its being in a state of emptiness, lacking what it desired (sexual satisfaction and sexual continence). This shortage manifested itself in impulsive movements of the uterus, thereby causing the four stages of movement of hysterical woman: rigidity, clonic spasms, passionate state, and final delirium.32 The pathology was not only an illness; it became a structure through which the world was understood and turned into a »metaphor of creativity«.33 In the terrain of the arts, there were many that came to refer to themselves as hysterics such as Mallarmé, Flaubert, and George Sand. They established a parallel between an ecstatic state, orgasm, and hysteria with all its symptoms – epileptic spasms, the reduction of the visual field, auditory isolation, partial anaesthesia, paroxysm – which would all have major repercussions when it came to the comprehension and analysis of dance.34
32 Chauvelot, Diane: Historia de la histeria. Sexo y violencia en lo inconsciente, Madrid 2001, p.10. For further information about hysteria and its connections to dance see also Gordon, Rae Beth: De Charcot à Charlotte. Mises en scène du corps patologique, Rennes 2001; G. Didi-Huberman: Invention de l’hysterie; Charcot, J.M./Richer, Paul: Les démoniaques dans l’art. Suivi de la foi qui guérit de J.M. Charcot, Paris 1984 [1887]. 33 D. Chauvelot: Historia de la histeria, p. 149. 34 A review by Théophile Gautier of a performance by the dancer Petra Cámara at the Paris Gymnase theatre in 1853, in which he described her dancing in terms of a hysterical crisis, particularly deserves to be mentioned. The borderline between theatre and medical diagnosis in this text is of special interest. This text can be found in Navarro García, José Luis: Historia del baile flamenco, volume 1, Sevilla 2010, pp. 279280.
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The dancing woman is the symptom of a period that was heir to Romanticism and would be praised enthusiastically by Vitalism. The appearance of the figure of the dancer is both venom and pharmacon. On the one hand, she is an object of desire and a resonance of a tragic space – an echo of a remote past in which life had a genuine intensity that Romantic melancholy and Vitalist ecstasy sought to recover. On the other hand, the female dancer is a threat to thought, reason, and culture, because she is a permanent reminder that knowledge is insignificant and that nothing will remain of times past but a yearning for what is lost, unreachable, and always hidden behind Nietzsche’s »veil of Maya« or the Apollonian appearance. The figure of the dancing woman as a symbol of nostalgia and danger has to be contextualised within the framework of the myth of the fatal, irrational, amoral, incorrigible, and infantile woman. This myth was developed from the end of the 19th to the beginning of the 20th century through a variety of aesthetic, political, and scientific manifestations. Salome would experience a very similar fate to that suffered by the category of nature in modern science as discussed by Donna Haraway in her article »Modest_witness@second_millenium«. Mechanism and materialism were the predominant epistemology after the scientific revolution of the 17th century. The scientist or, in his more generic form, the man of reason, as well as reason itself were conceptualized during that period as subjects formed on the basis of auto-invisibility, as a mirror of reality in which »his subjectivity is his objectivity«.35 Consequently, opaque, material, formless, chaotic and prediscursive nature had to wait for the narrative of science to render it intelligible. As Haraway astutely points out, the dichotomous nature-culture schema also produced a double opacity of what was subsumed under the category of nature. Not only in an initial state of epistemic obscurity, but also in the wake of scientific analysis, the formless material was subjected to an amplified opacity, given that nature was converted into a mere »[…] materialized fantasy, a projection whose solidity is guaranteed by the self-invisible representor. […] It is the self-contained power of the culture of no culture itself, where all the world is in the sacred image of the Same. This narrative structure is at the heart of the potent modern story of European autochthony.«36
35 Haraway, Donna: »Modest_witness@second_millenium«, in: id.: The Haraway Reader, New York 2004, pp. 223-250: p. 224. 36 Ibid., p. 223.
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The double opacity of the concept of nature Haraway brings to light can also be found in the case of the image of the woman as movement, whose symbol is, in fact, empty because it constantly takes our gaze back to the perspective of the male commentators. Salome, the nymph, or the dancing woman were nothing more than a metaphysical projection or some intellectuals’ romantic dream and the symptom of a place where scientific, political, and aesthetic theories overlapped. The construction and consolidation of the myth of the femme fatale was enabled by the double scientific framework of that time: firstly, the gender dichotomy postulated in the natural sciences, as reflected in Nietzsche’s ApolloDionysus dialectic; secondly, the epistemological basis of hysteria, as to be seen in the concept of movement as intensification and rapture of Warburg’s pathosformel. Between patriarchal and heteronormative desire and terror, women were once more confined to the realm of pre-discursive nature and the terrain of animality, which reason had to subjugate and control. Above all, this was done by deploying medical-scientific arguments, within which the category of pathology became the new pseudonym that substituted the catch-all concept of nature and that introduced an alterity linked to excess, danger, and the possibility of contagion. At a political level, this new confinement to the realm of nature in a halo of vitalist mysticism and pathologising scientific reason was by no means trivial, especially if the feminist struggle in Europe of the period is taken into account. The spectre of the decapitated Olympe de Gouge and her 1791 Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne haunted the memory of the French Revolution. Women had been about to use the newly launched bourgeois notion of citizenship but had at most achieved being relegated, by Rousseau, to the role of the mothers of citizens or civic mothers.37 Furthermore, from 1804 onwards women endured even greater restrictions regarding their social status, especially in terms of marriage, because of the Napoleonic Code which would subsequently be exported across all of Europe. Against the repressive Victorianism of the period, there were constant feminist struggles during the 19th century. Furthermore, feminism became an international movement with the first Association internationale des femmes being formed in 1868 in Geneva and the First International Congress on Women’s Rights held in Paris in 1878.38 At the same time, feminism began to establish strategic political alliances with other political move-
37 See Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation, Paris 1866. 38 Cf. Offen, Karen: »Signposts. A Chronology of Global Feminisms«, in: id. (ed.), Globalizing Feminisms. 1789-1945, New York 2010, pp. xxiii-xxviii: p. xxiv.
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ments such as Marxism and abolitionism; the activism of the suffragettes and the fight for property rights were two results of these alliances. The fears enshrined in science and politics would find their aesthetic manifestation in the dancer; and the figure of Salome became a constant feature from the end of the 19th century to the inter-war period. The myth of Salome that appears in the New Testament gospels of Mark and Matthew, as well as in Seneca, Cicero, Plutarch, and subsequently in medieval legends in the form of an androgynous acrobat, resurfaced as a contemporary myth that embodied Orientalist yearnings – the conjunction of the Romantic period’s exoticism and eroticism.39 The figure of Salome is the symbol of the Romantic return to nature by way of Orientalism,40 which drew on ethnographic literature, archaeology, and the newborn archival obsession caused by photography with its capacity to reproduce works of art. Around 1850 Flaubert found his sought-after image of the oriental woman in the figure of Kutchuk Hanem, a dancer who played the role of the Queen of Sheba, who would become the heroine and muse of his novels Salammbô and The Temptation of St. Anthony. Subsequently, in 1864 Mallarmé published Herodias and thereby inaugurated a long list of literary Salomes. Examples include Flaubert’s Herodias (1877) and Wilde’s banned play, which was set to open in London in 1893 with the actress of the moment, Sarah Bernhardt, playing Salome. Huysmans’ novel À rebours appeared in 1884, with its protagonist obsessed with Moreau’s representation of Salome in his 1875 painting L’apparition. This was the start of one of the many thematic exchanges between literature, the visual arts, and the performing arts that took place with regard to the figure of Salome. As Molins, Walkowitz and Brandstetter have pointed out, the pictorial and literary myth finally became embodied in staged representations of Salome. The performances of actresses and dancers, regarded as living embodiments of the myth, were presented in the context of artistic creation.41 In Dresden in 1905,
39 Bentley, Toni: Sisters of Salome, Lincoln/London 2005, p. 19. 40 For more remarks on Orientalism and ethnographic literature, see footnote 43. 41 For further information about the figure of Salome and the role of women in that time see Molins, Patricia: »Salomé. Un mito contemporáneo«, in: id. (ed.), Salomé. Un mito contemporáneo, Madrid 1995, pp. 17-65; Walkowitz, Judith: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992; id.: Nights Out. Life in Cosmopolitan London, New Haven/London 2012; Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, pp. 225-245.
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Maria Wittich was cast for Richard Strauss’s version of Salome, but a double was sought for the nine minute long musical composition written for »The Dance of the Seven Veils«, in which Salome’s dangerous sexuality is transformed into a quasi-religious ritual. In 1909 Ida Rubinstein played the role of Cleopatra for her debut in Diaghilev’s Ballets russes at the Théâtre du Châtelet in Paris. The libretto was based on a story by Gautier called Une nuit d’Egypte, in which Cleopatra is a character with an unbridled sensuality and her own harem. In this piece Strauss’s »Dance of the Seven Veils« was extended to one of twelve veils. Further examples include the Salomes played by Ruth St. Denis, Tilla Durieux, Margarita Xirgú and Tórtola Valencia. The on-stage Salome reflected a new social terror towards a change of perspective that arose from women occupying the public space with their dance and performance. The objectification of women began to undergo a remarkable resignification as these women, in terms of being an object of desire, also became subjects for whom the anonymous audience in turn became their object and caprice. With regard to this confusion between object and subject in dance, special consideration must be given, for example, to the role played by the dancer Loie Füller. In 1891 she presented the ground-breaking Danse serpentine and some years later the Danses lumineuses; she also played Salome in 1895 at the Comédie-Parisienne theatre in Paris. Loie Füller and the female dancers thus came to embody the Symbolist ideal of the total work of art, which in the words of Baudelaire created »a suggestive magic containing the object and subject, the world of the artist and the artist themselves«42 and also drew on the legacy of Wagner’s 1849 Das Kunstwerk der Zukunft.
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In the wake of the confusion between subject and object, women’s on-stage role, their influence on the development of 20th century visual art and the appeal of the aesthetics of Salome became the centre of a sense of panic. Women’s growing presence in and occupation of public space led to a fear of the possible sociopolitical degradation of men through the ›dishonourable‹ feminisation of their roles. As Ortega stated: »Salome is a manlike fantasist [...] and femininity contracts within her a masculine deviation.«43 In fact, the decline of Salome began
42 In P. Molins: Salomé, p. 46. 43 Ortega y Gasset, José: » Esquema de Salomé«, in: id.: Tres ensayos sobre la mujer, Barcelona 1972, pp. 32-41: p. 36.
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with this transgender panic when the place within public space that was granted to Salome ceased to be one of heteronormative entertainment, and she became a threat to national identity in terms of its productive and reproductive dimensions. In 1917 Mata Hari was tried and sentenced to death as a spy, thereby ending the career which had begun with her debut as an oriental dancer in the salon run by Madame Kiréevksy in Paris and included performances such as her 1905 Brahamanic dances at the Musée Guimet, which were hugely popular amongst the Parisian aristocracy. In 1918 scandal arose in relation to the Canadian dancer Maud Allan while she was on tour in Germany. In 1906 she had posed as model for Franz von Stuck’s painting of Salome and presented her own version of Salome as part of the performance Vision in the Théâtre des Variétés in Paris. Maud Allan was accused of being a pervert and lesbian on the basis of her knowing the word clitoris, and tried in a London court.44 As Bentley commented, lesbianism as a crime was now added to Salome’s already feared, but at the same time relished perversions: incest, vice, murder, sadism and necrophilia.45 Salome’s apparently inoffensive depravity, which was in principle a western male fantasy, slowly but surely acquired a clear-cut tone of social autonomy and danger during the first three decades of the 20th century. Both the specific figure of the femme fatale Salome and the aesthetic-poetic structure of the dancer as the embodiment of movement and a total work of art in the Wagnerian sense, of the return to the original nature of life-movement, continued to be a constant feature until approximately the end of the inter-war period. During this period, it was principally the occurrence of two factors that added to the aforementioned sense of danger that the figure of Salome had begun to awaken. As a result of the First World War, some had already begun to glimpse the threats implicit within Vitalism, as is revealed by Beckmann’s prescient reference to his experience of war and its horrors as »the terrible, thrilling monster of life’s vitality«.46 However, it was not until the end of the Second World War that vitalism began to be considered as a wholly negative mode of thought due to its association with Fascism, which had assimilated late 19th century scientific and philosophical thought to bolster its own political, racial, and nationalist ideas. The second factor that exerted an influence on the decadence of the figure of Salome was the revitalisation of the male dancer at the beginning of the 20th cen-
44 See Walkowitz's chapter on »The ›Vision of Salome‹«, in: J.R. Walkowitz: Nights Out, pp. 64-91. 45 T. Bentley: Sisters of Salome, pp. 50-51. 46 R. A. Lofthouse: Vitalism in Modern Art, p. 9.
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tury thanks to artists such as Nijinsky and Ted Shawn and their leading roles in Diaguilev’s Ballets Russes. Until then, the field of dance was considered an essentially female realm through which women accessed the world of art. Slowly but surely the number of male dancers grew and their integration, in accordance with the model of the horizontal differentiation of the sexes, would run in parallel with the creation of an opposing sexual-political aesthetics for dance. Behind the romantic fascination with the character of female dancers stood not only a male, bourgeois, and erotic epistemic fantasy, but also the aforementioned concealed fear of dance as a plague and contagion – that is to say, the fear of the feminisation of the male body, and as a result the devaluation of the social status of men. Romantic critics such as Janin and Gautier considered ballet as a principally female spectacle and believed that the presence of men flawed its beauty. This dislike of male dancers was a common attitude in London, Paris and other European cities throughout the first half of the 19th century. According to Burt, this aesthetic disgust concealed the bourgeois panic that arose when confronted with the labourer’s body, as well as a heteronormative terror of men’s potential homosexuality.47 On the one hand, the dancer’s body, a strong and muscled body was a reminder of the working class body and male dancers evoked working class pleasures and the possibility of revolt. On the other hand, the presence of men on stage generated a range of doubts and anxieties for the bourgeois spectator; the focus of his desire could become confused by the ensemble of dancing bodies and the object of his gaze could unconsciously be shifted from the ethereal female dancer to the muscular male dancer.
C ONCLUSION Within the expanding territories between dance and philosophy that emerged from Nietzsche onwards, it was not philosophy that served dance but quite the contrary – dance was converted into an aesthetic excuse or motive that served the purposes of philosophy and the relationships of power-knowledge-truth in contemporary society. The main philosophical perspective was the one that perceived dance as a pre-discursive space, as a means to free the body through gesture and movement, which thereby provided the unmediated truth of the being of nature itself as well as an ethereal woman who danced and gave form to a primitive ontology. This must be analysed critically as a discourse of knowledgepower-truth within the aesthetic-political contexts of this period, mainly Roman-
47 Burt, Ramsay: The Male Dancer, New York 1995, pp. 24-30.
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ticism’s heritage and Vitalist science. Philosophical approaches to dance have, as a rule, developed a contemplative and poetic tone towards dance and they have, in general, represented the dancing body as an ethereal, light, mystical and ecstatic body. Nevertheless, this article has shown that the concepts of the tragic spirit and pathosformel do not merely belong to the field of metaphysics. On the contrary, such aesthetic considerations are based on a heteropatriarchal and binary epistemology and politics. In order to undertake a genealogical survey of the philosophical discourse on dance, it is essential to critically review the authors who contributed to the construction of a philosophy of dance. Only then can a rigorous philosophical approach be developed to address dance. The poetic-aesthetic analysis needs not necessarily be eliminated, but greater attention should be paid to the political use of dance as a disciplinary technique and orthopaedic instrument for the somatopolitical control and correction of bodies.
II Dimensionen der Verkörperung
Verkörperungen im Raum Einige Überlegungen aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin
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Körpergeschichte stand in den 1980ern und 1990ern im Zentrum der geschichtswissenschaftlichen Debatten und hat gerade in der Geschlechtergeschichte wichtige Arbeiten mitgeprägt.1 Seitdem ist es etwas ruhiger um dieses Thema geworden. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass entsprechende Konzepte im geschichtswissenschaftlichen Mainstream angekommen sind. Nichtsdestotrotz sind viele Fragen und Probleme offen geblieben. Umso wichtiger ist, dass die Kategorie Körper beziehungsweise Verkörperung in letzter Zeit wieder in den Vordergrund des Interesses rückt und eine Perspektive des Graduiertenkollegs Dynamiken von Raum und Geschlecht wie des vorliegenden Sammelbandes darstellt. Für die Geschlechtergeschichte war der Körper nicht zuletzt und indirekt durch die analytische Trennung von sex und gender zentral. Bei aller Relevanz der Konstruktion von Geschlechterrollen befriedigte das Konzept des sex/Körper als statisch bleibende und gegebene Einheit aber bald nicht mehr. Auch die biologische Form wurde daher historisiert und als etwas Konstruiertes und damit Wandelbares aufgefasst.2 Für die Geschichtswissenschaft besonders relevant wurden die Studien von Thomas Laqueur, der die Geschichte des anatomischen Körpers analysierte und damit das Konzept der biologischen Zweigeschlecht-
1
Statt vieler Einzelhinweise vgl. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einfüh-
2
Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin
rung in die Körpergeschichte (= Historische Einführungen 4), Tübingen 2000. 1995.
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lichkeit historisierte, und die Arbeiten von Barbara Duden, die die historische Erfahrung von Körperlichkeit untersuchte.3 Bei allen Unterschieden teilen beide Studien die Überzeugung, dass Körper und Geschlechtlichkeit durch die Brille der jeweiligen Kultur verstanden werden müssen. Diese Einsichten sind für die Geschichte der Vormoderne besonders wichtig.4 Die Historisierung des biologischen Körpers ist für die Forschungen in der Vormoderne einerseits eine besondere Herausforderung. Die vormodernen Körperkonzepte und die daraus resultierenden Körpererfahrungen stellen eine Form von Alterität dar, die schwerer nachzuvollziehen ist als die Fremdheit zeremonieller Praktiken oder religiöser Empfindungen.5 Andererseits schützt die Akzeptanz dieser Alterität und damit der Vielfalt an menschlichen Körpererfahrungen und -konzepten eine_n Historiker_in der Vormoderne davor, die moderne Wahrnehmung als Normalfall anzunehmen, und zwingt sie_ihn gleichsam zur Reflexion der eigenen Kategorien. So schwierig diese Auflösung der biologischen Körperlichkeit erscheint – in akademischen wie in alltagsweltlichen Debatten –, so unabdingbar ist sie, wenn es darum geht, verschiedene Normativitäten zu hinterfragen, seien es die binären Geschlechter, die Heteronormativität oder auch die westlich-modernen Körpervorstellungen. Aber es sind auch Kosten, nicht zuletzt gesellschaftspolitischer Art, zu bedenken, so etwa die Kritik, die auch von der feministischen Bewegung am gender turn geäußert wurde. Während einerseits die Dekonstruktion fester Geschlechterrollen und des weiblichen Körpers begrüßt wurde, beraubte diese Perspektive doch den politischen Feminismus in gewisser Weise seines politischen
3
Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York 1992; Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987.
4
Vgl. Lorenz, Maren: »›...als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte...‹. Schwangerschaftswahrnehmung und Geburtserfahrungen von Frauen im 18.Jahrhundert«, in: Richard van Dülmen (Hg.), Körper-Geschichten, Frankfurt a.M. 1996; Rublack, Ulinka: »Körper, Geschlecht und Gefühl in der Frühen Neuzeit«, in: Paul Münch (Hg.), »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= Historische Zeitschrift, Beihefte 31), München 2001, S. 99-105.
5
Lindemann bezeichnet die frühneuzeitliche Körperwahrnehmung als »inzwischen fremd gewordenes Sinnsystem«, Lindemann, Mary: »Kommentar«, in: Paul Münch (Hg.), »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= Historische Zeitschrift, Beihefte 31), München 2001, S. 127-132, hier S. 127.
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Subjekts.6 Doch die Kosten können darüber hinausgehen. Mit der Anerkennung der genannten Auflösung des biologischen Körpers, der kulturellen wie historischen Diversität seiner Erscheinungs- und Erfahrungsformen, müssen wir uns auch von unseren eigenen Idealen einer von Diversität, Gleichberechtigung und Toleranz geprägten Welt als Schablone unserer wissenschaftlichen Analyse verabschieden. Die durch Dekonstruktion von Geschlecht und Körper gewonnenen Einsichten dürfen nicht zum Maßstab erhoben werden, demgemäß das Handeln historischer Akteure zu bewerten ist. In den letzten Jahren zeigt sich in der Wissenschaft eine gewisse Müdigkeit gegenüber den vielen konstruktivistischen und kulturalistischen Ansätzen und entsprechend die Sehnsucht danach, das eigene Untersuchungsobjekt wieder greifbarer zu gestalten. Dies zeigt sich in dem immer stärker werdenden material turn, aber auch in einem wiedererwachenden Interesse an Fragen von Körper und Körperlichkeit. So wird der Körper als wichtige Instanz praxeologischer Ansätze betont.7 Die praxeologischen Ansätze stellen sich aber auch der alten Frage, nämlich wie Struktur und Akteur beziehungsweise Diskurs und Praxis analytisch verbunden werden können. Dieses Dilemma beschäftigt die Geschichtswissenschaft schon länger. Die bereits erwähnte Barbara Duden kritisierte die genannte Studie von Thomas Laqueur, weil diese den Diskurs überbewerte und die Erfahrung der Akteure mit ihrem Körper ausblende.8 Sicherlich ist die alltagsweltliche Bedeu-
6
Vgl. Annuß, Evelyn: »Umbruch und Krise der Geschlechterforschung: Judith Butler als Symptom«, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaft 38 (1996), S. 505-524, hier S. 505; gerade in den Diskussionen um Judith Butlers Werk trafen verschiedene Generationen von Forscher_innen aufeinander, vgl. Landweer, Hilge/Rumpf, Mechthild: »Einleitung«, in: Feministische Studien 11/2 (1993), S. 3-9.
7
Vgl. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282-301, v.a. S. 290; Villa, Paula-Irene: »Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen«, in: Julia Graf/Kristin Ideler/Sabine Klinger (Hg.), Geschlecht zwischen Struktur und Subjekt. Theorie, Praxis, Perspektiven, Opladen/Berlin/ Toronto 2013, S. 59-78.
8
Duden, Barbara: »Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte. Bemerkungen zu neuerer Literatur in der Körpergeschichte«, in: Feministische Studien 2 (1991), S. 105-122; vgl. dazu Giuliani, Regula: »Körpergeschichte zwischen Modellbildung und haptischer Hexis«, in: Silvia Stoller/Helmuth Vetter (Hg.), Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, Wien 1997, S. 148-165.
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tung der anatomischen Konzepte ein wichtiger Aspekt für die Konstruktion von Geschlechtern. Es fehlen aber Studien, die sich dem Verhältnis von Körperkonzepten und Körpererfahrungen widmen, ihrer gegenseitigen Beeinflussung wie ihren Bedingtheiten.9 In der Soziologie wird in den letzten Jahrzehnten versucht, das Problem Diskurs und Praxis, Struktur und Akteur analytisch zu verbinden; Paula-Irene Villa diskutiert dies beispielsweise anhand des Konzepts der Verkörperung.10 In der Geschichtswissenschaft wurde Verkörperung gerade in einer kulturgeschichtlich gewendeten Politikgeschichte ausführlich verhandelt,11 aber auch geschlechtergeschichtlich ist der Begriff der Verkörperung mit seinem prozessualen Charakter sehr wichtig. Vor diesem Hintergrund möchte ich einige Überlegungen zu Aspekten vorstellen, die mir für die weitere Erforschung des Themas ›Körper und Geschlecht‹ zentral erscheinen. Erstens findet Verkörperung nicht im machtleeren Raum statt, sondern wird von den diskursiven (und anderen) Machtverhältnissen vorstrukturiert. Zwei Dinge erscheinen mir hier nach wie vor wichtig: Die Berücksichtigung eben dieser Machtverhältnisse als epistemische bedeutet, dass normative Zuweisungen oder Verurteilungen im Positiven wie im Negativen problematisch sind. Die Mechanismen, die die Machtverhältnisse in Körper und Raum einschreiben, sind nicht neutral und müssen dekonstruiert und hinterfragt werden, sie sind aber eben auch nicht das intentionale Machwerk eines ›bösen Patriarchats‹. Die Machtfrage stellt sich nicht nur als suppressive Struktur (Foucault). Villa und andere betonen zweitens die Ermächtigung durch Praktiken der Verkörperung. Körper als Ermächtigung, gerade auch für Frauen, wurde in Forschungen zur Vormoderne immer wieder herausgearbeitet.12
9
Vgl. Lindemann: »Kommentar«, S. 130.
10 P.-I. Villa: »Subjekte«. 11 Vgl. z.B. Stollberg-Rilinger, Barbara: »Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 127 (2010), S. 1-32, hier S. 9; sowie die Überlegungen des Soziologen Rehberg, Karl-Siegbert: »Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht«, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3-49, v.a. S. 17-19. 12 Zu denken ist etwa an die Arbeiten zu Fastenpraktiken von Mystikerinnen im Mittelalter. Bynum, Caroline: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalter, Frankfurt a.M. 1995.
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Ebenfalls nicht neu, aber doch immer wieder wichtig zu betonen, ist drittens, dass Gender zwar ein wichtiger Aspekt für Verkörperungen ist, aber eben nicht der einzige. Gender muss immer ins Verhältnis zu anderen Kategorien der Differenz gesetzt werden. Dies geschieht zur Zeit vor allem mithilfe des Konzepts der Intersektionalität. Dass die Kategorie Geschlecht andere Kategorien sozialer Ungleichheit nicht überdecken sollte, wurde schon lange diskutiert,13 trotzdem scheint die Gender-Kategorie gerade in Bezug auf die moderne Gesellschaft lange Zeit dominierend.14 In der Forschung zur europäischen Vormoderne wird dies schon seit einiger Zeit als Problem diskutiert.15 Hier lagen solche Überlegungen auch näher, da in der Vormoderne die binäre Geschlechterteilung noch nicht die primordiale Relevanz hatte, wie sie sie in der Moderne bekommen sollte, und vielmehr gerade ständische Zugehörigkeiten vielfach wichtiger waren als das Geschlecht des Akteurs.16 Viertens möchte ich bemerken, dass die Forschungen zu Körper wie Verkörperungen oft eine Übermacht westlicher Körpererfahrungen und Körperkonzepte, aber auch politischer Ideen zu Geschlechterverhältnissen implizieren. Transkulturelle und beziehungsgeschichtliche Aspekte werden hier leicht ausgeblendet. Die Bedeutung der Implementation westlicher Geschlechterrollen im Kontext des Kolonialismus ist bereits thematisiert worden;17 andere, nicht-westliche
13 Früh zum Beispiel in den Auseinandersetzungen der weißen und schwarzen Frauenbewegungen in den USA. 14 Dies deutet sich nicht zuletzt an, wenn aktuelle Einführungen in die Intersektionalitätsforschung betonen: »die Zeit ist […] reif, in größeren Zusammenhängen und schubladenübergreifend zu denken«. Vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 7. 15 Vgl. v.a. Griesebner, Andrea: »Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit«, in: Veronika Aegerter et al. (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1999, S. 129-137. 16 Zu Recht ist die wichtige These der Polarisierung der Geschlechterrollen, vgl. Hausen, Karin: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393, in letzter Zeit relativiert worden. Nichtsdestotrotz kann der Kategorie ›Geschlecht‹ für die Moderne eine größere Rolle als für die europäische Vormoderne zugeschrieben werden. 17 Connell, Raewyn: Gender. In World Perspective (= Polity Short Introductions), 2. Auflage, Cambridge/Malden, Massachusetts 2009.
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Körperkonzepte/-erfahrungen sind dennoch zu wenig präsent in Forschung zu westlichen Phänomenen. Man muss nicht bei allen Themen die globale Perspektive wählen; Forschungen zu modernen westlichen Phänomenen müssten sich aber der historischen und kulturellen Spezifik ihres Gegenstands mehr bewusst sein. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die westliche Geschlechterforschung im Sinne Dipesh Chakrabartys zu provinzialisieren!18 Die Verbindung von Körper und Raum, die dieser Band vornimmt, erweitert das Feld oder ergänzt es doch um eine weitere dynamische Kategorie: Nicht nur Körper und Geschlecht sind konstruiert, sondern eben auch der Raum, in dem sie agieren, den sie erfüllen und der sie gleichzeitig begrenzt und ermächtigt. In dieser Perspektive besteht ein Zusammenhang zwischen Raum und Geschlecht nicht nur im Falle geschlechtsspezifischer Räume.19 Vielmehr werden Räume auch durch Praktiken oder durch Wahrnehmung vergeschlechtlicht, wie gerade die Beiträge von Milevski und Bücker aus literaturwissenschaftlicher Perspektive demonstrieren. Hier zeichnen sich für die Geschichtswissenschaft interessante Perspektiven auf den Körperraum als narrative Größe ab. Raum kann gerade in der Literatur dynamisiert werden, wobei diese Dynamisierungen und die Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeit vielfach an die sozial und kulturell hergestellten Grenzen der geschlechtlichen Körperlichkeit stoßen. Ähnlich begrenzt zeigen sich die Möglichkeiten des Raumes als eines Experimentierfeldes bei der neuen Sportart des Parkour, wie Schilling am Ende ihres Beitrags konstatiert. Nichtsdestotrotz kann die Frage nach möglichen Experimentierräumen, die die Grenzen geschlechtsspezifischer Strukturen überschreiten und so dynamisieren, einerseits zu neuen Perspektiven, andererseits aber auch zu einem tieferen Verständnis eben dieser Grenzen führen. Zeigen doch alle drei Aufsätze, dass die internalisierten Geschlechterkonzepte gerade in ihrem körperlichen Ausdruck und damit in der Verkörperung im Raum besonders wirkmächtig sind.
18 Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference (= Princeton Studies in Culture, Power, History), Princeton 2000. 19 Diese wurden früh in der deutschen Geschichtswissenschaft untersucht, vgl. Hausen, Karin: »Frauenräume«, in: dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 21-24.
Verkörperungsprozesse und die Transformation des Urbanen Der Trendsport Parkour im raum- und geschlechtersoziologischen Fokus
N ATALIE S CHILLING
»Es geht vor allem um den Flow, beim Parkour kannst du eins werden mit dir selbst und der Umgebung.« (David Belle 2008, Begründer der Sportart Le Parkour)1
Ziel der folgenden Analyse ist es, die Dynamiken von Raum und Geschlecht innerhalb des urbanen Trendsports Parkour zu erfassen.2 Der Sport eignet sich dazu in hohem Maße, da er als besondere Form der Aneignung städtischen Raums gegenwärtige verräumlichende und vergeschlechtlichende Verkörperungsprozesse erhellt: Urbane Trendsportarten wie Skateboarding, Inlineskating, Cross-Golf und das dem Parkour verwandte Freerunning zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie außerhalb traditioneller Sporträume in den Straßen und Parks der Städte ausgeübt werden und den urbanen Raum auf kreative Art und Weise neu bespielen.
1
http://www.fitforfun.de/sport/weitere-sportarten/trendsport/parkour/david-belle_aid_
2
Zur Definition und soziologischen Eingrenzung von Trendsportarten siehe Gugutzer,
4977.html vom 25.05.2013. Robert: »Trendsport im Schnittfeld von Körper, Selbst und Gesellschaft. Leib- und körpersoziologische Überlegungen«, in: Sport und Gesellschaft – Sport and Society 1/3 (2004), S. 219-243; vgl. auch Schwier, Jürgen: »Soziologie des Trendsports«, in: Kurt Weis/Robert Gugutzer (Hg.), Handbuch Sportsoziologie, Schorndorf 2008, S. 349-358.
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Innerhalb der Szene wird Parkour meist als Bewegungskunst verstanden, »bei welcher der Teilnehmer […] andere Wege einschlägt, als die, die ihm auf architektonische oder kulturelle Art und Weise vorgegeben sind.«3 Die Traceur_innen4 – wie sich die Parkoursportler_innen nennen – laufen entlang eines selbstgewählten Pfads im urbanen Raum und überwinden dabei sehr schnell und effizient sämtliche Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, wie etwa Mauern, Treppen, Geländer oder sogar Häuserdächer. Besonders populär ist der Gründungsmythos des Parkoursports, demnach es David Belle war, der die ursprünglich militärische Praxis von seinem Vater – einem Kriegsveteranen – erlernte. Mit seinem Umzug in eine Pariser Vorstadt übertrug er die Bewegungsformen auf die dortige, urbane Plattenbauarchitektonik und etablierte sie gemeinsam mit Freunden als die Sportart Le Parkour.5 Dadurch entwickelte Belle auch einen anderen Bezug zur Tristesse seines neuen Wohnorts: »Aus begrenzenden und einschränkenden Hindernissen wurden nun Freiheits-, Möglichkeits- und Bewegungsräume.«6 Diese Erzählung von der Bedeutungsverschiebung im Umgang mit dem eigenen Lebensraum wiederholt sich in vielen Darstellungen von Parkour. Im Folgenden wird deshalb aus soziologischer Perspektive die Frage gestellt, inwieweit diese Sportart tatsächlich das Potenzial besitzt, sich den städtischen Raum neu anzueignen, diesen umzudeuten und dabei das Verhältnis zum eigenen Körper zu verändern. Einige Sportsoziolog_innen gehen davon aus, dass sich im Parkour eine besondere Hinwendung zu körperlichen Erfahrungen gegenüber der für die Spät-
3
Witfeld, Jan/Gerling, Ilona E./Pach, Alexander: Parkour und Freerunning. Entdecke
4
Im Folgenden wird die geschlechtsneutrale Form für Personennennungen wie
deine Möglichkeiten, Aachen 2010, S. 26. Traceur_innen verwendet, die sämtliche Geschlechteridentitäten und -zuordnungen berücksichtigen soll. 5
Die Verbreitung des Sports kann zahlenmäßig schlecht ausgedrückt werden, da Parkour sowohl informell als auch organisiert im Rahmen lokaler Vereine oder Gruppen, in Hallen wie auch draußen im urbanen Raum ausgeübt wird. Die Verbreitung und internationale Vernetzung der verschiedenen Gruppen hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Die Weiterentwicklung und Ausbreitung von Parkour geht vor allem auf Filme sowie auf privat erstellte Online-Videoclips von Sportler_innen selbst zurück. Vgl. J. Witfeld/I. E. Gerling/A. Pach: Parkour und Freerunning, S. 27f.
6
Vgl. Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne: »Szenedarstellungen«, in: dies. (Hg.), Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 2010, S. 33-182, hier S. 109.
V ERKÖRPERUNGSPROZESSE UND DIE T RANSFORMATION DES U RBANEN
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moderne typischen »Verkopfung der Subjekte« zeigt.7 Demnach entziehen sich die Traceur_innen bewusst organisiertem Sport, da sie ihn aufgrund des Wettkampfprinzips als disziplinierend und normierend wahrnehmen.8 Auffällig ist außerdem, dass Parkour gegenüber anderen Sportarten zwar keine Geschlechtertrennungen oder -unterschiede vorgibt, aber dennoch hauptsächlich männliche Personen teilnehmen. Hier wäre zu klären, ob und inwiefern Geschlechtlichkeit auch für das Verhältnis des Körpers zum städtischen Raum bei den Parkourbewegungen von Bedeutung ist. Gemäß einer sozialkonstruktivistischen Sicht auf Sport katalysiert dieser als Sozialsystem die binäre Geschlechterordnung aufgrund seiner starken Körperzentriertheit sogar: einerseits über die Aufforderung zur eindeutigen Identifikation als männlich oder weiblich wie etwa bei Wettkämpfen und andererseits dadurch, dass Sport als System besondere Gelegenheiten bietet, Geschlechterunterscheidungen zu inszenieren und somit zu reproduzieren.9 Da Parkour jedoch nicht kompetitiv organisiert ist und auch nicht per se nach Geschlechtern getrennt ausgeübt wird, muss die Frage nach der männlichen Dominanz innerhalb dieses Sports eventuell anders beantwortet werden.
7
Bette, Karl-Heinrich: »Asphaltkultur. Zur Versportlichung und Festivalisierung urbaner Räume«, in: Hans-Jürgen Hohm (Hg.), Straße und Straßenkultur. Interdisziplinäre Beobachtungen eines öffentlichen Sozialraumes in der fortgeschrittenen Moderne, Konstanz 1997, S. 305-330, hier S. 313; vgl. auch Gugutzer, Robert/Dlugosch, Andrea: »Mobile Körper im urbanen Raum. Le Parkour, oder wie der Homo mobilis die Großstadt erobert«, in: Forschung Frankfurt 2 (2013), S. 30-34; vgl. auch Kidder, Jeffrey L.: »Parkour, The Affective Appropriation of Urban Space, and the Real/Virtual Dialectic«, in: City and Community 11/3 (2012), S. 229-253. Volker Caysa zufolge befriedigt Parkour als Erlebnissport darüber hinaus menschliche Grundbedürfnisse nach körperlichen Rauscherlebnissen, da der Sport für ihn ein »rauschhaft-lustvolles Aufgehen im Bewegungsvollzug« darstellt. Vgl. Caysa, Volker: »Rauschinszenierungen. Zum Verhältnis von Rausch und Ekstase im Erlebnissport«, in: Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper, Konstanz 2003, S. 55-77, hier S. 56f.
8
Vgl. Alkemeyer, Thomas/Schmidt, Robert: »Habitus und Selbst. Zur Irritation der körperlichen Hexis in der populären Kultur«, in: Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 77-102, hier S. 79.
9
Hartmann-Tews, Ilse: »Soziale Konstruktion von Geschlecht: Neue Perspektiven der Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft«, in: dies. et al. (Hg.), Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Opladen 2003, S. 13-29, hier S. 24f.
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Daher wird im Folgenden die wechselseitige Konstitution von Raum und vergeschlechtlichten Körpern bei den Parkourpraktiken genauer in den Blick genommen. Die Untersuchung wird anhand sich ergänzender Teilanalysen durchgeführt. Zunächst wird aus der phänomenologischen Perspektive Maurice Merleau-Pontys der Frage nachgegangen, inwiefern sich für Traceur_innen über ihre Parkourbewegungen eine neue Bedeutung des städtischen Raumes etabliert.10 Mithilfe von Gesa Lindemanns Konzept der leiblich-affektiven Konstruktion von Geschlecht wird darüber hinaus die Rolle der körperlichen Erfahrung von Geschlechtlichkeit für die Raumwahrnehmung bei Parkour geklärt.11 Dieser Annahme entsprechend beruhen die Praktiken der Parkoursportler_innen auf einem kulturspezifisch sozialisierten Wissen des Körpers im Verhältnis zum Raum. Folglich stellt sich die Frage, inwiefern sich über die Parkourpraktiken überhaupt ein neues Verhältnis zur Umgebung und zum eigenen Körper einstellen kann. Anhand der Theorie der Alltagspraktiken von Michel de Certeau werden deshalb die Chancen der Parkourpraktiken ausgelotet, die Bedeutung des städtischen Raumes zu verändern.12 Abschließend werden der Mehrwehrt der Verschränkung dieser Ansätze und Möglichkeiten der empirischen Analyse aufgezeigt.13
10 Merleau-Ponty, Maurice: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, 6. Auflage, Berlin 1966. 11 Lindemann, Gesa: »Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib«, in: Anette Barkhaus et al. (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt a.M. 1996, S. 146-176. 12 De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988. 13 Zur Veranschaulichung der folgenden Analyse des Parkoursports wird Interviewmaterial hinzugezogen, das ich selbst in der noch laufenden Feldphase meines Dissertationsprojekts seit April 2014 erhoben habe. Da die Datenerhebung zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht abgeschlossen und keine letztgültige Auswertung des Materials erfolgt ist, dienen die Darstellungen als Hinweise, die die theoretische Auseinandersetzung nachvollziehbarer gestalten sollen. Die empirische Forschung meines Dissertationsprojekts basiert auf einer Videographie des Parkoursports in Kombination mit leitfadengestützten Interviews. Die Namen der Interviewten wurden geändert.
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D IE S TADT ALS S PIELPLATZ : Z UR LEIBBASIERTEN U MDEUTUNG DES U RBANEN BEI P ARKOUR Franz Bockrath geht davon aus, dass Städte durch die Parkourbewegungen physiologisch neu bestimmt und umgedeutet werden und die Traceur_innen die Stadt dadurch mit anderen Augen sehen.14 Diverse Interviews mit Parkoursportler_innen scheinen diese Annahme zu bestätigen: »Also man geht nach draußen und man sieht nicht nur die Treppen, man sieht nicht nur ne Mauer, man sieht, keine Ahnung. Man geht nach draußen, hört Musik und achtet nich mehr so auf die Umgebung an sich, sondern man achtet, was man machen könnte. […] Das is seitdem man Parkour macht... is es irgendwie ganz ganz komisch. Da geht man raus und denkt man sich nich nur ›Ja, ich geh halt grad diesen Weg lang und was machen die Menschen wohl‹, sondern man sieht die Treppe und denkt sich ›oah, von der Treppe könnte man gut darüber springen.‹«15
Doch wie kann man sich diese, im Zitat bereits angedeutete, physiologische Umdeutung des Verhältnisses von Raum und Körper vorstellen? Um diesen Verkörperungsprozess bei Parkour zu erhellen, bietet sich insbesondere die phänomenologische Perspektive Merleau-Pontys an, da sie über den Begriff des Leibes hilft, die Aneignung und Umdeutung der räumlichen Umgebung nachzuvollziehen. Der Leib umfasst demzufolge den nicht-gegenständlichen, sinnlichsinnhaften Bezug des Menschen zu seiner Umwelt, der sich zunächst vorbewusst vollzieht.16 Das bedeutet, dass Personen ein spürbares Verhältnis zu ihrer Welt besitzen und sämtliche Leiberfahrungen ihrem Bewusstsein und damit auch ihrem Denken und Handeln gewissermaßen vorausgehen.17 Der vorbewusste Leib gilt Merleau-Ponty daher als das entscheidende Mittel des Menschen, sich seine
14 Bockrath, Franz: »Zur Heterogenität urbaner Sporträume«, in: Jürgen FunkeWieneke/Gabriele Klein (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 145-169, hier S. 162f. 15 Interviewausschnitt Carolin, Traceurin und Parkourlehrerin aus Göttingen, im Juli 2014, 00:17:09. 16 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 170. 17 Vgl. Günzel, Stephan/Windgätter, Christof: »Leib/Raum: Das Unbewusste bei Maurice Merleau-Ponty«, in: Michael B. Buchholz/Günter Gödde (Hg.), Das Unbewusste in aktuellen Diskursen II, Gießen 2005, S. 585-616, hier S. 585.
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Welt überhaupt erst erschließen zu können.18 Übertragen auf den Parkoursport lässt das Konzept des Leibes den Raumaneignungsprozess verständlich werden: In den Parkourbewegungen drückt sich das je spezifische Verhältnis der Traceur_innen zur räumlichen Umgebung aus und wird durch ihren jeweiligen Leib beziehungsweise Körper vermittelt.19 Auch der Sinn und die Bedeutung des Raumes werden über die körperliche Wahrnehmung der Sportler_innen bei ihren Bewegungen erschlossen und entsprechend vorreflexiv als ein sogenanntes Leibwissen angeeignet.20 Dies setzt allerdings einen längeren Übungsprozess voraus, durch den die Bewegungsabläufe zum Leibwissen verinnerlicht und dann vorbewusst vollzogen werden können. Diese Kompetenz ermöglicht es den Sportler_innen, spontan auf die Hindernisse, die sie sich bei Parkour vornehmen, zu reagieren. Für die Parkourpraxis bedeutet das konkret, dass die Traceur_innen ihre Bewegungen bereits sehr oft ausgeführt haben müssen, um intuitiv und ohne größere Vorüberlegungen Hürden wie Mauern, Bänke oder Geländer mit Leichtigkeit überwinden zu können. In einem Interview mit einem Parkourtrainer wird dies deutlich: »Also mit intuitiv meine ich, also ich hab ähnliche Bewegungen schon so oft gemacht, ähm, dass ich mir einfach nur vorstellen muss, wo will ich hin und dann passiert das von selber son bißchen die Bewegung. […] Die Bewegung an sich ist dann komplett äh automatisch eigentlich. […] Und irgendwann ähm äh, seh ich nich mal mehr wieso… Also dann krieg ich irgend nen Reiz, ich seh irgend nen Geländer […] und dann kommt das einfach so rein und ich reagier da drauf.«21
Wie hier verständlich wird, erlernen die Traceur_innen durch das Training ein gewisses parkourspezifisches, leiblich verankertes Bewegungsrepertoire, welches sie dann auf neue, zuvor fremde Architekturen und materielle Gegenstände
18 Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 176. 19 Die Unterscheidung zwischen den Begriffen »Leib« und »Körper« lässt sich durch Merleau-Pontys Differenzierung zwischen dem »objektiven« und dem »phänomenalen« Leib erklären: Der objektive Leib bezieht sich auf den Körper als Gegenstand, während der phänomenale Leib den von Innen belebten, sinnlich wahrnehmbaren meint. Vgl. S. Günzel/C. Windgätter: Leib/Raum. Das Unbewusste bei Maurice Merleau-Ponty, S. 588. 20 Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 174. 21 Interviewausschnitt Johannes, Traceur und Parkourtrainer aus Hamburg, im Juni 2014, , 00:14:02 - 00:16:59.
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übertragen können. Dennoch müssen die einzelnen Sprünge und Abläufe an die jeweilige Umgebung angepasst werden. Das heißt auch, dass die Sportler_innen nicht lediglich körperliche Routinen reproduzieren, sondern ihr Können in Auseinandersetzung mit den räumlichen Gegebenheiten permanent weiterentwikkeln.22 Jeweils situationsangemessen improvisieren sie ihre Sprünge und Bewegungen auf kreative Weise. Entscheidend ist, dass die Traceur_innen das Verhältnis zu ihrer Umgebung verändern. Dies geschieht, indem das Bewegungslernen im Training zur Gewohnheit wird und die Beziehung zur Materialität des Raumes eine neue Wahrnehmungsqualität erhält, da das sogenannte Körperschema23 der Sportler_innen modifiziert wird. Auf diese Art stellt sich für sie ein anderer Bezug zur Urbanität ein. Die städtische, teils graue Wolkenkratzer- oder Betonbautentristesse wird bei und durch Parkour völlig neu angeeignet und verwandelt sich in einen Raum unbegrenzter Möglichkeiten für kunstvolle Spiele mit Mauern und Fassaden: »Also die Stadt ist so viel interessanter geworden! […] Ähm, früher waren es ja einfach nur irgendwelche Gebäude und dann dacht ich so ›och nee ey, und hier durchlaufen und das is alles so trist und grau und klotzig‹. Und also früher fand ich die Stadt furchtbar hässlich und langweilig und hab gedacht so ›was mach ich hier eigentlich?‹ Aber ähm durch Parkour hab ich das zum Spielplatz gemacht für mich.«24
22 Die hier eingenommene Perspektive teilt den Zweifel, den die zahlreicher werdenden praxistheoretischen Ansätze an der Statik der stillen Pädagogik mit ihrer impliziten Strukturvermittlung und an der Zwangsläufigkeit der habituellen Prägung in der Konzeption Pierre Bourdieus vorbringen. Vgl. hierzu die Diskussion von Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken, Berlin 2012, S. 207-222. Vgl. auch Alkemeyer, Thomas: »Lernen und seine Körper. Habitusformungen und -umformungen in Bildungspraktiken«, in: Markus Rieger-Ladich/Barbara Friebertshäuser/Lothar Wigger (Hg.), Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Wiesbaden 2006, S. 119-143. 23 Das Körperschema ist Merleau-Pontys Begriff für das Verhältnis des menschlichen Leibes zu seiner Umwelt, das als das »Zur-Welt-sein meines Leibes« bezeichnet wird und die Beziehung von »Außenraum und Körperraum« umfasst. Das Körperschema ist ein offenes, veränderbares System, das ein Korrelat der Welt darstellt. M. MerleauPonty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 126, 173. 24 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:39:27.
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Dieser Prozess der Umdeutung des Raumes vollzieht sich für Merleau-Ponty vor dem Hintergrund früherer leiblicher Erfahrungen. Der Raum, in dem die Bewegungen stattfinden, darf aber nicht als objektiver Raum verstanden werden, der dem Leib gegenübertritt. Stattdessen bringen sich Raum und Körper wechselseitig hervor, indem bereits existierende Raumerfahrungen leiblich verinnerlicht werden25 und Räume bereits konstituiert sind und einen »gemeinsamen Sinn« teilen,26 auf den die leibliche Wahrnehmung der jeweiligen Person bezogen ist. Mit dem gemeinsamen Sinn des Raumes sind konventionalisierte und etablierte Vorstellungen und Möglichkeiten der Fortbewegung im öffentlichen Raum gemeint, wie zum Beispiel Treppen zu überwinden, auf Bänken zu sitzen statt auf ihnen zu schlafen, sowie von bestimmten Geschlechtern einzunehmende Positionen und so weiter, die wiederum die Praktiken im Raum selbst prägen. Bei Parkour wird den Traceur_innen der gemeinsame Sinn des Raumes auch insofern bewusst, als dass es gewisse Orte gibt, an denen es ihnen untersagt ist, ihren Sport auszuüben. Hier widerstreben ihre Nutzungsgewohnheiten des städtischen Raums offenbar den Ordnungsvorstellungen der Hüter_innen öffentlicher Materialitäten, die von den Stadtverwaltungen zunehmend als Sicherheitspersonal an öffentlichen Plätzen eingesetzt werden. Gleichwohl formen die Sportler_innen mit den Parkourbewegungen den Stadtraum mit. Zusammenfassend stellt Parkour der phänomenologischen Betrachtungsweise zufolge eine neue Bewegungsart dar, die die Bedeutung der Räume, in denen der Sport ausgeübt wird, über neue Leiberfahrungen subjektiv verändert. Die innovativen Leiberfahrungen der Sportler_innen sind dabei konstitutiver Bestandteil der neuen Beziehung zur städtischen Umgebung. Darüber hinaus können ihre Praktiken in den gemeinsamen Sinn des Raumes miteinfließen. Die Phänomenologie Merleau-Pontys allein gibt allerdings keinen Aufschluss darüber, welche Bedeutung vergeschlechtlichte Kategorien für die Verkörperungsprozesse bei Parkour haben und inwiefern sie die Wahrnehmung des Raumes und die Bewegungsgewohnheiten bedingen. Folgt der gemeinsame Sinn des Raumes einer geschlechterbinären Ordnung und wird Parkour deshalb hauptsächlich von männlichen Traceuren ausgeübt? Für die Beantwortung dieser Fragen wird der Ansatz Merleau-Pontys im folgenden Abschnitt um die geschlechter-konstruktivistische Analyse nach Gesa Lindemann erweitert.
25 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 171ff. 26 Ebd., S. 293ff.
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»D IE J UNGS SIND JA EH VIEL BESSER « 27: Z UR LEIBLICH - AFFEKTIVEN K ONSTRUKTION VON G ESCHLECHTLICHKEIT IM P ARKOURSPORT Gesa Lindemanns Konzept der leiblich-affektiven Konstruktion von Geschlechtlichkeit hilft zu verstehen, inwiefern Leiberfahrungen bei Parkour ein neues Verhältnis zur räumlichen Umgebung begründen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die jeweiligen Parkourbewegungen der Sportler_innen, die die Konstitution von Räumen mitbegründen, vergeschlechtlicht sind. Mit Bezügen zur Geschlechtertheorie Judith Butlers, zu der Leibphänomenologie Hermann Schmitz' sowie zur philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners zeigt Lindemann, dass und inwiefern Leiblichkeit und Affektivität daran beteiligt sind, soziale Wirklichkeit sowie die binäre Geschlechterordnung zu konstruieren und zu stabilisieren.28 Sie begründet dies vor allem durch die Verschränkung der Wahrnehmung des Körpers als passiv gespürte Leiberfahrung mit einem kulturspezifischen, vergeschlechtlichten Körperwissen.29 Auf welche Art und Weise die Traceur_innen ihren Körper bei Parkour als vergeschlechtlicht erfahren, geht demnach auf ihre Kenntnisse über den Körper zurück. Diese entspringen einerseits der Sozialisation im Allgemeinen sowie andererseits der Beschäftigung mit der Rolle des parkourspezifischen Körpers im Besonderen. Dazu zählen zum Beispiel Vorstellungen über ein angemessenes Äußeres des Parkourkörpers, entsprechende Kleidungsstücke wie etwa bequeme Hosen und Muskelshirts, aber auch Eigenschaften und Fähigkeiten, die männlichen oder weiblichen Körpern und ihren Bewegungen zugeschrieben werden, wie aus einem Interview mit einem Traceur hervorgeht: »Also, was ich halt beobachte is halt, dass die Mädels sich anders bewegen, aber das glaub ich liegt nicht unbedingt daran, dass sie anders sich bewegen wollen. […] Die schon relativ fit sind, die Mädels, kommen oft auch aus em Turnen. […] Da sieht man das oft in den Bewegungen, dass die sehr viel so turnerische Elemente haben oder sehr viel Sachen mit
27 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:47:12. 28 Lindemann, Gesa: »Die leiblich-affektive Konstruktion des Geschlechts. Für eine Mikrosoziologie des Geschlechts unter der Haut«, in: Zeitschrift für Soziologie 21/5 (1992), S. 330-346, hier S. 330. 29 Ebd., S. 334.
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mit großer Flexibilität, die jetz vielleicht äh von andern Leuten nich so viel gemacht werden.«30
Dieses Wissen wird von den Traceur_innen erspürt und verinnerlicht, und bedingt sodann auch ihre mehr oder weniger mutige Performanz. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob eine geschlechtsspezifische Sozialisation für Parkour eine Rolle spielt und die Praktiken der Sportler_innen lenkt. Aus meinen bisherigen Interviews mit zwei Parkourtrainer_innen geht zumindest hervor, dass es für Traceurinnen durchaus von Bedeutung zu sein scheint, sich als weiblich zu erleben: »Das is einfach so, die Mädchen sind da viel langsamer […]. Das motiviert sie dann dementsprechend nicht so großartig und ähm leider fallen dann auch viele Mädchen ab. Also sie machen dann auch nicht mehr gern Parkour, weil sie merken so ›die Jungs sind ja eh viel besser und ich fühl mich da ausgelacht, wenn ich da irgendeinen Sprung bei denen mach‹. […] Ich vermute mal, dass vieles aus der Erziehung kommt. Ähm, so wie ich es aus meiner Kindheit kenne, dass man halt aufgehalten wird als Mädchen.«31
Diese Aussage enthält bereits erste Hinweise, weshalb Parkour hauptsächlich männliche Teilnehmer anspricht. Eine genauere Erläuterung der vergeschlechtlichten Beziehung des Menschen zu seiner sozialen Umwelt liefert Lindemann mit Bezug auf Plessners Verschränkungsthese, die auf dem komplexen Verhältnis von Leib (Spüren) und Körper (Wissen) beruht: Plessner zufolge gründet sich das körperliche Dasein des Menschen auf ein doppeldeutiges Verhältnis zu sich selbst. Zum einen ist der Körper Träger des Bewusstseins und Mittel des Tuns, das reflektiert werden kann, und wird zum anderen auch präreflexiv erlebt und gespürt.32 Die Verschränktheit von Leib und Körper kann durch die Begriffe des Körperseins und Körperhabens verdeutlicht werden: Körpersein bedeutet, dass der Mensch sein Leib ist, insofern er ihn benutzen und spüren kann und seinen Körper hat, weil er seine Beziehung zu sich und seiner Umwelt nicht nur erlebt,
30 Interviewausschnitt Johannes, Parkourtrainer und Traceur aus Hamburg, im Juni 2014, 00:27:02. 31 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:47:12 und 00:42:05 32 Vgl. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, 3. Auflage, Bern 1961, S. 45ff.
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sondern auch reflektiert.33 Das heißt beispielsweise, dass Mädchen die Parkourbewegungen durch ihr Körpersein spüren, sich selbst und ihr vergeschlechtlichtes Körperhaben aber auch durch das Angeblickt-Werden der Jungen mit deren Augen betrachten und sich qua Körpersein ausgelacht fühlen können, wie der folgende Interviewausschnitt zeigen soll:34 »Ich hab auf dem Video auch grad gesehen so, wie beleidigt ich war, wenn sie [die Jungs] mich angeguckt haben, weil ich genau gespürt habe, wie sie mich beobachten, ne? Und dann so äh dieser Blick von ›sie schmunzeln‹ und dann denk ich so ›toll, vielen Dank! Für mich war das jetz voll die Überwindung, ne? Und die schmunzeln‹. Und dann denk ich mir so ›Ja, ich fühl mich ausgelacht‹.«35
Lindemann beschreibt die Verschränktheit von Leib und Körper als Verhältnis wechselseitigen Bedeutens und erläutert sie durch die Unterscheidung von drei Ebenen, auf denen Körper und Leib als wissenschaftlich-analytische Kategorien verwendet werden können.36 Als Erstes wird die Ebene des Dingkörpers benannt, wobei es sich um die Ebene des Körpers als messbaren Gegenstand handelt, der einer naturwissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist. Bei Parkour kann zum Beispiel die Weite der Sprünge, der Grad der Muskelanspannung und
33 Analog zu Merleau-Pontys Begrifflichkeiten kann das Körpersein mit dem phänomenalen Leib und das Körperhaben mit dem objektiven Leib gleichgesetzt werden. Vgl. Fußnote 19 dieses Textes. 34 Der in den Sozialwissenschaften vielfach diskutierten Problematik einer empirischen Erhebung von Leiberfahrungen im Sinne Merleau-Pontys und Lindemanns nähere ich mich in meinem Dissertationsprojekt, indem ich die Bedeutung der Leiblichkeit und Affektivität bei Parkour durch das Konzept der visuellen Ethnographie erfasse. Das heißt, ich videographiere Parkourbewegungen der Traceur_innen und benutze die Videos anschließend als Interviewstimulus, um Hinweise auf die Raum- und Körpererfahrungen der Sportler_innen bei ihren eigenen Bewegungen zu erhalten. Dabei stütze ich mich auf die Ansätze von Sarah Pink und Stephanie Merchant. Vgl. Pink, Sarah: Doing Visual Ethnography. Images, Media and Representation in Research, London/Thousand Oaks/New Delhi 2001. Vgl. auch Merchant, Stephanie: »The Body and the Senses: Methods, Videography and the Submarine Sensorium«, in: Body and Society 17/1 (2011) S. 53-72. 35 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:47:55. 36 Vgl. G. Lindemann: »Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib«, S. 166ff.
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die Steigerung der körperlichen Fitness gemessen werden. Dies ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive aber weniger von Belang. Die zweite Ebene – die Ebene der Wissenskonzepte über den Körper – meint die diskursive Konstruktion des Körpers und ist vor allem aus einer wissenssoziologischen Perspektive interessant. Hier können die sozialen Praktiken untersucht werden, die Wissen über das Körpersein hervorbringen, das dann die Grundlage für den reflexiven Zugang zum eigenen Körper darstellt. Dieses Wissen um die Bedeutung des Körpers wird verinnerlicht und prägt sowohl seine Materialität als auch sein Erleben. Die vielen Videos beispielsweise, die über den Sport Parkour kursieren, vermitteln zahlreiche Körperbilder und Eindrücke von den Parkourpraktiken. Sie werden Teil des Wissens, das sich in den Körpern der Traceur_innen durch Nachahmung der Bewegungen materialisiert, gespürt und folglich verkörpert wird. Auf der Ebene der Wissenskonzepte ist es aufschlussreich nach ihrem Ursprung und ihrem Einfluss auf die Entwicklung des Sports zu fragen. Als dritte Ebene benennt Lindemann die Leib-Umwelt-Beziehung. Der Leib gilt hierbei als Bedeutungsträger, da die Art und Weise seines Erlebens auf Bedeutungen des Körpers verweist. Das Spüren des Leibes wiederum ist strukturiert durch ein kulturell vermitteltes Wissen über den Körper, welches auch konstitutiv für die geschlechtsspezifische Wahrnehmung des eigenen Körpers ist.37 In diesem Verhältnis fungiert der Körper als Bedeutungsträger, insofern seine äußere Gestalt die gesellschaftlich hervorgebrachten (Geschlechts-)Normen zu erkennen gibt.38 Wie der Körper leiblich-affektiv gespürt wird, ist also auch abhängig von der jeweiligen Gesellschaft, die das je spezifische Wissen über den Körper konstruiert.39 Dieses Wissen ist daher die Grundlage dafür, sich als ein bestimmtes Geschlecht zu fühlen und sich in Übereinstimmung dazu zu bewegen. Lindemann zufolge gibt es keine Leiberfahrungen, die nicht auch sozial strukturiert sind, sodass die Art und Weise, wie der eigene Körper wahrgenommen wird, ein kulturelles Phänomen ist.40 Dies steht im Widerspruch zu der ver-
37 »Wenn ein Individuum seine Zuständlichkeit erlebt, indem es den Leib, der es ist, als den Körper erfährt, den es hat, ist die passive Erfahrung des Leibes durch das alltagsweltlich relevante Wissen über den Körper strukturiert.« Vgl. G. Lindemann: »Die leiblich-affektive Konstruktion des Geschlechts«, S. 335. 38 Vgl. G. Lindemann: »Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib«, S. 167. 39 Vgl. G. Lindemann: »Die leiblich-affektive Konstruktion des Geschlechts«, S. 334. 40 G. Lindemann: »Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib«, S. 151.
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breiteten Annahme, dass Parkour deshalb weniger von Frauen ausgeübt wird, weil diese von Natur aus weniger Kraft haben, was sich teilweise auch in einigen Interviews mit Traceur_innen wiederfand: »Also bei Jungs steckt das irgendwie drin. Die ham ja auch viel ähm schnelleren Muskelwachstum als Frauen, is… is einfach so, ne? Die, die bauen viel schneller auf. Also ich weiß nicht, ob das doppelt oder dreimal so schnell wie bei Mädels is, aber ähm die ham da nich so die Probleme. Also wenn die regelmäßig äh an sich trainieren sind sie superschnell topfit, innerhalb von nen paar Wochen, wo Mädchen Monate brauchen.«41
Statt angeborenen Fähigkeiten, welche Geschlechterunterschiede markieren und generieren, liegt den Parkourbewegungen ebenfalls ein geschlechtsspezifisches leiblich-affektives Körperwissen zugrunde, das die Bewegungen lenkt und die Wahrnehmung der Räume bedingt. Die für diesen Beitrag relevante Frage verschränkt die zweite Ebene – die der Wissenskonzepte über den Parkourkörper – mit der dritten, wie der Leib im Verhältnis zur Umwelt gespürt wird: Gefragt wird danach, welche Bedeutung die Wissenskonzepte über den Körper für die Parkoursportler_innen haben, inwiefern sie in den Parkourbewegungen verkörpert werden und in welchem Verhältnis sie zur Ordnung des städtischen Raumes stehen. Die Analyse nach Lindemann legt die Vermutung nahe, dass das subversive Potential der Parkourbewegungen in Bezug auf Geschlecht eher schwach einzuschätzen ist. Das liegt zum Einen daran, dass sich das in der Parkourszene verbreitete Wissen über den Geschlechtskörper eher kongruent zu gesellschaftlich anerkannten und vor allem geschlechtlich konnotierten Körperbildern zu verhalten scheint. Kraft, Stärke und Entschlossenheit als Eigenschaften, die durch Parkour gefördert werden, gelten primär als männlich,42 sodass Parkour, wie viele andere Sportarten, als ein »male territory«43 wahrgenommen wird. Das erschwert wiederum für andere Geschlechter den Zugang zu dem Sport. Zum Anderen legen die Analyse und die Interviews nahe, dass auch die Parkourbewegungen vor dem Hintergrund der geschlechtsspezifischen leiblich-affektiven Selbstwahrnehmung vollzogen werden. Ein Gelingen oder Nichtgelingen der Praktiken wird dann möglicherweise mit der eigens gefühlten Geschlechtlichkeit in Verbindung gebracht. Der Einfluss der geschlechterbinären Ordnung hängt
41 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:46:04. 42 Vgl. Wellard, Ian: Sport, Masculinity and the Body, New York 2009, S. 47. 43 Ebd., S. 19.
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scheinbar auch davon ab, wie früh die Traceur_innen mit dem Parkoursport beginnen und wie stark die geschlechtsspezifische Sozialisation im Körperwissen verankert ist. Dies zeigte sich in einem Interview mit einer Parkourtrainerin, die vor allem die gesellschaftliche Prägung durch Jungen- und Mädcheneigenschaften für die Bedeutung der Geschlechtlichkeit im Parkour verantwortlich macht: »Also wenn man das [Parkourtraining] früh genug anfängt, denke ich, dass es da keinerlei Unterschiede gibt zwischen Jungs und Mädels. […] Aber wenn man da erst später reinkommt und erst so ab fünfzehn, sechzehn... Ich glaube ab dem Alter is es dann doch so, dass das Mädchendenken mehr [...] gefestigt is [und] dieses Rebellische von den Jungs dann doch überhand nimmt. […] Also ich glaube, dass es an sich keine Rolle spielt, aber dass es leider durch die Gesellschaft angefangen hat, ne Rolle zu spielen. Durch das gesellschaftliche Denken, durch dass das Mädels halt leider, ja so die eher die zierlichen Braven sein sollen und die Jungs dann doch eher die Rebellischen.«44
Zudem werden über populäre Parkourfilme und -videos, in denen männliche Sportler nicht selten auch als Helden stilisiert werden, bestimmte – wiederum männlich konnotierte – Körperbilder und -ideale produziert und reproduziert. Diese in den medialen Bildern hervorgebrachte Ästhetik des athletischen Parkourkörpers nimmt auf entscheidende Weise Einfluss auf die rezipierenden und nachahmenden Praktiken und das vergeschlechtlichte Körperwissen. Nichtsdestotrotz muss berücksichtigt werden, dass das gesellschaftlich konstruierte Körperwissen nicht einfach schematisch in soziale Praktiken übersetzt und verkörpert wird, sondern auch auf andere Weise in den Praktiken aktualisiert werden kann. 45 Daher ist es notwendig, auch die Parkourpraktiken selbst zu beleuchten und sie im Verhältnis zum konstruierten Wissen über den Körper und zu den Erfahrungen des Körpers zu denken, was im folgenden Abschnitt geleistet wird. Eine weitere Frage im Hinblick auf die Parkourpraktiken ist die nach ihrem Verhältnis zum städtischen Raum. Wie durch Merleau-Pontys und Lindemanns Konzepte gezeigt wurde, beruhen die Wahrnehmung des Raumes sowie das Körperschema auf einem vergeschlechtlichten Spüren des eigenen Körpers, das sich in den Parkourpraktiken ausdrückt. Diese sind zudem auf einen gemeinsa-
44 Interviewausschnitt Carolin, Traceurin und Parkourtrainerin aus Göttingen, im Juli 2014, 00:26:07. 45 Vgl. Hirschauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91, hier S. 75.
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men Sinn des Raumes bezogen, der geschlechtsspezifisch einzunehmende Positionen vorsehen kann. Hier bleibt die Frage bislang noch offen, inwiefern sich die Aneignung des öffentlichen Raumes bei Parkour diesem gemeinsamen Sinn eines vergeschlechtlichten Raumes widersetzt. Um diese analytische Lücke zu schließen, wird nun eine praxistheoretische Perspektive eingenommen, die die Fortbewegung im urbanen Raum explizit zur städtischen Ordnung ins Verhältnis setzt.
P ARKOUR – ODER DIE SUBVERSIVE K UNST DER F ORTBEWEGUNG ? Zur Analyse des Sozialen richten Praxistheorien ihren Blick weniger auf die leiblichen Erfahrungen und das Erleben des Körpers der Akteur_innen, als auf die Herstellung sozialer Praktiken, die diese Erfahrungen zu erkennen geben können. Auch der Ansatz Michel de Certeaus kann als ein praxistheoretischer begriffen werden, der in den Cultural Studies verortet wird.46 De Certeau beschäftigt sich in der Kunst des Handelns mit der Logik von Alltagspraktiken in ihrem Wechselverhältnis mit der soziopolitischen Ordnung der Gegenwartskultur, die den – als Konsumenten bezeichneten – Handelnden von der herrschenden Ökonomie aufgezwungen wird.47 Dazu werden die Konsumpraktiken des Alltags als Umgangsweisen mit den Produkten der Ordnung und als deren Aneignung untersucht. Analog zu anderen Praxistheorien gilt es herauszufinden, inwiefern sub- und populärkulturelle Alltagspraxis in der Lage ist, gesellschaftlich etablierte Strukturen umzudeuten.48 De Certeau zufolge gehen die Praktiken nämlich nicht vollständig in den Vorstellungen der gesellschaftlichen Ordnung auf, sondern können sich ihr entziehen, selbst wenn sie dennoch auf sie bezogen bleiben. Hier wird die konzeptionelle Nähe zu MerleauPontys Auffassung vom gemeinsamen Sinn des Raumes deutlich, welcher der Wahrnehmung der Menschen von ihrer Umgebung zugrunde liegt.49 Doch de Certeau betont stärker die Abweichung von diesem Sinn und schreibt den Prak-
46 Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282-301, hier S. 283. 47 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 13. 48 A. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 283. 49 De Certeau selbst nimmt an einigen Stellen Bezug auf Merleau-Pontys Auffassung des Zur-Welt-Seins des Menschen. Vgl. M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 218f.
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tiken gegenüber der sozialen Ordnung ein subversives Potential zu. Anders als Michel Foucaults Machtanalyse, die de Certeau nach die repressiven Technologien überbetont und die Praktiken zu stark auf die Mechanismen der Disziplinierung reduziert, hat seine Analyse der Alltagspraktiken stattdessen »das Netz der Antidisziplin« zum Gegenstand.50 Während Lindemann die machtvollen vergeschlechtlichten Wissenskonzepte fokussiert, untersucht de Certeau gerade jene Praktiken, welche sich ihnen entziehen. Um diesen Zusammenhang zu konkretisieren, operiert er mit seiner Untersuchungsmethode auf zwei Ebenen. Auf der ersten geht es ihm darum, die Arten und Weisen der Praktiken zu beschreiben, um sie im Verhältnis zur herrschenden Ordnung zu deuten. Seine Beispiele sind unter Anderem Lektürepraktiken, der Umgang mit Alltagsritualen und – für diesen Gegenstand besonders interessant – Umgangsweisen mit dem städtischen Raum. Auf der zweiten Ebene zielt er darauf ab, eine Theorie der Alltagspraktiken anzufertigen, indem er mithilfe wissenschaftlicher, vor allem soziologischer, anthropologischer und historischer Literatur Hypothesen über die Praktiken aufstellt.51 Mit Bezug auf Parkour ist das Konzept insofern aufschlussreich, als dass sich de Certeau in seiner Untersuchung ebenfalls mit den Praktiken im Raum beschäftigt und dies am Beispiel des Gehens in der Stadt verdeutlicht: Das Gehen verhält sich demgemäß zum Raum wie das Sprechen zur Sprache als ein Raum der Äußerung.52 Die Fußgänger_innen eignen sich den urbanen Raum so an wie Sprecher_innen die Sprache, wobei sie gewissen Aneignungsregeln folgen, da die Städte nach rationalen und wissenschaftlichen Maßstäben gestaltet und funktional differenziert sind.53 In dieser Analogie ist auch die wechselseitige Konstitution von Raum und Praktiken verdeutlicht: Urbane Räume werden de Certeau zufolge einerseits durch die Alltagspraktiken der Menschen hervorgebracht. Aber Städte als urbane Räume sind andererseits auch durch Namen und Symbole – eine sogenannte »Bedeutungs-Geographie« – semantisch geordnet und lenken die Bewegungen der Körper.54 Der Begriff Bahnhof beispielsweise trägt gemeinhin die Bedeutung, ein Ort zu sein, an dem Menschen eine Reise antreten und nicht etwa betteln oder übernachten sollten, weshalb Zuwiderhandelnde häufig des Bahnhofs verwiesen werden. Das bedeutet, dass die Stadt über eine räumliche Ordnung verfügt, die bestimmte Möglichkeiten bietet, sich in ihr zu bewe-
50 Ebd., S. 16. 51 Ebd., S. 17f. 52 Vgl. ebd., S. 179-209, hier S. 189. 53 Ebd., S. 184. 54 Ebd., S. 200.
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gen, die von Stadtbewohner_innen sowohl realisiert als auch negiert werden können.55 Soziale Praktiken haben also gleichsam transformativen wie repetitiven Charakter, indem Eingelebtes und Vertrautes auf andere Art und Weise weitergeführt werden.56 Schließlich haben Parkourpraktiken das Potenzial, Räume zu verändern, indem sie von den seitens der Stadtordnung nahegelegten Möglichkeiten sich fortzubewegen abweichen. So wie das Sprechen einen je besonderen Sprachstil aufzeigt, verfügt, de Certeaus Konzept nach, auch jedes Gehen über einen gewissen Stil, der in einem bestimmten Verhältnis zur »Bedeutungs-Geographie« steht. Durch eine Analyse der Aneignungsweisen des städtischen Raums kann die Beziehung zwischen den Gebrauchsformen der Stadt und ihrer jeweiligen Ordnung erfasst werden.57 Körperliche Fortbewegungsweisen wie das Wandern und das Reisen werden als Praktiken verstanden, die Räume neu erfinden können.58 Demnach kann Parkour als eine Bewegungskunst untersucht werden, die sich durch normabweichende, sogenannte ›signifikante Praktiken‹ in die Bedeutungsgeografie der Städte einschreibt. Was sich in den Parkourbewegungen zeigt, kann folglich als ein Aufbegehren gegen die funktionalistische und rationale Stadtordnung verstanden werden: Die Sportler_innen verlassen die vorgegebenen Wege und nutzen die Stadt nach ihrem Empfinden und deuten sie dadurch um. Diese »Signifikationspraktiken«59 stehen in einem permanenten wechselseitigen Prozess mit der städtischen Ordnung, sodass sowohl die Praktiken als auch der Raum sich fortwährend rekonstituieren. Gleichsam wie sich die Parkourbewegungen dem üblichen Verständnis von der Fortbewegung im öffentlichen Raum – dem gemeinsamen Sinn – widersetzen, gibt es für einige Orte auch Verbote, dass Parkour nicht ausgeübt werden sollte. Doch das muss die Traceur_innen nicht unbedingt einschränken: »[…] für mich is es immer so,
55 Vgl. ebd., S. 190. 56 Hörning, Karl H.: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001. Auch Karin Knorr Cetina betont vor allem das kreative und konstruktive Moment sozialer Praktiken, statt sie vorrangig als habitualisiert und regelgeleitet aufzufassen wie Pierre Bourdieu. Vgl. Knorr Cetina, Karin: »Objectual practice«, in: Theodore R. Schatzki/dies./Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2000, S.184-198. 57 Ebd., S. 193. 58 Ebd., S. 203. 59 Ebd.
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wenn mich jemand anspricht und sacht, äh ›hier bitte nicht trainieren‹, dann bin ich sehr höflich […] geh dann weg und komm das nächste Mal wieder (lacht).«60 Die Sportart an sich, Bilder, Geschichten und die zahlreichen Videos auf Youtube sowie auch einige Spielfilme über Parkour erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und zeigen ihren wachsenden Bekanntheitsgrad auf. Außerdem erzählen sie eine jeweils andere Geschichte des städtischen Raums und verbreiten beziehungsweise verstärken damit zusätzliche Narrative anderer Bewegungsmöglichkeiten in der Stadt. Hinzu kommt, dass die Filme und Videos für Parkour, mehr noch als bei anderen Sportarten, das zentrale Medium der Popularisierung des Sports sind. Über die Nachahmungseffekte, die das Material hervorruft, wird Parkour also nicht nur bekannt und beliebt gemacht, sondern zugleich auch interpretiert und weiterentwickelt. Betrachtet man Parkour-Videos und -Dokumentarfilme, wird deutlich, dass neben bestimmten Körperbildern immer auch eine Deutung der Räume, in denen Parkour ausgeübt wird, mittransportiert wird. Mit zunehmender Bekanntheit von Parkour und dessen Etablierung auch im Schulsport schreiben sich die Bewegungen möglicherweise in den gemeinsamen Sinn des Raumes ein und sind in der Lage, ihn zu verändern. Um zu begreifen, inwieweit sich die Parkourbewegungen über die hegemonialen Kräfte hinwegsetzen, ist der Fokus auf die transformativen oder reproduzierenden Praktiken der Traceur_innen aufschlussreich. Die praxistheoretische Perspektive ist insbesondere für die empirische Erforschung des Verhältnisses von Parkourbewegungen zum urbanen Raum anschlussfähig. Zudem ergänzt eine Analyse der Praktiken die subjektiven Raumund Körpererfahrungen der Sportler_innen auf gewinnbringende Weise. Speziell die teilnehmende Beobachtung und eine Videografie in Kombination mit Interviews – wie sie meiner eigenen Forschung zugrunde liegen – stellen sich mir als geeignete Forschungsinstrumente dar, die Parkourpraktiken zu erfassen. Eine Schwierigkeit im Umgang mit dem de Certeau’schen Denken besteht allerdings darin, dass sein Machtkonzept recht vage bleibt: Die Alltagspraktiken verhalten sich ihm zufolge subversiv zu einer Stadtordnung, die – mit Urs Stäheli gesprochen – als »homogener Machtblock« gedacht wird. Dadurch wird verkannt, mit welch diversen Hegemonien die Parkourpraktiken letztlich doch konfrontiert sind.61 Zum Beispiel kann mit dieser allgemeinen Vorstellung von der Stadtord-
60 Interviewausschnitt Johannes, Parkourtrainer und Traceur aus Hamburg, im Juni 2014, 00:21:22. 61 Vgl. Stäheli, Urs: »Subversive Praktiken? Cultural Studies und die ›Macht‹ der Globalisierung«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen
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nung nicht geklärt werden, ob die Parkourpraktiken geschlechtsspezifisch einzunehmende Positionen im öffentlichen Raum überwinden. Diese räumliche Macht kann mit der Theorie der Alltagspraktiken nicht gänzlich erfasst werden. Auch wenn sich die Praktiken de Certeau zufolge den Ordnungsvorstellungen des öffentlichen Raumes widersetzen können, wird mit Bezug auf Gesa Lindemanns und Merleau-Pontys Ansatz deutlich, dass die Traceur_innen bei der Aneignung des Stadtraums auch an ihre körperlichen beziehungsweise leiblichen Vorerfahrungen und das verinnerlichte Wissen des gemeinsamen Sinns des Raumes gebunden sind. Das heißt, auch wenn Parkour die Bewegungsgewohnheiten und die Wahrnehmung der Stadt sowie das vergeschlechtlichte Körpergefühl/-wissen verändert, kann an dieser Stelle nicht sicher gesagt werden, dass die Traceur_innen sich auch Räume erschließen, die ihnen aufgrund ihres vergeschlechtlichten Leib- und Körperwissens sonst verwehrt blieben. Dazu könnten Studien zur geschlechtsspezifischen Nutzung des öffentlichen Raums und dessen körperlichem Erleben zu Untersuchungen der Parkourpraktiken und deren Veränderung dieser Raumerfahrungen ins Verhältnis gesetzt werden. Um das subversive Potenzial der Parkourpraktiken mit Blick auf den öffentlichen Raum im Sinne de Certeaus aufzudecken, muss eben doch eine präzisere Machtanalyse erfolgen.
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DIE
U MDEUTUNG
Mit dem Beitrag wurde das Verhältnis von Raum und Körper bei Parkour untersucht, um festzustellen, inwiefern durch den Sport städtische Räume neu angeeignet und umgedeutet werden. Außerdem stellte sich die Frage, welche Bedeutung dabei die Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Geschlechtlichkeit einnimmt. Werden mit den Parkourbewegungen tatsächlich körperliche und räumliche Grenzen überwunden, wie einer der Traceure im Interview sagt?62 Gilt dies außerdem auch für die geschlechterbinären Grenzen? Um diesen Fragen nachzugehen, wurde im ersten Schritt eine phänomenologische Perspektive eingenommen und damit der Raumaneignungsprozess und die Rolle des Körpers bei Parkour nachvollzogen. Demnach werden mit dem
zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 154-169, hier S. 161. 62 Interviewausschnitt Lukas, Parkourtrainer und Traceur aus Göttingen, im Juli 2014, 00:08:32.
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Parkourtraining neue Körpererfahrungen sowie körperliche Routinen verinnerlicht und durch diesen parkourspezifischen Umgang mit der räumlichen Umgebung das Verhältnis von Raum und Körper rekonstituiert. Die Stadt wird als Raum überwindbarer Hindernisse und Möglichkeiten betrachtet und es kann sich ein veränderter gemeinsamer Sinn des Raumes etablieren. Daran anschließend wurde in einem zweiten Schritt geklärt, ob und inwiefern die binäre Geschlechterordnung für das Verhältnis von Raum und Körper im Parkoursport relevant ist. Mit dem Ansatz Gesa Lindemanns kann gezeigt werden, dass die Parkourbewegungen der Traceur_innen insofern als vergeschlechtlicht aufzufassen sind, als dass sie auf einem verkörperten kulturspezifischen Wissen der eigenen Geschlechtlichkeit beruhen, das außerdem die Sportler_innen in ihren Bewegungen lenkt. Interviews mit den Parkoursportler_innen legen nahe, dass es vor allem für die Traceurinnen – insbesondere wenn sie neu mit dem Parkourtraining beginnen – ein Nachteil zu sein scheint, als Frau Parkour auszuüben. Geschlechtlichkeit spielt für sie eine große Rolle: »Und es is denn auch so, dass es für dich selbst so ist, dass Du denkst oder dachtest, ich bin nen Mädchen, das kann ich ja nicht, […]. Also ich hab echt gedacht, als Mädchen bin ich total… joa schwach und ich kann ganz viele Sachen gar nicht machen. Und mit den Jahren, […] wo ich Parkour gemacht habe, habe ich gemerkt, das stimmt ja überhaupt nicht.«63
Das Parkour-relevante Körperwissen scheint stark geschlechtlich codiert zu sein und manifestiert sich in der Selbstwahrnehmung der Traceur_innen. Das ist dafür verantwortlich, dass die Geschlechterbinarität sich über geschlechtsspezifische Leiberfahrungen in ihren Praktiken reproduziert. Somit werden bestimmte Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit mit den Parkourbewegungen assoziiert und konstruiert. Dennoch liefern die bisherigen Interviews auch Hinweise darauf, dass die Bedeutung der eigenen Geschlechtlichkeit im Verlauf des Parkourtrainings für die Traceur_innen abnimmt, also in Ansätzen eine Unterwanderung der geschlechterdichotomen Matrix im Parkoursport stattfindet. Dass aber auch bereits einige Frauengruppen gegründet wurden, zeigt, dass es dennoch ein Bedürfnis gibt, Parkour geschlechtlich getrennt auszuüben:
63 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:43:17.
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»Deswegen hab ich die Mädchengruppe ins Leben gerufen, weil ich mir gedacht habe, wenn wir unter uns trainieren, dann is es uns weniger peinlich. Is auch so, also die Mädchen sagen auch so ›nee, bei den Jungs, da will ich nicht mitmachen, die lachen mich ja aus‹. Und wir Mädchen sind auf sehr ähnlichem Niveau, ne? Und wir können viel besser zusammen trainieren.«64
Erreicht wird eine Stabilisierung der binären Geschlechterordnung im Sport. Gleichwohl kann aber durchaus davon ausgegangen werden, dass die starke mediale Verbreitung und Rezeption von Parkour auch abweichende Körperbilder und -ästhetiken hervorbringen. Parkour verhält sich also eher ambivalent zur Dichotomie der Geschlechter. Eine vertiefende empirische Untersuchung, die sich mit den Körper- und Raumerfahrungen der Traceur_innen beschäftigt, wird zu klären haben, inwiefern die binäre Geschlechterordnung durch Parkour unterlaufen oder durcheinandergebracht wird.65 Als dritten ergänzenden Schritt galt es mit de Certeaus Theorie der Alltagspraktiken zu erhellen, welches Potenzial die Parkourpraktiken entfalten, die städtische Ordnung umzudeuten. Parkour konnte plausibel als eine Raumaneignungspraktik konzeptionalisiert werden, die der städtischen Ordnung neue Bedeutungen hinzufügt und sie dadurch verändert. Eine genauere Analyse zeigt zwar, dass das Verständnis der Macht des öffentlichen Raumes diffiziler als durch de Certeaus Ansatz gefasst werden muss, um die Subversivität der Parkourpraktiken im Verhältnis zur Stadtordnung und vergeschlechtlichten Raumpositionen in den Blick nehmen zu können. Dennoch erweist sich die praxistheoretische Perspektive als das ergänzende Konzept, um neben den subjektiven Raum- und Körpererfahrungen der Sportler_innen auch die Parkourpraktiken und deren transformatives Potenzial beleuchten zu können. Die vorliegenden Überlegungen sollten eine profunde Grundlage darstellen, an die in der weiteren empirischen Erforschung des Verhältnisses von Raum und Körper bei Parkour angeschlossen werden kann.
64 Interviewausschnitt Julia, Traceurin und Parkourtrainerin aus Hamburg, im Juni 2014, 00:47:12. 65 Besonders die Videographie als methodisches Instrument erscheint hier meines Erachtens fruchtbar, um der Frage nach der Körperlichkeit im Verhältnis zum Raum im Parkour nachzugehen. In meinem Promotionsprojekt verfolge ich deshalb das Ziel, Videoaufzeichnungen von Traceur_innen als Stimulus zu verwenden, um mit ihnen über die Rolle der Körpererfahrungen und die Raumwahrnehmung ins Gespräch zu kommen.
Die Entfernung von sich selbst Verkörperungen des Ich-Verlusts durch Raumerleben im Werk von Marlene Streeruwitz
C ARINA B ÜCKER
M ARLENE S TREERUWITZ E NTFERNUNG . (2006)
UND DER
R OMAN
»Was sollte sie tun. Sie stand auf der Schwelle der Wohnungstür. Zwischen den beiden Türflügeln. Was sollte sie tun.«1
Mit diesen Worten beginnt die österreichische Gegenwartsautorin Marlene Streeruwitz ihren Roman Entfernung. (2006), in dem bereits auf den ersten Seiten eine Schwellensituation der Protagonistin Selma dargestellt wird. So wird nicht nur eine räumliche Schwelle, sondern mit dem Verlassen der elterlichen Wohnung ebenso eine mentale Schwelle überschritten, die motivisch auf den Verlauf des Romans hinweist. Darin porträtiert die Autorin anhand detaillierter Introspektionen ihre Protagonistin mittleren Alters, welche sich nach dem Verlust ihrer Anstellung als Chefdramaturgin der Wiener Festspiele sowie der Trennung von ihrem Partner in einer prekären sozio-ökonomischen Situation befindet und ihre Situation reflektiert. Darstellungen des mentalen und körperlichen Empfindens der Protagonistin werden »im Bewusstsein der Figur«2 erfasst und in
1
Streeruwitz, Marlene: Entfernung., Frankfurt a.M. 2006, S. 7.
2
Würzbach, Natascha: »Raumdarstellung«, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, unter Mitarbeit von Nadyne Stritzke, Stuttgart/Weimar 2004, S. 49-71, hier S. 63.
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»einen körperlich engen Bezug zum Umraum [ge]stellt, der seinerseits durch intensive multisensorische und synästhetische Wahrnehmungen vertieft wird.«3 So inszeniert die Autorin in ihrem Roman den Körper als zentrale Instanz des Raumerlebens. Marlene Streeruwitz, die zu Beginn der 1990er Jahre zunächst als Theaterautorin bekannt wurde und seit 1996 Prosa publiziert,4 verfasst mit ihren Werken kritische Bestandsaufnahmen einer von Kapitalismus und Patriarchat geprägten Gegenwart. Thematisch handelt es sich dabei wie im Roman Entfernung. meist um die Darstellung krisenbehafteter Momente im Leben einzelner Frauen, welche durch Ortswechsel überwunden werden sollen, die Protagonistinnen jedoch auf sich selbst zurückwerfen und die Tiefendimension ihrer persönlichen Problematik durch eine Art Bewusstseinsstrom umso deutlicher zu Tage treten lassen. Zielsetzung dieses Beitrags ist es, anhand der Werkanalyse des Romans Entfernung. aufzuzeigen, wie Streeruwitz durch Konstruktionen von Raum, Körper und Geschlechtlichkeit Fragen nach weiblicher Existenz und Identität sowie deren Zerfall reflektiert. Zentral ist dabei, das wechselseitige Verhältnis von Raumerfahrung und Körperempfindungen in seiner Wirkung auf die Protagonistin herauszustellen. In diesem Kontext wird die Frage verhandelt, in welcher Relation körperliche und mental empfundene Wahrnehmungen zu gesellschaftlichen Räumen stehen und ob der Körper darüber hinaus selbst »Raum [ist und] als kulturelles Phänomen«5 betrachtet werden kann. Es soll deutlich werden, wie die sprachlich-ästhetisch ausgestaltete »Wahrnehmung, Beschreibung und Beurteilung von Räumen im Erzähltext«6 Verkörperungen von als vergeschlechtlicht empfundenen Räumen aufzeigt. So wird im Folgenden das Verständnis einer »Geschlechterproblematik im erzählten Raum«7 in Verbindung zu körperzentrierter Identitätskonstitution konkretisiert. Die Poetik Marlene Streeruwitz’ und ihre Funktion für die sprachlich-ästhetische Ausgestaltung des Romans nimmt dabei in Bezug auf eine genderzentrierte Perspektive eine besondere Position ein.
3
N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 63.
4
Vgl. Kramatschek, Claudia: »Marlene Streeruwitz«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Edition Text und Kritik, 03/2003, S. 1-14, hier S. 2.
5
N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 49.
6
Ebd.
7
Ebd., S. 57.
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»D IE BEDEUTUNGSBILDENDEN M ÖGLICHKEITEN 8 DER L EERE « – Z UR E INFÜHRUNG IN DIE P OETIK Das markanteste Kennzeichen der Streeruwitz’schen Poetik ist ihre auffallende Interpunktion, die sich in einer speziellen Form der Bewusstseinsstromtechnik darstellt, welche jedoch durch die häufige Verwendung des Punktes immer wieder unterbrochen wird. So evoziert eine fragmentierte Syntax den Eindruck von etwas Abgetrenntem, Zerbrochenem, wodurch die Darstellungen der an ihrem Schicksal zu zerbrechen scheinenden Protagonistinnen mit den gewählten Inhalten eng geführt werden. Streeruwitz selbst schreibt dazu in ihren Tübinger Poetikvorlesungen: »Ich habe durch die Notwendigkeit des Akts der Beschreibung eines Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen. Und das Unsagbare zumindest in ein Beschreibbares zu zwingen. Die bedeutungsbildenden Möglichkeiten der Leere auszuschöpfen.«9
Bewusst möchte sie mit ihrer Poetik »die Entfremdung der Figuren […], das Bruchstückhafte, Abgebrochene eines Lebens«10 darstellen. Wie Mario Scalla bemerkt, ist es eine Art »Kunstsprache, die auf ihrer Ebene das Sich-Erinnern, Reflektieren oder auch Sprechen nachbildet.«11 Streeruwitz nennt ihre Poetik eine »Poetik des Banalen. Eine Poetik des Schweigens«,12 mit der sie das Schweigen »des weiblichen Nicht-Blicks«13 endgültig brechen möchte, um ihm eine aktive Stimme in der Gesellschaft zu geben. Dies tut sie, indem sie dem sonst als
8
Streeruwitz, Marlene: Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M. 1997, S. 48.
9
M. Streeruwitz: Tübinger Poetikvorlesungen, S. 48.
10 Scalla, Mario: »Formvollendete Fragen. Über das Verhältnis von literarischer Form und gesellschaftlicher Aktualität in den Texten von Marlene Streeruwitz«, in: Jörg Bong/Roland Spahr/Oliver Vogel (Hg.), »Aber die Erinnerung davon.« Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz, Frankfurt a.M. 2007, S. 149-163, hier S. 153. 11 M. Scalla: »Formvollendete Fragen«, S. 153. 12 M. Streeruwitz: Tübinger Poetikvorlesungen, S. 71. 13 Ebd., S. 19.
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banal Empfundenen Ausdruck verleiht und mit ihrer »weiblichen Ästhetik«14 den Blick auf einen »Alltagsrealismus«15 richtet, in dem immer noch »die Anatomie das Schicksal der Frau«16 verkörpert. Demnach werden weibliche Körperwahrnehmungen sowie -erfahrungen explizit geschildert und wie in den Tübinger Poetikvorlesungen in Opposition zu männlichen Körpererfahrungen gestellt. Das Geschlecht als Ausschlusskriterium von kulturellen Traditionen wird dabei angeklagt, wie Streeruwitz anhand eines Initiationsritus, der unter Männern eines afrikanischen Stammes durchgeführt wird, darlegt.17 Nach erfolgreichem Bestehen einer körperlichen Prüfung erfolgt laut Streeruwitz die offizielle Aufnahme in die Gesellschaft – einer Frau demgegenüber bleibe diese ausschließlich aufgrund ihres Geschlechts vorenthalten.18 Weiter stellt Streeruwitz die Diskrepanz zwischen einem als gottähnlich angesehenen »männliche[n] Blick«,19 einer Art fest vorgeschriebenem kulturellen Machtgefüge, und einem passiven »weibliche[n] Blick«20 dar. Um die sprachlich begründete Prägung der Gesellschaft zu verdeutlichen, schreibt sie: »Diese beiden Blickformen haben Sprache, ja sie sind die Sprache und basal verankert.«21 Im Verständnis der Autorin ist die Abkehr von der patriarchal geprägten und normierten Sprache,22 welche sie mit ihrer Poetik verfolgt, daher die einzige Möglichkeit, die »Geschichte des weiblichen Nicht-Blicks«23 durch den besonderen Duktus ihrer Werke aufzubrechen und ihm eine Stimme zu verleihen. Ihr geht es darum, den Rezipient_innen Raum zu geben, die Thematiken ihrer Werke kritisch zu betrachten und die artifiziell kreierte Leere ihrer Texte mit Reflexion zu füllen,24 denn »[d]ie größte Gefahr droht durch das Verstummen in
14 Kramatschek, Claudia: »Zeigt her eure Wunden! – oder: Schnitte statt Kosmetik. Vorentwurf zu einer (weiblichen) Ästhetik zwischen Alltagsrealismus und ›trivial pursuit of happiness‹«, in: TEXT+KRITIK 164 (2004), S. 37-47, hier S. 39. 15 Ebd., S. 38. 16 Ebd., S. 39. 17 Vgl. M. Streeruwitz: Tübinger Poetikvorlesungen, S. 7. 18 Vgl. ebd. 19 Ebd., S. 18. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 20. 22 Vgl. ebd., S. 32-35, S. 46-48. 23 Ebd., S. 19. 24 Vgl. Streeruwitz, Marlene: Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M. 1998, S. 55.
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Ohnmacht«,25 schreibt sie in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen. Daher stehen die Reflexionen der Protagonistinnen, in denen ihren Gedanken, Sinneseindrükken und vor allem körperlichen Empfindungen eine Stimme verliehen wird, im Fokus der Darstellungen. So ist in Streeruwitz’ Texten der »Körper[…] als Bezugspunkt des Selbst, d[er] Biographie, Geschichtlichkeit und Sinnlichkeit«26 zu verstehen, wie auch Dagmar von Hoff in ihrem Aufsatz zur Geschichte des Körpers anführt. Mario Scalla bemerkt hingegen die unterschiedlichen »Bewegungsformen«,27 welche in ihrer Prosa thematisiert werden. Diese »befinden sich auf der Ebene der Syntax, der Erzählperspektive oder sind bezogen auf den Wechsel von diskreter Introspektion zum objektivierenden Bericht oder zu szenischen Passagen.«28 Den genannten Bewegungen schreibt er darüber hinaus »eine zunächst nicht präzise bestimmte Dynamik«29 zu. Ihren sprachlichen Ausdruck findet diese, indem der Fragmentcharakter der Texte einerseits Rhythmen erkennen lässt, welche die thematisierten topografischen Bewegungen der Figuren nachzeichnen, und andererseits auf problematische psychologische Situationen der fiktiven Individuen hinweist, indem eine fortlaufende Fragmentierung der Psyche angedeutet wird. Jene Dynamik stilistischer Rhythmen zeigt in besonderem Maße die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit der Protagonist_innen auf, welche sprachlich-ästhetisch durch die elliptisch geprägte Syntax und die so hervorgerufene Zerstückelung des Textes den Eindruck einer instabilen Identität sowie eines Ich-Verlusts fundiert.
K ÖRPER , R AUMWAHRNEHMUNG UND DROHENDER I CH V ERLUST : E INIGE T HESEN ZUM S TAND DER D ISKUSSION Entgegen einer allgemein gefassten und wenig fachspezifischen Definition des Begriffs Körper, mit der zwar auf die enge Verbindung der Bedeutung von Körper und Raum aufmerksam gemacht wird, jedoch gleichsam »ein Körperinneres
25 M. Streeruwitz: Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 33. 26 von Hoff, Dagmar: »Zum Verhältnis von Gender und Geisteswissenschaften. Eine Bestandsaufnahme«, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg.), Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 603-614, hier S. 610. 27 M. Scalla: »Formvollendete Fragen«, S. 159. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 159f.
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klar von einem Körperäußeren unterschieden«30 wird, orientiert sich die Soziologin Martina Löw in ihrem Verständnis von Körper und Raum an Henri Lefebvres Raumtheorie.31 Sie schlägt daher »eine doppelte Bedeutung der Körper für die Raumproduktion«32 vor. Ihrer Annahme zufolge sind Körper gleichermaßen »Teil der räumlichen (An)Ordnungen und Medium der Wahrnehmung von Räumen«.33 Das heißt, Körper gelten einerseits als Bestandteile von Räumen und sind andererseits daran beteiligt, Räume zu produzieren.34 »Da Räume nicht an sich existieren, sondern in der sozialen Praxis bestätigt und hervorgebracht werden müssen, sind Körper über Wahrnehmungsprozesse [der Individuen] […] an der Produktion von Räumen beteiligt«,35 so Löw weiter. Beispielhaft kann hier die Rolle der Stadt als Körper aufgezeigt werden, die im Sinne eines Makrokosmos Auswirkungen auf den Mikrokosmos des menschlichen Körpers zeitigt. Wie Sonja Altnöder in ihrem Aufsatz »Die Stadt als Körper« herausstellt, »knüpft [diese Darstellung] an Traditionen eines anthropomorphisierenden Stadtdiskurses in literarischen und wissenschaftlichen Texten an«.36 Demgemäß spiegelt sich die Anonymität und Unruhe der Stadt in der Isolation und dem Zerbrechen der einzelnen Individuen wider, wobei Marlene Streeruwitz’ Poetik einer bruchstückhaften Syntax die inhaltliche Thematik auf sprachlicher Ebene reflektiert. So, wie die soziale Praxis kulturellen und sozialen Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft unterliegt, gilt dies gleichermaßen für subjektive Wahrnehmungen oder sozial definierte Räume. Diese Betrachtungsweise verabschiedet sich deutlich von einer klaren Differenzierung zwischen Körperinnerem und -äußerem. Sie betont hingegen die Mehrdeutigkeit des Konzepts Körper sowie die enge Verknüpfung zwischen physischen und psychischen Dimensionen, wel-
30 Schroer, Markus: »Zur Soziologie des Körpers«, in: ders. (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M. 2005, S. 7-47, hier S. 24f. 31 Vgl. Löw, Martina: »Die Rache des Körpers über den Raum? Über Henri Lefebvres Utopie und Geschlechterverhältnisse am Strand«, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M. 2005, S. 241-270. 32 M. Löw: »Die Rache des Körpers über den Raum?«, S. 242. 33 Ebd. 34 Vgl. ebd., S. 241f. 35 Ebd. 36 Altnöder, Sonja: »Die Stadt als Körper: Materialität und Diskursivität in zwei London-Romanen«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 299-318, hier S. 300.
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che gleichsam auf die Identität eines Individuums wirken. Auch die Konzeption der Romanfigur in Entfernung. verdeutlicht dies, indem Einflüsse auf das Körperäußere sich maßgeblich im Bewusstsein widerspiegeln. Bezüglich der bereits genannten subjektiven Wahrnehmung von Räumen hat die Philologin Natascha Würzbach umfassende Arbeiten zur Frauen- und Geschlechterforschung vorgelegt, in denen sie sich maßgeblich mit Konstruktionen des weiblichen Subjekts in der erzählenden Literatur sowie genderzentrierter Raumdarstellung und -wahrnehmung auseinandersetzt.37 Auch sie definiert Raumdarstellungen als »sprachlich vermittelt, durch soziale Normen und subjektive Wahrnehmung geprägt und geschlechterspezifisch konnotiert«.38 Darüber hinaus bemerkt sie die intensive Verknüpfung von »Raumerfahrung und Identitätskonstitution«39 sowie »die Bedeutung des sozial definierten Raumes für die Identitätsentwicklung und -stabilisierung«.40 Ihre Thesen sind hier von besonderem Interesse, um die Auswirkungen des Ich-Verlusts in Form von erfahrenen Unsicherheiten sowie Darstellungen von Orientierungslosigkeit der Protagonistin Selma im sozialen Raum zu deuten. Insbesondere konfliktreiche Bewusstseinszustände, welche von Realitätsverlust und dem Gefühl geprägt sind, jegliche Sinnzuschreibung gegenüber der eigenen Person sowie »Einflussnahme auf äußere Umstände verloren«41 zu haben, deuten den Ich-Verlust sowie eine zerbrechende Identitätserfahrung im Roman Entfernung. an. Bezeichnend für »weiblich konnotiert[e]«42 Identitätserfahrung und Konstitution sind nach Würzbach das Erleben und die sprachliche Ausgestaltung »[m]entale[r] Räume«,43 die in enger Verbindung zur sogenannten »subjektive[n] Semantisierung«44 und der Verwendungsweise der Bewusstseinsstromtechnik stehen. Mentale Räume zeigen »Vorgänge auf dem Schauplatz des Unbewussten [und sie] bedürfen der Bewusstmachung durch Versprachlichung und räumliche Veranschaulichung«.45 Individuelle Erfahrungen und Sinnzuschreibungen innerhalb oder gegenüber sozial konstruierten Räumen erfolgen im
37 Vgl. dazu N. Würzbachs Veröffentlichungen unter http://www.natascha-wuerzbach.de /index.php?id=24 vom 30.07.2014. 38 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 50. 39 Ebd., S. 55. 40 Ebd., S. 52. 41 http://www.lexikon-psychologie.de/Ich-Verlust/ vom 28.07.2014. 42 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 62. 43 Ebd., S. 61. 44 Ebd., S. 62. 45 Ebd., S. 61.
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Rahmen der subjektiven Semantisierung und spiegeln sich im Bewusstsein der meist weiblich konnotierten Figuren wider. Die häufige Verwendung von Bewusstseinsstromtechniken und die damit einhergehende »Darstellung von Wahrnehmungsprozessen und Bewusstseinsinhalten«46 trägt maßgeblich »zur literarischen Erschließung weiblicher Wirklichkeitserfahrung bei«47 und bekräftigt »eine identifikatorische Schilderung von Frauenschicksalen, […] [in denen] weibliche Subjektivität«48 in den Fokus gerät. Auch in Marlene Streeruwitz’ Werk stellt die besondere Art des Bewusstseinsstroms als maßgebliches Ausdrucksmittel eine Möglichkeit dar, den Wahrnehmungen von Orientierungslosigkeit, dem empfundenen Schmerz und dem stillen Leiden der Protagonistin Ausdruck zu verleihen, was sich in Bezug auf zum Teil unterbewusst wahrgenommene Empfindungen im Sinne mentaler Räume äußert. Hinsichtlich einer geschlechterorientierten Perspektive auf Prosawerke und deren Raumdarstellung sowie Raumwahrnehmungen werden Themen wie »Grenzüberschreitung«49 und die damit einhergehende »Bewegung der Figuren«50 nicht nur bei Natascha Würzbach, sondern ebenso in den Ausführungen der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick als bedeutende Faktoren für die Darstellung der Identitätsentwicklung literarischer Subjekte angeführt.51 Bewegungen der Körper in und zwischen den Räumen führen zu veränderten Erfahrungshorizonten für die Subjekte und wirken sich so auf die Identitätskonstitution aus, was zur »Wahrnehmung und Dynamisierung des Raums durch räumliche ›Beziehungen‹«52 führt. Diesen prozesshaften Aspekt der Identitätskonstitution heben auch die Sozialwissenschaftler Joachim Renn und Jürgen Straub in ihrem Konzept der »transi-
46 Allrath, Gaby/Surkamp, Carola: »Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung«, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, unter Mitarbeit von Nadyne Stritzke, Stuttgart 2004, S. 143-179, hier S. 170. 47 G. Allrath/C. Surkamp: »Erzählerische Vermittlung«, S. 172. 48 Ebd., S. 170. 49 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 57. 50 Ebd. 51 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: »Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 257-279. 52 D. Bachmann-Medick: »Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze«, S. 258.
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torischen Identität«53 hervor. Darin nennen sie »die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen, immer noch ausstehenden […] Identität«,54 welche »in prinzipiell vorläufigen und zerbrechlichen Stadien einer historisch, kulturell und sozial situierten psychischen Entwicklung«55 herausgebildet wird. Besonders in Entfernung. treten Prozesse der Bewegung sowie Überschreitungen von räumlichen Grenzen, aber auch das Verbleiben und Handeln in und zwischen den Räumen als bedeutende Motive des Textes in den Vordergrund. Indem die Protagonistin nicht nur einen Raumwechsel zwischen den Städten Wien und London unternimmt, sondern durch ihr Handeln innerhalb Londons eine Dynamisierung ihrer multisensorischen Wahrnehmungen erfährt, die in besonderem Maße an Räume sowie das individuelle und soziale Agieren darin gebunden ist, wird ihre krisenbehaftete Existenz nachvollziehbar.
S OMATISCHE UND PSYCHISCHE A SPEKTE DES I CH V ERLUSTS IM S PIEGEL ZERRINNENDER K ÖRPERRÄUME – EINE T EXTANALYSE Im Folgenden werden die Entwicklung sowie die Faktoren des schleichenden Ich-Verlusts der Protagonistin Selma analysiert. Dabei soll vor allem deutlich werden, wie Marlene Streeruwitz durch das poetologische Prinzip ihrer syntaktischen »Stakkato«56-Technik des Bewusstseinsstroms das Bruchstückhafte und das Zerfallen einer Existenz mit der Ebene der inhaltlichen Darstellung verbindet und so den im krisenbehafteten Körperraum empfundenen Ich-Verlust der Protagonistin nachvollziehbar macht. Inhaltliche Aspekte, welche aus genderperspektivierter Sicht im Spiegel somatischer und psychischer Faktoren des IchVerlusts analysiert werden, sind der Ortswechsel der Figur, ihr Zustand von Bewusstlosigkeit, die Wahrnehmung der Stadt als Körper voller Unruhe und Anonymität sowie das geschlechtsspezifische Erfüllen gesellschaftlich etablierter Rollen.
53 Renn, Joachim/Straub, Jürgen: »Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse«, in: dies. (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 10-31, hier S. 13. 54 Ebd., S. 13. 55 Ebd., S. 14. 56 M. Scalla: »Formvollendete Fragen«, S. 153.
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Gleich zu Beginn des Romans Entfernung. tritt die Thematik des Ortswechsels in den Fokus der Erzählung, als die 49-jährige, arbeitslose Protagonistin Selma beschließt, ihre vermeintlich letzte Chance auf beruflichen Erfolg zu nutzen. Sie fliegt von Wien nach London, um sich mit einem vielversprechenden Akteur der Londoner Theaterwelt namens Gilchrist zu treffen: »Sie flog nach London. Eine Reise. Sie konnte nachdenken. Unterwegs. Sie konnte unterwegs über alles nachdenken. Durchdenken. […] Allein sein. Sie war in transit. Nicht erreichbar.«57 An dieser Stelle erscheint der bewusst genutzte Ortswechsel als notwendige Bedingung, um fern von gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen die eigene Situation durchdenken zu können. Wie auch die von Karin Herrmann in ihrem Aufsatz »Körpergedächtnis und Identität im Spiegel der Gegenwartsliteratur« behandelten Protagonist_innen befindet sich Selma »in einem Grenz- und Schwellenzustand, in einem Zustand der Liminalität, des Übergangs«.58 Die damit einhergehende »Phase[…] existentieller Verunsicherung«59 führt zu einem In-Frage-Stellen der eigenen Vita und schlägt sich auf sprachlichästhetischer Ebene des Textes vor allem durch Mittel der besonderen Interpunktion nieder, welche zu einem fragmentartigen, elliptischen Duktus der Texte führen und Selmas zerbrechliche Identität indizieren. Der von Selma selbst als in transit beschriebene Zustand ihres Ichs und somit auch ihrer Identität lässt hier in doppelter Weise eine Form der Bewegung erkennen. Einerseits verweist diese Bewegung auf das von Straub und Renn genannte Identitätskonzept als eine natürliche Eigenschaft einer sich ständig wandelnden und veränderbaren Identität,60 andererseits drückt die Bewegung zwischen den Räumen eine Grenzüberschreitung von der Heimat Wien in die fremde Großstadt London aus, die mit dem beschriebenen Gefühl von Orientierungslosigkeit und Verunsicherung einhergeht. Die deutliche Innenorientierung der Protagonistin, welche in Form von Introspektionen Selmas Sinneseindrücke und Gedanken wiedergibt, hängt eng zusammen mit ihrem körperlichen Empfinden,
57 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 15. 58 Herrmann, Karin: »Körpergedächtnis und Identität im Spiegel der Gegenwartsliteratur. Ein Beitrag zu Werken von Christa Wolf, Don DeLillo und Marlene Streeruwitz mit einem Exkurs zu Pedro Almodóvars Film Die Haut, in der ich wohne«, in: Andrea Bartl/Hans-Joachim Schott (Hg.), Naturgeschichte, Körpergedächtnis. Erkundungen einer kulturanthropologischen Denkfigur (=Konnex. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur), unter Mitarbeit von Sandra Potsch, Würzburg 2014, S. 175-210, hier S. 179. 59 Ebd., S. 179. 60 Vgl. J. Renn/J. Straub: »Transitorische Identität«, S. 14.
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verwebt sich mit den geografischen Räumen, die sie betritt, und lässt diese durch ihre spezifisch weiblichen Wahrnehmungen zu vergeschlechtlicht empfundenen Räumen werden. Selmas Eindrücke, sich selbst nicht mehr als vollständige Person betrachten zu können und ihren Körper in Form einer sich zersetzenden Instanz zu fühlen, zeitigen eine prozesshafte Entwicklung, die mit dem Agieren in der fremden Umgebung der Stadt und dem Betreten unbekannten Terrains immer deutlicher voranschreitet und unaufhaltsam scheint. Das mehrfach verwendete Sinnbild einer dünnen Haut, das Assoziationen leichter Verletzlichkeit beherbergt, um nach vermeintlichem Durchdringen dennoch nur eine Leere preiszugeben,61 verstärkt diesen Eindruck und steht in engem Verhältnis zu Selmas Gefühl, objekthaft und nur eine Hülle zu sein: »Eine dünne Schicht Haut konnte sie sich noch vorstellen. Glasdick diese Schicht Haut. Und dann hohl. Leer. […] Dass sie nichts vorzuweisen hatte. Für das ganze Leben bisher. Dass sie alles verloren hatte. Sie ging. Sie dachte nach, ob diese Außenhülle. Würde sie zerbrechen. Zerschellen. Wenn jemand es aussprach. […] Und was würde mit dem dunklen Inneren geschehen. Würde sie eine hautlose Dunkelheit sich weiter quälen müssen.«62
Die fragmentierte Syntax reflektiert an dieser Stelle zudem den Zerfall, das Zerbrechen eines Ichs, welches sich so weit von sich selbst entfernt hat, bis es sich nur noch in unzusammenhängenden Teilen wahrnehmen kann, die das symbolisch gesetzte Ziel einer ganzen, vollständigen Person unterlaufen. Diese Entwicklung wird umso deutlicher, als Selma in London angekommen in ihrem Hotelzimmer völlig erschöpft in sich zusammensinkt und einen Schwächeanfall erleidet. Hier erscheint anhand detaillierter Beschreibungen ihrer leiblichen Empfindungen der Körper Selmas selbst als vergeschlechtlichter Raum, in welchem den körperlich empfundenen Wahrnehmungen gemäß Streeruwitz’ »Poetik des Banalen«63 literarisch Ausdruck verliehen wird. Jene Poetik des Banalen dient der literar-ästhetischen Darstellung alltäglicher Situationen, Handlungen oder Empfindungen. Die so generierte Ästhetik des vermeintlich Trivialen, mit welcher sie basalen Sinneseindrücken Ausdruck verleiht, erlaubt einen Blick in das Innere der Protagonistin sowie in die Symptome ihres Ortswechsels, die sie im Transit von Wien nach London erfährt. So spürt Selma nach ihrem Ohnmachtsanfall zwar die Punkte ihres Körpers, an denen sie den Untergrund
61 Vgl. M. Streeruwitz: Entfernung., S. 17. 62 Ebd., S. 17f. 63 M. Streeruwitz: Tübinger Poetikvorlesungen, S. 71.
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berührt, doch »[s]onst war nichts da. Nichts zu fühlen. Kein Herzschlag. Kein Rauschen im Ohr. Kein Hauch des Atems. Leer. Leer und weit. Die Leere hielt still. Farblos weit und die Grenzen unbekannt. Kein Gefühl, wie viel Leere sich ausbreitete.«64 Zu diesem Zeitpunkt in der Entwicklung der Protagonistin hat die beschriebene Leere bereits vollständig Besitz von ihr ergriffen und wird zu einem konstituierenden Prinzip ihrer Existenz. Die Wahrnehmung ihrer Sinneseindrücke ist vollständig eingestellt, und sie erlebt einen todesähnlichen Zustand, in dem der Ich-Verlust ihrer Person bereits weit vorangeschritten ist. Auch im weiteren Verlauf des Romans dehnt sich das als Leere beschriebene Empfinden in Form einer von der Protagonistin benannten »Bodenlosigkeit«65 aus: »Sie fühlte kein Ende von sich. Sie reichte bis tief in den Boden. Bis weit in die Erde. Bis weit unter die Erde. Und dunkel.«66 Was hier als Bodenlosigkeit bezeichnet wird, kann mit einer Konturenlosigkeit, einem Verschwimmen von Konturen ihres Selbst assoziiert werden, die symbolisch den fließenden Ich-Verlust der Protagonistin verstärken, dem in Form des Bewusstseinsstroms Ausdruck verliehen wird. Zudem zeigt es, wie Bachmann-Medick zum Thema »Bewegungshorizonte und Subjektverortung«67 bemerkt, eine Form von Kontrollverlust des Subjekts über den Raum,68 indem der Raum seine Begrenzung aufhebt und durch seine Bewegungen eine Art »Inversion der linearen Raumwahrnehmung«69 vollzieht. Es wird abermals deutlich, dass Streeruwitz bewusst »bruchstückhafte Wahrnehmungen als solche […] zeigen [möchte], ohne dass sie bereits zu einem kohärenten Ganzen koordiniert wären«,70 um damit besonders dem empfundenen Schmerz sowie der durch das Leiden oftmals nicht vollständig erhaltenen Wahrnehmung Ausdruck zu verleihen. Wie Karin Herrmann in Anlehnung an Sigrid Weigel formuliert, kann auch hier davon ausgegangen werden, »dass der Körper auf Seelisches verweist, dass also körperliche Zustände als Indikatoren für die psychische Verfasstheit«71 Selmas zu betrachten sind, die nach ihrem Zusammenbruch in Form von schier unerträglichen Schmerzen als eine »Schwellung«72
64 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 165. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 D. Bachmann-Medick: »Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze«, S. 257. 68 Vgl. ebd., S. 262. 69 Ebd. 70 K. Herrmann: »Körpergedächtnis und Identität«, S. 203. 71 Ebd., S. 182. 72 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 167.
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benannt werden. So fragt sich die Protagonistin: »Konnte sie so anschwellen, dass die Schwellung den Platz einnahm. Sie sich selbst verdrängte. Ihr Körper ihr zu Hilfe eilend sie in Hilfe erstickte. Ihr ihre Verzweiflung austreiben wollte und einfach nicht genug Platz war. Es sich zwischen ihrem Körper und ihrer Verzweiflung austrug.«73 Der Körper, der an dieser Stelle selbst einen Raum verkörpert, projiziert Selmas inneren Schmerz für alle sichtbar an die Oberfläche. So konstatiert sie: »Ihre Haltung war würdelos.«74 Ihr schmerzverzerrtes Gesicht verrät ihren Kummer. Endlich scheint sie wieder ansprechbar zu sein und versucht langsam, die Kontrolle über ihren Körper und seine Bewusstseinsvorgänge zurückzuerlangen: »Es wurde besser. Sie hatte vor sich hingesehen. […] Sie lag da. […] Sie schloss die Augen. Wieder. Müde. Der Kopf müde. Der Hals. Das Genick. Schlaff. Sie versuchte sich umzudrehen.«75 Ihre Gedanken schweifen für eine Weile ab zu einer Freundin, die sie in einer psychiatrischen Klinik besuchte, als es dieser ähnlich erging.76 Allein gelassen und zu schwach, um nach Hilfe zu rufen, versucht Selma, langsam das Atmen wieder bewusst fortzusetzen und ihre einzelnen Körperteile zu bewegen.77 Auch an dieser Stelle des Romans wird die Verbindung der sprachlichästhetischen Gestaltung zur inhaltlich-thematischen Darstellung erkennbar. So deutet das Schwanken zwischen Parataxe bis hin zu Ein-Wort-Sätzen auf die gleichermaßen schwankende Existenz ihres Bewusstseinszustands hin, welcher sich nur langsam verbessert und auf der Ebene sprachlicher Darstellung besonders starker syntaktischer Zerstückelung unterworfen ist, wenn es um das Äußern körperlicher Empfindungen geht. So wird abermals der fortschreitende IchVerlust anhand körperlicher Ausdrucksformen aufgezeigt. Letztlich schafft Selma es, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu gelangen: »Sie stand auf. Stand. Vorsichtig. Horchte. Ob ein Schmerz. Ein Widerstand. Sie war schwach. […] Sie sollte sich keine Illusionen machen. Es war alles aus. Für sie war alles aus.«78 Erneut erlaubt die Introspektion einen Blick in die mentalen Räume der Protagonistin. So scheint das permanente Funktionieren-Müssen für Streeruwitz’ Protagonistin das vermeintlich wichtigste Ziel zu sein. Selbst in einem existenz-
73 Ebd. 74 Ebd., S. 171. 75 Ebd., S. 173. 76 Vgl. ebd., S. 173f. 77 Vgl. ebd., S. 174-177. 78 Ebd., S. 178.
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bedrohenden Zustand, in dem sie um ihr Leben bangt, reflektiert sie ihre äußere Erscheinung, die vor dem wichtigen Treffen mit Gilchrist Falten von zu langem Liegen in ungünstiger Position aufweisen oder durch einen schwindelbedingten Unfall in der Duschkabine zu Schaden kommen könnte.79 Dementsprechend resümiert sie ihre Situation: »Und jeder Blick die Beschädigung nachzeichnen konnte. Mitleidig.«80 Als das einzig Positive ihres »Krisenstau[s]«,81 wie Selma diesen Zustand nennt, bezeichnet sie »das Wieder-vollkommen-dünn-Sein. Wieder eine Taille. Nicht dieses Verschwimmen der Figur in einem Überzug von zu guter Ernährung. Sie war eckig. Wieder. Beweglich. Nicht so gedämpft.« 82 Immer wieder stellt Marlene Streeruwitz auch in ihren Poetikvorlesungen die Frage nach dem Ich, das sich hinter »zivilisatorische[n] Maßnahmen wie Frisieren, Waschen, Make-up, Wimperntusche, Lippenstift«83 versteckt und bereits als Kind dazu erzogen wird, ständig gefallen zu wollen.84 Diese Art sozialer Programmierung des meist weiblichen Kindes ist es, welche sich nach Streeruwitz in Form erdrückender Fremdbestimmung durch das patriarchale System offenbart. Dazu formuliert sie in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen: »Täuschen wir uns nicht. Unsere Prägungen haben bis heute unsere Seelen kolonialisiert und genau jene sprachleeren Kontinente in uns aufgebaut, die darauf warten, im entscheidenden Augenblick gefüllt zu werden. Mit der Sprache des Patriarchats. Mit den Aufträgen. Und. Diese entscheidenden Augenblicke treten öfter ein, als wir zur Kenntnis nehmen wollen.«85
Diese Äußerungen, mit denen Streeruwitz Bezug auf die gesellschaftlich geprägte Vergeschlechtlichung der Individuen nimmt, führen sie weiter zu der Fragestellung, »wer dieses ›Ich‹ nun sei«,86 von dem man die Erfüllung geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster erwartet, welche je nach Geschlecht einer Person eindeutig zuzuweisen sind. Erst durch diese eindeutige Zuweisung, mit der gesellschaftliche Ausschlusskriterien für das eine oder andere Geschlecht reproduziert werden, ergibt sich eine zweifelhafte, zu zerbrechen drohende Existenz, wie
79 Vgl. ebd., S. 173, 180. 80 Ebd., S. 180. 81 Ebd., S. 181. 82 Ebd. 83 M. Streeruwitz: Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 18. 84 Vgl. ebd. 85 Ebd., S. 17. 86 Ebd., S. 18.
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sie auch die Protagonistin Selma erlebt, die sich in ihrer Rolle als Frau in prekärer sozio-ökonomischer Situation als doppelt belastet erkennt. Auf die psychischen und physischen Folgen dieser gesellschaftlich normierten Situation rekurrierend, formuliert Ria Endres treffend: »Selma hat Mühe, als Subjekt zu handeln, denn sie läuft doch dahin, um zu verschwinden.«87 Wörter wie »herausquellen […] auflösen […] weggeronnen«88 beschreiben an dieser Stelle auf anschauliche Weise ihre zerfallende, zerfließende Existenz als »Zerrbild ihrer selbst«,89 was durch die Fragmentierung der Syntax ebenso zum Ausdruck gebracht wird. Der »Vorgang[…] eines solchen langen Erbrechens von sich selbst. […] [D]as Verrinnen durch das kleine Gitter in den Kacheln am Boden. Unter der Waschmuschel. In den Abfluss davon. Und niemand mehr etwas von ihr gehört«,90 sinniert sie. So zeigen existentielle somatische Eindrücke der Protagonistin die Verkörperung des Ich-Verlusts im Raumerleben an. Anschließend kommt es zur Konfrontation mit der Außenwelt der Metropole Londons, indem Selmas Körper nach Löw als »Teil der räumlichen (An-)Ordnungen und Medium der Wahrnehmung von Räumen«91 eins mit dem Stadtraum wird, der die Dramaturgie übernommen zu haben scheint und ihre fluide Existenz vollständig absorbiert. Bis zu diesem Zeitpunkt bot die Stadt eine erhoffte berufliche Perspektive für Selma. Ihr eigener Körper, der wie die Großstadt trotz seiner scheinbaren oberflächlichen Leere eine vielschichtige Tiefenstruktur aufweist, spiegelt als Mikrokosmos die Unruhe und Diversität des Makrokosmos der urbanen Metropole wider, welche sich im Laufe des Romans zunehmend als ein das Subjekt aufsaugender Ort darstellt.92 So erfährt Selma London als eine Großstadt, welche die Individuen aufgrund der vorherrschenden Anonymität und Isolation in die Vereinzelung führt. Was im Sinne eines Aufbruchs rein symbolisch zunächst als »emanzipatorische[r] Akt«93 betrachtet werden könnte, birgt in Selmas Fall jedoch ambivalente Tendenzen. Die Metropole ist nämlich kein positiv besetzter Ort, welcher der Protagonistin Entfaltungsmöglichkeiten und
87 Endres, Ria: »Der Entfernung zusehen«, Vortrag im November 2006 im Literaturhaus Frankfurt a.M., in: dies. (Hg.), Schreiben zwischen Lust und Schrecken. Essays zu Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Marlene Streeruwitz, Heidenreichstein 2008, S. 125-132, hier S. 131. 88 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 183. 89 R. Endres: »Der Entfernung zusehen«, S. 131. 90 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 184. 91 M. Löw: »Die Rache des Körpers über den Raum?«, S. 242. 92 Vgl. M. Streeruwitz: Entfernung., S. 188. 93 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 55.
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Freiheit bietet, sondern wird von Selma als »Ort der Bedrohung und Erniedrigung durch den männlichen Zugriff [wahrgenommen, der] weibliche Abhängigkeiten«94 offensichtlich macht. Diese erlebt sie während eines Treffens in einem Restaurant mit ihrem Geschäftskontakt Gilchrist, der ihr ihre Unfreiheit und Gebundenheit an das zwingende Erfüllen gesellschaftlicher Konventionen deutlich macht. Als Selma die Ausweglosigkeit ihrer Situation erkennt, möchte sie am liebsten fliehen, sich einfach auflösen und verschwinden. »Selma fühlte ihren Mund schmal werden. Sie durfte nichts sagen. Sie musste still sein. […] So formlos. Auseinandergeronnen. Sie konnte sich selbst zerfließen sehen. Wie die Konturen sich verloren. Die Eckigkeit aus dem Spiegel. Von vorhin. Die Kanten. Alle verschwunden. Ein blob. Und weiblich. Dass sie eine Frau war, das wusste sie nur über ihre Probleme. Das teilte sich über das Verlassen-Sein mit. Und in ihrer Arbeitswelt. In den Unmöglichkeiten und Behinderungen. So einen Blick. Diesen Blick, der ihr bestätigt hatte, eine Frau zu sein. Ein begehrenswertes Wesen. Diesen Blick hatte sie. Den hatte sie seit Jahren nicht mehr auf sich. Sie war. Nicht einmal mehr Objekt.«95
Selmas körperliche Reaktionen offenbaren an dieser Stelle ihre Wahrnehmung als weibliches Subjekt in der Gesellschaft während eines Geschäftsessens, bei dem es um das Befolgen und Ausführen gesellschaftlich anerkannter und normierter sozialer Praktiken innerhalb einer vorgegebenen kulturellen Ordnung geht. Zudem muss sie erkennen, dass sie in ihrer Rolle als Frau mittleren Alters einer weiteren vergeschlechtlichten Dimension unterworfen scheint, in der berufliche Perspektiven trotz ihrer langjährigen Erfahrung ausbleiben, da sie aufgrund ihres Alters nicht dem gängigen, mit Jugendlichkeit konnotierten Schönheitsideal zu entsprechen vermag. Ihr Scheitern in dieser Situation des Geschäftsessens, welches in ihrem objekthaften Gefühl kulminiert, lässt sie resümieren: »Ein blob. Und weiblich. […] Nicht einmal mehr Objekt«,96 als wäre die genannte Reihenfolge eine logische Form der Steigerung. Selma erkennt sich in der Situation einer arbeitslosen Frau als in doppeltem Sinne marginalisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ihr fragmentiertes seelisches und körperliches Dasein kann den gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr standhalten. Getrieben vom Gefühl des sozialen Ausgeschlossenseins, was sich ihr in besonderem Maße als Frau erschließt, der weiterhin unein-
94 Ebd., S. 56. 95 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 206f. 96 Ebd., S. 207.
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geschränkte Anteilnahme und Anerkennung in der Gesellschaft verwehrt bleiben, erkennt sie stattdessen die Gründe ihres beruflichen Verlusts in ihrer ganzen Oberflächlichkeit. Das In-Frage-Stellen der eigenen Person sowie das Empfinden, nur eine Hülle darzustellen, kulminieren letztlich nicht nur in der Auflösung der Raumordnung, sondern vor allem in den Phantasien des Zerfallens der physischen Existenz der Protagonistin. Sie erreichen ihre Klimax in den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn und bringen die Raumordnungen der Metropole, wie auch die der einzelnen Individuen, vollständig aus dem Gleichgewicht. Dies zeigt sich in Selmas Situation, als sie die Terroranschläge selbst miterleben muss: »Sie wurde nach vorne gerissen und mit einem scharfen Schlag zurückgeschleudert. Ein Schlag gegen den ganzen Körper. Den Kopf. Dicker Rauch rollte durch den Wagen nach hinten. […] Ein Knall. Ein dumpfer Knall.«97 An dieser Stelle veranschaulichen die Darstellungen von Selmas mentalen und somatischen Wahrnehmungen, wie nach Bachmann-Medick »Grenzerfahrungen in Katastrophensituationen […] zu einem gesteigerten Druck auf die Selbstkontrolle der Subjekte«98 führen. Jener »schlägt sich in veränderten Bewegungsformen nieder: Taumeln, Schwindel, ja Fallen und Stürzen«99 werden so von den Figuren erfahren. Für Selma offenbart sich dies folgendermaßen: »Das Zittern. Ein Gefühl, aus dem Bauch lösten sich Teile. Flogen weg. Lösten sich heraus und flogen davon. Segelten. Die Löcher noch größere Spannung erforderten. […] Sie konnte den Kopf nicht mehr bewegen. Sie war in ihre eigenen Muskeln eingesperrt.«100 Die symbolische Subjektauflösung, welche in dieser Grenzsituation einer »Raumtransgression«101 den drastischen Ich-Verlust Selmas verkörpert, lässt nicht nur die »Raumhorizonte […] umso diskontinuierlicher«102 erscheinen, sondern beeinflusst gleichermaßen das Kontinuitätsempfinden der Person. Dies veranschaulicht die Wahrnehmung einer Durchlöcherung und eines Herauslösens aus dem eigenen Körper und zerstört ihren persönlichen Körperraum mit seinen physischen und psychischen Wahrnehmungen schlagartig, gewaltsam und vollständig. In Anbetracht des prozesshaft fortschreitenden Ich-Verlusts der Protagonistin stellt dies eine Klimax des Leidens in der Entwicklung Selmas dar, was sich letztlich nicht nur als Spiegelung gesellschaftlicher Ereignisse in der Stadt,
97
Ebd., S. 384.
98
D. Bachmann-Medick: »Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze«, S. 263.
99
Ebd.
100 M. Streeruwitz: Entfernung., S. 392. 101 D. Bachmann-Medick: »Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze«, S. 271. 102 Ebd., S. 270.
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sondern als direkte körperliche und psychische Einflussnahme auf die Protagonistin erweist. Wie durch ein Wunder überlebt Selma die Anschläge und irrt danach ziellos durch die Straßen, jeglicher Orientierung im Raum beraubt. Letztlich könnte die Flucht in die Natur eines Londoner Stadtparks als mögliche Hoffnung auf Trost für die Protagonistin gedeutet werden, indem ein traditionell afrikanisch gekleideter Mann ihr anhand eines in der Sonne glitzernden Steins die Schönheit der Natur vor Augen führt.103 So erschienen die Abkehr von der Stadt durch das zunächst »planlose Schweifen«104 sowie der Eintritt in den Park als symbolisches Element der Renaturalisierung und könnten schließlich doch als emanzipatorischer Akt der »von einer unbestimmten Sehnsucht angetriebenen«105 Figur verstanden werden. Aufgrund der in besonderem Maße unwirklich erscheinenden Darstellung der beschriebenen Begegnung kann jedoch keine Lesart vorgeschlagen werden, die eine Verbesserung der Situation der Protagonistin durch eine Rückkehr zur Natur idealisiert. Vielmehr ist dies als eine Illusion von Romantisierung und Natürlichkeit zu verstehen.
F AZIT Die bisher genannten sprachlich-ästhetischen sowie inhaltlich-thematischen Inszenierungen, welche den schleichenden Zerfall von Selmas physischer und psychischer Existenz belegen, zeichnen das Porträt eines Individuums, dem das eigene Ich fremd geworden zu sein scheint. London als erfolgversprechender Ort, welchen Selma zuvor als identitätsspendend erhofft hatte, offenbart keine Besserung ihrer körperlichen und seelischen Situation, führt ihr jedoch das gesellschaftliche Ausgeschlossensein ihrer Person in der Rolle einer arbeitslosen Dramaturgin mittleren Alters mit all seinen Konsequenzen vor Augen. Auf den Titel rekurrierend zeigt sich, dass die Entfernung Selmas von Wien nicht nur eine Entfernung vom Leben in ihrer Heimat darstellt, sondern dass es sich hauptsächlich um eine Entfernung von sich selbst handelt, die auch durch den Ortswechsel keine Besserung erfährt. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass in Entfernung. nicht nur der weibliche Körper in Form eines kulturell geprägten Raumes, sondern gleichermaßen der städtische Raum einen wesentlichen Einfluss auf die Identität der literarischen Subjekte nimmt. Betrachtet man die Konzeption der Figur Selmas, so kann »[i]hr Körper […] als organische Metapher
103 Vgl. M. Streeruwitz: Entfernung., S. 469-475. 104 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 67. 105 Ebd.
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des städtischen Körpers gelesen werden«,106 der die Unruhe, Hektik und Anonymität der Stadt widerspiegelt und sich selbst als diskontinuierliche und fragmentierte Instanz wahrnimmt, welche die Kontrolle über sich und ihr Umfeld verloren hat und im Zustand der Bewusstlosigkeit immer stärker dem IchVerlust erliegt. Diese Art des Raumempfindens, die von Orientierungslosigkeit und Verlust bestimmt ist und sich negativ auf die Identitätskonstitution auswirkt, bringt zudem die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem »Körper der Stadt und d[en] Körper[n] ihrer BewohnerInnen«107 zum Ausdruck. Dadurch wird ein deutlicher Kontrast zu der abschließend wahrgenommenen Natur kreiert. Ferner sind die Wahrnehmungen des Bewusstseins der Figur vor allem an der Kreierung mentaler Räume beteiligt, denen anhand subjektiver Semantisierung, das heißt durch das persönliche Empfinden, Sinn zugeschrieben wird. Dies wird besonders anschaulich durch die Streeruwitz’sche Technik des Bewusstseinsstroms hervorgehoben und dient als maßgebliches stilistisches Element. Detaillierte Introspektionen der Protagonistin Selma haben so »die Bedeutung des sozial definierten Raumes für die Identitätsentwicklung und -stabilisierung«108 aufgezeigt, indem empfundene Verunsicherungen, Orientierungslosigkeit, das stumme Leiden und der Schmerz der Protagonistin einhergehen mit syntaktischen Brechungen und Zersplitterungen auf sprachlicher Ebene, welche gleichsam das Zerbrechen des Körperraums und den damit verbundenen IchVerlust nachvollziehbar darstellen. Verstärkt wird dies zudem durch die Metaphorik des Fließens und der fließenden Formen ihres Körpers sowie den Wunsch zu zerrinnen und die eigene Existenz vollständig aufzulösen.109 Auch die Bewegungen Selmas in und zwischen den Räumen zeigen ihre Auswirkungen auf die damit eng verknüpften multisensorischen Sinneseindrücke der Figur, welche ihre krisenbehaftete Existenz verkörpern und den Ich-Verlust auf physischer und psychischer Ebene komplettieren. Resümierend ist festzuhalten, dass durch die besondere sprachliche Gestaltung, verknüpft mit den genannten urbanen und somatischen Schauplätzen des Romans, Fragen nach weiblicher Existenz und Identität sowie deren Zerfall kritisch reflektiert werden.
106 S. Altnöder: »Die Stadt als Körper«, S. 308. 107 Ebd., S. 303. 108 N. Würzbach: »Raumdarstellung«, S. 52. 109 Vgl. M. Streeruwitz: Entfernung., S. 183.
Körper-Raum zwischen Materialität und Metaphorik Eine erzähltheoretische Vermessung am Beispiel Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981)
U RANIA M ILEVSKI
Im Zuge des sogenannten spatial turn, der Raumwende in den Wissenschaften, stieß die Betrachtung des Raumes auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung auf gesteigertes Interesse. Trotz des vielfach entstehenden Eindruckes, dass Raum respektive räumliche Gegebenheiten in philologischen Abhandlungen vor der Deklaration dieser Raumwende nie Eingang gefunden hätten, ist es doch vielmehr so, dass Raum bis zum entsprechenden ›Turn‹ meist Nebenschauplatz literaturwissenschaftlicher Studien war. Diese Gewichtung hat sich geändert – literaturwissenschaftliche Raumtheorie ist ein blühendes, äußerst produktives Forschungsfeld, das literarischen Raum zu interpretieren und zu theoretisieren sucht, um ihn nicht zuletzt definitorisch exakter fassbar zu machen. Michael C. Frank beschreibt diese ganz eigene Dynamik der sogenannten ›Turns‹ treffend, indem er die Verlagerung des Blickwinkels betont, sodass »sich die wissenschaftliche Wahrnehmung des untersuchten Gegenstandes auf einen bisher vernachlässigten Aspekt konzentriert, was letztlich den Gegenstand selbst transformiert.«1
1
Frank, Michael C.: »Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 53-80, hier S. 54.
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Der Aufsatz Franks, dem dieses Zitat entnommen ist, ist Teil eines Sammelbands von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann. Unter dem Titel Raum und Bewegung in der Literatur (2009) soll insbesondere den Raum-Neulingen unter den Literaturwissenschaftler_innen der Zugang zur Raumwende erleichtert werden. Hier und in vielen anderen Überblicksdarstellungen wurde das verhältnismäßig späte Einsetzen des spatial turn in den Literaturwissenschaften hervorgehoben. Die Marginalisierung räumlicher Kategorien, so Hallet und Neumann, habe »wohl viel damit zu tun, dass die Darstellung von Räumen vor allem in der narratologischen Forschung zumeist unter dem Oberbegriff der Beschreibung diskutiert wird.«2 Auch Natascha Würzbachs 2001 erschienener Forschungsbericht formuliert eine solche Einschätzung und verweist auf die »marginale oder bestenfalls sektorale Stellung«3 des Raumes innerhalb erzähltheoretischer Werke. Der Einfluss der Narratologie4 oder Erzähltheorie erklärt sich durch deren Status als Grundlagendisziplin der Literaturwissenschaft, neben Metrik, Rhetorik und Stilistik.5 In diesem Beitrag soll zunächst die von Würzbach und Hallet/Neumann formulierte Einschätzung geprüft werden, das verspätete Einsetzen der literaturwissenschaftlichen Raumforschung sei der Narratologie geschuldet. Die erzähltheoretischen Grundlagenwerken von Gérard Genette und Franz K. Stanzel dienen als Beispiele dafür, wie Raum erzähltheoretisch definiert und welcher Raumbegriff zugrunde gelegt wird. Trotz des sich stark unterscheidenden Zugangs der beiden Erzähltheoretiker wird eines deutlich: Sowohl Genette als auch Stanzel unterscheiden zwischen materialem und metaphorischem Raum. In einem zweiten Schritt soll es um die These gehen, dass die sektorale Stellung des Raumes innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung eben jener Teilung zuzuschreiben ist. Bei der Betrachtung neuerer narratologischer Forschung wird deut-
2
Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11-31, hier S. 19.
3
Würzbach, Natascha: »Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung«, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, S. 105-129, hier S. 105.
4
Der Terminus geht auf Tzvetan Todorov zurück, der ihn 1969 zum ersten Mal als Bezeichnung für »la science du récit« benutzte. Todorov, Tzvetan: Grammaire du décameron, The Hague/Paris 1969, S. 10.
5
Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 2003, S. 7.
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lich, dass diese Unterscheidung beibehalten wird. Konkreter Gegenstand der Erzähltheorie ist jedoch ausschließlich der nicht-metaphorische Raum. Die Wirkung des materialen Raumes, die in anderen Raumtheorien als symbolische Komponente bezeichnet oder als erzeugte Atmosphäre erfasst wird,6 wird von der Erzähltheorie aktiv aus der Analyse ausgeklammert. Dass eine solche Unterscheidung zwischen materialem und symbolischem Raum kaum trennscharf funktionieren kann, soll am Beispiel von Körperräumen verdeutlicht werden. Denn Raum weist – ebenso wie Geschlecht – über das Physische hinaus. Im letzten Teil des Aufsatzes wird eine exemplarische Analyse von Libuše Moníkovás Debütroman Eine Schädigung mit dem Instrumentarium Genettes und Stanzels angeschlossen. Um die Wechselwirkungen zwischen Raum und Geschlecht aufzuzeigen, die materialen und metaphorischen Implikationen von Raum einzubeziehen, soll versucht werden, die erzähltheoretischen Überlegungen mit einer soziologischen Raumtheorie zusammenzudenken.
L ITERATURTHEORIE
ALS
R AUMTHEORIE
Die Narratologie ging erst in den 1960er Jahren aus Überlegungen im Rahmen des Strukturalismus, der Semiotik und des russischen Formalismus hervor. Der bisherige Forschungsertrag ist enorm, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Narratologie für alle Literaturwissenschaften Bedeutung besitzt und international beforscht wird. Der Nachteil dieser simultanen Produktivität ist jedoch die Heterogenität der Ergebnisse. So gibt es wenige einheitliche Begrifflichkeiten und kaum Methodologien, die allgemein als Grundlagenwerke anerkannt werden. Es existieren aber durchaus einige einschlägige Arbeiten, die gleichwertig nebeneinander stehen und mittlerweile als narratologische Standardwerke betrachtet werden dürfen. Autor eines dieser einschlägigen Werke ist der französische Strukturalist Gérard Genette, welchem die Feststellung, dass Raum innerhalb einer erzähltheoretischen Systematik immer mit Beschreibung einhergehe, durchaus angelastet werden kann. So findet man sowohl in Diskurs der Erzählung als auch in Neuer Diskurs der Erzählung kaum Überlegungen zur Systematisierung des narrativen Raumes. Lediglich in Bezug auf die sogenannten »deskriptiven Pausen« vermerkt Genette in einer Fußnote, diese seien zwar weniger narrativ, weil sie keinen Fortgang der Handlung evozieren, durchaus seien sie aber »diegetisch, denn sie sind ja für das raumzeitliche Universum der Geschichte konstitutiv, so daß sie also fraglos zum narrativen Diskurs gehören [Hervorhebungen
6
Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 15f., S. 205f.
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G.G.].«7 Die Geschwindigkeit dieses Fortgangs der Handlung, das Tempo einer Erzählung also, wird berechnet, indem man die »Erzählzeit« (das heißt die Zeit, die man zum Erzählen benötigt, gemessen in Seiten und Wörtern) der »erzählten Zeit« (die im Text vergangene Zeit) gegenüber stellt. Da die Wiedergabe der räumlichen Begebenheiten die Erzählzeit ausdehnt, während die erzählte Zeit stagniert, verringert sich so das Tempo der Erzählung.8 Genette fertigte seine gesamte Methodologie auf Basis eines einzigen Erzähltextes an, Marcel Prousts sieben Bände umfassenden Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.9 In der Auseinandersetzung mit Genettes Erkenntnissen ist bereits vielfach festgestellt worden, dass die Konzentration auf Prousts Text sowohl die Schwer- als auch die Schwachpunkte zu erklären vermag. Dies gilt auch für die (Nicht-)Systematisierung von Raum. Im ersten Band, In Swanns Welt, setzt der Ich-Erzähler mit der Beschreibung des Dämmerzustandes ein, in dem er sich nachts befindet, nicht sicher wissend, ob er schlafe oder wache. Dabei passiere es, gibt er wieder, dass er sich manches Mal beim tatsächlichen Aufwachen in der Vergangenheit wähne, im Zimmer bei Madame Saint-Loup, wo er große Teile seiner Kindheit verbrachte: »So kam es, daß ich lange Zeit hindurch, wenn ich nachts aufwachte und an Combray dachte, nur einen von tiefer Dunkelheit umlagerten Ausschnitt davon sah […]: an der breiten Basis enthüllt dieser Ausschnitt den kleinen Salon, das Eßzimmer, den Eingang zu der dunkeln Allee, auf der Monsieur Swann, der ahnungslose Urheber meiner Kümmernisse, daherzukommen pflegte, das Treppenhaus, in dem ich meine Schritte zur ersten Stufe der Treppe lenkte, die für mich so grausam zu ersteigen war und die ganz für sich allein das Mittelstück dieser unregelmäßigen Pyramide bildete; an der Spitze aber mein Schlafzimmer und der kleine Gang mit der Glastür, […].«10
Wie der Titel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorwegnimmt, stellt der Ich-Erzähler den Vorgang des Erinnerns in den Mittelpunkt der Erzählung, welcher so den narrativen Diskurs maßgeblich bestimmt. Raum ist bei Proust also meist erinnerter Raum, dessen Beschaffenheit in Beschreibungen Erwähnung findet und erinnernd (re-)konfiguriert wird. Die Thematisierung von Raum kann
7
Genette, Gérard: Die Erzählung, München 1998, S. 67.
8
Vgl. ebd.
9
Der Originaltitel lautet À la recherche du temps perdu (1913-1927), hier zitiert nach Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übersetzt von Eva RechelMertens, Frankfurt a.M. 1961.
10 Ebd., Band I, S. 68f.
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im Fortgang der Handlung durchaus als eine Art Pausieren der Handlung gewertet werden: Der Ich-Erzähler muss sich zunächst im Raum seiner Erinnerung zurechtfinden, um anschließend auf die entsprechende Besetzung der räumlichen Gegebenheiten und die tatsächliche Figurenhandlung eingehen zu können. Dieser erinnerte Raum ist materialer Natur und umfasst das Haus seiner Tante, dessen Zimmer der Erzähler beschreibt. Trotz der wesentlichen Bedeutung des erinnerten Raums in Prousts Roman bleibt die systematische Auseinandersetzung mit erzähltem Raum bei Genette aus. Obwohl die von ihm konzeptualisierte Unterscheidung des narrativen Diskurses anhand der Leitfragen »wer sieht?« und »wer spricht?« zu »den besonders fruchtbaren Fortschritten der Erzähltheorie«11 gezählt wird, ist räumliche Wahrnehmung kein Gegenstand seiner Überlegungen. Innerhalb seiner Theorie der Fokalisierung betont er vor allem den Zustand eines dezidierten »Wissens« statt den Vorgang eines (zum Beispiel konkretvisuellen) »Sehens«, das auch Raum in den Fokus des Interesses rücken würde. Die Fokalisierung wird immer wieder als potenzielles Analyseinstrument räumlichen Denkens diskutiert,12 obwohl Raumwahrnehmung hier nur ein Indiz dafür liefert, wer die wahrnehmende Instanz ist,13 das heißt ob eine interne, externe oder Nullfokalisierung vorliegt. Zur Beantwortung der Frage, warum sich die deutschsprachige Literaturwissenschaft im Hinblick auf ihr Rauminteresse speziell von diesem französischen Erzähltheoretiker so stark beeinflussen ließ, existieren eine Vielzahl von Gründen. Jene angesprochene Heuristik einer Unterscheidung des narrativen Diskurses in Vermitteln und Wahrnehmen ist nur einer davon. Mit Blick auf das hierzulande ebenso populäre Werk Franz Stanzels jedoch, Theorie des Erzählens, ist die These eines grundsätzlichen räumlichen Desinteresses der Erzähltheorie kaum haltbar. Während Genette eine Art erzähltheoretischen Werkzeugkoffer konzipiert, dessen Elemente frei miteinander kombinierbar sind, besteht der Anreiz von Stanzels Methodologie in der Historisierung ganz bestimmter Erzählsituationen. Er unterscheidet zwischen der auktorialen, der personalen und der IchErzählsituation.14 Sein Typenkreis als Veranschaulichung der drei eröffneten
11 Jannidis, Fotis: »Wer sagt das? Erzählen mit Stimmverlust«, in: Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel (Hg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/New York 2006, S. 151-164, hier S. 151. 12 Vgl. Sasse, Sylvia: »Literaturwissenschaft«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, S. 225-241, hier S. 228. 13 Vgl. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes, Berlin 2009, S. 149. 14 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 1995, S. 68f.
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Oppositionen zwischen Person (Ich-Bezug vs. Er-Bezug), Modus (Erzähler vs. Reflektor) und Perspektive ist zu großer Bekanntheit gelangt und in jeder erzähltheoretischen Einführung zu finden.15 Hinsichtlich raumtheoretischer Überlegungen sind insbesondere die Ausführungen zur Perspektive interessant. So verhandelte Stanzel unter der wegweisenden Überschrift Perspektive und die Darstellung des Raumes bereits 1979 all das, was uns noch rund dreißig Jahre später im Zuge des spatial turn umtreibt: das räumliche Nebeneinander eines relationalen Konzepts, Ausprägungen von Aperspektivismus und dezidiert räumlich konnotierte Unbestimmtheitsstellen, deren Bedeutung, laut Stanzel, Frage eingehender Interpretation zu sein habe.16 Die Gegenüberstellung der Opposition von Innen- und Außenperspektive innerhalb seines Typenkreises, so Stanzel, diene »[…] in erster Linie der Beschreibung jenes Teilbereiches des Erzählvorganges, der die Apperzeption des Erzählten durch den Leser mittels der räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungskategorien steuert. Dabei scheint Innenperspektive eine gewisse Affinität zur Wahrnehmungskategorie Raum, Außenperspektive eine gewisse Affinität zur Wahrnehmungskategorie Zeit aufzuweisen. Als Folge davon kommt bei Vorherrschen von Innenperspektive die Perspektivierung im räumlichen Sinne stärker zum Tragen als bei der Außenperspektive: die Relation der Personen und Sachen zueinander im Raum, die optischen Fluchtlinien der Betrachtung und Schilderung einer Szene von einem fixierten Standpunkt aus nehmen an Bedeutung für die Interpretation zu. Auch die schärfere Horizontierung, also die Eingrenzung des Wissens- und Erfahrungshorizontes der Erzähler- oder Reflektorfigur […], gewinnt dabei an Aussagekraft.«17
Was Stanzel hier als Perspektivierung beschreibt, fasst in einer Situation zusammen, wer das Vermittelte des narrativen Diskurses wie respektive von wo aus wahrnimmt. Herrscht eine konsequente Außenperspektive vor, ist der Standpunkt der erzählenden Instanz insofern variabel, als dass sie von einem übergeordneten Punkt aus erzählt. Daraus folgert Stanzel, dass eine auktoriale Erzählposition räumlichen Relationen keine übergeordnete Bedeutung zumisst. Mit der Allwissenheit der Erzählinstanz geht einher, dass auch Vorgänge des Wahrnehmens keine explizite Position innerhalb der Vermittlung des Geschehens bekleiden. Im Gegensatz dazu ist eine Innenperspektive, wie sie in einer personalen
15 Vgl. M. Martínez/M. Scheffel: Erzähltheorie, S. 89f.; Lahn, Silke/Meister, Jan-Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar 2008, S. 76f.; Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin/New York 2008, S. 116f. 16 F. K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 149f. 17 Ebd.
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oder einer Ich-Erzählsituation vorherrscht, bestimmt durch den oder die IchErzähler_in oder die Figur, aus deren Perspektive erzählt wird. Weil in diesen Zusammenhängen ein bestimmter Blickwinkel eingenommen wird, spielen sowohl die Darstellung räumlicher Gegebenheiten sowie deren Wahrnehmung gewichtigere Rollen im narrativen Diskurs. Das Besondere an der Formulierung Stanzels ist die Erwähnung der »Apperzeption des Lesers«, die mit der Vermittlung von raum-zeitlichen Orientierungspunkten einhergehe. Der Leser verarbeitet also Erlebnis-, Wahrnehmungsund Denkinhalte,18 die er aus der ihm vermittelten Perzeption innerhalb des literarischen Erzähltextes gewinnt. Raum-zeitliche Orientierung speist sich damit nicht nur aus diffusen Kategorien wie Genettes »Wissen« oder dem »Sehen« als Erfassung physikalischer Abmessungen von Raum. Es bedarf zusätzlicher Sinne zur räumlichen Wahrnehmung, insbesondere durch die figurale Konzeption von Erzähler_innen. Zusammengefasst bedeutet dies: Wenn, wie Stanzel sagt, davon auszugehen ist, dass räumliche Wahrnehmungskategorien die Informationsverarbeitung der Rezipierenden steuern und so aus einzelnen sinnlichen Inhalten eines Erzähltextes ein entsprechendes Raumkonzept entsteht, speist sich dieser imaginierte Raum nicht nur aus Darstellungen von räumlichen Gegebenheiten, sondern zudem aus textuell inszenierten Wahrnehmungsprozessen. Doch trägt die raumnarratologische Entwicklung diesem frühen Gedanken Stanzels Rechnung?
N EUERE A NSÄTZE ZUR E RFASSUNG VON NARRATIVEM R AUM Unter »Narrative Space« fasst Marie-Laure Ryan im Artikel des Living Handbook of Narratology die folgende Basisdefinition von fiktionalem Raum: »Space is the physically existing environment in which characters live and move.«19 In dieser Konzentration auf ›konkreten Raum‹ manifestiert sich das strukturelle Er-
18 Spree, Axel: Apperzeption, in: Handwörterbuch Philosophie, Göttingen 2003, http://www.philosophie-woerterbuch.de/onlinewoerterbuch/?title=Apperzeption&tx_ gbwbphilosophie_main[entry]=132&tx_gbwbphilosophie_main[action]=show&tx_gb wbphilosophie_main[controller]=Lexicon&cHash=a24c9a2c18fb1963eac96614f6fd9d 35 vom 11.04.2014. 19 Ryan, Marie-Laure: »Space«, in: Peter Hühn/John Pier/Wolf Schmid/Jörg Schönert (Hg.), Living Handbook of Narratology, Hamburg, http://hup.sub.unihamburg.de/lhn/ index.php/Space vom 07.01.2015.
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be der Erzähltheorie und deren ursprünglicher Anspruch, als Beschreibungsinstrumentarium die textuellen Strukturen eines Werkes zu erfassen, ohne eine entsprechende (Aus- oder Be-)Wertung einfließen zu lassen. Auch Ryan betont die Unterscheidung zwischen metaphorischer Konzeptualisierung und wörtlicher Bedeutung, die dem Sprechen über Raum voranzustellen sei.20 Noch einen Schritt weiter geht Katrin Dennerlein, die in ihrer Narratologie des Raumes feststellt, dass metaphorische Implikationen von Raum sowie dessen Rolle als kultureller Bedeutungsträger oder soziales Produkt in Gänze außen vor gelassen werden müssten, da sie »mit dem narratologischen Ideal einer möglichst wertfreien Beschreibung und Analyse«21 konfligierten. Im Gegensatz zu den übrigen hier vorgestellten Arbeiten ist erzählte Wahrnehmung für Dennerlein tatsächlich kein Aspekt der Erfassung von narrativen Räumen. Wenn sie von ›konkreten‹ Räumen als »sinnlich, anschaulich gegeben« spricht,22 geht es vornehmlich um solche, die innerhalb des Reglements der erzählten Welt zur Umgebung von Figuren werden können und entsprechend auch »wahrnehmungsunabhängig«23 existieren. Die Thematisierung von Raum kann also »situationsbezogen« sein oder »nicht situationsbezogen«.24 Nicht situationsbezogen sind beispielsweise Beschreibungen von räumlichen Gegebenheiten als Vergabe von »Informationen zur Materialität […], ohne dass im selben Teilsatz, Satz oder Abschnitt ein bestimmtes einmaliges Ereignis erwähnt wird[.]«25 Wird jedoch ein Ereignis erzählt, avanciert dessen räumliche Komponente entsprechend zur Ereignisregion. Dennerlein liefert damit ein erzähltheoretisches Instrumentarium, das sich explizit außerhalb der Überlegungen des spatial turn verortet und sich auf die Analyse der Materialität von narrativem Raum beschränkt. Dabei fokussiert sie ausdrücklich die Erzeugung räumlicher Gegebenheiten innerhalb eines Leser_innenText-Kommunikationsmodells und referiert in diesem Zusammenhang auf eine Alltagsvorstellung von Raum als Container, die sie aus der Geografie auf erzählten Raum überträgt.26 Narrativ inszenierte Prozesse der Wahrnehmung und Vermittlung spielen in der neueren narratologischen Forschung keine übergeordnete Rolle, wie an den exemplarischen Beispielen von Ryan und Dennerlein aufgezeigt werden kann.
20 Ebd. 21 K. Dennerlein: Narratologie des Raumes, S. 6. 22 Ebd., S. 48. 23 Ebd., S. 60. 24 Ebd., S. 118f. 25 Ebd., S. 239. 26 Ebd., S. 176f.
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Insbesondere letztere unterscheidet in ihrer Methodologie zwar zwischen wahrgenommenem und erzähltem Raum, allerdings immer im Hinblick auf die Prämisse, dass jener Raum potenziell zur Umgebung einer Figur werden kann. Doch was ist mit physisch-materialem Raum, der strenggenommen zur Figur gehört und zugleich sowohl wahrgenommener als auch erzählter Raum ist? Körperräume stellen für alle erzähltheoretischen Zugänge zu räumlichen Gegebenheiten eine Herausforderung dar. Und das, obwohl der Körper innerhalb vieler Raumtheorien als Ausgangspunkt der Argumentation, als Basis der Raumwahrnehmung fungiert.27 Ein wichtiges Kriterium für diese problematische Stellung mag sein, dass Körperraum am offensichtlichsten sowohl materiale als auch metaphorische Eigenschaften in sich vereint, die kaum voneinander zu scheiden und deswegen erzähltheoretisch schwer zu fassen sind.
K ÖPERRAUM
ALS S CHNITTSTELLE ZWISCHEN MATERIALEM UND METAPHORISCHEM R AUM
Die Analyse narrativ evozierter Körperräume verlangt also nach einer Raumtheorie, die einerseits Wahrnehmung und Vermittlung als Raumkonstruktionsprozesse zu betrachten vermag. Andererseits sollte ein entsprechender Zugang sowohl materiale als auch metaphorische Eigenschaften dieses Raumes einbeziehen. Eine sinnvolle Ergänzung für die erzähltheoretische Forschung könnte in diesem Zusammenhang Martina Löws Raumsoziologie sein. Löw beschreibt die Notwendigkeit aller Sinne zur Erfassung von räumlichen Strukturen als die Dringlichkeit, der physikalischen Materialität eine bestimmte Außenwirkung zur Seite zu stellen. Durch subjektivierte Vorgänge der Perzeption werde Raum erzeugt als »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten.«28 Löw erfasst mit dem Terminus der sozialen Güter nicht nur primär materiale Komponenten wie Türen, Wände oder Fenster, sondern zudem Bestandteile, die zwar keinerlei physikalische Ausdehnung haben, dafür aber über einen erhöhten symbolischen Gehalt verfügen, und trotzdem Raum be-
27 Vgl. u.a. Lakoff, George/Johnson, Mark: Methapors We Live By, Chicago/London 1980, S. 29; Strüver, Anke: »KörperMachtRaum und RaumMachtKörper. Bedeutungsverflechtungen von Körpern und Räumen«, in: Sybille Bauriedl/Michaela Schier/dies. (Hg.), Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn, Münster 2010, S. 217-237; M. Löw: Raumsoziologie, S. 115f. 28 M. Löw: Raumsoziologie, S. 271.
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grenzen: Regeln, Werte oder Vorschriften beispielsweise.29 Zwei Prozesse sind maßgeblich für die Kombination dieser einzelnen Elemente zu Raum verantwortlich: zum einen das sogenannte Spacing, das Plazieren30 von sozialen Gütern und Menschen an bestimmten Orten, zum anderen die Syntheseleistung, die ebenjene »relationale (An)Ordnung«31 durch apperzeptive Prozesse verknüpft. Beide Abläufe sind unmittelbar mit Wahrnehmungsvorgängen aller Sinne verflochten. Die Konstitution von Räumen, so Löw, »geht mit Wahrnehmungen einher, die sowohl auf der Außenwirkung der sozialen Güter und anderer Menschen basieren als auch auf der Wahrnehmungsaktivität des Konstituierenden. Dies bedeutet nicht, daß Wahrnehmung unmittelbar ist. Unterschiedliche Wahrnehmungsforscherinnen […] belegen, daß auch Wahrnehmung einem Aussonderungsprozeß unterliegt.«32
Wo Löw, Niklas Luhmann zitierend, von der »Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raumes«33 spricht, um als sogenannte »Atmosphären« solche Begrenzungen zu betonen, die über räumliche Materialität hinausgehen, bleibt die narratologische Forschung dieser Materialität des physischen Raumes verpflichtet. In der folgenden Analyse soll nun mit Stanzel und Genette gearbeitet werden, mit Perspektive und Fokalisierung, die durch Löws Zugang zu Körperräumen ergänzt werden.
R ÄUME DER G EWALT E INE S CHÄDIGUNG
IN
L IBUŠE M ONÍKOVÁS
Moníkovás Debüt Eine Schädigung ist Jan Palach gewidmet, dessen Name den geschichtlichen Rahmen eröffnet, in dem die Handlung situiert ist, ganz im Sinne des von Marie-Laure Ryan definierten »Setting« als »general socio-historicogeographical environment in which the action takes place.«34 Als Prager Früh-
29 Vgl. ebd., S. 153f. 30 Hier orientiere ich mich an der Schreibweise Löws, die auf das ›t‹ verzichtet, um die Nähe zum französischen und englischen Wort place zu betonen. 31 M. Löw: Raumsoziologie, S. 271. 32 Ebd., S. 197. 33 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 181, zitiert nach M. Löw: Raumsoziologie, S. 205. 34 M.-L. Ryan: »Space«.
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ling werden die Versuche der Tschechoslowakei bezeichnet, das stalinistische Erbe Russlands abzulegen, zugunsten einer Rückkehr zum ›wahren‹ MarxismusLeninismus, dem ideologischen Pfad des eigentlichen Sozialismus.35 Diese Bestrebungen wurden maßgeblich von Studierenden und Schriftsteller_innen als intellektuellen Gruppen unterstützt. Abschaffung der Zensur, Freiheit für Wissenschaft, Kunst und Literatur – so lauteten die gestellten Forderungen. Doch die Reformbewegungen unter der Leitung von Alexander Dubek fanden ein jähes Ende, als am 20. August 1968 die Truppen der Warschauer Fünf die Grenzen des Landes übertraten und die Tschechoslowakei in wenigen Stunden besetzten. Von der intervenierenden Sowjetunion ausgehend, wurden die Reformer schließlich gezwungen, ihr eigenes Werk zu vernichten. Am 16. Januar 1969 entzündete sich der Student Jan Palach aus Protest gegen die Zerschlagung der Revolution auf dem Wenzelsplatz in Prag und starb wenig später an den schweren Verbrennungen. Mit der vorangestellten Widmung ruft Moníková all diese Assoziationen auf, das Wissen um Unterdrückung und Ohnmacht des tschechischen Volkes – und auch das entsprechende Setting des besetzten Prags. Ein Narrativ, welches mitgedacht werden muss, wenn es um die Analyse des Romans geht und von ihm als Verweis auf die aktuale Welt36 immer wieder aufgerufen wird. Der Text erzählt die Geschichte der Studentin Jana, die sich ihre Ausbildung als Straßenbahnführerin finanziert, und beginnt mit den folgenden Worten: »Wenn sich nach langer Bewegungslosigkeit der Wind erhebt, ist die alte Straßenbahn bereits auf der Endstation angekommen. Sie schwankt auf dem Hügel um die kahlen Neubauten, die die Stadt beschließen, fährt hinunter und beginnt den Rückweg. Im geometrischen Plan der Straßen und Gebäude bilden die wenig befahrenen, fast unnützen Gleise eine aufweichende Linie. Der Fahrer ist eine Studentin, die in den Ferien verdienen muß, die Nachtschicht verkürzt sie sich mit einem Wettlauf.«37
Jana wird regelmäßig für die Nachtschicht der Linie eingesetzt, die das neue Zentrum der Stadtverwaltung auf dem Berg und den Kai miteinander verbindet. Meist befördert sie nur wenige Fahrgäste, wirken die kafkaesken Türme des Neubaus doch bedrohlich und sind zugleich Zeichen und Akteur der Unterdrükkung des Volkes. Wo früher Ausflügler den Blick über die Stadt genossen, fah-
35 Vgl. Veser, Reinhard: Der Prager Frühling 1968, Erfurt 1998, S. 7. 36 Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/New York 2004, S. 67. 37 Moníková, Libuše: Eine Schädigung, Berlin 1981, S. 7.
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ren nur noch »die Angestellten«38 auf den Berg, von wo aus nun alles kontrolliert wird. Jana verkürzt sich die einsame Fahrt, indem sie mit der bergab rollenden Bahn ein Stück um die Wette läuft. Doch dieser Wettlauf nimmt plötzlich eine andere Wendung, ihr Weg ist blockiert. Das ehemalige Ausflugsgelände ist buchstäblich über Nacht zum Sperrgebiet geworden. Sie kollidiert im Dunkeln mit einer neu errichteten Absperrung. Ein Polizist, der sie aufgreift, glaubt an ein Einbruchsdelikt. Als er begreift, dass das Mädchen mit den kurzen Haaren kein Einbrecher ist, vergewaltigt er es. Jana rächt sich dafür, indem sie ihn mit seinem Schlagstock richtet, seine Leiche zum Kai schleppt und in den Fluss wirft. Blutverschmiert und völlig außer sich findet sie Unterschlupf im Hausboot Maras, die ihr zu Hilfe kommt. Auch wenn Prag selbst nie benannt wird, lassen zahlreiche topografische Verweise keinen Zweifel daran, wie diese Unbestimmtheitsstellen zu füllen sind: »Sie fuhren jetzt durch Straßen, die nicht mehr zum Zentrum gehörten, die Fahrbahn war leer geworden und das Taxi raste, wahrscheinlich wollte der Fahrer die Tour schon hinter sich haben. […] Jana fühlte sich durch die weiche Bewegung getragen, hätte aber gern mehrmals angehalten und die auffälligen Häuser von der Nähe ansehen wollen, die hier stellenweise erschienen. Sie fuhren durch das kubistische Viertel; sie kannte einige Gebäude von Fotografien, wußte aber nie richtig, wo sie eigentlich standen.«39
Die Bewegung der Protagonistin Jana durch den urbanen Raum ist eng verwoben mit der Handlungsstruktur des Romans und so ist auch Prag viel mehr als ein Setting in Eine Schädigung. Wie eng der Zusammenhang zwischen dem aktualen Prag und demjenigen der Diegese ist, wird durch die unten zu sehende Karte von Eva Markvartová im Zuge des Projektes Literaturatlas Europas deutlich.
38 Ebd., S. 9. 39 Ebd., S. 35.
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Abbildung : Eva Markvartová: Prag im Werk von Libuše Moníková
Quelle: http://www.literaturatlas.eu/2012/01/01/prag-im-werk-von-libuse-monikova/ vom 17.03.2014.
Doch erschöpft sich die Analyse räumlicher Gegebenheiten in Moníkovás Debüt nicht im Nachzeichnen des urbanen Bewegungsraumes. Vielmehr gewinnt die Erzählung erst durch die Wechselwirkungen zwischen der erzählerischen Vermittlung und Janas Wahrnehmung einerseits und dem Verhältnis von physischem (Stadt-)Raum zu diskursiv hergestelltem Körperraum andererseits an Brisanz. Der Roman beginnt mit einer auktorial anmutenden Erzählsituation. Die Protagonistin wird als »das Mädchen«40, von dem wir erst später erfahren, dass es Jana heißt, eingeführt, ebenso namenlos bleibend wie »die Stadt«.41 Diese Außenperspektive nähert sich im Laufe des ersten Kapitels zunehmend einer Innenperspektive an. Die Erzählinstanz vermittelt zunächst einen Überblick über die geografischen Aspekte der Stadt, die Anlage der Straßenbahnschienen, den »geometrischen Plan der Straßen«42 und die Neubauten auf dem Berg, gibt diese übergeordnete Position jedoch nach und nach auf. Die Bewegung nach Innen
40 Ebd., S. 7f. 41 Ebd. 42 Ebd.
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beginnt mit der Wiedergabe der Bedrohungssituation in der Stadt: »An die neuen Türme kann sich niemand gewöhnen. […] Unter den Dächern wird registriert, verglichen, die Archive füllen sich. Wozu es gut sein wird, weiß niemand, die Zeitungen bringen keine Details. Jeder fühlt sich beobachtet, die Beklommenheit in der Stadt nimmt zu.«43 Die Pronomen »jeder« und »niemand« identifizieren die sprechende Instanz als der unterdrückten Mehrheit zugehörig, während sie sich gleichzeitig (noch) von Jana als »das Mädchen« distanziert. Hier macht sich eine Unterscheidung in eine sehende und eine sprechende Instanz, wie sie Genette vorschlägt, durchaus bezahlt. Denn dieser Übergang von einer Nullfokalisierung zu einer internen Fokalisierung manifestiert sich in der Diskrepanz von Wissen. Die Erzählinstanz erweckt zunächst den Eindruck, mehr zu wissen als die Figur, indem sie die Begleitumstände von Janas Anstellung kennt und weiß, »[d]ie Stillegung der Straßenbahn ist nur noch eine Frage von Stunden.«44 Gleichzeitig jedoch scheint diese Erzählinstanz weder den Namen des Mädchens zu kennen noch die eigentliche Funktion der bedrohlichen Wachtürme.45 Die ankündigenden Worte »[i]hr letzter Lauf endet anders«46 läuten den Anfang einer personalen Erzählsituation ein, beziehungsweise den Übergang zu einer bis auf wenige Ausnahmen konsequent durchgehaltenen internen Fokalisierung des Textes. Als Jana aus der Ohnmacht erwacht, die auf ihren Zusammenprall mit dem neu errichteten Tor folgt, ist sie Reflektorfigur mit einer konstanten Innenperspektive. Wir sehen durch Janas Augen und fühlen Janas Schmerzen während ihrem Körper das Geschlecht auf brutalste Weise eingeschrieben wird, als der Polizist ihn sich unterwirft: »[…]dabei nimmt sie jede Einzelheit wahr, neben dem wühlenden Schmerz inmitten ihres Körpers, den gelähmten Schienbeinen und dem Stechen im Kopf mit der nässenden Wunde an der Stirn spürt sie den rauhen Uniformstoff auf ihren nackten Beinen, die Kälte des Pflasters, die gefesselten Hände verdreht unterm Gewicht von zwei Körpern und im Gesicht das Haar des Polizisten […].«47
Einzelne Elemente ihres Körpers werden im Fortgang der Handlung Stück für Stück als entkoppelt wahrgenommen. Janas Mund verstopft der Polizist mit einem Lappen und nimmt ihr die Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Die lautlosen
43 Ebd., S. 8f. 44 Ebd., S. 10. 45 Vgl. ebd., S. 11. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 16.
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Schreie »sintern«48 die Lunge, werden als so heiß imaginiert, dass sich die Poren der Lunge zusammenziehen und erhärten, »sie nicht mehr atmet, nicht lebt«.49 Beine, Augen, Kopf und Ohren, keines ihrer Organe verbleibt in seiner Funktion unbeeinträchtigt. Das Zusammenspiel ihres Körpers, das sie noch kurz zuvor im Lauf erprobte, erlahmt endgültig, als der Polizist in sie eindringt: »Die Last des Haufens in Uniform und ein stumpfer, zerreißender Schmerz inmitten ihres Körpers, der immer weiter in ihr schneidet, alle Gewebe und Bänder durchsticht – das ist das Ende, denkt sie unklar […].«50 Die Innenperspektive, die hier konsequent durchgehalten wird, fügt sich so in Stanzels Feststellung ein, dass mit der Wahrnehmung der Figur, die im Mittelpunkt stehe, eine Fokussierung der wahrgenommenen räumlichen Fluchtlinien einhergehe.51 Wo sich jedoch in Stanzels Verständnis wahrgenommener Raum immer auf physisch-geografischen Raum bezieht, fokussiert die Innenperspektive Janas im Gewalterleben vor allem den zum Kriegsschauplatz gewordenen Körperraum. Auch wenn der Schmerz der gewaltsamen Penetration als scharfer Gegenstand metaphorisiert wird, hat die Ausdehnung von Janas Körperinnerem eine physisch-materiale Komponente. Die erlebte Vergewaltigung ist somit auch eine Grenzüberschreitung räumlicher Natur, die nicht nur Raum, sondern auch Geschlecht produziert. Das Ende Janas ist dieses Gewalterlebnis jedoch nicht, ihrer Überzeugung zum Trotz. Als der Polizist sie aus dem Sperrgebiet entfernen will, ist er einen Moment unaufmerksam. Jana bekommt seinen Schlagstock zu fassen und prügelt den Polizisten zu Tode. Dabei resynthetisiert52 sie ihren zuvor als entkoppelt wahrgenommenen Körper. Erst die Gegengewalt ermöglicht es ihr so, sich »in einen Zustand zu versetzen, in dem sie sich wieder benennen konnte«53 und die als abgetrennt wahrgenommenen Teile ihres Körpers neu zu verbinden. Wo diese diskursivierte Auffassung von Körperlichkeit artikuliert wird, steht das Wechselverhältnis von Raumempfinden und Körperempfinden im Mittelpunkt. Noch vor dem Übergriff des Polizisten hatte ihr Geschlecht kaum eine Rolle gespielt. Nun jedoch synthetisiert sie die Elemente ihres Körpers um ihre Mitte:
48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 F. K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 149f. 52 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 198f. 53 L. Moníková: Eine Schädigung, S. 24.
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»Das Gesicht des Polizisten verendete ehe sie voll bewußt wurde, sie kannte ihr Geschlecht, weil es brannte und blutete, sie wußte, daß es weiblich war, und ergänzte die entsprechenden Organe, setzte den Kopf auf, aber da lag ihr der Polizist bewegungslos zu Füßen, und der Faden der Selbsterinnerung, die Kette der Wörter, die aus den Schlägen geflogen kamen, brach ab, die Konstruktion blieb unfertig. Ihr Körper, neu zusammengestellt aus Begriffen, stand da.«54
Auch wenn Stanzel in seiner Theorie des Erzählens insbesondere Ich-Erzähler als ein »Ich mit Leib«55 versteht, während Erzählungen in der dritten Person Singular grundsätzlich »keine[m] existenziellen Zwang zum Erzählen«56 unterliegen: Die Konzentration auf die Vergewaltigung als Grenzerfahrung macht den Zusammenhang zwischen Leiblichkeit und Räumlichkeit überdeutlich. Denn erst, als Jana durch den Mord an ihrem Peiniger ihren Körper zurückerhält, erlangen auch die räumlichen Gegebenheiten wieder Bedeutung: »Sie arbeitet jetzt überlegt. […] Die kleine Tür im Tor ist nicht verschlossen, am Kai entlang fährt ab und zu ein Wagen, aber noch selten, aus dem Fluß steigt Dampf. Sie schließt hinter sich den Eingang in dem neuen frischen Tor, liest automatisch das große warnende Schild darauf und schleppt den Körper über die Straße auf den Bürgersteig am Kai.« 57
Die Kriegssoziologin Ruth Seifert begreift Vergewaltigung im Sinne eines gewaltsamen Eindringens in das Innere eines Menschen als »schwersten denkbaren Angriff auf das intimste Selbst«58 und insofern als Kennzeichen schwerer Folter. Der Schmerz, der im Zuge dieser Folter geschaffen werde, so können die Erkenntnisse von Elaine Scarrys Studie Der Körper im Schmerz angeschlossen werden, diene der systematischen Zerstörung und Auflösung der Sprache als Referenzsystem.59 Diese Auflösung eines Referenzsystems wird in der Darstellung von Eine Schädigung verdeutlicht, indem sich Jana erst nach ihrer Gegenwehr wieder benennen kann. Doch nicht nur die sprachliche, auch die räumliche Ori-
54 Ebd. 55 F. K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 127. 56 Ebd., S. 128. 57 L. Moníková: Eine Schädigung, S. 18. 58 Seifert, Ruth: »Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse«, in: Alexandra Stiglmayer (Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen, Frankfurt a.M. 1993, S. 85-108, hier S. 89. 59 Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1992, S. 35f.
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entierung kehrt daraufhin zurück. Die gewaltsame Subjektgenese bleibt zwar »unfertig«,60 doch kann Janas Körpermitte als Ausgangspunkt ihres wiederkehrenden Raumsinns gesetzt werden. Sie findet sich buchstäblich im Raum wieder, indem nun physikalisch-räumliche Gegebenheiten Gewicht erhalten. Die nicht verschlossene kleine Tür, durch welche Jana die Leiche schleppt, die Entfernung zum Kai, die sie einschätzen und bewältigen muss, die Straße, die sie dafür überquert. In welcher Beziehung Körperraum und Lebensraum in diesem Zusammenhang stehen, reflektiert Jana selbst wenig später im Wiedererleben der Ereignisse: »Aus den Hebungen und Schlägen des Armes rissen Begriffe auf, Bezeichnungen für ihren Körper. Für die Umgebung reichte es nicht, zuerst mußte der Baukasten der eigenen Person gefüllt sein.«61 In Kombination mit Löws raumsoziologischen Termini wird die Inszenierung von Stadt- und Körperraum erst fassbar. Das Synthetisieren der Einzelelemente ihres als weiblich wahrgenommenen Körpers ist Initiationsmoment für die übrigen Raumpraktiken und Plazierungsprozesse Janas – sowohl für die Gegenwehr als auch für die Flucht durch die Stadt. Das Wissen um den eigenen Körper also, die Fähigkeit ihn als Referenzpunkt für die restliche Welt zu nutzen, markiert Janas Prozess der Subjektwerdung. Dieser komplettiert sich jedoch erst mit der Anrufung durch eine andere Stimme. Als eine Passantin, die sich als Mara vorstellt, sie unter der Brücke am Kai auffindet, sie in ihr Haus einlädt, versorgt und sich Jana schließlich mit ihrem Namen vorstellt, wird sie vom Opfer einer (beliebigen) Schädigung zur Überlebenden der Vergewaltigung. Dieser Vorgang wird in Janas eigenen Worten beschrieben: »Sie entfernte sich [vom Tatort U.M.] ohne Einmaligkeit, ohne Vergangenheit und ohne einen Sinn von sich zu haben, bis ein ausgestreckter Arm sie aufhielt und die Stimme, die vervielfacht von der Brückenwölbung zurückgehallt hatte, klar wurde. In dem Moment, als sie verstand, fand sie ihre Besonderheit wieder. Der Aufenthalt durch Mara hatte ihr das Gefühl zurückgebracht, daß sie gemeint wurde, und wer das war.«62
Das endgültige Einrasten einer Innenperspektive zeichnet Janas Ich-Werdung nach. Ausgehend von ihrem eigenen Körper erlernt sie die Wahrnehmung ihrer physischen Umgebung völlig neu, womit auch eine symbolische Neubewertung dieser Umgebung einhergeht. Überall manifestieren sich nun die unterdrücken-
60 L. Moníková: Eine Schädigung, S. 24. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 25.
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den Strukturen überdeutlich. Sei es in der Kleidung ihrer modisch angezogenen Kommilitoninnen, deren plumpes Schuhwerk und »Zwanghosen«63 weibliche Labilität und physische Ohnmacht demonstrieren. Sei es in der allgegenwärtigen Unsicherheit einer Stadt, die von außen angegriffen wird, raummetaphorisch konnotiert durch den »Betongürtel der Neubauten«64, der sich stetig enger schnallt und unterdrückende Konformität verheißt. Der Ort und die entsprechende Rolle, die Jana vorher im gesellschaftlichen Gefüge hatte, ihre Praktiken, Rechte und Pflichten müssen modifiziert werden, um sich auch im physischen Raum wieder zurechtfinden zu können. Diese Neuordnung ihrer physischen und gesellschaftlichen Umgebung manifestiert sich in Janas Bewegungen im Stadtraum. Der »Gewalt der Straße«65 zum Trotz erobert sie sich die Stadt neu, deren Bedrohung sie früher so wenig merkte, die nun jedoch in jedem räumlichen Detail offenbar wird. Das gesperrte Gelände auf dem Berg, Brücke und Kai, Maras Hausboot – all diese Orte fungieren als Ereignisregionen im Sinne von Dennerleins Definition. Sie sind die Umgebung der Ereignisse der ersten Kapitel von Moníkovás Erzählung einer Schädigung. Insbesondere für die Bezüge zum aktualen Prag ist die Erfassung dieser erzählten Räume wichtig, liefern doch Paratexte (die Widmung an Jan Palach) und das Wissen um die historischen Zusammenhänge einen Rahmen, den es bei der Analyse und Interpretation des Textes mitzudenken gilt. Die Frage, wer diesen erzählten Raum wahrnimmt, ist dabei nicht unerheblich. Während Genettes Fokalisierung sich weniger auf die Wahrnehmung des Raumes als vielmehr auf das vermittelte Wissen konzentriert, ist in Stanzels Erzählsituationen ein dezidierter Raumbezug durchaus zu finden. Insbesondere Stanzel betont die Bedeutung, die räumliche Fluchtlinien im Zusammenhang mit einer Innenperspektive haben. Die Inszenierung dieser räumlichen Fluchtlinien konnte in Eine Schädigung nachgezeichnet werden. Einer vielfach proklamierten Raumverdrossenheit der Narratologie, die die Raumwende in den Literaturwissenschaften wenn nicht hemmte, so doch verlangsamt habe, kann also nur bedingt zugestimmt werden.
63 Ebd., S. 33. 64 Ebd., S. 74. 65 Ebd., S. 51.
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Z USAMMENFASSUNG Bei der Auseinandersetzung mit den erzähltheoretischen Überlegungen zur Beschreibung von erzähltem Raum wurde deutlich, dass besonders die Unterscheidung zwischen metaphorischem und materiellem Raum Ausgangspunkt der Narratologie ist. Wo jedoch die Grenze verläuft zwischen Metaphorik und Materialität, ist strittig. Die erzähltheoretischen Definitionen von materialem erzähltem Raum gestalten sich verschieden, haben jedoch gemeinsam, dass sie Körperraum exkludieren. Er gehört, trotz seiner Materialität, nicht in den Gegenstandsbereich dieser Definitionen. Der soziologische Ansatz Martina Löws versteht Körperraum als kleinste räumliche Einheit und skizziert so einen möglichen Anschlusspunkt an die erzähltheoretische Fragestellung. Denn im Zuge der Betrachtung von Libuše Moníkovás Debütroman konnte gezeigt werden, dass die Inszenierungen von Körperraum und Stadtraum mithin ein enges Verhältnis einzugehen im Stande ist. Dieses Verhältnis bestimmt sich über die Darstellung von Wahrnehmungs- und Vermittlungsprozessen, wie an der Präsentation Janas Schädigung deutlich wurde. Raum ist also nicht unbedingt statisch, wie es bei Genette anklingt. Vielmehr oszillieren räumliche Gegebenheiten zwischen sogenannten Ereignisregionen, die als Umgebung der Figuren fungieren, und produktiven Raumkonstitutionsprozessen, in welchen Figuren nicht als Mittelpunkt, sondern als Elemente des Ganzen funktionieren. Aber auch Stanzel würde die Machart des Textes Moníkovás als wenig dynamisch beschreiben, was weniger an den Beschreibungen des Stadtraums liegt als vielmehr an den seltenen Wechseln der Erzählhaltung. Die Annäherung einer zunächst auktorialen Erzählsituation an eine personale Erzählsituation und die konsequente Innenperspektive beschreibt er als sogenannte »Erzählschablone«,66 die er in dieser Form insbesondere bei Kafka vertreten sieht.67 Bei genauerem Hinsehen jedoch manifestiert sich die Dynamik in und durch Janas Perspektive. Die Blickrichtung zeitigt Konstitutionsprozesse, die Raum zwischen Symbol und Zeichen oszillieren lassen, und macht damit eine Forderung konkret: Die Forderung nach der erzähltheoretischen Beschreibung von Raum im Hinblick auf materiale und als metaphorisch wahrgenommene Aspekte, die nicht nur betrachten, wer sieht oder spricht, sondern auch wer oder was auf welche Weise wahrgenommen wird. Nur so können die Wech-
66 F. K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 105f. 67 Zum Zusammenhang von Kafkas Werk und Moníkovás Schreiben vgl. Windt, Karin: Beschädigung, Entschädigung – Überlieferung, Auslieferung. Körper, Räume und Geschichte im Werk Libuše Moníkovás, Bielefeld 2007, S. 30f.
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selwirkungen von Wahrnehmung und Vermittlung in Bezug auf Körperraum und Umgebungsraum Gegenstand einer ertragreichen Untersuchung werden.
III Dimensionen der Verortung
Dimensionen der Verortung S ABINE H ARK
Dimensionen der Verortung ist das Thema der in dieser Sektion versammelten Beiträge von Mart Busche, Jan-Henrik Friedrichs, Janina Geist und Kristina Schneider. Damit rücken ein sehr konkreter Aspekt und gleich mehrere Relationen raumtheoretischen Denkens in den Vordergrund: Erstens ›Ort‹ im Sinne von site – virtuelle Räume eingeschlossen – und dessen konkrete Materialität sowie die Bedeutung von Ort für Sozialität. Zweitens das Wechselverhältnis zwischen Raum, gedacht als space, und Ort, gedacht als site, etwa die Tatsache, dass Anordnungen im symbolischen sozialen Raum mit Anordnungen im physischen Raum interagieren, ja mehr noch: dass der soziale Raum und seine Hierarchien sich in den physischen Raum einschreiben und dieser wiederum jene stabilisiert, aber auch in Frage stellen kann. Und schließlich drittens das, was wir mit Pierre Bourdieu1 als durchaus widersprüchlich gefügten Konnex von Position und Disposition beschreiben können: Dass nämlich jeder äußerlichen Position, jeder Verortung, eine verinnerlichte Disposition, ein Habitus, entspricht, auch wenn die Internalisierung sozialer Ordnung niemals so weit geht, dass eine totale Übereinstimmung zwischen Disposition und Position, zwischen dem Körper als Ort der Hervorbringung des Sozialen und seiner aktuellen sozialen Position hergestellt wird. Verstehen wir Dimensionen der Verortung in dieser bourdieuschen Spur, geht es um Fragen wie diese: Wie werden Personen und Artefakte in je spezifischen, auch räumlichen Gegebenheiten platziert? Welche Dispositionen resultieren aus diesen Positionen und Positionierungen und wie wiederum affizieren und modifizieren jene die Positionen, das heißt wie verändern Personen und Artefak-
1
Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, Frankfurt a.M. 1985.
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te dadurch, wie sie sich die Relationen aneignen, die zwischen ihnen hergestellt wurden, nicht nur den sozialen Raum, sondern sehr konkret auch die Orte, an und in denen sie platziert sind? In diesem Licht betrachtet, ist dann Ort ebenso wenig wie Raum gegeben. Über beides verfügen wir nicht. Raum wird vielmehr gemacht: Durch die bewegte (An-)Ordnung von Körpern, durch die Platzierung sozialer Güter und Menschen in Spacing-Prozessen und schließlich durch die Synthese dieser sozialen Güter und Menschen, so die Raumsoziologin Martina Löw.2 Was die Raumsoziologie hier theoretisch artikuliert, ist, was wir täglich tun und erfahren: Wir bringen Raum hervor. Raum, so schon Georg Simmel, ist eine Tätigkeit des Subjekts: »Wir schauen nicht den Raum der Dinge als ein Objekt an, sondern das eben heißt Anschauen, dass wir Empfindungen in die eigentümliche, nicht zu beschreibende, nur zu erlebende Ordnung bringen, die wir Räumlichkeit nennen.«3 Raum ist darüber hinaus konfiguriert von geschlechtlich, sexuell und rassistisch kodierten Verhältnissen, von geschlechts- und klassenbezogenen sowie heteronormativen Ein- und Beschränkungen und schließlich durch Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Kapital. Denn (nicht nur) Geschlechter finden in Räumen und an Orten statt.4 Geschlecht und Sexualität, Klasse und ›Rasse‹ sowie geopolitische Positionierung entscheiden mithin über die Verfügung über soziale Güter und den Zugang zu sozialen Positionen, darüber, wer Raum wie gestalten kann. Raum ist folglich keine absolute, sondern eine relationale Kategorie; keine asoziale Voraussetzung von Sozialität, sondern ein soziales Produkt, eine Leistung von Menschen: Raum entsteht im Handeln. Das aber bedeutet, dass Raum in mehrfacher Hinsicht eine Kategorie sozialer Ungleichheit ist. Zum einen sind
2
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
3
Simmel, Georg: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität (1904), in: Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Gesamtausgabe, Band 9, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-226, hier S. 80. Siehe auch: Simmel, Georg: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908), in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Band 11, S. 687-790, Frankfurt a.M. 1992. Zu Georg Simmels Raumsoziologie siehe insbesondere Glauser, Andrea: »Pionierarbeit mit paradoxen Folgen? Zur neueren Rezeption der Raumsoziologie von Georg Simmel«, in: Zeitschrift für Soziologie 35/4 (2006), S. 250-268.
4
Siehe hierzu jüngst die Beiträge in Bauriedl, Sybille/Schier, Michaela/Strüver, Anke (Hg.): Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im Spatial Turn, Münster 2010.
D IMENSIONEN DER V ERORTUNG
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die »Möglichkeiten, Räume zu konstituieren, […] abhängig von den in einer Handlungssituation vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren, vom Habitus der Handelnden, von den strukturell organisierten Ein- und Ausschlüssen sowie von den körperlichen Möglichkeiten«.5 Zum anderen ist Raum sozial und politisch nicht ›unschuldig‹, denn die Chancen, Raum zu konstituieren, sind ungleich verteilt. Wenn also nicht alle die Räume schaffen können, die ihnen entsprechen und Raum keine flüchtige soziale Leistung ist, tragen diejenigen Räume, die sich verstetigen, die sozialen Spuren derjenigen, denen es eben möglich war und ist, Raum nicht nur zu konstituieren, sondern dauerhaft zu institutionalisieren, also Räume zu schaffen, »deren (An)Ordnung über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht«.6 Während sich also die einen in Räumen bewegen, die ihnen entsprechen, befinden sich die anderen gleichsam ›in der Fremde‹. Ich will das an einer Dimension, die für mehrere der hier versammelten Aufsätze von zentraler Bedeutung ist, kurz ausführen: Heteronormativität. Diese organisiert, wer Raum wie konstituieren kann, wem welche Spacing-Prozesse möglich sind und welche Synthesen nahegelegt werden. Heteronormativität strukturiert, wer sich wo aufhalten darf, für wen Sicherheit im Raum gegeben ist, wer als verletzbar gilt und wer verletzungsmächtig ist; sie organisiert, wessen Leben als privat gilt und deshalb staatlichen Schutz genießt, und wessen Leben und Beziehungen als weniger schützenswert gelten. Heteronormativität strukturiert Orte des Vergnügens ebenso wie Arbeitszusammenhänge, sie organisiert Stadtplanung und Gebäudenutzungen und sie verweist nicht zuletzt lesbische und schwule, transgeschlechtliche und transsexuelle Lebensweisen in »Zonen der Unbewohnbarkeit« (Judith Butler).7 ›Raum‹ umfasst daher auch eine interund intrasubjektive Dimension. Wie schon Doreen Massey gezeigt hat, haben Räume beispielsweise einen tiefgreifenden Einfluss auf Geschlechtsidentitäten.8 So ist weder Männlich- noch Weiblichkeit einfach ein Attribut, das zu einer Identität hinzugefügt wird, sondern eine alltägliche Erfahrung im sozialen Raum. Entsteht Raum also erst im Handeln, ist Produkt menschlicher Konstruktionsleistung, Effekt von Relationen, dann ist Raum niemals einfach Hintergrund oder vorab gegeben, er ist »selbst nichts Räumliches gerade so wenig wie die Vorstellung des Roten selbst etwas Rotes ist«,9 wie Georg Simmel treffend be-
5
M. Löw: Raumsoziologie, S. 272.
6
Ebd., S. 164.
7
Butler, Judith: Körper von Gewicht, Berlin 1993, S. 23.
8
Massey, Doreen: Space, Place and Gender, Cambridge u.a. 1994.
9
G. Simmel: Kant, S. 81f.
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merkt. Umgekehrt bedeutet das, dass soziales Handeln immer auch raumbezogen ist. Strategien etwa des queering space werden dann verstehbar als Strategien, die das Verhältnis von Raum als physikalischer Größe, Raum als politischer Größe und Raum als sozialer Größe betreffen: Sozialraum und physikalischer Raum treten auseinander, im physischen Raum ›stapeln‹ sich gleichsam mehrere Sozialräume auf- und übereinander. Michel Foucault hat in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit anderer, dezidiert nicht utopisch gedachter Räume – Heterotopien – hingewiesen.10 Denn im Unterschied zu Utopien seien diese, so Foucault, »wirkliche Orte«.11 Als »wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet«12 seien, fungieren sie als »Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«.13 Es ist dieses Zugleich der Repräsentation, Anfechtung und Umwendung nicht nur von Raum, sondern von Heteronormativität und Männlichkeit, von Geschlechterordnung und Zweigeschlechtlichkeit, das die Beiträge von Mart Busche, Jan-Henrik Friedrichs, Janina Geist und Kristina Schneider verbindet. Gleich ob es um online-space oder um besetzte Häuser in Berlin-Kreuzberg, um lesbi gender oder um adoleszente Möglichkeitsräume geht –, immer handelt es sich um »Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«.14 Und weil diese »Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien Heterotopien«.15
10 Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Jan Engelmann (Hg.), Foucault. Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 145-160. 11 Ebd., S. 149. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd.
»Da dachte ich mir, komm, ich geb mir Mühe und zeige denen, dass ein Ausländer auch von der Haupt auf die Real gehen könnte« Intersektionale Perspektiven auf Selbstpositionierungen Jugendlicher im Kontext von Raum, Geschlecht und Gewaltabstinenz
M ART B USCHE
E INLEITUNG In Medienberichten wird zuweilen eine grundsätzliche Gewalttätigkeit Jugendlicher suggeriert, die einer realen Basis im Sinne eines umfassenden Bedrohungsszenarios entbehrt.1 Weder im Hellfeld noch im Dunkelfeld lässt sich feststellen, dass es eine flächendeckende Gewaltaktivität bei Jugendlichen gibt.2 In Anbe-
1
Zumeist geschieht dies über die Skandalisierung von Einzelfällen, siehe zum Beispiel die Spiegel-Ausgabe »Mordswut. Die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt« vom Mai 2011.
2
Vgl. Bundesministerium des Innern: Polizeiliche Kriminalstatistik 2010, Berlin 2010, S. 28, www.bka.de/nn_242508/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Polizeiliche Kriminalstatistik/ImkBerichteBis2011/pks2010ImkKurzbericht,templateId=raw,prop erty=publicationFile.pdf/pks2010ImkKurzbericht.pdf vom 28.07.2014; Schlack, Robert/Hölling, Heike: Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im subjektiven Selbstbericht. Erste Ergebnisse aus dem Kinder und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS),
Berlin
2007,
http://edoc.rki.de/oa/articles/reuPv4KL2czE/PDF/25G5
WVP6gV7AU.pdf vom 14.06.2012; Baier, Dirk/Pfeiffer, Christian/Simonson, Ju-
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tracht der Opferstatistiken muss zwar davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Täter_innen oftmals um gleichaltrige Peers handelt.3 Trotzdem kann auch hier nicht von einem flächendeckenden Erleben von Gewaltwiderfahrnissen4 bei Jugendlichen gesprochen werden. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bewältigungsanforderungen in der Jugendzeit, aber auch angesichts der Schwierigkeiten, im Zuge der vermehrten Auflösung sozialer Sicherungssysteme und der zunehmenden Prekarisierung positive Zukunftsentwürfe zu entwickeln, kann es eher verwunderlich erscheinen, dass Jugendliche nicht viel öfter und heftiger ihr – zumindest kurzfristiges – Heil im Gewaltgebrauch suchen. Mit einer Perspektive auf die zeitlich langen Bögen zivilisatorischer Prozesse wie sie Norbert Elias vornimmt, lässt sich zeigen, wie die »innere Befriedung« in modernen Gesellschaften sowohl durch dem Individuum äußerliche Regulierungsmodi als auch über innere verläuft.5 Die Vergeschlechtlichung dieser Regulierungsweisen und die damit verbundenen Dynamiken sind bei Elias zwar erstaunlich unbeachtet geblieben,6 es ist jedoch erwiesen, dass sowohl staatlicher als auch individueller physischer Gewaltgebrauch traditionell männlich und diesbezügliche Gewaltabstinenz traditionell weiblich kodiert ist.7
lia/Rabold, Susann: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht, Hannover 2009, www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf vom 28.07.2014; Spiess, Gerhard: Jugendkriminalität in Deutschland – zwischen Fakten und Dramatisierung. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde, Konstanz 2012, S. 38, www.uni-konstanz.de/rtf/gs/G.Spiess-Jugendkriminalitaet-2012.pdf, vom 28.07.2014. 3
Vgl. G. Spiess: Jugendkriminalität in Deutschland, S. 23ff.
4
Ich verwende hier den Begriff »Gewaltwiderfahrnis«, um deutlich zu machen, dass es sich bei diesem Ereignis keinesfalls um ein für die betroffene Person positiv konnotiertes Erlebnis handelt, vgl. Reemtsma, Jan Philipp: Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem, München 1999, S. 45f.; siehe auch Jungnitz, Ludger/Lenz, Hans-Joachim/Puchert, Ralf/Puhe, Henry/Walter, Walter (Hg.): Gewalt gegen Männer. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland, Opladen 2007, S. 22.
5
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogeneti-
6
Liebsch, Katharina: »Zivilisierung zur Zweigeschlechtlichkeit: zum Verhältnis von
sche Untersuchungen, Band 1 + 2, Frankfurt a.M. 1976. Zivilisationstheorie und feministischer Theorie«, in: Gabriele Klein/Katharina Liebsch (Hg.), Die Zivilisierung des weiblichen Ichs, Frankfurt a.M. 1997, S. 12-38. 7
Sauer, Birgit: »Politikwissenschaftliche Grundlagen der Gewaltdebatte. Einführung in die VO ›Eine von fünf. Gewalt im sozialen Nahraum‹«, Vorlesung vom 06.10.2008,
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| 161
Im Folgenden wird die Konstruktion von Gewaltabstinenz im Zusammenhang mit Vergeschlechtlichung und Ethnisierung vor dem Hintergrund jugendlicher Lebensräume anhand eines Analyseausschnitts aus meinem Dissertationsprojekt beleuchtet. Dabei wird eine Rekonstruktion des Erlebens, Wahrnehmens, Deutens und Bearbeitens gewalthaltiger Situationen durch Jugendliche vorgenommen sowie die Frage adressiert, welche Faktoren für sie von Bedeutung sind, wenn sie selber keine Gewalt gebrauchen, obwohl es für sie möglich wäre. Im Speziellen soll es hier darum gehen, eine Analyse der Aneignung und Produktion von Raum sowie der Positioniertheit der Jugendlichen im Raum, die von den bestehenden gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen beeinflusst sind, vorzunehmen. Das Datenmaterial, auf dem dieser Artikel fußt, wird gebildet aus einem Sample von 30 leitfadengestützten Interviews mit 14- bis 16-jährigen Jugendlichen, denen teilweise Gewalt widerfahren ist; sie selber gebrauchen aber keine oder wenig Gewalt.8 Ebenfalls einbezogen sind Strukturdaten aus einer quantitativen Befragung mit den Interviewten sowie egozentrierte Netzwerkkarten. Letztere sind grafische Darstellungen der bedeutsamen Lebensbereiche und der darin relevanten Personen, die die Jugendlichen zu Beginn jedes Interviews angefertigt haben. In den folgenden Abschnitten erläutere ich zuerst einige Überlegungen zum Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht. Dann gehe ich auf meine intersektionale Analyseperspektive ein, mit der verschränkte gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigt werden können, und beschreibe, wie diese Analyseperspektive mit der von mir verwendeten Dokumentarischen Methode zusammengeht. Es schliessen sich einige theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Geschlecht und Gewalt(abstinenz) an. Nicht nur, weil zum Datenmaterial eine grafische Darstellung der relevanten Lebensräume gehört, sondern auch, weil Räume in der Jugendzeit eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Subjektivierungs- und Individuierungsanforderungen haben, sind einige raumbezogene Gedanken angefügt. Im Folgenden stelle ich dann anhand
http://birgitsauer.org/WS%202008_09/VO%20Eine%20von%205/Sauer.pdf vom 28. 07.2014. 8
Das Datenmaterial stammt aus dem Europäischen Daphne-Projekt »STAMINA – Formation of Non-Violent Behaviour in School and Leisure Time among Youths from Violent Families« (2009-2011; www.stamina-project.eu). Ich nehme derzeit eine ReAnalyse von 12 Interviews vor, bei der ich implizit handlungsleitendes und weitgehend atheoretisches Wissen dazu, warum Jugendliche gewaltfrei werden oder bleiben, rekonstruiere.
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empirischer Beispiele einzelne gewaltabstinente, identitätsbezogene Positionierungen vor, die auf der Analyse handlungsbezogener Orientierungen anhand von Erfahrungen in den jeweiligen jugendlichen Lebensräumen fußen. Der Artikel endet mit Überlegungen zur konkreten Bedeutung von Räumen für die Jugendphase sowie zu intersektional informierten Interventionen in Forschung und Politik.
G ESCHLECHT
UND
G EWALT ( ABSTINENZ )
Männlichkeit kann als ein gesellschaftlich privilegierter Status angesehen werden, der durch Verschränkungen mit Weißsein oder körperlicher Fitness weitere Aufwertung erlebt. Ich gehe davon aus, dass keine notwendige Verbindung zwischen einer als weiblich oder männlich deklarierten körperlichen Morphologie und einem als weiblich oder männlich wahrgenommenem Verhalten existiert. In Kulturen, in denen Zweigeschlechtlichkeit vorherrscht, ist es durchaus möglich, dass ›Männer‹ sich weiblich und ›Frauen‹ sich männlich konnotiert verhalten. Über ein System von Sanktionen und Anreizen wird jedoch dafür gesorgt, dass solch ein Verhalten möglichst unattraktiv gemacht wird, gleichzeitig erhält die Verbindung eines weiblichen Körpers mit weiblichem Verhalten beziehungsweise eines männlichen Körpers mit männlichem Verhalten einen quasi-natürlichen Charakter. Das bedeutet, dass alle Abweichungen – verhaltens- wie körperbezogene – negativ markiert werden müssen, wenn das zweigeschlechtliche System aufrecht erhalten werden soll.9 Zugleich sind die Subjekte aufgerufen, sich eindeutig geschlechtlich zu inszenieren; es besteht die gesellschaftliche Anforderung, als männlich oder weiblich erkennbar zu sein. In der Jugendzeit, wenn der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben bewältigt werden muss und auch körperliche Veränderungen als sichtbare Marker dieses Übergangs verstanden werden, besteht für die Subjekte ein erhöhter Druck, sich »richtig« in das zugewiesene Geschlecht hineinzufinden und dieses zu verkörpern. Diese Inkorporation wird in Pierre Bourdieus Habituskonzept als Zirkularität von gesellschaftlich gegebenen Strukturen und den individuellen, vergeschlechtlichten Verhaltensweisen beschrieben. Die Verkörperung der gesellschaftlich vorgenommenen geschlechtlichen Zuschreibungen führt dazu, dass die Ein- und Aus-
9
Zur Kultur der Zweigeschlechtlichkeit vgl. Hagemann-White, Carol: »Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren«, in: dies./Maria S. Rerrich (Hg.), FrauenMännerBilder. Männer und Männlichkeit im feministischen Diskurs, Bielefeld 1988, S. 224235.
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geschlossenen jeweils ein Interesse haben, »an ihrem Platz zu bleiben« und »zu sein, was sie sein sollen«10. In der Jugendphase wird dieses Wissen eingeübt und damit die Quasi-Natürlichkeit der symbolischen Ordnung, die die hierarchische Anordnung der Geschlechter absichert, immer wieder hergestellt. Die darin liegende symbolische Gewalt wird von ihren Akteur_innen als Gewalt verkannt und als legitime Macht anerkannt.11 Die Anwendung oder Nichtanwendung bestimmter Gewaltformen wie körperlicher Gewalt oder verbaler Beschämung kann dazu beitragen, im »richtigen« Geschlecht erkannt zu werden beziehungsweise dieses damit immer wieder herzustellen. Männliche Orientierungen bezüglich Gewalt sind dabei widersprüchlich: Die von Connell für westliche Gesellschaften ausgegebene dominante Form hegemonialer Männlichkeit des global agierenden Managers aus technokratischem Milieu steht nicht für den rohen Gewaltgebrauch, während in bestimmten lokalen Kontexten der Gewaltgebrauch für Männlichkeitsgewinne im Sinne einer hierarchischen Abgrenzung gegenüber anderen Männern und Frauen führen kann.12 Nicht der Gebrauch von Gewalt sichert das Leitbild hegemonialer Männlichkeit ab, sondern der erfolgreiche »Anspruch auf Autorität«.13 Dies muss auch bei der Analyse von Gewaltabstinenz einbezogen werden, da über die Frage, wie diese Autorität hergestellt wird (zum Beispiel über die Androhung von Gewalt) oder ob auf sie verzichtet werden kann, Erkenntnisse über die jugendliche Herstellung von Geschlecht und seiner Bedeutung erzielt werden können.
I NTERSEKTIONALITÄT
UND
D OKUMENTARISCHE M ETHODE
Ich gehe davon aus, dass Geschlecht nicht die einzige relevante Kategorie ist, die für Praktiken der Gewaltanwendung beziehungsweise -abstinenz eine Rolle spielt. Deshalb folgen hier einige Überlegungen zur methodischen Herangehensweise, in die Impulse einer intersektionalen Forschungsstrategie aufgenommen werden. Eine Methode ist hier als Mittel zu verstehen, mit dem bestimmtes
10 Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 90. 11 Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 204. 12 Connell, Robert W.: »Männer in der Welt. Männlichkeiten und Globalisierung«, in: Widersprüche 67 (1998), S. 91-105, hier S. 100. 13 Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2006, S. 98.
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Wissen produziert wird. Die Dokumentarische Methode »dient der Rekonstruktion der praktischen Erfahrungen von Einzelpersonen und Gruppen, in Milieus und Organisationen, gibt Aufschluss über die Handlungsorientierungen, die sich in der jeweiligen Praxis dokumentieren, und eröffnet somit einen Zugang zur Handlungspraxis.«14 Es soll hier kurz auf die Frage eingegangen werden, wie die Verschränkung von wirkmächtigen sozialen Differenzierungen mittels einer Methode, die zu den sozialwissenschaftlichen Standards gehört, analysiert werden kann. Mit einer intersektionalen Herangehensweise, die eine besondere Sensibilität für komplexe gesellschaftliche Positionierungen aufgrund von Mehrfachzugehörigkeiten, -(de-)privilegierungen und strukturellen Dominanzverhältnissen aufweist, kann meiner Meinung nach die Dokumentarische Methode sinnvoll erweitert werden beziehungsweise ihre zentrale Frage, welche Erfahrungen sich in Interviews dokumentieren, kann hinsichtlich der simultanen Verschränkung von verschiedenen (De-)Privilegierungsverhältnissen zugespitzt werden.15 Gesellschaftlich etablierte Dimensionen von Heterogenität spielen in vielen Studien ohnehin eine zentrale Rolle als Strategie auf der Suche nach kollektiven Erfahrungen und den darin aufscheinenden Unterschieden.16 Dies kann nun mit einer intersektionalen Analyseperspektive verknüpft werden, die etwa die Verschränkungen von Ungleichheitsdimensionen und die Genese derselben sowie die Produktion von Stereotypisierungen oder Homogenisierungen im Analyseprozess kritisch reflektiert.17 Mit Sumi Cho, Kimberlé Crenshaw und Leslie McCall lässt sich das Konzept der Intersektionalität als analytische Haltung fassen, die die komplette Analyse durchzieht:
14 Nohl, Arnd-Michael: Interview und dokumentarische Methode, Wiesbaden 2009. 15 Vgl. Degele, Nina/Winker, Gabriele: »Intersektionalität als Mehrebenenanalyse«, www.portal-intersektionalität.de vom 16.04.2014; McCall, Leslie: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 30 (2005), S. 1771-1800; Combahee River Collective: »A Black Feminist Statement«, in: Gloria Anzaldúa/Cherrie Moraga (Hg.), This Bridge Called my Back. Writings by Radical Women of Color, New York 1981 [1977], S. 210-218. 16 Vgl. Nohl, Arnd-Michael: Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege zur Dokumentarischen Methode, Wiesbaden 2013, S. 53f. 17 Da dies kein explizit methodischer Artikel ist, werden nur einzelne Schlaglichter auf die Dokumentarische Methode geworfen und nicht alle Schritte, zum Beispiel die Typenbildung, werden hier behandelt.
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»If intersectionality is an analytic disposition, a way of thinking about and conducting analyses, then what makes an analysis intersectional is not its use of the term ›intersectionality‹, nor its being situated in a familiar genealogy, nor its drawing on lists of standard citations. Rather, what makes an analysis intersectional – whatever terms it deploys, whatever its iteration, whatever its field or discipline – is its adoption of an intersectional way of thinking about the problem of sameness and difference and its relation to power. This framing – conceiving of categories not as distinct but as always permeated by other categories, fluid and changing, always in the process of creating and being created by dynamics of power – emphasizes what intersectionality does rather than what intersectionality is.«18
Das Nachdenken über Gleichheit und Differenz vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen kann also als das Herzstück intersektionaler Analysen bezeichnet werden. Ohne eingehend die Schritte der Dokumentarischen Methode zu erläutern, sei hier das Problem der Starrheit und Festschreibung durch Kategorisierungen angesprochen: Im ersten Analyseschritt der formulierenden Interpretation, in der die Frage »was wird gesagt?« durch Paraphrasierung beantwortet wird, habe ich das Interview im Sinne eines sensitizing concept aufmerksam auf potenziell wirkmächtige Verhältnisse von Dominanz und Unterordnung und ihren Verschränkungen – »fluid and changing« – durchgesehen. Das ist in der Methode nicht explizit vorgesehen. Das heißt, ich bin beispielsweise nicht davon ausgegangen, dass die Migration eines Jugendlichen beständig eine (marginalisierende) Rolle spielt, sondern es ging mir darum, ihr_sein Wissen hinsichtlich rassistischer Verhältnisse, so diese thematisiert wurden, auf seine handlungsleitenden Impulse hin zu untersuchen. Das bedeutet auch, die Effekte eines gesellschaftlichen Diskurses, welcher (bestimmte) Migrant_innen auf eine deprivilegierte Position festschreibt, zu unterlaufen und genau zu prüfen, welche Verhältnisse aus den Subjekten sprechen. Gleichzeitig ging es darum zu reflektieren, was nicht besprochen wird, im Wissen, dass zum Beispiel Whiteness19 eine unmarkierte Kategorie ist und von ihren Träger_innen zumeist nur implizit thema-
18 Cho, Sumi/Crenshaw, Kimberlé Williams/McCall, Leslie: »Towards a Field of Intersectionality Studies. Theory, Applications and Praxis«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 4 (2013), S. 785-810, hier S. 794. 19 Damit ist Weißsein nicht im Sinne einer biologischen Tatsache gemeint, sondern als eine soziale Konstruktion, die Weiße privilegiert und nur über die Produktion von abweichenden Anderen funktioniert.
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tisiert wird, indem Otherings (»Veranderungen«)20 vorgenommen werden. Auch hier sprechen Verhältnisse von Dominanz und Unterordnungen – nur aus einer anderen Position. Eine Überprüfung der Relevanz solcher Kategorisierungen kann vorgenommen werden, indem die Setzung von Analysekategorien wie zum Beispiel der Bedeutung von Geschlecht und Klasse hinsichtlich der Wahrnehmung von Gewalt mit ihrer antikategorialen Hinterfragung beziehungsweise Dekonstruktion (»Spielt Geschlecht hier überhaupt eine Rolle und wenn ja, was ist mit Geschlecht im jeweiligen Kontext gemeint, (wie) wird es beispielsweise von anderen sozialen Verhältnissen beeinflusst?«) »gegengelesen« wird. Gedankenspiele sind hier hilfreich, wenn sich mit ihnen überprüfen lässt, ob eine bestimmte Aussage auch aus einer anderen Sprechposition heraus hätte getroffen werden können (»Hätte Han Solo hier das Gleiche sagen können wie Prinzessin Leia? Warum ja? Warum nein? Welche Erfahrungsunterschiede und -gemeinsamkeiten dokumentieren sich?«). So lassen sich Thesen zu der Relevanz einer Kategorie und ihrem Zusammenspiel mit anderen Kategorien entwickeln. Mich interessiert nicht nur die Verschränkung von Deprivilegierungserfahrungen, die in den mir vorliegenden Interviews besprochen werden, sondern auch, wie die meist unbesprochenen Verschränkungen von Privilegierungen zu analysieren sind. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass es sich bei weißer heterosexueller Männlichkeit um eine stark rassisierte Form von Gendernormativität handelt: Sie besteht aus drei Achsen der Unterscheidung (Weißsein, Männlich-
20 Eggers, Maureen Maisha: »Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland«, in: dies./Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 56-72. Maisha M. Eggers beschreibt mit Verweis auf Spivak in ihrem Konzept der »rassifizierten Machtdifferenz« verschiedene Schritte in der Herstellung eines rassifizierten Anderen. Sie verwendet den Begriff des »Othering« (ebd. S. 66ff.), um zu zeigen, wie ein »weißes Kollektiv« (ebd. S. 69) unter Zuhilfenahme eines »rassistischen Wissens« (ebd. S. 64) ein Wissen über den Anderen imaginiert und sich selbst konstituiert. Eines ihrer Beispiele bezieht sich auf die im Gewaltdiskurs bedeutende Gruppe der »türkischen« oder »muslimischen« Männer: Diese werden als ›antidemokratisch‹, ›gewaltbereit‹ und ›rückständig‹ hinsichtlich der Frauenemanzipation naturalisiert. »Als ›islamisch‹ konstruierte Subjekte werden sie überdies als ›nicht-zugehörig‹ und als Bedrohung für die ›Zugehörigen‹ der weißen deutschen hegemonialen Gruppe wahrgenommen« (ebd. S. 68). Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: »The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives«, in: History and Theory 24 (1985), S. 247-272.
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keit, Heterosexualität), die eine Intersektionalität aus Privilegien konstruieren, deren Verhaltenskodex stark normiert ist.21 Die Handlungsweisen eines weißen, heterosexuellen Mannes sind also nicht nur normativ in Bezug darauf, was er tut (konkretes Verhalten), sondern auch in Bezug darauf, dass er es ist, der etwas tut (Status). Es spielt zuweilen eine Rolle, dass das, was wir tun, darüber vermittelt wird, als wer wir wahrgenommen werden. Es lässt sich also eine Dichotomie entlang der Kategorien Verhalten und Status feststellen, wenn es als unterschiedlich wahrgenommen wird, wenn ein weißer und ein Schwarzer22 Mann dasselbe tun.23 In Bezug auf Intersektionalität liegt auf der Hand, dass solche StatusDifferenzen nur in der Analyse der handlungsleitenden Orientierungen erfasst werden können, wenn es eine Analysehaltung gibt, die dafür sensibel ist. Um unterschiedliche Orientierungen herauszuarbeiten und den Einzelfall nicht festzuschreiben, arbeitet die Dokumentarische Methode stark mit (kontrastierenden) Vergleichen innerhalb eines Interviews, aber auch zwischen den unterschiedlichen Interviews. Wenn etwa Männlichkeit nicht als Identitätsbaustein verstanden wird, sondern als »eine alltägliche Erfahrung im sozialen Raum«,24 dann ergibt sich daraus, dass die im Interview benannten Erfahrungen die Unterschiede in Status und Verhalten bei unterschiedlichen Personen oder in verschiedenen Kontexten wiedergeben können. Wie aus einigen meiner Interviews deutlich wird, kann der Gebrauch von Gewalt beispielsweise auf der Verhaltensebene ein Versuch sein, den abgewerteten Status als Migrant in einem bestimmten Kontext erfolgreich zu kompensieren. Dies entspricht keiner Erfahrung, die ein als weiß und deutsch wahrgenommenes Mädchen oder ein ebensolcher Junge berichtet. Ihr Status dokumentiert sich ohne entsprechend sensible Analysehaltung aber mitunter erst im Vergleich, da er nicht im Sinne einer privilegierenden Erfahrung oder einer entsprechenden Zuschreibung thematisiert werden kann. Eine intersektionale Analysehaltung kann also insgesamt dabei hilfreich sein zu bestimmen, wie sich ein gewisses Verhältnis von Normalität und Abweichung arti-
21 Vgl. Carbado, Devon W.: »Colorblind Intersectionality«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 4 (2013), S. 811-845, hier S. 818. 22 »Schwarz« wird hier groß geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich dabei um keine rassifizierte Personenbeschreibung handelt, sondern um eine in politischen Kämpfen entwickelte Selbstbezeichnung. 23 Vgl. D.W. Carbado: »Colorblind Intersectionality«, S. 818. 24 Bieringer, Ingo/Forster, Edgar: »›echtCOOL‹ – Mit Schülerinnen und Schülern über Männer, Frauen und Gewalt arbeiten«, in: Ingo Bieringer/Walter Buchacher/Edgar Forster (Hg.), Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit, Opladen 2000, S. 16.
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kuliert, auch wenn bestimmte Kombinationen von Privilegierungen nicht explizit thematisiert werden.
D IE B EDEUTUNG UND P RODUKTION JUGENDLICHEN L EBENSRÄUMEN
VON
Die Lebensräume und die darin befindlichen Beziehungen sind für die Forschung zu Gewaltabstinenz nicht unerheblich: Es ist beispielsweise zu klären, wie mit Aufforderungen zum Gewaltgebrauch raumbezogen umgegangen wird und was dabei die subjektiven Orientierungsmuster bildet. Diese Aufforderungen sind stark durch die jeweiligen Räume bestimmt (zum Beispiel durch die Kompensation struktureller Gewalt in der Schule etwa über Leistungsdruck oder rassistische Zuschreibungen oder durch gewaltaffiminierende Praktiken in der Peergroup). Das Aufsuchen oder die Gestaltung eigener gewaltarmer Räume kann auf eine gewaltabstinente Orientierung hindeuten und auch entsprechende soziale Beziehungen und Netzwerke können eine Rolle spielen.25 Die Interviews mit den Jugendlichen können als Momentaufnahme des Zusammenspiels von Subjekt und gesellschaftlichen Strukturen verstanden werden, die durch die Produktion ›egozentrierter Netzwerkkarten‹ grafisch gestützt wurde.26 Im Grunde genommen wurden die Jugendlichen dabei aufgefordert, auf einem Blatt Papier Raum zu produzieren: Sie sollten in eine vorliegende Grafik aus vier konzentrischen Kreisen ›Kuchenstücke‹ einzeichnen und sie mit einem entsprechenden Titel (zum Beispiel »Schule«) versehen. Die Größe der Stücke steht für ihre (Un-)Wichtigkeit. Daran anschließend sollten die Jugendlichen die Personen einzeichnen, die in diesen Lebensbereichen für sie von Relevanz sind und im Interview dazu Aussagen treffen.
25 Bottrell, Dorothy: »Understanding ›Marginal‹ Perspectives: Towards a Social Theory of Resilience«, in: Qualitative Social Work 8/3 (2009), S. 321-339. 26 Nach Straus, Florian: Egonet QF. Ein Manual zur egozentrierten Netzwerkanalyse für die qualitative Forschung, München 1995; Hollstein, Bettina/Pfeffer, Jürgen: Netzwerkkarten als Instrument zur Erhebung egozentrierter Netzwerke, München 2009, www.pfeffer.at/egonet/Hollstein%20Pfeffer.pdf vom 16.04.2014.
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Abbildung 1: Beispiel Netzwerkkarte
Legende: 1) Cousin, 2) Freunde, 3) Familie, 4) Mitmenschen, 5) Freunde in der Schule, 6) Lehrer, 7) Vater, Mutter, drei Geschwister, Verwandtschaft.27
Zwei simultane Prozesse finden in der Netzwerkkarte statt: Menschen und manchmal auch Dinge werden in eingezeichneten Räumen positioniert, was sich mit Martina Löw als »Spacing« bezeichnen lässt.28 Zugleich müssen die Interviewten eine Syntheseleistung vollbringen, indem sie vermittelt über ihre Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung die Menschen und Dinge zu Räumen zusammenfassen. Es handelt sich um ein »eingefrorenes« Abbild sich in Bewegung befindlicher (An-)Ordnungen von symbolisierten Körpern.29 Löw definiert Raum als »relationale (An-)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung
27 Anm.: Die Nummern fünf bis sieben sind nicht eingezeichnet. 28 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 158. 29 Ebd., S. 131.
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sind, wodurch die (An-)Ordnung sich selbst ständig verändert«.30 Die Qualität der Räume und Beziehungen, die in der Netzwerkkarte als Momentaufnahme dargestellt werden, kann in dem begleitenden Interview genauer bestimmt und historisiert werden. Ein Beispiel: In der dargestellten Netzwerkkarte wurden Freizeit und Schule von Ozan, einem der interviewten Jugendlichen, in einem relativ kleinen Kuchenstück zusammengefasst, er hat keine Einzelpersonen eingezeichnet, sondern hier nur allgemein »Lehrer« und »Freunde« hineingeschrieben. »Familie« und »Religion« nehmen hingegen als Lebensräume beide fast die ganze Netzwerkkarte ein und erscheinen als miteinander verknüpft, da »Familie« und Familienmitglieder auch im Kuchenstück der Religion vermerkt sind. Im Unterschied dazu sind die Bereiche »Schule« und »Freunde« bei Lukas, einem anderen Interviewten, getrennt eingetragen, die darin positionierten Personen sind aber – abgesehen von der im Schulfeld hinzugefügten Lehrerin – seine Freund_innen und somit identisch.31 Er hat zwei Bereiche markiert, die als Hobbys zu charakterisieren sind und mehr als ein Viertel der Netzwerkkarte einnehmen. Hier ist aber insgesamt nur eine Person vorhanden, ein Junge, mit dem Lukas Musik macht. Bei Lukas haben die eingezeichneten Personen Namen, bei Ozan haben sie Verwandtschafts- oder Funktionsbezeichnungen. Über die Netzwerkkarten und die darin festgestellten Unterschiede und Ähnlichkeiten können für die qualitative Analyse der Interviews weitere Fragen generiert werden.
E MPIRISCHES B EISPIEL : O ZAN UND L UKAS IM INTERSEKTIONALEN K ONTRAST Anhand der Beschreibungen und Erzählungen zu Gewaltsituationen lässt sich mit den Interviews herausarbeiten, wie Gewalt wahrgenommen wird und welche Haltungen bei den Jugendlichen vorliegen. Hier wird exemplarisch mittels zweier Interviews auf Unterschiede und Ähnlichkeiten rekurriert, indem die in dem einen Interview aufscheinenden Themen auch in dem anderen Interview auf Relevanz geprüft werden.
30 Ebd. 31 Die Netzwerkkarte von Lukas findet sich in diesem Artikel: Busche, Mart: »Männlichkeit und Gewaltabstinenz: Dynamiken im adoleszenten (Ver)Handlungsraum«, in: Silke Förschler/Rebekka Habermas/Nikola Roßbach (Hg.), Verorten – Verhandeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht, Bielefeld 2014, S. 219-245, hier S. 230.
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In den Interviews werden Zusammenhänge zwischen erlebter Gewalt und der eigenen Gewaltablehnung thematisiert. Unter Gewalt fasse ich dabei einerseits das, was Jugendliche aktuell darunter verstehen (in den allermeisten Fällen körperliche Gewalt), andererseits aber auch Erfahrungen mit struktureller Gewalt wie Rassismus. Auch die Belastung durch eine Situation häuslicher Gewalt wird einbezogen, wenn die Jugendlichen darüber sprechen, dass diese Erfahrungen ihr Umgehen mit Gewaltsituationen beeinflussen. Deutlich wird in den Interviews, dass alle (befragten) Jugendlichen die Möglichkeit haben, verbale oder körperliche Gewalt anzuwenden, also ihre Verletzungsmacht einzusetzen.32 Jede Person muss sich zu Gewalt als sozialer Struktur ins Verhältnis setzen und einen Umgang mit der eigenen Verletzungsoffenheit sowie Verletzungsmacht als Weisen der menschlichen Vergesellschaftung finden. Interpersonaler Gewaltgebrauch beziehungsweise Gewaltabstinenz sind daher nicht als personale Eigenschaften anzusehen, sondern als soziales Vermögen, dessen Einsatz von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängt. Insbesondere junge Männer werden tendenziell – zumeist von anderen jungen Männern – dazu aufgefordert, (körperliche) Gewalt zu nutzen; Sanktionen dafür spielen kaum eine Rolle.33 Davon ausgehend, dass Gewaltgebrauch ein effektives Mittel zur Durchsetzung von Interessen, zur Selbstinszenierung und Abgrenzung, als Abwehr von oder Reaktion auf Bedrohungen oder aus anderen Gründen sein kann, ist es für meine Analyse notwendig nachzuvollziehen, warum und wie (männliche) Jugendliche dieser Aufforderung oder ›Verlockung‹ widerstehen. Hier können beispielsweise moralische, praktische, situations- oder statusbedingte Gründe relevant sein, oftmals handelt es sich um eine (durchaus widersprüchliche) Mischung. Wie schon erwähnt meint ›Status‹ eine gesellschaftlich zugewiesene Position, die manche Handlungen eher ermöglicht als andere beziehungsweise selbige verhindert oder verkompliziert. Mit Ozan und Lukas habe ich hier zwei Jugendliche als Beispiel gewählt, die bezüglich ihrer Statusposition in großem Kontrast zueinander stehen. Lukas, ein weißer, deutscher Junge, hat als Kind sowohl Gewalt erlitten als auch Gewalt gegen seine Mutter durch seinen Vater beobachtet. Anhand der eingezeichneten Beziehungen und Räume in seiner Netzwerkkarte und in seiner Erzählung wird deutlich, dass er auf bestimmte Ressourcen zu-
32 Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986. 33 In einem Fall wird das Jugendstrafrecht, welches mit 14 relevant wird, als wirksame Abschreckung für Gewaltanwendung genannt, wie auch der Kontakt mit der Polizei. In diesem Fall ist aber der Berufswunsch des Interviewten von Bedeutung, da dessen Realisierung eine leere Strafakte erfordert.
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rückgreifen kann, die es ihm ermöglichen, sich eindeutig gegen eigene Gewaltanwendung zu positionieren. Er braucht Gewalt nicht, um beispielsweise Männlichkeit oder soziale Anerkennung herzustellen, da ihm andere Mittel zur Verfügung stehen: Er hat als Einzelkind viel Aufmerksamkeit seiner Mutter und Großeltern, ist eingebettet in ein soziales Netzwerk aus Freund_innen, er hat einen bildungsorientierten Hintergrund und kommt in der Schule gut zurecht, er hat sich mit seinen Hobbys mindestens einen eigenen Raum geschaffen, den er mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gestalten kann. Anders als Ozan ist er nicht mit dem Verdacht aufgewachsen, aufgrund einer vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeit ein Gewalttäter zu sein, und musste sich nicht zu rassistischen Stereotypen in Beziehung setzen.34 Vielmehr ist er mit der Erfahrung aufgewachsen, dass seine Mutter in der Lage war, die Gewaltbeziehung zu seinem Vater zu verlassen und ein Leben ohne häusliche Gewalt zu führen. Die Belastungen der Gewalt in der Kindheit haben nicht zu im Interview thematisierten Problemen geführt, sondern werden als Erfahrungen angeführt, die die starke Gewaltablehnung begründen: »[...] weil ich es da ja in meiner Kindheit erlebt habe, wie es ist, selber Gewalt zu erfahren. Und wenn ich klug bin, dann natürlich nicht so handele.«35 Ozan beschreibt, wie er sich immer wieder mit Stereotypen auseinandersetzen muss, die beispielsweise seinen Umgang mit Schule regulieren. Die Möglichkeiten für den Zugang zu Räumen wie auch ihrer Produktion gestalten sich über »relationale Formen sozialer Ungleichheit«.36 Während der Besuch des Gymnasiums bei Lukas als quasi-logische Abfolge kaum einer Erwähnung oder Begründung bedarf (»ja, nach der Grundschule dann weiter. Und jetzt bin ich halt auf dem Gymnasium.«37), ist für Ozan in dieser Frage sein Status als Migrant beziehungsweise »Ausländer« immer wieder von Bedeutung. Er wird nach der Grundschule zuerst auf die Hauptschule geschickt und empfindet dies
34 Ozan sagt dazu: »[...] also, ich will jetzt nicht sagen, dass ich anders rüberkomme, aber ich bin halt so… kanakenmäßig. So auch ausländermäßig. Und für die [Lehrer, M.B.] ist irgendwie… der Ausländer ist immer so der Gewalttätige für die, und das verstehe ich irgendwie nicht. Also, wenn irgendwas ist, dann… Früher dachten immer die, also die auf der Grundschule, dass ich immer derjenige bin.« (Ozan, Z. 16811685). 35 Lukas, Z. 876f. 36 M. Löw: Raumsoziologie, S. 213. Löw lehnt sich hier an das Konzept der hierarchisch verteilten Kapitalsorten von Bourdieu an. 37 Lukas, Z. 124f.
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als stimmig, da er sich selber als »nicht der Schlauste«38 bezeichnet. Dann verbessert er aber seine Noten und wechselt auf die Realschule. Die Motivation dafür, sich hier einen anderen Raum zu erschließen, koppelt er an die Möglichkeit, sich kontra-stereotyp zu verhalten und als Vorbild zu fungieren: »Da dachte ich mir, nee, lieber… komm, ich geb mir Mühe, zeige denen, dass ein Ausländer auch von der Haupt auf die Real gehen könnte.«39 In einem anderen Interview mit einem männlichen Jugendlichen mit russischer-deutscher Migrationsgeschichte wird deutlich, dass auch er seine Schullaufbahn nicht beschreiben kann, ohne auf seinen Status als (vermeintlicher) »Ausländer« zu rekurrieren, während dies bei Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte oder mit einem französischen Elternteil keine Rolle spielt. Es ist die Erfahrung mit Rassismus und Diskriminierung und das Umgehen damit, die hier den Unterschied machen, denn aus den rassistischen Zuschreibungen, mit denen die deutsche Mehrheitsgesellschaft sie an Orten40 wie der Schule belegt, können sie kaum aussteigen. Deshalb sind andere Räume wie Familie oder Religion wichtig, in denen das eigene Sein nicht negativ verbesondert wird. Ozan nimmt dabei eine interessante Wendung des Stereotyps vor, welches ein Bild radikaler, gewalttätiger Muslime zeichnet: »Ich hab ja auch so ein Ziel, dass ich irgendwie so den Islam in Deutschland ein bisschen… also, es gibt ja viele Leute, die den Islam nicht verstehen. Die denken dann so, ach, das sind diese Terroristen und so. Dass ich halt mit denen rede und denen erkläre, was der Islam überhaupt ist.«41 Das Thema »Gewalt und Islam« wird von ihm so bearbeitet, dass er ein doppeltes Missverständnis annimmt, dass einerseits Deutsche, die Muslime als gewalttätig ansehen, den Islam falsch verstanden haben. Andererseits kritisiert er Muslime, wenn sie Gewalt anwenden: »Und da kam die Sure, dass wir uns wehren sollten, wenn die uns… also, das war vor tausend Jahren […]. Und die Meisten jetzt, die nehmen diese Sure raus, und machen es heute immer noch. Und das ist krank. Den muss man das erzählen, dass das halt falsch ist.«42 Ozan sieht sich selbst in der Rolle, den »Falschverstehern«43 das richtige Verständnis des Is-
38 Ozan, Z. 257. 39 Ozan, Z. 274f. 40 »Orte« verstehe ich hier mit Löw als einzigartige Lokalitäten, symbolische Aufrechterhaltungen von ehemals bedeutsamen Platzierungen und/oder die Markierung des Platzes der sprechenden Person; vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 202. Orte werden bei der Produktion von Räumen zwangsläufig mit hervorgebracht. 41 Ozan, Z. 1806-1810. 42 Ozan, Z. 1866-1870. 43 Ozan, Z. 1862.
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lam beizubringen und nutzt dafür seine kommunikativen Fähigkeiten (Eloquenz, Mehrsprachigkeit). Es wird unter anderem in der Netzwerkkarte deutlich, dass Religion einen eigenen Raum in seinem Leben einnimmt, er Teile seiner Identität anhand dieses Bereichs gestaltet und seine selbstgewählte »Aufgabe« des Islam-Erklärens seine Partizipation an Gesellschaft erhöht. Die Verknüpfung von geschlechtlicher und ethnischer Markierung betrachtend wird deutlich, dass Ozan in der deutschen Gesellschaft vorherrschende Vorstellungen von Männlichkeit und Islam unterläuft, in dem er sich als leistungsbereiter, rationaler, kommunikationsorientierter, guter Muslim, der die islamischen Gesetze – auch das der Gewaltlosigkeit – befolgt, positioniert. Eine entschlossene, quasi-missionarische Haltung kombiniert mit hohen moralischen Werten und seine sprachlichen Fähigkeiten beeinflussen sein Verhalten und er grenzt sich davon ab, ein »normaler«, »cooler« Junge sein zu müssen. Auf die Frage, was er an sich mag, nennt er: »Die Fähigkeit, dass ich sehr gut mit Leuten so reden kann. Nicht, dass ich jetzt sofort so jemanden anmache und so. Also, ich versuche immer zu reden am Anfang. Also, ich mag an mir, dass ich halt so… na ja, ich bin jetzt nicht so wie jeder. Ich bin ein bisschen anders irgendwie so. Ich rede dann erst mal, und… ich finde irgendwie, dass ich anders bin, so. [...] Besonders. Weil ich bin ja nicht derjenige, der immer so cool ist.«44
Er eignet sich die Position des ›Anderen‹ an, indem er sie über sein kommunikatives Vermögen wendet und sich als gutes Beispiel für die Deutschen wie auch Muslime beschreibt. Dennoch lösen seine Redeweise und die verbale Adressierung von Konflikten auch Sprüche aus, die ihm Männlichkeit absprechen sollen, in dem sie ihn als »schwul« adressieren: »Ich bin ja nicht der Coole, und so. Ich bin irgendwie der Vernünftige, der ein bisschen so redet und versucht… und die meinen, das ist nicht männlich […] wenn man sich so mit Leuten so richtig unterhält.«45 Diese Strategie der Gewaltabstinenz beziehungsweise Abwendung von Gewalt wird also von anderen negativ vergeschlechtlicht, indem Konfliktbearbeitungen durch Reden als unmännlich oder schwul tituliert werden. Für Ozan selber, der hier ›Vernunft‹ als Gegenmodell zu ›Coolness‹ einsetzt, ist diese positiv konnotiert und es zeigt sich auch an anderen Stellen im Interview, zum Beispiel wenn er sich in Abgrenzung zu seinem älteren Bruder als besonnen und kontrolliert entwirft, dass er sich positiv auf Werte bezieht, die er mit Erwachsensein in Verbindung bringt.
44 Ozan, Z. 1771-1776. 45 Ozan, Z. 1613-1619.
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Insgesamt lässt sich zu Ozans gewaltablehnender Orientierung sagen, dass sie hochgradig kommunikationsbezogen ist und sich im Widerstand zu Stereotypen von muslimischen Männlichkeiten befindet. Wie bei Lukas (siehe unten) ist auch bei Ozan die Klammer ›Bildung und Gewaltabstinenz‹ von Bedeutung, sie ist nur durch die Bezüge auf Religion und Sprachen anders gerahmt: Ozan konstruiert seine Überlegenheit einerseits über Eloquenz und Mehrsprachigkeit, andererseits über sein Wissen über den Islam und seine eigene religiöse Praxis. Es lassen sich hier Thesen zur Konstruktion männlicher Autorität über den Bezug auf Vernunft entwerfen, diese müssen aber unter Berücksichtigung weiterer Interviews überprüft werden. Bei Lukas sorgen unter anderem seine Erfahrungen mit häuslicher Gewalt und eine Orientierung auf ein bestimmtes Bildungsideal dafür, dass er nicht gewalttätig handelt: Er schlägt nicht zu, weil er die Erfahrung gemacht hat, selber Gewalt durch seinen Vater erleiden zu müssen, und grenzt sich vor allem auf der Bildungsebene gegen ihn und den aktuellen Freund seiner Mutter ab. Dies wird in der Netzwerkkarte deutlich, in die er die Männer in seiner Familie, die er entweder mit Gewalt oder mit Dummheit assoziiert, nicht eingezeichnet hat. Er nutzt seine Gewaltabstinenz auch als ein Mittel der Abgrenzung, über das Überlegenheit konstruiert wird, indem er bei Gewalt gebrauchenden Männern Entmenschlichungen und eine Sortierung in die »unterste Schublade«46 vornimmt. Erfahrungen von Rassismus spielen in seinem Leben keine Rolle und die Wahrnehmung von Ungleichheit ist vor allem für andere bedeutsam, wie bei der Beurteilung des Klimas in seiner eigenen Klasse in Abgrenzung zu anderen Schultypen deutlich wird: »Also, es gibt paar Streitigkeiten, wie überall. Aber ansonsten… also, es ist jetzt nicht so schlimm, wie jetzt an anderen Schulen, jetzt mit Ausländern oder so.«47 Lukas bedient also das Stereotyp, zu dem Ozan sich verhalten muss.
R EFLEXIONEN ZUR R ELEVANZ JUGENDLICHER L EBENSRÄUME UND GEWALTABSTINENTER I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN Je eingeschränkter die Lebensräume der Jugendlichen und ihre materiellen Chancen in der Phase der Jugend sind, desto weniger scheinen sie die Möglichkeit zu haben, sich selber zu entwerfen, auszuprobieren und eine Ich-Stabilität zu
46 Lukas, Z. 881. 47 Lukas, Z. 186f.
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entwickeln. In der Zeit der Jugend sind die Ressourcen für eine individuierende Entwicklung ungleich verteilt. Es wird in den Netzwerkkarten deutlich, ob die Jugendlichen zum Beispiel über Rückzugsräume oder Kreativräume verfügen, die teilweise mit kostspieligem Equipment bestückt sind und auf die sie selbstbestimmt Zugriff nehmen können (etwa ein Flugsimulator oder das Klavier) oder ob sie gesellschaftliche Infrastrukturen nutzen (zum Beispiel das Jugendzentrum, den Sportverein). Hierbei kann der Zugang beispielsweise durch bestimmte Öffnungszeiten reguliert sein, das Erleben von Kollektivität oder die Aneignung von speziellem Wissen an diesen Orten kann aber eine besondere Rolle spielen. Anhand von Ozans Netzwerkkarte wird deutlich, dass die für ihn relevanten Lebensräume die Familie und die Religion sind, »Schule/Freizeit« fasst er in einem Bereich zusammen, der nur etwa ein Sechstel der Fläche einnimmt. Auch wenn er im Interview viel über seinen Schulwechsel und Ereignisse innerhalb des Schulsettings oder der Peergroup spricht, zeigt sich, dass Familienorientierung und religiöse Werte immer wieder in diesen Bereich hineinspielen und insbesondere die Beschäftigung mit dem Islam ihm eine positive Identitätskonstruktion des ›Andersseins‹ ermöglicht. Das Vorhandensein von Räumen, die frei von Gewalt sind (Familie: Scheidung der Mutter von Lukas von ihrem gewalttätigen Ex-Partner), in denen Jugendliche sich ausprobieren oder zurückziehen (Hobbys) und in denen sie Anerkennung bekommen und Teilhabe umsetzen (Religion, Schule, Freund_innenschaften), können günstige Bedingungen darstellen, um nicht auf Gewalt als Zugang zu (sozialen) Ressourcen zurückgreifen zu müssen. Es kommt darauf an, sehr genau die Qualität der Räume und der darin beschriebenen Beziehungen anzuschauen und auch das komplexe Zusammenspiel von Privilegien und Marginalisierungen zu analysieren, um herauszufinden, welche Konstellationen gewaltablehnende Lebensweisen begünstigen beziehungsweise Gewaltkarrieren verhindern oder unterbrechen. Die hier aufgezeigten Verknüpfungen von Männlichkeit und anderen Faktoren mögen eine Idee bezüglich der Komplexität dieser Angelegenheit geben und die Notwendigkeit weiterer komplexitätsfreudiger Forschung im Bereich der Gewaltablehnung, Gewaltdistanz und Gewaltabstinenz deutlich machen.
S CHLUSSBETRACHTUNG : I NTERSEKTIONALE D IMENSIONEN Sumi Cho, Kimberlé Crenshaw und Leslie McCall charakterisieren des Feld der »Intersectionality Studies« als bestehend aus drei Dimensionen: einem Analyse-
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rahmen für intersektionale Dynamiken, diskursiven Erkundungen rund um die Fragen nach Inhalten und Bandbreite von Intersektionalität als methodologischem und theoretischem Paradigma und der Dimension intersektional informierter politischer Interventionen.48 In diesem Beitrag werden alle drei Bereiche berücksichtigt. Anhand eines empirischen Beispiels lässt sich erstens eine intersektionale Analyseperspektive im Kontext von Männlichkeit aufzeigen,49 bei der zweitens auf methodologisch-theoretische Implikationen für die Dokumentarische Methode eingegangen wird.50 Dabei kommt insbesondere dem gesellschaftlichen Status, der über die Verknüpfung von mehreren Privilegien zustande kommt, besondere Aufmerksamkeit zu. Die dritte Dimension der politischen Intervention spielt insofern eine Rolle, als dass Forschung eine Intervention in bestimmte thematische (Wissenschafts-) Felder sein kann, wenn sich zum Beispiel geschlossene Begriffe wieder öffnen, sich Fragen anders stellen oder Perspektiven berücksichtigen lassen, die üblicherweise Marginalisierungen unterliegen, weil sie etwa als zu speziell oder zu allgemein angesehen werden. Konkret führt diese Überlegung in diesem Forschungsprojekt dazu, einen weiten Gewaltbegriff zu verwenden, der auch die strukturellen Gewaltverhältnisse wie Rassismus oder Queerfeindlichkeit51 ein-
48 S. Cho/K.W. Crenshaw/L. McCall: »Towards a Field of Intersectionality Studies«, S. 785. 49 Wobei damit die Frage, was genau ein Junge ist, noch nicht beantwortet ist. Im quantitativen Fragebogen, der in derselben Studie erhoben wurde wie die von mir untersuchten Interviews (siehe unten), hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, zwei Aussagen zu ihrem Geschlecht zu machen. Sie sollten sich mit einem Kreuzchen auf einer Skala, die von ›100 % typisches Mädchen‹ zu ›100 % typischer Junge‹ reichte, zu den Fragen des eigenen Aussehens und des eigenen Gefühls bezüglich ihres Geschlechts positionieren. Die hier besprochenen Jugendlichen haben ihre Kreuzchen an unterschiedlichen Stellen des Kontinuums gemacht, nehmen sich aber beide als »Jungen« wahr. 50 Vgl. Nohl, Arnd-Michael: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die
Forschungspraxis,
Wiesbaden
2009;
Bohnsack,
Ralf/Nentwig-Gesemann,
Iris/Nohl, Arnd-Michael: »Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis«, in: dies. (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 2007, S. 9-28. 51 »Queerfeindlichkeit« erscheint mir ein treffenderer Begriff zu sein als »Homophobie« oder »Heteronormativität«, wenn es um diskriminierende und Gewalt legitimierende Strukturen gegen nicht-heterosexuell lebende und/oder sich nicht im System der Zweigeschlechtlichkeit als passend befundene Personen geht. Im Begriff »Homophobie« schwingt die »Angst vor Schwulen« stark mit, das empfinde ich als zu eng. Es
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schließt. Es heißt, nicht die übliche Frage nach den Ursachen von Gewalt zu stellen, sondern subjektorientiert nach den Ursachen des Nichtgebrauchs von Gewalt zu fragen und es bedeutet auch, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Letzteres könnte beispielsweise auch die Perspektive derer einschließen, die gesellschaftlich eher als Gewalttäter wahrgenommen werden, zur Frage der Gewaltfreiheit aber auch viel zu sagen haben. Da Politik zu ihrer Legitimation oft einer Evidenzbasiertheit bedarf, kommt der Forschung eine politische Verantwortung zu, Ergebnisse zu produzieren, die – insbesondere wenn es um Kinder und Jugendliche geht, deren Entwicklung in der allgemeinen gesellschaftlichen Verantwortung liegt – den Adressat_innen zugute kommt. Die Jugendforschung produziert zuweilen eine gewisse Schieflage, indem sie vor allem Gewalttätigkeit und Gewalttäter_innen in den Fokus nimmt, die nicht-gewalttätigen Jugendlichen und ihre Rahmenbedingungen oder die Ambivalenzen des (Nicht-)Gewaltgebrauchs in diesem Bereich aber kaum bespricht. Ein zweites Feld, in dem Interventionen stattfinden können, ist die noch recht junge Resilienzforschung, die dazu neigt, mit einem sehr individualisierenden Blick auf Personen zu schauen und zu analysieren, welche Persönlichkeitsmerkmale dazu beitragen, dass jemand trotz widriger Umstände gut klarkommt und sich psychisch eventuell sogar positiv entwickelt.52 Es besteht hier einerseits das Problem der Zirkularität, dass also nicht ohne weiteres gesagt werden kann, ob ein Resilienzfaktor eher Henne oder Ei – also Bedingung oder Ergebnis – in einem Entwicklungsprozess ist. Andererseits besteht auf politischer Ebene das Risiko, dass im Namen individualisierender Logiken Ressourcen nicht gewährt oder gar abgebaut werden, da im Falle einer Situation mit einem Resilienz-Gefälle die Verantwortung für die vermeintliche eigene Unterperfor-
geht auch nicht um Angst, sondern um den Vollzug ablehnender Handlungen. »Heteronormativität« zielt auf ein Set von Normen ab, das eine zweigeschlechtliche und heterosexuelle Identifizierung und Lebensweise begünstigt. Damit bezieht sie sich zwar auf ein weiter gefasstes Konzept von sexuell-geschlechtlicher Seinsweise, »queer« verstehe ich aber als noch umfassender, weil es letztendlich alle »quer zur Norm« lebenden Personen einschließt, also auch Personen, die z.B. nicht den gängigen Schönheits- oder Fitseinsnormen entsprechen. Zum Thema »queer« siehe: Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn 2008. 52 Vgl. die Kritik am Resilienzkonzept in von Freyberg, Thomas: »Resilienz – mehr als ein problematisches Modewort«, in: Margherita Zander (Hg.), Handbuch Resilienzförderung, Wiesbaden 2011, S. 219-239.
I NTERSEKTIONALE P ERSPEKTIVEN AUF S ELBSTPOSITIONIERUNGEN J UGENDLICHER
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manz an die als nicht resilient angesehen Individuen gegeben wird.53 Es ist deshalb anzuraten, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu nehmen, die die Seinsweisen der Jugendlichen strukturieren und ihnen Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe eröffnen oder verstellen.
53 Das kann beispielsweise so aussehen, dass bei einem Vergleich zwischen zwei aus benachteiligenden Strukturen stammenden Jugendlichen, bei denen die_der eine gut klarkommt und der_die andere nicht, die_der gut funktionierende Jugendliche zur Norm erklärt wird. Dem_der vermeintlich zu wenig leistenden Jugendlichen wird eigenes Verschulden an der eigenen Situation zugeschoben und keine Unterstützung gewährt.
Freiräume? Geschlechterkonstruktionen und -konflikte in der westdeutschen Hausbesetzungsbewegung der 1980er Jahre
J AN -H ENRIK F RIEDRICHS
»Mit 14 schwer verliebt. Meine Freundin war autonom, frauenbewegt, Besetzerin, radikal und einfach toll. Es war cool, was sie und ihre Freundinnen taten. Ich fühlte mich mit ihnen in einem großen WIR vereinigt. Dieses WIR war groß. Es umfasste die Punks, die Besetzer, die aus der Züricher Bewegig, die holländischen Kraaker, die Fertigbetonindianer und all die anderen schönen, jungen Wilden. Aber mit Feminismus, Patriarchat habe ich mich so wenig beschäftigt wie mit dem anderen Theoriescheiß.« – Aus den Erinnerungen eines Berliner Hausbesetzers1 »Wir lassen uns nicht länger einreden, daß unsere Feinde nur auf der anderen Seite der Barrikade stehen.« – Aus einer Broschüre Berliner Hausbesetzerinnen, 19822
Im Jahr 1980 breitete sich, von West-Berlin, Zürich und Amsterdam ausgehend, eine neue städtische Bewegung über die Bundesrepublik aus: die Hausbesetzungsbewegung. Diese speiste sich aus einer Kritik an der Zerstörung knappen Wohnraums in den Innenstädten zugunsten neuer Hochhaussiedlungen am Stadtrand. Die ›Unwirtlichkeit‹ moderner Städte wurde dabei von ihren Kritiker_innen mit einer als entfremdet und technokratisch empfundenen Gesellschaftsordnung verknüpft, welche in Metaphern von Beton und Kälte ihren sinn-
1
Zitiert nach A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2008, S. 176.
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»Auf Vergewaltigung steht lebenslänglich – für uns!«, in: Frauencafé Moabit (Hg.), Frauenbewegung und Häuserkampf – unversöhnlich?, Berlin 1982, S. 39.
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fälligen Ausdruck fand. Hausbesetzungen waren von Beginn an also mehr als nur Interventionen in Sanierungs- und Stadtentwicklungspolitiken. Für die oft jugendlichen Besetzer_innen sollten die besetzten Häuser und Wohnungen eine gelebte Alternative zur Kälte des sie umgebenden »Modell Deutschlands« darstellen und dieser die »Wärme« neuartiger sozialer Formen des Zusammenlebens jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie entgegenstellen.3 Geschlechterfragen spielten daher in der Besetzungsbewegung von Anfang an eine wichtige Rolle, wenngleich oftmals in der Form ungelöster und teilweise äußerst vehement ausgetragener Konflikte.4 Die fortdauernde Existenz solcher Konflikte stellte die Besetzer_innen vor Probleme.5 Da die besetzten Häuser als autonome Freiräume imaginiert worden waren, die den Ausschluss gesellschaftlicher Machtstrukturen und die Existenz einer diffusen Wärme versprachen, rührten Konflikte um Geschlechterverhältnisse an den Grundlagen identitärer und räumlicher Konzepte der Besetzungsbewegung. Diese Konflikte, so meine These, lassen sich maßgeblich auf zwei sich wechselseitig bedingende Konstruktionen zurückführen: die Vorstellung von besetzten Häusern als Freiräumen und von den sie umgebenden Stadtvierteln als befreite und zu verteidigende Territorien; und die Durchsetzung eines Männlichkeitsideals, das sich am vermeintlich Authentischen orientierte und dem archaischen Typus des Kriegers entsprach. Aufbauend auf Zeugnissen der Berliner Besetzungsbewegung und orientiert an Michel Foucaults Konzept der Heterotopie werde ich darlegen, wie die spezifischen Konstruktionen von Raum
3
Reichardt, Sven: »›Wärme‹ als Modus sozialen Verhaltens? Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des linksalternativen Milieus vom Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre«, in: vorgänge 171/172 (2005), S. 175-187; ders.: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 186-217.
4
Dieser Beitrag basiert auf einer umfassenderen Studie zu Räumen abweichender Jugendlichkeit in den 1970er und 1980er Jahren, vgl. Friedrichs, Jan-Henrik: Urban Spaces of Deviance and Rebellion. Youth, Squatted Houses and the Heroin Scene in West Germany and Switzerland in the 1970s and 1980s, Dissertation, Vancouver 2013, https://circle.ubc.ca/handle/2429/44374.
5
Durchgehend ist im Folgenden von Besetzerinnen und Besetzern, Männern und Frauen die Rede. Diese gesellschaftlichen Positionen sind zwar Konstrukte, aber sie strukturierten die Besetzer_innenszene vor allem durch die jeweiligen Selbstidentifikationen als Frau oder Mann. Die permanente (Re-)Konstruktion dieser Identifikationen, ihre vielfältigen, brüchigen und konfliktreichen Ausprägungen sind Thema dieses Beitrages.
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und Geschlecht ineinandergriffen, welche Konfliktfelder für die Besetzungsbewegung strukturierend waren und – am Beispiel von exklusiven ›Frauenräumen‹ – welche Lösungsstrategien sich aus den historischen Konstruktionen von Raum und Geschlecht ergeben konnten.6
A UTONOMIE STATT R EVOLUTION – B ESETZTE H ÄUSER ALS H ETEROTOPIEN Der Kampf um die Emanzipation der Frau und die um 1980 aufkommende Praxis des Besetzens schienen zunächst natürliche Verbündete zu sein. Wie Doreen Massey gezeigt hat, haben Räume einen tiefgreifenden Einfluss auf Geschlechtsidentitäten.7 In diesem Sinne hatte der Modernismus der 1960er und 1970er Jahre, trotz seines Anspruchs alle Verbindungen zur Vergangenheit radikal zu kappen, keine größeren Freiheiten für Frauen gebracht – im Gegenteil. Modernistische Architektur und Stadtplanung basierten auf hergebrachten Rollenmustern und verstärkten diese sogar. Die funktionale Aufteilung der Stadt in Wohn-, Arbeits- und Konsumzonen entsprach der fordistischen Arbeitsteilung zwischen männlicher Lohnarbeit und weiblichen Reproduktionstätigkeiten. Während die modernistische Stadtplanung Frauen daher tendenziell in den eigenen vier Wänden isolierte, war der Raum der standardisierten Kleinfamilienwohnung auf die Bedürfnisse des Mannes zugeschnitten. Das Wohnzimmer, der größte Raum der Wohnung, diente der Erholung des Familienoberhauptes nach getaner Erwerbsarbeit. Neben einem Schlafzimmer und einem oder mehreren Kinderzimmern war ein eigener Raum für die Ehefrau üblicherweise nicht vorgesehen, da die Küche als ihr eigentliches Reich galt. Die funktionale Unterteilung der Stadt spiegelte sich somit in der räumlichen Organisation der einzelnen Wohnungen und zeigte den Subjekten ihren je geschlechtsspezifischen Platz in der Gesellschaft.
6
Eine eingehendere Debatte der diesem Aufsatz zugrundeliegenden theoretischen Ansätze muss hier aus Platzgründen unterbleiben. Neben den raumtheoretischen Werken von Henri Lefebvre und Michel de Certeau sei hier vor allem auf die Arbeiten Doreen Masseys sowie, vor allem für den deutschen Forschungskontext, Martina Löws verwiesen. Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford/Cambridge 1991; de Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley/Los Angeles/London 1984; Massey, Doreen: Space, Place and Gender, Cambridge/Oxford 1994; Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
7
D. Massey: Space, Place and Gender, v.a. S. 6ff. und 178ff.
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Mit der zweiten Frauenbewegung und ihrem Postulat, dass auch das Private politisch sei, war eine Kritik dieser Zustände seit den 1960er Jahren grundsätzlich möglich geworden, auch wenn urbaner Raum hier zunächst weder als Objekt noch als Mittel der Kritik in Erscheinung trat. Erst mit der autonomen Frauenbewegung der 1970er Jahre wurde die Aneignung von Räumen – als Frauencafés, -buchläden und -gesundheitszentren – zentraler Bestandteil feministischer Kritik.8 Die autonome Frauenbewegung diente auch als Bindeglied zur neuen Besetzungsbewegung und zur autonomen Szene der 1970er und 1980er Jahre, deren Primat der ›Politik der ersten Person‹ an die Losungen der Frauenbewegung anschlussfähig war. Und so verwundert es nicht, dass auch in der Besetzer_innenbewegung Frauen von Anfang an eine wichtige Rolle spielten und diese in eine Tradition zur zweiten Frauenbewegung stellten, wie diese Berliner Besetzerin erläuterte: »Ich glaube, ohne Frauenbewegung wäre so was wie Männer und Frauen im besetzten Haus überhaupt nicht möglich. Eine so offene Form des Zusammenlebens, mit all den Emotionen! Es ist ein wahnsinniger Schritt für eine Frau, den Abschied vom Märchenprinzen zu nehmen, nicht mehr zu glauben, ich heirate mal, habe Kinder, wohne in einer Dreizimmerwohnung und fühle mich ganz toll.«9
Das Zusammenleben jenseits der heterosexuellen Paarbeziehung war damit als ein Feld persönlicher und politischer Befreiung definiert. Eine Serie von über 50 Interviews mit Berliner Hausbesetzer_innen, die der Tagesspiegel 1981 durchführte, kam zwar zu dem Ergebnis, dass nur die Hälfte von ihnen politische Gründe für ihr Handeln geltend machte. Allerdings wurde gerade im Bereich der Geschlechterpolitik »die Suche nach neuen Lebensformen«, die der Tagesspiegel als Gegenbegriff zum »Politischen« anführte, als hochgradig politisch verstanden. Eine Neuköllner Gruppe fasste den Zusammenhang zwischen notwendiger gesellschaftlicher Befreiung und neuen Formen des Zusammenlebens im Begriff des »Lebensglück[s]« zusammen, das der Staat nicht in der Lage sei herzustel-
8
Notz, Gisela: »Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre. Entstehungsgeschichte – Organisationsformen – politische Konzepte«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 123-148; dies.: »Frauenräume. Die autonome Frauenbewegung der 1970er Jahre und ihr Konzept des Frauenraums in der BRD«, in: Ariadne 61 (2012), S. 60-65.
9
»Mehr als nur der Raum zum Wohnen«, in: Alternative 139 (1981), S. 184-192, hier S. 187.
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len.10 Ähnlich wie bei den Kommunen der 1970er Jahre hielten sich damit politische und persönliche Gründe bei den Besetzer_innen die Waage beziehungsweise waren nicht voneinander zu trennen. Besetzungen schufen ein konkretes Gegenmodell zu fordistischen Raumkonzepten und ihren Implikationen für die Geschlechter. Alle Erwachsenen sollten sich hier an der Reproduktionsarbeit, inklusive der Kindererziehung, beteiligen können. Kinderläden ermöglichten es Müttern, einer Lohnarbeit nachzugehen, sich politisch zu engagieren oder einfach mehr Freizeit zu genießen. Auch die angestrebte Nähe von Wohn- und Arbeitsplatz sollte der oben beschriebenen Isolierung in der funktionalistisch aufgeteilten Stadt entgegenwirken. In den riesigen Wohnküchen, die oft das Zentrum eines besetzten Hauses oder einer besetzten Wohnung bildeten, verschwamm die Grenze zwischen männlich und weiblich konnotierten Räumen. Besetzungen übten auf große Teile gerade der autonomen Frauenbewegung eine besondere Anziehungskraft aus, weil sie Räume schufen, die eine bessere Zukunft schon in sich trugen und im Hier und Jetzt verwirklichten.11 Damit standen die Vorstellungen autonomer Feministinnen in Einklang mit denen der gesamten Besetzer_innenbewegung. Die besetzten Häuser wurden als grundsätzlich verschieden von den sie umgebenden Räumen und damit von der Gesellschaft insgesamt angesehen. Damit galten sie als Freiräume in einem doppelten Sinn. Einerseits wurden sie als Räume außerhalb der hegemonialen Ordnung imaginiert, die die Voraussetzungen für ein freies Leben darstellten. Alles Negative der »Beton-« und »Packeisgesellschaft«, inklusive patriarchaler Strukturen und sexistischer Verhaltensweisen, schien aus ihnen ausgeschlossen zu sein.12 Sie waren aber auch in dem Sinne frei, als dass sie es den Besetzer_innen
10 Hilgenberg, Dorothea/Schlicht, Uwe: »Was Hausbesetzer denken. Über das Leben in den Häusern, über die Gesellschaft, den Staat, die Gewalt«, in: Der Tagesspiegel vom 10.10.1981, S. 12. 11 Zur Bedeutung der besetzten Häuser als Grundpfeiler einer politischen »Kommunikations- und Organisationsstruktur« siehe Manrique, Matthias: Marginalisierung und Militanz. Jugendliche Bewegungsmilieus im Aufruhr, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 127f. 12 Diese Vorstellung war äußerst langlebig, obgleich sie vor allem durch sexualisierte Gewalttaten immer wieder infrage gestellt werden musste. So heißt es etwa 1984 in einem Diskussionspapier anlässlich einer Vergewaltigung in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße sarkastisch: »Nun denn, wir leben schon im befreiten Gebiet, reingewaschen von den Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft aus der wir vor langer Zeit mal kamen – befreit durch unseren Widerstand. Die Gesellschaft,
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erlaubten, vielfältige und teilweise widersprüchliche utopische Vorstellungen auf sie zu projizieren, sie mit einem utopischen Gehalt zu füllen. »Bei uns ist alles anders,« versicherte eine jugendliche Besetzerin dem Stern – eine gerade in ihrer Unbestimmtheit präzise Definition des zeitgenössischen Freiraumkonzeptes.13 Eine Vorstellung, die auch durch konservative Kräfte und Medienberichte gestützt wurde, die die Häuser als »rechtsfreie Räume« titulierten14 – eine negative Zuschreibung, die jedoch auf der gleichen Grundannahme fußte: dass sich die besetzten Häuser von ihrer Umgebung fundamental unterschieden. Diese Vorstellungen entsprachen damit dem, was Michel Foucault als »andere Räume« oder Heterotopien bezeichnet hat. Diese seien, so Foucault, »gleichsam Gegenorte, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.«15 Dabei soll es hier nicht darum gehen, zu erörtern, ob besetzte Häuser nun tatsächlich solche Gegen-Orte waren. Aber der Begriff der Heterotopie hilft, zeitgenössische Raumvorstellungen analytisch zu greifen. Für die Besetzer_innen waren die Häuser eben nicht nur Orte, an denen sich revolutionäre Subjekte aufhielten und die man der kapitalistischen Verwertungslogik (temporär) entzogen hatte. Sie waren auch nicht einfach eine prinzipiell austauschbare Bühne, auf der sich Protest artikulieren konnte, etwa in der Form von Wandmalereien oder Transparenten. Sondern es handelte sich in der Vorstellung der Besetzer_innen um Räume, in denen eine andere Gesellschaftsordnung bereits verwirklicht war. Indem man diese Räume schuf beziehungsweise sich in diese Räume begab, war es den Subjekten scheinbar möglich, die kapitalistischen und patriarchalen Strukturen und
menschenverachtend und insbesondere Frauen zur Ware machend, produziert ihre Sexisten außerhalb unseres ›Morazans‹ [Hochburg der FMLN in El Salvador, JHF].« Vgl. einige männer aus der scene: »Wozu den Pfeil beschuldigen, wenn es den Bogen dazu gibt.«, [Hamburg] 1984, Archiv der Sozialen Bewegungen, Hamburg, 09.400, Hafen Flugis 1982-87, S. 2. 13 Karin in: Gebhardt, Heiko: »In einem besetzten Haus«, in: Stern vom 05.02.1981, S. 30-34 und 186-187, hier S. 187. 14 Siehe dazu vor allem Amman, Rolf: Der moralische Aufschrei. Presse und abweichendes Verhalten am Beispiel der Hausbesetzungen in Berlin, Frankfurt a.M. 1985. 15 Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV, 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, hier S. 935. Zur vielfältigen Rezeption des Konzeptes siehe Johnson, Peter: »Unravelling Foucault's ›different spaces‹«, in: History of the Human Sciences 4 (2006), S. 75-90.
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die mit ihnen einhergehende ›soziale Kälte‹ der Gesellschaft zu verlassen. Der Freiraum als Idee und Sozialraum wurde, so der Soziologe Matthias Manrique, zu einem zentralen »Identifikationsmedium«.16 In anderen Worten: Gesellschaftliche Missstände sollten nicht mehr in der Zeit, etwa durch parlamentarische Arbeit oder eine Revolution, überwunden, sondern räumlich ausgeschlossen werden. Schnell jedoch erwies sich die Idee eines heterotopen Gegen-Ortes als überaus brüchig.17 Unterschiedliche Klassen- und Bildungshintergründe sorgten ebenso für Konflikte wie die Frage nach möglichen Verhandlungen mit dem Senat über eine Legalisierung der Häuser. Aber auch die Geschlechterfrage barg gehöriges Konfliktpotenzial, vielleicht umso mehr, als die Besetzer_innenbewegung mit dem Wohnen den Reproduktionsbereich zu einem ihrer Hauptpolitikfelder erklärt hatte.18
16 M. Manrique: Marginalisierung und Militanz, S. 79. 17 Freia Anders hat auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Konzept des Freiraums und der »Strategie der Selbstghettoisierung« verwiesen. Aktivist_innen diskutierten letztere als mögliche »Reproduktion der Zwangsghettosisierung des Staates« und stellten damit das Konzept einer raum-basierten Politik insgesamt infrage. Im Folgenden konzentriere ich mich jedoch auf die Konflikte innerhalb der Räume der Besetzungsbewegung. Anders, Freia: »Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre«, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 19681983, Göttingen 2010, S. 473-498, hier S. 493. 18 Zum Konflikt zwischen Verhandler_innen und Nicht-Verhandler_innen vgl. ebd., S. 480. Hinweise auf Konflikte entlang von Klassen- oder Bildungslinien finden sich beispielsweise in A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung, S. 45 und bei Reimitz, Monika/Thiel, Wolfgang/Wirth, Hans-Jürgen: »Muß denn Leben Sünde sein? Notizen, Assoziationen und Interpretationen zu Gesprächen mit Hausbesetzern und Punks«, in: Marlene Bock et al. (Hg.), Zwischen Resignation und Gewalt. Jugendprotest in den achtziger Jahren, Opladen 1989, S. 11-42, hier S. 31.
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R AUM
G ESCHLECHT ALS INTERDEPENDENTE K ONFLIKTFELDER UND
Viele Besetzerinnen beschwerten sich über ihre männlichen Genossen wie folgt: »Politisch können die etwas drauf haben, persönlich ist das ganz anders.«19 Reproduktionsarbeiten wie Kochen, Putzen und emotionale Arbeit wurden oft – entgegen der ursprünglich gehegten Erwartungen in Bezug auf die Heterotopie des besetzten Hauses – nach wie vor an Frauen delegiert, während der gesamte Bereich handwerklicher Tätigkeiten ein Hauptschauplatz linksradikaler Männlichkeit gewesen zu sein scheint. Berichte von Frauen über unerwünschte Ratschläge von Männern oder über Besetzer, die ihnen die Werkzeuge förmlich aus der Hand rissen, finden sich verhältnismäßig häufig.20 Handwerkliche Arbeit, das ganz konkrete Schaffen von Räumen war aber ein wichtiger Prozess, um ein besetztes Haus auch emotional zu besetzen, es von ›einem Haus‹ in ›unser Haus‹ zu verwandeln. Durch die stets anfallenden Reparaturen entwickle man, so eine Besetzerin im Kursbuch, »da so ein Verhältnis dazu«, sodass man irgendwann wisse, »wo die Leitungen lang gehen und wie das zusammenhängt, genauso, wie du die Geräusche aus der Umgebung kennst, die Leute, das ist ein Zusammenhang.«21 Raum und Subjekte verschmolzen so zu einer organischen Einheit. Wenn nun männliche Besetzer Frauen von Instandsetzungsarbeiten abhielten, verweigerten sie ihnen auch die Möglichkeit den besetzten Raum sichtbar zu gestalten und sich zu diesem emotional ins Verhältnis zu setzen. Doch die Befragte machte auch deutlich, dass sich ihre Art, an solche Renovierungsarbeiten heranzugehen, von derjenigen ihrer männlichen Mitbesetzer unterschied. Auf Nachfrage führte sie aus, dass sie »die großen Sachen […] sowieso nicht« machen würde: »Aber wenn ich mir was leihe oder 'nen Rat hole, dann reden die mir zwar nicht dazwischen, aber sie sagen mir, woran ich noch alles denken soll und was für Nebeneffekte dies oder das noch hat, und das hat mich dann früher oft ganz verunsichert und wütend gemacht. Früher hab ich's dann oft gelassen. Aber mittlerweile steh ich's besser durch.«22
19 Zitiert nach D. Hilgenberg/U. Schlicht: »Was Hausbesetzer denken«. 20 »Mehr als nur der Raum zum Wohnen«, S. 185f. Vgl. auch amantine: Gender und Häuserkampf, Münster 2011, S. 108f. 21 Härlin, Benny: »Von Haus zu Haus – Berliner Bewegungsstudien«, in: Kursbuch 65 (1981), S. 1-28, hier S. 18. 22 Ebd.
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Handwerkliche Tätigkeiten wurden so als Momente der Emanzipation und Selbstermächtigung erlebt. Deutlich erscheinen sie in den obigen Zitaten aber auch als mögliche Quelle von Konflikten, in denen dieses Emanzipationsbestreben in Frage gestellt wurde. Diese punktuellen Auseinandersetzungen um Geschlechterrollen wurden ergänzt durch einen generell sehr rauen Umgangston untereinander. Dies war besonders auf großen Plena der Fall, wenn konträre Positionen aufeinander trafen. Ein Teilnehmer beschrieb die dortige Atmosphäre im Kursbuch wie folgt: »Mit Handheben kommt man hier nicht zu Wort. Es kommt darauf an, den richtigen Moment abzupassen und dann laut genug zu brüllen. [...] Theoretiker haben keine Chance hier, es kommt vor allem auf die Power an, mit der die Argumente vorgetragen werden.«23 »Keine Chance« hatten in diesem Sinne alle Besetzer_innen, die sich dieser Form der Kommunikation nicht unterwerfen wollten oder konnten. Die geschlechtsspezifische Erziehung zu weiblicher Zurückhaltung und männlicher Selbstbehauptung verschaffte Männern hier jedoch einen strukturellen Vorteil. Manchmal wurde dieses Gefälle auch deutlich sichtbar, so etwa als eine Besetzerin, die sich für Verhandlungen mit dem Senat eingesetzt hatte, unwidersprochen als »Verhandlungs-Votze« angegriffen werden konnte.24 In mindestens einem Fall wurde auch ein männlicher Aktivist in ähnlicher Weise beschimpft.25 Ein Autor der alternativen Tageszeitung beklagte dies als ein Zeichen dafür, dass die »von der Frauenbewegung in den 70er Jahren erzwungene Diskussion über neue Sensibilität […] unter den Steinen der Hausbesetzerbewegung verschüttet zu gehen« drohe.26 Auffällig ist jedenfalls, dass sexistische Äußerungen in den Entscheidungsstrukturen der Berliner Besetzungsszene nicht immer unterbunden oder geahndet wurden, unabhängig davon, ob sie sich gegen Frauen oder Männer richteten.
23 Ebd., S. 21f. 24 Ebd., S. 22. In diesem Kontext wurde Weiblichkeit mit einer auf konsensualen Ausgleich setzenden und negativ konnotierten Rationalität identifiziert, während sich Männlichkeit eher in einer positiv verstandenen antagonistischen Emotionalität manifestierte. 25 »›Halt's Maul, du alte Votze‹, brüllte ein Besetzer einen Kollegen an, dessen Meinung ihm nicht gefiel. Dreihundert Leute auf dem Besetzerrat hörten sich seinen Wutausbruch an, ohne ihn wegen seiner für die linke Szene zumindest bis vor kurzem unerhörten Wortwahl zu kritisieren.« Juliane/Heike/Renate/Jutta/Claudia: »Ein neuer Chauvinismus«, in: taz vom 27.07.1981, zitiert in: Frauencafé Moabit (Hg.), Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 40-42. 26 Ebd.
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Diese Art der Konfliktaustragung dominierte nicht nur die großen Plena, sondern strukturierte auch die Alltagskommunikation in vielen Häusern. Da die Besetzer_innen den Reproduktionsbereich als Ort des politischen Kampfes verstanden, waren Debatten um die Organisation des Alltags immer auch mit Fragen nach politischen Überzeugungen, Taktiken und Strategien verknüpft. Die Aussage, dass das Private stets politisch sei, nahm hier eine nicht-intendierte Wendung, indem alle Debatten als politische Debatten, mit der nötigen ›power‹, geführt wurden. Geschrei und gewalttätige Auseinandersetzungen waren häufig – wenn auch nicht in allen Häusern gleichermaßen – und konnten das Leben in den Häusern »für einzelne auch zum Albtraum werden«27 lassen. Die räumlichen und sozialen Bedingungen der Besetzer_innenszene boten mehrere Möglichkeiten, mit diesen harschen Umgangsformen umzugehen. Eine Besetzerin beschrieb diese Art der Konfliktregulierung als Teil einer positiven Lernerfahrung, denn sie hätte »z.B. auch hier im Haus gelernt herumzubrüllen oder einer Auseinandersetzung nicht permanent aus dem Weg zu gehen.«28 Sich widersprechende politische Ideale und persönliche Bedürfnisse wurden hier nicht primär mit dem Ziel diskutiert, eine mögliche konsensuale Lösung zu finden, sodass auch hier die jeweiligen Argumente in den Hintergrund traten, während die ›power‹, mit der sie vorgebracht wurden, zum bestimmenden Merkmal eigener Betroffenheit wurde. Eine andere Verhaltensstrategie machte sich die vergleichsweise großzügigen räumlichen Verhältnisse in den besetzten Häusern zunutze. »[Wir] haben hier Zeit, das abzuwarten,« führte dieselbe Besetzerin weiter aus, »und können uns auch aus dem Weg gehen, nach vier Wochen ist die Situation eine andere. Wir führen deshalb keine mörderischen Diskussionen.«29 Auch die Praxis der Konfliktvermeidung lief Gefahr, konsensuale Lösungsprozesse zu behindern. Schließlich konnte man, wenn beide Strategien fehlschlugen, leicht in ein anderes besetztes Haus wechseln. »Dann zieht man eben aus, und das geschieht häufig. Die Fluktuation innerhalb der einzelnen Gruppen und zwischen verschiedenen Häusern ist groß.«30 Fehlende Mietvertragsbindungen und, zumindest in Berlin, ein ausreichendes Angebot an Ausweichmöglichkeiten machten eine solche Verfahrensweise möglich. Der Preis war jedoch hoch, da die so oft beklagte soziale Kälte der modernen Stadt, vor der viele Besetzer_innen zu fliehen gehofft hatten, sich in den besetzten Häusern so reproduzieren konnte und teilweise noch eine Steigerung erfuhr.
27 B. Härlin: »Von Haus zu Haus«, S. 22. 28 »Mehr als nur der Raum zum Wohnen«, S. 185. 29 Ebd. 30 B. Härlin: »Von Haus zu Haus«, S. 23.
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K RIEGER , HALB EIN GESCHMEIDIGES T IER « – ZUR K ONSTRUKTION MÄNNLICHER K ÖRPER IN DER B ESETZUNGSSZENE EIN STOLZER
Doch warum waren große Teile der Besetzer_innenszene von solch einer aggressiven Stimmung geprägt? Die Gründe hierfür waren sicherlich vielfältig. Die ständige Unsicherheit aufgrund der von Räumung bedrohten, prekären Wohnsituation wird ebenso dazu beigetragen haben wie die Erfahrung von Polizeigewalt oder die teilweise enorme Heterogenität und Instabilität der Besetzer_innengruppen. Einer der Hauptgründe dafür, dass Gebrüll, Beleidigungen und selbst körperliche Auseinandersetzungen in der Szene nicht geächtet, sondern als angemessene Verhaltensweisen weitgehend akzeptiert wurden, lag jedoch, so meine These, in dem Bild des harten Straßenkämpfers, welches als Männlichkeitsideal weite Teile der Besetzer_innenszene strukturierte. Dieses Bild wurde auf vielen Ebenen (re)produziert, ganz besonders in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei im öffentlichen Raum, aber auch in Selbstdarstellungen, Medienberichten und vergeschlechtlichten Raumkonstruktionen. Dem Körper kam dabei als Schnittstelle zwischen all diesen Ebenen eine besondere Bedeutung zu. Während Männlichkeit im Alltag beispielsweise durch handwerkliche Tätigkeiten hergestellt werden konnte,31 war der Typus des Straßenkämpfers auf Auseinandersetzungen mit der Polizei angewiesen. Demonstrationen waren daher stets mehr als nur politischer Protest, sie waren auch eine Männlichkeitsperformance im urbanen Raum, bei der sich Autonome und Polizisten als Krieger inszenieren konnten.32 Der Straßenkämpfer wurde dabei zunächst durch die Kleidung identifizierbar: schwarze Lederjacke und Springerstiefel oder Turnschuhe waren hier so etwas wie der autonome Standard. Diese wurden bei Demonstrationen und in fotografischen Selbstdarstellungen oftmals durch eine schwarze Skimaske und/oder einen Motorradhelm ergänzt. Während Lederjacken und
31 Dies war auch eine praktische Konsequenz aus der Ablehnung von »Theoretikern« (s.o.) und stellte damit eine bewusste Abgrenzung zum Männlichkeitsideal der 68er dar. 32 Zur Identitätskonstruktion der Autonomen durch kollektive Gewalt siehe Schwarzmeier, Jan: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Norderstedt 2001, S. 26ff. Zur Kritik daran, allerdings wohl in apologetischer Absicht, siehe F. Anders: »Wohnraum, Freiraum, Widerstand«, S. 494ff. Zur gewalttätigen Performanz einer »archaic masculinity« durch Polizei und jugendliche Straftäter siehe Muncie, John: Youth & Crime, London/Thousand Oaks/New Delhi 2004, S. 33f.
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Stiefel auf einer symbolischen Ebene Härte ausdrückten, repräsentierte die Skimaske, auch Hasskappe genannt, Entschlossenheit – Symbole, die in militanten Auseinandersetzungen und ihrer medialen Darstellung Bestätigung fanden. Kleidung war jedoch mehr als nur Mittel zum Selbstschutz auf Demonstrationen oder um subkulturelle Gruppenzugehörigkeit herzustellen. Die Kleidung wurde Teil des Körpers und hatte direkte Auswirkungen auf Gefühle und die eigene (körperliche) Identität. So heißt es an einer Stelle: »Unsere Power kann man spüren, wenn es Putz gibt auf der Straße: bis in die Zehenspitzen in den schnellen Turnschuhen, als Zittern aus Lust und Angst in der Magengrube [...]. Halb ein stolzer Krieger, halb ein geschmeidiges Tier. Sie kriegen dich nicht, solange du keine Angst hast. Und wenn schon. […] Es ist die Sicherheit des Angreifers, die Gewißheit, etwas zu bewirken, durcheinanderzubringen. Sie wird bestätigt durch die Schlagzeilen auf der ersten Seite von Bild und BZ, von den fahlen Gesichtern der Politiker, selbst von dem Riesenaufgebot der Polizei.«33
Kleidung, Praxis und mediale Bilder verwandelten den Körper des Besetzers in den eines Kriegers oder wilden Tieres, das heißt in einen archaischen und als nicht-entfremdet wahrgenommenen Körper. Körper und Räume schufen und veränderten einander: Die Straße schuf den Körper des Kriegers und dieser verwandelte wiederum die Straße in die »Prärie« des Wilden Westens, wie es bei den sogenannten Stadtindianern oft hieß, oder in »die montaña der Guerilla«.34 So entstanden Räume, in denen die Identität des Straßenkämpfers bestätigt und bekräftigt wurde. Gleichzeitig wurde der Körper als ein Ort der Wahrheitsproduktion, als Erfahrungsraum etabliert.35 Schließlich wurde die Subjektivität des street-fighters durch ihre mediale Reproduktion verifiziert. Vor allem die Boulevardpresse stigmatisierte die Besetzer_innen, indem sie sie mit Bildern von exotischer Andersartigkeit und Ge-
33 B. Härlin: »Von Haus zu Haus«, S. 24f. 34 M. Reimitz/W. Thiel/H.-J. Wirth: »Muß denn Leben Sünde sein?«, S. 37; Haumann, Sebastian: »›Stadtindianer‹ and ›Indiani Metropolitani‹: Recontextualizing an Italian Protest Movement in West Germany«, in: Martin Klimke/Jacco Pekelder/Joachim Scharloth (Hg.), Between Prague Spring and French May. Opposition and Revolt in Europe, 1960-1980, New York 2011, S. 141-153; A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung, S. 53. 35 Zum Zusammenhang zwischen städtischem Raum, Körpererfahrungen und dem konstitutiven Moment der Überschreitung siehe Stallybrass, Peter/White, Allon: The Politics and Poetics of Transgression, Ithaca 1986.
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walt verknüpfte, aber auch alternative Medien wie die taz trugen zu einem stereotypen Bild von »Jugendprotest« bei.36 Dieses verband sich mit der SelbstStigmatisierung der autonomen Teile der Besetzer_innenbewegung. »[Mit militanten Straßenkämpfen] entsprachen wir haarklein dem konstruierten Medienbild. Das war uns aber egal, das war sozusagen unsere Ausweiskarte als Autonome«, reflektierte einer der Beteiligten später.37 Die Darstellung als »Chaoten« und »Terroristen« bestätigte den eigenen Status als Aussteiger_in, sodass sich die Interessen der Massenmedien und der radikalen Teile der Besetzer_innenszene an diesem Punkt deckten.38 Die hier vorgenommene Deutung des Straßenkämpfers als Verkörperung einer spezifischen Form von Männlichkeit bedeutet nicht, die signifikante Rolle, die Frauen in der Bewegung spielten, zu leugnen, sie herabzuspielen oder gar einer vermeintlich natürlichen Friedfertigkeit von Frauen das Wort zu reden. Der Stil der Autonomen wurde von Frauen maßgeblich geprägt und weiterentwickelt. Seine Anleihen bei der Ästhetik des Punk, die traditionelle Geschlechterrollen in Frage gestellt hatte und deshalb für autonome Feministinnen durchaus attraktiv war, waren offensichtlich.39 Die ästhetische Weiterentwicklung zum Stil des_der Straßenkämpfer_in stellte somit auch einen sichtbaren Anspruch auf identitäre Konzepte dar, die zuvor männlichen Aktivisten vorbehalten gewesen waren. Praktischen Ausdruck fand dieser Anspruch in der aktiven Teilnahme von Besetzerinnen an militanten Aktionen oder Straßenschlachten, auch wenn manche Besetzerinnen reine Frauendemonstrationen gerade deshalb schätzten, weil dort »fast alle [Teilnehmerinnen] wieder zurückkommen« – ein impliziter Verweis auf ihre tendenziell friedfertigere Durchführung.40 Aber selbst jene, die Darstellungen von weiblichen Demonstrantinnen als friedlicher und militanten Aktivismus als genuin männliche Domäne vehement
36 Lindner, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Opladen 1996, S. 408-413. Zum zeitgenössischen Pressediskurs siehe für Berlin: R. Amman: Der moralische Aufschrei. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Lehne, Werner: Der Konflikt um die Hafenstraße. Kriminalitätsdiskurse im Kontext symbolischer Politik, Pfaffenweiler 1994. 37 A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung, S. 148. 38 Vgl. J. Schwarzmeier: Die Autonomen, S. 29. 39 Siehe dazu Poiger, Uta G.: »Das Schöne und das Hässliche. Kosmetik, Feminismus und Punk in den siebziger und achtziger Jahren«, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010, S. 222-243. 40 D. Hilgenberg/U. Schlicht: »Was Hausbesetzer denken«.
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zurückwiesen, berichteten davon, dass sie im Falle einer Festnahme einer »brutaleren Behandlung« durch Polizeibeamte ausgesetzt seien, »einfach weil wir schwächer sind, weil uns gegenüber der ›Ehrenkodex unter Kriegern‹ keine Gültigkeit besitzt.«41 In der Folge zogen es einige Frauen vor, als Männer verkleidet auf Demonstrationen zu gehen, um einer solchen geschlechtsspezifischen Behandlung zu entgehen.42 Obgleich dies nur eine Randerscheinung gewesen sein dürfte, zeigt es doch in aller Deutlichkeit, wie sehr die Straße als ein Raum zur Produktion von (militanter) Männlichkeit fungierte und zwar sowohl auf Seiten der Polizei als auch der Besetzer – und mancher als Mann verkleideter Besetzerinnen. Wenn man die Geschichte der Protestbewegungen der frühen 80er Jahre unter Genderaspekten betrachtet, so kann diese also auch als ein, so der Jugendforscher Werner Lindner, »Aufstand der Körper« begriffen werden.43 Dabei setzten die Besetzer_innen ihre eigene Körperlichkeit gegen die normierte, betonierte, modernistische Urbanität ihrer Umgebung. Der Körper wurde so zu einem heterotopen Gegen-Ort zur hegemonialen Ordnung und galt als Ausdruck von Unmittelbarkeit, direkter Betroffenheit und vermeintlich natürlichen Bedürfnissen, als »das Nahe, Eigene, Emotional-Expressive, Persönliche«44 und daher als Ort des Widerstands. Seinen sinnfälligsten Ausdruck fand diese Überzeugung im Nacktprotest – in den nackten, nur mit einer Sturmhaube bekleideten Körpern zeigte sich das Konzept einer militanten Körperlichkeit in aller Deutlichkeit.
41 Claudia: »Wir haben nie gelernt, uns zu wehren«, in: Frauencafé Moabit (Hg.), Frauenbewegung und Häuserkampf – unversöhnlich?, Berlin 1982, S. 19-20, hier S. 19. Ein anderer Grund für vergleichsweise brutalere Übergriffe gegenüber Demonstrantinnen mag darin gelegen haben, dass sie es Polizisten ermöglichten, so die angenommene Schwäche von Frauen zu bestätigen – und sich damit ihrer eigenen Überlegenheit zu versichern. 42 Zumindest in einigen Fällen scheint dies erfolgreich gewesen zu sein, siehe »Hausbesetzerinnentreffen in Berlin«, in: Frauencafé Moabit (Hg.), Frauenbewegung und Häuserkampf – unversöhnlich?, Berlin 1982, S. 38-39, hier S. 38. 43 W. Lindner: Jugendprotest, S. 356. 44 Ebd., S. 297.
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Abbildung 1: Nacktprotest auf dem Kurfürstendamm anlässlich des TuwatSpektakels am 5.9.1981.
Quelle: Michael Kipp/Umbruch Bildarchiv.
Die These vom »Aufstand der Körper« muss allerdings dahingehend konkretisiert werden, dass es sich vorwiegend um einen Aufstand männlicher Körper handelte, in dem Sinne, dass sich in den Körpern eben auch ein Unbehagen an post-industriellen Konzepten von Männlichkeit äußern konnte. Die Besetzer_innenszene war somit ein Ort, an dem sich das archaische Männlichkeitsmodell des Kriegers gegen das hegemoniale Image des Angestellten oder des neuen Sozialtyps des ›Yuppie‹ beziehungsweise ›Poppers‹ in Szene setzen ließ. Zwar existierten in der Besetzungsszene vielfache Konzepte und Ausdrucksformen ›autonomer‹ oder ›alternativer‹ Männlichkeiten nebeneinander. Der Typus des Straßenkämpfers nahm hier jedoch eine zentrale, idealtypische Stellung ein, die sich vor allem an den zahlreichen visuellen Selbstrepräsentationen der Szene ablesen lässt. Jan Schwarzmeier hat zudem am Beispiel der Autonomen darauf verwiesen, wie unter der Erfahrung zunehmender Konfrontationen mit Polizei und Politik der »Vereinheitlichungs- und Handlungsdruck nach innen« stieg.45 Von der Konzeption des Straßenkämpfers abweichende Positionen konnten so
45 J. Schwarzmeier: Die Autonomen, S. 27.
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als unmännlich abgewertet werden,46 während andere Körperbilder hinter den Selbstinszenierungen und medialen Darstellungen weitgehend unsichtbar gemacht wurden. Abbildung 2: »Wenn in Kreuzberg 36 geräumt wird... Kämpft, Freunde!«
Quelle: Linkes Plakatarchiv, http://plakat.nadir.org, Abb. 309_06 vom 29.09.2011
Männlich konnotierte Militanz galt somit als Zeichen direkter Betroffenheit und Entschlossenheit. Dies legitimierte wiederum aggressive Verhaltensweisen auch in den persönlichen Beziehungen zwischen (autonomen) Besetzerinnen und Besetzern. Denn in dem Moment, wo es der Szene weniger um einen Prozess der Emanzipation ging als um die Verteidigung eines autonomen Territoriums, musste das Innere dieser Räume stets hinter der Verteidigung der Grenzen dieser Heterotopie zurückstecken. Im hier abgedruckten Poster aus der Besetzer_innenszene drückte sich daher einerseits die Übertragung des Freiraumgedankens auf die Ebene des Stadtteils aus. Darüber hinaus identifizierte es jedoch den zu verteidigenden Raum mit zwei spielenden Mädchen, der beschworene
46 In diesem Zusammenhang sind auch die oben beschriebenen Versuche zu verstehen, missliebige Positionen zu diskreditieren, indem man ihre Sprecher_innen als »Votzen« titulierte.
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Kampf wurde in Gestalt zweier Straßenkämpfer symbolisiert. Der zu verteidigende Raum selbst wurde so als weiblich und scheinbar schutzbedürftig konstruiert, während die Verteidigung dieses Raumes einer männlich codierten Militanz zufiel.47
Z WISCHEN ALLEN S TÜHLEN : B ESETZERINNEN P ARTIZIPATION UND A BGRENZUNG
ZWISCHEN
Die im Zuge von gewalttätigen Auseinandersetzungen zur Schau gestellte kriegerische Männlichkeit wurde zum Gegenstand heftiger Kritik auch solcher Frauen, die die militante Verteidigung der besetzten Häuser grundsätzlich befürworteten. In Bezug auf die gegenseitige Hervorbringung von Raum und Geschlecht verdient ein Aufsatz in der autonomen Szenezeitschrift radikal besondere Aufmerksamkeit. Unter dem Titel Paviane in K36 und das ständige Gieren nach Leoparden wurden (manche) männliche Besetzer mit einer Horde Affen verglichen, die entweder um ihren Rang in der Gruppenhierarchie oder gegen die Leoparden (das heißt die Polizei) kämpften, um Weibchen und Territorium zu verteidigen.48 Aus einer feministischen Perspektive fügte sich das Konzept von befreiten, autonomen Territorien, die gegen äußere Bedrohungen verteidigt werden müssten, nahtlos in archaische Darstellungen von Männlichkeit innerhalb dieser Räume. Die »Paviane« des radikal-Artikels stellen damit auch eine ironische Konkretisierung der Selbstwahrnehmung einiger Besetzer als »geschmeidige Tiere« (siehe oben) dar. Die Kritik, die autonome Frauen am Verhalten ihrer männlichen Genossen äußerten, beschränkte sich nicht auf singuläre Ereignisse wie Straßenschlachten.49 Im direkten Zusammenhang mit dem Ideal des männlichen Straßenkämpfers stand beispielsweise die Erwartungshaltung, dass Besetzerinnen einen emo-
47 Vgl. D. Massey: Space, Place and Gender, S. 6f. 48 Bolika, Anna: »Paviane in K36 und das ständige Gieren nach Leoparden«, in: radikal 112 (1983), S. 3. 49 Vgl. dazu amantine: Gender und Häuserkampf, v.a. S. 116-124; Schultze, Thomas/ Gross, Almut: Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der autonomen Bewegung, Hamburg 1997, S. 204-206; G. Notz: Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre. Aus zeitgenössischer Perspektive vgl. die Beiträge in: Frauencafé Moabit (Hg.): Frauenbewegung und Häuserkampf – unversöhnlich?, Berlin 1982. Vgl. in diesen Zusammenhang auch die Erinnerungen (männlicher) ehemaliger Besetzer in A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung, S. 167-184.
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tionalen Ausgleich hierzu zu schaffen hätten.50 »Gefühl und Härte«, dieser Slogan der Besetzer_innenbewegung, der eine Einheit von Emotionalität und Entschlossenheit signalisieren sollte, schien in der Wahrnehmung mancher Besetzerinnen nun eher eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auszudrücken: Die Männer waren zuständig für die »Härte« der Bewegung, während Frauen die »Gefühle« beizusteuern hätten. In einem Beitrag in der taz kritisierten einige Besetzerinnen im Juli 1981 diesen Zustand und verkündeten, fortan keine »psychische Reproduktionsarbeit« mehr leisten zu wollen. Statt »Streicheleinheiten [zu] verteilen, um die ›harten Männer‹ wieder in den ›street-fight‹ zu schicken«, stellten sie einen sarkastischen Forderungskatalog auf. Dieser beinhaltete die Einrichtung eines Spendenkontos, auf das jedes Haus einzuzahlen hätte (»je weniger Frauen in einem Haus, desto höher der Anteil«) und aus dem Schmerzensgeld an geschlagene Besetzerinnen gezahlt werden solle; die Zahlung eines festen monatlichen Betrages an jede Hausbesetzerin »für die geleistete Sozialarbeit«; und die Einrichtung von Seminaren zu Themen wie »›Wie organisiere ich einen 30Personen-Haushalt?‹, ›Erste-Hilfe-Maßnahmen nach gruppendynamischen Auseinandersetzungen in der Hausgemeinschaft‹ oder ›wie fühle ich mich trotzdem wohl dabei?‹.« Der Artikel schloss mit dem Aufruf an Besetzerinnen, gemischtgeschlechtliche Zusammenhänge zu verlassen und Häuser und Wohnungen nur für Frauen zu besetzen.51 Exklusive Räume (im weiteren Sinne) für Frauen hatten schon lange eine wichtige Rolle in der autonomen Frauenbewegung gespielt. Frauengruppen, alternative Frauenzeitschriften oder Frauenblöcke auf Demonstrationen wurden als Mittel weiblicher Selbstermächtigung verstanden. Die Schaffung solcher Räume (im engeren Sinne) durch Besetzungen von Frauen für Frauen war eine logische, räumliche Fortführung dieser Politik.52 Am 5. Januar 1981 besetzte eine Gruppe
50 So etwa in »Hausbesetzerinnentreffen in Berlin«, S. 38: »Meistens werden auch Frauen mit den Gefühlsproblemen der Männer beansprucht, d.h. Männer erwarten eher von Frauen eine Hilfe bei ihren Problemen als bei Männern.« 51 Juliane et al.: »Ein neuer Chauvinismus«. Der Beitrag war Anlass für zahlreiche Leser_innenbriefe. 52 Ein wichtiger Vorläufer waren Frauenzentren und Frauengesundheitszentren, die in den 1970er Jahren in mehreren Städten gegründet worden waren. Vgl. G. Notz: »Frauenräume.«, S. 60-65; dies.: »Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre«; S. Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft, S. 605-624; Siegenthaler, Edith: »Frauenbefreiung durch männerfreie Zonen? Die Bedeutung von Frauen vorbehaltenen Orten und Räumen am Beispiel des Frauenzentrums der Frauenbefreiungsbewegung Bern«, in: Ariadne 61 (2012), S. 54-59.
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Frauen ein Haus in der Liegnitzer Straße in Kreuzberg, das sogenannte Hexenhaus. Im April 1981 waren mindestens neun Häuser exklusiv von Frauen besetzt. Damit waren Räume geschaffen worden, die nicht nur als von allen hegemonialen Normen befreit galten, sondern auch als frei von Männern und damit von dem, was als typisch männliches Verhalten verstanden wurde.53 Solchen exklusiven Räumen wurde oftmals erhebliches Misstrauen entgegengebracht, da sie im Widerspruch zur angenommenen Offenheit der besetzten Häuser für alle Mitglieder der Szene zu stehen schienen. Ähnliche Vorwürfe hatte es auch schon gegen andere Räume der autonomen Frauenbewegung gegeben und waren daher keineswegs neu. Im Kontext der Hausbesetzungsszene ist es dennoch bemerkenswert, wie Aktivitäten, die in ›gemischten‹ Häusern selbstverständlich waren, eine andere Bedeutung annahmen, wenn sie von reinen Frauengruppen durchgeführt wurden. Dies war insbesondere dort der Fall, wo es um das konkrete Schaffen von Räumen durch handwerkliche und bauliche Tätigkeiten ging. Ein Mitglied eines Kollektivs, das ein Frauencafé innerhalb eines ›gemischten‹ Hauses in der Weddinger Jagowstraße betrieb, beschrieb einen besonders markanten und, in ihrer Einschätzung, gleichzeitig typischen Vorfall wie folgt: »Die Auseinandersetzungen nahmen teilweise groteske Formen an. Etwa als wir Hausschwamm im hinteren Teil des Ladens entdeckten. Dieser Hausschwamm zwang uns, eine Mauer einzureißen, die zu einer Toilette des Seitenflügels gehört. Da uns die Hausbewohner argwöhnisch böse Absichten unterstellen, tauchte sofort der Verdacht im Haus auf, wir vom Frauencafe streckten unsere gierigen Greifer nach ihrem Gebiet aus! [...] Diese Auseinandersetzung darüber war sehr bezeichnend für die Umgangsformen nicht nur in unserem besetzten Haus.«54
Während die Möglichkeit, die Architektur eines Hauses zu verändern und den Bedürfnissen der Besetzer_innen anzupassen, von diesen als ein grundlegender Unterschied zu den standardisierten Wohnungen des modernen Wohnungsbaus
53 amantine, Gender und Häuserkampf, S. 89-92, 99f. Zeitgenössische Quellen berichteten nur von fünf Häusern, die exklusiv von Frauen besetzt waren: Renate: »Frauenpower macht Männer sauer. Ein Frauenprojekt in einem ›gemischt‹ besetzten Haus – geht das überhaupt?«, in: Frauencafé Moabit (Hg.), Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 10-11. 54 Frauencafé Moabit: Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 8.
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gepriesen wurde,55 galt dies offenbar nicht mehr, wenn Besetzerinnen von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Statt als Bereicherung für die vielseitige Besetzer_innenszene wurden Frauenräume, zumindest von Teilen der Besetzungsszene, als Bedrohung wahrgenommen. Sie erschienen als privatisierte Räume, die drohten, sich auf Kosten des vermeintlich öffentlichen und neutralen Territoriums der ›eigentlichen‹ besetzten Häuser auszudehnen. Besonders im Fall der Jagowstraße, in dem sich ein exklusiver Frauenraum innerhalb eines von Männern und Frauen gleichermaßen bewohnten Hauses befand, wurde die Verknüpfung zwischen Raum und Geschlechtsidentität besonders deutlich. Die Vorstellung von besetzten Häusern als Heterotopien implizierte dabei die Existenz von zwei klar abgegrenzten und in sich widerspruchsfreien Räumen, einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹, ›wir‹ gegen ›sie‹. Dies war zwar auch in reinen Frauenräumen nie der Fall.56 Noch schwerer war diese Vorstellung allerdings aufrechtzuerhalten, wenn es zwei offensichtlich verschiedene Räume innerhalb eines besetzten Hauses gab. Die Frauen, die das Café betrieben, sahen sich dabei mit erheblichem Misstrauen von zwei Seiten konfrontiert: von den übrigen Besetzerinnen und Besetzern im Haus, aber auch von anderen Feministinnen. »Auch die ›Frauenbewegung‹ [sic!] ist uns nicht wohlgesonnen,« klagten sie: »Wir können nur vermuten, daß wir seitens der Frauenbewegung der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt werden, da in unserem Haus auch Männer leben.«57 Und weiter hieß es: »Wir sitzen zwischen zwei Stühlen, nirgendwo will uns wer – es bliebe die Möglichkeit der Anbiederung nach einer der beiden Seiten, sie müßte allerdings so entschieden verlaufen, daß wir uns dabei verleugnen würden, Haare ab und Sprüche drauf oder im Säuselton über den Mond reden. Wir brauchen uns nicht die Langeweile, die Betulichkeit, die Tabubeladenheit der ›Frauenbewegung‹ [sic!] anzutun, wir brauchen uns nicht auf die zweifel-
55 So ein namentlich nicht genannter Besetzer in Bacia, Jürgen/Scherer, Klaus-Jürgen: »...unser Haus – die einzig längerfristige Perspektive für uns! Ein Gespräch mit ›friedlichen‹ Besetzern«, in: dies. (Hg.), Passt bloss auf! Was will die neue Jugendbewegung?, Berlin 1981, S. 129-132, hier S. 129: »Ich stelle mir vor, daß man gemeinsam in einem solchen Haus ungeheuer viel machen kann, denn hier ist nicht so viel vorgegeben. Es ist irrsinnig viel Platz; man kann Wände herausreißen und man kann beispielsweise selbst alternative Projekte aufziehen.« 56 G. Notz: »Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre«, S. 144. 57 Frauencafé Moabit: Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 13.
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haften Umgangsformen, den neuen Männlichkeitswahn in der Besetzerbewegung einzulassen.«58
Durch den gesamten Bericht zieht sich das Ringen mit der Frage, welche Form von Weiblichkeit mit der Identität als autonome, feministische Besetzerin kompatibel sei. Aus Sicht der Frauen aus der Jagowstraße standen sie als Frauen, die sich selbst als militante Feministinnen verstanden, sich aber nicht vollständig von der Besetzer_innenszene abwenden wollten, vor einer unbefriedigenden Wahl. Sie konnten die aggressive Stimmung innerhalb der Szene akzeptieren und feministische Forderungen zurückstellen. Oder sie konnten ihre Identität als autonome Besetzerinnen gegen eine Identität tauschen, die auf einer essentialistischen, friedfertigen, manchmal esoterischen ›Weiblichkeit‹ (»im Säuselton über den Mond reden«) basierte.59 In einer fotografischen Selbstinszenierung versuchten sie diese Spannungen auf ironische Weise aufzulösen: Vermummt mit schwarzen Tüchern und Motorradhelmen inszenierten sich vier von ihnen strickend, Tee trinkend und die Emma lesend als Synthese aus Besetzungs- und Frauenbewegung.60 Die Frage, inwieweit soziale Machtverhältnisse durch die Schaffung von heterotopen Gegen-Orten und Freiräumen zu erschüttern seien, war daher so aktuell wie eh und je. Damit erwies sich jedoch, wie Gisela Notz ausgeführt hat, die »Idee vom autonomen Projekt als herrschaftsfreiem Raum, quasi im exterritorialen Verhältnis zum Patriarchat stehend, […] bereits mittelfristig als problematisch.«61 Schnell zeigte sich, dass es auch in reinen Frauenräumen zu Konflikten und Machtkämpfen kommen konnte, unabhängig davon, ob die Bewohnerinnen sich einer militanten oder mystischen Weiblichkeit verschrieben hatten.62 Ein
58 Ebd. 59 Vgl. auch »Hexenhaus: Auf die Dauer – Lesbenpower«, in: taz Berlin vom 26.02.1981; Frauencafé Moabit: Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 20. Mit Foucault und Butler lässt sich das hier beschriebene Dilemma als Subjektivierung durch Unterwerfung (subjectivation through subjection) verstehen. Vgl. Butler, Judith: The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford 1997. 60 Frauencafé Moabit: Frauenbewegung und Häuserkampf, S. 7. 61 G. Notz: »Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre«, S. 144; vgl. auch dies.: »Frauenräume«. 62 Trotz der enormen Anzahl an Publikationen aus der und über die Besetzungsszene ist über das alltägliche Innenleben der besetzten Häuser relativ wenig bekannt. Hier sind weitere Studien, die sich auch auf lebensgeschichtliche Interviews stützen, notwendig.
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räumlicher Rückzug von diesen Problemen erwies sich damit (einmal mehr) als unmöglich. Und doch zeigen die hier besprochenen Fälle, trotz ihrer starken Orientierung an dichotomen Geschlechtermodellen, vornehmlich die fortbestehende Verbindung zwischen Räumen, die Frauen vorbehalten waren, und dem Rest der Besetzungsbewegung. Häuser wie das Hexenhaus wurden als Teil der Besetzungsbewegung begriffen und ihre Bewohnerinnen teilten deren politische Forderungen, wie etwa die nach Freilassung aller politischen Gefangenen aus der Bewegung.63 Obwohl sich reine Frauenräume also vom gemischtgeschlechtlichen Rest der Szene abgrenzten, blieben sie doch ein Teil von ihr, sei es durch vielfältige soziale Praxen, wie Demonstrationen, Freundschaften und Liebesbeziehungen, oder durch die diskursive Lokalisierung auf der gleichen mental map.64 Sie waren es auch, weil sich die Kritik der Besetzerinnen eben nicht nur an die Gesellschaft im Allgemeinen sondern mehr noch an die anderen Besetzerinnen und Besetzer richtete. Wie Edith Siegenthaler ausführte, »konnte die Notwendigkeit eines Frauenzentrums als Symbol dafür gelesen werden, dass Sexismus auch in der neuen Linken existierte.«65 Nicht zuletzt teilten sich beide denselben geografischen Raum, sei es innerhalb eines gemischten Hauses mit exklusiven Frauenräumen, sei es auf der Ebene des Stadtteils, etwa im Falle Kreuzbergs. Die Nähe zwischen der autonomen Frauenbewegung und der Besetzer_innenszene war daher sowohl eine diskursive als auch eine räumliche Nähe.
F AZIT Mit der Besetzer_innenbewegung der frühen 1980er Jahre war urbaner Raum zu einem bestimmenden Faktor emanzipatorischer Politik geworden. Raum war dabei nicht nur das Objekt der Kritik – etwa als Ergebnis einer vermeintlich verfehlten Stadtentwicklungspolitik – sondern auch das Mittel, um politische Überzeugungen auszudrücken und persönliche und politische Veränderungen zu er-
63 amantine: Gender und Häuserkampf, S. 99. 64 Vgl. Klippel, Alexander: »Mental Maps«, in: Barney Warf (Hg.), Encyclopedia of Geography (Online Edition), Los Angeles 2010, DOI: 10.4135/9781412939591.n762 vom 02.01.2013; Conrad, Christoph (Hg.), »Mental Maps«, in: Geschichte und Gesellschaft 28/3 (2002), S. 339-514; Dipper, Christof/Raphael, Lutz: »›Raum‹ in der Europäischen Geschichte«, in: Journal of Modern European History 1 (2011), S. 3639. 65 E. Siegenthaler: »Frauenbefreiung durch männerfreie Zonen?«, S. 55.
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reichen. Während dem Begriff der Emanzipation ein soziales Verständnis von politischer Veränderung zugrunde lag, basierte das Konzept der Autonomie auf dem Ausschluss unerwünschter Aspekte anstelle beziehungsweise als Voraussetzung ihrer Überwindung. Die Vorstellung von heterotopen Freiräumen begünstigte damit ein Denken, in dem befreite Territorien einer räumlichen Verteidigung bedurften, hinter der die Entwicklung im Inneren dieser Räume vernachlässigbar erscheinen konnte. Gerade aggressives Verhalten zwischen den Besetzer_innen konnte so als Nachweis von Radikalität und Entschlossenheit gerechtfertigt werden. Auf Ausgleich und Konsens zielende Kommunikationsformen konnten im Gegenzug als Ausweis von Unentschlossenheit ausgelegt werden. Damit wurde eine als ›kriegerisch‹ verstandene Form der Männlichkeit zu einem strukturierenden Element der gesamten Besetzer_innenbewegung. Dieses Ideal war auch deshalb durchsetzungsfähig, weil es im Raum körperlich erfahren und damit bestätigt werden konnte. Ob man über Kreuzbergs Dächer streifte und den Blick des Eroberers auf den Stadtraum warf oder ob man sich in Straßenschlachten mit der Polizei begab – der urbane Raum ermöglichte die Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit als Ort der Rebellion und Authentizität. Die Besetzer_innenszene bot damit einer archaischen Männlichkeit Raum (im doppelten Sinne), die in der als technokratisch und entfremdet wahrgenommenen Gesellschaft, zumindest scheinbar, keinen Platz mehr hatte. Mit zunehmenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Besetzer_innen und der Polizei gewann das Konzept des Freiraums, der quasi militärisch gegen einen äußeren Feind verteidigt werden musste, an Plausibilität und verstetigte sich. Dies bedeutete jedoch auch, dass die Umgangsweisen innerhalb der Szene immer schlechter zur Disposition gestellt werden konnten, da sie als Schwächung der Verteidigung diskreditiert werden konnten und wurden. Das für die Besetzungsszene spezifische Verhältnis zwischen Raum und Geschlecht zeigte sich daher auch nicht so sehr im Sexismus oder in gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Häuser66 – Gewalt gegen Frauen fand schließlich
66 Juliane et al.: »Ein neuer Chauvinismus«: »Ein Beispiel: Ein Besetzer und eine Besetzerin treffen sich im besetzten Flur ihres besetzten Hauses. Die Diskussion über die Urlaubsfrage gipfelt sofort in der Auseinandersetzung, wer von beiden ausziehen soll. Es endet mit einem Nasenbeinbruch, einer Kopfplatzwunde, einer aufgeplatzten Augenbraue, mehreren Blutergüssen und total zugeschwollenen Augen der Frau [...]. Wenn der Typ nicht freiwillig vier Tage später zu seiner Freundin (!) gezogen wäre, wäre außer Diskussionen über seinen psychischen Zustand wohl sicher nichts passiert. Jetzt ist er raus, und übrig bleiben die Vorwürfe wegen der Strafanzeige, die die Frau gestellt hat: ›Wir wollen mit dem Staat, den wir bekämpfen, nichts zu tun haben und
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auch in bürgerlichen Haushalten statt. Aber ihre Thematisierung konnte mit Verweis auf die politische Situation der besetzten Häuser erschwert werden. Statt die Geschlechterordnung aufzulösen, erwiesen sich die Freiräume der Besetzungsbewegung damit als potenzieller Faktor zu ihrer Stabilisierung. Für Frauen, die nicht bereit waren, diese Zustände zu akzeptieren, bot die Verräumlichung politischen Protestes eine naheliegende Lösung: die Schaffung von Räumen von und für Frauen. Diese Heterotopien innerhalb der umfassenderen Heterotopie der Besetzer_innenszene brachten zumindest eine teilweise Lösung, konnten aber auch bestehende Gegensätze zementieren und beinhalteten damit die Möglichkeit, dass Genderkonflikte in den übrigen Häusern nun umso leichter ignoriert werden konnten. Die Räume der Szene wirkten daher sowohl ermächtigend als auch frustrierend. Gerade im Fall der Jagowstraße zeigte sich die Zwiespältigkeit der vorhandenen Subjektivierungsangebote in aller Deutlichkeit. Dagegen stellen mögliche Strategien, die im Zusammenhang mit nichthegemonialer Männlichkeit stehen, ein eklatantes Forschungsdesiderat dar. Die in der alternativen Szene breit rezipierten »Männerphantasien« von Klaus Theweleit oder die seit Mitte der 1970er Jahre entstehenden und sich politischemanzipativ verstehenden Männergruppen geben zwar Hinweise auf entsprechende Bedürfnisse und Bemühungen, neue Umgangsweisen mit Männlichkeiten zu entwickeln. Ihre Rolle innerhalb der Alternativ-, Autonomen- oder Besetzungsszene ist jedoch weitestgehend unerforscht.67 Auch lässt sich bisher nur vermuten, dass sich hinter geringschätzigen Formulierungen von »bürgerlichen« oder »Studenten-WGs« im Umfeld der Hausbesetzungsszene auch Hinweise auf (vermutete oder tatsächliche) »weichere« Männlichkeiten verbergen konnten.68
lösen unsere Konflikte selber‹. Dieser Vorwurf geht an die falsche Adresse. Was bleibt der Frau übrig, als auf das Mittel der Anzeige zurückzugreifen, wenn von der Hausgemeinschaft keine einzige Reaktion kommt? Der hier geschilderte Vorfall ist kein Einzelfall, nicht die berühmte Ausnahme.« 67 S. Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft, S. 699-718, speziell zu Männlichkeit in der Hausbesetzungsszene S. 568f. 68 Reichardt, S.: »Klaus Theweleits ›Männerphantasien‹ – ein Erfolgsbuch der 1970erJahre«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Reichardt-3-2006 vom 24.07. 2014. – Zwischen Februar 1981 und Dezember 1983 bestand in der Berliner Bülowstraße das Tuntenhaus, dessen überwiegend (aber nicht ausschließlich) schwule Bewohner_innen aus dem Umfeld der politischen Schwulenbewegung kamen. Auch
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Ein Blick auf die historische Besetzungsbewegung der frühen 1980er Jahre, ihre Konstruktion sowohl von Raum als auch Geschlecht, bietet damit auch die Möglichkeit, grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Raum, Geschlecht und widerständigen Politiken anzustellen. Eine historische Perspektive, etwa auf das Konzept des Freiraums, kann hier helfen, die mögliche Bedeutung bestimmter Räume für emanzipatorische Politiken ebenso zu bestimmen wie ihre Grenzen, ihre inhärenten Machtstrukturen und ihre je eigenen Ausschlussmechanismen.
hier steht die historiografische Aufarbeitung noch weitestgehend aus. amantine: Gender und Häuserkampf, S. 174.
On Section 377 and Gender/Sexuality Framing Queer Activism in New Delhi
J ANINA G EIST
The current queer movement in India is intrinsically linked to the fight for social and legal recognition, such as the struggle against Section 377 of the Indian Penal Code.1 However, the focus on sexuality in activism has led and often still leads to the marginalization of issues, agendas and narratives that pertain to gender. Based on ethnographic fieldwork with predominantely middle class queer actors in India, this paper frames queer activism in Delhi and explores to which degree and in which ways gender issues are addressed in queer activism.2 The
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Section 377 of the Indian Penal Code, introduced by the British colonial government, states: »Whoever voluntarily has carnal intercourse against the order of nature with any man, woman or animal, shall be punished with imprisonment for life, or with imprisonment of either description for a term which may extend to ten years, and shall also be liable to fine. Explanation. Penetration is sufficient to constitute the carnal intercourse necessary to the offence described in this section«. Cf. Bhaskaran, Suparna: »The Politics of Penetration. Section 377 of the Indian Penal Code«, in: Ruth Vanita (ed.), Queering India. Same-Sex Love and Eroticism in Indian Culture and Society, New York 2002, pp. 15-29: p. 15.
2
Multi-sited fieldwork was carried out from Sept. 2011 to Sept. 2012 in New Delhi, India (in the following ›Delhi‹). Methods included qualitative sampling, narrative interviews, participant observation and online engagement. Quotes, data and analysis used in this article are derived from my empirical research. The paper relies on interviews conducted with queer activists in 2012 and focuses on offline activist queer spaces. The dynamics of online/offline queer spaces are considered more thoroughly elsewhere, cf. Geist, Janina: Queer in Indien. Selbst- und Fremdkonstruktionen indi-
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paper also examines gender-specific differences regarding the participation in activism, and the amount and visibility of subgroup-specific spaces. The empirical narratives of queer activists employed in the paper demonstrate a range of various, even conflicting positions and perspectives. As will be shown in more detail, these are in accordance with the heterogeneous, loose set-up of the activist circles in Delhi. Moreover, in the tradition of experimenting with different stylistic choices of writing linked to the postmodern turn in cultural anthropology, I have deliberately chosen to include extensive quotes by my interlocutors. Their different narratives present the specific and diverse perspectives, experiences and stories of my queer interlocutors. With this, I want to include a plurality of voices and acknowledge their validity and power of expression.
(N ON -)H ETERONORMATIVITY
IN I NDIA
Firstly, it is important to introduce key concepts relevant for this article and sketch how they are understood in an Indian context. As an umbrella term, ›queer‹ is used to encompass heterogeneous communities, subgroups and individuals, such as gays, lesbians, bisexuals, trans*-identified people, kothis or hijras,3 who do not conform to the heteronormative standard of Indian society.4 Simply put, heteronormativity can be understood as the ›naturalization‹ and
scher Queers in Politik, Gesellschaft und Medien unter besonderer Berücksichtigung des Internets, M.A. Thesis, Munich 2008, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ savifadok/volltexte/2008/196 accessed on 20.11.2013; Geist, Janina: »Queer (Cyber) Spaces – Performances, Negotiations and Representations of Gender and Queerness«, in: Judith Rahn (ed.), Envisioning the Human-Self. (Re-) Constructions of the Human Body, Oxford forthcoming; Geist, Janina: »Queering Cyberspace in New Delhi. Negotiating Masculinity, Femininity and Thirdness«, in: Adam L. Brackin/Natacha Guyot (eds.), Stories in Post-Human Cultures, Oxford 2013, pp. 119-132. 3
Kothis and hijras are ›behavioral non-men identities‹ ranging from culturally specific effeminate male identities (kothis) to trans subject positions (hijras), classified male at birth, who act or identify in some way as ›women‹ and constitute their identity around acts of being penetrated by ›real‹ men. Cf. Reddy, Gayatri: With Respect to Sex. Negotiating Hijra Identity in South India, New Delhi 2006, pp. 44-45, 74-75.
4
The acronym LGBT (lesbian, gay, bisexual, trans*) is also often used in the context of activist or NGO/community-based organizations.
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›normalization‹ of heterosexuality and the gender binary as structuring principles of society.5 As queer activists/academics Bhan and Narrain remark: »We live in a society where we are repeatedly told that there is only one kind of acceptable desire – heterosexual, within marriage, and male. Social structures further define and defend what we call the hetero-normative ideal: rigid notions of what it means to be a man or a woman, how the two should relate and the family unit that should result from such a relationship. All those who dare to think outside this perfect ideal are considered threats to ›morality‹ and to society at large.«6
Therefore, non-heteronormative people often face exclusion, discrimination and marginalization; in particular, non-normative topics of sexuality tend to be ›silenced‹ in public discourses.7 Regarding this, my interlocutor Shalini states: »Right now in India there is no way to be part of the mainstream and be open about samesex desire or alternative genders. So it’s not really a choice. Maybe there are queer people who are wishing that: ›Why can’t I just get married like anybody else? Why can’t I [choose to] be a boy? Why can’t I [choose to] be a girl? Why do I have to be different?‹ There are lots of people who are wishing that, but it is not really a realistic option at all.«
As Shalini’s quote shows, queer actors in India are struggling with societal normative expectations with regard to their sexual orientation or gender expression, with limited possibilities to have their choices and desires accepted by larger mainstream society. While queer subgroups can have specific political concerns as well, the general lack of acceptance by mainstream society and experiences of marginalization or discrimination encourage queer subgroups to join in a broader collective. Since queer spaces have to be actively created and fought for, I regard any queer space-making as an act of activism. I therefore understand a person as ›queer activist‹ who participates in queer politics or in queer space-making. In the sense
5
Cf. Menon, Nivedita: »How Natural is Normal? Feminism and Compulsory Heterosexuality«, in: Gautam Bhan/Arvind Narrain (eds.), Because I Have a Voice. Queer Politics in India, New Delhi 2005, pp. 33-39.
6
Bhan, Gautam/Narrain, Arvind: »Introduction«, in: id. (eds.), Because I Have a Voice.
7
Cf. John, Mary E./Nair, Janaki: »Introduction: A Question of Silence? The Sexual
Queer Politics in India, New Delhi 2005, pp. 1-29: p. 3. Economies of Modern India«, in: id. (eds.), A Question of Silence? The Sexual Economies of Modern India, New Delhi 1998, pp. 1-51.
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of doing space while doing gender, I understand both as dialectically linked and socially constructed. With regard to the theoretical framework for this paper, it is important that my intersectional understanding of ›space‹ and ›gender‹ is influenced by contemporary debates, which advocate perspectives on spaces and identities as fluid, relational and constructed.8
F RAMING Q UEER A CTIVISM
IN
D ELHI
In the early 1990s political and economic developments in India resulted in a rapid economic liberalization and global integration.9 In addition to the increased access to cars, mobile phones, new media and the Internet, which permitted new dimensions of intimacy, bodily contact and direct communication, pubs, discos and shopping centers developed as important sites of consumption and the creation of desires.10 A globally oriented economy, practices of consumption and the growth of the ›new middle classes‹11 impact on the making and visibility of queer lives. My interlocutor Bikram for example remarks that the Zara clothing store in the Select City Mall has become a well-known cruising site12 for affluent
8
Cf. for example Hall, Stuart: »The Question of Cultural Identity«, in: id./David Held/Tony McGrew (eds.), Modernity and its Future, Cambridge 1993, pp. 273-316. Butler, Judith: Gender Trouble, New York 1990; Massey, Doreen: Space, Place and Gender, Cambridge 1994; Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996. For a longer discussion on relational concepts of space and gender performances of kothis in different social spaces in Delhi, cf. Geist, Janina: »Queer Urban Spaces in New Delhi. Negotiating Femininity, Masculinity and Thirdness from a Kothi Perspective«, in: Silke Förschler/Rebekka Habermas/Nikola Roßbach (eds.), Verorten – Verhandeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht, Bielefeld 2014, pp. 85-114.
9
Cf. Menon, Nivedita/Nigam, Aditya: Power and Contestation. India since 1989, Hyderabad 2008, pp. 3-14. Shahani, Parmesh: Gay Bombay. Globalization, Love and (Be)Longing in Contemporary India, London 2008, pp. 88-90.
10 Cf. Dubey, Abhay Kumar: »Footpath par Kaamsutra – Nayee Sexy Dilli«, in: SaraiCSDS (ed.), Deewan-e-Sarai 02, New Delhi 2005, pp. 115-139: pp. 121-132. 11 For further details on economic liberalization and modes of consumption of middle class actors in Delhi, cf. Brosius, Christiane: India’s Middle Class. New Forms of Urban Leisure, Consumption and Prosperity, New Delhi 2010. 12 Public cruising sites (e.g. in parks or toilets) are typically male-specific sites used by MSM (males who have sex with males), gays, kothis, hijras and mtf-trans*, mostly
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gay men. Capitalism and market processes play a more important role in the proliferation of queer culture and multiple queer modernities than previously considered by researchers. Instead of framing queer identities along the problematic dichotomy of ›modern‹ vs. ›traditional‹, Jackson stresses that contemporary queer cultures in Asia are »modern forms that differ from both Western queer cultures and the premodern gender and sex cultures of their own societies«.13 Coinciding with these transformations, Delhi exhibited a growth of several LGBT support group spaces throughout the 1990s, such as Sangini14 or Naz.15 In Delhi, most support groups of that time were non-funded, volunteer-based organizations. The emergence of HIV/AIDS provided queer activists with a legitimation to create support spaces and possibilities for community building, especially for MSM projects.16 Because middle and upper class queer people initially created and organized support group spaces around English identity terminologies (such as gay, lesbian or LGBT), mostly middle and upper class urban-based individuals, comfortable identifying with such terminology, appropriated them, excluding a wide range of other, often lower class-based identities.17 Moving historically from separate gay and lesbian activism to LGBT as an umbrella term, LGBT was then extended by activists to the more inclusive LGBTKH to diversify activism and also include hijras and kothis. Introducing ›queer‹ was an attempt to do away with a never-ending acronym and move beyond an identity-
from lower class backgrounds, in search for a partner, flirting or hooking-up, especially after nightfall. Practices of cruising in affluent contexts (for example specific stores in malls) are relevant for well-off male queer individuals. 13 Jackson, Peter A.: »Capitalism and Global Queering. National Markets, Parallels Among Sexual Cultures, and Multiple Queer Modernities«, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 15/3 (2009), pp. 357-395: p. 360. 14 Sangini (India) Trust is an NGO based in Delhi working for women attracted to women and LBTs. Sangini provides support, counselling, meet-ups and emergency response services. Set up in 1997, it is the oldest LBT community organization in India. 15 Naz Foundation (India) Trust, a Delhi-based NGO, was founded in 1994 and is working on HIV/AIDS, MSM and sexual health. 16 Cf. also Cohen, Lawrence: »The Kothi Wars. AIDS Cosmopolitanism and the Morality of Classification«, in: Vincenne Adams/Stacy L. Pigg (eds.), Sex in Development. Science, Sexuality, and Morality in Global Perspective, Durham 2005, pp. 269-303: p. 281, 283. 17 Cf. Gupta, Alok: »Englishpur ki Kothi: Class Dynamics in the Queer Movement in India«, in: Gautam Bhan/Arvind Narrain (eds.), Because I Have a Voice. Queer Politics in India, New Delhi 2005, pp. 123-142: pp. 124-125.
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based umbrella term.18 However, any umbrella term remains contested due to its limited ability to unite heterogeneous subgroups. Increasingly, activists recognized the need to broaden queer activism by also including gender-specific demands.19 The queer activist landscape in Delhi thus displays subgroup-specific organizations, which often work on particular identities such as MSM or LBT in a health care/NGO context (for example Naz or Sangini) as well as other mixed activist groups or coalitions, which subscribe to an understanding of ›queer‹ influenced by queer/feminist and intersectional theories (such as PRISM,20 Nigah21 or Queer Campus22) and understand »sexuality as a politics intrinsically and inevitably connected with the politics of class, gender, caste, religion and so on.«23 In accordance with Bhan and Narrain’s definition of queer politics, these mixed queer activist groups, which are usually non-funded and autonomous, tend to get involved with other progressive movements. In contrast, queer feminists Sharma and Nath criticize the lack of engagement with queer perspectives, such as the questioning of normative gender notions, within a majority of government- or privately-funded MSM and MTF-transgender organizations. Instead, these organizations often address same-sex sexuality mainly in a HIV/AIDS risk context.24
18 Cf. Narrain, Arvind: Queer. Despised Sexuality, Law and Social Change, Bangalore 2004, p.11; Gupta, Alok/Narrain, Arvind: »Introduction«, in: id. (eds.), Law Like Love. Queer Perspectives on Law, New Delhi 2011, pp. xi-lvi: pp. xiii-xiv. 19 Cf. A. Gupta/A. Narrain: »Introduction« Law, p. xxv. 20 PRISM was a non-funded feminist forum based in Delhi, founded in 2001. PRISM sought to make same-sex sexual expressions visible in mainstream society, to respond to human rights violations, and to link sexuality with other axes of social construction and control such as gender, caste, and religion. Now defunct, many members moved their engagement to the collective Voices against 377. 21 Nigah is a queer collective, which was founded in Delhi in 2003 to create social spaces for queer people and to engage with queer issues through media and discussions in various forms. A network of mainly middle to upper class people maintains Nigah. Nigah is interpersonally closely connected with other feminist or queer collectives such as Saheli, Queer Campus or Voices against 377. 22 Queer Campus (QC) is an independent queer student and youth collective that has been active in Delhi since 2010. 23 G. Bhan/A. Narrain: »Introduction« Voice, p. 3. 24 Cf. Sharma, Jaya/Nath, Dipika: »Through the Prism of Intersectionality. Same Sex Sexualites in India«, in: Geetanjali Misra/Radhika Chandiramani (eds.), Sexuality,
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The contemporary queer movement in India is therefore characterized by a loose structure of various individuals and groups, who differ with regard to their agenda, ideology and internal set-up.25 The activist narratives in this paper demonstrate that activist groups in Delhi are also often interlinked, since many of my interlocutors participate in numerous queer and feminist political spaces at once. My interlocutor Bikram adds that social interaction (still) happens mostly between queer actors who are socio-economically similarly situated, and class – more than gender identity – determines the degree of interaction. Although individuals from lower class positions find opportunities to work their way up within queer activism in Delhi, they are still often excluded from key positions. Queer interlocutors experience social life in the capital of India as highly stratified. Gender identity, a higher class position and social status impact their access to and participation in queer spaces. However, activists proactively try to decrease hierarchies and exclusions, as Aditya emphasizes: »Delhi is such an ostentatious space. You are defined by what car you drive, in what restaurant you eat and so on. Delhi has always been about position and power. In that scheme of things to have a totally egalitarian queer movement is to be too ambitious […] but there is desire to create such spaces. People who were heading the movement did not want the power play in the city to interfere with the movement. […] People were asked to be part of the movement not as an organization but as an individual. And look at the way that has actually helped making the movement more inclusive. Otherwise gay people would be dictating the agenda.«
While queer activists in Delhi continue to try to make queer activism more inclusive, they still observe a gender asymmetry regarding the participation in mixed activist spaces. Concerning the participation in the queer movement, interlocutors state that many gay men do not want to engage with politics in their leisure time.26 Regarding this, queer activist Gautam puts it bluntly:
Gender and Rights. Exploring Theory and Practice in South and South East Asia, New Delhi 2005, pp. 82-97: pp. 85-86. 25 Cf. for example Bacchetta, Paola: »Re-Scaling ›Transnational Queer‹. Lesbians in Delhi in the 1980s«, in: Nivedita Menon (ed.), Sexualities, New Delhi 2007, pp. 103127: p. 106. 26 On reasons for gay men desisting from political engagement, cf. for example A. Gupta: »Englishpur ki Kothi«, pp. 137-140.
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»You can see the splits in the movement. It is worse in the women spaces, I think, than it is in the men spaces, only because there are more political women than are political men because many men do not give a shit. The clubs are full of boys, and the meetings are full of girls. And it has always been that case.«
The kind of queerness that is talked about in activist spaces in Delhi is connected with feminist ideas. Feminism impacts strongly on queer activist groups since queer activism in Delhi developed out of autonomous women’s rights groups. Gautam remembers: »I mean almost everyone in PRISM or in those other queer spaces were, in their day jobs or most of their lives, actually women’s activists; and our first meetings were physically in the offices of women’s movements, they were sheltered spaces. Autonomous women’s groups were at least in Delhi where the queer movement came out of. Everyone who was there, men and women came from feminism.«
Queer women oftentimes developed their politics and networks within womenonly spaces and women’s rights groups. Female activists helped to transform an imagined ›lesbian‹ community into its current face-to-face community and integrated lesbian issues into the queer movement.27 Lesbian issues were often shunned within mainstream women’s organizations, because the main focus was put on conventional gender concerns, such as violence against women, reproduction and sexual health.28 It is striking that publicly, especially in the beginning, queer activism and its known spokespersons were largely associated with gay men, and female activists mostly remained in the background. This has increasingly changed in recent years. One reason, however, why many women, especially from lower classes, still tend to be less visible is their restricted personal autonomy. It is more difficult for female-born queer people to gain economic independence from their families. Especially when being financially dependent on their family, they are often pressured into adopting a heterosexual lifestyle. Because of the heteronormative societal structure and its implied social obligations, a majority of queer people do not want to be publicly seen or identified as such. Moreover, queer ac-
27 Cf. Dave, Naisargi: »To Render Real the Imagined. An Ethnographic History of Lesbian Community in India«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 35/3 (2010), pp. 595-619. 28 Cf. Sharma, Maya: Loving Women. Being Lesbian in Unprivileged India, New Delhi 2006, pp. 16-25.
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tivist spaces often seem to be, as Maya puts it, »incestuous and loaded with personal drama and relationship histories«, and thus many people find participation in such spaces off-putting. Due to their few numbers this is especially the case in women-only or LBT spaces. All these varied aspects contribute to less visibility and participation of female-born actors in queer activism. Regarding the participation of female-born queer actors in gender-mixed queer political spaces, Andy, who co-founded Queer Campus (QC), shares her experiences: »At this Queer Campus meeting [on queer politics], I was the only woman there and rest of them were just guys and there were 20-25 people around. I have been given the title of the ›gay boy‹ of the group. I don’t know, I as a woman would feel comfortable coming to a mixed space but other women often don’t. So it was suggested that we should also have a woman-specific space and [women-only] meets within QC.«
As these different narratives show so far, it is necessary to distinguish between the different feelings of comfort and belonging queer actors experience in gender-specific activist spaces in contrast to gender-mixed queer political spaces. Gender-specific spaces tend to empower queer actors to experiment with and become comfortable with an identity of their choice and as such are described by many interlocutors as »crucial spaces of belonging«. Thus, it is common to develop queer politics initially in a gender-specific or feminist setting and to venture out to gender-mixed political spaces only later on. Presently, the queer movement in Delhi continues to diversify. Aditya notes that especially the younger generation of activists is less influenced by internal chasms within the queer community due to class or linguistic positions: »The young crowd has not lived through the separation and it is a good thing. They are coming at a time when the ›Rainbow Flag‹ truly represents the all encompassing queer movement.« Thus, community-building efforts, such as mobilizing for queer pride parades, have increasingly managed to link various queer subgroups and individuals together around the ›Rainbow Flag‹, which represents a larger imagined queer community and its heterogeneous subgroups as different colors of the rainbow.29 Queer pride parades provide an ideal joint platform for different queer communities to celebrate queer lives in all their diversity and promote
29 An adequate discussion of the idea of an ›imagined queer community‹ is beyond the scope of this article. Drawing on Benedict Anderson, I regard ›imagined community‹ as a concept that is created by the shared imagination of its members. Cf. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.
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a sense of community, which cuts across boundaries of class and gender.30 Queer pride parades increase the visibility in public discourses and attest to the growing significance of the queer movement.
A CTIVISM B EFORE AND A FTER THE D ELHI H IGH C OURT J UDGMENT : F ROM D ECRIMINALIZING S ECTION 377 TO C OMMERCIALIZED Q UEER S PACES In recent years queer activism concentrated on campaigns and petitions against Section 377 of the Indian Penal Code, which criminalizes same-sex sexual acts. In public, the fight for queer rights has become associated with the legal struggle against Section 377.31 This is mainly due to the impact of multi-media campaigns and the work of the human-rights-coalition Voices against 377. Founded in 2004, Voices is a Delhi-based coalition run by civil society groups arguing that Section 377 violates human rights. Different groups within the coalition examine the issue from the vantage point of human rights, women’s rights, children’s rights, sexual rights and HIV/AIDS. Feminist groups, which comprise over half of the participating organizations, generated a broader concept of sexual freedom by stating that Section 377 takes away the right of bodily integrity and to be able to choose and express one’s sexuality.32 One successful campaign element was an online petition and open letter arguing for reading down Section 377, which was supported by renowned citizens such as the Nobel laureate Amartya Sen or author Vikram Seth. As such, Voices managed to gain support from different strands of Indian society, which generated a dialogue and made opposition to Section 377 visible.33 On 2 July 2009, the Delhi High Court sided in favor of the petition filed by Naz Foundation (Naz Foundation vs. Delhi NCT) and read down Section 377. The judgment marked a significant milestone of the queer movement in decriminalizing consensual same-sex sexual acts in private.34
30 Cf. A. Gupta/A. Narrain: »Introduction« Law, pp. xxvii-xxvii. 31 Ibid., p. xiii. 32 Cf. Voices against 377, http://www.voicesagainst377.org accessed on 03.01.2014; MacDougall, Clair: »Voices against 377: Women’s Day and the Struggle for Queer Rights«, in: The Indian Express, 09.03.2008, http://expressindia.indianexpress.com/ story_print.php?storyId=282051 accessed on 14.11.2013. 33 Cf. G. Bhan/A. Narrain: »Introduction« Voice, pp. 9-10. 34 Cf. A. Gupta/A. Narrain: »Introduction« Law, p. xii.
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Moreover, combining Internet activism with face-to-face activism, a large and still expanding network of transnational and national linkages was built by queer activists, which had a strong impact on the strength of the queer movement and its success in getting Section 377 read down in 2009.35 Facebook in particular has developed into a key platform for interaction, networking, spreading information and activism. Queer interlocutors appropriate Facebook for their respective requirements and localize the uploaded queer content.36 In public, visibility of queer issues accelerated after the judgment. The post2009 legal change not only facilitated the growth and visibility of self-organized events (like dance festivals, open-mic events, pride parades), but also significantly of commercialized queer spaces (such as nightclubs, travel agencies, queer publishing houses). As such, there was a noteworthy shift from political to commercialized queer activities, as Shalini states: »I see the commercialization of all these gay nights […] One [popping up] every day practically. And then also other kinds of commercialization like that Engendered Rock Concert, Queer Ink Publishing House, Pink Pages, Azaad Bazaar... Sort of people looking for opportunity to build jobs and money around the aspect of being queer, which I guess was there earlier also […] like people working in the queer sphere through NGOs, but this now is blatantly non-altruistic, it’s about making money unapologetically.«
Queer activist Aditya remarks that contrary to queer men, who created many of these commercialized spaces after the judgment, queer women in South Delhi did not display the same capitalist interest. One reason for this might be that queer women often do not have the same access to socio-economic resources to create or maintain their own spaces. While male queer actors use nightclubs and public cruising spots quite extensively, there are significantly less publically accessible spaces as well as less socio-political spaces and support groups accommodating the specific needs of female queer people in Delhi.37 As mentioned above, economic shifts in the 1990s led to changes in practices of consumption and the growth of new sites for social interaction. This paved the way for the current trends of commercialization in queer urban life. Moreover, the urban structure of Delhi and its districts also determine
35 For further details on queer activism and the role of the Internet, cf. J. Geist: Queer in Indien, pp. 78-108. 36 Cf. Miller, Daniel: Tales from Facebook, Cambridge 2011, pp. 190-191. 37 For more details on gendered spaces in Delhi, cf. J. Geist: Queer in Indien; J. Geist: »Queer Urban Spaces in New Delhi«, pp. 85-114.
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the degree of visibility or non-visibility of queer life and activism. Social and political queer events and spaces for example are largely situated in South Delhi. In contrast, other city districts are described as more traditional in terms of moral values, views on gender/sexuality and family life. Aditya remarks: »West Delhi, East Delhi and some parts of North Delhi are areas that are still in model of Indian villages, where you are a part of the village first and an individual later. Your individualism is subservient and secondary to your community affiliations. That mindset has still not dissipated in these areas. […] The whole notion of privacy is very thin and therefore people feel they can interfere with others’ matters and people tend to conform also. South Delhi by contrast is more individualistic and anonymous.«
There are various dynamic relationships between gender and space in the city. In the example described here, it is striking how certain areas of the city (South Delhi) are characterized as more open, liberal, queer-friendly, individualistic etc. and seem to foster the development of more social/political spaces for nonheteronormative or gender-transgressive behavior than other parts of Delhi, which are described as morally traditional or more conservative by interlocutors. Queer actors living in these parts of the city are hereby often pressured to adapt and assimilate to their heteronormative and gender-conforming surroundings, for example by performing conforming gender roles. Sites and areas perceived by interlocutors as either liberal/non-normative or conservative/normative thus directly impact on notions of gender, the degree of gender (non-)conformity and the visibility of queer life and activism in these areas. Besides, increased visibility of queer issues – be it online or offline, in the media or the public – is often accompanied by violence, discrimination or other negative reactions by opponents who view themselves as preservers of ›traditional‹ Indian core values: immediately after the Delhi High Court judgment in 2009, several orthodox groups filed a petition with the Supreme Court against the decriminalization of Section 377.38 Framing homosexuality as an ›alien‹ Western import, these opponents argue that the verdict would inevitably destroy the family system.39 Regarding the level of activity in activism after 2009, queer activist Gautam explained that it was decided to largely keep quiet, not actively
38 Cf. A. Gupta/A. Narrain: »Introduction« Law, pp. xii, xxxii-xxxiv. 39 Cf. Gidwani, Deepak/Yadav, Puneet Nicholas: »Gay is Bad, Chorus Maulanas, Saffron Brigade & Church«, in: DNA India 02.09.2009, http://www.dnaindia.com/india/ report-gay-is-bad-chorus-maulanas-saffron-brigade-and-church-1270429 accessed on 17.01.2014.
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pursuing the media and the public until the revision hearing in the Supreme Court in 2012: »So our strategy was to show that the world would not end, as the opponents have argued in their leave petition, and let some time pass and let passions go [...]. So now it has been about two years and there is a new discussion on what do we do now?« Some groups such as Nigah entered into a phase of disjuncture and reorientation in trying to figure out which direction to take next. Gautam adds in regard to Voices: »Voices has struggled since the High Court decision because it was always meant as a directed opportunistic coalition. I think there was a possibility that it could have evolved into something around intersectionality, sexuality and queer politics. These three things made it what it is. It hasn’t done that since the High Court […] reasons for that [being]: I think we have struggled to even just fully see through the Supreme Court hearings and to just get our stuff in there and stay with it. Maybe the coalition has run out of steam, or maybe not. It is interesting that for many of us, we just call it Voices, not Voices against 377. It’s about something more than the law. If we lose at the Supreme Court, I would see Voices becoming very active again. If we win, I could see us closing. It’s good for people to let spaces go and wrap up or reinvent the space and give it a new meaning. Queer political space is not a space that takes a formal particular group or institution; it’s a way of thinking about sexuality and the language that is used. So as long as there are places and sites where that language is circulating, those are queer political spaces. Queer political spaces are both diffuse and discrete, both spatial and discursive and they are very individual. […] I think in Delhi, there is now enough of it in your life, you know, through what you read, you see, the people you meet, you will run into this articulation somewhere. So in some sense there is a floating of queer political space that you can’t norm.«
Similar to the heterogeneous character of the queer movement, which is divergent in its ideologies, loose in its structure and ever-changing in regard to its active participants, queer political spaces get created and maintained by specific groups or individuals and are often transient. While new spaces keep on emerging, existing ones sometimes disappear (for example when groups disband or key activists retire) or get reinvented because they are so strongly linked to specific initiatives, groups or people. However, an outcome of the queer movement in recent years can be seen for example in the establishment of a shared language and queer way of thinking about gender/sexuality, which is not tied to a specific group or space and is reiterated in academic literature, media and certain sociopolitical spaces in the city, even if groups dissolve. Besides, many queer activists remark that there was a tangibly decreased sense of togetherness and cooperation within queer activist circles after the Delhi
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High Court verdict. This led to an increasing internal fragmentation of the queer activist scene. In regard to the struggle against Section 377, queer activists, however internally divided, usually present a united front against the mostly disapproving mainstream society since, as Narrain summarizes, Section 377 is »not just a law, but a worldview which remains entrenched in legal structures, medical, family and media discourses and perhaps, most strongly, in the ›common sense‹ understanding of people« 40 and thus affects Indian queer people at large.
M OVING O N ? G OALS IN Q UEER A CTIVISM
AND
A TTENTION T OWARDS G ENDER
Internal criticism against the focus of the queer movement on the struggle against Section 377 stresses that only limited space is left for topics beyond this legal framework. Bhaskaran for example points out that women-specific issues have been neglected and obscured within the discourse around 377.41 As many queer activist spaces in Delhi are influenced by feminism, one would expect that talking and reflecting upon various issues of gender would be prominent in these spaces. Shalini remarks on the lack of engagement with gender topics: »We don’t engage with gender in any serious way. And I am not just talking about Nigah. But as a whole I don’t think the queer community does either say: ›Oh right, LGBT, what is LGBT... like where is T coming from?‹ T is about gender. L G and B are not necessarily about gender and then what about all the people who fall under L and G who have variant genders? You don’t talk about that!«
Some queer activists believe that gender issues were not addressed in queer socio-political spaces on a big scale for the longest time because of the potential conflict inherent in the complex subject. It was regarded as a possible source of internal fights, misunderstandings, or splits within the political movement. Addressing gender topics was thus seen by some as counterproductive to building a cohesive, strong queer movement, which was (and still is) fighting for legal and social recognition within larger mainstream society. However, after the decriminalization of Section 377 in 2009 and the shift to social activities and issues of
40 Narrain, Arvind: »No Shortcuts to Queer Utopia. Sodomy, Law and Social Change«, in: Brinda Bose/Subhabrata Bhattacharya (eds.), The Phobic and the Erotic. The Politics of Sexualities in Contemporary India, Kolkata 2007, pp. 255-262: p. 257. 41 S. Bhaskaran: »The Politics of Penetration«, p. 26.
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commercialization of queer spaces in the subsequent years, queer activists eventually started to move their agenda to gender issues more thoroughly by 2012. The base for this might be the strengthened queer movement and its legal and social successes in recent years, which by 2012 internally allowed for the time and the willingness to also address gender topics more intensely. ›Genders‹ was also selected as the motto for the annual Delhi queer pride parade in 2012. Activists intended to bring non-normative gender topics to the front and also start conversations including narratives of socio-economically lower situated queer individuals and their take on (non-)normative gender notions in a more nuanced way. Queer activist Akhil explains the motivation of Nigah to host the genderthemed event All our Genders: A Public Discussion, which facilitated a dialogue between upper class activists and working-class LBT female-born activists, as follows: »In public, in India, any kind of gender non-conformity, let alone being transgender, being transsexual, being a cross dresser […] was leading to some kind of discrimination in the workplace, in homes, in schools, in colleges, in any kind of institutional space and public spaces and personal spaces. And that was far too endemic for us to ignore any further. And thinking of us cannot be framed around just sexual identities. This conversation is far larger and is about gender which each of us experience whether queer or not queer.«
At this event, participants acknowledged the lack of a language in India that could enable an understanding of the gender positions of people who do not fit neatly into male and female and addressed the erasure of various practices of gender non-conformity from public life. But for some the discussions should go further and for example address normative masculinity more explicitly, as Aditya demands: »Because of certain feminist theorists and activists, gender has become synonymous with women’s issues. Which is completely silly, but then making gender as a main theme of the queer movement would inevitably associate it with women’s issues. Whereas, I think we should hit the nail on the head. The problem is really [normative] masculinity. The way masculinity is misconstrued and abused [for example by gaining certain privileges from being born male in a patriarchal society]. The notion of masculinity is the root of the problem and that is something we need to address.«
Normative gender discourses link masculinity to the notions of asli mard (Hindi: ›real man‹), which includes penetration or activeness during sexual intercourse, while framing sexual partners as passive and effeminate – regardless of their
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sex.42 As such, the social reading of normative masculinity is a very narrow one, and one that is hardly addressed critically. It limits actors to act-out socially and negotiate different masculine gender roles. At the same time it gives male-born people the possibility to use ›normative masculinity‹ to claim and gain social privileges. Since many queer/feminist activist groups subscribe to feminist-influenced queer theory and intersectionality, which question normative gender notions, they seek to undermine the narrowness of conventional gender roles. However, queer couples often reproduce conventional gender stereotypes, as for example visible in many butch-femme43 or kothi-panthi44 relationships. This can lead to stigmatization and exclusion of these queer actors in activist circles, as Georgina explains: »Some butches use the word biwi [Hindi: ›wife‹] for their partner, which is very derogatory to me. You immediately understand that the butch sees herself as a top, as masculine, she buys into the whole patriarchal culture. The thing about the [queer] community is that it is not a monolith. We have so many different groups and the groups that I am part of do not favor this kind of binary reading of masculine-feminine, butch-femme, or top-bottom. The moment you join the group you are invited to deconstruct that. In fact if you are ascribing to it, chances are you will not be part of that group, because you will be so uncomfortable with the talk that’s happening around and if you use words like biwi, you’ll be thrown out of the group immediately. So that is a problem. But now we are looking at ways of dialoguing instead because we realize that this kind of posturing and polemics is not favorable to building a more cohesive movement and community in the future.«
Georgina thus refers to a vivid internal discourse about gender that is very critical, and in its reflexivity on the verge of being exclusive, as in the example of potentially being thrown out of a group if subscribing to different terminologies
42 Not allowing any sexual penetration of the masculine body is attributed as a distinctive feature of normative masculinity in an Indian context as well. For the western context, cf. Halberstam, Judith: Female Masculinity, Durham 1998, pp. 123-125. 43 ›Butch‹ denotes a culturally defined masculine person who is female at birth. ›Femme‹ in contrast refers to lesbian/queer women conforming to the cultural norm for feminine appearance. Cf. Eves, Allison: »Queer Theory, Butch/Femme Identities and Lesbian Space«, in: Sexualities 7 (2004), pp. 480-496: p. 480-483, 487-491. 44 Panthis are the male sexual partners of kothis, usually identifying as heterosexual. Kothis instead perform a feminized gender identity and characterize panthis as ›real‹ men.
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or ideologies, and the realization of these problematic hindrances in building a cohesive community. A statement by Shalini illuminates the scope that such a reflexive project may take. Shalini finds the often one-sided critique of butch-identified actors by queer feminist activists difficult and demands a more thorough and allencompassing discussion of the gender concepts employed, so that the discourse will be transcending the mainstream focus on typical stereotypes: »Whenever I hear mainstream lesbians’ or mainstream feminists’ critiques of people being in these butch-femme dynamics, the criticism is always of the butch, ALWAYS [emphasized]. Nobody criticizes the femme, if anything the femme is seen as the victim, like: ›This poor girl! She has somehow got trapped into this and didn’t realize‹. The butch is sort of cast as the stereotypical abusive husband figure, abusive straight male figure. I actually have a criticism of femmes! This whole critique that people have: ›butch-femme relationships are not egalitarian and reproducing tired old gender roles‹. Why are you not critiquing yourselves for reproducing gender roles, when you are femme? It shows how idiotic the whole argument is because if you are not willing to criticize yourself for growing out your hair and wearing feminine clothes and talking in a high pitch voice and all of that, then why are you so ready to criticize other women who are transgressing that to look like what you consider men. Unless you are criticizing both butch and femme I don’t buy this as an argument.«
Some activist interlocutors remark that the degree of exposure to radical queer thinking may impact on gender notions and can lead to changes in the mindset. Queer activist Jaya addresses this, but also points to the issue that such awareness so far is not easily accessible to everyone: »The whole class linkage with gender stereotypes, like people who tend to be more gender stereotypic are less elite or more working class people. I feel uncomfortable about that. But the fact is, the more elite you are, the more exposure you have to more radical ways of understanding and therefore being gendered in a more radical way. I mean it’s not just class, but class makes a difference and it’s a privilege to be exposed to less rigid genders.«
In order to create more discussions between queer individuals and their different notions of gender, some queer/feminist activists organize workshops or trainings about normative and non-normative notions of gender and sexuality. Aditya for example conducts gender/sexuality workshops with effeminate kothis. Since kothi interloctors usually self-identify or act in some way as ›women‹ and constitute their identity around acts of being penetrated by ›real‹ men (panthis), Aditya
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contrasts their gender performances and practices in the workshops with the social conventions, stereotypes and notions of normative femininity. By doing that, he tries to expose kothis to differences and stereotypes regarding their own gender performances in comparison to female-born individuals. By confronting kothis with such contradictions, Aditya tries to bring about a reflexive engagement with gender categories and assigned gender roles, and challenges them to question stereotypes and conformities: »What I have learnt, if you try to work with these non-normative notions of gender, it doesn’t work with kothis, because at a certain level, their aspiration is to conform to the stereotype. What I try and do is to make it more experiential, where the contradictions involving their feelings come to the fore. For example: ›What time do you go out to cruise?‹ Inevitably most people say: ›After eight or nine‹, then I ask them: ›How many women in your street go out past nine?‹ And inevitably, no one does. So I ask them: ›How does that make you a woman? You are doing something that women generally do not do, what gives you that privilege?‹«
Similar to criticism of gender-transgressive female-born butch actors and their overt masculinity and occasional display of misogynistic behavior, many activist interlocutors stress that the gay community displays an ambivalent relationship towards effeminacy. Overtly effeminate male-born individuals are often criticized or even ridiculed for their gender performance. Bikram connects the stigmatization of effeminacy to larger societal discourses on gendered behavior: »Culturally India is a male-dominated patriarchal society so it’s easier accepted to assume a male role rather than a female role. A man behaving like a woman is a degradation of status but a woman behaving like a man is an upgradation. There’s a concept of tomboy and it is not a derogatory term, but the sissy, the pansy is very derogatory. It is perfectly normal for a girl to wear male clothing, but it is looked down upon for a guy to wear female clothing.«
According to interlocutors, the fear of effeminacy within male queer circles also often relates to the common public notion of ›inviting‹ sexual violence and discrimination if being recognizable as effeminate or gender-transgressive. As such, there seems to be unease with overtly gender-transgressive people – for example being hyper-masculine within female queer circles or overtly effeminate in male queer circles. As argued above, even though the queer activist scene in Delhi is highly influenced by feminism and non-normative notions of gender/sexuality, gender issues are often sidelined due to the legal focus. Moreover, MSM spaces
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still often reiterate stereotypical notions of femininity and masculinity and do not address queer or feminist non-normative understandings of gender/sexuality. It remains to be seen how the initiated dialogues on gender will impact on negotiations around gender within activist queer spaces, as well as in regard to participation and inclusion across intersectional categories of difference.
E PILOGUE : »N O G OING B ACK TO 377« – T HE I MPACT N EW L EGAL D EVELOPMENTS ON Q UEER A CTIVISM
OF
In December 2013 the Indian Supreme Court overturned the Delhi High Court judgment and reinstated Section 377 to its full legal statute (Koushal vs. Naz Foundation). While the Delhi High Court declared that queer individuals are entitled to the constitutional protections of equality, liberty, privacy, and dignity, queer activists argue that the Supreme Court verdict took these rights away.45 The Koushal verdict on the constitutionality of Section 377 aggravates the social and legal situation of queer people. Re-criminalization provokes anxieties about being publicly identified or exposed as same-sex desiring. Therefore, the importance of interacting and networking in online queer-relevant spaces could increase since the Internet allows to publicly remain ›in the closet‹ while still connecting with other queer individuals. Since Koushal, queer activist groups are reviving their efforts and activities. Many groups or individuals, who had retired from queer activism, currently become vocal again. Queer activists try with numerous online/offline strategies to gain support from mainstream society and to show non-heteronormative genders/sexualities as integral parts of Indian society. Cyberspace will hereby remain important as a source of queer-relevant information, a space of interaction and for strengthening queer activism locally, nationally and internationally. The following two narratives show the hope of activists that positive changes cannot be eradicated in spite of a juridical backlash. Gautam states: »Things have happened now that cannot be taken back. Spaces have opened up, new groups have formed. A generation has tasted the change and freedom now. You can’t take all of it back.« Aditya also remains confident:
45 Cf. Grover, Anand: »Why Supreme Court’s Verdict on Section 377 is Wrong«, in: The Economic Times 15.12.13, http://articles.economictimes.indiatimes.com/2013-12 -15/news/45191798_1_lgbt-community-delhi-high-court-supreme-court accessed on 05.02.2014.
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»There is this euphoric energy of queer people, that has been released out there […] you see 17, 18, 19, 20 year olds expressing themselves, discussing themselves, discussing problems and looking for solutions for them, they are very proactive. I’m 40 years old now, and the entire period from 15 to 35 years, those entire 20 years were spent in creating those spaces. I mean a large part of my struggle was creating those spaces before I could enjoy it. I feel glad those spaces are created, and people are aware that there is nothing inherently wrong with what they are doing and that has lead to burgeoning discourse around queer sexuality and on gender.«
In contrast to the negative impact of the Koushal verdict on the decriminalization of queer sexuality, the Supreme Court (NALSA vs. Union of India) decided in another historic judgment to grant trans* people legal and constitutional protection and to recognize a ›third gender‹ category in April 2014. In this landmark judgment, the court declared that the self-identified gender position can be either male, female or third gender and that a non-recognition of gender identity violates articles 14 (equality), 15 (non-discrimination), 19(1)a (expression) and 21 (autonomy) of the Constitution. Importantly, the Supreme Court does not see sex reassignment surgery as a precondition for the legal recognition of gender identity.46 The future implementations by the federal and provincial administrations will remain to be seen. Transman and activist Satya criticizes however that the verdict falls short by foregrounding »traditional« trans feminine communities (such as hijras), while not addressing issues of trans masculine, intersex and inter-gender communities.47 Indeed, the court document attests to the emphasis on persons who are assigned male at birth, while concerns of people assigned female at birth are not properly addressed. Nevertheless, the NALSA verdict is groundbreaking and – according to queer activists – opens possibilities to address discrimination from many spheres and use this verdict in the on-going legal struggle against Section 377. Currently this leads, however, to the paradox of the NALSA judgment giving transgender people constitutional and legal rights and acknowledging the harassment and abuse queer people face because of Section 377, while still keep-
46 Cf. Supreme Court of India: »Writ Petition (Civil). National Legal Services Authority vs. Union of India and Others« 15.04.14, http://supremecourtofindia.nic.in/outtoday/ wc40012.pdf accessed on 22.05.2014. 47 Cf. Satya: »Lounge Opinion. Why the Transgender Verdict is an Incomplete One«, in: Livemint 17.04.14, http://www.livemint.com/Leisure/Nv9Azw4bFA30CGbyCWSXU J/LOUNGE-OPINION-Why-the-transgender-verdict-is-an-incomplete.html accessed on 11.05.2014.
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ing Section 377 in place and by that allowing social discrimination and legal repercussions with regard to sexual orientation. With both judgments, trans people are in the strange position of being both legally recognized and protected by the Constitution, but also to be potentially criminalized – along with other queer people – for having consensual same-sex intercourse. Due to the current legal developments, the diversified queer movement is now refocusing its efforts on the legal struggle against Section 377. Addressing further issues such as samesex marriage or pension are internally contested and prone to be postponed. However, especially workshops on gender and sexuality that also include an engagement with non-normative aspects of gender/sexuality and question stereotypes will remain important for activists in their effort to open-up new perspectives and add to the larger normative gender discourse. Varied contestations of normative vs. non-normative gender notions contribute to heterogeneity of everyday life practices of queer individuals. While internal fragmentation and contestations along different ideologies will remain an important character of queer activism, it is likely that activists will shift back to present a more united front in their joint aim for social and legal decriminalization.
Alternate Ways of Doing Gender in Social Spaces? Über Positionierungsprozesse gleichgeschlechtlich liebender Frauen in Indonesien
K RISTINA S CHNEIDER
E INLEITUNG Obwohl Indonesien ethnisch, kulturell und religiös sehr divers ist, werden in hegemonialen Diskursen, die zunehmend von einem politisierten Islam geprägt sind, eindeutige Normen in Bezug auf Geschlecht und Begehren verbreitet. Sexualität ist innerhalb des moralischen Rahmens der (heterosexuellen) Ehe legitim und gleichgeschlechtliches Begehren wird als Sünde oder Krankheit definiert und dessen Ausleben diskriminiert. Offen lebende LGBT sind oftmals sozialer Ächtung durch die gesellschaftliche Umgebung ausgesetzt und sexuelle Akte, wie Küssen in der Öffentlichkeit, egal ob hetero- oder homosexuell, können unter der Anti-Pornografie Gesetzgebung bestraft werden. Außerdem existieren auf diskursiver Ebene enge Vorstellungen und Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit. Die ideale Frau ist darin feminin, exklusiv heterosexuell, Ehefrau und Mutter. Dieses Ideal ist mindestens für maskuline Lesbi/an,1 die sich nicht als feminine Frauen verstehen, problematisch.
1
Der Terminus Lesbi/an schließt beide Formen der gängigen Selbstbezeichnungen von gleichgeschlechtlich liebenden ›Frauen‹ in Indonesien ein. Lesbi wird häufig verwendet und ist in Bedeutung und Konstruktion nicht deckungsgleich mit ›Lesben/lesbisch‹, vgl. Schneider, Kristina: (Wie) normale Frauen und Männer? – Lesbi gender und Sexualität in Indonesien. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Göttingen
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Mit Blick auf diesen geschlechtlich dichotomen und heteronormativen Kontext beschäftige ich mich mit der Konzeption von Lesbi/an-Gender im Verhältnis zu sozialem Raum. Dabei beleuchte ich aus einer ethnologischen Perspektive einerseits, wie primär die Praktiken des ›doing‹ (Lesbi/an) Gender von maskulinen Butchi2 in unterschiedlichen (sozialen) Räumen durch die Machtverhältnisse in den Räumen beeinflusst werden und variable Gender-Positionierungen erfordern und hervorbringen. Andererseits analysiere ich die Konzeption von Lesbi/an Gender in Anlehnung beziehungsweise Abgrenzung zu hegemonialen, religiös legitimierten Diskursen im indonesischen Kontext anhand der folgenden Fragen: Wie stellen Butchi ihr Gender in unterschiedlichen sozialen Räumen performativ her? Wie werden vergeschlechtlichte Körper raumabhängig wahrgenommen, interpretiert und (un-)sichtbar gemacht? Welche Anlehnungen, Abwandlungen oder Handlungsräume werden gefunden, um mit den nationalstaatlich vermittelten Idealen von Gender umzugehen? Um meine These zu diskutieren, dass Butchi häufig, obwohl persönlich Maskulinität präferiert wird, ihren Gender-Ausdruck fluide und raumabhängig positionieren und die Präsentation zwischen den als Ordnungsmuster fungierenden Gender-Normen für Frauen und denen für Männer oszilliert, beschreibe ich einleitend kurz theoretische Bezüge und wichtige Aspekte der historischen Gegebenheiten Indonesiens als Bezugsrahmen der geschlechtlichen Aushandlungen von Butchi. Im Hauptteil werde ich die Kontextabhängigkeit der performativen Praxis von Butchi Gender anhand ihrer raumspezifischen, geschlechtlichen Verortung darstellen.3 Im Fazit werden die Verhandlungen von diskursiven Genderidealen sowie die raumverbundene Dynamik des ›doing‹ von Butchi Gender diskutiert. Das Augenmerk auf die wechselseitigen Verknüpfungen der Konstrukti-
2011. In aktivistischen Zusammenhängen wird zunehmend das Wort Lesbian verwendet, da Lesbi als abwertend empfunden wird. 2
Maskulinität ist nicht als natürlicher Ausdruck eines männlichen Körpers zu verstehen. Weibliche oder lesbische Maskulinität – female masculinity – wird allgemein mit dem Wort Butch bezeichnet. Die Maskulinität der Butch ist keine Kopie männlicher Maskulinität, sondern eine subversive Aneignung und Umdeutung. Männliche Maskulinität ist nicht das Original, sondern genauso eine performative Praktik. Weibliche Maskulinität ist nicht nur Performance, sondern auch Nicht-Performance, da sie die körperlich zugeschriebene Femininität zurückweist. Vgl. Halberstam, Judith: Female Masculinity, Durham/London 1998, S. 120-126.
3
Von Januar bis Dezember 2014 habe ich meine Feldforschung über die Verhandlungen zwischen religiösen und sexuellen Identifizierungen indonesischer LBT in Yogyakarta und auf Bali durchgeführt.
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on von Gender und Raum unter Einbeziehung der Machtverhältnisse hat zum Ziel, ein erweitertes Verständnis der gegenseitigen Bedingtheit von Raum und Geschlecht zu eröffnen.
T HEORETISCHE B EZÜGE In Anlehnung an Judith Butler verstehe ich Gender als ein verkörpertes und erlerntes Zusammenspiel aus Verhalten, Aufgaben, körperlichen und emotionalen Attributen, spezifischen Kleidungen und Handlungsspielräumen, die eine Gesellschaft geschlechtlich zuordnet.4 Gender ist ein soziales Konstrukt, welches wir annehmen und erlernen müssen, und durch dessen verinnerlichte Struktur wir uns spezifisch kulturell kodiert weiblich oder männlich verhalten. Der beschriebene Konstruktionscharakter zeigt ein Verständnis von Gender als etwas Gewordenes, etwas Veränderbares, etwas in einer spezifischen historischen Konstellation Aufgestelltes. Gender ist zwar eine soziale Konstruktion, dabei aber oft sehr real und spürbar, weil sie von Subjekten einverleibt wird, Körper formt und gleichermaßen unsere Wahrnehmung sowie Emotionen prägt. Aussagen wie »Ich fühle mich als Frau« oder »Ich fühle mich wie ein Mann«, die beispielsweise Lesbi/an in Indonesien tätigen, besitzen Wirklichkeit.5 Um die Einverleibung von Gender trotz Konstruktionscharakter besser fassen zu können, hilft Bourdieus Verständnis des Habitus, welches »ein System verinnerlichter Muster« und ein »System dauerhafter Dispositionen« beschreibt.6 Dies betont das Ineinandergreifen von gesellschaftlicher Struktur und individuellen Verhaltensweisen. Der Habitus ist spezifisch gesellschaftlich bestimmt und »Körper gewordene soziale Ordnung«.7 Die Einverleibung der Zuschreibungen und der erlernten Differenzen zwischen Geschlechtern lässt Menschen, die tagtäglich normative Gender verkörpern, ihren Platz in gesellschaftlich etablierten Grenzen und Strukturen wahrnehmen und hilft ihnen, Geschlecht kulturell rich-
4
Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; vgl. dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995.
5
Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 45.
6
Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf ethnologischen Grundlagen der
7
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft,
kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, S. 165. Frankfurt a.M. 1982, S. 740.
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tig auszufüllen.8 Das bedeutet, ein körperliches und soziales Wissen über die kulturspezifische Richtigkeit normativer Gender-Ausdrücke wird – bewusst oder unbewusst – erlernt. Subjekte, Identifizierungen und geschlechtliche Verortungen9 sind prozesshaft und nicht statisch, abgeschlossen oder zu jeder Zeit gleich. Die situationsbedingte Annahme unterschiedlicher Identifizierungen ist nicht als genuiner Ausdruck eines kohärenten Selbst zu verstehen, sondern als Herstellungszwang einer Identifizierung in der Begegnung mit einem Gegenüber.10 Menschen müssen beispielsweise ein Geschlecht annehmen und dieses jeden Tag gemäß der anerkannten ›Richtigkeit‹ von Geschlecht performativ inszenieren, um es herzustellen und verständlich lesbar zu sein.11 Auch wenn Gender eine verkörperte Wirklichkeit von Menschen ist, gibt es eine große Spannbreite in der ›angemessenen‹ Darstellung eines Gender. In geografischen, sozialen und medialen Räumen manifestieren sich Machtbeziehungen,12 die diese Spannbreite beeinflussen und fördern. Was zum Beispiel als angemessene Weiblichkeit in einer Moschee verstanden wird, variiert von einer als angemessen verstandenen Weiblichkeit in einem Nachtclub. Räume sind »a means of control, and hence of domination, of power«,13 daher können sie durch Akteur_innen (nicht-)hegemonial genutzt werden, weil die Räume plural durch die soziale Praxis der Agierenden konstruiert werden.14 Das ›doing‹ Gender von Personen kann daher je nach den raumspezifischen Machtverhältnissen variieren beziehungsweise (muss) variiert werden, da Subjektverortungen auch immer raumbezogen konstituiert werden.15 Die erlernte Verkörperung, genauso wie die Spannbreite von Gender, wird häufig ausschließlich als Prozess innerhalb eines Geschlechts gedacht. Eine Per-
8
Vgl. Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 90.
9
Ich verstehe geschlechtliche Verortung als eine Positionierung bzw. Performanz von Gender, die mit sozialen und materiellen Räumen zusammenhängt.
10 Vgl. Hall, Stuart: »The Question of Cultural Identity«, in: ders./David Held/Tony McGrew (Hg.), Modernity and Its Futures, Cambridge 1993, S. 273-316, hier S. 277. 11 Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, S. 139. 12 Vgl. Gupta, Akhil/James Ferguson (Hg.): Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology, Durham/London 1997. 13 Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford 1991, hier S. 26. 14 Vgl. Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life, Berkeley/Los Angeles/London 1988. 15 Vgl. ebd.; H. Lefebvre: The Production of Space; Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
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son, die nach der Geburt weiblich zugeordnet wurde, erlernt während ihrer Sozialisation, wie sie sich dem weiblichen Gender entsprechend verhält und in diesem Prozess materialisiert sich das ›Frau-sein‹ in ihr. Sie weiß, wie sie ihr ›Frausein‹ in unterschiedlichen Räumen angemessen präsentiert und besitzt gleichzeitig Wissen darüber, was sie als Frau von Männern unterscheidet. Trotz dieses Wissens könnte sie Gender nicht einfach überzeugend als Mann verkörpern. Auch wenn Gender auf die Art für einen Großteil der Menschen zu einer eigenen geschlechtlichen Wahrheit wird, trifft dies jedoch nicht auf alle Subjekte gleichermaßen zu. Mit dem Fokus auf die Fluidität von Gender in Kombination mit dem Einfluss des sozialen Raumes auf Identifizierungen möchte ich hier zeigen, dass Butchi in Indonesien (speziell in Yogyakarta), obwohl sich Maskulinität in Körper und Gefühlen materialisiert, ihr Gender nicht nur variabel im Spektrum von (maskulinen) Weiblichkeiten raumabhängig verkörpern, sondern in anderen Räumen im anerkannten Spektrum von Männlichkeit leben und dort auch als Männer verstanden werden. Gemäß dem Herstellungszwang leben sie Gender eindeutig und lesbar, allerdings nicht immer das gleiche. Demzufolge möchte ich hier dafür plädieren, Fluidität in der Performativität von Geschlecht konzeptionell weder einzig als Mono-Gender Fluidität zu begreifen, noch durch die theoretische Überbetonung der körperlichen Materialisierung zu beschneiden, sondern grenzenloser zu denken. Die Performativität von Gender, die gesellschaftlich imaginierte Grenzen zwischen den Geschlechtern in der täglichen Praxis überschreitet, ist ein weiterer möglicher Ausdruck von Gender-Fluidität. Über die Analyse der aktiven Grenzgänge, die in der geschlechtlichen Performativität von Butchis sichtbar werden, wird der Konstruktionscharakter der ›natürlichen Wahrheit‹ des heteronormativen Dreiklangs von Geschlecht-Gender-Begehren erneut deutlich.
K ONTEXT I NDONESIEN Bhinneka tunggal ika – Einheit in Vielfalt, so lautet das Staatsmotto der Republik Indonesien. Indonesien ist mit über 253 Millionen Einwohner_innen das viertbevölkerungsreichste Land der Welt und mit einem Anteil von 87,2% Muslimen auch das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung.16 Indonesien ist ein Archipel, das aus 17508 Inseln besteht, auf denen mehrere hundert verschiedene Sprachen gesprochen werden. Unter dem New Order Regime (1967-
16 Vgl. CIA Worldfactbook Indonesia, https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/geos/id.html vom 18.03.2015.
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1998) wurde versucht, dem ethnisch diversen Indonesien durch eine autoritäre Zentralregierung eine stärkere, gemeinsame und auf Nationalismus basierende Identität zu geben – das Subjekt des Indonesiers wurde geschaffen.17 Nach dem Niedergang des New Order Regimes im Jahr 1998 wurde der Zentralstaat in der Zeit der Reformasi durch eine Politik der Dezentralisierung zur Stärkung der Provinzen abgelöst. Das Hauptaugenmerk ist nun die Vielfalt in der Einheit. Trotzdem erlangen nicht-hegemoniale Subjekte nur bedingt Beachtung und sind Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt – seien es die lange Zeit als ›zurückgeblieben‹ geltenden suku terasing oder komunitas adat terpencil,18 religiöse Minderheiten wie die muslimische Gemeinschaft der Ahmadiyah oder Menschen, deren Geschlecht, Gender oder Begehren19 nicht der normativen Setzung entsprechen. Fast alle Indonesier_innen, egal welcher sexuellen Orientierung oder Gender-Position, wurden während des New Order Regimes sozialisiert. Präsident Suhartos zentralisierende Politik verfolgte auch spezifische Vorstellungen von Gender und Sexualität. Das Verständnis, wie Gender und Sexualität ›natürlich‹ und ›normal‹ sind, wird über Diskurse wie zum Beispiel religiöse Diskurse, Familienplanungsprogramme, Rechtsprechung und die Medien reguliert. Dominante Interpretationen von Gender, wie von Seiten des Staates, markieren den Hintergrund, auf dem Gender als kulturelle Kategorie in der Gesellschaft verstanden und gelebt wird.20 Saskia Wieringa beschreibt das New Order Regime als »patri-
17 Vgl. Ufen, Andreas: Herrschaftsfiguration und Demokratisierung in Indonesien (1965-2000), Hamburg 2002, S. xlii; vgl. Philpott, Simon: Rethinking Indonesia. Postcolonial Theory, Authoritarianism and Identity, Basingstoke Hampshire 2000, S. 144f. 18 Suku terasing und komunitas adat terpencil sind indigene Gruppen, die an ihrer Lebensweise und Traditionen bestmöglich festhalten und daher national nicht als ›moderne Subjekte‹ verstanden werden. Vgl. http://tempo.co.id/hg/nasional/2005/01/18/ brk,20050118-42,id.html vom 18.03.2015. 19 So wurden beispielsweise Teilnehmer_innen des Transgender Day of Remembrance in Yogyakarta im November 2014 nach einer kleinen öffentlichen Aktion verbal und körperlich angegriffen und verletzt. Für weitere Beispiele vgl. Ahmad, Munawar: »Faith and Violence«, in: Inside Indonesia 89 (2007), http://www.insideindonesia.org/ faith-and-violence vom 18.03.2015; Liang, Jamison: »Homophobia on the Rise«, in: Inside Indonesia 100 (2010), http://www.insideindonesia.org/homophobia-on-the-rise vom 18.03.2015. 20 Vgl. Blackwood, Evelyn: »Gender Transgression in Colonial and Post-colonial Indonesia«, in Journal of Asian Studies 64/4 (2005), S. 849-879.
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archal, authoritarian, national ideology«,21 in der die Sexualität von Frauen durch Politiken militärischer Autorität kontrolliert wurde. Unter Suhartos Führung wurde eine neue, staatliche Frauenorganisation Dharma Wanita (die Pflicht der Frau) gegründet, deren Frauenbild die soziale Unterordnung von Frauen unter Männer förderte.22 Der kodrat wanita (Natur der Frau) ist ein durch religiöse Ansichten inspirierter Verhaltenskodex für Frauen, der auf der ›weiblichen Natur‹ basiert: »The kodrat of Indonesian women prescribed that they should be meek, passive, obedient to the male members of the family, sexually shy and modest, self-sacrificing and nurturing. [...] their main vocation was wifehood and motherhood«.23 Der kodrat wanita ist weiterhin aktuell. Eggi, eine Butchi, erzählt, wie sie seit der Kindheit in dieser ungleichheitsbasierten Ideologie sozialisiert wurde: »Mädchen werden dazu erzogen vor Männern Angst zu haben und sie mehr wertzuschätzen. Frauen können angeblich nur weinen und emotional sein, Männer hingegen haben Verstand. Meine Mutter und Oma haben immer gesagt: ›Versuch nicht dich mit Männern gleich zu setzen, im Endeffekt haben sie die Macht und können alles mit Frauen, egal ob in der Ehe oder in der Familie, machen. Du bist nur eine Frau, was kannst du als Frau schon. [...] Frauen, die sich auf eine Stufe mit Männern stellen, werden von der Natur oder Gott bestraft‹.«24
Diese Diskurse wirken weiterhin und erschaffen ein Bild in der Öffentlichkeit, in dem legitime Sexualität als heterosexuelle Heirat und Familiengründung, als nicht öffentlich und in Einklang mit moralisch-religiösen Grundwerten aufgefasst wird.25 Alternative Sexualitäten, wie Homosexualität, Sexualität von Jugendlichen und unverheirateten Paaren, werden in den dominanten Diskursen als abweichend und unmoralisch markiert und gelten als aus dem liberalen Westen
21 Wieringa, Saskia: »The Birth of the New Order State in Indonesia. Sexual Politics and Nationalism«, in: Journal of Women’s History 15/1 (2003), S. 70-91, hier S. 71. 22 Vgl. ebd., S. 70. 23 Ebd., S. 75. 24 Gesprächsprotokoll Eggi 10.08.2014. Alle Interviews wurden auf Indonesisch durchgeführt und von mir übersetzt. 25 Vgl. Parker, Lynette: »Theorising Adolescent Sexualities in Indonesia: Where Something Different Happens«, in: Intersections. Gender and Sexuality in Asia and the Pacific 18 (2008), http://intersections.anu.edu.au/issue18/parker.htm vom 18.03.2015.
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importiert.26 So formuliert die ehemalige Frauenministerin (1993-1998) Mien Sugandhi: »I can also understand that Lesbians have individual rights, but I cannot accept them as Indonesian women. […] because Lesbians have forgotten their fundamental duties to be mothers, giving birth and raising children«.27
Diese öffentlichen, diskursiven Standpunkte strukturieren viele der sozialen Räume, in denen Lesbi/an sich bewegen. Gleichgeschlechtliche Sexualität wird gesellschaftlich pathologisiert, verniedlicht oder als Sünde verstanden.28 Diese Standpunkte werden häufig von Lesbi, die keinen aktivistischen Hintergrund haben, übernommen, sodass sie ihr Begehren als abnormal, sakit (krank) oder belok (vom Weg abbiegen) verstehen. Auch wenn nationale Diskurse wirkmächtige normative Vorstellungen verbreiten, ist dieser Einfluss nicht absolut disziplinierend. Es gibt eine Pluralität von gelebten Realitäten von Gender und Sexualität. Durch gesellschaftliche Hierarchien zwischen Identitätsachsen wie Ethnizität, Gender, Alter, Sexualität, Religion und Klasse, die intersektional zusammen wirken, wird die soziale Position von (Lesbi/an) Subjekten bestimmt. Klasse ist beispielsweise ein machtvoller Faktor, der die Lesbi/an Community in Yogyakarta durchtrennt. So unter-
26 Vgl. Bennett, Linda Rae: Women, Islam and Modernity. Single Women, Sexuality and Reproductive Health in Contemporary Indonesia, London/New York 2007; vgl. Harding, Claire: »The Influence of the Decadent West: Discourses of the Mass Media on Youth Sexuality in Indonesia«, in: Intersections. Gender and Sexuality in Asia and the Pacific 18 (2008), http://intersections.anu.edu.au/issue18/harding.htm vom 18.03. 2015. 27 Suara Karya vom 06.06.1994 zitiert in Gayatri, B.J.D.: »Indonesian Lesbians Writing Their Own Script. Issues of Feminism and Sexuality«, in: Monika Reinfelders (Hg.), From Amazon to Zami. Towards a Global Lesbian Feminism, London 1996, S. 86-98, hier S. 86. 28 Diese zuvor bereits beschriebenen Argumentationen sind weiterhin hegemonial, vgl. Blackwood, Evelyn: Falling into the Lesbi World. Desire and Difference in Indonesia, Honolulu 2010, S. 49-53; B.J.D. Gayatri: »Indonesian Lesbians Writing Their Own Script«, S. 90; Murray, Alison: »Let Them Take Ecstasy. Class and Jakarta Lesbians«, in: Evelyn Blackwood and Saskia Wieringa (Hg.), Female Desires. Same-Sex Relations and Transgender Practices Across Cultures, New York 1999, S. 139-156; Sulandari, Endah: Living as Lesbian in Indonesia. Survival Strategies and Challenges in Yogyakarta, Yogyakarta 2009, S. 33-38.
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schiedlich die Lesbi/an Subjekte sind, so haben sie doch ein relativ ähnliches Genderidentitätskonzept gemein.29 Weiterhin sind sie trotz der Unterschiedlichkeiten nicht gänzlich zersplittert, sondern in Zeiten von Facebook in weiten medialen Netzwerken verbunden und formen eine »imagined community of gay and lesbi subjectivity extending across Indonesia.«30 Folgend werde ich mich auf Butchi in unterschiedlichen Räumen beschränken, weil der Einfluss der raumeigenen Machtverhältnisse auf ›doing‹ Gender in ihrer Praxis besonders deutlich wird. Der gesellschaftlich konstruierte Widerspruch einer angenommenen Inkongruenz zwischen einem weiblich verstandenem Körper und maskulinem Gender erfordert eine hohe Flexibilität im täglichen Ausdruck ihres Gender, welche ich beispielhaft an den raumspezifischen Gender-Präsentationen primär von André, einer 21-jährigen Butchi aus Yogyakarta, darstelle.
›D OING ‹ L ESBI / AN G ENDER IN UNTERSCHIEDLICHEN R ÄUMEN In Indonesien werden von Lesbi/an eine Vielzahl an Wörtern verwendet, um ihre Gender-Positionen und ihr Begehren zu bezeichnen. Die meisten Labels nehmen einen starken und als wichtig erachteten Bezug auf eine binäre Konstruktion von Gender und bezeichnen einen maskulinen oder femininen Gender-Ausdruck. In Yogyakarta werden als maskuline Label Butchi, cowok und tomboi und als feminine Label Femme, cewek und lines verwendet. Die Verwendung der einzelnen
29 Vgl. für Sumatra E. Blackwood: Falling into the Lesbi World; für Sulawesi Graham Davies, Sharyn: Gender Diversity in Indonesia. Sexuality, Islam, and Queer Selves, London/New York 2010; für Jakarta A. Murray: »Let Them Take Ecstasy«; Wieringa, Saskia: »If There is No Feeling...: The Dilemma between Silence and Coming Out in a Working-Class Butch/Femme Community in Jakarta«, in: Mark B. Padilla et al. (Hg.), Love and Globalization. Transformations of Intimacy in the Contemporary World, Nashville 2007, S. 70-92; für Yogyakarta E. Sulandari: Living as Lesbian in Indonesia; Wright Webster, Tracy: »Re)articulations: Gender and Female Same-Sex Subjectivities in Yogyakarta, Indonesia«, in: Intersections: Gender and Sexuality in Asia and the Pacific 18 (2008), http://intersections.anu.edu.au/issue18/wrightweb ster.htm vom 18.03.2015. 30 Boellstorff, Tom: »The Perfect Path. Gay Men, Marriage, Indonesia«, in: Robert J. Corber/Stephen Valocchi (Hg.), Queer Studies. An Interdisciplinary Reader, Malden 2003, S. 218-236, hier S. 222.
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Kategorien variiert je nach Region und Kontext.31 Neuere Labels sind andro Butchi, andro und andro Femme, die unterschiedliche Abstufungen in dem Kontinuum zwischen maskulin, androgyn und feminin bezeichnen. Aktivistisch geprägte Lesbian verwenden diese Kategorien, die Eindeutigkeit evozieren, seltener. So bezeichnen sich einige auch als no Label. Das ›doing‹, also die andauernde Performanz geschlechtlicher Identifizierungen, geschieht nicht nur über sprachliche Mittel wie inhaltliche Referenzen, Namensgebung, Identitätslabel und Selbst- und Fremdreferenz, sondern auch über Kleidung und Dinge, die als Markierung von Geschlechtlichkeit verwendet werden. Durch sich verschränkende Zugehörigkeiten der Akteur_innen färben sich die Referenzen des ›doing‹ Gender einer Person inhaltlich, sodass Gender beispielsweise eine spezifisch religiöse Markierung durch das Tragen eines Jilbab (Kopftuch muslimischer Frauen) erhält. Religiöse beziehungsweise in diesem Fall muslimische Regeln, die Geschlecht betreffen, beeinflussen nicht nur generell, wie Gender und Sexualität als angemessen verstanden werden, sondern sie strukturieren in den muslimisch geprägten Teilen Indonesiens, wie sozialer Raum geschlechtlich besetzt und genutzt wird. Der Jilbab ist beispielsweise ein Merkmal des komplexen raumstrukturierenden muslimischen Konzepts von muhrim32 oder bukan muhrim, welches Mazumdar und Mazumdar als mahran und na-mahran für Muslime in Iran und Indien beschreiben.33 Die Unterteilung von Menschen in muhrim und nicht (bukan) muhrim im indonesischen Islam ist eine Unterteilung, die dem Verständnis von privat und öffentlich in westlichen oder (frühermals) christlich geprägten Ländern nahe kommt, aber dennoch Unterschiede aufweist. Während privat und öffentlich in westlichen Ländern durch materielle Orte oder in Bezug auf ökonomische Sphären verstanden werden und Öffentlichkeit als für alle Bürger_innen zugänglich gilt,34 wird sozialer Raum in
31 Andere Label, die Graham Davies und Blackwood erwähnen, sind zwar bekannt, werden aber in Yogyakarta nicht verwendet. Vgl. S. Graham Davies: Gender Diversity in Indonesia; E. Blackwood: Falling into the Lesbi World, S. 187. 32 Der korrektere Terminus wäre theoretisch mahram/bukan mahram. Da allerdings in der täglichen Praxis die Ausdrücke muhrim und bukan muhrim dominierend verwendet werden, verwende ich sie ebenfalls. 33 Vgl. Mazumdar, Shampa/Mazumdar, Sanjoy: »Rethinking Public and Private Space: Religion and Women in Muslim Society«, in: Journal of Architectural and Planning Research 18/4 (2001), S. 302-324. 34 Für eine kurze Zusammenfassung vgl. Thompson, Susan/Whitten, Carolyn: »When Cultures Collide: Planning for the Public Spatial Needs of Muslim Women in Syd-
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muslimisch geprägten Teilen Indonesiens durch die muhrim Regeln strukturiert. Menschen, die füreinander muhrim sind, sind meist blutsverwandt und kommen füreinander nicht als Heiratspartner_in in Betracht. In der dogmatischen Auslegung sind für eine nicht verheiratete Frau ihre Eltern, Großeltern, die weiblichen Verwandten auf der Seite der Familie der Mutter, die Brüder der Mutter und direkte Geschwister muhrim. Die muhrim Unterteilung wird ab dem Zeitpunkt ausschlaggebend, wenn die Menstruation einsetzt, da eine Frau fortan theoretisch als heiratsfähig gilt. Innerhalb der muhrim Kategorie wird in der Praxis weiter nach Geschlecht unterschieden. Dem Vater und genannten männlichen muhrim Verwandten dürfen das Haar und die Unterarme gezeigt werden. Weiblichen muhrim Verwandten wie der Mutter gegenüber muss der Körper nicht großteilig verhüllt werden, auch wenn junge Frauen in der Praxis oft aufgefordert werden, selbst in Momenten, in denen die Frauen einer Familie unter sich sind, den Körper verdeckende Kleidung zu tragen. Alle anderen Menschen fallen in die bukan muhrim Definition; ihnen gegenüber sollten das Haar, der Hals und der Körper bis zu den Hand- und Fußgelenken als Zeichen der Moralität verdeckt werden (menutup aurat) und der Blick gesenkt werden. Die Hände, Füße und je nach Auslegung die Augen beziehungsweise in der Praxis in Indonesien das Gesicht dürfen sichtbar bleiben. Im Gegensatz zu der westlichen Unterteilung von privat und öffentlich, in der zum Beispiel das eigene Haus als privat gilt, wird in Indonesien häufig auch das Haus einer muslimischen Familie durch die muhrim Regeln bestimmt. Durch einen männlichen bukan muhrim Gast wird das private Haus ›öffentlicher‹. Die Art, wie sich die vergeschlechtlichten Personen zueinander verhalten sollten, ändert sich, weil die Kommunikation und das sich Entgegentreten durch die muhrim Vorschriften reguliert wird. Weitere Aspekte von ›doing‹ Gender sind bestimmtes Verhalten und die Übernahme von Arbeit, die durch die Gesellschaft geschlechtlich definiert ist. Butchi und tombois verkörpern und definieren sich und ihr Gender über ein Konzept von Maskulinität, wobei der maskuline Ausdruck individuell gestaltet wird.35 Viele Butchi interessieren sich ab einem jungen Alter für Aktivitäten, die als typisch für Jungen gelten. André erzählt: »Seitdem ich klein bin habe ich immer mit Jungs gespielt, weil ich zwei Brüder habe, zum Beispiel Drachen
ney«, in: Social City 7 (2005), http://www.griffith.edu.au/__data/assets/pdf_file/0016/ 81403/social-city-07-whitten.pdf vom 18.03.2015. 35 Aus der Perspektive einer Genderforscherin weisen einige Praxen von manchen Butchi Parallelen zu Trans*Männlichkeiten auf, allerdings liegt es nicht an mir diese Identifizierung zuzuschreiben, vor allem nicht, wenn die Personen sich als Frau identifizieren. Daher verwende ich die Selbstidentifizierungen Butchi.
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fliegen, Fußball oder Murmeln – alles Jungsspiele«.36 Butchi beschreiben ihren Charakter als mutig, stark, energetisch, durchsetzungskräftig und risikofreudig.37 Kleidung und optische Erscheinung sind weitere Fragmente, durch die die eigene Distanz zu Feminität markiert und das eigene Gender als maskulin dargestellt wird. André erklärt: »Ich verwende das Label Butchi. Butchi bedeutet ich bin eine Frau, trage aber Männerkleidung und habe kurze Haare […]. Mein Verhalten ist wie das von einem Mann und auf der Strasse werde ich als Mann erkannt und gerufen«.38 Butchi tragen vornehmlich kurze Haare und Kleidung, die männlich konnotiert ist. Beliebt sind knöpfbare Männerhemden, Muskelshirts, weite Hosen oder Jeans, breite Sandalen oder Turnschuhe. Feminine, körperbetonende Kleidung wird gemieden, da sie physisches Unwohlsein auslösen kann. André beschreibt: »In der Schule musste ich einen Rock tragen und auch nach der Schule haben mir meine Eltern einen Rock angezogen, das war so ungemütlich, ich hab mich sehr eingeschränkt gefühlt. Immer wenn ich selbst wählen durfte, habe ich Jungskleidung gewählt«.39 André erwähnt ein weiteres Beispiel: »Falls ich auf der Strasse als Frau angesprochen werde, was eigentlich so gut wie nie vorkommt, erschrecke ich mich gewaltig – ›Wie kann die Person wissen, dass ich körperlich eine Frau bin‹?«40 Hier wird die Verkörperung von Gender und Emotionen im Sinne Bourdieus41 deutlich. Andrés präferiertes und gefühltes Gender ist maskulin, weshalb sich die Fremdzuschreibung zur Kategorie Frau unpassend anfühlt und André in Schrecken versetzt. Neben maskulin kodierten Verhaltensweisen, die eigentlich für Männer ›reserviert‹ sind, eignen sich Butchi sowohl männliche Spitznamen als auch geschlechtsspezifische Worte an und werden als gutaussehend (ganteng) und nicht wie Frauen sonst als hübsch (cantik) beschrieben.
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IM FAMILIÄREN
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Butchi, wie Femmes auch, leben häufig noch bei ihren Familien, weil sie (noch) nicht verheiratet sind. Viele Erzählungen zeugen von Akzeptanz. Die meisten
36 Interview André 19.08.2014. 37 Vgl. E. Blackwood: Falling into the Lesbi World, S. 74. 38 Interview André 19.08.2014. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Vgl. P. Bourdieu: Was heißt sprechen?, S. 90.
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Butchi schaffen durch ihre Performanz, dass ihre Familien sich an die untypische Tochter ›gewöhnen‹ und sie akzeptieren. Als aktiv Agierende prägen Butchi den Raum der Familie ebenso wie andere Teilnehmende, weshalb auf sie oft nicht die gleichen Verhaltensnormen angewendet werden wie auf Femmes. Dies leitet sich aus der relativ stringenten Verkörperung einer intelligiblen Maskulinität in der Familie ab, besonders wenn sie junge Erwachsene werden, weshalb viele auch ähnliche Freiheiten wie zum Beispiel ihre Brüder genießen dürfen. Ein primär maskuliner Gender-Ausdruck ist jedoch nicht für alle Butchi in der Familie unproblematisch. Die dominante Gender-Ideologie mit dem kodrat wanita setzt sex und Gender gleich. Daher fordern viele Familien und auch Andrés Familie die Verkörperung von Feminität. André erzählt: »Sie haben mich oft gebeten mich wie eine Frau zu verhalten, feminine Kleidung zu tragen, wie eine Frau zu reden oder mich so zu bewegen. […]. Aber selbst wenn sie mich drängen, ich will keine Frauenkleidung tragen. Ich will das nicht, selbst dann nicht, wenn ich gezwungen oder geschlagen werde. […]. Zu Hause bin ich deshalb stiller, erledige die Hausarbeit für Frauen […] und koche für meine Familie.«42
Durch die kulturelle Gleichsetzung von sex und Gender werden Körpern ›natürliche‹ Gender und damit einhergehend auch ›natürliche‹ Fähigkeiten und Pflichten beigemessen. Frauen sind Ehefrauen und Mütter, Männer sind Arbeiter und Familienoberhäupter. Butchi sind in der gesellschaftlichen Imagination und aus Perspektive der Familie zukünftige Ehefrauen und Mütter, sodass sie ihre vergeschlechtlichten Körper oftmals über den familiären Wunsch/Druck erfahren, heterosexuell zu heiraten und selbst Mutter zu werden. André erzählt: »Meine Eltern sagen, ich kann zwar jetzt ein Tomboy sein, aber später muss ich heiraten. Ich denke, das braucht Zeit und mental gesehen ist das Heiraten auch nicht einfach, denn noch habe ich keine Gefühle gegenüber Männern. [...]. Aber ich möchte das schon und in zehn Jahren bin ich bestimmt verheiratet und dann möchte ich auch Kinder gebären, weil das ist meine Aufgabe als Frau (kodrat saya perempuan).«43
Allerdings bieten sich für Butchi aus dem Umstand, dass ihre Körper gesellschaftlich als weiblich konstruiert werden und sie als Frauen gelesen werden (können) auch Möglichkeiten, die sie für ihre Beziehungen – ähnlich wie Femmes – nutzen können. So ist es für Lesbi/an beispielsweise möglich, zu Hause
42 Interview André 19.08.2014. 43 Ebd.
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Besuch von der Partner_in zu bekommen oder gemeinsam ein Zimmer im Rumah Kos, einem privaten, (nicht-)studentischem Wohnheim zu mieten, ohne dass Familie oder Vermieter_innen eine gleichgeschlechtliche voreheliche Beziehung unterstellen. Denn »in Indonesia [...] it is typical for girls and unmarried women to sleep together; no one thinks anything of it, because having someone to sleep with (of the same sex) is considered preferable to sleeping alone«.44
Diese Auffassung, genauso wie die verbreitete physische Homo-Sozialität, die gegenüber Lesbi/an Begehren ›dank‹ einer heteronormativen Prägung der Gesellschaft unsensibel ist, kann und wird von Lesbi/an nicht nur in Form von öffentlichem Hand-in-Hand gehen genutzt. Die Möglichkeit, beieinander zu übernachten oder zusammen zu wohnen, bietet sich unverheirateten heterosexuellen Paaren aufgrund der dominanten kulturell-religiösen Moralvorstellungen kaum.45 Die Adaption eines maskulinen Gender – oftmals bereits ab der Kindheit – kann für Butchi allerdings auch zu Problemen und Widerständen im gendernormativen Nahbereich führen, da es die gesellschaftliche Vorstellung der Kongruenz von sex und Gender nicht erfüllt. André und andere Butchi variieren und gestalten Gender im familiären Raum daher oft strategisch und anders als unter Freunden oder außerhalb des familiären Raumes. Das Bild von Weiblichkeit zu verfehlen, bedeutet Gefahr zu laufen, die Reputation der Familie zu riskieren und Gefühle von Peinlichkeit oder Schande auszulösen. André: »Wenn ich spät oder nachts nach Hause komme, ist das für meine Familie problematisch, weil ich eine Frau bin und für Frauen gehört sich das nicht – dann redet die Nachbarschaft. Aber was soll ich machen, wenn ich nun mal gerne draußen unterwegs bin? In solchen Fällen schlafe ich deshalb bei Lesbi Freundinnen, aber meine Eltern denken, ich schlafe bei Schulfreundinnen.«46
Als Teil einer Familie, welche bestenfalls soziale Sicherheit, Solidarität und ökonomische Absicherung bereitstellt, unterstehen Butchi gewissen Regeln und halten sich an diese. Das bedeutet, dass sie auch Aufgaben übernehmen, die als
44 E. Blackwood: Falling into the Lesbi World, S. 166. 45 Vgl. Bennett, Linda Rae: »Indonesian Youth, Love Magic and the In/visibility of Sexual Desire«, in: Review of Indonesian and Malaysian Affairs 37/1 (2003), S.135-158, hier S. 137. 46 Interview André 19.08.14.
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weiblich gelten (Wäsche waschen, kochen), im Kreis der Familie nicht rauchen oder einer weiblichen Benennungspraxis folgen. Butchi präsentieren ihr Gender strategisch in Abwägung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und ihrer eigenen Selbstwahrnehmung. Falls sie nicht mehr zu Hause wohnen, in ihrer Familie aber die muhrim Regeln einen religiös angemessenen Ausdruck von Gender bestimmen, kann es sein, dass Butchi zum Beispiel für Familienbesuche Jilbab tragen, obwohl sie das Kopftuch im täglichen Leben seltener tragen. Die Umsetzung der muhrim Regeln hängt von der familiären Praxis und der Rigidität des Glaubens der einzelnen Personen ab und ist oftmals fluide beziehungsweise abhängig von Zeit und Raum. So nimmt zum Beispiel Vinni, eine muslimische LGBT Aktivistin, die täglich muslimische Kleidung trägt, an einem Abend im Pesantren Waria47 ihr Kopftuch ab, sobald der letzte Mann den Raum verlassen hat. Den Personen gegenüber, die sich auch als Frauen identifizieren, kann sie in ihrer Praxis trotz fehlendem muhrim Status die Regeln des menutup aurat fluide anwenden.
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Berufe, die als typisch für Frauen gelten oder das Tragen femininer Kleidung verlangen, werden von vielen Butchi gemieden. Abby betont: »Bevor ich einen Rock auf der Arbeit tragen muss, kündige ich lieber«.48 Ausgeübte Berufe sind daher eher in Männerdomänen wie im Sicherheitsdienst und Handwerk, in geschlechtsunspezifischen Bereichen oder der Selbstständigkeit angesiedelt. Allerdings gilt dies nicht für alle Butchi. Manche sehen die präferierte Maskulinität als Teil ihres Privatlebens, sodass sie es auf der Arbeit als vertretbar ansehen, (mehr) Feminität zu verkörpern. Im halb-öffentlichen Arbeitskontext wird ihren Körpern auch Weiblichkeit zugeschrieben und teilweise verlangt, diese auch zu verkörpern. Butchi André zum Beispiel ist stark in das reziproke System der Familie mit dem zugrundeliegenden kulturellen Fokus, der das Wohl der Gemeinschaft im Gegensatz zum Individuum betont, eingebunden. Andrés Berufswahl, die Ausbildung zur Hebamme an einer muslimischen Gesundheitsschule, war eine Familienentscheidung:
47 Pesantren sind indonesische Koranschulen. Das Pesantren Waria Al’Fatah ist ein einzigartiger Ort in Yogyakarta, in dem Waria (MTF Trans) ihren muslimischen Glauben geschützt praktizieren können. 48 Interview Abby 31.07.2014.
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»Anfangs habe ich mich gezwungen gefühlt Hebamme zu werden, aber ich wollte meine Eltern glücklich machen, da ich sie schon als Frau enttäusche. Sie wollten, dass ich Hebamme werde, ich wollte lieber bei der Polizei arbeiten. Im ersten und zweiten Semester war das ein Zwang, aber jetzt nach dem fünften Semester fühle ich mich an der Schule und in dem Beruf wohl, der Zwang ist weg […]. Ich möchte später im Krankenhaus arbeiten oder eine eigene Praxis eröffnen und nebenbei, um nicht nur als Hebamme zu arbeiten, noch ein kleines Restaurant führen.«49
Auf dem Campus und während der Seminare der religiös geführten Ausbildungsanstalt gelten für einen muslimisch formalen Kontext normale Regeln der Gender-Präsentation, die auf den muslimischen muhrim Regeln beruhen. Die Studentinnen müssen eine Schuluniform tragen, die aus langem Rock, langärmeligem Hemd und Kopftuch besteht. André erklärt: »Ausserhalb der Schule bin ich wie ein Mann, aber auf dem Kampus bin ich wie eine Frau, ich sehe feminin aus und so verhalte ich mich dann auch. […]. Über die Uniform, vom Verhalten, meine Sprache wird niedlich, alles, auch wie ich gehe, ist feminin. Ich manipuliere mein ganzes Sein. […]. Im Endeffekt belüge ich meine Schulfreunde und mich selbst«.50
In der Schule folgt André den muhrim Regeln und trägt das weiblich konnotierte Kopftuch, allerdings lieber in Kombination mit einer langen Hose. Wenn sich die Mitschülerinnen über ihre Beziehungen zu Männern unterhalten, macht André mit und erzählt auch über romantische Beziehungen, ohne dass andere ahnen, dass über Beziehungen mit Frauen erzählt wird.51 Die Verkörperung und das auch sprachliche Einfügen in die heteronormative Logik ist enorm wichtig, da André befürchtet der Schule verwiesen zu werden, wenn das außerschulische maskuline Gender oder das gleichgeschlechtliche Begehren im Raum der Schule öffentlich würde. Für die Schulkontakte verwendet André daher auch ein anderes Facebookprofil: »In meinem Kampus Facebook wirke ich so, als ob ich normal bin und an Jungen interessiert wäre. […] Auf dem Foto trage ich Jilbab und die Schuluniform«.52 Wie zum Beweis öffnet André beide Profile und zeigt mir die
49 Interview André 19.08.2014. 50 Ebd. 51 Indonesische Pronomen, genauso wie das Wort pacar (romantische_r Freund_in) sind geschlechtslos, daher können Lesbi/an von ihren Partnerinnen erzählen, ohne ihr nicht-normatives Begehren zu benennen. 52 Interview André 19.08.2014.
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Fotos – der Unterschied der Gender-Präsentation ist enorm. Auf dem einen sieht man ein süß lächelndes Gesicht, das Haar durch den weißen Jilbab verdeckt, die Schultern nach vorne gezogen. Die Performance von Weiblichkeit ist eindeutig. Das andere Profilbild zeigt eine_n andere_n André. Butchi André, groß, schlank und schlaksig, sitzt entspannt und breitbeinig auf einem schweren Motorrad – in Jeans und rotem T-Shirt, kurzhaarig, freundlich lächelnd. Die raumeinnehmende Körpersprache und die anderen Gender-Marker wie Kleidung und Haarschnitt, in Kombination mit dem schweren Motorrad, unterstützen die Maskulinität, die André für sich fühlt und präferiert verkörpert: »Im Endeffekt lebe ich zwei Leben. Tagsüber bin ich eine Schwester im Krankenhaus, gebe Babys Spritzen und Großmüttern ihre Medikamente. Dort wirke ich wie ein gutes Mädchen. Wenn ich von der Arbeit komme, trete ich in mein anderes Leben. […]. Ich ziehe das Kopftuch und die Uniform aus und werde wieder Ich, eine richtige Butchi, ein Kind der Nacht«.53
Im sozialen Raum der Arbeitstelle adaptiert André Feminität, die durch Kleidung, angemessen ›weibliches‹ Verhalten und ein kongruentes Facebookprofil für Kolleginnen und Vorgesetzte überzeugend ist.
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Die Macht von Religion beziehungsweise politisch-religiösen Argumenten ist in Indonesien stark ausgeprägt und auch im täglichen Leben der Bevölkerung spielen religiöse Werte und Praxis eine ausschlaggebende Rolle.55 Islamischer Glaube ist nicht nur im persönlichen Raum zum Beispiel in Form von Gebeten oder als moralische Richtlinie vertreten, sondern durch religiöse Symbole ebenso im
53 Ebd. 54 Trotz der oben erfolgten Dekonstruktion der eurozentrischen Lesart des Begriffspaar privat/öffentlich sind diese Kategorien in Indonesien dennoch valide, auch wenn die Trennlinie wie dargestellt primär über relationale soziale Beziehungen anstatt über materielle oder geografische Merkmale definiert wird. In Hinblick auf diesen Gegebenheit verwende ich weiterhin den Begriff öffentlich. 55 Zum Beispiel gibt es im derzeitigen Personalausweis eine Angabe über die Religionszughörigkeit, die der neu gewählte Governor von Jakarta, Basuki Tjahaya Purnama, abschaffen will, vgl. http://www.thejakartaglobe.com/news/ahok-says-religion-placeidentity-card/ vom 20.06.2014.
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öffentlich genutzten Raum. Während auf Bali Hindutempel und Opfergaben an die Götter dominieren, ist der öffentliche Raum in Yogyakarta auf Java durch Symbole islamischer Religion geprägt. Eine enorme Anzahl an Moscheen markiert durch den regelmäßigen Ruf der Gläubigen zum sholat (Gebet) nicht nur das visuelle, sondern auch das tonale Stadtbild. Man begrüßt sich weitläufig mit dem islamischen Gruß Assalamu’alaikum und in Restaurants zieren Bilder in arabischer Schrift mit Zitaten aus dem Qur'an die Wände. Ein weiteres prägnantes Symbol im Stadtbild in Bezug auf die religiöse Markierung von Gender ist muslimische Kleidung. Viele der muslimischen Frauen in Yogyakarta tragen täglich Jilbab und lange Kleidung und manche Männer tragen ihre Gebetskleidung ebenso außerhalb des sholat. In Indonesien wird großteilig ein moderater Islam praktiziert, auch wenn radikale Minderheiten wie die FPI (Islamic Defenders Front) Zuwachs verzeichnen beziehungsweise vormals liberale Strömungen radikalisiert werden.56 Allerdings steht es muslimischen Frauen in Indonesien (außer in Aceh) frei, ob sie Kopftuch oder muslimische Kleidung tragen wollen, wobei die Begründungen – auch von Lesbi/an – dafür oder dagegen komplex und vielfältig sind.57 Die muhrim Regeln beeinflussen im Zusammenwirken mit weiteren kulturellen und religiösen Geschlechterverhältnissen auf strukturell-symbolischer Ebene, wie sozialer Raum genutzt und besetzt wird.58 Öffentlicher Raum ist männlich definiert, wie in westlichen Teilen der Welt, da patriarchale kulturelle und religiöse Ideen zusammenwirken; das Haus und der Raum der Familie hingegen liegen im Verantwortungsbereich der Frau.59 Das Zusammenwirken von kulturellen und religiösen Vorstellungen von Gender und deren Einfluss auf die Strukturierung von sozialem Raum wird an der Vielzahl geschlechtlich segregierter Orte deutlich.60 Nicht nur in Toiletten und Moscheen gibt es nach Geschlecht unterteilte Bereiche, sondern auch in manchen staatlich betriebenen Nahverkehrsmitteln wie den Nahverkehrszügen in Jakarta. Im ersten Waggon patrouilliert weibliches Securitypersonal, zum Teil
56 Vgl. Brenner, Suzanne: »Private Moralities in the Public Sphere. Democratization, Islam, and Gender in Indonesia«, in: American Anthropologist 113/3 (2011), S. 478490; Wieringa, Saskia: »Islamization in Indonesia. Women Activists’ Discourses«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 32/1 (2006), S. 1-8. 57 Vgl. Arimbi, Diah Ariani: Reading Contemporary Indonesian Muslim Womens Writers, Amsterdam 2009, S. 38f., 72f. 58 Vgl. S. Brenner: Private Moralities in the Public Sphere. 59 Vgl. D. Arimbi: Reading Contemporary Indonesian Muslim Womens Writers, S. 57. 60 Allerdings variieren die staatlichen, kulturellen und religiösen Regulierungen von Raum je nach Region.
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mit Kopftuch und Schlagstock. Ein Großteil der Geschäfte, die Serviceleistungen rund um den Körper anbieten, wie Fitnessstudios, Beautycenter oder Massagesalons, bietet seinen Kund_innen ebenfalls einen ausschließlich für ein Geschlecht reservierten Raum. Zudem werden in der Studierendenstadt Yogyakarta Wohnformen wie Rumah Kos häufig nach Geschlecht getrennt und mit einhergehenden geschlechtlich spezifizierten Besuchsregeln geführt. Diese Geschlechterverhältnisse haben besonders im Zusammenwirken mit der Tageszeit Auswirkungen auf der praktischen Ebene und beeinflussen die Mobilität von Frauen im öffentlichen Raum. Während tagsüber und am frühen Abend der öffentliche Raum in Yogyakarta ebenso durch Frauen oder Frauengruppen besetzt ist, die gemeinsam ihre Zeit im Einkaufszentrum oder in Cafes verbringen, verändert sich das Bild in der Nacht stark. Die Butchi Eggi erklärt das Ideal für Frauen: »Ab dem Abendgebet (sholat maghrib) sollen Frauen normalerweise im Haus sein«.61 In der Praxis trifft man Frauen im öffentlichen Raum ab circa 22:00 Uhr ausschließlich in männlicher Begleitung – mit Ehemännern, Brüdern, Freunden oder Partnern. Die Lesbi/an, mit denen ich in Yogyakarta arbeite, sind die Ausnahme: Egal ob tags oder nachts, nie begleiten männliche Freunde die Gruppe. Auf die Frage, warum Lesbi/an sich im Gegensatz zu anderen Frauen nachts alleine treffen, antwortet Eggi: »Ich treffe mich generell ungern mit Männern, außer sie sind schwul, oder wirklich open minded. Du weißt doch, Männer werden hier von klein auf dazu erzogen die Anführer zu sein, sich als Stärkere zu sehen, die, die nicht verlieren dürfen, erst recht nicht gegen Frauen. That sucks. Daher treffe ich mich ungern mit Männern, weil ich Angst habe, dass Gott mich bestraft, wenn ich mich mit Männern gleich setze«.62
Eingebettet in sozialen Beziehungen verhandeln und verkörpern Butchi Maskulinität auch in öffentlichen Räumen. Durch die Verkörperung von Maskulinität genießen Butchi andere Privilegien als feminine Frauen oder Femmes. Butchi bewegen sich selbstsicher und ohne große Einschränkungen in der Öffentlichkeit. Selbst mehrere Abende während Puasa63 stoße ich zu der Lesbi/an Gruppe um André hinzu, während alle beisammen sitzen, rauchen und etwas Alkohol getrunken wird. Es wird viel gescherzt, die Butchi bestätigen ihr maskulines Gender untereinander mit der Anrede »Bro« und auch die Bedienung redet sie als Männer an.
61 Gesprächsprotokoll Eggi 10.08.2014. 62 Ebd. 63 Puasa bezeichnet auf Indonesisch den muslimischen Fastenmonat Ramadhan.
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Öffentlich Rauchen und Trinken ist für Frauen in Indonesien verpönt, genauso wie nachts ›alleine‹ draußen zu sein, besonders während Puasa. Durch den Ausdruck von Maskulinität wird es für Lesbi/an allerdings möglich, diese religiös-kulturellen Moralvorstellungen, die die Mobilität von Frauen beschränken, zu umgehen. Sie ›brauchen‹ keine Männer – die Verkörperung von Maskulinität durch Butchi legitimiert die Aneignung des öffentlichen Raumes durch Lesbi/an (auch Femmes) in der Nacht.
C ONCLUSION : B UTCHI G ENDER IN SOZIALEN R ÄUMEN
UND
K ÖRPER
Lesbi/an Gender sind – wie alle Gender – performative Zitationen, die kulturell definierte Marker von Geschlecht wiederholen. Butchi präferieren maskuline Marker, die ihr Verhalten, ihre Emotionen und ihr Selbstbild prägen. Lesbi/an verkörpern gesamtgesellschaftlich lesbare Gender-Positionen, ohne dabei allerdings die gesellschaftliche Gleichsetzung von sex und Gender zu reproduzieren. Butchi verwerfen die Feminität, die ihren Körpern zugeschrieben wird. Sie demonstrieren, dass Gender nicht von Anatomie, sondern der körperlichen Präsentation und Praxis abhängen. Die Performativität von Butchi Gender variiert in den jeweiligen Räumen, abhängig von dominanten diskursiven Machtverhältnissen und der aktiven Partizipation von Lesbi/an. Andrés ›doing‹ Gender in der Familie oszilliert strategisch zwischen maskulin und feminin, indem zum Beispiel weiblich konnotierte Haushaltsaufgaben übernommen werden, André aber ebenso eine hohe Mobilität aufweist, die durch Maskulinität ermöglicht wird. Im sozialen Raum der Ausbildung ist Andrés ›doing‹ Gender hingegen eindeutig feminin und entspricht einem religiösen ›doing‹ Gender entlang der muhrim Regeln, die der Raum der Ausbildung vorgibt. Die Performance von Feminität wird in den medialen Raum von Facebook verlängert. Im täglichen Leben in öffentlichen Räumen beziehungsweise unter Freunden verkörpert André Maskulinität und ist nicht von einem (anderen) Mann zu unterscheiden. Die abwägende und variable Verortung von Gender in den verschiedenen Räumen zeigt die wechselseitige Verknüpfung der Konstruktion von Gender und Raum in aktiver Aushandlung mit raumspezifischen Machtverhältnissen. Es zeigt ebenfalls das enorme soziale und körperliche Wissen von Butchi über die ›richtige‹ kulturspezifische Darstellung nicht nur eines Gender und den dazugehörigen geschlechtlichen Markern. Diese ermöglichen es André, in unterschiedlichen Räumen zum Teil innerhalb weniger Stunden mal als Mann oder als Frau
A LTERNATE W AYS OF D OING G ENDER IN S OCIAL S PACES ?
| 249
erkannt zu werden. Butchi verorten ihr Gender kontextabhängig, weshalb sie flexibel als Mann oder als Frau gelesen werden. Die dynamische Performativität von Maskulinität von einem kulturell als weiblich definierten Körper ermöglicht Butchi nicht nur räumliche Mobilität und die Überschreitung von räumlichen Geschlechtergrenzen beziehungsweise die Aneignung des öffentlichen Raums in der Nacht, sondern ebenfalls einen fluideren Umgang in der Anwendung von Normen, die Geschlecht betreffen. Räume wie Toiletten oder Moscheen, die nach Körpern einteilen, können für Butchi dennoch problematisch sein, weil sie die betreffenden Personen anhand eines Körpers definieren, der nicht Basis der Gender-Selbstdefinition ist. Manche Butchi sehen ihren Körper als unveränderliche Wahrheit und es macht ihnen nichts aus, mit den (anderen) Frauen in der Moschee zu beten. Andere, wie zum Beispiel André, die als Mann erkannt werden und sich im Bereich für Frauen unpassend fühlen, trauen sich ausschließlich, die Männertoilette zu nutzen. Besonders in geschlechtlich segregierten Räumen variieren und nuancieren Butchi ihr ›doing‹ Gender, um über einen angemessenen Ausdruck in Bezug auf die geschlechtlichen Normen des Raumes Zugang zu diesem zu erhalten. Female masculinity ist ein Weg für Lesbi/an, sich eine machtvolle Struktur anzueignen. Eine hegemoniale Kategorie wird variiert, weil sie von einem als weiblich definierten Körper besetzt wird. Das widerständige Potential ist allerdings eingeschränkt, da diese Praxis relativ einheitliche Bilder von Gender verwendet und somit enge Vorstellungen von angemessenen Geschlechterrollen in Partnerschaften, sowie binäre geschlechtliche Stereotype von maskulin und feminin auch zwischen Lesbi/an reproduziert. An den nuancierten räumlichen Verortungspraxen von Butchi wird sowohl ihre Einbettung in und Teilnahme an hegemonialen, wirkmächtigen Diskursen zu Geschlecht als auch ihre aktive Mitgestaltung deutlich. Die Nation kann intelligible Subjekte definieren, aber die Dimensionen der Teilnahme und Umdeutung nicht kontrollieren. Obwohl sich Maskulinität teilweise in Körpern von Butchi materialisiert und ihr Verhalten und ihre Gefühle prägt, werden die Gender-Präsentationen durch den Zwang zur raumabhängigen Verhandlung gerade nicht zu einer einzigen ›Wahrheit‹ von Geschlecht, sondern Butchi werden durch ihr enormes geschlechtliches Wissen und die Fluidität ihres doing Gender zu wahren Grenzgänger_innen von Geschlecht.
IV Dimensionen der Verflechtung
Space, Power, Transgression N IKITA D HAWAN
T HE P RODUCTION
OF
S PACE
Every society, understood in terms of modes of production and social regimes, is spatialised in a unique way. Critical theorists of space1 highlight how space and power work in tandem so that the space of a society is formed as per the codified logic of modern power implemented by the interests of hegemonic groups like, for example, capitalists, bureaucrats, city planners. This spatial code regulates everyday life of citizens and subalterns. Any discussion of space must address the ›common-sense‹ understanding of space as well as the social relations that produce such ideologies and thoughts
1
Cf. Lefebvre, Henri: »Reflections on the Politics of Space«, trans. M. Enders, in: Antipode 2 (1976), pp. 30-36; id.: The Production of Space, trans. Donald NicholsonSmith, Oxford 1991; Foucault, Michel: Language, Counter Memory, Practice. Selected Essays and Interviews by Michel Foucault, trans. Donald F. Bouchard (ed.), Oxford 1977; id.: »Of Other Spaces«, trans. J. Miskowiec, Diacritics 16 (1986), pp. 22-27; id.: »Space, Power and Knowledge«, in: Simon During (ed.), The Cultural Studies Reader, London/New York 1993, pp. 161-169; id.: The Order of Things. An Archeology of the Human Sciences, London/New York 2002; Pratt, Marie Louise: »Arts of the Contact Zone«, in: Profession 91 (1991), pp. 33-40; Soja, Edward: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Cambridge, MA/Oxford 1996; Brah, Avtar: Cartograhies of Diaspora, London/New York 1996; Anzaldúa, Gloria: La frontera/Borderlands, San Francisco 1999; Harvey, David: Spaces of Hope, Berkeley 2000, pp. 182-189; Massey, Doreen: For Space, London 2005.
254 | N IKITA D HAWAN
about space. Spatial practice denotes the ways in which people construct, access and transform spaces. In order to understand the nature of spatial relations as they are formed through the matrix of conflicting forces, which circulate in the wake of colonialism and globalization, it is imperative to develop a nuanced analysis of the emergence of spatiality.2 To trace the power effects of spatial politics is to unpack how hegemonic formations employ knowledge in the production of space while simultaneously concealing its constructedness. It entails exploring the ways in which particular ideas of space are constituted through political practices, social systems and modes of production. Certain political interests are sustained and consolidated in any notion of space notwithstanding claims of neutrality and objectivity. Space is not an objective or passive ›given‹, but an active and dynamic force that is processual.3 Furthermore, different spatial formations are entangled and interdependent even as they conflict and contradict each other to produce particular registers of powers and resistance. Postcolonial feminist studies focus particularly on the tensions between Europe and Orient, public and private to simultaneously explore the racist and sexist aspects of spatial power relations.
P OSTCOLONIAL F EMINIST I NTERVENTIONS The question of space is also at the heart of postcolonial scholarship with its focus on how geography, empire and post/coloniality are inextricably linked in complex ways. Analysing the links between space and colonialism reveals the Eurocentric and imperial character of geographical tenets and practices such as cartography and mapping, enabling a more comprehensive understanding of how geographical ideas of place, space and landscape are at the heart of colonial and
2
Cf. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: »Of Other Spaces«, in: Leonie Baumann/Adrienne Goehler/Barbara Loreck (eds.), Remote Sensing. Laboratories of Art and Science, Berlin 2002, pp. 130-133; id.: »Spatializing Resistance, Resisting Spaces. On Utopias and Heterotopias«, in: Eduardo Reis/Jorge Bastos da Silva (eds.), Nowhere Some-where. Writing, Space and the Construction of Utopia, Porto 2007, pp. 237-250; Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita/Randeria, Shalini: »Postkoloniale Theorie«, in: Stephan Günzel (ed.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, pp. 308-323; id.: »Postkolonialer Raum. Grenzdenken und Thirdspace«, in Stephan Günzel (ed.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, pp. 177189.
3
Ibid.
S PACE , P OWER , T RANSGRESSION
| 255
postcolonial projects and experiences.4 Furthermore, there has been growing academic and political interest in the relationship between postcolonial spatial relations and the phenomenon of migration and globalization. Here particular attention is paid to materialist ideas of transnational deterritorialised spaces, diaspora spaces and borderlands as well as imagined, textual and metaphorical spaces. Postcolonial feminists5 outline how the process of the constitution of spatial relations is gendered, raced and classed within the colonial and imperial context. It is important to note here that the effort is not to simply ›add on‹, for instance, women to the analysis of colonialism, rather employing an intersectional and transnational perspective, the aim is to provide a critical analysis of gender, raced and classed spatial formations that also inform subject constitution in post/colonial contexts. Such a notion of space being intertwined with social relations is important in considering gender spatially, and spatial relations from a gendered perspective.6 Thus spatial relations are not simply imposed on individuals, but are constantly affirmed, modified and transgressed, so that specific gendered, raced and classed colonial subjectivities are constrained by and negotiated with a range of spatial parameters that are constantly being redefined. In this section, the contributors explore how in critiquing hegemonic spatial formations, it is not enough to think space differently; rather critical spatial politics must also enable a different practice. Space and the political organization of space reflect social relationships, but also react back on them, whereby even as power and space are inseparable, resistance is understood as the ability to produce counter-spaces through which subjects can re-appropriate power in their everyday lives. Counter-spaces function as sites of resistance that elude and contest apparatuses of power. The relationship between alternative spaces and dominant ideologies is a complex and inconsistent one, whereby spatial alterity can strengthen as well as challenge the hegemony of a system. The question of the subject presents a fundamental challenge when focusing on issues of space and
4
Cf. M. Castro Varela/N. Dhawan: »Of Other Spaces«, pp. 130-133; id.: »Spatializing Resistance«, pp. 237-250; M. Castro Varela/N. Dhawan/S. Randeria: »Postkoloniale Theorie«, pp. 308-323; id.: »Postkolonialer Raum«, pp. 177-189.
5
Cf. M.L. Pratt: »Arts of the Contact Zone«, pp. 33-40; A. Brah: Cartograhies; G. Anzaldúa: La frontera/Borderlands; Mohanram, Radhika: Black Body. Women, Colonialism, and Space, Minneapolis 1999; Mills, Sara: Gender and Colonial Space, Manchester 2005.
6
S. Mills: Gender and Colonial Space, p. 34.
256 | N IKITA D HAWAN
resistance. Subjects are embedded in a system of spatial effects of power, wherein they are in a certain relation to power and to each other.7
7
Cf. M. Castro Varela/N. Dhawan: »Of Other Spaces«, pp. 130-133; id.: »Spatializing Resistance«, pp. 237-250; M. Castro Varela/N. Dhawan/S. Randeria: »Postkoloniale Theorie«, pp. 308-323; id.: »Postkolonialer Raum«, pp. 177-189.
Produktive Flexibilität und Eigensinn Die Räume einer vergeschlechtlichten Segregation in der Agrikultur Andalusiens
O LAF T IETJE
»Throughout the global South, women are fast becoming the predominant waged labor force in commercial agriculture.«1 »[…] asalariadas agrícolas y jefas de hogar.«2
F LEXIBILISIERUNG
DER
P RODUKTION
Die beiden Schlagworte Flexibilisierung und Produktivität charakterisieren die Entwicklungen, die sich im Kontext der Globalisierung als Ausprägungen der industriellen Agrikultur in Andalusien herausgebildet haben.3 Die mit der Globa-
1
Preibisch, Kerry/Encalada Grez, Evelyn: »The Other Side of el Otro Lado. Mexican Migrant Women and Labor Flexibility in Canadian Agriculture«, in: Journal of Women in Culture and Society 35/2 (2010), S. 289-316, hier S. 289.
2
»[…] Angestellte in der Landwirtschaft und Haushaltsvorstände«, Übers. Olaf Tietje (OT). Im spanischen Original steht hier ausschließlich die weibliche Form. Reigada Olaizola, Alicia: »Feminización de la inmigración y el trabajo en la agricultura de exportación. El caso del monocultivo de la fresa en Andalucía«, in: Martha Judith Sánchez Gómez/Inmaculada Serra Yoldi (Hg.), Ellas se van. Mujeres migrantes en Estados Unidos y España, Mexico D.F. 2013, S. 199-235, hier S. 225.
3
Andalusien liegt als südlichste autonome Region Spaniens am Mittelmeer an der Grenze der EU.
258 | O LAF T IETJE
lisierung einhergehende Industrialisierung der Landwirtschaft veränderte die Produktionsbedingungen, indem der Zugriff auf moderne Technologien ermöglicht wurde und kleine landwirtschaftliche Betriebe zu großen zusammengelegt wurden. Verbunden mit einer zunehmenden Neoliberalisierung der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse bedeutete dieser Zugriff eine deutliche Intensivierung von vergeschlechtlichten Segregationen und Hierarchisierungen. Auslösend waren unter anderem die neuen Möglichkeiten von Absatzsteigerungen durch die globale Zunahme an Supermarktketten und den mit diesen verbundenen transnationalen Produktionsketten. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Spaniens nach den 1980er Jahren und dem Beitritt zur EU stieg die Anzahl gutbezahlter Lohnarbeiten vor Ort.4 Viele der Tätigkeiten, die in der andalusischen Agrikultur bis dahin von Tagelöhner_innen ausgeführt worden waren, wurden nun von Migrant_innen vor allem aus Marokko übernommen. Dies ergab sich zum einen, da die andalusischen Tagelöhner_innen aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen nicht mehr bereit waren, für die niedrigen Löhne Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden mit wenigen Pausen auf sich zu nehmen. Zum anderen betrachteten die Produzent_innen sie aufgrund ihrer ungebundenen Beweglichkeit und der aussichtreichen Lohnangebote in der mittleren Distanz nicht mehr als ausreichend verlässlich und begaben sich auf die Suche nach anderen, schnell verfügbaren und besser kontrollierbaren Arbeitskräften.5 Im Zuge dessen wurden in Zusammenarbeit mit den Mehrheitsgewerkschaften UGT und CCOO bilaterale Verträge über temporäre Arbeitsmigrationen mit Marokko (contratación en origen) ausgearbeitet. Diese hatten einschließlich einer kurzen Testphase bis nach dem Zusammenbruch der Immobilienblase und dem Beginn der europäischen Finanzkrise 2007/08 Bestand.6 Die
4
Vgl. López, Isidro/Rodríguez, Emmanuel: Fin de ciclo. Financiarización, territorio y sociedad de propietarios en la onda larga del capitalismo hispano (1959-2010), Madrid 2010, hier S. 48; Observatorio Metropolitano: »Del Madrid global a la crisis urbana. Hacia la implosión social«, in: Observatorio Metropolitano (Hg.), Paisajes devastados. Después del diclo inmobiliario. Impactos regionales y urbanos de la crisis, Madrid 2013, S. 123-178, hier S. 156; Nohlen, Dieter/Hildenbrand, Andreas: Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik, Opladen 1992, hier S. 29f.
5
Vgl. Reigada Olaizola, Alicia: »Más allá del discurso sobre la ›inmigración ordenada‹. Contratación en origen y feminización del trabajo en el cultivo de la fresa en Andalucía«, in: Politica y Sociedad 49/1 (2012), S. 103-122, hier S. 115.
6
Vgl. Banyuls, Josep/Recio, Albert: »Der Alptraum des mediterranen Neoliberalismus. Spanien nach dem Scheitern des ›dritten Weges‹«, in: Steffen Lehndorff (Hg.), Ein Triumph gescheiterter Ideen. Warum Europa tief in der Krise steckt – zehn Länder-
P RODUKTIVE F LEXIBILITÄT UND E IGENSINN
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bilateralen Verträge zwischen Spanien und Marokko waren mit den sogenannten Gastarbeitsverträgen der 1950er Jahre in Deutschland vergleichbar. Mittels dieser Abkommen wurden flexible Arbeiter_innen für die andalusische Landwirtschaft angeworben. Zugleich sollte auf diese Weise eine Kontrolle der marokkanischen Migration erreicht werden.7 Das System der contratación en origen bedeutete eine zeitlich begrenzte, an Arbeitsphasen orientierte Migration und verfügbare Arbeiter_innen, die bereit waren für einen ausgesprochen niedrigen Lohn zu arbeiten. Weiterhin waren sie nur für die jeweilige Lohnarbeit vor Ort und entsprechend kaum in eine gewerkschaftliche Organisierung eingebunden.8 So waren die andalusischen Firmen aufgrund vergangener Auseinandersetzungen mit der gewerkschaftlichen Organisierung in der Landwirtschaft, vor allem durch die Gewerkschaft SAT,9 unter den Ersten, die auf marokkanische Arbeitsmigrant_innen zurückgriffen.10
Fallstudien, Hamburg 2012, S. 207-225, hier S. 210f.; UGT und CCOO sind die beiden tendenziell sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften in Spanien. 7
Vgl. A. Reigada Olaizola: »Feminización«. Irreguläre Migration ließ sich auf diese Weise nicht beenden und die eigensinnigen (vgl. Benz, Martina/Schwenken, Helen: »Jenseits von Autonomie und Kontrolle. Migration als eigensinnige Praxis«, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 140 (2005), S. 363-378) Arbeiter_innen aus Marokko migrierten weiter nach Andalusien – aktuell mit rückläufigen Zahlen. Mit dem Aussetzen der Verträge gingen trotz hoher Arbeitslosigkeit (26,26%, vgl. Instituto Nacional de Estadisticas (INE) 2013) nur vereinzelt Spanier_innen in die Agrikultur. In Almería wurde die contratación en origen nur kurzzeitig eingesetzt, da hier die Produktion von Obst und Gemüse ganzjährig erfolgt und viele illegalisierte Arbeiter_innen das ganze Jahr über eine Lohnarbeit suchen.
8
Vgl. A. Reigada Olaizola: »Feminización«, S. 211.
9
Sindicato Andaluz de Trabajador@s, andalusische Arbeiter_innengewerkschaft, Minderheitsgewerkschaft, die die Organisierung aller Arbeiter_innen unabhängig ihres Status anstrebt und aus der SOC (Sindicato de l@s Obrer@s del Campo), der andalusischen Landarbeiter_innengewerkschaft entstanden ist, vgl. Sanz Alcántara, Miguel: »Bezahlt wird nicht! Die SAT. Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld von Arbeitskampf, Politik und sozialer Bewegung«, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und Linke Praxis 1/2013, S. 34-39; Tietje, Olaf/Zörner, Tinola: »Mbarka und Abdelkader lassen nicht locker. Im südspanischen Almería geht eine Landarbeitergewerkschaft neue Wege«, in: Analyse & Kritik 586 vom 17.09.2013, S. 26.
10 Vgl. A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 109.
260 | O LAF T IETJE
V ERGESCHLECHTLICHUNG
DER
P RODUKTION
In diesem Kontext postfordistischer Produktionsverhältnisse und globalisierter Restrukturierungen von Arbeit wird die vielzitierte Feminisierung der Migration11 für die Provinz Almería in der autonomen Region Andalusien verortet. Entlang des Beispiels der transnationalen Migrationen von Marokko nach Andalusien werden vielfältige Räume produziert, geöffnet und (wieder) geschlossen. In den folgenden Ausführungen werde ich zwei dieser Räume einer genaueren Betrachtung unterziehen, für deren theoretische Rahmung die Arbeiten von Doreen Massey die Grundlage bilden.12 Die beiden Bereiche der Lohnarbeit in der Agrikultur der Provinz Almería sind zum einen der Campo, jener Bereich in den Treibhäusern, in dem das Obst und Gemüse angepflanzt wird, und zum anderen die Manipulados, die Hallen, in welchen die Agrarprodukte verpackt und versandt werden. Diese Räume werden aus einer die jeweiligen Zuschreibungen hinterfragenden Perspektive analysiert – mit einem Fokus auf die Vergeschlechtlichungen von Tätigkeiten.13 Vor diesem Hintergrund werden die Verschränkungen von Raum und Geschlecht diskutiert und, um einem ›methodologischen Nationalismus‹ zu entgehen, auf intersektionelle Ungleichheiten überprüft.14 In diese Analysen werden Eigensinn und potentielle Ermächtigungen mit einbezogen, die unter dem Fokus globalisierter transnationaler Verflechtungen diskutiert werden.15 Eigensinn verstehe ich insbesondere als Praktik(en), die eine gewisse
11 Vgl. M. Benz/H. Schwenken: »Jenseits«, S. 373. Weiteres siehe unten. 12 Vgl. Massey, Doreen: Space, Place, and Gender, Minnesota 2001. 13 Vgl. Gildemeister, Regine/Wetterer, Angelika: »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und Reifizierung in der Frauenforschung«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg im Breisgau 1992, S. 201-254. 14 Vgl. Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli: Überkreuzungen. Fremdheit. Ungleichheit. Differenz, Münster 2008; Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectionality‹ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ›Race, Class, Gender‹«, in: Feministische Studien 23/1 (2005), S. 68-81; Levitt, Peggy/Glick Schiller, Nina: »Conceptualizing Simultaneity. A Transnational Social Field Perspective on Society«, in: International Migration Review 38/3 (2004), S. 1002-1039; grundlegend: Martins, Herminio: »Time and Theory in Sociology«, in: John Rex/Paul Kegan (Hg.), Approaches to Sociology. An Introduction to Major Trends in British Sociology, London/New York 1974, S. 246-294. 15 Vgl. Dhawan, Nikita/Castro Varela, María do Mar: »Mission Impossible. Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum«, in: Julia Reuter/Paula-Irene Villa (Hg.),
P RODUKTIVE F LEXIBILITÄT UND E IGENSINN
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Dissidenz aufweisen können, sich nicht auf eine (Re-)Produktion eingelaufener Pfade beschränken, sondern auch – ohne frei von strukturellen Komponenten oder Zwängen zu sein – etwas Neues, Versetztes entstehen lassen können.16 Für die folgenden Analysen sind vier theoretische beziehungsweise empirische Annahmen von besonderer Wichtigkeit, die den beschriebenen Kontext rahmen: Globalisierung, Feminisierung, Flexibilisierung und Eigensinn. Globalisierung soll zunächst einmal lediglich die Ausdehnung der Aktionsradien von Menschen über den gesamten Globus nahelegen.17 So können Produkte an den unterschiedlichsten Orten der Welt hergestellt werden, ohne an jenen verkauft oder benötigt werden zu müssen. Auf diese Weise ist es möglich, einerseits einem steigenden Bedarf nachzukommen und andererseits die notwendigen Arbeitskräfte an den gewünschten Orten einzusetzen.18 Die Feminisierung der Arbeit beziehungsweise der Migration wird nicht bloß in statistischen Werten rekonstruierbar, in denen vor allem für Andalusien ca. 50% der Migrant_innen als weiblich kategorisiert werden, sondern auch in den Modi der Beschäftigung in der Landwirtschaft und der Segregation von Arbeitsbereichen.19 Für die Produ-
Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, Bielefeld 2010, S. 303-329, hier S. 255. 16 Vgl. M. Benz/H. Schwenken: »Jenseits«, S. 374; Pieper, Marianne/Panagiotidis, Efthimia/Tsianos, Vassilis: »Regime der Prekarität und verkörperte Subjektivierung«, in: Gerrit Herlyn/Johannes Müske/Klaus Schönberger/Ove Sutter (Hg.), Arbeit und Nicht-Arbeit. Entgrenzungen und Begrenzungen von Lebensbereichen und Praxen, Mering 2009, S. 341-357, hier S. 349. 17 Vgl. Klinger, Cornelia: »Überkreuzende Identitäten – Ineinandergreifende Strukturen. Plädoyer für einen Kurswechsel in der Intersektionsdebatte«, in: dies./Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 38-67, hier S. 44. 18 Vgl. Bonilla, Domingo/Belmonte, Luis J./Román, Isabel M.: »Estudio socioeconómico de las condiciones de vida de la población extranjera en España. El caso particular de Almería«, in: European Journal of Education and Psychology 4/2 (2011), S. 87107, hier S.104; K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«, S. 296; A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 108. 19 Vgl. Lutz, Helma: Ethnizität. Profession. Geschlecht. Die neue Dienstmädchenfrage als Herausforderung für die Migrations- und Frauenforschung, Münster 2003, S. 5. Zu Statistiken der Feminisierung von Lohnarbeit vgl. INE 2013, Trimestre II INE 2013; zur Provinz Almería vgl. D. Bonilla/L. J. Belmonte/I. M. Román: »Estudios Socioeconomicos«. Im Vordergrund steht hier u.a. die Regulierung der Migration über Geschlecht beziehungsweise über mit Weiblichkeiten und Männlichkeiten verbundene
262 | O LAF T IETJE
zent_innen in Andalusien ist die vorausgesetzte Flexibilität der Arbeiter_innen das interessanteste Moment bei der Beschäftigung von Migrant_innen und aufgrund bestimmter Zuschreibungen insbesondere der von weiblich kategorisierten, wie Alicia Reigada Olaizola eindrucksvoll für die Erdbeerproduktion in der andalusischen Provinz Huelva herausarbeitet.20 Zugleich bedeutet diese Flexibilität eine gewisse Beweglichkeit für die Arbeiter_innen und macht die Möglichkeiten eines eigensinnigen Handelns der Migrant_innen deutlich.21 Anliegen meines Beitrages ist es, am Beispiel der andalusischen Landarbeit die Verwobenheit der Konstruktion von Raum und Geschlecht in der Provinz Almería zu analysieren. Hierzu werden zunächst einmal methodische Implikationen vorgestellt, um daran anschließend Segregationen von Raum und Geschlecht in drei Schritten zu rekonstruieren und schließlich deren Verflechtungen zu diskutieren. Vor dem Hintergrund lokaler und globaler Ereignisse im Kontext transnationaler marokkanischer Migration in die EU folge ich der These, dass Handlungsspielräume be- beziehungsweise entstehen, die sowohl Verschiebungen als auch widerständige Positionen zulassen.
(R E -)K ONSTRUKTIONEN
VON
B EDEUTUNGEN
UND
W ISSEN
Die Konstruktion der für die nachfolgenden Untersuchungen zurate gezogenen empirischen Daten erfolgte ausschließlich dem qualitativen Paradigma verhaftet.22 Als Forschungsdesign liegt ein mit dem Kontext verknüpftes und auf die
Bilder, vgl. Tuider, Elisabeth: »›Feminisierung der Migration‹. Migrantinnen zwischen Ausbeutung und Empowerment«, in: Waltraud Ernst (Hg.), Grenzregime. Geschlechterkonstellationen zwischen Kulturen und Räumen der Globalisierung, Berlin 2010, S.67-86, hier S. 69. 20 Vgl. Ong, Aiwha: Flexible Staatsbürgerschaften. Die kulturelle Logik von Transnationalität, Frankfurt a.M. 2005, hier S. 31; K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«, S. 291; A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 111. 21 Vgl. M. Benz/H. Schwenken: »Jenseits«; Hess, Sabine/Vassilis, Tsianos: »Die Autonomie der Migration. Ethnographische Grenzregimeanalyse als Methodologie. Von der Ethnographie zur Praxeographie des Grenzregimes«, in: Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin 2010, S. 243-264, hier S. 246f. 22 Daten werden für die vorliegenden Analysen nicht als gegeben und einem Feld mit Methoden ›entnehmbar‹ verstanden. Sie werden in Interaktionen produziert und entsprechend auch unter Einbezug der Forscher_innen rekonstruiert (vgl. Strauss, An-
P RODUKTIVE F LEXIBILITÄT UND E IGENSINN
| 263
Bedingungen einer Arbeit im Zusammenhang von Flüchtigkeiten und Bewegungen abgestimmtes methodologisches Konzept zugrunde, das an die Multi-SitedEthnography, wie sie George E. Marcus 1995 zur Diskussion stellte, angelehnt ist.23 Auf diese Weise stellt die vorliegende Forschung eine Praxis dar, mittels derer innerhalb eines selbst imaginierten Raumes – dem Forschungsfeld – eine Konstruktion von Elementen und Akteur_innen vollzogen wird, die durch die forschende Person zueinander in Beziehung gesetzt werden.24 Hierfür stehen Teilnehmende Beobachtungen, Expert_inneninterviews25 und – als besonderer Verweis auf die Multi-Sited-Ethnography – kontextbezogene Metaphern als Instrumente zur Verfügung. Ein effektiver Vorteil, den ein nicht single-sited arbeitendes Vorgehen mit sich bringt, ist, dass die Verhältnisse von Lokalität und Globalität oder, in anderen Worten, von space und place nicht aus den Augen verloren werden.26 Die Interviews wurden mit Menschen geführt, die entweder in der andalusischen Landarbeit selbst arbeiten oder an einer gewerkschaftlichen, journalistischen oder akademischen Wissensproduktion beteiligt sind.27 Bei dem hier zugrunde liegenden Expert_innenbegriff stehen die Bedeutungen des Ex-
selm L./Corbin, Juliet M.: Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996, hier S. 8; aber auch S. Hess/T. Vassilis: »Die Autonomie«, S. 253). 23 Vgl. Marcus, George E.: »Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Sited Ethnography«, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S. 95-117. 24 Vgl. S. Hess/T. Vassilis: »Die Autonomie«, S. 253. 25 Vgl. Abels, Gabriele/Behrens, Maria: »ExpertInneninterviews in der Politikwissenschaft. Geschlechtertheoretische und politikfeldanalytische Reflexion einer Methode«, in: Alexander Bogner/Beate Littig/Wolfgang Menz (Hg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, Wiesbaden 2005, S. 173-190; Meuser, Michael/Nagel, Ulrike: »ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion«, in: Detlef Garz/Klaus Kraimer (Hg.), Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen, Opladen 1991, S. 441-471. 26 Vgl. Massey, Doreen: »Keine Entlastung für das Lokale«, in: Helmuth Berking (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 25-31; Welz, Gisela: »Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitätsdruck«, in: Zeitschrift für Volkskunde 94/2 (1998), S. 177-194. 27 Der Zeitraum der bisherigen Daten(re)konstruktion liegt zwischen August 2012 und September 2014.
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pert_innenwissens im Vordergrund, ohne dieses allerdings gänzlich von der Privatperson zu trennen.28 Die Analyse der Daten erfolgte angelehnt an die Grounded Theory mittels der in der Situationsanalyse vorgeschlagenen Verfahren.29 Hier wurde entsprechend einer auf den Dialog mit den Daten ausgerichteten Auswertung eine intersektionelle Lesart, die auf raumbezügliche Orientierungen verweist, herausgearbeitet.30 S EGREGATIONEN VON R AUM UND G ESCHLECHT ? Die Segregationen von Raum und Geschlecht beziehungsweise deren Wechselbeziehungen in der andalusischen Landarbeit werden bei der Rekonstruktion von Arbeitsbereichen besonders deutlich. Laura Góngora, die als Anwältin der SOC Almería arbeitet,31 beschreibt die geschlechtliche Segregation wie folgt: »Also, im Manipulado arbeiten nur Frauen. Zweifelsohne. Im Treibhaus arbeiten die Männer, nicht wahr!? Obwohl es manchmal Gruppen von Frauen gibt, die im
28 Vgl. Bogner, Alexander/Menz, Wolfgang: »›Deutungswissen‹ und Interaktion. Zu Methodologie und Methodik des theoriegenerierenden Experteninterviews«, in: Soziale Welt 52/4 (2001), S. 477-500, hier S. 486. 29 Vgl. Clarke, Adele E.: Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden 2012; A. L. Strauss/J. M. Corbin: Grounded Theory. 30 Vgl. Berg, Charles/Milmeister, Marianne: »Im Dialog mit den Daten das eigene Erzählen der Geschichte finden. Über die Kodierverfahren der Grounded-TheoryMethodologie«, in: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.), Grounded Theory Reader, Wiesbaden 2011, S. 303-332; G.-A. Knapp: »Intersectionality«; Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität (=Politik der Geschlechterverhältnisse), Frankfurt a.M./New York 2007; C. Klinger: »Überkreuzende Identitäten«; Massey, Doreen: For Space, London 2005; dies.: Space; dies.: »Keine Entlastung«; Bauriedl, Sibylle: »Räume lesen lernen. Methoden zur Raumanalyse in der Diskursforschung«, in: Forum Qualitative Sozialforschung 8/2 (2007), Art. 13, http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/article/view/236/523. 31 Die regionale Vertretung der SAT in der Provinz Almería hat den Namen SOC beibehalten, da sich hier die geschichtliche Verwurzelung des Namens und der mit ihm verbundenen Kämpfe für die Landarbeiter_innen entscheidend auf die gegenwärtige Arbeit auswirkt.
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Campo arbeiten, aber mehrheitlich nicht«.32 Diese Erzählung zu den Räumen der almeriensen Lohnarbeit macht eine Unterteilung sichtbar: Der campo beziehungsweise die Treibhausanlagen gelten als Sphäre der männlichen Lohnarbeit und als dessen Gegenüber wird der manipulado als Frauenarbeitsraum konstruiert. Zugleich wird eine einseitige Öffnung geltend gemacht, da zwar gelegentlich Frauen in den Treibhäusern arbeiten, es dagegen nicht in Frage zu kommen scheint, dass Männer in den manipulados einer Lohnarbeit nachgehen. Für die (notwendige) Legitimierung der Aufteilung von Arbeitsbereichen entlang einer vergeschlechtlichten Trennlinie wird in der Provinz Almería auf Fähigkeitenbe- und -zuschreibungen zurückgegriffen, wie Laura Góngora weiter ausführt: »Die Frauen sind geschickter, sorgfältiger als der Mann, wenn Du verstehst was ich meine und die Männer sind eher an den Campo, an die Agrikultur gewöhnt als die Frauen.«33 Diese Zuschreibungen, die als Begründung dafür herangezogen werden, warum nur eine bestimmte Personengruppe in den manipulados arbeitet, kategorisieren Frauen als geschickt und sorgfältig, nicht einmal nur im Umgang mit Obst und Gemüse, sondern ganz im Allgemeinen. Männer dagegen werden als an die Arbeit im campo gewöhnt beschrieben und damit zunächst einmal unmarkiert belassen. Die bloße Beschreibung des Gewöhnt-Seins bekommt erst unter der Voraussetzung, dass die Arbeit im campo als besonders anstrengend und schwer verhandelt wird, eine weitere Bedeutung und markiert dergestalt Männer als kräftig. So wird beispielsweise in der Erdbeerproduktion in der Region Huelva in Andalusien das Umgraben der Felder sowie das Be- und Entladen der Laster und Tragen der Versandkisten sowie das Bedienen der Maschinen den Männern überlassen, während die Frauen aufgrund ihrer größeren Sorgfalt für das Pflanzen und Ernten und das Verpacken der Erdbeeren angestellt werden.34 Ähnliche Zuschreibungen können auch global in anderen Kontexten rekonstruiert werden, etwa in der kanadischen Landwirtschaft: Dort werden regional ebenfalls (temporär) migrierende Frauen für die Auswahl und Verpakkung des Obst und Gemüses eingestellt. Aber auch in den mexikanischen maquiladoras und malaysischen Sweatshops wie auch anderen global verortbaren Produktionsstätten lassen sich ähnliche Muster rekonstruieren – immer wie-
32 Laura Góngora 2013, Rechtsberatung der Landarbeiter_innengewerkschaft SOC/SAT Almería. Übers. OT. 33 Laura Góngora 2013, Übers. OT. 34 Vgl. Reigada Olaizola, Alicia: Flexibilidad productiva y feminización del trabajo en los campos freseros. ¿Hacia una »modernización« de la agricultura andaluza? Departamento de Antropología Social, Grupo de Investigación GEISA, Alicante 27.02.2009, hier S. 7f.
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der referieren die Produzent_innen beziehungsweise die Besitzer_innen der Fabriken auf die Geschicklichkeit und Sorgfalt der Arbeiterinnen.35 Während männliche Tätigkeiten weiterhin als Sinnbild des campo gelten und auf diese Weise eine höhere Bewertung erfahren als das Verpacken der Agrarprodukte, werden bezogen auf die Tätigkeiten selbst Umwidmungen der Zuschreibungen vorgenommen. Laura Góngora argumentiert so etwa aus einer historisierenden Perspektive auf die andalusische Landarbeit: »Obwohl ich denke, dass es sich hier um Aktivitäten handelt, die die eine genauso wie der andere ausführen kann, weil die Frau in der traditionellen Agrikultur auch immer im Campo war, nicht wahr!? Aber zweifelsohne... in der industriellen Agrikultur… mehrheitlich werden keine Frauen unter Vertrag genommen.«36
Sie hebt einen geschichtlich relevanten Aspekt hervor, der durch die Modernisierung der Tätigkeiten im Kontext von Industrialisierung gerahmt wird. Mit dieser praktischen, technologischen und ideellen Veränderung verschieben sich die Zuschreibungen in der Agrikultur. Während so in der Erdbeerproduktion in Huelva die Frauen besser dazu geeignet seien, die Erdbeeren zu pflanzen und zu ernten,37 werden in der Provinz Almería in Bezug auf Tomaten hierzu Männer eingestellt – beide Tätigkeiten erfordern sicherlich ein ähnliches Maß an Geschick und Sorgfalt wie aber auch Kraft und werden in den jeweiligen Kontexten als naturalisierte Anrufungen zu Einstellungskriterien. Alicia Reigada Olaizola stellte für die onubense Erdbeerproduktion fest, dass die Arbeiter_innen zunächst einmal Frauen sein müssten, die Erfahrungen in der Landarbeit hätten, sehr geschickt und nicht sehr jung seien sowie bereits Kinder haben sollten.38 Im Gegensatz dazu werden etwa in der kanadischen Landwirtschaft39 oder der malaysischen Elektroindustrie40 nur junge Frauen ohne Kinder eingestellt. Die Arbeit in den andalusischen manipulados wird ebenfalls weniger als physisch anstrengend denn als Geschicklichkeit einfordernd beschrieben und auch hier sind Frauen mit
35 Vgl. Ong, Aihwa: Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in Malaysia, Albany 2010, hier S. 152; Quintero, Cirila/Dragustinovis, Javier: Soy más que mis manos. Los diferentes mundos de la mujer en la maquila, México D.F. 2006, hier S. 16; A. Reigada Olaizola: »Feminización«, S. 218f. 36 Laura Góngora 2013, Übers. OT. 37 Vgl. A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 112. 38 Vgl. A. Reigada Olaizola: Flexibilidad, S. 3. 39 Vgl. K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«, S. 305. 40 Vgl. A. Ong: Spirits, S. 147f.
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Familie diejenigen, die eine Arbeit in den Abpackhallen finden. Zurückblickend auf das weiter oben angeführte Zitat wird deutlich, dass es einen Ort gibt, an dem »nur Frauen«41 arbeiten und die dort aufgrund allgemein zugeschriebener Fähigkeiten eingesetzt werden. Zusätzlich zu der Naturalisierung von an Handlungen geknüpften Fähigkeiten werden die zwei Bereiche durch ihre jeweilige monetäre Entlohnung getrennt. So wird die Arbeit in den manipulados mit 49,52 € und die im campo mit 38,36 € als Tageslohn in den für die Landwirtschaft geltenden Tarifverträgen fixiert.42 Diese Löhne werden zweifelsohne häufig nicht in der ausgehandelten Höhe gezahlt oder, wie Mbarka El Goual, die bis 2014 gewerkschaftliche Referentin der SOC für die Arbeiterinnen in den Abpackhallen der Provinz Almería war, formuliert: »Gut, hoffen wir, dass sie wirklich nach dem Tarifvertrag bezahlen, so wie es geschrieben steht. Aber es kommt vor, dass sie [die Arbeiter_innen] viel weniger verdienen.«43 Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Arbeit im manipulado deutlich besser bezahlt wird oder werden sollte als jene im campo. Die Einbeziehung von Menschen und Handlungen in die Produktion von Räumen erscheint in diesem Sinne unumgänglich. So bekommen die materiellen Aspekte des Raumes manipulado nicht bloß durch die sie beschreibenden Personen einen Kontext, denn vermittelt durch die Ideen und Vorstellungen, die Zuschreibungen und die erwarteten Handlungen und Tätigkeiten wird der Raum erst konstituiert. »Im Prozess dieser Wechselbeziehungen werden Räume kontinuierlich hergestellt«44 und diese Produktion bezieht sich auch auf den campo und den manipulado selbst. Zunächst einmal werden entlang einer vermeintlichen Trennlinie durch Körper, die gerade in der Landwirtschaft immer wieder ein Verhandlungsfeld darstellen, Zuschreibungen, Praktiken und Tätigkeitsfelder verhandelt. Oder, wie Kerry Preibisch und Evelyn Encalada Grez feststellen: »First and foremost, it has exposed agriculture as a decidedly patriarchal arena in which work is highly stratified by gender while emphasizing the consequences for women’s positions in rural households and communities.«45
41 Laura Góngora 2013, Übers. OT. 42 Vgl. Adminstración del Estado. Subdelegación del Gobierno en Almería: Convenio Colectivo Trabajo en el Campo 04/2013. 43 Mbarka El Goual 2013, Referentin der Landarbeiter_innengewerkschaft SOC/SAT Almería, Übers. OT. 44 S. Bauriedl: »Räume lesen«, S. 13. 45 K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«, S. 292, Hervorhebung OT.
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Für die Arbeit in der industrialisierten Landwirtschaft der Provinz Almería werden viele Arbeiter_innen benötigt, die möglichst flexibel sind und den genannten Anforderungen genügen. Unter Einbezug dieser Effekte wirkt das Lokale auf das Globale46 und die Räume der almeriensen Landwirtschaft konstruieren die vergeschlechtlichten Anforderungen an die Arbeiter_innen mit, ebenso wie auch die Arbeiter_innen Teil der Raumproduktion sind: »Denn die Identität der Lokalität ist immer auch das Produkt von Beziehungen, die weit über den Ort hinausgehen und manchmal sogar die ganze Welt umspannen.«47 Die Vorstellungen von passiven, geschickten, sorgfältigen und flexiblen Frauen, die als Arbeiterinnen für bestimmte Tätigkeiten kurzfristig zur Verfügung stehen, lässt sich nicht bloß für die Provinz Almería rekonstruieren, sondern ebenso in Kanada, Malaysia, Mexiko oder eben für die Provinz Huelva und die jeweils in den Regionen agierenden transnationalen Firmen. Der Ort Almería, verstanden als Region der industriellen Agrikultur, bezieht sich ebenso auf die Räume der landwirtschaftlichen Produktion (campo und manipulado) wie auf die Vergeschlechtlichungen von Arbeit und Körpern und andersherum – mit dem Ziel einer Produktivitätssteigerung einerseits und der Regulierung von Migrationen andererseits.48 Besonders interessant ist so etwa, dass in der Region Huelva die Erdbeeren zwar ebenfalls von Frauen verpackt werden, diese Arbeit aber von Nicht-Migrantinnen geleistet wird und dort ebenfalls im Vergleich zur Arbeit im campo die besser bezahlte Tätigkeit ist.49
U NTERDRÜCKUNG , V ERGESELLSCHAFTUNG INTERSEKTIONELLE U NGLEICHHEITEN ?
ODER
Ein zentraler Aspekt, der die Trennlinien zwischen den Arbeitsräumen besonders eindringlich markiert, ist die unterschiedliche Entlohnung. Hier stellt sich – gerade in einem hochgradig patriarchal strukturierten Arbeitsfeld – die Frage, warum eine weiblich kodierte Tätigkeit besser bezahlt wird als eine männlich kodierte. Eine bessere Bezahlung der Frauen wird sicherlich Einfluss darauf nehmen, wie Machtpositionen in Familienzusammenhängen verteilt werden und wer den Zugang zu den »Lebens-Mitteln«50 verwaltet beziehungsweise wie die Ver-
46 Vgl. D. Massey: »Keine Entlastung«, S. 28f., 30. 47 Ebd., S. 26f. 48 Vgl. Foucault, Michel: Analytik der Macht, Frankfurt a.M. 2005, hier S. 226ff. 49 Vgl. A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 117. 50 C. Klinger: »Überkreuzende Identitäten«, S. 42.
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hältnisse der Körper zueinander geregelt werden. Anders formuliert werfen die Beobachtungen die Frage auf, was sich verändert, so sich denn etwas verändert, wenn Frauen diejenigen sind, die mehr oder die das Geld in einem Familienzusammenhang verdienen. In diesem Kontext erzählte Asmae Alaoui, eine papierlose Landarbeiterin aus Marokko: »Sag ihm, wir sind aus dem Grund hierhergekommen, dass wir in Marokko nicht arbeiten. Sag ihm, es ist normal, dass die Frauen in Marokko zu Hause bleiben.«51 Die meisten der Arbeiter_innen in der almeriensen Landwirtschaft sind aus Marokko nach Spanien migriert – vor dem Beginn der Krise zum Teil über die contratos de origen und später mit Tourist_innenvisa oder in einem überfüllten Boot beziehungsweise unter einen LKW gebunden. Asmae Alaoui spricht an dieser Stelle an, dass es auf der einen Seite zum Zeitpunkt ihrer Migration (2007) in Spanien deutlich mehr und besser bezahlte Arbeit gab als in Marokko. Und weiter sei sie so aufgewachsen, dass sie in Marokko keiner Lohnarbeit nachging beziehungsweise es normal gewesen sei, dass Frauen in erster Linie Reproduktionsarbeiten übernehmen – sie aber überhaupt einer Lohnarbeit nachgehen können wollte. Entsprechend der weiter oben dargestellten Löhne können marokkanische Frauen in der almeriensen Landwirtschaft einer Lohnarbeit nachgehen und mehr Geld verdienen als die Männer. Während vor der Initiierung der contratación en origen in erster Linie Männer aus Marokko zum Arbeiten nach Spanien migrierten beziehungsweise die Arbeiten von männlich kategorisierten andalusischen Tagelöhner_innen ausgeführt wurden, wurden mit den bilateralen Verträgen explizit Frauen für die Arbeit angeworben.52 In der Provinz Almería kamen Frauen, vor allem nachdem die Männer bereits eine Lohnarbeit und zum Teil Arbeitserlaubnisse hatten, zum Arbeiten nach. Weiterhin werden vorrangig Frauen eingestellt, die in einem eigenen Familienzusammenhang leben, was für diese oftmals bedeutet, dass sie zuhause weiterarbeiten und die reproduktiven Tätigkeiten nach der Lohnarbeit erledigen (müssen).53 Während viele der Frauen in Marokko hauptsächlich reproduktive Arbeiten übernommen haben, sind sie in Andalusien Lohnarbeiterinnen und »tragen das Gewicht der Familie.«54
51 Asmae Alaoui 2013, Arbeiterin aus Marokko. Übers. und arabische Transkription Magi Algml (MA). Dieser Teil des Interviews verlief auf Arabisch und wurde mir daher als dritter Person erzählt. 52 Vgl. A. Reigada Olaizola: Flexibilidad, S. 5f. 53 Vgl. ebd., S. 9; A. Reigada Olaizola: »Feminización«, S. 226f. 54 Ebd., S. 225f., Übers. OT. In Spanien wird von denen, die es sich leisten können, domestic work an Frauen aus Lateinamerika ausgelagert. Diese sprechen spanisch, haben
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Cornelia Klinger (2008) theoretisierte die mit diesem Umstand verbundenen Bedeutungen wie folgt: »Zu Arbeit und Körper kommt als dritte Strukturkategorie Fremdheit hinzu. Unter diesem Titel geht es um den Anspruch des Einen/Eigenen auf Herrschaft über das Andere/Fremde. So gut wie keine herrschaftlich organisierte, auf Herrschaftserwerb, -erhalt und -ausdehnung angelegte Gesellschaft ist je ohne den An- und Ausgriff auf fremde Menschen und Dinge ausgekommen.«55
Die intersektierende Kategorie Fremdheit schlägt sich in der Migration der Arbeiter_innen nieder beziehungsweise kommt durch diese zum Tragen. Das allgegenwärtige al norte (nach Norden), das Versprechen des guten Lebens, findet sich dergestalt in der Arbeit auf dem Feld beziehungsweise im manipulado, der Reproduktionsarbeit zuhause und auch darin wieder, ohne in der EU gültige oder akzeptierte Papiere in eben dieser zu leben. Entscheidend erscheint nun, diese Aspekte verschränkt zu analysieren und nicht bloß additiv zu begreifen – die andere Frage zu stellen – und Handlungsmacht als einen zentralen Aspekt zu lesen.56 Denn die kollektiv bestimmten Identitätskonstruktionen haben sicherlich einen hohen Einfluss auf Handlungsspielräume, wirken aber nicht als Determinanten, wirken »nicht eins zu eins«,57 sondern es bleiben immer Lücken, in denen potentiell eigensinnige Praktiken Raum finden können. Die Frauen gehen so etwa an ihre körperlichen Grenzen, arbeiten unter aufreibenden Umständen und für viel zu wenig Geld, um dann zuhause weiter den reproduktiven Tätigkeiten nachzugehen. In vielen Fällen können sie aufgrund ihres Status kaum Widerstand gegen die oftmals schlechten Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz leisten, da sie zum Teil mit der Sorge umgehen müssen, eventuell abgeschoben zu werden und beinahe immer mit jener, einfach den Job zu verlieren. In den Bereichen, die von temporärer Arbeitsmigration dominiert sind, vervielfacht(e) sich diese Angst sogar noch in dem Sinne, dass die Frauen Sorge
oftmals keinen legalisierten Aufenthaltsstatus und werden nicht entsprechend ihrer Qualifikation bezahlt, vgl. Cantó Milá, Natália: »Die Grenze als Relation. Spanische Grenzrealität und europäische Grenzpolitik«, in: Monika Eigmüller/Georg Vobruba (Hg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 185-198. 55 C. Klinger: »Überkreuzende Identitäten«, S. 43f., Hervorhebungen im Original. 56 Vgl. Davis, Kathy: »Intersectionality in Transatlantic Perspective«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), ÜberKreuzungen, S. 19-37, hier S. 21, S. 27. 57 C. Klinger: »Überkreuzende Identitäten«, S. 39.
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hatten beziehungsweise haben, nicht bloß die aktuelle Lohnarbeit zu verlieren, sondern auch nicht mehr in zukünftige Arbeitsverhältnisse aufgenommen zu werden. Ähnliches wird in Kanada im Zusammenhang der temporären Arbeitsmigration und ebenso für Mexiko beschrieben,58 aber auch für die Erdbeerproduktion der andalusischen Region Huelva59 oder für die landwirtschaftliche Produktion in der Provinz Almería. Besonders bildet sich die Belastung darin ab, dass für einige der Arbeiter_innen, mit denen ich Interviews geführt habe, das Wort Freizeit auf Spanisch kaum eine Bedeutung hatte und die Zeit nach der Arbeit der Zeit im Haus entsprach.60 Drissia Bamous verdeutlichte dies mit der knappen Erzählung: »Ich arbeite und bin im Haus und das ist es.«61 Dennoch lässt sich hier auch ein Augenmerk auf die Frage von Handlungsmacht werfen, da dergestalt eine Arbeit außerhalb des (Zu-)Hauses stattfindet, diese entlohnt wird und, mit einem Blick auf ähnliche Situationen in anderen Zusammenhängen, diese zumindest eine potentielle Ermächtigung bedeuten kann.
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Während bestimmte Zuschreibungen an Frauen (beziehungsweise Migrantinnen) zur Konstruktion eines Bildes der idealen Arbeiterin geführt haben und noch immer führen, bedingt dies zugleich die globale Zunahme der Beschäftigung von Frauen in der temporären Arbeitsmigration wie auch der industriellen Landwirtschaft.62 So zeigen sich im globalen Vergleich variierende Strategien zur Konstruktion der idealen Arbeiter_innen. In den meisten Fällen wird dennoch auf Eigenschaften fokussiert, die als originär weiblich naturalisiert werden, aber
58 Vgl. Becerril Quintana, Ofelia: »Una nueva era de migración temporal mexicana en Canadá. Focal – Dialogue. Research. Solutions«, Focal 2011, http://www.focal.ca/fr/ publications/focalpoint/466-june-2011-ofelia-becerril-quintana-sp vom 14.10.2013; Preibisch, Kerry: »Pick-Your-Own Labor. Migrant Workers and Flexibility in Canadian Agriculture«, in: International Migration Review 44/2 (2010), S. 404-441; K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«. 59 Vgl. A. Reigada Olaizola: »Feminización«. 60 Weder El Ocio noch El Tiempo Libre hatten für ihr Leben in ihrer Erzählung eine besondere Relevanz. 61 Drissia Bamous 2013, papierlose Arbeiterin aus Marokko, Original arabisch/spanisch, Übers. und arabische Transkription OT/MA. 62 Vgl. K. Preibisch: »Pick-Your-Own-Labour«, S. 417f.
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durchaus auch Verschiebungen in den Tätigkeitsbereichen mit sich bringen, wie es etwa Alicia Reigada Olaizola für die onubense Erdbeerproduktion rekonstruiert: »[…] zum Beispiel sind die Frauen früher in der Phase der Pflanzung oder wenn es nur wenige Erdbeeren zu ernten gab zuhause geblieben und nur die Männer sind zur Arbeit aufs Feld gegangen.«63 Gegenwärtig wird die Erdbeerernte nun ausschließlich von Frauen durchgeführt, die in temporären Arbeitsverhältnissen stehen und zum Teil nur für diese Arbeit aus Marokko anreisen. Die Flexibilität, die von den Produzent_innen in den Vordergrund gestellt wird, basierte lange auf der (temporären) Migration zur Arbeit und der damit verbundenen Möglichkeit der Beschäftigung zu den Zeiten und an den Orten, an denen die Produzent_innen einen Bedarf gesehen haben beziehungsweise sehen. So wurde die contratación en origen als bilaterale Verträge zur temporären Arbeitsmigration mit Marokko vor allem eingesetzt, um die Kosten der Produzent_innen durch unkompliziert ausbeutbare Arbeitskräfte zu reduzieren und parallel eine Kontrolle der Migration von Marokko nach Spanien zu installieren.64 Entsprechend wäre also eine erste Erklärung für die Anstellung der Frauen in einer Reduzierung der Kosten, in Verbindung mit den Fertigkeitenzuschreibungen, zu vermuten. Ein weiterer Punkt wird deutlich, wenn die implizit mitbenannte Hierarchisierung von Frauen in die Analysen miteinbezogen wird. So waren die Produzent_innen etwa auf der Suche nach Arbeiter_innen, die möglichst wenig widerständige Praktiken ausüben und möglichst viel arbeiten. Diese beiden Aspekte sehen sie in marokkanischen Arbeiterinnen repräsentiert: »›Wir nehmen nur Frauen unter Vertrag‹. Verstehst Du? Weil die Frauen sich weniger organisieren. […] Sie haben weniger Veranlagung zu kämpfen, nicht wahr?! Aber es ist eben eine entscheidende Determinante, viele der Frauen tragen tatsächlich die Last ihrer Kinder, die immigrierten Frauen. Daher nahmen die Chefs nur noch Frauen mit Kindern, mit Familie in ihrem Zuhause, unter Vertrag, weil sie wussten, dass diese noch mehr Angst haben, sich zu organisieren.«65
Die niedrigere Veranlagung, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu organisieren, sieht Miguel Sanz Alcántara als Hauptgrund dafür, dass hauptsächlich Frauen in den manipulados angestellt werden. Er führt als Begründung hierzu an, dass eben viele der Frauen neben der Lohnarbeit die Hauptverantwortung für ihre Kinder beziehungsweise Familien haben. Diese Verantwortung führt in der
63 A. Reigada Olaizola: »Feminización«, S. 224, Übers. OT. 64 Vgl. ebd., S. 228. 65 Miguel Sanz Alcántara 2012, Öffentlichkeitsreferent der SAT, Übers. OT.
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Folge wiederum zu einer deutlich höheren Angst vor einem eventuellen Verlust der Lohnarbeitsstelle und damit der Versorgungsgrundlage nicht nur für sich selbst, sondern eben auch für Familienangehörige. Aus der Perspektive der Raumproduktion sind die Parallelen zu den mexikanischen maquiladoras und den malaysischen Elektro-Fabriken wiederum besonders deutlich. So werden jene Räume als geschlossen produziert und für die Arbeiter_innen bedeuten sie, in beengten Verhältnissen und in einer ermüdenden Fleißarbeit nebeneinanderher zu arbeiten.66 Auch die offiziell an- und ausgesprochenen Gründe der Firmenbesitzer_innen und Produzent_innen in der Landwirtschaft, Frauen anzustellen, sind mit jenen vergleichbar, die aus den Zusammenhängen der temporären Arbeitsmigration nach Kanada oder eben in die Erdbeerproduktion der Provinz Huelva thematisiert werden.67 Die Möglichkeiten von Handlungsermächtigungen über die Arbeit in den Fabriken wurde unter anderem von Regina Becker-Schmidt in Bezug auf die Vergesellschaftung von Frauen, von Regine Gildemeister und Angelika Wetterer im Zusammenhang geschlechtsbezogener Wechsel von Tätigkeitenzuschreibungen, von Aiwha Ong oder Cirila Quintero und Javier Dragustinovis in Bezug auf Widerständigkeiten in Betrieb und Familie und unter anderem auch von Elisabeth Tuider im Zusammenhang von Empowerment bereits ausführlich diskutiert.68 Wie von diesen Autor_innen für Fabriken und Fertigungshallen beschrie-
66 Vgl. Carrillo V., Jorge/F. Montellano, Óscar/Áron Fuentes, Noé/Gonzáles, Raúl/ Montenegro, Jesús/Santibáñez, Jorge/Valdés-Villalva, Guillermina (Hg.): Condiciones de empleo y capacitación en las maquiladoras de exportación en México, México 1993; A. Ong: Spirits; Quintero, Cirila: »Trabajo femenino en las Maquiladoras. Explotación o liberación?«, in: Monárrez Fragoso/Julia Estela/Tabuenca Córdoba/María Socorro (Hg.), Bordeando la violencia contra las mujeres en la frontera norte de México, Tijuana/México D.F. 2007, S. 191-218. 67 Vgl. O. Becerril Quintana: »Una nueva era«; K. Preibisch/E. Encalada Grez: »Other Side«; A. Reigada Olaizola: »Feminización«. 68 Vgl. Becker-Schmidt, Regina: »Zur doppelten Vergesellschaftung von Frauen. Soziologische Grundlegung, empirische Rekonstruktion«, in: gender… politik… online (2003), S. 1-18; Becker-Schmidt, Regina: »Doppelte Vergesellschaftung von Frauen. Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben«, in: Ruth Bekker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2008, S. 6574; R. Gildemeister/A. Wetterer: »Geschlechter«; A. Ong: Spirits; C. Quintero/J. Dragustinovis: »Soy más«; C. Quintero: »Trabajo feminino«; E. Tuider: »Feminisierung«.
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ben, lassen sich auch in Andalusien Beispiele von aus den manipulados hinausweisenden Effekten rekonstruieren – gerade in Bezug auf die Partizipation in Entscheidungszusammenhängen.69 Allerdings ist es ebenso möglich auch andere Verflechtungen von Raum und Gender zu rekonstruieren, die wiederum Einfluss darauf haben, warum beinahe nur Frauen in den manipulados beschäftigt werden. So wurden etwa in der Maquiladora-Industrie Mexikos Frauen zu Beginn in der Textilbranche hauptsächlich eingestellt, da sie als geschickter und sorgfältiger bezeichnet wurden, später galten sie dann, als es vor allem auch um die Produktion von elektronischen Kleinteilen ging, als gefügiger und weniger widerständig.70 Entlang der weiter oben rekonstruierten Bedeutungen und (möglichen oder erfolgten) Verschiebungen von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen an Tätigkeiten werden die Parallelen zu Andalusien deutlich. Und während in der malaysischen Elektroproduktion hauptsächlich junge Frauen ohne eigene Familie zwischen 16 und 25 Jahren angestellt werden, da sie in diesem Zeitraum als am belastbarsten gelten,71 sind für die landwirtschaftliche Produktion in Andalusien explizit Frauen angefragt, die bereits Kinder haben, da diese am wenigsten Probleme verursachen und im Kontext der contratación en origen zusätzlich davon ausgegangen wurde, dass sie ein hohes Interesse haben, wieder nach Hause zurückzukehren.72 Gerade in den manipulados, in denen die Arbeiterinnen dicht beieinander arbeiten, ist das Vernetzungspotential hoch und entsprechend sind die Möglichkeiten widerständiger Praktiken vielfältiger. In diesem Sinne werden die familiären Verpflichtungen der Frauen und die damit verbundene Angst vor einem Verlust der Lohnarbeitsstelle im Falle eines Widerstandes mit einer besseren Bezahlung eher noch erhöht. Die Löhne im campo, wo es nur bedingte Möglichkeiten einer Vernetzung unter den Arbeiter_innen gibt, da diese in den meisten Fällen vereinzelt in den Treibhäusern arbeiten und oftmals keine gemeinsamen Pausenzeiten oder An- und Abfahrtswege haben, werden dagegen niedriger gehalten.
69 Vgl. SOC/SAT Almería: Las trabajadoras de BIOSOL logran hacer valer sus derechos. Almería, Presseerklärung der SOC/SAT vom 06.05.2011; Islam, Shelina: »Die gar nicht heile Bio-Welt«, in: Tagesanzeiger vom 21.02.2011. Der Arbeitskampf, in dem sich die dortigen Arbeiterinnen organisierten und kollektiv in den Streik traten, zeigte sich schließlich nach fünf Monaten Widerstand erfolgreich, vgl. SOC/SAT Almería: Triunfo de las trabajadoras de BIOSOL después de 5 meses de lucha, Almería, Presseerklärung der SOC/SAT vom 26.07.2012. 70 Vgl. C. Quintero: »Trabajo feminino«, S. 211f. 71 Vgl. A. Ong: Spirits, S. 147f. 72 Vgl. A. Reigada Olaizola: »Mas allá«, S. 113; dies.: »Feminización«, S. 222.
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V ERFLECHTUNGEN
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Im Zusammenhang von illegalisierter Migration und der Produktion von Arbeitsräumen vermittelt durch die Segregation von Vergeschlechtlichungen der Lohnarbeiten lassen sich Verflechtungen von Raum und Geschlecht rekonstruieren. Die Räume erscheinen auf der einen Seite beschränkend und einschränkend, als geschlossen und ausschließend, machen aber auch die Konstruktionsprozesse von Geschlecht deutlich. So werden zwar die als gefügig konstruierten marokkanischen Arbeiter_innen in den manipulados angestellt, aber entlang der Verhandlungsprozesse um diese Zuschreibungen werden zugleich die Varianzen und geschlechtsbezogenen Wechsel der Tätigkeitenzuschreibungen rekonstruierbar. Weiter wird in den manipulados ein höherer Lohn gezahlt, als es für die Arbeit in den Treibhäusern der Fall wäre, und auf diese Weise werden in den vergeschlechtlicht produzierten Räumen der almeriensen Landwirtschaft und den räumlich konstruierten Geschlechtern der Landarbeiter_innen auch Möglichkeiten eröffnet. Deutlich wird dies unter anderem an der folgenden Erzählung von Drissia Bamous: »Bevor mein Mann eine andere geheiratet hat, arbeitete ich nicht. Und bin [dann] hier[her] gekommen.«73 Bezugnehmend auf die weiter oben diskutierten Aspekte bedeutete für Drissia Bamous die Migration und die Arbeit in der almeriensen Landwirtschaft, dem Abhängigkeitsverhältnis ihrer Ehe in Marokko zu entgehen. Sie hat in der Folge in Andalusien ohne Papiere und ohne einen Ehemann von ihrem eigenen Geld beziehungsweise ihrer Lohnarbeit gelebt – eine Zeit lang mit der Möglichkeit von regelmäßigen Geldsendungen an eine Tochter, die in Marokko studiert. Derzeit ist sie gemeinsam mit anderen in der Gruppe der Jornaler@s sin Patron aktiv,74 die eine gewerkschaftsnahe Selbstorganisation für ihre Rechte in der Landwirtschaft betreiben. Deutlich wird an diesem Beispiel vor allem der Eigensinn, mit dem Drissia Bamous und Asmae Alaoui so wie auch andere ihr Leben gestalten (wollen). Die Wechselbeziehungen, Verflechtungen und Zwischenbeziehungen von Raum und Geschlecht begründen sich deutlich jenseits sich scheinbar addierender Marginalisierungen und starrer Konstruktionen von Subjektivitäten.75 Viel-
73 Drissia Bamous 2013, papierlose Arbeiterin, Übers. und arabische Transkription MA. 74 Die Tagelöhner_innen ohne Chef, eine selbstorganisierte Gruppe von hauptsächlich marokkanischen Landarbeiter_innen, die eng mit der SOC/SAT Almería zusammenarbeiten. 75 Vgl. Tuider, Elisabeth: »›Sitting at a crossroad‹ methodisch einholen. Intersektionalität in der Perspektive der Biographieforschung«, in: Sabine Hess/Nikola Langrei-
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mehr werden die Bewegungen in den Subjektivierungen sichtbar, unter anderem auch dann, wenn Drissia Bamous ihre Arbeit aufnimmt, nicht etwa in den almeriensen manipulados, sondern im campo, unter Plastik in der Tomatenpflanzung. Die Marginalisierungen entlang der intersektionellen Linien Frau – Migrantin – Arbeiterin erzeugen in einem Kontext, der krisenbedingt ohnehin schlechte Ausgangsbedingungen bietet, auch einen gewissen Spielraum, aus dem die lokalen Praktiken auf die globalen Zusammenhänge zurückwirken.76 Die wechselnden Vergeschlechtlichungen von Arbeit deuten so zugleich Verschiebungen an und machen die Prozesshaftigkeit von Geschlecht als Kategorie deutlich.77 Während die Flexibilisierungen von Beschäftigungsverhältnissen in der andalusischen Landwirtschaft beinahe eine gewisse Tradition haben und vor allem als vielfältige Ausbeutungsverhältnisse erscheinen, bedeuten diese dennoch auch, dass marokkanische Arbeiterinnen in zwei Bereichen die hauptverantwortlichen Personen sein können: zuhause und im manipulado. Denn über den bezahlten Nicht-Widerstand geraten sie in die potentiell widerständige Position der Ernährerin, was zunächst einmal wenigstens mögliche Machtumverteilungen bedeutet und Handlungsermächtigungen einleiten kann: »eigensinnig entging so manches der Macht.«78
ter/Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Bielefeld 2011, S. 221-248, hier S. 230. 76 Vgl. D. Massey: »Keine Entlastung«, S. 30. 77 Vgl. R. Gildemeister/A. Wetterer: »Geschlechter«, S. 222. 78 M. Foucault: Analytik, S. 227.
(K)Ein Haus für alle? Verflechtungen von Raum und Gewalt am Beispiel der Erzählung von Josef und Potifars Frau
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E INLEITUNG Ein junger Mann namens Josef wird von seinen Brüdern über Umwege nach Ägypten verkauft. Sein Besitzer ist Potifar, ein hoher Beamter des ägyptischen Königs. Schon bald gewinnt der Sklave die Gunst seines Herrn und verwaltet fortan dessen Eigentum. Potifars Entscheidung erweist sich als glücklich. Weil Gott an seiner Seite ist, florieren unter Josefs Anleitung die Geschäfte im Haus und auf dem Feld. Eines Tages nun – Josef ist derweil erwachsen geworden und von schöner Gestalt – richtet die Frau des Potifar ihren Blick auf ihn. »Leg dich zu mir«, spricht sie, doch er weigert sich. Die Hausherrin aber bleibt hartnäckig. In einem günstigen Moment, als gerade kein Personal anwesend ist, greift sie nach Josefs Gewand. Neuerlich entzieht der Bedienstete sich ihr und flüchtet nach draußen. Sein Kleid lässt er kurzerhand zurück. »Schaut, der Hebräer wollte bei mir liegen«, ruft da die Herrin den Leuten des Hauses zu. »So wie er hörte, dass ich schreie, rannte er davon, sein Gewand ließ er hier.« Auch als Potifar von seinem Dienst zurückkehrt, liegt dort noch immer der vermeintliche Beweis und seine Frau redet zu ihm: »Da ist doch tatsächlich der hebräische Sklave zu mir gekommen, um sich mit mir zu amüsieren.« Den Verrat duldet Potifar nicht und lässt Josef ins Gefängnis sperren.1
1
Vorliegend handelt es sich um eine Nacherzählung von Gen 39,1-20. Im Anschluss an Lux, der ausgehend von den Schauplätzen der Erzählung Gen 39,1-20 dem Haus des
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Von Aufstieg, Begehren und Intrigen bis hin zu Gewalt und Widerstand – Gen 39,1-20 präsentiert sich als eine facettenreiche Erzählung mit äußerst dichtem Handlungsverlauf. Aus dem Repertoire an möglichen Untersuchungsaspekten, die angesichts der thematischen Vielfalt des Textes evident werden, sind raumtheoretische Fragestellungen bislang weitgehend ausgeklammert worden. Doch wird gerade im Anschluss an ein relationales Raumverständnis, welches soziale, symbolische und materielle Perspektiven miteinander verbindet,2 das Potenzial einer raumtheoretischen Herangehensweise im Blick auf die Erzählung deutlich. Ein derartiges Raumkonzept setzt soziale Handlungen, Beziehungsstrukturen und Konstruktionsprozesse ebenso als raumkonstitutiv voraus wie verdinglichte Raumordnungen.3 Für die Analyse von Gen 39 erweisen sich diese Einsichten als anschlussfähig, weil dem dort vermittelten literarischen Raum die genannten Dimensionen gleichsam inhärent sind. Der zentrale Schauplatz der Erzählung ist das Haus von Potifar und seiner Frau. Hier treffen die Figuren aufeinander, bewegen sich und handeln. Allerdings fungiert das Haus nicht nur als Hintergrund, vor dem die Protagonist_innen interagieren, es spiegelt ferner soziale Verhältnisse wider und bringt sie hervor. In Form von sprachlichen, sozialen und kulturellen Segregationen, die sowohl metaphorisch als auch konkret räumlich funktionieren, werden sodann unterschiedliche Dimensionen von Gewalt manifest. Der vorliegende Beitrag möchte herausarbeiten, welche Räume in der Erzählung hervortreten, wie sie narrativ entfaltet, semantisiert, von den Figuren belebt, gestaltet und gegebenenfalls neu konstituiert werden. Ausgehend davon gilt es zunächst verschiedene raumtheoretische Konzepte vorzustellen und miteinander in Beziehung zu setzen. Der Versuch, erzähltheoretische Überlegungen zum Raum mit solchen der sozialwissenschaftlich orientierten Raumforschung zu verbinden, beabsichtigt, die wechselseitige Bezogenheit von Räumen, Figuren und schließlich Geschlechterverhältnissen detaillierter darzustellen. Potenzielle Machtverhältnisse können auf dieser Grundlage aufgedeckt werden. Strategien räumlich-sozialer Inklusion und Exklusion, die in der Erzählung auftreten, sind an unterschiedliche Ausprägungen von Gewalt gekoppelt. Der Gewaltbegriff
Potifar zuordnet und infolgedessen seine Auslegung strukturiert, wird auch hier ausschließlich Gen 39,1-20 fokussiert. Siehe hierzu: Lux, Rüdiger: Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern (= Biblische Gestalten, Band 1), Leipzig 2001, S. 63, 68. 2
Siehe hierzu: Löw, Martina: Raumsoziologie (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft,
3
Vgl. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian: Sozialraum. Eine Einführung (= Sozialraum-
Band 1506), Frankfurt a.M. 2001, S. 15. forschung und Sozialraumarbeit, Band 4), Wiesbaden 2010, S. 26, 29f.
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wird ausdifferenziert und erläutert. In der Analyse von Gen 39 kommen die vorangestellten theoretischen Überlegungen beispielhaft zur Anwendung.
R AUM Mittels Räumen und Bewegungen zwischen unterschiedlichen Räumen werden Erzähltexte strukturiert, Machtverhältnisse verdeutlicht und die Rollenprofile von Figuren beschrieben.4 Literarische Räume sind weit mehr als eine dekorative Folie, auf welcher die Protagonist_innen agieren: Sie haben grundlegenden Anteil an fiktionaler Wirklichkeitsproduktion und erfüllen eine Vielfalt unterschiedlicher Funktionen.5 In Rekurs auf Natascha Würzbach können erzählte Räume »fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger [oder auch] Ausdruck der Geschlechterordnung«6 sein und in diesem Sinne eine spezifische Welthaltigkeit vermitteln. Ebenso wie literarische Texte auf außertextuelle Bezugssysteme wie Orte oder Landschaften rekurrieren können, haben sie die Möglichkeit, von Räumen zu erzählen, die über die Eigenschaften realer Umgebungen hinausweisen (zum Beispiel das Paradies oder die Scheol).7 Im Anschluss an außertextuelle und werkimmanente Raumreferenzen lässt sich nicht nur das Verhältnis von erzählten, realen und kulturellen Raummodellen näher bestimmen, es kann außerdem nach Verflechtungen von textexternen und fiktiven Merkmalen, spezifischen Genrekonventionen oder fiktionalen Graduierungen im Rahmen des er-
4
Vgl. Müllner, Ilse: Gewalt im Hause Davids. Die Erzählungen von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1-22) (= Herders biblische Studien, Band 13), Freiburg im Breisgau u.a. 1997, S. 100.
5
Vgl. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11-32, hier S. 11.
6
Würzbach, Natascha: »Erzählter Raum: Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung«, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger (= Anglistische Forschungen, Band 294), Heidelberg 2001, S. 105-129, hier S. 105.
7
Vgl. Müllner, Ilse: »Zeit, Raum, Figuren, Blick. Hermeneutische und methodische Grundlagen der Analyse biblischer Erzähltexte«, in: Protokolle zur Bibel 15 (2006), S. 1-24, hier S. 10; vgl. Dennerlein, Katrin: »Raum«, in: Matías Martínez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, S. 158-165, hier S. 158.
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zählten Raumes gefragt werden.8 Unter Berücksichtigung von rezeptions- und kognitionspsychologischen Befunden ist die Wahrnehmung und Konstruktion literarischer Räume überdies durch die Leser_innen beeinflusst,9 welche ihrerseits spezifische Vorstellungen an die jeweiligen Räume herantragen. In ihrem WiBiLex-Artikel zum Thema Raum begründet Michaela Geiger die Relevanz einer erzähltheoretischen Untersuchung des Raumes unter anderem damit, dass »[…] alle Räume in der Bibel vorgestellte, dargestellte oder erzählte Räume sind.«10 Gleichsam wie andere erzählte Räume sind alttestamentliche – als sprachlich vermittelte – Räume stets an eine spezifische Instanz gekoppelt, die sie narrativ präsentiert. Nach Silke Lahn und Jan Christoph Meister ist »[d]er erzählte Raum […] immer schon irgendwie ›semantisiert‹, das heißt bedeutungshaft.«11 Rezipient_innen von 2 Sam 11 schauen so etwa aus der Perspektive Davids hinab vom Dach auf die badende Batseba und partizipieren damit notgedrungen auch an dessen Machtposition.12 Indem er den Zugang zum Raum filtert, schränkt der gelenkte Blick die Sichtweite der Lesenden ein. Über abstrakte Verhältnisbestimmungen (oben-unten oder nah-fern)13 hinaus, können ferner Orte oder Himmelsrichtungen spezifisch konnotiert sein. Ausgehend von einer feministisch-hermeneutischen Perspektive zeigt Sophie Kauz am Beispiel der alttestamentlichen Siedlung auf, »[…] dass sich die Frauen zu einem großen Teil in Häusern, Palästen oder zumindest im Schutz einer Siedlung
8
Vgl. Nünning, Ansgar: »Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 33-52, hier S. 40f.
9
Vgl. ebd., S. 38. Siehe hierzu ausführlicher: Ryan, Marie-Laure: »Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space«, in: David Herman (Hg.), Narrative Theory and the Cognitive Science, Stanford, CA 2003, S. 214-242.
10 Geiger, Michaela: »Raum«, http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/65517/ vom 22.07.2014. 11 Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar 2008, S. 248. 12 Siehe hierzu: I. Müllner: Gewalt im Hause Davids, S. 100. 13 Nach Schroer »arbeitet [semitisches Denken] mit Parallelismen, die nicht auf Abgrenzung oder Unterscheidung, sondern auf gegenseitige Ergänzung angelegt sind.« Schroer, Silvia: »Auf dem Weg zu einer feministischen Rekonstruktion der Geschichte Israels«, in: Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie-Theres Wacker (Hg.), Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, S. 83-172, hier S. 167.
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aufhielten […].«14 Solche, von Drorah O‘Donnell Setel ebenfalls als seperate female sphere15 gekennzeichneten Frauenräume begegnen Lesenden ferner im Exodusbuch (zum Beispiel Ex 1,16.19) oder im Hohelied.16 Kardinalpunkte wie Norden, Osten, Süden und Westen können im Horizont des Ersten Testaments nicht nur den gedachten Standort und das entsprechende Orientierungssystem anzeigen, sie werden zudem mit bestimmten Bedeutungen versehen. Während der Osten im Horizont des zweiten Schöpfungsberichtes als Paradiesgarten erscheint, eilt das Unheil in Jer 1,13f. vom Norden herbei.17 Da biblisches Erzählen in aller Regel ein handlungsorientiertes Erzählen ist, werden auch die Räume vorrangig durch Handeln hervorgebracht und erfahrbar. Mitsamt ihren Eigenschaften, potenziellen Sinnen und Gefühlen, insbesondere aber infolge ihrer Bewegungen und Handlungen, konstituieren, be- und erleben Figuren die Räume der erzählten Welt. Innerhalb der storyworld von Gen 39 treten einerseits konkrete Räume, zum Beispiel das Haus oder das Gefängnis, in Erscheinung, anderseits jedoch abstrakte spatiale Kategorien, wie etwa innenaußen. In der Perspektive Josefs avancieren vormals vertraute Sphären schließlich zu Räumen der Exklusion und Gefahr. In ihrer Raumsoziologie (2001) entfaltet Martina Löw ein Raumkonzept, welches soziale Ordnungen gleichermaßen berücksichtigt wie Handlungsdimensionen. In Auseinandersetzung mit absolutistischen und relationalen Denktraditionen sowie angelehnt an unter anderem soziologische Arbeiten (zum Beispiel Berger/Luckmann, Giddens, Latour und Bourdieu) entwickelt sie die These, dass Raum »eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten«18 ist. Den nunmehr maßgebenden Vorgang des Bauens, Errichtens und Positionierens nennt Löw Spacing. Die in der Regel analog ablaufende kognitive Verknüpfung von sozialen Gütern und Lebewesen bezeichnet sie demgegenüber als Syntheseleistung.19 Gerade weil biblische Erzählungen die Handlungen der Figuren zentralisieren, lassen sich Löws Überlegungen produktiv für ihre Ausle-
14 Kauz, Sophie: »Frauenräume im Alten Testament am Beispiel der Siedlung«, http:// www.lectio.unibe.ch/09_2/kauz_frauenraeume.html vom 22.07.2014. 15 Vgl. O‘Donnell Setel, Drorah: »Exodus«, in: Carol A. Newsom/Sharon H. Ringe (Hg.), Women‘s Bible Commentary, Louisville, KY 1998, S. 30-39, hier S. 33. 16 Siehe hierzu z.B. Thöne, Yvonne Sophie: Liebe zwischen Stadt und Feld. Raum und Geschlecht im Hohelied (= Exegese in unserer Zeit, Band 22), Berlin 2012, S. 390392. 17 Vgl. M. Geiger: »Raum«. 18 M. Löw: Raumsoziologie, S. 224, Hervorhebung im Original. 19 Vgl. ebd., S. 158f.
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gung nutzen.20 Rückgekoppelt an eine erzähltheoretische Raumanalyse können beispielsweise Verhältnisbestimmungen von Figuren innerhalb eines Raumes, deren Bewegungen und Platzierungen, Vorherrschaften sowie Redeweisen von Raum und damit verbunden der symbolische Gehalt materialisierter Raumordnungen als Untersuchungskriterien fungieren.21 Aus einer ideologiekritischen Perspektive, wie sie vorliegend eingenommen wird, ist überdies nach dem Verhältnis von Macht, Herrschaft und Handlungen zu fragen. Denn räumliche Handlungsweisen sind nicht zuletzt »[…] eine Strategie der Macht, persistente Raumstrukturen zu schaffen, um entsprechende Machtkonfigurationen zwischen dem Selbst und dem Anderen zu erhalten.«22 Da Räume infolgedessen vielmals sowohl von ungleichen Machtbeziehungen durchzogen sind,23 sollte auf die Raumfrage sodann die nach der Macht folgen.
G EWALT Biblische Texte sind häufig brutal und scheinen »an manchen Stellen schier zu bersten vor Gewalt […].«24 Insbesondere das Erste Testament kennt im Anschluss an Norbert Lohfink »kein anderes anthropologisches Thema, das [es] so erfüllen würde wie die Gewalttat.«25 Obzwar die exegetische Forschung zu Gewalt keineswegs mehr am Anfang steht, markiert die Auseinandersetzung mit der Thematik weder ein traditionelles Erkenntnisinteresse noch repräsentiert sie den fachlichen Mainstream. Maßgeblich geprägt und vorangetrieben wurde die Diskussion um Gewaltdarstellungen in der Bibel seitens ideologiekritischer For-
20 M. Geiger und Y. S. Thöne veranschaulichen, wie der Ansatz von M. Löw für die Arbeit mit alttestamentlichen Texten fruchtbar gemacht werden kann. Vgl. M. Geiger: »Raum«; Y.S. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld. 21 Vgl. Y.S. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld, S. 63; vgl. F. Kessl/C. Reutlinger: Sozialraum, S. 29f. 22 Wastl-Walter, Doris: Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen (= Sozialgeographie kompakt, Band 2), Stuttgart 2010, S. 77. 23 Vgl. McDowell, Linda: Gender, Identity and Place. Understanding Feminist Geographies, Minneapolis, MN 1999, S. 4f. 24 Dietrich, Walter/Mayordomo, Moisés: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, S. 10. 25 Lohfink, Norbert: »›Gewalt‹ als Thema alttestamentlicher Forschung«, in: ders. (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament (= Quaestiones Disputatae, Band 96), Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1983, S. 15-50, hier S. 15.
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scher_innen. Bereits seit ihren Anfängen gehören Untersuchungen zu sexueller und sexualisierter Gewalt an Frauen zum Aufgabenrepertoire feministischer Exegese. Als texts of terror26 haben Texte, die von sexueller respektive sexualisierter Gewalt berichten, Einzug in die Debatte erhalten. Mit diesem Ausdruck kennzeichnet Phyllis Trible jene »Glaubensgeschichten, über die nie gepredigt wurde«,27 in denen dezidiert Frauen schreckliche Gewalt widerfährt. Wenn sexuelle und sexualisierte Gewalt im Alten Testament nun überwiegend von Frauen erlebt wird,28 ist diese einseitige Hinwendung im Wesentlichen den sich in den Texten widerspiegelnden, patriarchalen Strukturen der Zeit geschuldet: »Der Androzentrismus biblischer Texte verweigert Frauen über weite Strecken den Subjektstatus. Frauen werden über Männer definiert […]«29 und infolgedessen vielmals zu Beherrschten. Zwar werden sexuelle Gewaltakte auch in biblischen Schriften in Form von Strafe verurteilt, diese Ablehnung ist für gewöhnlich aber von patriarchalen und herrschaftlichen Absichten flankiert.30 Gewalt zur Sprache zu bringen – und dies schließt literarische Repräsentationen von Gewalt gleichermaßen ein – impliziert folgerichtig immer auch »Machtverhältnisse zur Diskussion zu stellen.«31 So wichtig die Geschlechterdifferenz als Analysekategorie ist, so deutlich tritt zugleich die Einsicht hervor, dass sie »den Blick auf andere Differenzen
26 Trible, Phyllis: Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Narratives (= Overtures to Biblical Theology, Band 13), Philadelphia 1984. 27 Trible, Phyllis: Mein Gott, warum hast du mich vergessen! Frauenschicksale im Alten Testament, Gütersloh 1987 (= Gütersloher Taschenbücher/Siebenstern, Band 491), S. 13. 28 C. Rakel zeigt am Beispiel Judits, in welcher Weise auch weibliche Figuren in Gewalthandlungen involviert sind und sie auslösen. Siehe hierzu: Rakel, Claudia: Judit – über Schönheit, Macht und Widerstand im Krieg. Eine feministisch-intertextuelle Lektüre (= Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Band 334), Berlin 2003. 29 Müllner, Ilse: »Sexuelle Gewalt im Alten Testament«, in: Ulrike Eichler/Ilse Müllner (Hg.), Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie (= Kaiser Taschenbücher, Band 170), Gütersloh 1999, S. 40-75, hier S. 48. 30 Vgl. ebd. 31 Hagemann-White, Carol: »Gewalt im Geschlechterverhältnis als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Rückblick, gegenwärtiger Stand, Ausblick«, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hg.), Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt (= Politik der Geschlechterverhältnisse, Band 19), Frankfurt a.M./New York 2002, S. 29-52, hier S. 29.
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nicht verstellen darf.«32 Als Vorreiterin einer intersektionalen exegetischen Wende hat Elisabeth Schüssler Fiorenza in den frühen 1990ern den Terminus Kyriarchat eingeführt und damit die wechselseitige Verflechtung unterschiedlicher Unterdrückungs- und Machtstrukturen expliziert.33 Was in intersektionaler Perspektive unter anderem mit Achsen der Differenz34 überschrieben ist, soll auch im Rahmen der Analyse von Gen 39 Berücksichtigung finden: Es kann zum Beispiel gefragt werden, welche potenziellen Motive den erzählten Gewalthandlungen eingetragen sind, wie sie miteinander korrespondieren und sich wechselseitig bedingen. Unter der Voraussetzung, dass sexuelle Gewalt überall vorherrscht, wo Menschen gegen ihren Willen in eine sexuelle Handlung involviert sind,35 liegt in Bezug auf Josef zunächst keine sexuelle Gewalt36 per definitionem vor. Sexualisierte Gewalt als eine Ausprägung von Gewalt, die beginnt, wenn »Blicke und Äußerungen«37 seitens der beobachteten oder angesprochenen Person Unbeha-
32 Müllner, Ilse: »Tödliche Differenzen. Sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Andere in Ri 19«, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus (= Biblical Interpretation Series, Band 17), Leiden/New York/Köln 1996, S. 81-100, hier S. 83. 33 Siehe hierzu: Schüssler Fiorenza, Elisabeth: But She Said. Feminist Practices of Biblical Interpretation, Boston, MA 1992. 34 Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II (= Forum Frauenforschung, Band 16), Münster 2003. 35 Vgl. Haslbeck, Barbara: Sexueller Missbrauch und Religiosität. Wenn Frauen das Schweigen brechen: Eine empirische Studie (= Geschlecht – Gewalt – Gesellschaft, Band 4), Berlin 2007, S. 16. Haslbeck rekurriert auf Susan Brownmillers Monographie Against Our Will (Toronto/New York 1976). 36 Es ist zu berücksichtigen, dass alttestamentliche Erzählungen keinen Begriff nennen, welcher dem der Vergewaltigung vergleichbar wäre, und sexualisierte/sexuelle Gewalt zudem andere Denkweisen umfasst als heute (dass Vorstellungen im Zusammenhang sexualisierter/sexueller Gewalt damals wie heute heterogen sind, wird hierbei vorausgesetzt). Siehe hierzu Müllner, Ilse: »Sexuelle Gewalt im Alten Testament«, S. 46f. 37 Abubakar-Funkenberg, Tanja: »Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern«, in: Diana Grundmann/Bernd Overwien (Hg.), Weltwärts pädagogisch begleiten. Erfahrungen aus der Arbeit mit Freiwilligen und Anregungen durch die Fachtagung in Bonn (18.-
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gen und Angst hervorrufen, wird indessen sichtbar. Demnach betont der feministisch geprägte Terminus ›sexualisierte Gewalt‹ insbesondere das Machtmoment, welches in der zugefügten Gewalt Wirksamkeit erfährt: »Macht wird sexualisiert: ein Bedürfnis nach und die Gelegenheit zur Machtausübung verbinden sich mit sexueller Erregung.«38 Neben der personalen beziehungsweise direkten Gewalt tritt in der Erzählung überdies eine Ausprägung von Gewalt hervor, die im Anschluss an Johan Galtung strukturell bedingt ist. Im Vergleich zu personaler Gewalt, die von einer_einem Akteur_in ausgeht, welche_r eine Verletzung intendiert oder diese zumindest akzeptiert,39 hat strukturelle Gewalt keine_n direkte_n Sender_in. Sie wohnt der Sozialstruktur inne und kann sich hier zwischen Menschen, Gesellschaften, Bündnissen und Regionen vollziehen. Postuliert Galtung Unterdrückung und Ausbeutung dabei als die wesentlichen Folgen von struktureller Gewalt,40 spiegelt das Herr_in-Knecht-Verhältnis, in welchem sich Josef befindet, sowohl Dimensionen direkt-personaler als auch indirektstruktureller Gewalt wider. Dort, wo die Subjekte von Gewalthandlungen ein spezifisches Interesse daran haben, eine Person etwa in Bezug auf ihre Ethnizität zu verletzen, liegt symbolische Gewalt vor. Diese, nicht selten sprachlich vermittelte, Schädigung kann sich in missbilligendem oder demütigendem Verhalten, in Verleumdung oder Ignoranz ausdrücken und bezeichnet insofern zudem eine Ausprägung von psychischer Gewalt.41 »[D]ass soziale Separation«42 Hand in Hand geht mit »kultu-
20. April 2011), Kassel 2011, S. 40-45, hier S. 41, http://www.uni-kassel.de/upress/ online/frei/978-3-86219-198-7.volltext.frei.pdf vom 22.07.2014. 38 Heiliger, Anita/Engelfried, Constance: Sexuelle Gewalt. Männliche Sozialisation und potentielle Täterschaft, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 22. 39 Vgl. Puchert, Ralf et al.: »Einleitung«, in: Ludger Jungnitz et al. (Hg.), Gewalt gegen Männer. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland, Opladen/ Farmington Hills 2007, S. 11-34, hier S. 21; vgl. Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur (= Friedens- und Konfliktforschung, Band 4), Opladen 1998, S. 17f. 40 Vgl. ebd., S. 18. 41 Vgl. Imbusch, Peter: »Der Gewaltbegriff«, in: John Hagan/Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57, hier S. 41. Psychische Gewalt baut z.B. auf Worten, Symbolen oder dem Entzug bestimmter Lebensbedürfnisse auf. Vgl. ebd., S. 38. 42 Short, James F. Jr.: »Ethnische Segregation und Gewalt«, in: John Hagan/Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 104-123, hier S. 104 zit. n. Glaser, Daniel: Social Deviance, Chicago, Illinois 1971.
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reller Differenzierung«,43 konstatiert Daniel Glaser schließlich als grundlegendes soziologisches und anthropologisches Gesetz. Nicht zuletzt beabsichtigt symbolische respektive kulturelle Gewalt »direkte und strukturelle Gewalt [zu] legitimieren«44 und sie hiermit »für die Gesellschaft akzeptabel zu machen.« 45 Wenn Gewalt vorliegend in ihren unterschiedlichen Ausprägungen skizziert und ausdifferenziert wurde, greifen Repräsentationen, Funktionen, Gründe und Konsequenzen verschiedener Gewaltformen dennoch ineinander und bedingen sich gegenseitig. Symbolische Gewalt kann sich etwa strukturell und personal in materialisierter wie auch verbaler Ausgrenzung niederschlagen. Über die Verletzungen als Folge von widerfahrener Gewalt hinaus müssen fernerhin das Zusammenspiel der Herstellungsweisen von Gewalt und Exklusionspolitiken sowie deren Ziele und Strategien befragt werden.
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Mit dem Eintritt in das Haus von Potifar46 scheint sich Josefs Leben grundlegend zu verändern. Sein Herr lässt ihm in all seinem Tun freie Hand. Josef wird zum Haushofmeister ernannt und verwaltet fortan den gesamten Besitz von Potifar. Ein Haus für alle, möchte man meinen. Über funktionale Bedeutungen einer bloßen Behausung als Schutzraum hinaus47 referiert (Haus) ferner auf »die sozialen Beziehungen, die sich mit dieser Behausung verbinden bzw. von ihr ihren Ausgang nehmen.«48 Seit der Königszeit repräsentiert und realisiert das ebenso patrilinear wie patrilokal organisierte Haus soziale Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse.49 Offenbar wird
43 Ebd. 44 J. Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln, S. 18. 45 P. Imbusch: »Der Gewaltbegriff«, S. 40. 46 Nähere Erläuterungen zu Potifars Amt finden sich z.B. bei R. Lux: Josef, S. 94f. oder Boecker, Hans Jochen: Die Josefsgeschichte. Mit einem Anhang über die Geschichte der Tamar und die Stammessprüche, Neukirchen-Vluyn 2003, S. 29f. 47 Vgl. Y.S. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld, S. 361. 48 Bieritz, Karl-Heinz/Kähler, Christoph: »Haus III«, in: Gerhard Müller/Horst Balz/Gerhard Krause (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Band 14, Berlin/New York 1985, S. 478-492, hier S. 478. 49 Vgl. Y.S. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld, S. 362. Y.S. Thöne rekurriert auf K.-H. Bieritz/C. Kähler: »Haus III«, S. 479.
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zumeist ein System,50 in welchem Frauen den Männern, Kinder den Eltern und Sklav_innen den Herr_innen untergeordnet sind.51 Als Oberhaupt des ist der Hausherr52 zuletzt »Mittel- und Ausgangspunkt aller häuslichen Verhältnisse [...].«53 Mag die Gestaltmacht, die Josef übertragen wird, zunächst in der Mildtätigkeit Potifars zu suchen sein, zeigt sich recht bald, dass die Anerkennung durch den Hausherrn an spezifische Qualitäten des Dieners gekoppelt ist: JHWH54 war mit Josef, und alles, was er tat, glückte ihm; sein beruflicher Aufstieg im Haus des ägyptischen Herrn beginnt. Potifar erkennt, dass Gottes Segen auf Josef liegt und entscheidet sich, am Erfolg seines Dieners zu partizipieren. Sichtbar wird eine Zuwendung, die nicht vorrangig in sozialem Gerechtigkeitsempfinden gründet, sondern in erster Linie erfolgsorientiert ist. Erst als Potifar sieht, dass Gott mit Josef ist, verändert sich die Wahrnehmung des Herrn hin zum Wohlwollen und Josef darf ihm dienen.55 Über das einfache Arbeitsverhältnis hinaus deutet der Ausdruck (pi. dienen)56 auf eine personale Beziehung hin, die sich im persönlichen Bedienen artikuliert.57 Josef wird »vom Gehandelten, der von einer Hand in eine andere übergeht, zu einem erstaunlich frei Handelnden.«58 Doch die Verfügungsfreiheit hat ihre Grenzen: Von Rechtswegen her gilt
50 Nach R. Kessler legen ethnologische Befunde zu »nicht staatlich organisierten Völkern […] eher Geschlechtersymmetrie nahe.« Kessler, Rainer: Sozialgeschichte des alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt 2008, S. 59. 51 Vgl. Y.S. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld, S. 362. 52 Im Hohelied etwa lässt sich das Konzept eines Mutterhauses finden. Siehe hierzu ebd., S. 367. 53 K.-H. Bieritz/C. Kähler: »Haus III«, S. 479. 54 Das Vertrauen, welches Potifar Josef entgegenbringt, kann sodann als Zuversicht in eine fremde Gottheit gedeutet werden. 55 Vgl. Ebach, Jürgen: Genesis 37-50. Übersetzt und ausgelegt von Jürgen Ebach (= Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg im Breisgau 2007, S. 171; vgl. Westermann, Claus: Die Joseph-Erzählung. Elf Bibelarbeiten zu Genesis 37-50 (= Calwer Taschenbibliothek, Band 1), Stuttgart 1990, S. 36. 56 Neben dem Grundstamm Qal kennt das Hebräische noch weitere Stämme, wie etwa das Piel (pi.) oder das Hitpael (hi.). Diese Stämme modifizieren die Bedeutung des Lexems in jeweils spezifischer Weise. Vgl. Krause, Martin: Hebräisch. Biblischhebräische Unterrichtsgrammatik, Berlin/New York 2010, S. 130. 57 Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 162, 171. 58 Ebd., S. 162.
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Josef nach wie vor als (Sklave oder Diener),59 sein Status als Sklave bleibt weiterhin wirksam – die gewaltgewebte Struktur löst sich nicht auf. Nach dem altorientalischen Sklavenrecht, welches für die erzählte Welt als Orientierungsrahmen zu konstatieren ist, setzt sich die Gefangenschaft Josefs, verhüllt in der Gestalt des Verwalters, fort. Zwar darf er für einen Leibeigenen erstaunlich frei agieren,60 zuletzt aber gibt es Kontrollinstanzen, die seinem Wirken jederzeit Einhalt gebieten können. Gänzlich entfaltet sich die für diese Zeit typische Differenz zwischen Hausherr_innen und Sklav_innen jedoch erst, als die Frau des Potifar die Bühne der Erzählung betritt. Scheinbar angelockt von Josefs schöner Gestalt richtet die Herrin des Hauses ihren Blick auf den Sklaven und fordert, dass er sich zu ihr lege. Dass Josef von schöner Gestalt ist, steht dabei laut Claus Westermann nicht vornehmlich im Dienste einer Charakterisierung der Figur, vielmehr ist die Information für das »Verständnis der mit diesem Satz eingeleiteten Episode notwendig […].«61 Im Schönsein eines Menschen sieht das Erste Testament primär ein geschehendes, kein seiendes Moment.62 Trotz positiver Konnotationen, in deren Folge Schönheit als »Auszeichnung und Ideal«63 hervortritt, kann diese ferner Bedrohung implizieren. Wenn Josefs Aussehen nun mehrheitlich als Ursache für den »begehrlichen Augenaufschlag der Dame«64 vorausgesetzt wird, ist damit allerdings lediglich eine mögliche Erklärung für den Blick der Frau gefunden. Hans Jochen Boecker weist etwa darauf hin, dass Schönheit in der Perspektive des Alten Testaments als Indiz des göttlichen Segens gilt und in diesem Sinne durchaus eine Charaktereigenschaft abbilden kann.65 In Bibelübersetzungen wie der Historia Scholastica (1170), die Ruth Bottigheimer als die »›Urform‹ aller Kinderbibeln«66 ausweist, findet sich schließlich eine Darstellung des Potifar,
59 Der Ausdruck kommt im ersten Abschnitt der Erzählung wörtlich zwar nicht vor, aus Kontext und Vorgeschichte erschließt sich aber, dass Josef ein Sklave ist. 60 Da der Umgang mit Speisen und Getränken dezidiert nicht in den Aufgabenbereich von Josef gehört, liegt hier eine Besonderheit vor. Siehe hierzu z.B. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 171; H. J. Boecker: Die Josefsgeschichte, S. 32. 61 C. Westermann: Die Joseph-Erzählung, S. 36. 62 Vgl. ebd., S. 37. 63 R. Lux: Josef, S. 100. 64 Ebd. 65 Vgl. H. J. Boecker: Die Josefsgeschichte, S. 32. 66 Bottigheimer, Ruth B.: Eva biss mit Frevel an. Rezeptionskritisches Arbeiten mit Kinderbibeln in Schule und Gemeinde. Übersetzt und für den Religionsunterricht in
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die diesen in Rekurs auf Josefus als Eunuch bezeichnet, so dass das Sehen der Frau aus dieser Blickrichtung interpretiert wird. Ausgehend von der unsicheren sprachlichen Befundlage, die Jürgen Ebach für den Terminus (Eunuch oder Höfling)67 konstatiert, gebietet sich jedoch Vorsicht bezüglich einer allzu schnellen Interpretation.68 Die Vorstellung einer sexuell frustrierten Ehefrau trifft seitens der Erzählung auf keine hinreichende Entsprechung. Es muss deshalb offen bleiben, welche Motive der sexualisierten Gewalt vorausgehen, ob sich gegebenenfalls tatsächlich die Option der Machtdarbietung und -ausübung mit sexueller Erregung verschränkt.69 Wenn Vers 7 nach heutigem Verständnis auf Begehren verweist,70 kann bereits das Sehen der Hausherrin analog zu anderen Erzählungen (vgl. zum Beispiel 2 Sam 11) auf eine sexuelle Handlung hindeuten. Vor dem Hintergrund einer solchen Funktion »als Vorstufe zum sexuellen Akt«71 ist der Blick somit der Berührung vorgelagert.72 Korrespondierend zu anderen texts of terror fallen auch in Gen 39 die Schönheit des Objekts mit der sexuellen Begierde und der Blick des Subjekts mit der Handlung zusammen.73 Im Unterschied zu Schreckenserzählungen, in welchen mächtige Männer bestimmend agieren, kann angesichts
Deutschland bearbeitet von Martina Steinkühler (= Theologie für Lehrerinnen und Lehrer – Thema), Göttingen 2003, S. 50. 67 Siehe hierzu Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament (bearbeitet und herausgegeben von Herbert Donner), Berlin/Heidelberg 2007, S. 903; Fieger, Michael/Hodel-Hoenes, Sigrid: Der Einzug in Ägypten. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Josefsgeschichte (= Das Alte Testament im Dialog, Band 1), Bern u.a. 2007, S. 85. 68 Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 163f. Anders argumentiert z.B. Golka, Friedemann W.: Joseph – Biblische Gestalt und literarische Figur. Thomas Manns Beitrag zur Bibelexegese, Stuttgart 2002, S. 82. 69 Während für Rezipient_innen der Übergriff seitens Potifars Frau erkennbar wird, sofern sie Erzähler_innenrede und Figurenrede miteinander konfrontieren, bleibt die Gewalthandlung in der storyworld indes verhüllt und ungehört. 70 Siehe hierzu C. Westermann: Die Joseph-Erzählung, S. 37. 71 I. Müllner: Gewalt im Hause Davids, S. 107. 72 Vgl. ebd. 73 Die Vermutung, wonach die Schönheit Josefs das Motiv der Handlung ist, wird somit gestärkt. Wenn B. Jacob erklärt: »[Josef] hatte nur Einen [sic!] Fehler: er war schön!« zeigt sich darin eine Argumentationslinie, die oftmals in einem blaming the victim mündet. F.W. Golka: Joseph, S. 84 zit n. Jacob, Benno: Das erste Buch der Tora. Genesis, 1934, z.St.
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der Frau des Potifar – zumindest im Anschluss an Peter Weimar – indes nicht per se eine ausstehende sexuelle Handlung angenommen werden: »Das Geschehen zwischen Josef und der Frau des Potifar wird mit höchster Zurückhaltung entfaltet; emotionale Elemente sind in der Darstellung geradezu ausgeblendet.«74 Dennoch: Wo die Differenz von Sehenden und Angesehenen offenkundig wird, schließt sich die Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten fast unmittelbar an.75 Josefs körperliche Voraussetzungen gehen im Rahmen der Gewalthandlung mit seinem sozialen Status und – heteronormativ gelesen – überdies mit dem Geschlecht einher. Das Herr_in-Sklave-Verhältnis, welches in der Exposition (V. 1-6) geradezu egalitär anmutete, nimmt sowohl durch den Blick der Frau als auch deren Redeweise eine neue Gestalt an. In befehlendem Ton fordert die namenlose Hausherrin Josef auf, mit ihr zu schlafen. Kontrastierend zu den männlichen Figuren erhält die Frau des Potifar keinen Namen. Nur in Rekurs auf ihren Mann oder durch die herrschaftliche Bezeichnung in Form von Herrin ist es möglich, von ihr zu sprechen. Dabei ruft jedes Reden von der Frau als ›Frau des Herrn‹ oder ›Potifars Frau‹ die Konfliktsituation, den vermeintlichen Ehe- beziehungsweise Vertrauensbruch, auf und macht sie sichtbar. »Soll sie als ›böse Frau‹ namenlos bleiben?«76 fragt deshalb Jürgen Ebach. Und tatsächlich zeigt sich, dass Figuren, die in Erzählungen unbenannt sind, tendenziell weniger als Personen denn als bestimmte Typen wahrgenommen werden sollen.77 »Lege dich zu mir« (Gen 39,7) spricht die Herrin zum Sklaven – Josef aber widersetzt sich dem Wunsch. In teils direkter Redewiedergabe der einleitenden Schilderungen bringt er gleich zwei Argumente gegen die sexuelle Handlung vor: »[Potifar] selbst ist in diesem Haus nicht größer als ich, er hat mir gar nichts
74 Weimar, Peter: Studien zur Josefsgeschichte (= Stuttgarter Biblische Aufsatzbände, Band 44), Stuttgart 2008, S. 62. Zu bedenken ist aber, dass sich biblische Erzählungen vielmals mit pathetischen und emotionalen Beschreibungen zurückhalten. 75 Siehe hierzu auch I. Müllner: Gewalt im Hause Davids, S. 105-112. Wenn Golka angesichts Vers 7 konstatiert, dass die Erzählung hier »tendenziös und unrealistisch« ist, da sich »[e]ine Frau der Oberklasse […] gegenüber einem gekauften Sklaven [nicht so benimmt]. Solch eine Frau hat ihren Stolz«, ist diesem Einwand zu widersprechen. F. W. Golka: Joseph, S. 85. Womöglich unbeabsichtigt zementiert die Auslegung klassenspezifische Zuweisungen. Konstruiert wird eine Differenz, die suggeriert, dass Frauen aus den sogenannten unteren Klassen ein derartiges Vorgehen durchaus zuzutrauen wäre. Der Hinweis auf den Stolz bekräftigt den Eindruck. 76 J. Ebach: Genesis 37-50, S. 177, Hervorh. im Original. 77 Vgl. P. Weimar: Josefsgeschichte, S. 63.
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vorenthalten, einzig dich allein, schließlich bist du seine Frau. Wie sollte ich diese große Bosheit tun und mich gegen Gott verfehlen« (Gen 39,9). Das Haus setzt Josef als Mittel ein, um die Vertrautheit zwischen seinem Herrn und ihm zu verifizieren. Sowohl symbolisch als auch in sozialer Perspektive repräsentiert die herrschenden Verhältnisse und Josefs Bewusstsein darum. In der Darstellung von werden die Abhängigkeit des Dieners vom Herrn und die durch diesen initiierten Privilegien gleichsam transparent. Mit seinen Worten betont Josef allerdings nicht nur die Verfügungsgewalt Potifars über sämtliche Besitztümer des Hauses, er deutet außerdem an, dass er selbst ebenso wie die Hausherrin Bestandteil des häuslichen Inventars ist. Auf allen Besitz des Herrn, hier symbolisiert durch das Haus, darf Josef zugreifen, seine Frau jedoch ist davon ausgenommen. Durch den Verweis auf Gott als moralisch-religiöse Folie bekräftigt Josef seinen Einwand. Er bemüht ein Raster, in welchem die eigenen Modi des Seins als Merkmale der Differenz und Ausgangspunkt einer strukturell bedingten Ungleichheit scheinbar nicht nur akzeptiert, sondern auch reproduziert werden: »Du bist seine Frau« (Gen 39,9), spricht Josef und agiert damit seinerseits in einem herrschaftsstiftenden Gestus. Konstatiert Claus Westermann angesichts dieses Verhaltens, dass »das Nachgeben des Joseph in erster Linie eine Entscheidung gegen seinen Herrn«78 gewesen sei, gerät das Moment der sexuellen Übergriffigkeit und die Bedrohung von Josefs körperlicher Integrität in den Hintergrund. Trotz der Konsequenzen, die der sexuellen Handlung folgen können,79 redet die Herrin wiederholt auf den Sklaven ein, dass er sich mit ihr vereine – aber sie bleibt erfolglos. Es ist an einem solchen Tag als Josef ins Haus kommt, um seine täglichen Aufgaben zu verrichten. Doch niemand im Haus ist anwesend. Da greift die Frau des Potifar nach seinem Gewand und spricht erneut: »Lege dich zu mir« (Gen 39,12). Josef indes lässt sein Kleid in ihrer Hand und flüchtet nach draußen (vgl. Gen 39,11-13). Mit dem Eintritt in das Haus begibt sich Josef in Gefahr: Die eigentliche Schutzfunktion von wird in ihr Gegenteil verkehrt. Analog zu anderen alttestamentlichen Erzählungen legt auch Gen 39,11 frei, dass die jeweiligen Machtinhaber_innen in ihrem Haus sind, während die ihnen Untergebenen einen Ortswechsel vollziehen und sich damit im Spannungsfeld von unterschiedlichen Machtbereichen bewegen. Grenzüberschreitend agiert insofern nicht das Subjekt
78 C. Westermann: Die Joseph-Erzählung, S. 39. 79 Ehebruch markiert im Horizont des Ersten Testaments wie auch in anderen antiken Religionen ein schwerwiegendes Delikt, welches sogar mit dem Tod bestraft werden kann. Vgl. H. J. Boecker: Die Josefgeschichte, S. 33.
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der sexuellen Handlung; Josef betritt den Bereich von Potifars Frau, der zum Raum von Sexualität wird.80 Die Binarität, die sich vielmals im Außen und Innen niederschlägt und Ersteres im Gegenüber zu Letzterem mit Gefahr konnotiert, wird unterlaufen. Das soziale Gefüge, welches das Haus beispielhaft widerspiegelt, zementiert buchstäblich die Status seiner Bewohner_innen und daran gekoppelt die Grenzen des Handelns sowie die Verfügbarkeit von Macht. Da Josef Bestandteil dieser Innenarchitektur ist, bietet sich ihm als Ausweg nur die Flucht nach draußen an, wo er entkleidet zurückbleibt. Im Horizont des Ersten Testaments gehören Nahrung und Kleidung »zu den Grundbedürfnissen, aber auch zu den Grundrechten des Menschen.«81 Wenn Figuren ihrer Kleider beraubt werden, erfolgt eine Bloßstellung, die symbolgeschichtlich überdies zwischenmenschliche Beziehungen tangiert. Entkleidet sein, Nacktsein kann mit Blick auf die Schöpfungserzählung zum Beispiel bedeuten, Unterscheidungen vorzunehmen, einander zu beschuldigen und letzthin entlarvt zu werden.82 Obzwar die Herrin das intendierte Ziel verfehlt hat, beraubt sie Josef seines Gewandes und damit zugleich seiner körperlichen Integrität. Die Macht hält sie in Form des Kleides im wahrsten Sinne weiterhin in ihren Händen.83 Dass in dieser Erzählung über den Vollzug sexualisierter Gewalt hinaus ethnische und soziale Differenzen aufgerufen und gewaltsam eingesetzt werden, wird deutlich, als Potifars Frau das vermeintliche corpus delicti den Leuten im Haus präsentiert: »Seht, da hat er uns einen hebräischen Mann hingebracht, dass er sich mit uns amüsiere. Schaut er ist zu mir gekommen, um sich zu mir zu legen, doch ich habe mit lauter Stimme gerufen. Sowie er hörte, dass ich meine Stimme erhob und schrie, ließ er sein Kleid bei mir liegen und floh und lief nach draußen« (Gen 39,14-15). Mithilfe der Personalpronomen wir und uns diktiert Potifars Frau ihrer Gefolgschaft eine exkludierende Haltung, in deren Zuge Josef, der Hebräer, von den Ägypter_innen abgegrenzt wird. Da die Inklusion der Exklusion zentralen Vorschub leistet,84 schließt sich Potifars Frau mit den Bediensteten zusammen: »Er hat uns einen hebräischen Mann hingebracht« (Gen 39,14). Die Flucht Josefs denotiert in räumlicher Perspektive sowohl eine wesentliche Grundlage für die Falschaussage der Frau als auch für die soziale Exklusion, die sich im Draußen räumlich manifestiert. Indem sie die sexuelle Nötigung mit
80 Siehe hierzu auch I. Müllner: Gewalt im Hause Davids, S. 104. 81 Früchtel, Ursula: Mit der Bibel Symbole entdecken, Göttingen 1991, S. 519. 82 Vgl. ebd., S. 521. 83 Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 182. 84 Siehe hierzu Noack, Winfried: Inklusion und Exklusion in der funktional differenzierten und globalisierten Gesellschaft, Berlin 2014, S. 9.
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der ethnischen Andersheit koppelt, konstruiert die Herrin ein Feindbild, das wie die Profilierung des ethnisch Differenten zugunsten einer Verschleierung klassenspezifischer Unterschiede bereits »seit dem Altertum […] zur Armatur des Antisemitismus und anderer Formen der Xenophobie gehört […].«85 Das Motiv einer bedrohlichen fremden Frau, welches aus Proverbien86 bekannt ist, wird innerhalb der erzählten Welt umgewendet in die Warnung vor dem fremden Mann.87 Die Gefahr, die sie angesichts des Hebräers postuliert, beansprucht die Hausherrin sodann nicht nur für sich selbst, sie gilt für das gesamte Haus. Und deshalb konstatiert Jürgen Ebach: »Wer an ihrer Darstellung zweifelte – und wäre es Potifar selbst – gehörte nicht mehr ›zu uns‹, sondern stellte sich auf die andere Seite, die des Fremden.«88 In der Opposition, die Potifars Frau generiert, wird die Vorstellung gesitteter Ägypter_innen im Bildnis der ungesitteten Hebräer_innen gespiegelt. Das Bewegungsverb (q. hineinkommen, hi. hineinbringen)89 suggeriert dabei nicht nur eigene Passivität. Es deutet ferner ein unerwünschtes Eindringen in die persönliche Sphäre sowie eine geografische Distanz an, welche die kulturelle Segregation legitimieren soll. Angezeigt durch Personalpronomen und Bewegungsverb weist Potifars Frau die Verantwortung für die Geschehnisse entsprechend der vermeintlichen sozialen Logik des Hauses ihrem Mann zu. Hatte die Herrin den sozialen Status gegenüber dem Personal wohl bewusst unkommentiert gelassen, bringt sie Josefs Leibeigenschaft im Gespräch mit Potifar offensiv vor. In den Worten »der hebräische Sklave […], den du uns hergebracht hast, […] wollte sich mit mir amüsieren« (Gen 39,17) beziehungsweise »dein hebräischer Diener« (Gen 39,19) vermengen sich, neben personalen Zuordnungen als Konsequenz einer strukturellen Gewalt, weitere Dimensionen von Gewalt. Die verbale Verletzung, die Josef in seiner Abwesenheit zugefügt wird, verläuft entlang unterschiedlicher Differenzlinien, welche von Potifars Frau aufgerufen werden und sich in Form symbolischer Gewalt niederschlagen. Gemeinsam ist den einzelnen, in der Rede
85 J. Ebach: Genesis 37-50, S. 183. 86 Siehe hierzu Maier, Christl: Die »fremde Frau« in Proverbien 1-9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie (= Orbis Biblicus et Orientalis, Band 144), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1995. 87 Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 183. Auf der Ebene der Rezeption kommt es nun wieder zur Warnung vor der fremden Frau. 88 Ebd., S. 185. 89 Siehe hierzu Fohrer, Georg/Hoffmann, Hans Werner (Hg.): Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zum Alten Testament (= De-Gruyter-Studienbuch), Berlin/New York 1997, S. 29.
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verschmelzenden Gewalthandlungen eine Praxis, die wesentlich in Abgrenzung und Verleumdung aufgeht. In einem System, in dem die Mächtigen ihre Macht aus strukturellen Gewaltverhältnissen absorbieren und symbolische Gewalt notwendiger Bestandteil der Ordnung ist, erscheint eine Widerständigkeit Potifars unmöglich: »Der ägyptische Herr kann nicht ungestraft lassen, was (vorgeblich) sein Sklave getan, was sein Sklave getan und was sein Sklave ihr getan hat.«90 Es mag erstaunen, dass Josef in der gesamten Angelegenheit stumm ist. Will er nicht reden oder wird er nicht gehört?91 Das Schweigegebot markiert eine Strategie sexualisierter und sexueller Gewalt;92 es reicht, wie ihre literarischen Produktionen bestätigen, bis in die Antike hinein. Im Ersten Testament bleibt erlittene sexuelle und sexualisierte Gewalt vielmals unausgesprochen oder aber ungehört – Dina, Tamar und Josef sind Beispiele hierfür: »[S]ie werden übertönt von den Stimmen derer, die über das Schweigen befehlen und die die Macht haben zu bestimmen, was gesagt und was erzählt werden darf.«93 Als Potifar nun vernimmt, was ihm seine Frau zu berichten hat, entbrennt sein Zorn. Da die Erzählstimme den_die Adressat_in der Wut nicht benennt, bleibt prinzipiell offen, wie Potifar die Situation bewertet. In der rezenten Auslegung der Erzählung dominiert diesbezüglich die Deutung, dass Potifar die Täuschung seiner Frau wohl registriert,94 angesichts möglicher Folgen jedoch auf eine detaillierte Untersuchung verzichtet. Motive hierfür könnten sowohl die Sorge vor einem Skandal sein als auch der Wunsch, seinen Diener vor einer harten Strafe zu bewahren.95 Schließlich wird Josef von seinem Herrn ergriffen und ins Gefängnis, genauer in das (Haus der Einschließung oder Haus der Run-
90 J. Ebach: Genesis 37-50, S. 185, Hervorh. im Original. 91 Siehe hierzu auch R. Lux: Josef, S. 108f. 92 Vgl. Müllner, Ilse: »Dargestellte Gewalt und die Gewalt der Darstellung. Narrative Figurationen in den Davidserzählungen«, in: Irmtraud Fischer (Hg.), Macht – Gewalt – Krieg im Alten Testament. Gesellschaftliche Problematik und das Problem ihrer Repräsentation (= Quaestiones disputatae 254), Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2013, S. 286-317, hier S. 297. 93 Bail, Ulrike: Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloh 1998, S. 23. Wo Figuren selber nicht sprechen, können sie in der Lektüre eine Stimme erhalten und gehört werden. Vgl. ebd., S. 24. 94 Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 186; F. W. Golka: Joseph, S. 86. 95 Vgl. R. Lux: Josef, S. 105.
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dung),96 überstellt. Im Anschluss an den weiteren Erzählverlauf ist der Kerker eine Zisterne (vgl. Gen 40,15), die in ihrer Beschaffenheit einem Grab gleicht, deren Boden je nach Wartung tief von Schlamm bedeckt wird.97 Anders als ein Grab hat eine Zisterne allerdings keinen seitlichen Zugang, sondern eine Öffnung, die steil von oben einfällt: »Wer einmal in sie hineingeraten ist, kann sich nicht mehr selber daraus befreien.«98 Neben den schier unerträglichen materiellen Bedingungen, die ihrerseits von hygienischen Missständen begleitet werden, muten auch die vorherrschenden Umgangsformen mit den Häftlingen alttestamentlicher Gefängnisse grausam und brutal an.99 Im Rahmen von Gen 39 folgt auf die vermeintliche Gewalttat eine räumliche Verlagerung, die den sozialen Abstieg Josefs anzeigt, ihn psychisch und physisch verletzt (vgl. Gen 39,20).100 Josef kommt ins Gefängnis; er wird unschuldig inhaftiert und für eine Handlung bestraft, die er nicht selbst ausgeführt hat, sondern die ihm widerfahren ist. Dennoch erscheint die Situation ausweglos: Im Kerker als geschlossenem, von der übrigen Gesellschaft isoliertem Raum erfolgt strukturelle Ausgrenzung par excellence. Josef ist eingeschlossen in einen Bereich, der nach außen abgesperrt ist.101 Die Möglichkeit, in Kontakt mit einem sozialen Umfeld zu treten, das ihn sehen und gegebenenfalls sichtbar machen kann, ist Josef verweigert. Der Gefangene verschwindet, er wird visuell102 und sozial unsichtbar. Das Gefängnis ist »die strengste Form der Exklusion«103 und
96
Siehe hierzu Molnár-Hídvégi, Nora: »Kerker«, http://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/23424/ vom 22.07.2014; G. Fohrer/ H. W. Hoffmann: Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zum Alten Testament, S. 187.
97
Vgl. Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 1996, S. 60f.
98
Ebd., S. 61.
99
Vgl. N. Molnár-Hídvégi: »Kerker«.
100 Das Gefängnis betrachtet J. Ebach als Bereich des weitläufigen Hauses und damit als Verfügungsgebiet von Potifar. Vgl. J. Ebach: Genesis 37-50, S. 186. 101 Siehe hierzu W. Noack: Inklusion und Exklusion in der funktional differenzierten und globalisierten Gesellschaft, S. 309. 102 Die visuelle Unsichtbarkeit tritt auch unter der Voraussetzung hervor, dass in den Kerkern mutmaßlich weitgehend Dunkelheit herrschte. 103 W. Noack: Inklusion und Exklusion in der funktional differenzierten und globalisierten Gesellschaft, S. 12.
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»[d]ie Isolierung, […] die erste Bedingung der totalen Unterwerfung[.]«104 Erneut ist es Josefs Umgebung, die sich unmittelbar mit seinem sozialen Status verschränkt und diesen durch strukturelle Ausgrenzung perpetuiert. Und so geht mit der räumlichen Unsichtbarkeit auch die soziale Auflösung einher.
S CHLUSS Soziale Gruppen wie zum Beispiel Sklav_innen »erhalten eine Statuszuweisung, die ihnen zwar die Inklusion in der Gesellschaft ermöglicht,«105 sie zugleich aber teilexkludiert. Einschließungen und Ausgrenzungen betreffen nicht nur den sozialen Status, sie beziehen andere Differenzkategorien gleichermaßen produktiv mit ein. Der vorliegende Beitrag hat die sozialen Verhältnisse, welche im Blick auf Potifars Haus heraustreten, nachgezeichnet und durch die Verortung der handelnden Figuren in Gen 39,1-20 veranschaulicht. Hierbei wurde evident, dass das Haus, entsprechend der Löw’schen Grundlegung, zentral durch die (An)Ordnung von Menschen und deren Handeln konstituiert wird106 und in diesem Sinne wandelbar ist. Wo Aspekte wie die Sozialstruktur mithin als grundlegende Bestandteile der Bausubstanz des Hauses anmuten, zeigt sich, dass graduelle Grenzüberschreitungen durchaus möglich sind: Josef findet Anerkennung und erhält die Aufsicht über das gesamte Haus. Wenn er infolge der sexuellen Nötigung nach draußen flüchtet, begründet sich die Gefahr, welche nunmehr vom Haus ausgeht, nicht in dessen Materialität. Vielmehr sind die Platzierungen und Verteilungsstrukturen, das Spacing der Figuren, konstitutiv: Josef ist mit Potifars Frau alleine im leeren Haus. Als Resultat von Spacing und Syntheseleistung entsteht systematisch ein neuer, ein gewaltsamer Raum, der sich in unterschiedlichen Ausprägungen vervielfältigt. Strukturelle, sexualisierte und symbolische Gewalt greifen im Rahmen der Erzählung ineinander, werden reproduziert und weisen letzthin den Weg zu einem Raum der totalen Ausgrenzung: dem Gefängnis. Die Frage, die dem Beitrag zugleich seinen Titel verleiht, ist im Zuge der Auslegung unterschiedlich beantwortet worden. Während in der Struktur des
104 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, in: ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a.M. 2013, S. 701-1019, hier S. 942. 105 W. Noack: Inklusion und Exklusion in der funktional differenzierten und globalisierten Gesellschaft, S. 12. 106 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 224.
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Hauses Differenz und Ungleichheit systematisch angelegt sind, unterwandern das soziale Handeln der Figuren und ihre Beziehungen diese Ordnung punktuell. Im Ergebnis führt die Verflechtung von Raum und Figuren dazu, dass die Klammer, welche hier symbolisch über In- und Exklusion entscheidet, zwar wirksam ist, nicht aber permanent.
Haushalt, Hörsaal, Freudenhaus Verflechtungen von Raum und Geschlecht im jüdischen Assimilationsdiskurs
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Der Roman Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart (1912) des deutschjüdischen Schriftstellers Selig Schachnowitz (1874–1952) beginnt mit einer Ankunft: »Es war ein trüber Nachmittag, als Samuel Maslow aus dem raucherfüllten Wagen vierter Klasse, in dem er volle 48 Stunden [...] quer durch den Nordosten des Deutschen Reiches gereist war, in das bunte, rauschende Leben des Bahnhofes trat. Müde und zerschlagen an allen Gliedern wie er war, zog den stillen Jüngling aus dem litauischen Städtchen das bunte, schreiende Leben doch mächtig an, und er vergaß für eine Weile Müdigkeit, Hunger und Sorge. Dann aber überkam ihn ein plötzliches Angstgefühl vor all dem Großen und Unbekannten, als könnte dieses gewaltig, stoßende Leben ihn, den kleinen, fremden Jungen, erdrücken, und er flüchtete so eilig, als es der Menschenandrang möglich machte, aus der Bahnhofshalle.«1
In diesem neo-orthodoxen Bildungsroman2 wird die Geschichte des jungen Juden Samuel Maslow erzählt; im Mittelpunkt stehen seine Bemühungen, sich dem
1
Schachnowitz, Selig: Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1912, S. 1.
2
Zum Entstehen des jüdischen Bildungsromans vgl. Hess, Jonathan: Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity, Stanford 2010, insbesondere die Einführung »When Rabbis became Novelists: The Emergence of Jewish Literature in Nineteenth-Century Germany«, S. 1-25.
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westeuropäischen Bildungsideal anzunähern. Zu Beginn seines Entwicklungsprozesses verlässt Samuel seine litauische Heimat, seine verwitwete Mutter und seine (unerfüllte) Jugendliebe Scheine. In einer namenlosen, modernen, westeuropäischen Großstadt angekommen, trifft er auf die jüdisch-religiöse Pädagogikstudentin Hilda. Während Samuel sich zwar intellektuell von Hilda angezogen fühlt, phantasiert er immer noch von Scheine, die inzwischen in Kiew ein zahnmedizinisches Studium aufgenommen hat. Scheine hat sich ebenfalls von der traditionellen Welt entfernt und sich in Sonja umbenannt. Obwohl Samuel ihr nach Kiew hinterher reist, wendet er sich schließlich entrüstet und angewidert von ihr ab, als er erfährt, dass sie neben ihrem Studium als Prostituierte arbeitet. Zurück in der westpreußischen Metropole promoviert er und wird zunehmend von Hildas religiöser Familie aufgenommen. Aber erst Sonjas Suizid öffnet Samuel gänzlich den Weg zu Hilda. Als er zudem vom Tod seiner Mutter erfährt, hält Samuel nichts mehr in Europa zurück. Der Roman endet mit Samuels und Hildas Auswanderung nach Palästina. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Verflechtungen von Raum und Geschlecht zur Untersuchung des Assimilationsdiskurses beitragen können. Die geläufige Meinung geht davon aus, Assimilation sei ein linearer Prozess, der auf die vollständige Übernahme einer ›neuen Identität‹ – entsprechend der Werte und Normen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft – unter gänzlicher Aufgabe der eigenen, ursprünglichen Identität einhergehe und somit auf Vereinheitlichung abziele. Die soziokulturelle Assimilation gestaltet sich aber entgegen dieser Annahme immer schon weitaus schwieriger, komplexer und vor allem widersprüchlicher, als es der reduzierte historische Begriff nahelegt. Eine Fokussierung auf die Verflechtungen der Kategorien Raum und Geschlecht vermag es, den in der historischen Forschung sehr oft diskutierten Assimilationsprozess des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert als mehrdimensionales, transkulturelles Phänomen zu lesen. Hierzu wird in diesem Beitrag Schachnowitz’ literarischer Text als Analysebeispiel herangezogen. Leitend sind für diese Analyse folgende Fragen: Inwieweit fungieren die unterschiedlichen, literarisch dargestellten geografischen Räume und figurativen Geschlechtskonstruktionen als Projektionsfläche für verschiedene ideologische Vorstellungen? In welchem Verhältnis stehen literarisch repräsentierte, narrative Raum- und Genderkonstruktionen sowie kulturelle Vorstellungen zueinander? Zur Kontextualisierung des Themas umreißt dieser Beitrag in einem ersten Schritt das Problem einer Definition des sozialen Assimilationsprozesses. In Anlehnung an aktuelle Assimilationstheorien seit den 1990er Jahren soll eine mögliche Annäherung an den Begriff der Assimilation über das Konzept der Transkulturalität unternommen werden. Anschließend zeigt der vorliegende Aufsatz,
H AUSHALT , H ÖRSAAL , F REUDENHAUS
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welche Rolle Raum- und Geschlechtskonstitutionen in Hinblick auf den Assimilationsprozess spielen und wie sie gegebenenfalls miteinander verknüpft werden können. Im zweiten Teil werden die theoretischen Überlegungen anhand einer Textanalyse einer näheren Betrachtung unterzogen. Dabei werden drei mögliche Implikationen des Assimilationsprozesses durchgespielt und hinterfragt: Die Erzeugung von Ambivalenz, die Herstellung von Differenz sowie die individuelle oder kollektive Mehrfachzugehörigkeit im Sinne der Transkulturalität.
A SSIMILATION UND T RANSKULTURALITÄT , R AUM UND G ESCHLECHT Assimilation ist ein schwer zu fassender Begriff.3 Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts fand der ursprünglich aus der Biologie stammende Assimilationsbegriff zunehmend Verwendung für die Beschreibung der vollständigen sozialen Angleichung einer Minorität an eine Mehrheitsgesellschaft, deren Verhalten, Werte und Normen.4 Die Frage danach, wie Assimilation als soziales Phänomen theoretisch erfasst werden kann und ob sie sich als Analysekategorie anbietet, wird bis heute kontrovers diskutiert.5 Generell wird, so die Soziologin Jutta Aumüller, im 20. Jahrhundert Assimilation meist als »eine historische Notwendigkeit in einem sozialen Evolutionsprozess«6 verstanden. Darüber hinaus ist das allgemeine Verständnis von Assimilation unweigerlich mit der Vorstellung eines Identitätswechsels verbunden, ein für jedes Individuum kaum zu bewältigendes Unterfangen: »Zentral ist hier das Argument der Aufgabe: von Wertehaltungen, der Muttersprache, des Gefühls der Zugehörigkeit.«7 Während in den USA insbesondere in der Migrationssoziologie der Assimilationsbegriff das ganze 20. Jahrhundert hindurch vielfach aufgegriffen und hin-
3
Bei einer Begriffsannäherung muss man zwischen einer soziologischen Konzeptualisierung und der Verwendung des Assimilationsbegriffs als Analysekategorie, wie beispielsweise in den Geschichtswissenschaften, unterscheiden, wobei beides unweigerlich eng miteinander verknüpft ist.
4
Vgl. hierzu u.a. Aumüller, Jutta: Assimilation. Kontroversen um ein migrationspoliti-
5
Vgl. hierzu ebenfalls Aumüllers Studie.
6
J. Aumüller: Assimilation, S. 32.
7
Ebd.
sches Konzept, Bielefeld 2009.
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terfragt wurde,8 steht im europäischen Raum vor allem die Geschichtswissenschaft dem Assimilationsbegriff mit Vorbehalt, wenn nicht gar mit Ablehnung gegenüber. Als Paradigma hierfür dient die ›jüdische Assimilation‹. Seit der Französischen Revolution wurde das Phänomen einer sozialen Assimilation in Europa zentral in Hinblick auf die bürgerliche Gleichstellung der Juden diskutiert. Ende des 18. Jahrhunderts verwob sich in Westeuropa die Idee einer rechtlichen Emanzipation der Juden mit der Forderung nach Assimilation, die sowohl innerhalb des europäischen Judentums als auch von der christlichen Mehrheitsgesellschaft9 das 19. Jahrhundert hindurch unterschiedlich und kontrovers diskutiert werden sollte. In den Jüdischen Studien gilt der Assimilationsbegriff aufgrund seiner polemischen Verwendung und der damit eng verknüpften historischen Folgen als problematisch.10 Darüber hinaus sind es vor allem die Vorwürfe einer vermeintlichen Linearität des Assimilationsprozesses sowie der damit einhergehenden ganzheitlichen Aufgabe des ›alten‹ Selbstverständnisses zugunsten einer ›neuen‹ Identität, die Assimilation als Begriff und als zu beschreibenden Prozess in der jüdischen Historiografie unbrauchbar erscheinen lassen.11
8
Gemeint sind hier einzelne Untersuchungen von Robert E. Park, die Studie von Eisenstadt, Shmuel: The Absorption of Immigrants, London 1954 oder Gordon, Milton M.: Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and National Origins, New York 1964. Vgl. J. Aumüller: Assimilation, S. 29.
9
Zum Verständnis der Juden als ›Minderheit‹ aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit vgl. Volkov, Shulamit: »Minderheiten und der Nationalstaat: Eine postmoderne Perspektive«, in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 13-31.
10 Vgl. dazu: »Es gehört zu den Gemeinplätzen der neueren Historiographie über die Geschichte der deutschen Juden, dass der Begriff der Assimilation nur mit Vorsicht zu verwenden sei. In der Regel gilt der Terminus weniger als ein analytischer denn als ein Kampfbegriff.« van Rahden, Till: »Verrat, Schicksal oder Chance: Lesearten des Assimilationsbegriffs in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden«, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 13/2 (2005), S. 245-264, hier S. 245. 11 Man versucht, sich mit dem Begriff der ›Akkulturation‹ zu behelfen, wobei dieser, wie Milton M. Gordon und Paula E. Hyman betonen, nur einen Teil des Assimilationsprozesses beschreibt und nicht notgedrungen zu Assimilation führt: »It need hardly be pointed out that while acculturation […] does not necessarily lead to structural assimilation, structural assimilation inevitably produces acculturation.« M.M. Gordon: Assimilation in American Life, S. 81.
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Die analytische Unschärfe, die dem Assimilationsterminus stets vorgeworfen wird, beinhaltet für die Literatur- und Kulturwissenschaft jedoch großes Potenzial. Zahlreiche Texte zur ›jüdischen Assimilation‹ – seien es literarische, journalistische oder programmatische Texte – bieten eine schillernde Vielfalt an unterschiedlichen und widersprüchlichen Lesarten und Verständnissen des Assimilationsbegriffs. Mit dieser begrifflichen Ungenauigkeit entsteht einerseits die Gefahr einer polemischen Aufladung und Instrumentalisierung des Begriffs, wie man sie vor allem im Kontext der Geschichte des europäischen Judentums beobachten kann. Dies mindert andererseits jedoch nicht das Interesse an der Frage, wie Assimilation in unterschiedlichen Kontexten historisch verstanden wurde, zumal der Begriff Assimilation in Hinblick auf die Angleichung, Integration und Verbürgerlichung der Juden im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in vielen Texten häufig verwendet wurde. Es soll demnach in diesem Beitrag nicht darum gehen, in der Textanalyse mit einem festgelegten Assimilationsbegriff vorzugehen, sondern es soll vielmehr eine mögliche Lesart der Assimilation vorgestellt werden. Dass der Assimilationsprozess keinesfalls als reibungslos verlaufender Identitätswechsel zu betrachten ist, veranschaulicht der Soziologe Zygmunt Bauman am Beispiel der ›jüdischen Assimilation‹ im 19. Jahrhundert, die Bauman zur Beschreibung des Verhältnisses von Moderne und Ambivalenz dient. Für Bauman ist die Moderne das Zeitalter des Kategorisierens und des Klassifizierens. Dabei entsteht Ambivalenz – das Unvermögen, »einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen«12 – stets als Nebenprodukt des Klassifikationsprozesses und verlangt deshalb »nach immer mehr Bemühen um Klassifikation.«13 Mit dieser Beobachtung verknüpft Bauman das Projekt der ›jüdischen Assimilation‹. Denn Assimilation soll vereinheitlichen und Eindeutigkeit schaffen. Doch der Assimilationsprozess generiert eben immer auch Ambivalenz in Form einer inbetween-ness, ein Zustand des Dazwischen-Seins, den Bauman als conditio judaica beschreibt.14 Im Augenblick einer scheinbar hergestellten Einheitlichkeit generiert Assimilation aber nicht nur neue Ambivalenzen, sondern auch neue Differenzen. Vor allem das grenzüberschreitende und restruk-
12 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, S. 11. 13 Ebd., S. 14. 14 Ein Zustand, den Homi Bhabha mit dem prominenten »almost the same, but not quite« für die postcolonial theories festhält. Vgl. Bhabha, Homi K.: »Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse«, in: ders., The Location of Culture, London/New York 1994, S. 121-131, hier S. 127f.
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turierende Moment der Assimilation muss mitgedacht werden. Bernhard Waldenfels beschreibt das Phänomen einer sich neu strukturierenden Ordnung als einen Prozess, in dem das Fremde sich ebenfalls neu äußert: »Mit dem Wandel der Ordnung wandelt sich auch das Fremde, das so vielfältig ist wie die Ordnungen, die es übersteigt und von denen es abweicht. [...] Die Grenzzonen, die sich zwischen den Ordnungen und jenseits der Ordnung ausbreiten, sind Brutstätten des Fremden.«15 Anstatt einer Vereinheitlichung generiert Assimilation also paradoxerweise ein ›neues‹ Fremdes. Assimilation kann demzufolge geradezu als ein Phänomen des Othering verstanden werden, als ein Entstehungsprozess neuer Demarkationslinien, wie es sich exemplarisch bei der Konstruktion des Stereotyps des sogenannten ›Ostjuden‹ im Verlauf des 19. Jahrhunderts feststellen lässt. Allerdings bilden Ambivalenz und Differenz als ›Produkte‹ des Assimilationsprozesses nur einen Teil eines vielschichtigen, komplexen Assimilationsverständnisses. In diesem Beitrag soll neben Ambivalenz und Differenz ein weiterer Aspekt herausgearbeitet werden: Assimilation als transkulturelles Phänomen.16 Assimilation wird damit als ein Phänomen konzipiert, das über Angleichungsprozesse anstatt eines linear verlaufenden Identitätswechsels Mehrfachzugehörigkeiten ermöglicht, die sich sowohl auf sozio-kultureller Ebene wie auch in literarischen Texten beobachten lassen. Dies wird im zweiten Teil dieses Aufsatzes anhand von Schachnowitz’ Roman deutlich werden. Diese zunächst paradox erscheinende Beobachtung zur Konvergenz von Assimilation und Transkulturalität knüpft an neuere Assimilationstheorien seit den 1990er Jahren an. Solche Theorien zielen darauf ab, Heterogenität, Differenz sowie mehrfache Zugehörigkeiten eines Individuums oder einer Gruppe im Assimilationsprozess mitzudenken, ohne dabei den Erfolg des Assimilationsprozesses infrage zu stellen: »Assimilation wird nicht mehr auf eine homogene Mehrheitsbevölkerung oder ›Kernkultur‹ bezogen, sondern erkennt die Vielfältigkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge an.«17 Rogers Brubaker definiert Assimilation als einen transgressiven Prozess »from one mode of heterogeneity
15 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006, S. 15. 16 An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Anne Mariss und Ariane Totzke bedanken, die mich beide – unabhängig voneinander – auf die mögliche Verknüpfung meiner Überlegungen und Beobachtungen mit dem Konzept der Transkulturalität hingewiesen haben. 17 J. Aumüller: Assimilation, S. 88.
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[...] to another mode of heterongeneity [...].«18 Die Soziologen Richard Alba und Victor Nee sehen das Ergebnis eines solchen Assimilationsprozesses in einer sogenannten composite culture. Damit beschreiben sie ein Konzept, »wonach Kultur durch die wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher kultureller Praktiken und Vorstellungen entsteht und durch die Inkorporation neuer Gruppen in einem ständigen Wandel begriffen ist.«19 Damit knüpfen die neueren Assimilationstheorien an Konzepte der Transkulturalität an, die in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum von Wolfgang Welsch geprägt wurden. Von diesem Konzept versprechen sich die Kultur- und Literaturwissenschaften, Durchdringungen und Verflechtungen verschiedener Kulturen zu berücksichtigen,20 »weil Kultur heute – so die Behauptung – de facto derart permeativ und nicht separatistisch verfasst ist.«21 Welsch hält dieses Konzept in der Lage, die Spannung zwischen den dichotomen Bildern des ›Selbst‹ und des ›Anderen‹ auflösen zu können,22 was wiederum zur ursprünglichen Intention des Assimilationsprozesses zurückführt. Doch so uneinheitlich und widersprüchlich Assimilation als Begriff und als Prozess auch sein mag, so muss ihr eine katalysatorische Wirkung zugesprochen werden. Assimilation stellt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Frage nach Rollenzuschreibungen und Machtverhältnissen in Bezug auf Juden und Nicht-Juden, Männer und Frauen neu. Diese tiefgreifenden Umbrüche im Kontext des Assimilationsdiskurses finden ab Mitte des 19. Jahrhunderts prominent Eingang in die Literatur: In zahlreichen jüdischen Entwicklungs- und Bildungsromanen werden unterschiedliche Assimilationsgeschichten erzählt. Die Überschreitungen sozialer, ideologischer und religiöser Grenzen werden in diesen Texten stets mit dem Überschreiten geografisch-räumlicher Grenzen sowie mit Mobilität verknüpft. Auch in Schachnowitz’ Roman sind bis auf wenige Ausnahmen fast alle Figuren stets in
18 Brubaker, Rogers: »The Return of Assimilation? Changing Perspectives on Immigration and its Sequels in France, Germany, and the United States«, in: Ethnic and Racial Studies 24 (2001), S. 531-548, hier S. 543. 19 J. Aumüller: Assimilation, S. 92. 20 Vgl. Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, S. 7-21, hier S. 7. 21 Vgl. Welsch, Wolfgang: »Was ist eigentlich Transkulturalität?«, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld 2012, S. 25-40, hier S. 26. 22 Vgl. ebd.
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Bewegung; sie sind auf der Ein-, Aus- oder Durchreise, im Auf- oder im Umbruch. Assimiliationsnarrative sind also eng mit der literarischen Wahrnehmung von Raum verbunden. Laut Wolfgang Hallet und Birgit Neumann erfahren »[k]ulturell vorherrschende Normen, Wertehierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem [...] im Raum eine konkret anschauliche Manifestation. Räume in der Literatur, das sind menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken.«23
Demnach vermögen Raumkonstruktionen in der Literatur »bestehende Machtverhältnisse« sowie ihre Veränderungen widerzuspiegeln und gegebenenfalls zu verfestigen.24 Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit diese unterschiedlichen geografischen Räume als Projektionsfläche für unterschiedliche ideologische Vorstellungen dienen und vor allem in welchem Verhältnis literarische Raumkonstruktionen und sozio-kulturelle Raumvorstellungen zueinander stehen. Dieses Verhältnis ist komplex. Man muss zwischen dem Raum als Produkt sozialen Handelns im Sinne Henri Lefebvres25 und ästhetisch konstruierten Räumen unterscheiden. Literarisch konstruierte, ästhetische Räume vermögen zwar sozial konstruierte Räume zu reproduzieren, gleichzeitig ist aber der Literatur die Möglichkeit gegeben, »die kulturellen Normen- und Wertehierarchien, die sich in Raummodellen manifestieren, umzucodieren«26 und damit auch veränderte Räume zu konstituieren. Der Raum als kultureller Bedeutungsträger, der auf inhaltlicher Ebene soziale Gefüge und Handlungen widerspiegelt, ist gleichzeitig aufs Engste verknüpft mit konstruierten Geschlechterrollen. Raum ist, so die Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi, stets »von Geschlechterdichotomien geprägt, die
23 Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11-32, hier S. 11. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. dazu: »(Social) space is a (social) product.« in: Lefebvre, Henri: The Production of Space, übers. v. Donald Nicholson-Smith, Oxford, UK/Cambridge, Massachusetts 1991, S. 26. 26 W. Hallet/B. Neumann: »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 17.
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im Text normativ gesetzt [...] werden.«27 Michiko Mae betont, dass Geschlecht als sozio-kulturelles Konstrukt »sich stets wandelnden Kontexten« unterliegt. Dementsprechend gelte es, den Formierungsprozess von Gender nicht gesondert zu betrachten, »sondern nur in seinem Wechselbezug zu anderen gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren«,28 wie beispielsweise der Assimilation, die festgelegte soziale Rollenzuschreibungen aufbricht und ebenfalls über Raumdarstellungen ihren Ausdruck erfährt. Das Ziel dieses Aufsatzes, eine exemplarische Analyse der Verflechtung von Raum und Geschlecht in Hinblick auf den Assimilationsdiskurs, bietet sich im Kontext der referierten theoretischen Modelle also geradezu an. Denn sowohl Raum- als auch Genderkonstruktionen – so Paula E. Hymans Einschätzung – »can reshape our understanding of both assimilation in modern Jewish history and the meanings that Jews have attached to assimilation.«29 Die Verschränkung der Kategorien Raum und Geschlecht soll nun als Instrumentarium dienen, unterschiedliche Assimilationsvorstellungen im Roman Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart (1912) von Selig Schachnowitz aus dem Text herauszukristallisieren. Dreh- und Angelpunkt dieser Lektüre ist das Verhältnis des Assimilationsprozesses zum traditionellen Judentum und zur Religion. Dabei werden verschiedene Gender- und Raumkonstruktionen deutlich, die Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Verständnisse von Assimilation zulassen.
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Selig Schachnowitz’ Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart ist ohne den historischen Kontext jüdisch-religiöser Transformationsprozesse sowie jüdischer Migration um die Jahrhundertwende nur schwer erschließbar. Im Zuge der Aufklärung in Europa fand ein Umbruch im jüdischen Denken statt. Aufgrund der zunehmenden Angleichung an die christlich geprägte, bürgerliche Gesellschaft
27 Lezzi, Eva: »Liebe ist meine Religion!« Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 134. 28 Mae, Michiko: »Auf dem Weg zu einer transkulturellen Genderforschung«, in: dies./Britta Saal (Hg.), Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht (= Geschlecht und Gesellschaft, Band 9), Wiesbaden 2007, S. 37-52, hier S. 37. 29 Hyman, Paula E.: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women, Seattle/London 1995, S. 13.
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setzten sich zahlreiche Rabbiner mit der Frage auseinander, ob und wie die jüdische Religion zu reformieren sei. In den Debatten zeigte sich ein doppeltes Spannungsverhältnis: das der Säkularisierung, das heißt der Konkurrenz zwischen Tradition und Moderne, sowie das der Assimilation an eine Gesellschaft und deren politisches Umfeld mit (bereits) modernisierter christlicher Religion im Gegensatz zur eigenen jüdisch-religiösen Praxis.30 Diesbezüglich erachtete es die im 19. Jahrhundert entstehende Neo-Orthodoxie als einzige Möglichkeit, sich lediglich säkularen Bildungsmodellen zu öffnen, jedoch gleichzeitig auf einer unveränderten jüdisch-traditionellen Religionspraxis zu beharren. Dass sich die Neo-Orthodoxie aber den durch die Moderne bedingten religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen nicht gänzlich entziehen konnte, beweist allein die Entstehung des sogenannten neo-orthodoxen Romans. Das neu gewählte Medium in Form der Belletristik, das auf einen »Bruch mit traditionellen Formen religiöser Wissensvermittlung«31 hinweist, wurde zu einem »ästhetisch selbstbewusste[n] Austragungsort der innerjüdischen Transformationsprozesse [...].«32 Ein einschlägiges Beispiel für diese Prozesse ist das Werk des neo-orthodoxen Autors Selig Schachnowitz (geboren 1874 in Georgenburg, Litauen, gestorben 1952 in Zürich). Der zum orthodoxen Rabbiner ausgebildete Schachnowitz war ab 1901 als Lehrer, Kantor und Rabbiner in Endingen (Schweiz) tätig, in Zürich studierte er zur gleichen Zeit Geschichte und Philosophie. In seinen journalistischen Artikeln als Chefredakteur bei der orthodoxen Zeitschrift Der Israelit und vor allem in seinen historischen Romanen propagierte Schachnowitz die Vorstellung »einer Zusammenführung der östlichen und westlichen Ortho-
30 Vgl. hierzu u.a. Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik. Band 3: Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2009, oder Schulte, Christoph: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002. 31 Lezzi, Eva: »Neoorthodoxe Belletristik. Kanonerweiterung und didaktische Herausforderung für deutsch-jüdische Literaturstudien«, in: Ines Sonder/Irene A. Diekmann/u.a. (Hg.), »... und handle mit Vernunft«. Beiträge zur europäischjüdischen Beziehungsgeschichte. Festschrift zum 20jährigen Bestehen des Moses Mendelssohn Zentrums, Hildesheim 2012, S. 263-281, hier S. 265. 32 Kreienbrink, Anja: »›Unglücklich muß enden, was der göttlichen Ordnung zuwiderläuft‹ – Ehekonzeptionen in der neo-orthodoxen Belletristik«, in: MEDAON. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 7/12 (2013), S. 1-14, hier S.1, http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_12_Kreienbrink.pdf vom 12.10.2013.
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doxie, der Verschmelzung von orthodox observanten Religionspraktiken und modernen Anforderungen« in einer sich säkularisierenden Welt. 33 Das Setting des Romans Luftmenschen ist neben wenigen Passagen im östlichen Schtetl und in der Stadt Kiew vornehmlich eine preußische Großstadt, vermutlich Berlin. Die nachhallenden religiösen Fragen nach möglichen Formen eines modernen Judentums werden in dem Roman nicht nur säkular-jüdischen Identifikationsmöglichkeiten gegenüber gestellt, sondern auch mit zeitgenössischen Herausforderungen der Migration osteuropäischer Juden in der Metropole Berlin verknüpft. Das Bild der Großstadt wird in den zahlreichen jüdischen Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts häufig als brüchiger Raum erträumter Bildung, Erkenntnis und Assimilation stilisiert, nach der religiöse Jugendliche, eben meist aus dem Osten Europas stammend, lechzen und streben.34 So auch die Figur Samuel Maslow: »›Lernen,‹ sagte er auf die Frage des Rabbi, was er in der Großstadt zu unternehmen gedenke. Und der Alte kannte nur ein Lernen, Thoralernen. Und so schrieb er den [Empfehlungs-]Brief. Und er, der Bachur [hebr. ›Jüngling‹], ließ es ruhig geschehen, wiewohl er an ein anderes Lernen dachte, andere Wege und andere Ziele in der Großstadt suchte.«35
Die erträumte, zivilisierte Großstadt des Westens bietet Samuel ein ganzes Spektrum vielfältiger Identifikationsmöglichkeiten: Diese Identifikationsoptionen werden an unterschiedlichen jüdischen Figuren durchgespielt, wie beispielsweise an einem Zionisten, einem Kommunisten oder einem leidenschaftlichen Verfechter der Aufklärung. Aufgrund der neo-orthodoxen Ausrichtung von Schachnowitz’ Roman ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil dieser Figuren an politisch-säkularen Ideologien scheitert, stirbt oder im Gefängnis endet. Die Mobilität Samuels zwischen Ost und West, Schtetl und Großstadt, Tradition und Moderne ist eng verknüpft mit drei Frauenfiguren, die ›Wegweiser‹ zu sein scheinen und die jeweils ideologisch konnotiert sind. Zwar sind drei männliche Figuren für Samuels säkulare Bildung maßgeblich verantwortlich, doch
33 Vgl. Jaworski, Sylvia: »Selig Schachnowitz«, in: Andreas B. Kilcher (Hg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2012, S. 445-447, hier S. 445f. 34 Dieses Phänomen muss aber unterschieden werden vom antisemitischen Stereotyp des ›urbanen Juden‹, das seit dem 19. Jahrhundert verwendet wurde. Vgl. hierzu Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822-1938 (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Band 2), Göttingen 2005. 35 S. Schwachnowitz: Luftmenschen, S. 5.
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sind es Samuels Mutter, Scheine/Sonja und Hilda, die entscheidenden Einfluss auf Samuels selbst initiiertes, assimilatorisches Unternehmen und seine Identitätsbildung nehmen. Im Unterschied zu den Männerfiguren sind diese drei Frauenfiguren mit dem Protagonisten Samuel über verschiedene Formen der Liebe und des Begehrens verbunden. Liebe und Begehren – sowie damit verknüpfte Reaktionen aus Enttäuschungen, Wut oder Trauer – liefern meist den grundlegenden Impuls für Samuels Entscheidungen.36 Im Folgenden sollen anhand der drei weiblichen Figuren die zuvor vorgestellten, unterschiedlichen Lesarten der Assimilation im literarischen Text herausgearbeitet werden: Die Mutterfigur dient zur Hervorhebung der Ambivalenz im Sinne Baumans, während mit der Figur Scheine/Sonja der differenzerzeugende Charakter der Assimilation herausgearbeitet werden kann. Die Figur Hilda trägt exemplarisch zu einer Lesart der Assimilation als transkulturelles Phänomen bei. Samuels Mutter und die Ambivalenz jüdischer Identität in der Moderne Samuels Mutter verkörpert die jüdische Religion in ihrem vormodernen Zustand. Sie ist eng mit dem Schtetl verbunden und eine der wenigen Figuren, die an Ort und Stelle bleibt und keinerlei Entwicklung durchmacht. Die Mutter kann als Hüterin traditioneller, rückständiger Praktiken und Weltanschauungen gelesen werden. In ihren Briefen ermahnt sie Samuel wiederholt: »[H]alte zu Gott und seinem heiligen Gesetze und vergiß deine alte Mutter nicht ...«37 Als Samuel für kurze Zeit ins Schtetl zurückkehrt, wird seine Transformation zum westeuropäisch aufgeklärten Juden und die damit einhergehende Unmöglichkeit der Rückkehr an drei Stellen deutlich: Zum einen verfügt Samuel nicht mehr über einen gültigen Pass. Dieser Umstand, eine Ausdrucksform der Identitätslosigkeit, 38 fällt ihm erst am Grenzübergang auf, »gleich an der Schwelle der Heimat«,39 so dass ihm die Einreise in die Heimat nur über falsche Papiere und korrupte Beamte
36 Zum Liebes- und Begehrensdiskurs in der deutschsprachigen jüdischen Literatur – wenn auch dezidiert mit dem Fokus auf interreligiöse Beziehungen im 19. Jahrhundert – vgl. E. Lezzi: »Liebe ist meine Religion!«. 37 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 55. 38 Diese Beobachtung stammt von meinem Kollegen Jörg Marquardt (ETH Zürich). Die Verbindung fehlender Ausweispapiere und einer Identitätslosigkeit untersucht er in einem Kapitel zu Joseph Roth innerhalb seines Dissertationsprojekts Assimilation. Poetik und Semantik einer deutsch-jüdischen Erzählung 1800-1939. 39 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 94.
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ermöglicht wird. Außerdem erkennt seine Mutter ihn nicht, als Samuel endlich das Elternhaus im Schtetl erreicht; zu sehr hat er sich bereits in Sprache, Kleidung und Benehmen verändert.40 Darüber hinaus fällt der Mutter sogleich auf, dass Samuel sich von den jüdischen Religionspraktiken distanziert haben muss, da er kein Gewand mit sogenannten Zizit (Schaufäden) mehr besitzt, das im Judentum gemäß Numeri 15, 37-41 vom Mann täglich getragen werden und an die Einhaltung religiöser Pflichten erinnern soll. Samuel stammt nicht nur biologisch von seiner Mutter ab, sie symbolisiert auch seine religiöse Herkunft, wird im Judentum die Religionszugehörigkeit doch über die Mutter weitergegeben. Die Statik und Unveränderbarkeit der Mutterfigur sowie des beschriebenen Schtetls bedingen sich gegenseitig; in ihrer Verschränkung generiert der Text einen »engen, abgeschlossenen Raum, jenseits der Welt, wo er [Samuel] seine Erziehung genossen, die Ideenvertretung so wenig wie die Menschenvertretung gelernt [hatte].«41 Aus diesem einengenden, dunklen Raum des östlichen Schtetls und der im Text als unzeitgemäß kritisierten Religionspraxis, die beide keiner Veränderung und keinen äußeren Einflüssen unterliegen, möchte Samuel sich befreien. Die Konfrontation mit der Mutter, dem Schtetl und der religiösen Herkunft zeigt Samuels assimilatorische Transformation als ein Unterfangen, das von einer Ambivalenz im Sinne Zygmunt Baumans begleitet wird. Samuel ist, wie sich am Ende des Romans zeigt, weder in der säkularisierten, aufgeklärten, ›westlichen‹ Welt angekommen, noch kann er sich gänzlich von seiner religiösen Herkunft lösen. Er befindet sich in einem Zustand des Dazwischen-Seins und entspricht damit der Figur des jüdischen Assimilanten im Bauman’schen Verständnis, der nicht eindeutig zuzuordnen, sondern stets ambivalent ist. Widersprüchlich erscheint außerdem das durch die Mutter verkörperte religiös-traditionelle Judentum. Diese Form des Judentums vermag den Anforderungen der Moderne nicht gerecht zu werden und doch wurzelt jede Weiterentwicklung, die das Judentum in der Moderne durchmachen soll, in ihr. Obwohl Samuel in der zivilisierten Großstadt nicht mehr religiös-observant lebt, bleibt die Verbindung zum Judentum über seine Mutter bestehen. Mit der Nachricht ihres Todes sieht Samuel sich gänzlich losgelöst von Europa. Der Tod der Mutter (»Aber nun, da auch die Mutter gestorben und jetzt auch alle Stützen hier brechen ...«42) steht symbolisch für die Loslösung Samuels von der Zugehörigkeit zum traditionellen Judentum, das keinerlei Erweiterung durch Wissenschaft und
40 Vgl. ebd., S. 100. 41 Ebd., S. 54. 42 Ebd., S. 210.
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Bildung duldet. Durch Samuels Auswanderung nach Palästina am Ende des Romans wird das sich gegen jegliche Änderungen sträubende, traditionelle Judentum zum überholten, der Vergangenheit angehörenden Identitätskonzept. Erst die Ausreise nach Palästina scheint auch ein Ausweg aus dieser Ambivalenz zu sein. Von der Ambivalenz zur Differenz: die Jugendliebe Scheine/Sonja Ebenso mit Samuels heimatlichem Schtetl verbunden ist das junge Mädchen Scheine. Zu Beginn des Romans imaginiert Samuel sich Scheine als eine statische, unschuldige Person, die unmündig und unselbstständig auf seine Rückkehr wartet. Bei ihrem Aufeinandertreffen in Kiew aber erscheint sie ihm »groß und schlank [...] im einfachen geschmackvollen Gewande zierlich und biegsam wie eine Gazelle«,43 wobei »die Formen und Linien ihres Körpers [nichts] mehr von dem kleinen neckischen Mädchen im weißen Steinerhaus von damals« 44 verraten. Samuel ist entsetzt, als er von einem befreundeten Polizisten erfährt, dass Sonja, wie sie sich nun nennt, mithilfe eines sogenannten roten Zettels in Kiew weilt: »Sonja Matessewitsch Feinstein hat ihr Aufenthaltsrecht hier auf Grund des roten Zettels ... Ich dachte, du wüßtest es. Dirnen haben hier unbeschränktes Wohnrecht, auch wenn sie jüdischer Konfession [sind] ...«45 Bezeichnenderweise ist es ein mittlerweile konvertierter Jude, der ehemalige Anhänger der deutschen Aufklärung namens Mandes (»einer von denen, die sich anpassen«46), den Samuel noch aus der preußischen Großstadt kennt und der in seiner Funktion als Polizist Sonjas Prostitution polizeilich erfasst. Der Text dekonstruiert mit der Wandlung Sonjas zur Prostituierten die angestrebte säkulare Form der Assimilation in zweierlei Hinsicht. Erstens als ideal imaginierte Assimilation: Samuel stellt sich Sonja nicht nur als Idealbild einer Frau vor. Durch ihre Hingabe an Bildung und Wissenschaft – die auch durch ihrer Namensänderung in Sonja, die Weise, betont wird – erhofft sich Sonja eine Angleichung an die russische Gesellschaft. Sie entspricht damit der idealen Verkörperung von Assimilation, wie sie Samuel selbst anstrebt. Er begehrt Sonja nicht nur körperlich, sie bildet auch eine Projektionsfläche für seine intellektuel-
43 Ebd., S. 124. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 148. 46 Ebd., S. 40.
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len Assimilationsphantasien. Dieses Begehren findet ein jähes Ende, als er von Sonjas Prostitution erfährt. Zweitens als real manifestierte Assimilation: Trotz Studium, Abkehr vom religiösen Judentum und Annahme eines neuen Namens wird die jüdische Assimilation in ihrer säkularsten Form als nicht gesellschaftsfähig erachtet. Die gesellschaftliche Aufnahme wird nur scheinbar gewährt. Just im Moment eines vermeintlich gesellschaftlichen Aufstiegs wird Sonja degradiert, marginalisiert und zum Objekt männlicher Phantasien. Sowohl Assimilation – und zwar diejenige, die eine vollständige Aufgabe der jüdischen Religion vorsieht – als auch Prostitution werden zu einer »kulturelle[n], zivilisatorische[n] Bestimmtheit, ein Makel, der den betreffenden Personen unauslöschlich anhaftet, ein Stigma, das sie unter das Zeichen eines unentrinnbaren Schicksals stellt.«47 Aufgrund dieses Stigmas als Prostituierte und als Assimilierte wird Sonja jegliche Rückkehr in die Gesellschaft und zum gesetzestreuen moralischen Judentum verweigert. Sonja ist sich ihrer aussichtlosen Situation bewusst und begeht Selbstmord. Über die Figur der Prostituierten wird zudem das Spannungsverhältnis zwischen rückständiger Tradition, aus der Sonja wie auch Samuel stammen, und desaströser Säkularisierung beschrieben, deren sittliche Auflösung im Text über den Selbstmord Sonjas vollzogen werden soll. Sonja scheitert am zuvor beschriebenen, modernen jüdischen Dilemma, in der Gesellschaft keine Aufnahme als Jüdin zu finden und gleichzeitig in der traditionellen jüdischen Gemeinschaft fremd zu sein. Dennoch geht die Darstellung der Figur Sonja noch einen Schritt weiter: Ihr Assimilationsweg beinhaltet nicht nur die zuvor beschriebene Ambivalenz; sie wird als Jüdin und als Frau marginalisiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Assimilation führt auch hier nicht zu einer Vereinheitlichung, sondern offenbart neben der entstehenden Ambivalenz vielmehr ihren differenzerzeugenden Charakter. Die hervortretenden Machtstrukturen in Form eines gesellschaftlichen, gewaltsamen Ausschlusses zeugen von einer durch Assimilation neu hervorgerufenen beziehungsweise sich verändernden Ordnung, die insbesondere in der dargestellten östlichen Großstadt ihre vollste Entfaltung findet. Die östliche Großstadt wird als moralloser Sumpf – beherrscht von Prostitution, Korruption und antisemitischen Pogromen – gezeichnet, in der Religion und jegliche Form einer erfolgreichen Assimilation unmöglich sind. Fluchtartig verlässt Samuel »die Stadt der Schrecken«48 und kehrt zurück in die preußische Großstadt.
47 Schmidt, Dietmar: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur (= Rombach Wissenschaften Reihe Litterae, Band 54), Freiburg im Breisgau 1998, S. 12. 48 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 165.
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Hilda und der transkulturelle Ausweg der Assimilation Dem stereotyp morallosen, chaotischen, ja ›gefährlichen‹ Osten wird der geordnete, zivilisierte Westen mit der Figur Hilda entgegen gestellt. Sonja und Hilda könnten unterschiedlicher nicht sein. Mit ihren dunklen Augen und Haaren ist Sonja der Inbegriff der in Kunst und Literatur weit verbreiteten ›schönen Jüdin‹.49 Ihre orientalisch anmutende Darstellung ist eng verknüpft mit dem Bild des dunklen Ostens. Hilda hingegen ist blond, rosig und wohlbeleibt: »Es war nicht gerade blendende Schönheit, mit der es [Hilda] sein Herz gewann, sondern einzig die anmutige und ungezwungene Art, wie es sich gab; diese Natürlichkeit hatte er hinter dem stolzen strahlenden Aeußeren der Damen in den Straßen dieser Stadt nicht geahnt.«50 Während Sonja Samuel mit ihrer Schönheit betört, ist es Hildas einfühlsame, natürliche Art und ihr Wissen, die Samuels Interesse wecken. Hilda wird im Text als selbstständig und zielstrebig beschrieben. Sie absolviert das Lehrerinnenexamen und führt Samuel sowohl zu pädagogischen Überlegungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Judentum als auch zur Neo-Orthodoxie, die in der Verschmelzung von traditioneller jüdischer Religionspraxis und säkularer Bildung und Wissenschaft keinen Widerspruch, sondern die einzig mögliche Form moderner jüdischer Identität sieht. Neben Hildas selbstständigem Gemüt wird besonders ihr Empathievermögen, ihr »warm mitfühlendes Herz«51 im Text hervorgehoben. Es ist die harmonisch wirkende Mischung aus Wissen, Gelehrsamkeit, Häuslichkeit, Natürlichkeit, Gefühl, und vor allem Religiosität, die in diesem Frauenkonzept zusammenläuft und die laut Paula E. Hyman zu den Hauptcharakteristika der assimilierten jüdischen Frau Westeuropas im 19. Jahrhundert gehört. Hyman beschreibt das Phänomen, dass im Assimilationsprozess der jüdische Mann zunehmend in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft im öffentlichen und säkularen Raum seine Position bezog, der jüdischen Frau wiederum gemäß der Rollenaufteilung des sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Bürgertums52 die Pflichten im Haus-
49 Vgl. hierzu Krobb, Florian: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (= Condition Judaica: Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, Band 4), Tübingen 1993. 50 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 57f. 51 Ebd., S. 167. 52 Vgl. dazu: »They based their activity upon the modern expectation that women would serve as the primary inculcators of Jewish consciousness in children, just as Western
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halt sowie die religiöse und moralische Erziehung der Kinder zufielen: Die assimilierte jüdische Frau übernimmt damit einen Bereich, der bis dahin im traditionell orthodoxen Judentum dem Mann oblag.53 Auch wenn Hilda ihre erzieherische Pflicht durch ein wissenschaftliches Studium der Pädagogik erweitert, entspricht sie in ihrer Religiosität dem von Hyman gezeichneten Frauen-Bild: »The comparatively high degree of religiosity of assimilated Jewish women is thus, in itself, a female form of the project of assimilation.«54 In Anbetracht dessen kann die Figur Hilda nicht als Gegenentwurf zur Assimilation gelesen werden, wie man es in einem neo-orthodoxen Roman annehmen würde; sie stellt vielmehr eine andere Form der Assimilation dar, als diejenige, wie sie beispielsweise über die Figur Sonja verhandelt wird. In Hilda vereinen sich bildungsbürgerliche Ideale eines westeuropäischen Frauenbildes mit der eigenen jüdischen Religiosität. Diese im Text als erfolgreich dargestellte Assimilationsform vollzieht sich weder über eine ganzheitliche Säkularisierung, noch findet eine eingehende Auflösung des Judentums im Christentum der Mehrheitsgesellschaft statt. Diese unterschiedlichen Assimilationsentwürfe vergleicht Samuel, indem er Sonja Hilda gegenüberstellt: »Wieder drängte sich ihm der Vergleich auf. Unwillkürlich mußte er daran denken, was einem russischen Mädchen von der Gesellschaftsstufe und dem Bildungsgrade dieses Fräuleins [Hildas] noch der Sabbat bedeutete. Er kannte manche der renitenten, rauchenden, philosophierenden fortwährende in Extase geratenen Studentinnen. Ob auch Sonja jetzt zu diesen zählte? Er hatte sie sich nicht als Frömmlerin gewünscht, aber er fühlte, daß sie ihm jetzt mit den Allüren gewisser Universitätsweibchen unerträglich sein würde.«55
»Frömmlerin« und »Universitätsweibchen« sind die beiden entgegengesetzten Pole negativer Weiblichkeit, die schließlich in der Figur Hildas ein ideales Gegenbild bekommen. Indem Sonja zugibt: »Dir gleich wollte ich es machen, lernen, studieren, Wahrheit und Wissenschaft suchen und durch die Halle der Wis-
bourgeois culture saw mothers as the first teachers of moral values to the younger generation.« in: P.E. Hyman: Gender and Assimilation, S. 33. 53 Vgl. dazu: »There was less dissonance between Jewish religious practice and women’s daily routines than was the case for men, whose traditional Jewish role was centered in public ritual in the synagogue or house of study. [...] The general norms of bourgeois society thus reinforced the retention by women of domestic Jewish ritual practice [...].« in: P.E. Hyman: Gender and Assimilation, S. 26f. 54 Ebd., S. 25. 55 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 67.
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senschaft zu einem Lebensberufe gelangen ...«,56 wird der Assimilationsprozess einer geschlechtlichen Trennung unterzogen. Assimilation eröffnet zwar neue Handlungs- und Wirkungsräume, die allerdings nur dem Mann in ihrem ganzen Umfang obliegen. Der sich eröffnende Handlungs- und Wirkungsraum wird für die Frau in dem Moment begrenzt, in dem sie es dem sich assimilierenden Mann gleicht tun will: »[T]o be identical with man is not the ideal of womanhood. Some things and privileges belong to him by nature; to these, true woman does not aspire […].« 57 Demzufolge werden Männern wie Frauen weiterhin unterschiedliche sozialen Rollen und Aufgaben zugeschrieben, deren Grenzen sich zwar immer wieder verschieben, die aber nicht überschritten werden können. Im Vergleich zwischen Sonja und Hilda, die eine im Osten und die andere im Westen verortet, spiegeln sich die unterschiedlichen Assimilationskonzepte und Interaktionsräume wider, zwischen denen der Protagonist hin- und herpendelt. Erst nach Sonjas Tod rückt Hilda auch körperlich als Frau in den Fokus von Samuels Aufmerksamkeit: »Er hatte sie Monate nicht gesehen. [...] Sie schien in der Zwischenzeit größer, schöner und elastischer geworden zu sein.«58 Der Roman wird mit einer erfolgreichen Zusammenführung von Hilda und Samuel als Liebespaar beschlossen. Mit dieser Zusammenführung findet auf der Handlungsebene eine Verflechtung statt, die auch auf anderen Ebenen implizit zu beobachten ist: die Verschmelzung von jüdischer Religionspraxis und säkularer Bildung, die Verknüpfung des westeuropäisch-gebildeten Frauenmodells unter Beibehaltung der jüdischen Religion sowie die Verschränkung der östlichen und westlichen Orthodoxie in einer modernisierten Form. Demzufolge entfaltet Assimilation ihr transkulturelles Potential im Sinne Wolfgang Welschs. Basierend auf der Erkenntnis, dass »Kulturen weder territorial verortet werden können noch an homogene Gemeinschaften gebunden sind«,59 ist ein entscheidender Aspekt dieses Transkulturalitätsmodells »die Sichtbarmachung transkultureller Verflechtungen, das heißt solcher Aspekte, die die Grenzen der ›eigenen‹, als geschlossen verstandenen Kultur implizit oder explizit überschreiten [...].«60 Mit der Auswanderung Hildas und Samuels aus Europa verlagert sich zwar die transkulturelle jüdische Identität nach Palästina und bekommt so eine neue geo-
56 Ebd., S. 188. 57 Ray Frank zitiert in P.E. Hyman: Gender and Assimilation, S. 39. 58 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 206. 59 D. Kimmich/S. Schahadat: »Einleitung«, hier S. 8. 60 Mae, Michiko/Saal, Britta: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht (= Geschlecht und Gesellschaft, Band 9), Wiesbaden 2007, S. 9-17, hier S. 11.
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grafische Verortung; sie zeigt aber dennoch die strukturelle Offenheit und ist als Ausgangspunkt für weitere kulturelle Transformations- und Überlappungsprozesse zu verstehen.
(T RANSKULTURELLER ) ›L UFTMENSCH ‹ ODER ›T RANSMIGRANT ‹? Während alle Frauenfiguren in Schachnowitz’ Roman geografisch begrenzt oder fest verortet sind – Sonja bezahlt den Versuch einer Grenzüberschreitung in den Westen mit dem Freitod, Hilda verlässt erst am Ende des Romans gemeinsam mit Samuel Westeuropa –, ist Samuel eine dynamisch angelegte Figur. Er bewegt sich im Zickzackkurs auf der Europakarte und ist als Migrant in der Fremde auf der Suche nach Heimat und Identität. Er lässt sich mit dem Stereotyp des sogenannten ›Luftmenschen‹ in Verbindung bringen. Der Begriff ›Luftmensch‹ ist – ähnlich wie der Assimilationsbegriff – »ein Ambivalenzbegriff par excellence.«61 Es verwundert demzufolge nicht, dass Schachnowitz’ Romantitel Luftmenschen sich einerseits in den zeitgenössischen Diskurs einreiht und andererseits auf inhaltlicher Ebene mit dem ebenfalls vielseitigen und widersprüchlichen Assimilationsprozess enggeführt wird. Der Historiker Nicolas Berg betont in seiner Studie Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher (2008), dass Schachnowitz anhand der zentralen Verwendung des Begriffes ›Luftmenschen‹ im Romantitel eine exemplarische Bestandsaufnahme jüdischen Daseins zu Beginn des 20. Jahrhunderts vornehme.62 Die Figur Samuel ist von Migrations- und Assimilationsprozessen und von einer Existenz in der Diaspora geprägt. Ähnlich verhält es sich mit der Figur des sogenannten ›Doktor‹, Samuels männlichem Alter Ego, eine moralisch verwerflich handelnde Figur. Samuel und der ›Doktor‹ können als Inbegriff eines ›Luftmenschen‹ gelesen werden, mit einem entscheidenden Unterschied: der Religiosität. Die Figur des ›Doktor‹ endet aufgrund der kompletten Abkehr vom religiösen Judentum in einer identitäts- und heimatlosen Existenz und entspricht damit einer modernen Wiederauflage des Stereotyps des ›Ewigen Juden‹, der einer christlichen Legende nach »einst Jesus auf dem Kreuzweg die Bitte ausgeschla-
61 Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher (= toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Band 3), Göttingen 2008, S. 11. 62 Vgl. ebd., S. 40.
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gen hatte, bei seinem Haus etwas auszuruhen«,63 und als Strafe für alle Ewigkeit dazu verdammt sein soll zu wandern und niemals zu rasten. Im Gegensatz dazu lässt sich Samuel am Ende des Romans wegen seines Entwicklungsprozesses und mit seiner Ankunft in Palästina, als die »Heimat, [...] unsere Heimat«,64 nicht mehr als ›Luftmensch‹, sondern geradezu als ›Transmigrant‹ bezeichnen.65 Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Blanc-Szanton veranschaulichen in ihrem Konzept des ›Transmigranten‹, »dass er nicht nur in einer, sondern in zwei Kulturen dauerhaft verankert ist [...].«66 Das Konzept des ›Transmigranten‹ ist eng mit dem Konzept der Transkulturalität verbunden und fordert auch ein Überdenken von »Grenzziehungen zwischen ›eigen‹ und ›fremd‹« ein, die verstärkt als problematisch erscheinen, aber weiterhin bestehen.67 ›Transmigranten‹, so die Annahme der drei Autorinnen, entwickeln und unterhalten unterschiedliche Beziehungen über geografische Grenzen hinweg auf verschiedenen Gebieten: im familiären, ökonomischen, sozialen, religiösen oder politischen Kontext:68 »Transmigrants take actions, make decisions, and feel concerns within a field of social relations that links together their country of origin and their country or countries of settlement.«69
63 Bodenheimer, Alfred: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne, Göttingen 2002, S. 8. 64 S. Schachnowitz: Luftmenschen, S. 212. 65 Vgl. dazu: »Im Plädoyer für Palästina gab sich der Autor von ›Luftmenschen‹ also als Anhänger Theodor Herzls zionistischem Projekt zu erkennen und beantwortet so vordergründig die Fragen, die er im Romantitel aufgeworfen hat.« in: Berg, Nicolas: »Bilder von ›Luftmenschen‹ – Über Metapher und Kollektivkonstruktion«, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte (= toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, Band 1), Göttingen 2005, S. 199-224, hier S. 204. 66 Zitiert nach D. Kimmich/S. Schahadat: »Einleitung«, S. 14. 67 Ebd. 68 Vgl. Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/Blanc-Szanton, Cristina: »Transnationalism: A New Analytic Framework for Understanding Migration«, in: dies. (Hg.), Towards a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsidered (= Annals of the New York Academy of Sciences, Band 645), New York 1992, S. 1-24, hier S. 1. 69 Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/Blanc-Szanton, Cristina: »Towards a Definition of Transnationalism: Introductory Remarks and Research Questions«, in: dies. (Hg.), Towards a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity, and Na-
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Samuel stellt innerhalb des Romans mit der Rückkehr zum religiösen Judentum in seiner modernisierten, neo-orthodoxen Form eben jene positiv konnotierte Figur des ›Transmigranten‹ dar. Er vermag es, die im Roman festgeschriebenen Dichotomien von Tradition und Moderne, Ost und West, Schtetl und Großstadt zu überwinden sowie die westliche Wissenschaft und fortschrittliche Lebensweise mit einer sich öffnenden Form traditioneller jüdischer Religiosität zu verbinden, um diese am Ende des Romans in einer neuen Heimat (in Palästina) zu verorten. Samuel stellt nicht nur einen religiös aufgeschlossenen Gegenentwurf zum säkularen Assimilationsprozess dar, er verkörpert die erfolgreiche Assimilation als transkulturelle Assimilation. Samuels Verkörperung des ›Transmigranten‹ unterläuft im Sinne der Transkulturalität »statische sozialwissenschaftliche und anthropologische Konstrukte von Gruppen, die als geschlossene Einheiten betrachtet werden.«70 Damit kann Samuel als Teil einer Assimilationsform gelesen werden, die nicht auf den Erhalt reiner wie abgegrenzter Kultur- und Identitätskonzepte ausgerichtet ist, sondern die ihren Ertrag in der transkulturellen Vermischung erachtet.
F AZIT Der Roman Luftmenschen verhandelt, wie der Untertitel Roman aus der Gegenwart ankündigt, die großen Themen der Moderne: das Verhältnis von Tradition und Fortschritt, Ost und West, Stadt und Land, Migration und Heimat, vor allem aber die dringende Frage nach dem Verhältnis von Religion, Assimilation und gesellschaftlicher Zugehörigkeit. In diesem Roman werden hinterfragte Männerund Frauenrollen exemplarisch mit geografischen Verortungen enggeführt und mit einer positiven und einer negativen Assimilationsstrategie verknüpft. Besonders die Fokussierung auf Genderkonstruktionen erlaubt es, Rückschlüsse auf unterschiedliche Assimilationslesarten zu ziehen, kommen gerade Fragen nach Genderordnungen »immer dort zum Vorschein [...], wo es das ›Eigene‹ vom ›Anderen‹ zu schützen gilt [...].«71 Genderordnungen werden meist als »wesentliche Stütze der eigenen Kultur verstanden«,72 so dass dort, »wo sich Tendenzen
tionalism Reconsidered (= Annals of the New York Academy of Sciences, Band 645), New York 1992, S. ix-xiv, hier S. ix. 70 D. Kimmich/S. Schahadat: »Einleitung«, S. 14. 71 M. Michiko/B. Saal: »Einleitung«, S. 9f. 72 Ebd.
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zeigen, die traditionelle Genderordnung aufzubrechen, [...] auf konservativer Seite die ›eigene‹ Tradition und die ›eigene‹ Kultur als bedroht empfunden [werden].«73 Dies ließ sich im Kontext der Assimilation im literarischen Beispiel vor allem an der Figur Sonja herausarbeiten. Dennoch propagiert der Text trotz neo-orthodoxer Programmatik keine Rückkehr zum vormodernen Zustand, sondern er verhandelt implizit eine durch assimilatorische Mechanismen hervorgerufene, (bedingt) dynamisch angelegte Verschiebung der Geschlechterrollen, wie sie bei den Figuren Hilda und Samuel gezeigt wurde. Die gezielte Untersuchung von Geschlechts- und Raumkonstruktionen, so sollte es dieser Beitrag zeigen, kann helfen, den historischen Begriff der Assimilation neu zu verstehen. Assimilation generiert kulturelle Vermischungen und Mehrfachzugehörigkeiten moderner Identitäten, die heute unter den Konzepten der Transkulturalität gefasst werden. In der Textanalyse konnte herausgearbeitet werden, dass Assimilation einen Übergangsraum zwischen verschiedenen Kulturen öffnet, der es nach Stuart Hall ermöglicht, »kulturelle Identitäten heraus[zubilden], die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind [...].«74 Mit der letzten geografischen Grenzüberschreitung durch die Ausreise Hildas und Samuels nach Palästina wird die Bahnhofshalle, in der Samuel zu Beginn des Romans ankommt, zur Durchgangsstation, die Assimilation nur zum provisorischen Übergangszustand im Transformationsprozess jüdischer Identitäten in der Moderne. Dieses transkulturell geprägte Identitätsmodell wird nach Eretz Israel, dem Gelobten Land, weitergetragen und es bleibt anzunehmen, dass es dort als Ausgangslage für weitere kulturelle Kreuzungen und Verbindungen dient.
73 Ebd. 74 Stuart Hall zitiert in M. Mae: »Auf dem Weg zu einer transkulturellen Genderforschung«, S. 38.
Critical Crafting und Craftivism Textile Handarbeit, Feminismus und Widerstand
S ARAH H ELD
D AS
NEUE
H ANDARBEITEN –
EIN
Ü BERBLICK
Das Stigma großmütterlicher Sticklandschaften haben textile Handarbeiten dank aktueller Entwicklungen weitestgehend abgelegt. Denn bereits seit einigen Jahren erfährt textile Handarbeit einen radikalen Imagewechsel.1 Unter dem Label Radical Crafting erlebt sie im neuen Jahrtausend auf beiden Seiten des Atlantiks eine regelrechte Renaissance.2 Hinter sprechenden Termini wie Craftivism, Critical Crafting oder Subversive Stitching stehen Handarbeitskollektive und Einzelpersonen, die sich an der Schnittstelle von (feministischem) Aktivismus, Design, Kunst und einer Kultur des Selbermachens, des do-it-yourselfs (kurz DIY), bewegen.3 Nicht nur Frauen greifen zu Nadel und Faden, auch einige Männer be-
1
In vielen Städten zeichnen sich Gruppen- und Einzelaktivitäten ab. Im Sammelband Craftista! Handarbeit als Aktivismus, erschienen 2011 im Ventil Verlag, befassen sich Theoretikerinnen, Aktivist_innen und Künstler_innen mit der Handarbeitsbewegung respektive -entwicklung im deutschsprachigen Raum.
2
Crafting leitet sich vom englischen Verb to craft ab, was übersetzt von Hand fertigen heißt, aber nicht nur das Textile meint, sondern auch Design und Heimwerkertätigkeiten inkludiert. Radical Crafting steht als Überbegriff für die aktuellen Handarbeitsbewegungen.
3
Subversives Sticken bedeutet unkonventionelles Sticken, zum Beispiel das Besticken von Parkbänken oder Kreuzstichbilder mit bitterbösen Botschaften. Vgl. Christine Pavlics Projekt »Die Bank, das Garn, die Bohrmaschine«, unter: http://www.christinepav lic.blogspot.de/2009/11/die-bank-das-garn-die-bohrmaschine.html vom 27.03.2014
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teiligen sich an der Bewegung und setzen strategisch textile Zeichen durch die Installation politisch unterschiedlich motivierter Nadelarbeiten im urbanen Raum.4 Ein reges (pop-)kulturelles Interesse an der Bewegung zeichnet sich medial ab. Fachzeitschriften, die sich mit der Terminologie des Hand- beziehungsweise Nadelarbeitens beschäftigen, publizieren Artikel zum Thema, aber auch in Tageszeitungen wird die Welle der urban installierten Handarbeiten und die einhergehende DIY-Kultur mittlerweile thematisiert.5 Mit der Rückeroberung von öffentlichem Raum tritt zudem eine virtuelle Invasion auf: »›Knitted Graffiti‹, gemeinschaftlich gehäkelte Anti-Sweatshop-Quilts und subversives Sticken kommen als Strategien einer lokal agierenden, aber überregional oder gar global vernetzten Culture-Jamming-Avantgarde einher«.6 Global soll an dieser Stelle eingeschränkt werden, da sich die Handarbeitsbewegung fast ausschließlich in postindustriellen westlichen Kulturen findet. Gar epidemisch breitet sich die Handarbeitswelle im Internet aus, eine Vielzahl von Handarbeiter_innen hängt buchstäblich an der Nadel und bloggt fleißig darüber.7 Blogs wie knithappens.org und stitchnbitch.org, gelauncht von Debbie Stoller, Mitbegründerin des popfeministischen Bust Magazines, oder knitknit.net von Sabrina Gschwandtner
und Julie Jacksons Projekt »Subversive Cross Stitch«, www.subversivecrossstitch. com vom 27.03.2014. 4
Vgl. Zeitungsartikel über strickende Männer, z.B. Köver, Chris: »An der Nadel«, in: ZEIT Campus 01/2009, http://www.zeit.de/campus/2009/01/maennerstricken-text vom 27.03.2014; dies.: »Ich hatte einfach Lust, zu stricken«, in: ZEIT Campus 08/2009, http://www.zeit.de/campus/2009/01/stricken-interview vom 27.03.2014; oder Textilaktivist Klaus Erich Dietl vom Kollektiv Kommando Agnes Richter aus München, »Klaus Erich Dietel«, in: Textilesunbehagen 25.05.2011, https://textiles unbehagen.wordpress.com/2011/05/25/klaus-erich-dietl/ vom 27.03.2014.
5
Exemplarisch hier ein Artikel aus der taz vom 11. Februar 2011, vgl. Rossbauer, Maria: »Neue Streetart: Urban Knitting – Wenn die Laterne Strümpfe trägt«, in: taz 11.02.2011, http://www.taz.de/!65766/ vom 27.03.2014.
6
Kuni, Verena: »›Not Your Granny’s Craft‹? Neue Maschen, alte Muster – Ästhetiken und Politiken von Nadelarbeit zwischen Neokonservatismus, ›New Craftivism‹ und Kunst«, in: Jennifer John/Sigrid Schade (Hg.), Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008, S. 169-192, hier S. 177.
7
Vgl. den Tumblr-Account »DIY Cultures«, http://www.diycultures.tumblr.com vom 27.03.2014.
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haben den Sprung aus der virtuellen Welt in die Buchhandlungen geschafft.8 Eine Bestandsaufnahme von Arbeiten der nordamerikanischen Handarbeitsszene, die sich im Spannungsfeld von Kunst, Design und do-it-yourself-Kulturen bewegen, liefert Cortney Heimerls und Faithe Levines Band Handmade Nation. The Rise of DIY, Art, Craft and Design.9 Auch von institutioneller Seite werden Ausstellungen und Podien mit Arbeiten beziehungsweise Themen aus dem Feld des Craftivism/Critical Crafting veranstaltet sowie zugehörige Kataloge veröffentlicht.10 Exemplarisch seien hier einige Ausstellungen, Symposien und Workshops aus der musealen Praxis aufgeführt: New Embroidery. Not Your Grandma's Doily im Museum of Contemporary Art, Portland (USA) 2006; im Rahmen der Reihe Feminism + CO des Museums of Contemporary Art in Denver (USA) wurde 2011 zum Sujet Craftivism gearbeitet und im Londoner Victoria & Albert Museum wurde 2013 das Symposium The Subversive Stitch Revisited – Politics of Cloth veranstaltet.11 Es drängt sich nun die Frage auf: Was haben Aktivismus und Feminismus mit textiler Handarbeit gemeinsam? Verursacht dieser Dreiklang nicht tendenziell mehr Widersprüche als Schnittmengen? Handarbeit, Aktivismus und Feminismus schließen sich keineswegs kategorisch aus. Ganz im Gegenteil entsteht in diesem Spannungsfeld durchaus ein widerständiges Potential, was eine Vielzahl von (musealen) Projekten wie auch die bereits oben genannten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dokumentieren. Der vorliegende Beitrag verortet sich in den feministischen Cultural Studies und versucht einen Einblick in die neuen Handarbeitsentwicklungen des Crafti-
8
Stoller, Debbie: Son of Stitch'n'Bitch. 45 Projects to Knit & Crochet for Men, New York 2008; Gschwandtner, Sabrina: KnitKnit. Profiles + Projects from Knittings' New Wave, New York 2007.
9
Heimerl, Cortney/Levine, Faithe: Handmade Nation. The Rise of DIY, Art, Craft and Design, New York 2008.
10 Vgl. Kuni, Verena: »Verstrickt und zugenäht? Die Handarbeit, die Kunst, die Mode und ihre LiebhaberInnen«, in: Critical Crafting Circle (Hg.), Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011, S. 81. 11 Vgl. Pacific Northwest College of Art, http://www.mocc.pnca.edu/exhibitions/2096 vom 27.03.2014; Museum of Contemporary Art Denver: »Feminism and Co.«, http://www.mcadenver.org/feminismco.php, vom 27.03.2014. Alle Vorträge des Symposiums sind über den Podcastkanal der Goldsmith University of London abrufbar, vgl. Goldsmith University of London: »The Subversive Stitch Revisited. The Politics of Cloth«, http://www.gold.ac.uk/podcasts/app/front/podcastsBySeries/35 vom 27.03.2014.
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vism beziehungsweise Critical Crafting zu geben. Projekte wie der feministischaktivistische The Monument Quilt (USA) und die textilkünstlerische Arbeit home sweet home (Österreich) werden exponiert dargestellt und analysiert. Sie sollen aufzeigen, welch brisante und sensible gesellschaftliche Themen mittels textilinterventionistischer Strategien im (teil)öffentlichen Raum verhandelt werden. Zunächst gilt es aber Folgendes zu beantworten: Was ist unter feministischer Handarbeit zu verstehen und was zeichnet – wenn vorhanden – ein subversives Potential aus? Innerhalb der neuen Handarbeitsentwicklungen und dem dazugehörigen feministischen Aktivismus eröffnen sich neue Spiel- und Handlungsräume bezüglich stereotyper Geschlechterzuschreibungen und textiler Handarbeit. Auch wenn die neue Handarbeitswelle neue Perspektiven auf Weiblichkeit und Handarbeit eröffnet, ist es wichtig anzumerken, dass auch tradierte Sichtweisen bestärkt werden. So erfahren Stricken, Sticken, Häkeln, Nähen und häusliche (Zier-)Arbeit im traditionellen Sinne subsumiert unter dem Begriff New Domesticity (auch als Neue Häuslichkeit bezeichnet) eine Verjüngungskur. Ähnlich verhält es sich beim populär verhandelten Yarn Bombing oder Guerilla Knitting. Gemeint ist damit das Bestricken öffentlichen Mobiliars oder von Bäumen. Die Strickbegeisterten betreiben reine Stadtverschönerung ohne feministisches Anliegen und bestätigen altbekannte Konnotationen von handarbeitenden Frauen.12 Der Beitrag ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil werden Aspekte der historischen Verflechtung von Geschlecht und Handarbeit beschrieben. Im nächsten Beitragsabschnitt ist die Skizzierung der neu entwickelten Handarbeitswelle sowie die Darstellung der weiterentwickelten Handarbeit im Fokus. Teil drei analysiert mittels zweier Praxisbeispiele, The Monument Quilt (USA) und home sweet home (Österreich), wie textilaktivistische Kampagnen beziehungsweise textilkünstlerische Arbeiten zwischen Häuslichkeit, der Auseinandersetzung mit (sexualisierter) Gewalt und feministischem Aktivismus oszillieren.
12 Vgl. Müller, Stephanie: »Exklusiv! Mode und Handarbeit zwischen Austausch und Ausgrenzung«, in: Julia Jäckel/Zara S. Pfeiffer/Nadine Saniter/Rail Streckert/PaulaIrene Villa (Hg.), Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden 2012, S. 128.
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H ANDARBEIT
UND
HISTORISCHER
W EIBLICHKEIT
IM
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K ONTEXT
E NTWICKLUNGEN
Stricken, Sticken, Häkeln, Nähen – das galt lange als reine Frauensache. Handarbeiten schienen fest mit der weiblichen Hand verwachsen und werden immer noch oft als weiblich kategorisiert. In der Historie waren Nadelarbeiten fester Bestandteil der weiblichen Erziehung und dienten vor allem im Bürgertum zu Domestizierungszwecken. So widmet sich Jean-Jaques Rousseau in seiner pädagogischen Abhandlung Emile oder über die Erziehung (1762) zwar nur marginal der Mädchenbildung und beschäftigt sich hauptsächlich mit der Eingliederung von Jungen in bürgerliche Moralkodexe, stellt aber eindeutig die Verbindung zwischen Weiblichkeit und textiler Handarbeit her.13 Sie eigne sich demnach hervorragend zum Schulen des Ästhetikempfindens, des Ordnungssinns und der Sparsamkeit. Vor allem aber verband man mit handarbeitenden Frauen und Mädchen Tugendhaftigkeit und Fleiß.14 Nicht nur Rousseau zementierte die scheinbar unzertrennliche Assoziation von Weiblichkeit und textiler Handarbeit (fest verflochten mit Häuslichkeit), auch andere Erziehungsschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert festigten das Bild der handarbeitenden Frau, welches bis in das Digitalzeitalter Bestand hat.15 Es scheint also nicht verwunderlich, dass textile Handarbeiten in der Kunstszene negativ konnotiert sind: »Sticken gilt in unserer Gesellschaft als stupide Freizeitbeschäftigung, die dem weiblichen Dekorationsbedürfnis Rechnung trägt«.16 Hierbei wird keine homogene Meinung bezüglich Textilien in der Kunst widergespiegelt, sondern es zeichnen sich durchaus konträre Sichtweisen zum Handarbeitsstereotyp ab. Lisa Graziose Corrin interpretiert zum Beispiel Stickereien im künstlerischen Kontext in politischer Hinsicht als durchaus radikal.17 Es entsteht ein beinahe schizophrener Eindruck, wenn man sich das Bild der introvertierten und häuslich-bürgerlichen Stickerin abruft, welche in minutiöser
13 Felix, Matilda: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart, Bielefeld 2010, S. 23-26. 14 Ebd., S. 28. 15 Matilda Felix erwähnt Johann Georg Sulzers Anweisung zu Erziehung seiner Töchter (1781) und Betty Gleims Über die Bildung von Frauen und die Behauptung ihrer Würde in den wichtigsten Verhältnissen ihres Lebens. Ein Buch für Jungfrauen, Gattinnen und Mütter (1814). Vgl. M. Felix: Nadelstiche, S. 24. 16 Gockel, Cornelia: »Jochen Flinzer«, in: Kunstforum International 149 (2000), S. 252259, hier S. 253. 17 M. Felix: Nadelstiche, S. 8.
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Geduldsarbeit ganze Sticklandschaften entstehen lässt, und es mit dem Image des beziehungsweise der exaltierten und impulsiven Künstler_in vergleicht.18 Steht nicht nur die bürgerlich-sozialisierende Komponente textiler Handarbeiten im Fokus der Betrachtung, sondern auch ökonomische Faktoren, so zeigt sich, dass die zeitaufwendigen Handarbeiten mit fortschreitender Industrialisierung äußerst unrentabel wurden. Die außerhäuslichen Arbeitsbereiche, die sich im Zuge einer industrialisierten Wirtschaft für Frauen eröffneten, waren von prekären Arbeitsbedingungen und geringer Bezahlung geprägt.19 In den 1950er Jahren etablierte sich das Berufsbild des (Mode-)Designers, ermöglicht durch die Konfektionierung von Kleidung. Die industrielle Herstellung von Stoffen eröffnete zudem neue Absatzmärkte in westlichen Industriekulturen. Obwohl das Textile im bürgerlichen Diskurs schon lange fest mit Weiblichkeit verflochten war beziehungsweise ist, wurde der Beruf des Modedesigners, der sich als äußerst renommiert entwickeln sollte, fast ausschließlich von Männern ausgeübt.20 Hier entsteht ein Paradoxon, wenn als weiblich kodierte Arbeit weder materiell noch immateriell honoriert wird, allerdings ausgeführt von Männern gesellschaftliches Ansehen genießt und monetär hoch vergütet wird.21 Geht man allerdings in der Geschlechtergeschichte zurück, so erscheint die Praxis konsequent und fast logisch, denn Frauen werden immer noch häufig auf private Bereiche limitiert und Männern eher öffentliche und repräsentative Funktionen zugeschrieben. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung wird jedoch oft außer Acht gelassen, dass in der Geschichte Handarbeiten keine reine Frauensache waren, sondern schon immer auch von Männern ausgeübt wurden, »man denke an die knüpfenden Fischer oder die strickenden Schäfer« oder die hoch angesehenen Tapisserie-Wirker in den Pariser Gobelin Manufakturen im 18. Jahrhundert.22 Auch das Stricken als öffentlicher Protestakt ist keineswegs so neu wie die Craftivism/Critical Crafting-Bewegung selbst. Die Citoyennes Tricoteuses (französische Strickerinnen) okkupierten während der französischen Revolution mit ih-
18 Ebd., S. 8. 19 V. Kuni: »›Not Your Granny’s Craft‹«, S. 175. 20 Vgl. Eisele, Petra: »Die Ästhetik des Handgemachten. Vom Dilletantismus zum Do-ityourself – eine designhistorische Analyse«, in: Critical Crafting Circle (Hg.), Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011, S. 58-72, hier S. 62. 21 Eine ähnliche Entwicklung im gesellschaftlichen Renommee ist am Beruf des Gourmetkochs abzulesen. 22 Gold, Helmut/Hornung, Annabelle/Kuni, Verena/Nowak, Tine: DIY – Die MitmachRevolution, Mainz 2011, S. 57.
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rem Strickzeug öffentlichen Raum und brachten so ihre Beharrlichkeit kombiniert mit kämpferischem Willen zum Ausdruck. Ihr Proteststricken ist »paradigmatisch für ein politisches Verhältnis zwischen Handarbeit und Feminismus im modernen Nationalstaat [...]. Durch das öffentliche Stricken verschafften die Frauen ihren revolutionären Aktivitäten eine symbolische Präsenz, die sich gleichzeitig mit den Codes weiblicher Produktions- und Hausarbeit verschränkt.«23
Historisch gesehen sind (urban installierte) Handarbeiten oder öffentliche Strickhappenings an der Schnittstelle von Feminismus und Aktivismus also keine neue Masche, die sich innerhalb der aktuellen Popkultur verortet. Zudem muss im Kontext von Weiblichkeit und Handarbeit hervorgehoben werden, dass Handarbeitstreffen für Frauen oft die einzige Möglichkeit für subversiven und politischen Austausch waren.24 Auch wenn das Phänomen der kritischen und aktivistischen Handarbeiten im öffentlichen Raum vorwiegend in postindustriellen Kulturen als weißes Wohlstandsphänomen auftritt, verdeutlicht das folgende Beispiel, dass die textilaktivistische Praxis nicht nur räumlich auf diese beschränkt in Erscheinung tritt. So nutzten Lehrer_innen in Mexiko beim jährlichen Streik gegen das marode Bildungssystem, die herrschenden Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten in Oaxaca Stricken als (Protest)Instrumentarium: »Öffentliches Stricken und demonstratives Sticken verstärkte den Ausdruck von Dauerhaftigkeit und Präsenz der Sitzblockaden.«25 Die ostentative Raumaneignung der historischen Innenstadt Oaxacas durch Sitzblockaden störte den Alltag und textilaktivistische Aktionen prägten das Erscheinungsbild des Protestes im Jahr 2011. In den langsam und stetig wachsenden gestrickten, gehäkelten, gestickten Handarbeitserzeugnissen spiegelte sich die Beharrlichkeit der Protestierenden wider.26 Am Beispiel von Mexiko zeigt sich einerseits die Verschmelzung von textiler Handarbeit mit
23 Gaugele, Elke: »Revolutionäre Strickerinnen, Textilaktivist_innen und die Militarisierung der Wolle. Handarbeit und Feminismus in der Moderne«, in: Critical Crafting Circle (Hg.), Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011, S. 15-28, hier S. 16f. 24 Vgl. ebd., S. 21. 25 Gaugele, Elke: »Craftivistas! Textile Protestkulturen während des Lehrer_innenstreiks im besetzen Oaxaca im Mai 2011«, in: Lisbeth Freiß/Elke Gaugele/Khadija Carroll La/Sabina Muriale/Ruby Sircar (Hg.), Vienna Zocalo – Critical Crafting as a (Postcolonial) Strategy, Wien 2011, S. 103, https://ikl.akbild.ac.at/projects/vienna-zocaloprojekt-publikation/ViennaZocaloPublikation.pdf vom 27.03.2014. 26 E. Gaugele: »Craftivistas!«, S. 103.
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politischen Diskursen, andererseits lassen sich daraus Transkulturalitätsaspekte ableiten. Eine Schlussfolgerung ist die Annahme, dass Critical Crafting und Craftivism in der Lage sind, die Grenzen westlicher Industriekulturen zu überschreiten. Vor dem geschlechtshistorischen Hintergrund und im Hinblick auf den öffentlichen Aktivismus erscheint die Renaissance der traditionellen und langsamen Technik textiler Nadelarbeiten in einer von Digitalisierung und Schnelllebigkeit geprägten postfordistischen Kultur umso spannender. Craftivism/Critical Crafting versucht die Assoziation von Weiblichkeit und Handarbeit aufzubrechen und verbindet sie dezidiert mit einer politischen Komponente. Das bürgerliche Geschlechtermodell limitierte Frauen auf ihre Reproduktionsfunktion und die Generierung eines häuslichen Lebens. Demnach sollten sich Frauen nach der Heirat komplett aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und im Privaten verschwinden.27 Diese im Bürgertum etablierte »natürliche Differenz« weist Frauen eine untergeordnete Rolle zu und drängt sie in den privaten Raum, während Männer autonom in der (politischen) Öffentlichkeit stehen dürfen.28 Im Kontext von erst teilweise dekonstruierten Verknüpfungen von Weiblichkeitsbildern, Handarbeit und Machtverhältnissen eröffnen textilaktivistische Strategien Handlungsräume. Innerhalb dieser ist das Spielen mit Dichotomien wie SchnelligkeitLangsamkeit, klassische Frauenrolle-Feminismus und Privatheit-Öffentlichkeit möglich, wie im Folgenden gezeigt wird.
C RAFTIVISM /C RITICAL C RAFTING ALS N EUPOSITIONIERUNG VON H ANDARBEIT UND G ESCHLECHT Craftivism ist ein Neologismus aus den Begriffen craft (dt. Handarbeit) und activism (dt. Aktivismus), der auf die amerikanische Soziologin und Textilaktivistin Betsy Greer zurückgeht. Die Akteur_innen des Craftivism, genannt »Craftivistas« (deutschsprachig »Craftistas«) betätigen sich als Aktivist_innen, deren Protestwerkzeug Nadel und Faden sind. Sie verstehen sich als eine Art GarnGuerilla jenseits einer kapitalistischen und konsumorientierten Verwertungslogik, die mittels textiler Handarbeiten im urbanen Raum Aufsehen erregt. Die Intention, zumindest für einen Teil der Aktivist_innen, ist es, mit ihren antiglobalistisch motivierten Arbeiten auf Missstände aufmerksam zu machen, beispiels-
27 Schössler, Franziska: Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 24. 28 Ebd.
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weise auf die prekäre Arbeitssituation in Sweatshops in Entwicklungs- und Schwellenländern.29 Critical Crafting beinhaltet das Reflektieren sozialer Prozesse und Gesellschaftsordnungen mittels künstlerischer Erzeugnisse oder Designobjekte, um an der Gestaltung sozialer Verhältnisse mitzuwirken.30 Craftivism/Critical Crafting haben sich aus dem Third-Wave-Feminismus entwickelt und stehen der Riot-Girl-Bewegung nahe.31 Das charakteristische Merkmal sind insbesondere Selbstermächtigungsstrategien aus dem Kontext des do-ityourselfs, das fest in der Punkbewegung verwurzelt ist.32 »For those women who grew up with the early riot grrrl movement […], they have begun to develop a new direction [...]. This new craft network can be seen as a new phase in DIY Culture, one where those involved in earlier DIY movements can express themselves and built new communities as they grow up.«33
So zeichnen sich Craftivism und Critical Crafting als fester Bestandteil der do-ityourself-Kultur aus. DIY ist längst nicht mehr nur Heimwerkern oder Punks vorbehalten, seit einigen Jahren erfährt es eine regelrechte Hochkonjunktur. Als Folge ergeben sich innerhalb der Selbermach-Kultur verschiedene Strömungen, von denen sich einige auch durch Kommerzialisierung auszeichnen. Die starke Nachfrage nach Selbstgemachtem zeigt sich nicht nur an Plattformen wie etsy. com oder dawanda.de, wo heimisch produzierte Güter als Alternative zu massengefertigten Produkten gehandelt werden, sondern auch an Individualisierungsmaßnahmen zahlreicher Unternehmen. Selbstscannerkassen in Supermärkten/Möbelhäusern oder Aufrufe zur Gestaltung von Turnschuhmodellen beteiligen Konsument_innen an Produktions- und Verkaufsprozessen und machen so
29 Vgl. den Blog »Craftivist Collective«, http://www.craftivist-collective.com vom 27.03.2014. 30 Vgl. Gaugele, Elke: »Thoughts on Decolonizing Fashion and Textile Studies«, in: Lisbeth Freiß/Elke Gaugele/Khadija Carroll La/Sabina Muriale/Ruby Sircar (Hg.), Vienna Zocalo – Critical Crafting as a (Postcolonial) Strategy, Wien 2011, S. 7-9, hier S. 8. 31 Vgl. Gauntlett, David: Making is Connecting. The Social Meaning of Creativity, from DIY to YouTube and Web 2.0, Malden 2011, S. 55. Die Riot-Girl-Bewegung entstand Anfang der 1990er Jahre innerhalb der Punk-/Hardcorebewegung. Die Anhängerinnen eroberten die männlich dominierte Szene mit eigenen Fanzines und Bands. 32 E. Gaugele: »Thoughts on Decolonizing Fashion«, S. 8. 33 Spencer, Amy: DIY. The Rise of Lo-Fi Culture, New York/London 2008, S. 62.
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unbezahlte Arbeitskräfte aus ihnen.34 Daher sollen Strategien und Wirkmechanismen des Selbermachens an dieser Stelle nicht als per se kritisch oder subversiv wahrgenommen werden. Die Möglichkeit, traditionelle Mechanismen zu umgehen, erfordert Privilegien, Mittel und Fähigkeiten, um Konsumgüter selbst zu produzieren. DIY-Aktivismus kann als Oppositionsgemeinschaft zu herrschenden, patriarchal und hegemonial geprägten, globalen kapitalistischen Wirtschaftssystemen allein nicht dienen. Beispiele für subversive Praxen mittels DIYStrategien werden im nächsten Abschnitt aufgeführt.
A NALYSE : R AUM UND G ESCHLECHT IM K ONTEXT VON C RAFTIVISM /C RITICAL C RAFTING AM B EISPIEL DER P ROJEKTE HOME SWEET HOME UND T HE M ONUMENT Q UILT Getreu dem Motto ›bildet (Frauen-)Banden‹ werden innerhalb der Craftivism/Critical Crafting-Bewegung, analog zu anderen ideologisch und aktivistisch geprägten Gruppierungen, Kollektive gebildet, die im (teil-)öffentlichen Raum vor allem von Großstädten auf soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam machen. Neben den Kategorien Geschlecht und Raum verhandeln die Projekte home sweet home und The Monument Quilt (sexualisierte) Gewalt gegenüber Frauen als zentralen Aspekt. Die Arbeiten sind zwar in verschiedenen Ländern, in Österreich und den USA, angesiedelt, weshalb ein direkter Abgleich aufgrund kultureller Unterschiede nicht möglich ist, jedoch lassen sich viele Gemeinsamkeiten ausmachen. Es handelt sich bei beiden Ländern um westliche Industrienationen mit patriarchal-kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen. So verwendet das The Monument Quilt-Projekt textile Displays im öffentlichen Raum, um zur Solidarisierung und zum Kampf gegen strukturelle Gewalt aufzurufen und gerade sexualisierte Gewalt sichtbar zu machen. Es entsteht der Eindruck, dass bei den verschiedenen textilaktivistischen Arbeiten, insbesondere bei der home sweet home-Ausstellung, nicht – wie traditionell üblich – das handwerkliche Geschick, die technische Perfektion und deren Zurschaustellung im Vordergrund steht, sondern die transportierte Botschaft.35 An beiden Projekten lässt sich ableiten, dass textilaktivistische Interventionen im (teil-)öffentlichen Raum genutzt werden, um phallogozentrische Strukturen aufzudecken. Be-
34 Vgl. S. Müller: »Exklusiv!«, S. 124. 35 Vgl. Greer, Betsy: Knitting for Good. A Guide to Creating Personal, Social and Political Change, Stitch by Stitch, Boston 2008, S. 101-127.
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sonders stark steht die feministische Raumaneignungspraxis im Vordergrund, die mittels unterschiedlicher und subversiver Taktiken realisiert wird. Der folgende Analyseteil befasst sich erst mit home sweet home und anschließend mit The Monument Quilt. Die Künstlerin Christine Pavlic gründete mit den feministischen Aktivistinnen Barbara Maldoner-Jäger, Carina Pröll und Nora Wimmer im Herbst 2005 das Kollektiv Das Radikale Nähkränzchen, um sich textilexperimentell mit Themen sexualisierter Gewalt im persönlichem Nahraum auseinanderzusetzen. Mit der Ausstellung home sweet home, die 2006 in einer leerstehenden Ladenzeile in der Innsbrucker Innenstadt stattfand, setzten sie sich kritisch mit geschlechtlich bedingten Machtstrukturen und asymmetrischen Genderpositionen, damit zusammenhängender sexueller Gewalt und der Vergeschlechtlichung von (Wohn-)Raum auseinander. Home sweet home wurde als Versuch inszeniert, gegen bekannte Lesarten von Weiblichkeit und Handarbeiten zu intervenieren und stereotype Geschlechterbilder zu dekonstruieren. Zentraler Kritikpunkt der Ausstellung war die gängige gesellschaftliche Praxis, Öffentliches und Privates zu trennen.36 Das Kollektiv ist aus dem Wunsch heraus entstanden, sich (künstlerisch) mit hegemonialen Machtverhältnissen, distanziert von männlich dominierten linken Politgruppen, auseinanderzusetzen. Die Mitglieder des Kollektivs wurden in antifaschistischen Peergroups sozialisiert und bezeichnen sich selbst als »Post-Riot-Girls«.37 Wesentlicher Anreiz für die Ausstellung sowie eine Reihe von (Handarbeits-)performances, zum Beispiel einen Stitch-in im urbanen Raum (Innsbrucker Innenstadt), war eine Vergewaltigung im persönlichen Umfeld linker Gruppierungen des Kollektivs im Jahr 2006. Ein Arbeitsschwerpunkt war die Thematisierung von sexueller Gewalt gegenüber Frauen im Privaten, um patriarchale Machtverteilungen infrage zu stellen, unsichtbare Gewalt sichtbar zu machen und öffentlich zu thematisieren.38 Home sweet home sollte die Illusion des Privaten als sicheren Rückzugsort kritisch demontieren.39 Das Spannungsfeld von Ausstellungstitel und Projektintention erzeugt eine disassoziative wie
36 Maldoner-Jäger, Barbara/Pavlic, Christine: »Handarbeit als Aktionismus und im öffentlichen Raum. Das radikale Nähkränzchen«, in: Critical Crafting Circle (Hg.), Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz 2011, S. 238-249. 37 Ethnografisches Gespräch (unveröffentlicht) mit Christine Pavlic und Barbara Maldoner-Jäger, erhoben von der Verfasserin am 08.12.2014 in Linz. 38 Vgl. Die Frauengruppe und Das Radikale Nähkränzchen: »We Don't Need Another Hero«, in: An.Schläge. Das Feministische Magazin 06 (2006), S. 16-19, http://www. anschlaege.at/2006/juni/anotherhero.htm vom 27.03.2014. 39 B. Maldoner-Jäger/C. Pavlic: »Handarbeit als Aktionismus«, S. 238-249.
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ebenso morbide Komik, denn das vermeintlich traute Heim ist oft nicht das Refugium, welches mittels home sweet home suggeriert werden soll. Es wird als Ort enttarnt, an dem Frauen de facto sehr häufig (sexualisierte) Gewalt erfahren (müssen), die nicht selten von Partnern (seltener auch Partnerinnen) oder männlichen Verwandten ausgeübt wird: »Aus diesem Grund stellten wir ein Wohnzimmer nach, in welchem alle Möbel und Einrichtungsgegenstände mit [aufgestickten, Anm. d. Verf] Fakten und Informationen versehen waren, um Gewalt gegen Frauen sowie deren Ursachen in festgezurrten Geschlechterkonflikten zu dokumentieren – sowohl in unsymmetrischen Partnerschaftszwängen [als auch in der, Anm. d. Verf.] strukturelle[n] Benachteiligung in der Berufswelt«.40
Bei der Konstruktion dieser affirmativen Heimidylle erscheint die Verwendung von Handarbeiten als Medium zur Darstellung der geschlechtsspezifischen Rollen geradezu prädestiniert, da Handarbeiten in ihrer Geschichtlichkeit fast ausschließlich weiblich konnotiert sind. Genau diese gesellschaftlich konstruierten Frauenstereotypen sollten mit der Projektarbeit subversiv unterwandert werden. Abbildung 1: Ausstellungsausschnitt: home sweet home (Innsbruck, 2006)
Quelle: Christine Pavlic
40 Ebd., S. 240.
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Die Abbildung zeigt einen Teil des nachgestellten Wohnzimmers im Verkaufsraum des leerstehenden Ladens. Zierrat wie Häkeldeckchen oder Kissen wurden mit Slogans wie »No means No« oder »Fuck off Patriarchy« bestickt und durch die Scheibe für Passanten gut sichtbar gemacht. Das Schaufenster erzeugt symbolische Transparenz zwischen privatem und öffentlichem Leben. Die daraus resultierenden Verschiebungen setzte das Kollektiv taktisch ein, um fluide Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu visualisieren, um dadurch versteckte Gewalt sichtbar zu machen. Die craftivistische Community-Art-Kampagne The Monument Quilt weist inhaltlich Schnittmengen zur Ausstellungsarbeit home sweet home auf. Beide verhandeln auf textiler Basis Themen sexualisierter Gewalt, die damit oft einhergehende Stimmlosigkeit der Betroffenen, wie auch die gesellschaftliche Begünstigung der Täter. Unter dem Namen Force: Upsetting Rape Culture (im Folgenden mit Force abgekürzt) initiierten die Amerikanerinnen Hannah Brancato und Rebecca Nagle The Monument Quilt als (textil-)aktivistische Raumaneignungspraxis gegen misogyne Rape Culture. Im Begriff verbinden sich die Verharmlosung und Bagatellisierung von Sexualstraftaten in einem androzentristisch geprägten gesellschaftlichen und sozialen Konsens. Nach der Tat beginnt ein weiterer traumatisierender Prozess, wenn beispielsweise vestimentäre Praxis, Alkoholkonsum oder das sich Aufhalten an bestimmten, öffentlichen Orten als Provokation zur Tat stilisiert werden. Konkret bedeutet dies die Verbannung von Weiblichkeit aus öffentlichen Räumen oder ihre präventive Tabuisierung. Was in den USA als Rape Culture verhandelt wird, ist keineswegs neu, sondern subsumiert altbekannte (Unterdrückungs-)Mechanismen unter einem neuen Begriff. Das feministisch-aktivistische Projekt The Monument Quilt ist eine textile Installation, die an öffentlichen Plätzen in verschiedenen US-Städten, beispielsweise Washington D.C. oder Baltimore, temporär ausgelegt wurde und wird. Es handelt sich um einen riesigen Quilt, der aus einer Vielzahl von in Rottönen gehaltenen Textilquadraten (4x4 Inch) besteht.41 Die einzelnen Textilquadrate geben gemäß der Quilttradition Narrationen wieder. Der hier beschriebene Quilt erzählt die individuellen Geschichten von Betroffenen von sexueller Gewalt. Die Erfahrungsberichte werden im textilen Monument materialisiert und ausgestellt und erhalten so öffentliche Aufmerksamkeit. Im Mai 2014 startete Force
41 Vgl. die Website des Projekts, »The Monument Quilt. Public Healing Space by and for Survivors of Rape and Abuse«, https://www.themonumentquilt.org vom 27.03.2014. Quilte sind gefütterte, aus kleinen Stoffstücken zusammen gefügte Steppdecken.
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eine Tour durch zehn Städte im Osten der USA.42 Im Frühjahr 2017 wird der stetig wachsende Quilt auf dem Areal der National Mall zwischen dem Kapitol und dem Washington Monument in Washington D.C. ausgestellt werden. Dort soll über die Länge von mehr als einem Kilometer die Botschaft »NOT ALONE«, bestehend aus den Quiltelementen, geformt werden. Raum und Mobilität spielen im The Monument Quilt eine zentrale Rolle. Vor allem das Bewegen des Quilts im Realraum erweist sich in Kombination mit der virtuellen Verbreitung als wichtige Strategie bezüglich der Öffentlichkeitsarbeit des Projektes. Die Ausstellung des Quiltes im urbanen Raum wird als Rückeroberung verstanden, da Frauen im öffentlichen Raum Ausgrenzungen durch die Möglichkeit von sexuellen Übergriffen oder in weniger drastischer Form durch Street Harassment erfahren und erdulden müssen. Force gelingt es mit dem Monument Quilt, öffentlich zugänglichen Rehabilitationsraum zu schaffen: »The quilt is based on a simple idea: that we can change our culture by centering the experience of survivors, and as a community, by learning from survivors about their experience, instead of telling them what they need. We can only build healing relationships by listening and by having spaces where we are heard. […] As a community, we can create spaces where survivors can talk about their experiences, and be heard instead of being silenced. We can be witnesses, listening without judgment and without offering our opinions and advice.«43
Der Monument Quilt gebe Menschen, die traumatische Erfahrungen wie Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt erlebt haben, ein Ventil. Das Projekt ermögliche, so Force, die Kanalisierung von Erfahrungen, indem mittels
42 Das Projekt finanziert sich durch Geld- und Sachspenden (2013 ca. 27.000$ über eine Kickstarter-Kampagne und Sachspenden im Wert von über 300.000$). Die Initiatorinnen arbeiten auf ihrer Informationstour mit dem Quilt mit Gemeinden und Kirchen zusammen. Über ihre Internetpräsenz rufen sie weltweit dazu auf, Quiltquadrate zu erstellen und einzuschicken, um die monumentale Größe realisieren zu können. Die Tour, die beispielsweise durch New York City, Cleveland, Chicago, Houston, Tulsa und Atlanta führt, ist nur durch ehrenamtliche Hilfe umzusetzen. Jede_r, der_die möchte, kann sich im Projekt engagieren, indem eigene Workshops in Kooperation mit Force in seinem Umfeld durchgeführt werden. So entsteht eine große Reichweite, die das Projekt populär machen soll und gemacht hat. 43 Vgl. Brancato, Hannah/Nagle, Rebecca: »Healing Relationships«, See the Triumph 25.04.2014, http://www.seethetriumph.org/1/post/2014/04/healing-relationships.html vom 25.04.2014.
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(anonymem) Niederschreiben der Erfahrungen Druck abgebaut würde. Das Erlebte wird im Quilt konserviert, möglicherweise sogar gebannt. Die einseitige Kommunikation zwischen schreibender Person und der kommentarlosen Informationsaufnahme des Quilts sind für Nagle und Brancato essentiell, um den Quilt als »healing space« zu kategorisieren. Der stetig wachsende Monument Quilt wurde als partizipative Plattform bereits der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, so konnten Reaktionen von Rezipient_innen erfasst werden.44 Das Projekt ist interaktiv angelegt: Die Besucher_innen können vor Ort nicht nur Geschichten lesen, sondern auch die eigenen Erfahrungen durch direkt gefertigte Quadrate, die später eingenäht werden, im Quilt verewigen. Zudem ermöglichen Aufrufe im Internet eine nahezu weltweite Teilnahme am Projekt. So werden räumliche Distanzen überwunden, indem Quiltelemente, national wie international, postalisch zugesandt werden können. Auf kultureller Ebene, so Force, beabsichtigen sie primär gegen die vorherrschende gesellschaftliche Stigmatisierung der Opfer von sexueller Gewalt und Vergewaltigung zu intervenieren und stattdessen den Fokus auf ein Public Shaming der Täter zu lenken.45 Beim Public Shaming handelt es sich weder um ein neues noch ein rein US-amerikanisches Phänomen. Es umfasst die zahlreichen Facetten struktureller Gewalt gegenüber Betroffenen von Sexualdelikten im Allgemeinen. In der Phase nach der Tat versucht die The Monument QuiltKampagne einzugreifen, indem durch textile Zeichen öffentlicher Raum angeeignet, sexualisierte Gewalt affirmativ sichtbar gemacht und eine integrative Unterstützerkultur kreiert wird, wie Hibo Jama vom Nisaa African Women’s Project, einem Unterstützungsprojekt von Force, verdeutlicht: »I think the quilt is empowering, [...] It is a voice. It shows sexual assault victims they are valued. It is not their fault. I’ve worked with a lot of women who feel very alone in their experience. With this, they can feel supported.«46 Craftivism/Critical Crafting erzeugt hier einen Missing Link von der klassischen nordamerikanischen Traditionstechnik des Quiltens zu feministischem Aktivismus. Ursprünglich stammen US-amerikanische Quilts aus einer Zeit, in der textile Materialien knappe Güter waren und auch aus der Not heraus kleinere Stoffstücke zum Fertigen von Decken verwendet werden mussten. Aus dieser Situation heraus hat sich ein textiles Kunsthandwerk entwickelt, das im Kontext
44 Culp-Ressler, Tara: »A Monument to Rape Survivors is Coming to New York City«, Think Progress 18.08.2014, http://www.thinkprogress.org/health/2014/08/18/3472562 /monument-quilt-new-york-city/ vom 18.08.2014. 45 Ebd. 46 Vgl. T. Culp-Ressler: »A Monument«.
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familiärer Diskurse als textiles Display genutzt wurde, beispielsweise um eine Liebesgeschichte in einen Hochzeitsquilt einzuarbeiten.47 Traditionell wurden von den heiratsfähigen Frauen beziehungsweise Mädchen Hochzeitsquilts hergestellt, die als Teil der Aussteuer mit in den neuen Haushalt gebracht wurden. Neben der häuslichen Sphäre entstehen Quiltarbeiten in den USA häufig zu Wohltätigkeitszwecken, en detail versteht man darunter Sachspenden in Form von handgefertigten Quilts, die beispielsweise in Katastrophengebiete geschickt werden. Die traditionell weiblich kodierte Quiltherstellung wird durch Force aus ihrer häuslichen Umgebung in den öffentlichen Raum getragen und dient dort als urbane Projektionsfläche für erfahrene Leiden durch Sexualstraftaten. Im Folgenden wird der finale Ausstellungsort als Fallbeispiel für Force’ Arbeitspraxis analysiert. Wie zeichnet sich die National Mall aus und was qualifiziert sie als finalen Installationsort? Dieser Ort bot in der Geschichte immer wieder Raum für Protestkulturen, Aufmärsche und politische Kundgebungen. Die Wahl dieses Ortes als Kristallisationspunkt für die The Monument QuiltKampagne erklärt sich anhand der historischen und kulturellen Bedeutung der National Mall als patriotischem Repräsentationsraum. Die Liste der Protestmärsche, die dort endeten, ist lang. 1963 sprach Martin Luther King dort das populäre »I have a dream« in seiner Rede zum March on Washington for Jobs and Freedom, um nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen. Neben Protestmärschen und -kundgebungen verschiedenster Couleur von Anti-VietnamBewegungen, Forderungen von LBTGQI-Gruppierungen oder Frauenrechtsbewegungen nach Gleichberechtigung, ist die National Mall vor allem Ort für amerikanische Erinnerungskultur. Steingewordener Patriotismus wird dort durch Denkmäler, Statuen oder Kriegsmonumente repräsentiert. Die verewigten Persönlichkeiten markieren das Areal als männlich dominiert, fast ausschließlich Statuen von Männern, zum Beispiel ehemaligen Präsidenten oder Kriegsveteranenmonumente, sind auf dem Gelände ausgestellt. Weiblichkeit tritt dort nur sehr marginal, in Form eines Denkmals für Leistungen von Frauen während des Vietnamkriegs, in Erscheinung.48 Das The Monument Quilt-Projekt ist nicht das erste Textilprojekt, das dort ausgestellt wird. Bereits 1987 wurde auf den Rasenflächen der National Mall ein
47 Der Hollywoodfilm HOW TO MAKE AN AMERICAN QUILT (USA 1995, R: Jocelyn Moorhouse) beschäftigt sich mit der Traditionstechnik und greift vor allem die Hochzeitsthematik und die Beziehung zwischen Mann und Frau auf. 48 Vgl. hierzu die Sektion »Washington, DC Monuments and Memorials« der Website washington.org, 27.03.2014.
http://washington.org/washington-dc-monuments-memorials
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riesiger Quilt zum Gedenken der AIDS-Opfer und AIDS-Erkrankten ausgelegt und dadurch Kritik an der AIDS-Politik der Reagan-Ära geübt. Der AIDSMemorial Quilt ist somit ein kritischer Vorläufer des feministischen Quiltprojektes und scheint im organisatorischen Aufbau und der Umsetzung als Blaupause zu dienen.49 Die Installation des textilen Monumentes zum Sichtbarmachen von sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen erzeugt durch die Materialität und die Rückeroberung maskuliner Herrschaftsräume interessante Korrelationen. Die Verwendung eines Quilts als monumentales Kommunikationsinstrument erscheint aus zwei Perspektiven interessant: Einerseits aus historisch-traditioneller Sicht auf Handarbeiten, Häuslichkeit und Weiblichkeit, der Quilts primär zugeordnet werden. Andererseits bezüglich Diskursen über Sex innerhalb der immer noch sehr puritanisch geprägten US-Gesellschaft. Force propagiert eine sogenannte Consent Culture und beabsichtigt damit, vor allem Männer für die Kommunikation in sexuellen Kontexten zu sensibilisieren. Es sollen Missverständnisse vermieden werden, wie etwa im Sinne einer fälschlich als Zustimmung verstandenen Absage oder des (männlichen) Irrglaubens, eine Ablehnung nicht als solche zu verstehen, sondern als Herausforderung für eine offensivere, wenn nicht gar radikalere, Flirt-Taktik zu nutzen.50 Oft werden Opfer sexueller Gewalt im Nachhinein mit Vorwürfen und Teilschuld am Geschehenen konfrontiert; dabei wird nicht selten geurteilt, das Opfer habe nicht deutlich beziehungsweise bestimmt genug Unwillen formuliert. Die Force-Initiative möchte mit ihren Kampagnen das Paradoxe solcher Sichtweisen innerhalb der Täter-OpferKommunikation sichtbar machen und direkten oder impliziten Hinweisen auf Mitschuld durch Fehlverhalten von Opfern entgegenwirken. So geben sie in ihrem Konzept für konsensuellen Sex an, dass echte Zustimmung direkt und enthusiastisch verbalisiert wird und keiner Überredung bedürfe: »only enthusiastic, verbal consent means yes«.51 Die Kommunikation über Sex »in modernen Gesellschaften zeichne[t] sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbann[t], sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn [Hervorhebung im Original] als Geheimnis geltend mach[t].«52 Gegen die konservative Haltung, Sex als etwas Geheimes, über das nicht offen gesprochen wird, zu behandeln, möchte Force mit verschiedenen Strategien intervenieren, indem mittels textiler
49 Vgl. hierzu die Website des Projekts, http://www.aidsquilt.org/about/the-aids-memori al-quilt vom 27.03.2014. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977, S. 49.
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Displays unsichtbare Diskurse über (nicht-konsensuellen) Geschlechtsverkehr öffentlich werden. Force stellt einen spannenden Kontrast durch den Ausstellungsort, die National Mall, und den Quilt her. Sie konfrontieren die Öffentlichkeit mit dem unangenehmen Thema genau da, wo traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen regelrecht einbetoniert sind, und unterminieren nicht nur den patriotischen Realraum, sondern greifen auch subversiv in das gesellschaftliche Gespräch über Sex und Gewalt ein.
A BSCHLIESSENDE B ETRACHTUNGEN Das gutbürgerliche Eigenheim ist – je nach Generation und Geschmack – dekoriert mit traditionellen textilen Handarbeiten. Dort tummeln sich von gehäkelten Zierdeckchen über geklöppelte Spitzen bis zu Kreuzstichweisheiten á la »Trautes Heim, Glück allein« zahlreiche Variationen handgearbeiteter Textilien. Dass eben genau dieses »traute Heim« oft nicht Ort des Glückes, sondern Ort (sexualisierter) Gewalt gegenüber Frauen ist, karikiert die home sweet home-Ausstellung. Das »unheimliche Heim« wird geschaffen, indem alte (textile) Maschen mit unerwarteten Bedeutungsmustern aufgeladen werden.53 Der Monument Quilt zeichnet sich ebenfalls durch persiflierende Komponenten aus. Die Wirkmechanismen beider Projekte ähneln sich stark, unter anderem durch das Überraschungsmoment, welches textiles Handarbeiten als Instrumentarium für feministischen Widerstand erzeugt. Beide leisten einen Beitrag zur Sichtbarmachung von Misogynie, häuslichen Gewalttaten und dem Erfahren von androzentristisch ausgeübter und struktureller Gewalt in einer patriarchalen Gesellschaft. Die Verwendung klassischer Handarbeitstechniken als Protestwerkzeug erweist sich als kreatives und subversives Tool, um gegen Weiblichkeitsstereotype, asymmetrische Machtverhältnisse und (vermeintliche) Normativität zu intervenieren: »Normativität ist der Nexus im postfeministischen Widerstand und bildet somit die ursächliche Bedingung für dieses Phänomen. […] Normativität kann als eine Machtform verstanden werden.«54 Die (Kommunikationsguerilla-)Strategie des Fakens, der Überzeichnung und der Irritation, ermöglichen eine Demaskierung der Normativität, da diese durch verschiedene Interventionen auf symbolischer Ebene angegriffen wird. Das gezielte Fälschen von Kommunikationsprozessen jeglicher Art dient als Umkehrspiegel, indem es das Bild des »beunruhigende[n]
53 B. Maldoner-Jäger/C. Pavlic: »Handarbeit als Aktionismus«, S. 239. 54 Groß, Melanie: Geschlecht und Widerstand. post.. | queer.. | linksradikal.., Königstein 2008, S. 174.
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und potentiell widerständige[n] ›Andere[n]‹ des Bestehenden aufscheinen« lässt.55 Luther und Brünzels Faketheorie versucht das Funktionsprinzip der Macht nicht nur zu stören, sondern auch ihre Legitimation zu beschädigen. Das Radikale Nähkränzchen bespielte (teil-)öffentlichen Raum, um öffentliche Diskurse bezüglich Häuslichkeit und patriarchaler Machtstrukturen transparent zu machen, denn mittels der Kommunikationsguerilla-Strategie des Fakens wurden Sichtweisen auf das Eigenheim als Schutzraum unterminiert. Die Monument Quilt-Kampagne lässt sich ebenfalls als kultureller Fake oder mehr noch als Urban Hacking-Projekt kategorisieren.56 Bekannte Lesarten von Handarbeit, Weiblichkeit und Öffentlichkeit werden durch ostentative Raumeinnahme beeinflusst. Das als ungefährlich markierte Textile wird nicht nur überdimensioniert inszeniert, sondern auch mit bedrohlichen und unangenehmen Inhalten aufgeladen.
55 Autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe/Blisset, Luther/Brünzels, Sonja: Das Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin 2001, S. 65. 56 Urban Hacking lässt sich unter dem Dachbegriff Culture Jamming einordnen. Darunter kumulieren sich verschiedene künstlerische und sozialkritische Aktionismen wie auch visuelle Protestformen. Hack ist hier im Sinne von ›eindringen/verändern‹ zu verstehen.
»Der Typ, der... « Der #aufschrei als vergeschlechtlichte Gegenöffentlichkeit im Cyberspace
A NNA K D REHER
Im Januar 2013 bewegte der Twitter-Hashtag #aufschrei die öffentliche Debatte Deutschlands. Der Hashtag1 wurde ins Leben gerufen, um darunter Erlebnisse mit sexistischen Übergriffen2 zu sammeln. Der Kurznachrichtendienst Twitter, ein soziales Internetmedium, diente hierbei als Plattform für ein Empowerment3
1
Ein »Hashtag« entsteht, indem ein_e User_in eine Raute (»#«) vor ein Wort setzt. Der Hashtag ist ein Stichwort, unter dem Beiträge zu einem Thema gesammelt werden können. Alle mit dem gleichen Hashtag versehenen Beiträge sind dann in einem LiveTwitterstream direkt einsehbar. Es ist also bei Twitter nicht nur möglich, eine_r User_in, sondern auch einem Hashtag zu folgen.
2
Der Begriff »Übergriff« wird hier als Oberbegriff genutzt und meint sowohl verbale als auch körperliche Grenzüberschreitungen, wobei es an der betroffenen Person ist, zu bestimmen, wo ihre_seine Grenzen liegen und wann sie überschritten sind.
3
Mit Bettina Schmidt und dem Anti-Bias-Ansatz verstehe ich Empowerment als »Einsicht der Menschen in die eigene und gemeinsame Kraft, die Fähigkeit und den Mut, diskriminierende Strukturen und Verhaltensweisen zu verändern bzw. ihnen entgegenzutreten. Gemeint ist der Prozess der Entwicklung von emotionaler und intellektueller Bereitschaft zur Konfrontation von Unterdrückung (vgl. Derman-Sparks 1989, 5), der insbesondere auf der Bewusstwerdung eigener Stärken und dem Mut zur Umsetzung eigener Lebensvorstellungen basiert (vgl. Derman-Sparks/Brunson-Phillips 2002, 62).« Schmidt, Bettina: Den Anti-Bias-Ansatz zur Diskussion stellen. Beiträge zur Klärung theoretischer Grundlagen in der Anti-Bias-Arbeit, Oldenburg 2009, S. 138, http://oops.uni-oldenburg.de/1056/1/schmanti09.pdf vom 14.08.2014.
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von Personen, die von Sexismus betroffen sind. An diesem Beispiel werde ich, ausgehend von der Frage, auf welche Weise der Cyberspace und insbesondere Twitter öffentliche Räume sind und wie diese sozial hergestellt und gefüllt werden, untersuchen, inwiefern das Internet als emanzipatorischer Raum fungiert, welche Hindernisse sich hierbei zeigen und welche Versuche es gibt, diese Hindernisse zu überwinden.
C YBER , S PACE
UND
Ö FFENTLICHKEIT
»Die ›Geographie‹ des Internets gliedert sich nicht in durch Grenzlinien voneinander geschiedene Territorien; sie setzt sich im Gegensatz dazu aus miteinander verknüpften Servern, also aus Punkten, zwischen denen Verbindungslinien verlaufen, zusammen.«4
In den meisten Situationen, wenn über »das Internet« gesprochen wird, sprechen wir5 vom ›Netz‹ (›Inter-net‹ steht für international network) und bezeichnen so recht akkurat die oben beschriebene technische beziehungsweise geografische Dimension des Internets. Dem stellt sich aber ein räumliches Verständnis des Internets entgegen, das sich einerseits im Begriff »Cyberspace«6 ausdrückt, andererseits aber auch nicht in Konflikt mit dem Begriff ›Internet‹ oder ›Netz‹ zu stehen scheint, wenn eine Person zum Beispiel davon spricht, »ins« Netz zu gehen. Was ist aber damit gemeint, wenn eine Person sagt, sie gehe »ins Netz«? Gemeint ist keine technische Komponente, auch keine geografische Extension, kein Punkt und keine Fläche auf einer Landkarte, kein Zimmer, kein Gebäude. Gemeint sein könnte aber sehr wohl eine Adresse; eine (Internet-)Adresse, die ich als Besucher_in nicht aufsuchen, sondern nur aufrufen muss, und die dann –
4
Niedermaier, Hubertus/Schroer, Markus: »Sozialität im Cyberspace«, in: Alexandra Budke/Detlef Kanwischer/Andreas Pott (Hg.), Internetgeographien. Beobachtungen zum Verhältnis von Internet, Raum und Gesellschaft, Stuttgart 2004, S. 125-141, hier S. 125.
5
Ich meine an dieser Stelle die modernisierte (Welt-)Gemeinschaft, die den Begriff vom ›Internet‹ in die jeweiligen Mutter- und/oder Landessprachen aus dem Englischen importiert oder übersetzt hat. Innerhalb einer deutschen Sprachgemeinschaft ist z.B. auch eingedeutscht die Rede vom ›Netz‹ (z.B. »ich habe X im Netz gefunden«).
6
Vgl. Bollmann, Stefan: »Einführung in den Cyberspace«, in: ders. (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 163-165.
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es klingt nach einem Wunder – quasi zu mir kommt.7 Der Raum, von dem wir in diesen Fällen sprechen, konstituiert sich nicht durch (physische) räumliche Ausdehnung, auch nicht durch die (Schrift-/Bild-)Zeichen, die nur benutzt werden, um ihn darstellbar zu machen, sondern er konstituiert sich durch die sozialen Interaktionen, die Kommunikation, die darin stattfindet. Virtuelle Räume heben die »Korrelation von räumlicher und sozialer Nähe auf«.8 An dieser Stelle bietet der Cyberspace zunächst nichts prinzipiell Neues – Kommunikation hatte sich schon durch Inschriften in Steintafeln, durch Briefe, Flugblätter, Zeitungen, Bücher, Telefone, Radios, Fernseher, CDs, Videos, LED-Tafeln und vieles mehr von ihrer Gebundenheit an Raum, Zeit und (menschlichen) Körper befreit. Was also unterscheidet den Cyberspace von den traditionellen Massenmedien? Niedermaier und Schroer betonen besonders zwei Unterschiede: die Nicht_Schaffung eines (allgemein-)gültigen thematischen Referenzrahmens, und das Nicht_ Vorhandensein eines rein rezeptiven Publikums.9 Beides fällt in einem zentralen Unterschied zusammen: Die traditionellen Massenmedien beruhen auf der Institutionalisierung ihrer Produktion. Dieser grundlegende Unterschied zur Produktion und Verbreitung von Informationen im Netz durch verschiedenste, unter sich und in sich heterogene Netzgemeinschaften (›Bubbles‹) schafft sich auch nicht dadurch ab, dass die traditionellen Medien in Anpassung an die Zeit selbst Internetpräsenzen betreiben. Denn die traditionellen Medien gewährleisten, ob mit oder ohne Netzpräsenz, einen gemeinsamen Themenhorizont. An der Schaltstelle ihrer Produktion und Verbreitung sitzt weiterhin ein Mechanismus, der auf der Grundlage eines internationalen und eines nationalen (Werte-)Kanons die für eine unterstellte Mehrheitsgesellschaft als relevant zu setzenden Informationen herausfiltert und verbreitet. Bleibt zu fragen, wer die Mehrheitsgesellschaft (beziehungsweise das Zielpublikum) imaginiert, und wer als Teil dieser Mehrheitsgesellschaft imaginiert wird (beziehungsweise wer nicht).10 Oder anders gefragt: Impliziert der Auswahlmechanismus, der den thematischen Referenzrahmen steckt, auch einen Ausschlussmechanismus, der das Zielpublikum und damit die demokratische Öffentlichkeit als eine bestimmte, relativ homogene Gemeinschaft konstruiert? Nancy
7
Vgl. H. Niedermaier/M. Schroer: »Sozialität im Cyberspace«, S. 127.
8
Ebd., S. 128.
9
Vgl. ebd., S. 131-133.
10 Vgl. hierzu beispielsweise Noah Sows Analyse der deutschen medialen Berichterstattung als kulturell befangen, voreingenommen und in der Folge rassistisch. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus, München 2009, S. 147-199.
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Fraser fasst die Charakteristika dieser Vorstellung von Öffentlichkeit so zusammen: »In der Demokratietheorie versteht man unter Öffentlichkeit einen Raum, in dem die öffentliche Meinung durch einen kommunikativen Prozess gebildet wird. Insoweit dieser Prozess inklusiv und fair ist, wird erwartet, dass Sichtweisen, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten können, diskreditiert werden und die Legitimität der übrigen abgesichert wird. Außerdem wird die Öffentlichkeit als Werkzeug verstanden, mittels dessen sich die öffentliche Meinung als politische Kraft zur Geltung bringt. In der öffentlichen Debatte wird die reflektierte Vernunft der Zivilgesellschaft mobilisiert, um die Regierenden zur Verantwortung zu ziehen und sicherzustellen, dass sich im Handeln des Staates der Wille der Bürgerinnen und Bürger ausdrückt.«11
Fraser konzentriert sich in ihrem Artikel darauf, dass hierbei immer das Vorhandensein einer »örtlich begrenzte[n] politische[n] Gemeinschaft mit eigenem Territorialstaat vorausgesetzt«12 wird. Ebenso wird aber, so möchte ich ergänzen, durch die Anrufung der »Vernunft der Zivilgesellschaft«13 auch innerhalb dieses unterstellten Territorialstaates schon eine bestimmte Zielklientel vorausgesetzt: Der/die aufgeklärte, demokratische Bürger/in, deren politisches Streben fraglos als ›Teilhabe‹ innerhalb des demokratischen, kapitalistisch organisierten, modernen Territorial- und Nationalstaates bezeichnet werden kann. Die Produktion dieses Bürgers/dieser Bürgerin lässt sich bei Johannes Agnoli nachlesen, der von der Tatsache spricht, »daß die politische Willensbildung kein originäres Recht der großen Mehrheit der Bevölkerung ist, sondern ›nachträglich‹: im Nachvollzug der von Führungsgruppen angebotenen Alternativen ins Volk hineinprojiziert wird«.14 Auch das Modell der demokratischen Öffentlichkeit, das sich auf die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger/innen beruft, gibt also einen Refe-
11 Fraser, Nancy: »Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit. Legitimität und Effektivität der öffentlichen Meinung in einer postwestfälischen Welt«, in: Johanna Dorer/ Brigitte Geiger/Regina Köpl (Hg.), Medien – Politik – Geschlecht. Feministische Befunde zur politischen Kommunikationsforschung, Wiesbaden 2008, S. 18-34, hier S. 18. 12 Ebd., S. 19. 13 Ebd. 14 Agnoli, Johannes: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt a.M. 1974, S. 15. Agnoli lehnt sich hier an Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 8 an.
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renzrahmen beziehungsweise eine Perspektivierung vor, aus der heraus Informationen ausgewählt, aufbereitet und verbreitet werden. Fraser nennt dies die »im Liberalismus übliche Vorstellung einer einzigen umfassenden Öffentlichkeit«, die in ihrer Themenwahl auf »bürgerliche[r] und maskulinistische[r] Parteilichkeit«15 beruhe und die Partizipationsmöglichkeiten der unteren Schichten in stratifizierten Gesellschaften einschränke. Frasers Antwort darauf ist, sich hinter politische Bewegungen wie den Feminismus zu stellen, die »für eine Verschiebung der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem eintreten«.16 Tatsächlich versuchen feministische Internet-Kampagnen und -Aktionen, wie auch der #aufschrei eine ist, den Cyberspace als Gegen-Gegenöffentlichkeit zu nutzen. Das Internet, dem häufig eine demokratisierende Wirkung zugeschrieben wird, weil es die Mechanismen der thematischen Kanonbildung, der Institutionalisierung der Informationsproduktion und der Passivisierung des Publikums nicht besäße,17 erscheint als passender Raum für ein solches Unterfangen: Sowohl der Feminismus als politische Bewegung als auch das Internet als politisch-öffentlicher Raum scheinen das liberaldemokratische Modell einer einzigen, in sich geschlossenen, demokratischen Öffentlichkeit in Frage zu stellen.
D ER C YBERSPACE – EIN GESCHLECHTSNEUTRALER
R AUM ?
Der Cyberspace, als vom Körper losgelöster Kommunikationsraum, scheint sich für feministische Interventionen und Analysen geradezu anzubieten. Jede Geschlechts(re)präsentation ist hier absolut willkürlich: Sie findet in Form von Sprache und Bildern statt, die von jede_r Nutzer_in selbst gewählt werden (können). Der Schluss, dass geschlechtliche Positioniertheiten im virtuellen Raum keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten, liegt also nahe. Dazu ist zunächst einmal festzuhalten, dass das Internet und seine Technologie nicht so geschlechtslos sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Soziologe und Medientheoretiker Manuel Castells formuliert diesen Umstand als Frage an eine feministische Kommunikations-/Medienforschung:
15 N. Fraser: »Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit«, S. 18. 16 Ebd. 17 Vgl. H. Niedermaier/M. Schroer: »Sozialität im Cyberspace«, S. 132f.
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»[...] die Technologien werden ständig [von den Benutzern] verändert. Wenn das der Fall ist, sind die Benutzer die Schöpfer der Inhalte des Netzes, und die ersten Nutzer waren in überwältigender Mehrzahl Männer. Was sind die Konsequenzen dieses frühen, männlich dominierten Gebrauchs des Netzes in Bezug auf Inhalte und Gepflogenheiten? Und was passiert, wenn Frauen ins Internet kommen? Ändert sich da etwas? Wie flexibel ist der Rahmen Internet? Wenn wir sagen, daß die Nutzer das Netz aufgebaut haben und diese Nutzer Männer waren, ist das gleichgültig für die Nutzung des Netzes durch Frauen?«18
Dass Castells letzte Frage eindeutig mit ›Nein‹ zu beantworten ist, zeigt sich in verschiedenen netzfeministischen Initiativen des 21. Jahrhunderts. Als Beispiel sei hier die Plattform hatr.org genannt, die aus dem Umfeld des feministischen Blogs Mädchenmannschaft entstanden ist: hatr.org dient dazu, Hasskommentare, die auf feministischen und/oder anti-/contra-rassistischen Blogs hinterlassen werden, zu sammeln und öffentlich zugänglich zu machen. Die Schwemme an Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen, Mord- und Vergewaltigungsphantasien, die auf die Betreiber_innen solcher Blogs einprasseln, belegt, dass das Netz kein geschlechtsneutraler Raum ist. Durch Plattformen wie hatr.org behalten die Betreiber_innen der Zielblogs die Möglichkeit, ihre Blogs als »sichere_re Orte«19 zu gestalten, ohne dass sie dadurch aber ins Schweigen und in die Isolation gezwungen werden. Stattdessen haben sie nun ein Mittel an der Hand, mit dem sie die Hasskommentare an den Pranger stellen können.20 Eine ähnliche Entwicklung von öffentlicher feministischer Intervention, dem Angriff darauf und dem Umgang mit diesem Angriff fand auch im Zusammenhang mit dem #aufschrei statt. Die Phasen dieser Bewegung werde ich im Folgenden anhand
18 Castells, Manuel: »Frauen in der Netzwerkgesellschaft: Fragen an den Feminismus«, in: Heinrich-Böll-Stiftung und Feministisches Institut (Hg.), feminist_spaces. Frauen im Netz, Königstein/Taunus 2002, S. 147-168, hier S. 155. 19 Der sichere_re Ort (safe_r space) soll ein Ort sein, an dem Diskriminierungen nicht stattfinden, Machstrukturen reflektiert werden und an dem sich alle* (und gemeint sind damit vorrangig von Diskriminierungen im Alltag negativ betroffene Personen) wohl fühlen können. Eine Definition liefert unter anderem das Geekfeminismwiki: »Safe Space«, http://geekfeminism.wikia.com/wiki/Safe_space vom 15.03.2014. 20 Auch ist es möglich, auf hatr.org Werbung zu schalten und dieses Projekt somit finanziell zu unterstützen. Gewinne werden an feministische und/oder anti-/contrarassistische Projekte gespendet.
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stichpunktartiger21 Analysen der unter dem Hashtag abgesetzten Tweets herausarbeiten. Ich werde hierzu jeweils eine Stunde an für den Verlauf der Debatte signifikanten Zeitpunkten herausgreifen und die in diesem Zeitraum abgesetzten Tweets quantitativ und (sehr eingeschränkt) auch qualitativ analysieren, um so die Entwicklung des Hashtags nachzuzeichnen. Die von mir ausgewerteten Zeiträume sind: (1) Kreation des Hashtags: 25.01.2013 00:26-01:26 Uhr; (2) der Morgen danach: 25.01.2013 08:30-09:30 Uhr; (3) der Abend des nächsten Tages als Kontrollinstanz: 26.01.2013 21:00-22:00 Uhr; (4) Begleitung der ersten Talkshow, die sich mit dem Thema befasst (Günther Jauch): 27.01.2013 22:00-23:00 Uhr; (5) der darauf folgende Abend als Kontrollinstanz: 28.01.2013 21:00 -22:00 Uhr.
D ER # AUFSCHREI ALS DISKURSIVER R AUM : R AUMNAHME , S OLIDARITÄT UND T ROLLE Der Hashtag #aufschrei22 wurde am 25.01.2013 um 00:26 Uhr von der Twitterin @marthadear ins Leben gerufen.23 @marthadear gab dem Kind einen Namen – und reagierte damit auf eine Reihe von sehr persönlichen Tweets, in denen die Twitterin @vonhorst sexistische Situationen, die sie erlebt hatte, in Kurzform schilderte.
21 Die Gesamtzahl der Tweets ist hier nicht zu bewältigen: 67.963 gesammelte Tweets allein zwischen dem 25.01.2013 und dem 27.02.2013. Der Hashtag besteht aktuell noch und wird auch jetzt noch vereinzelt genutzt. 22 Die ersten beiden #aufschrei-Wochen mit insgesamt 58.007 Originaltweets (ohne Retweets, also ohne zitierte oder nur weitergeleitete Tweets) lassen sich hier bequem nachlesen: http://aufschrei.konvergenzfehler.de/ vom 09.03.2014. 23 Auch wenn an dieser Stelle leider kein Platz ist, um näher darauf einzugehen, möchte ich dem_der Leser_in dennoch zwei Blogartikel ans Herz legen, die mit einem Jahr Abstand rekapitulieren, wie es zu der großen Einschlagskraft des #aufschrei kommen konnte: von Horst, Nicole: »Archäologie von zwei Tagen. Was Brüderle (nicht) mit #aufschrei zu tun hat«, http://literatier.wordpress.com/2014/01/24/archaologie-vonzwei-tagen-was-bruderle-nicht-mit-aufschrei-zu-tun-hat/ vom 09.03.2014; Hansen, Helga: »Ein Jahr nach #aufschrei: Es schmerzt«, http://hanhaiwen.wordpress.com/ 2014/01/25/ein-jahr-nach-aufschrei-es-schmerzt/ vom 09.03.2014.
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»@marthadear – 25.01.2013 12:26 AM @vonhorst wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor.«
Der Hashtag verbreitete sich schnell und schon am nächsten Morgen kamen die ersten Presseanfragen an @marthadear und @vonhorst.24 In dieser Frühphase beteiligten sich vorrangig feministische User_innen am #aufschrei,25 die, @vonhorsts Beispiel folgend, eigene Episoden beitrugen. Schon in der ersten Stunde nach Findung des Hashtags wurden insgesamt 279 Tweets von 75 verschiedenen Twitter_innen mit dem Hashtag #aufschrei abgesetzt.26 Davon berichteten 172 (61,65%) von eigenen #aufschrei-Erlebnissen, 94 Tweets (33,69%)
24 Zum Beispiel von Tina Halberschmidt für das Handelsblatt am 25.01.2014 um 09:32 AM: »@marthadear @vonhorst Möchte über #aufschrei schreiben, für #Handelsblatt. Ihr habt das Thema aufgebracht? Wie erreiche ich Euch? #Interview«, http:// twitter.com/thalberschmidt/status/294724320259887104 vom 09.03.2014. 25 Die
Zuschreibung
erfolgt
aufgrund
von
Selbstbezeichnungen
im
Twitter-
User_innenprofil oder anhand von inhaltlichen Positionierungen innerhalb der #aufschrei-Debatte selbst. 26 Die Auswertung der #aufschrei-Tweets erfolgte mittels der App aufschreib. Code einsehbar unter: https://github.com/ffalt/aufschreib vom 10.03.2014. Der Zugriff auf die Tweets und Auswertungen selbst ist passwortgeschützt. Bei Interesse bitte ich um Kontaktaufnahme. In der App ist eine Kategorisierung der Tweets nach den Kategorien »aufschrei«, »Kommentar«, »Troll«, »Link« oder »Spam« möglich. »aufschrei« umfasst alle Tweets, die ein eigenes #aufschrei-Erlebnis schildern. »Kommentar« umfasst alle Tweets, die sich konstruktiv über den Hashtag austauschen. »Troll« umfasst Tweets, die keine konstruktiven Beiträge leisten, sondern feindlich und/oder selber sexistisch sind, oder die sich über den Hashtag lustig machen. »Link« umfasst Tweets, die nur einen thematisch zum #aufschrei passenden Link und eventuell die Überschrift des verlinkten Artikels oder eine Zusammenfassung davon enthalten. »Spam« umfasst die Tweets, die thematisch unpassende Links (zum Beispiel Werbe-Seiten) enthalten. Leider kann keine 100%-ige Sicherheit erlangt werden, dass ausnahmslos alle Tweets in diese Datenbank eingespeist worden sind. Trotz der live während des #aufschreiZeitraums stattfindenden Sammlung der Tweets durch Crawler wurde bei Auffindung einer zweiten Sammlung (die nach derselben Methode erstellt worden war) festgestellt, dass in der ersten Sammlung noch Tweets gefehlt hatten. Dies lässt darauf schließen, dass Twitter in der Herausgabe der Tweets nicht verlässlich und umfassend ist. Daher sind die ermittelten Zahlen nur als Mindestwerte und Tendenzen zu verstehen.
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waren Kommentare oder Nachfragen zum Hashtag, elf (3,94%) Tweets fallen unter die Kategorie ›Troll‹ (auf die ich später weiter eingehen werde) und jeweils ein Tweet enthielt Spam oder einen thematisch passenden Link. Zu dieser frühen #aufschrei-Stunde bestanden die Kommentare zum sehr großen Teil aus sich gegenseitig unterstützenden, bekräftigenden und lobenden Tweets derjenigen, die auch selbst #aufschrei-Erlebnisse posteten und die alle Teil der feministischen »Filterblase«27 waren. @vonhorsts Beispiel folgend, orientierten sich viele der Tweets am »Wehrli-Zitat«28, einem Notationsverfahren, das der Schriftsteller Peter K. Wehrli in seinem Lebenswerk Katalog von Allem perfektionierte. Ein »Wehrli-Zitat« komprimiert in nur einem Satz alle wichtigen Eckdaten eines Ereignisses:29 »@------ 25.01.2013 – 00:52 der typ, der sich ekelhaft nah im kaufhaus an mir vorbeischob. als ich mich umdrehte sah ich, dass er unendlich viel platz hatte. #aufschrei« »@------ 25.01.2013 – 01:24 der vater einer schulfreundin, der auf ihrer geburtstagsfeier all ihren freundinnen poklappse gab. ich habe mich immer versteckt. #aufschrei«
27 Eine Filterblase entsteht, wenn User_innen einer bestimmten Plattform (hier zum Beispiel Twitter) hauptsächlich solchen User_innen folgen/sich mit ihnen befreunden, die ähnliche inhaltliche und/oder politische Positionierungen aufweisen wie sie selbst. Die Filterblase ist zwar insgesamt meistens öffentlich und nicht komplett in sich geschlossen, erlaubt den involvierten User_innen aber, das spezielle Medium, in dem sie sich bewegen, hauptsächlich als Ort der Selbst- und Rückversicherung zu nutzen. Maireder und Schlögl nennen dies in ihrer Auswertung des #aufschrei ein »cluster« und verfolgen nach, wie sich der #aufschrei aus der feministischen Filterblase heraus in weitere Blasen hinein übertragen und verbreitet hat. Vgl. Maireder, Axel/Schlögl, Stephan: »24 Hours of an #Outcry. The Networked Public of a Socio-Political Debate«, in: European Journal of Communication (to be printed), http://homepage.univie.ac.at/axel. maireder/2014/02/24-hours-of-an-outcry-the-networked-publics-of-a-socio-politicaldebate/ vom 09.03.2014. 28 Vgl. dazu N. von Horst: »Archäologie von zwei Tagen«. 29 Da es sich um sehr persönliche Erlebnisse handelt und ich nicht mit allen zitierten Twitter_innen im Vorhinein Kontakt aufnehmen konnte, habe ich die Twitterhandles anonymisiert.
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»@------ 25.01.2013 – 00:45 Der Mann im Zug, der mir an den Hintern grabschte, noch während meine Freund_innen dabei waren. #aufschrei« »@------ 25.01.2013 – 00:45 Der Typ, der mit Blick auf meine Brüste sagte: "Ist dir kalt oder freust du dich nur, mich zu sehen?" #aufschrei« »@------ 25.01.2014 – 00:40 Der Typ der nachts mit seinem BMW neben mir hielt & unbedingt meine Nummer wollte und sich nur per Ortskenntnis abschütteln ließ #aufschrei« »@------ 25.01.2013 – 00:56 Der Typ der mich als F*tze beschimpfte, als ich lieber ein Buch lesen wollte als mit ihm zu reden. #aufschrei«
Auffällig an vielen der Tweets mit #aufschrei-Erlebnissen ist, dass sie die Personen, von denen die sexistischen Übergriffe ausgingen, eindeutig als ›männlich‹ identifizieren. 59 Mal kommt das Wort »Typ« innerhalb der ersten Stunde in den mit #aufschrei getaggten Tweets vor – und ist somit das am häufigsten verwendete Wort. 30 Alle Tweets, in denen das Wort »Typ« vorkommt, berichten von eigenen #aufschrei-Erlebnissen der User_innen.31 Männer werden somit schon von Anfang an ganz klar als Sexismus ausübende Personen, als Aggressoren, identifiziert. Sie stehen als solche in den ersten Stunden des #aufschrei insofern im Zentrum, als dass das von Männern ausgeübte Verhalten exponiert und als zu verurteilendes gerahmt wird. Der #aufschrei ist von Anfang an ein vergeschlechtlichtes Unterfangen, das sich in der kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft gegen den ›sexistischen Normalzustand‹32 wendet. Er kreiert eine (Gegen-)Öffentlichkeit, die entgegen der liberaldemokratisch-bürgerlichen Öf-
30 Weitere Täter-Marker sind »Mann«, »Kerl« und Berufsbezeichnungen wie »Arzt« oder »Lehrer«. Eine genauere Auswertung der Tweets mit #aufschrei-Erlebnissen liegt noch nicht vor. 31 Davon gibt es vier Ausnahmen, die als »Kommentar« kategorisiert sind. Diese Tweets enthalten je einen Tweet mit einem #aufschrei-Erlebnis als Zitat und einen solidarischen Kommentar dazu, wobei das Wort »Typ« in dem zitierten #aufschrei-Tweet enthalten ist. 32 Diese Wendung ist in (netz-)feministischen Kreisen ein stehender Begriff, der den vom #aufschrei beispielhaft dokumentierten Alltagssexismus bezeichnet.
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fentlichkeit der Massenmedien eben gerade nicht auf »bürgerliche[r] und maskulinistische[r] Parteilichkeit«33 beruht, sondern eine feministische Parteilichkeit zum Programm macht. Diesem feministischen Vorstoß schlägt schnell eine Gegenbewegung entgegen: Während in der ersten Stunde noch die Tweets mit #aufschrei-Erlebnissen überwiegen und die wenigen anderen Tweets hauptsächlich aus solidarischen und/oder unterstützenden Kommentaren bestehen, nimmt die Menge an ›Troll‹Tweets, die aktiv den Hashtag #aufschrei benutzen, im Laufe der Zeit zu. Als ›Troll‹-Tweets bezeichne ich diejenigen Tweets, die (1) sexistische Aussagen affirmierend tätigen, (2) sich über den Hashtag und/oder daran teilnehmende User_innen lustig machen beziehungsweise sie beleidigen, (3) die Bedeutung des Hashtags herunterspielen (zum Beispiel auch durch rassistische Vergleiche mit anderen Ländern, in denen alles viel schlimmer sei), (4) die feministische Parteilichkeit des Hashtags angreifen oder verschieben wollen, (5) #aufschreier_innen dazu anhalten, sich doch einfach zu wehren. An einigen Stellen war es schwierig, zwischen ernst gemeinten Nachfragen von im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse uninformierten User_innen einerseits und herablassend beziehungsweise sich-lustig-machend gemeinten ›Troll‹-Tweets andererseits zu unterscheiden. Ich habe mich in diesen Grenzfällen immer eher für eine Einordnung in die Kategorie ›Kommentar‹ entschieden, so dass die ›Troll‹-Rate im Ergebnis eher zu niedrig als zu hoch ausgefallen ist. Bei genauem Hinschauen wird außerdem deutlich, dass trollendes Verhalten gegenüber einzelnen #aufschreienden häufig auch stattfindet, ohne den Hashtag zu benutzen, so dass einige übergriffige, feindselige Tweets in der #aufschrei-Statistik gar nicht auftauchen. Dies geschieht auch schon ab der ersten Stunde, in der die Initiator_innen einiges zu tun haben, um die Bedeutung des Hashtags zu erklären und zu verbreiten. Anhand der Einzelauswertungen lässt sich eindeutig ablesen, dass die ›Troll‹-Rate beständig steigt, während der Anteil an genuinen #aufschrei-Tweets beständig sinkt: Während zu Beginn noch die besagten 61,65% der Tweets #aufschrei-Erlebnisse berichten und nur knapp 4% zur Kategorie ›Troll‹ zählen,34 sind es am nächsten Morgen in der Stunde zwischen 09:00 Uhr und 10:00 Uhr schon 15% (168 Tweets) ›Troll‹-Tweets gegenüber nur noch 40% (448) genuinen #aufschrei-Tweets.35 Maireder und Schlögl erklären diese Veränderung in
33 N. Fraser: »Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit«, S. 18. 34 Genau sind es 3,96%. Auch die folgenden Zahlen sind ähnlich leicht gerundet. 35 Insgesamt wurden am 25.01.2013 zwischen 08:30 Uhr und 09:30 Uhr 1121 Tweets abgesetzt. 37,02% (417) sind Kommentare zum Hashtag, 4,55% (51) beinhalten Links und 3,30% (37) sind Spam.
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der Zusammensetzung der Tweets damit, dass der Hashtag sich aus dem Cluster der Feminist_innen hinaus bewegt und sich nun User_innen aus anderen Filterblasen (allen voran Mitglieder der Piraten-Partei) am Hashtag beteiligen.36 Die Reichweite des Hashtags hat sich zu diesem Zeitpunkt schon über Twitter und die feministische Blogosphäre hinaus erweitert, denn um 09:12 Uhr kursiert ein Link zu einem in der Frankfurter Rundschau (online) erschienen Zeitungsartikel über den #aufschrei.37 Dies ist auch der Zeitraum, in dem der #aufschrei insgesamt seinen Höhepunkt erreicht: Innerhalb der ersten 24 Stunden werden insgesamt 16.484 Tweets abgesetzt. In den nächsten Tagen pendelt sich die Anzahl der abgesetzten Tweets zwischen 5000 und 6000 Tweets am Tag ein. Maireder und Schlögl stellen fest, dass die Tweetzahl sich durch die Aufmerksamkeit der traditionellen Massenmedien insgesamt nicht erhöht habe – was darauf schließen ließe, dass alle potenziell am #aufschrei interessierten TwitterUser_innen schon allein durch die sozialen Netzwerke erreicht wurden. Twitter – so die Schlussfolgerung von Maireder und Schlögl – brauche die Massenmedien nicht, um Informationen innerhalb des virtuellen Raums zu verbreiten. Dabei lassen sie außer Acht, dass sich die Tweetzahl während der Ausstrahlung der jeweiligen Talkshows sehr wohl – und zwar drastisch – erhöht.38 Dies führt zwar nicht zu einer dauerhaften Erhöhung der Tweetzahl und ebenso wenig zu einer anhaltenden Diskussion, aber es entspricht der üblichen Nutzung eines LiveKommentarmediums, wie es Twitter ist. Außerdem missachten Maireder und Schlögl, dass die Zusammensetzung der unter dem Hashtag abgesetzten Tweets sich mit Anhalten und Verbreitung der Debatte um den #aufschrei verändert: Die ›Troll‹-Rate steigt in den nächsten Tagen weiter. Am Abend des 26.01.2013 zwischen 22 Uhr und 23 Uhr teilen sich Kommentare (41,27%, 149 Tweets) zum Hashtag und ›Troll‹-Tweets (42,38%, 153
36 Vgl. A. Maireder/S. Schlögl: »24 Hours of an #Outcry«. 37 Leclerc, Florian: »Nach Vorwürfen gegen Brüderle: ›aufschrei‹ auf Twitter gegen Sexismus«, http://www.fr-online.de/politik/nach-vorwuerfen-gegen-bruederle--auf schrei--auf-twitter-gegen-sexismus,1472596,21551816.html vom 23.03.2014. 38 Wie etwa während der ARD-Talkrunde mit Günther Jauch am Abend des 27.01.2013: Im Zeitraum kurz vor Beginn und während der Talkrunde, also zwischen 21:30 Uhr und 23:00 Uhr, werden insgesamt 2052 Tweets mit dem Hashtag #aufschrei abgesetzt. Davon sind nur 2,44% (50) genuine #aufschrei-Tweets; Kommentare, die zum Großteil den Verlauf der Sendung kommentieren, bilden die größte Menge mit 59,80% (1227) der Tweets. Den nächstgrößeren Anteil haben die ›Troll‹-Tweets mit 34,45% (707) der Tweets. 3,22% (66) der Tweets enthalten Links und nur 2 Tweets (0,10%) sind Spam.
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Tweets) die Spitzenposition, am zweithäufigsten werden Links zum Thema verbreitet (9,14%, 33 Tweets), Berichte über #aufschrei-Erlebnisse selbst machen nur 5,26% (19) der Tweets aus. Das Teilen von #aufschrei-Erlebnissen ist quantitativ also definitiv in den Hintergrund gerückt und einer Auseinandersetzung mit dem Thema des Hashtags gewichen. Zwei Tage später, am Abend des 28.01.2013 zwischen 21 Uhr und 22 Uhr, machen die ›Troll‹-Tweets mit über 46% (117) aller #aufschrei-Tweets fast die Hälfte aller unter dem Hashtag abgesetzten Tweets aus. Hingegen gibt es in dieser Zeit nur 18 (7,17%) Tweets mit genuinen #aufschrei-Erlebnissen, in 73 (29,08%) Tweets wird der #aufschrei diskutiert, der Rest der insgesamt 251 Tweets in dieser Stunde sind Links (15,95%, 40 Tweets) und Spam (1,2%, 3 Tweets). Der parallele Anstieg von ›Troll‹-Tweets und Tweets mit Links im Verhältnis zu genuinen #aufschrei-Tweets sowie der Anstieg von ›Troll‹-Tweets allgemein lässt vermuten, dass die breite massenmediale Aufmerksamkeit für den #aufschrei dazu beigetragen hat, dass sich die Zusammensetzung der unter dem Hashtag tweetenden User_innen verändert hat. Tatsächlich stellt ein_e #aufschreier_in fest: »@------ 26.01.2013 – 15:36 Auch interessant: Die allerschlimmsten Sprüche kommen von Typen, die erst seit Beginn von #aufschrei überhaupt bei Twitter sind.«
Dies ist ein Hinweis darauf, dass entgegen Maireders und Schlögls Annahme die breite mediale Aufmerksamkeit sehr wohl die Reichweite Twitters vergrößert hat. Da aber die Anzahl der unter dem Hashtag tweetenden Accounts insgesamt nicht entsprechend angestiegen ist, liegt nahe, dass einige User_innen mit Ansteigen der massenmedialen Berichterstattung aufgehört haben, den Hashtag zu benutzen. Dies deckt sich mit dem Ansteigen der ›Troll‹-Rate und der drastischen Verringerung der absoluten und prozentualen Anzahl von Tweets mit #aufschrei-Erlebnissen. Daraus schlussfolgere ich, dass die massenmediale Verbreitung des Hashtags zu einer Schließung des durch den Hashtag eröffneten Raums für feministischen Austausch geführt hat, da mehr und mehr eine Raumnahme durch anti-feministische und/oder frauenfeindliche Accounts stattgefunden hat. Inwiefern dies auch mit der Art und Weise, wie der #aufschrei zum Beispiel in den TV-Talkshows verhandelt wird, zusammenhängt, werde ich weiter unten noch verdeutlichen. Der #aufschrei war ein feministischer Versuch, den alltäglichen Sexismus zur Sprache zu bringen, ihn zu äußern, zu dokumentieren und ihn in die öffentliche
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Wahrnehmung einzubringen. Ziel war dabei, wie auch schon früher in Projekten wie HollaBack oder (im englischsprachigen Raum) everydaysexism.com, aber auch in der deutschsprachigen feministischen Blogosphäre, die Überwindung der mit sexistischen Übergriffen einhergehenden Sprachlosigkeit. Woher sie kommt, wird zum Beispiel aus einer Studie zu dem Projekt HollaBack deutlich, für das von den USA ausgehend mittlerweile spezielle Webseiten für verschiedene Städte und Regionen der ganzen Welt existieren. Die Autor_innen der USamerikanischen Studie befragten Personen, die ihre Erfahrungen mit sexistischen Übergriffen geteilt hatten, nach den Gründen für diesen Schritt und nach den Wirkungen, die es auf sie gehabt habe.39 Proband_innen teilten ihre Geschichten bei HollaBack, weil sie unter Freund_innen und/oder in der Familie als »zu sensibel« (»too sensitive«) gelten, wenn sie sich über sexistische Erlebnisse beschweren und weil sie bei der Polizei eher weitere Erniedrigungen erfahren würden, als dass ihnen geholfen werden würde. Sowohl im Privaten, im persönlichen Umfeld, als auch bei offiziellen, staatlichen Stellen wird also ein Schweigen forciert, das nun von Aktionen wie HollaBack und #aufschrei durchbrochen werden soll. Das Ziel solcher Aktionen ist die Schaffung eines diskursiven Raums, in dem die Thematisierung sexistischer Situationen, Vorfälle und/oder Übergriffe überhaupt erst möglich gemacht und darüber hinaus eine Veränderung des gesellschaftlichen Konsens über angemessenes versus sexistisches/übergriffiges/beleidigendes Verhalten angestoßen werden soll. Die hohe Beteiligung am Hashtag ebenso wie das große Medienecho zeugen davon, dass zumindest der erste Teil immerhin für den Moment erfolgreich war: Die Diskussion um den #aufschrei nahm öffentlich Raum ein und bündelte Aufmerksamkeit. Gerade in den frühen Stunden des #aufschrei konnten viele User_innen ihre eigenen Erlebnisse teilen, sich gegenseitig unterstützen und Mut zusprechen. Sie waren so in der Lage, einen solidarischen Raum zu schaffen, in dem gemeinsame, aber auch unterschiedliche Erfahrungen geteilt, diskutiert und solidarisch ausgehandelt werden konnten. Sie besetzten einen virtuellen Raum mit ihren Themen und etablierten und expandierten damit einen feministischen Diskursraum (der freilich auch vorher schon bestand). Für den zweiten Teil der (impliziten) Zielsetzung allerdings lässt sich ein Erfolg nicht so einfach bescheinigen. Die große Anzahl der ›Troll‹-Tweets zeigt, wie sehr dieser Diskursraum
39 Dimond, Jill P./Dye, Michaelanne/LaRose, Daphne/Bruckman, Amy S.: »Hollaback!: The Role of Storytelling Online in a Social Movement Organization«, in: Amy Bruckman/Scott Counts/Cliff Lampe/Loren Terveen (Hg.), Proceedings of the 2013 Conference on Computer Supported Cooperative Work (CSCW 2013), New York 2013, S. 477-490.
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im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie umkämpft ist. Die ›Trolle‹ holen dieselbe Dynamik, die durch den #aufschrei exponiert und bekämpft werden soll, in diesen neu eröffneten Diskursraum hinein und machen den Raum damit de facto für sein implizites Ziel unbrauchbar: Sie ziehen die #aufschrei-er_innen ins Lächerliche, beschimpfen sie und bedrohen sie in manchen Fällen sogar. Die zurückgehende Rate an genuinen #aufschrei-Tweets erklärt sich durch diesen Umstand. Der nur kurzzeitig geöffnete Raum erfährt so nach und nach wieder eine Schließung beziehungsweise die Diskursmacht im Live-Twitter-Feed geht zurück an eine patriarchale, liberaldemokratische Öffentlichkeit, deren Parteinahme antifeministisch ist. So wird der neu eröffnete Diskursraum für feministische Parteinahme, Solidarität und Überwindung der erwähnten Sprachlosigkeit an dieser Stelle gerade aufgrund seiner Offenheit und Öffentlichkeit schnell wieder geschlossen. Doch hier tritt die Grenzenlosigkeit und Gestaltbarkeit des Cyberspace in Kraft: Der Twitteraccount @aufschreien sowie die Internetseite alltagssexismus.de schaffen neue Räume mit besseren Kontroll- und Ausschlussmöglichkeiten, wie es ein Twitter-Hashtag bietet. Hier finden ›Trolle‹ keinen Zutritt. Die massenmediale Aufmerksamkeit bleibt allerdings beim Twitterfeed und die Internetseite wird im Vergleich zum Hashtag sehr viel weniger genutzt.40 Der an sich unbegrenzte Raum im Cyberspace erfährt also zweierlei Einschränkungen: (1) Die Erschwerung/Verunmöglichung des Sprechens aus einer marginalisierten Position heraus durch einen massiven und gewaltvollen Backlash und (2) die Aufmerksamkeitsökonomie, die zwar nicht begrenzt, welche_r spricht, dafür aber beeinflusst, welche Themen, Beiträge und Personen rezipiert und ›gepusht‹ werden. Diskursmacht wird nicht allein dadurch erlangt, dass eine_r sprechen kann, sondern auch dadurch, dass ihr_ihm zugehört wird und dass ihre_seine Themen, Erfahrungen und Wissensschätze geteilt, weiter verbreitet und in ihrem_seinem Sinne diskutiert werden.41
40 Was ich meine, ist, dass die Beiträger_innen, die sich aus dem Hashtag zurückgezogen haben, die Internetseite nur vereinzelt als alternative Äußerungsmöglichkeit nutzen. Genaue Zahlen liegen mir allerdings nicht vor. 41 Hier stellt sich im Sinne Frasers auch noch die Frage, an wen sich die Forderungen einer solchen (Gegen-)Öffentlichkeit eigentlich richten.
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# AUFSCHREI , # QUEERAUFSCHREI V ERORTUNGEN
UND GESCHLECHTLICHE
Ich habe schon festgestellt, dass der #aufschrei ein vergeschlechtlichtes Unterfangen war, das von Anfang an »Typen«, »Kerle« und »Männer« als Täter von sexistischen Beschimpfungen, Beleidigungen, Verhaltensweisen und Übergriffen benannte. Dies war eine von Anfang an klar benannte geschlechtliche Linie, die auf verschiedenen Ebenen Widerspruch, Kritik und Dissens hervorrief, in ihrer Basis aber unangetastet blieb. Zwar war der #aufschrei in seiner Gründungsphase nicht auf Cis-Geschlechtlichkeiten42 festgelegt. Dennoch wird der Kampf um die Geschlechterlinie_n noch ein sehr wichtiger und ein sehr komplizierter werden, da mit wachsender Reichweite unterschiedlichste Positionen im und außerhalb des in sich schon häufig widersprüchlichen feministischen Spektrums hinzukommen. Ein Hashtag ist eben kein kontrollierbarer Raum, in dem eine gemeinsame politische Grundeinstellung ohne Weiteres festgelegt werden könnte. So werden ähnliche Diskussionen immer wieder in verschiedenen Konstellationen geführt und teilweise miteinander vermischt, was zu Missverständnissen und Streitigkeiten führt. Grundlegende Themen der Diskussionen rund um geschlechtliche Verortungen sind: (1) »What about teh Menz«43 Unter diesem feministischen Meme werden Positionen zusammen gefasst, die (cis-)männliche Erfahrungen unterschiedlichster Art hervorheben, um so Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Frauen*44 zu relativieren. Dabei kann es um Erlebnisse von (Cis-)Männern gehen, die auf ihre männliche Geschlechterrolle festgeschrieben werden, oder auf unangenehme Weise von Frauen* angeflirtet oder anderweitig behandelt wurden, oder sich in Ehe- und Sorge-
42 Cis-Geschlechtlichkeit bedeutet, dass eine Person mit der binären geschlechtlichen Zuschreibung, die bei der Geburt vorgenommen wurde, einverstanden ist und bleibt. 43 Mehr Informationen zum Meme finden sich z.B. hier: Feminismus 101: »Was ist falsch an What about teh Menz?«, http://feminismus101.de/was-ist-falsch-an-whatabout-teh-menz/ vom 14.03.2014. 44 Das Sternchen hat eine doppelte Bedeutung: 1. zeigt es auf, dass die Kategorie »Frau« eine konstruierte und keine natürliche ist; 2. verdeutlicht es, dass hier nicht nur CisFrauen gemeint sind.
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rechtsstreitigkeiten von ihren Frauen und von Gerichten ungerecht behandelt sehen. Gerade Männerrechtler, die ohnehin im Netz eine große Präsenz haben, treten an dieser Stelle häufig in Erscheinung. Oft benutzen sie solche Fälle als Gegenbeispiele für bestimmte Tweets von #aufschrei-enden Frauen*, um diese durch einen Vergleich mit der eigenen Situation oder mit eigenen (meist vereinzelten) Erlebnissen zu relativieren und zu entkräften. An dieser Stelle tritt deutlich hervor, dass der Bezug zwischen der Ebene des Einzelerlebnisses einer bestimmten Userin und der strukturellen Ebene, die nur in der Gesamtheit aller Tweets halbwegs zutage tritt, oft nicht hinreichend hergestellt wurde. Stattdessen bleiben besonders die maskulistischen ›Troll‹-Tweets meist auf der Ebene des Einzelerlebnisses und nutzen so die Möglichkeit, dieses als ebensolches zu widerlegen, kleinzureden oder lächerlich zu machen. Die strukturelle Ebene kommt aus dieser Perspektive nur dann ins Spiel, wenn es darum geht, dass heterosexuelle Männer sich gegen angebliche Einschränkungen in ihrem Flirtverhalten wehren, oder verlangen, dass ihnen ein Leitfaden zum »richtigen« und/oder »erfolgreichen« Flirten an die Hand gegeben werde. Insgesamt geht es bei diesem Meme um eine Aufmerksamkeitsverschiebung weg vom eigentlichen Thema (Diskriminierung von Frauen*, Misogynie) hin zur Klärung der Position des (weißen) heterosexuellen Cis-Mannes. In den aus diesen Zusammenhängen entstehenden, hitzigen Diskussionen bilden die Belange von schwulen, meistens Cis-Männern einen Grenzfall, der an manchen Stellen innerhalb der verschiedenen Diskussionen auch mit diesem Meme bezeichnet wurde, aber eigentlich eher unter (2) Sexismus-Definition fällt. Der Blogger und Kulturwissenschaftler Jan Schnorrenberg versucht in einem Blogartikel, diese Fäden zu entwirren.45 Er verurteilt »Maskulist*innen«46, deren »gebetsmühlenartige[s] Wiederholen des ach-so-viel-schlimmeren ›Sexismus gegen Männer‹« dazu geführt habe, dass »die Erfahrungen von Männern* in
45 Schnorrenberg, Jan: »Diese Sache mit dem Sexismus gegen Männer«, http://spektral linie.de/2013/02/06/diese-sache-mit-dem-sexismus-gegen-manner/ vom 14.03.2014. 46 »Maskulismus« oder »Maskulinismus« ist ein Begriff, der in Anlehnung an den Begriff »Feminismus« gebildet wurde, um dessen Gegenpol, die »Männerrechtsbewegung«, zu benennen. Aktivisten der Männerrechtsbewegung wehren sich zum Teil gegen diesen Begriff, weil er »extrem unterschiedliche Gegenströmungen« undifferenziert zusammenfasse. Eine Definition aus der Männerrechtsbewegung selbst findet sich unter http://de.wikimannia.org/Maskulismus vom 22.08.2014.
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dieser Debatte unter den Tisch fallen«.47 Wie Schnorrenberg feststellt, hat der Angriff von maskulinistischer Seite dazu geführt, dass sich bei vielen #aufschrei-enden die Positionen verhärtet haben. Schnorrenberg selbst muss sich beispielsweise für seine Einordnung von Homophobie unter dem Stichwort »Hetero«-Sexismus rechtfertigen und wird dafür scharf angegangen.48 Die wichtige analytische Trennung zwischen Gender und sexueller Orientierung wird dazu herangezogen, bestimmte Diskriminierungsachsen (beispielsweise Heterosexismus, Homo-Feindlichkeit und Ähnliches) aus dem #aufschrei auszuschließen, ohne zu berücksichtigen, dass die beiden gesellschaftlich anerkannten Gender schon gleich eine sexuelle Orientierung beinhalten (Heteronorm), und dass eine Abweichung von derselben einer Nicht-Konformität mit der Genderrolle gleichkommt.49 Gegen die in einigen Tweets verbreitete Aussage, dass Sexismus immer von (Cis-)Männern gegenüber (Cis-)Frauen ausgeübt werde, stehen #aufschrei-Tweets von lesbisch verorteten Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von heterosexuellen Frauen diskriminiert werden, ebenso wie Tweets von trans*-verorteten Personen, die über Diskriminierungen durch sowohl hetero- als auch homosexuelle Frauen und Männer berichten. Die Ausrichtung des #aufschrei verläuft also gar nicht so klar entlang einer zweigeschlechtlichen Front, die zwischen (Cis-)Männern als Tätern und (Cis-)Frauen als Betroffenen unterscheidet, sondern enthält durchaus Elemente, die die zweigeschlechtliche Norm an sich in Frage stellen. Je größer allerdings die Aufmerksamkeit für den Hashtag, desto eingeschränkter auch die Wahrnehmung der komplexen Intersektionen, bis hin zu dem Zeitpunkt, dass ein alternativer Hashtag #Queeraufschrei vorgeschlagen wird, um die Diskriminierungserfahrungen der queer und trans*-verorteten Personen zu sammeln. Hier böte sich eine eingehendere Untersuchung zu Gründen, Zielen und Kritiken dieses neuen Hashtags an. Wie sehr der #aufschrei selbst mit Zunahme der massenmedialen Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von (Cis-)Männern und (Cis-)Frauen beschränkt und gleichzeitig für parteipolitische Zwecke benutzt wird, wird besonders deutlich in der Rezeption der #aufschrei-Diskussionen durch das Fernsehen. Allein die Titel der Talkrunden, in denen der #aufschrei zum Thema gemacht wurde, lassen einige Schlüsse zu. Bei Günther Jauch wurde verhandelt: »Herrenwitz mit Folgen
47 J. Schnorrenberg: »Sexismus gegen Männer«. 48 Die betreffende Diskussion kann unter diesem Link nachgelesen werden: https:// twitter.com/Housetier84/status/297308936724422659 vom 14.03.2014. 49 Vgl. den von Judith Butler geprägten Begriff der »heterosexuellen Matrix«. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 11ff.
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– Hat Deutschland ein Sexismus-Problem?«; Anne Will fragte: »Sexismusaufschrei – hysterisch oder notwendig?«; Maybritt Illner befürchtete: »Schote, Zote, Herrenwitz – Ist jetzt Schluss mit lustig?« und ZDFLogin zweifelte: »Grabschen, glotzen, Sprüche klopfen – Sind Frauen Macho-Opfer?« und lud sich gleich noch Maximilian Pütz, den bekanntesten Pick-Up-Artist50 Deutschlands, in die Sendung ein. Alle vier Titel zeigen deutlich an, dass bei der Überführung der #aufschrei-Diskussionen in das Medium Fernsehen gleich auch ein Wechsel in der Parteilichkeit vollzogen wird: Das feministische Anliegen wird mit der von Fraser angeführten patriarchalen Parteilichkeit verhandelt. Nur so ist erklärlich, (a) dass in den entsprechenden Sendungen angesichts mehr als 60.000 Tweets, die entweder durch Bericht eigener Erlebnisse oder durch Anfeindung solcher Berichte die Brisanz des Themas illustrieren, die Existenz einer Problematik überhaupt in Frage gestellt wird, (b) dass innerhalb einer Debatte um Sexismus auf den sexistischen Begriff »hysterisch« zurückgegriffen wird, der eine lange Tradition der medizinisch ›begründeten‹ Entmündigung von Frauen hat, (c) dass sexistische Belästigungen und Übergriffe als Herrenwitze, Schoten, Zoten oder Sprüche abgetan werden und das Ende jeglichen Humors heraufbeschworen wird und (d) dass zu eben der Zeit, in der Frauen* und Frauisierte* das Wort ergreifen, um sich gegen den sexistischen Normalzustand zu wehren, sie wiederum von außen in die Opferrolle hinein festgeschrieben werden (»sind Frauen Macho-Opfer«), anstatt ihren Aktionismus zu würdigen und ihnen zuzuhören. Alle Stimmen, die den #aufschrei-Hashtag zur Thematisierung komplexer Diskriminierungsachsen, zum Versuch der Neubestimmung geschlechtlicher Positionierungen und Grenzziehungen, zur Infragestellung der Zweigeschlechtlichkeit überhaupt oder zur über den Flirt-Kontext hinausgehenden Definition von Sexismus, mit Unterkategorien wie Heterosexismus oder Cissexismus, nutzten, wurden in der massenmedialen Diskussion ausgeblendet. Die Mehrdimensionalität, die der #aufschrei in seiner Anlage in Bezug auf geschlechtliche Verortun-
50 Pick-Up-Artists sind heterosexuelle Männer, die sich in einer Community gegenseitig darin unterrichten, wie sie am besten Frauen aufreißen können. Die Bewegung kommt aus den USA und verfügt über ein breites Spektrum an Methoden, die aus einer Mischung aus Komplimenten, Macho-Gehabe und Erniedrigung bestehen. Frauen werden dabei auf einer Skala von 1 bis 9 nach Attraktivität bewertet. In Foren und auf Versammlungen tauschen sie sich aus und berichten von ihren Erfolgen und Eroberungen. Maximilian Pütz ist Mitbegründer der deutschen Szene und bietet ein »Casanova Code Training« an. Er ist Teil der Gruppe Progressive Seduction. Vgl. z.B. Pützs Website http://www.casanovacoaching.de/ vom 02.11.2014.
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gen durchaus noch zeigte, wurde durch die massenmediale Rezeption komplett auf ein binäres Verhältnis von Täter-Männern und Opfer-Frauen reduziert. Stimmen, die dieses enge Korsett in Bezug auf queere Lebensweisen öffneten, fanden im öffentlichen Diskurs kein Gehör und wurden so sehr ausgeblendet, dass das Bedürfnis nach einem neuen, eigenen Hashtag, #Queeraufschrei, entstand. Ein in Bezug auf Geschlecht und Geschlechterdiskriminierung radikales Unterfangen wurde in seiner massenmedialen Rezeption schnell in hegemonialbinär strukturierte Diskurse zurückgeholt.
F AZIT : D YNAMIKEN
DER
M ACHT
»If cyberspace is an alternate universe, at least it is one in which I can speak for myself, of myself, about myself, out of myself and have myself be read by others.«51
Ein Blick auf den #aufschrei hat gezeigt, dass der Cyberspace nicht, wie Laurie Cubbison vermutet, ein alternatives Universum ist, sondern dass gesellschaftliche Mechanismen der Raumnahme und der Aufmerksamkeitsökonomie durchaus in den virtuellen Raum hineinwirken. Zwar stellt das Internet diverse Möglichkeiten bereit, geschützte Räume herzustellen, in denen die Bildung einer kritischen (Gegen-)Öffentlichkeit möglich ist, doch sind diese nicht vor Angriffen oder – im Falle des #aufschrei – Vereinnahmungen durch eine patriarchal geprägte Mainstream-Öffentlichkeit gefeit. Die beim #aufschrei entstandene Gegenöffentlichkeit funktionierte als machtkritischer Diskursraum nur so lange, wie ihre Reichweite nicht über die feministische Filterblase hinausging. Selbst wenn das Internet als Medium selbst tatsächlich selbst frei wäre von Machtstrukturen,52 bedeutete dies noch immer nicht, dass die Menschen, die das Medium nutzen, die Machstrukturen der Gesellschaft, in der sie leben, nicht in das Medium hinein tragen würden. Nichtsdestotrotz bietet der Cyberspace durch seine Entkörperlichung und Enträumlichung Partizipationsräume, die dezentrale, selbstbestimmte Vernetzungen auf transnationaler Ebene ermöglichen. In der Unübersichtlichkeit der Stimmen, die im Cyberspace einen gestaltbaren Raum und eine Plattform haben, ist es unbedingt nötig, Formen der Organisation zu finden, die Machtstrukturen kritisch hinterfragen. Dies ist ein Unterfangen, das in der feministischen und anti-/contra-rassistischen Netzgemeinschaft schon
51 Cubbison, Laurie: »What Does It Mean to Write from the Body?«, in: Women in Language 20/1 (1997) S. 31-34, hier S. 34. 52 Daran geäußerte Zweifel zitierte ich weiter oben im Text.
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längst begonnen wurde. Die Filterblase ist nicht umsonst ein vielzitiertes Phänomen: Sie schafft den Raum für Gegenöffentlichkeiten und GegenGegenöffentlichkeiten. Sie schafft Strukturen, um safe_r spaces einzurichten und gegen Angriffe zu verteidigen und ermöglicht so erst, dass wichtige Diskurse über Macht, Privilegien, gesellschaftliche Strukturen und das Wie, Wo, Wann der kritischen Organisierung überhaupt geführt werden können. Die »masspersonal communication«53 des Cyberspace, in der einzelne mit vielen kommunizieren und in der persönliche Betroffenheit und analytische Kritik immer eng miteinander verknüpft sind, sorgt außerdem auch dafür, dass die strikte Trennung des Privaten vom Politischen, gegen die schon die Frauenbewegung der 1970er Jahre angetreten war, undurchführbar bleibt. Die einzelnen, privaten Stimmen der #aufschrei-enden illustrieren in ihrer Gesamtmasse eine strukturelle Ebene sexistischer Diskriminierung. Die massenmediale Rezeption des feministischen Vorstoßes holt diesen zurück in einen hegemonialen Deutungsrahmen. Der heftige Backlash zeigt an, auf welche Widerstände Frauen* und Frauisierte stoßen, wenn sie auf Sexismus aufmerksam machen. Der Cyberspace ist also letztendlich nur das: ein Raum, der Nutzungsmöglichkeiten eröffnet. Weder garantiert er mehr Offenheit als der materielle, ›reale‹ Raum, noch ist er für marginalisierte, diskriminierte Personen an sich sicherer. Die Möglichkeit des Sich-Äußerns, für die hier die technischen Rahmenbedingungen geboten werden, schließt noch lange nicht die Garantie ein, auch gehört zu werden. Die Art und Weise der Nutzung des Cyberspaces ist – wie anhand des #aufschrei deutlich erkennbar ist – hart umkämpft und muss tagtäglich ausgehandelt werden.
53 Sharma, Sanjay: »Black Twitter? Racial Hashtags, Networks and Contagion«, in: New Formations 78 (2013), S. 46-64, hier S. 48.
Autor_innen
Bauer, Jenny, Dr. des., Studium der Komparatistik, Skandinavistik und Gender Studies in Göttingen und Lund. Sie promovierte im DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht; 2014 Verteidigung der Dissertationsschrift zum literarischen Geschlechterdiskurs um 1900 im Fach Germanistik an der Universität Kassel. Derzeit ist sie Postdoc-Stipendiatin am DFGGraduiertenkolleg 1343 Topologie der Technik an der TU Darmstadt. Bücker, Carina, Dipl. Gyml., Studium der Germanistik und Anglistik für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der RWTH in Aachen. Sie ist Promotionsstudentin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und beschäftigt sich in ihrem Dissertationsprojekt mit der Fragestellung »Berufsbilder als Krise des Subjekts?« sowie mit dem Einfluss von Arbeit auf die Subjektkonstitution im Spiegel der Gegenwartsliteratur. Busche, Mart, Dipl. Pol., koordiniert im Fachgebiet Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender an der Universität Kassel das Verbundprojekt Peer Violence. Sexualisierte Gewalt in der Jugendund Jugendverbandsarbeit (2013–2016). Dhawan, Nikita, ist seit 2014 Professorin für Politische Theorie mit thematischer Akzentuierung im Feld Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck und Direktorin des Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies, Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen, Goethe Universität Frankfurt. Gastaufenthalte in Australien (Melbourne), Costa Rica (San José), Spanien (Teneriffa), Südafrika (Johannesburg), Südkorea (Pusan) und den USA (Berkeley, Columbia).
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Dreher, Anna K, M.A., Studium der Germanistik, Romanistik und europäischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Sie ist neben der wissenschaftlichen Betätigung auch als Regieassistentin, Performerin, Regisseurin und Dramaturgin tätig. Zur Zeit erarbeitet sie mit dem Künstler_innenkollektiv PUSSYPOWERGRRRLS einen feministischen, literarisch-akademisch-performativen Theaterabend. Flüchter, Antje, ist Professorin für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Frühen Neuzeit in Bielefeld. Sie promovierte an der Universität Münster (2002) und habilitierte an der Universität Heidelberg (2012). Forschungsschwerpunkte: vormoderne Globalgeschichte, Konfessionelles Zeitalter und Religionsgeschichte, Geschlechtergeschichte. Friedrichs, Jan-Henrik, Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bremen und Bilbao. Anschließend promovierte er an der University of British Columbia, Vancouver, zu Räumen jugendlicher Devianz am Beispiel der Hausbesetzungs- und Heroinszene in den 1980er Jahren in Westdeutschland und der Schweiz. Er lebt zurzeit als selbstständiger Historiker in Berlin. Geist, Janina, M.A., hat Ethnologie, Indologie und Politik an der LudwigMaximilians-Universität München studiert und promoviert an der Georg-August Universität Göttingen am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht. Ihr Promotionsprojekt beschäftigt sich mit Queer Aktivismus in Neu-Delhi, Indien. Im Fokus stehen Aushandlungsprozesse queerer Akteur_innen über Vorstellungen von Gender und Sexualität innerhalb verschiedener Online- und Offlineräume. Günzel, Stephan, Professor für Medientheorie und Leiter des Studiengangs Game Design an der Berliner Technischen Kunsthochschule sowie Gastdozent an der Universität Klagenfurt und im DFG-Graduiertenkolleg Dynamiken von Raum und Geschlecht an den Universitäten Kassel und Göttingen; bis 2011 war er Koordinator des Zentrums für Computerspielforschung (DIGAREC) an der Universität Potsdam und Gastprofessor für Raumwissenschaften an der HUBerlin sowie der Universität Trier. Hark, Sabine, Soziologin; ist Professor_in für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin. Leiter_in des Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU und Mitherausgeber_in der
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feministischen studien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart; geschlechtersensible Wissenschaftssoziologie und Hochschulforschung sowie Feministische Erkenntnistheorie und Queer Theorie. Held, Sarah, studierte künstlerisches Lehramt mit Schwerpunkt Textilien/ Materielle Kultur an der Kölner Albertus Magnus Universität und promoviert nun an der Goethe Universität Frankfurt am Main und der Akademie der Bildenden Künste in Wien zu Do-it-yourself-Kulturen und kritischen beziehungsweise widerständigen Gestaltungsbewegungen, die sich an der Schnittstelle von (feministischem/politischem) Aktivismus, textiler Handarbeit, Kunst und Design bewegen. Sie ist Mitinitiatorin des feministischen Street Art Kollektivs Girl Gangs against Street Harassment, einer visuellen Praxis zur Rückeroberung von öffentlichem Raum. Jaworski, Sylvia, M.A., studierte Jüdische Studien mit dem Schwerpunkt Hebräische und Jüdische Literatur sowie Osteuropäische Geschichte in Heidelberg. Sie ist wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich. Innerhalb des Sinergia-Projekts Imitation – Assimilation – Transformation. Episteme, Semantiken und Praktiken der Anverwandlung im 19. und 20. Jahrhundert des Schweizerischen Nationalfonds arbeitet sie an einer Dissertation zu Verhandlungen von Religion und Assimilation in der polnisch-jüdischen Literatur (1863-1914). Krämer, Felix, Dr. phil., studierte Geschichte, Politik und Gender Studies an der Universität Hamburg. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster Religion und Politik in Münster angestellt und hat dort zu Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre promoviert. Derzeit ist er als Postdoktorand am DFG-Graduiertenkolleg Dynamiken von Raum und Geschlecht in Kassel und Göttingen beschäftigt. Er arbeitet an einem Projekt zur Geschichte der Schulden. Lehmann, Sonja, M.A., studierte Anglistik und Latinistik an den Universitäten Göttingen und Berkeley, Kalifornien. Seit 2010 promoviert sie am DFGGraduiertenkolleg Dynamiken von Raum und Geschlecht über Lyrik von Frauen der südasiatischen Diaspora in Großbritannien. Mateos de Manuel, Victoria, M.A., studierte Philosophie an der Complutense Universität Madrid und der Humboldt Universität Berlin. Sie hat ihren Master-
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studiengang über Geschlecht und Diversität im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften an der FU Berlin abgeschlossen. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie des Nationalen Forschungszentrum Spaniens (CCHS-CSIC), wo sie an ihrer Promotion über die Philosophie des Tanzes arbeitet. Meise, Helga, Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Ideengeschichte an der Université de Reims Champagne-Ardenne; im WS 2013/2014 Gastprofessorin am DFG-Graduiertenkolleg Dynamiken von Raum und Geschlecht. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, Literatur von Frauen (16.-21. Jahrhundert), deutschsprachige Aufklärung in Böhmen, Lesen und Schreiben als kulturelle Praktiken, Bibliotheken von Fürstinnen in der Frühen Neuzeit. Milevski, Urania, Dr. des., studierte Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht der Universitäten Kassel und Göttingen promovierte sie über erzähltheoretische Zugänge zu sexualisierter Gewalt in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart (1980-2000). Derzeit arbeitet sie an der Universität Kassel als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Müller-Wienbergen, Karina, studierte Geschichte und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien an den Universitäten Göttingen und Lausanne. Seit 2010 promoviert sie am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht über Frauenhandel im Deutschen Kaiserreich. Derzeit lebt und arbeitet sie in Berlin und ist Redakteurin und Herausgeberin der Zeitschrift WerkstattGeschichte. Schilling, Natalie, Dipl.-Soz., studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie an der Philipps-Universität in Marburg. Im Anschluss war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Markus Schroer im Bereich Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Seit Oktober 2013 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht in Kassel und Göttingen und promoviert über den Trendsport Parkour als Raumaneignungspraktik aus raum- und geschlechtersoziologischer Perspektive.
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Schneider, Kristina, M.A., studierte Ethnologie, Gender Studies und Soziologie an der Georg-August Universität Göttingen. Im Anschluss war sie wissenschaftliche Hilfskraft im BMBF Forschungsnetzwerk DORISEA und entwickelte ihr Promotionsprojekt in Bezug auf Dynamiken von Religion in Süd-Ostasien. Seit Juni 2013 promoviert Kristina zu dynamischen identitären Positionierungen religiöser Lesbi/an und ihren Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit Religion in Indonesien. Spiering, Nele, hat an der Universität Kassel das Lehramt für Haupt- und Realschulen mit den Fächern Deutsch und Evangelische Religion studiert. Seit Februar 2012 ist sie Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht der Universitäten Kassel und Göttingen. Sie promoviert über die Exposition des biblischen Exodusbuches sowie ihre Rezeption durch Leser_innen der Sekundarstufe I. Thiel, Julia Elena, studierte in Göttingen und Liverpool Englisch und Biologie für das Gymnasiale Lehramt. Seit 2010 promoviert sie am DFG-Graduiertenkolleg 1599 Dynamiken von Raum und Geschlecht mit einem Projekt in der anglistischen Literaturwissenschaft, das sich mit Männlichkeiten und Wirtschaft(skrisen) im zeitgenössischen Roman beschäftigt. Sie lebt, arbeitet und forscht in Bremen und Göttingen. Tietje, Olaf, M.A., Studium der Soziologie und Politikwissenschaften in Gießen, Rostock und Hamburg, ist Doktorand und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel, in der Soziologie der Diversität. Er promoviert aus einer feministischen Perspektive über die Verschränkungen von transnationaler Migration mit Arbeit und (gewerkschaftlicher) Organisation in Andalusien.
Dynamiken von Raum und Geschlecht Silke Förschler, Rebekka Habermas, Nikola Roßbach (Hg.) Verorten – Verhandeln – Verkörpern Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht 2014, 390 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2399-4
Johanna Neuhauser Sextourismus in Rio de Janeiro Brasilianische Sexarbeiterinnen zwischen Aufstiegsambitionen und begrenzter Mobilität September 2015, ca. 350 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3190-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de