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German Pages 368 Year 2014
Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl
Band 5
Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.
Gertrud Lehnert (Hg.)
Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tablediver / photocase.com Lektorat: Gertrud Lehnert Satz: Stephanie Rymarowicz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1404-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Gertrud Lehnert Raum und Gefühl
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Wahrnehmung, Raum, Gefühl Burkhard Meyer-Sickendiek Gefühlstiefen: Aktuelle Perspektiven einer vergessenen Dimension der Emotionsforschung 26 Dieter Mersch Fraktale Räume und multiple Aktionen. Überlegungen zur Orientierung in komplexen medialen Umgebungen
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Stephan Günzel Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild
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Die Räume und die Künste Laura Bieger Ästhetik der Immersion: Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben
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Michaela Ott Unbestimmte Affekträume im Film
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Susanne Jaschko Performative Architektur – Mediale Erweiterungen und Dekonstruktionen von Räumen
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Urbane Räume Angelika Corbineau-Hoffmann Passanten, Passagen, Kunstkonzepte: Die Straßen großer Städte als affektive Räume
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Robert Schade „Flammende Prospekte“: Die Großstadt als Bewusstseinsspiel und die Ambivalenz des ungeordneten Raums: Andrej Belyjs Petersburg
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Gertrud Lehnert Einsamkeiten und Räusche. Warenhäuser und Hotels
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Brunhilde Wehinger „Alles will jetzt lesen.“ Formen der Geselligkeit in öffentlichen Bibliotheken und Lesekabinetten im Zeichen der Aufklärung
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Uwe Lindemann Schaufenster, Warenhäuser und die Ordnung der „Dinge“ um 1900: Überlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik und Geschlechterpolitik in der Moderne
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Räume Schreiben Stephanie Siewert Die Topographie der Melancholie in transnationaler Perspektive
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Ottmar Ette Lager Leben Literatur. Emma Kann und Jorge Semprún in Gurs: Im Spannungsfeld von Erleben und Erfinden
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Brigitte Krüger Intensitätsräume. Die Kartierung des Raumes im utopischen Diskurs der Postmoderne: Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
259
Monika Schmitz-Emans Das Buch als labyrinthischer Raum: Literarisch-ästhetische Versuchsanordnungen
276
Literarische Räume Zuzanna Jakubowski Separate Spheres: Atmosphärische, textuelle und metaphorische Gefühlsräume in Romanen der Schwestern Brontë
298
Hans-Christian Stillmark Transformationsräume im Werk Wolfgang Hilbigs
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Ines Theilen Der Grenzraum als literarische Landschaft: Eine lesende Durchquerung von Raoul Schrotts Die Wüste Lop Nor
336
Katja Stillmark Affekte der Straße in zeitgenössischen autobiographischen Texten und dystopischen Romanen
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Autorinnen und Autoren
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Raum und Gefühl Raum und Gefühl – die Verbindung liegt auf der Hand. Wir schaffen uns Räume und bewegen uns in Räumen, in denen wir uns wohl fühlen, meiden solche, die uns unbehaglich sind. Das liegt nicht nur daran, dass wir möglicherweise unsere Stimmungen und Gefühle auf Dinge und Orte projizieren. Es liegt auch an den Räumen selbst, die ihre ganz eigene Aura besitzen können1 – sei es, weil sie sie im Laufe der Zeit erwerben, sei es, dass sie ihnen zugefügt wird. So können Räume Vergangenheit speichern und etwas von den Gefühlen und Stimmungen absorbieren, die in ihnen gelebt worden sind. Das lassen sie uns spüren – umso eindringlicher, je größer die Empathie der jeweiligen Menschen ist. Beides kommt also zusammen: die Aura der Räume und die Auffassungsfähigkeit der Wahrnehmenden. Andere Räume werden bekanntlich schon im Prozess ihrer Planung und Herstellung strategisch mit Gefühlsqualitäten ausgestattet, damit sie – z.B. – ihre Funktion besser erfüllen: ein Museum, ein Designer Store, eine Shopping Mall oder Las Vegas sollen zum Verweilen, zum Konsumieren, zum Wiederkommen anregen, und das gelingt ihnen nicht nur wegen des Waren- oder Vergnügungsangebots, das sie bereithalten, sondern aufgrund der Atmosphäre, die sie anbieten und die auf Aktivierung durch die Wahrnehmenden wartet. Architektur, Innenarchitektur, Design und natürlich Werbung haben per definitionem die Aufgabe, Objekte und Räume mit atmosphärischem Potential, ja mit Gefühlen zu versehen. Auf diese
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Mit dem Zusammenhang von Raum und Gefühlen bzw. Stimmungen haben sich vor allem Phänomenologen systematisch befasst, vgl. Ströker 1965, Schmitz 2000, 1995 etc. Zur Aura Benjamin 1979; zur Atmosphäre Böhme 2001 und 2006.
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Weise nehmen sie erheblichen Einfluss auf die Lebensstile und auf die Gefühlskulturen ihrer jeweiligen Zeit. Räume und Gefühle stehen mithin unablässig in produktivem Austausch und konstituieren in dieser Verschränkung Mentalitäten, Lebensformen und Lebensstile einer Kultur. Das ist die Ausgangsthese dieses Buches. Es entfaltet unterschiedliche Ansichten der Thematik in kulturwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher, medienwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive und betritt damit Neuland. Denn weder im „spatial turn“ noch im „emotional turn“ ist bislang der konstitutive Zusammenhang beider Bereiche programmatisch in den Blick genommen worden. Wir leben in einer raum-zeitlichen Umbruchsphase. Die Metropolen mit ihren spezifischen Lebensbedingungen, die sich seit dem 18. Jahrhundert immer rasanter ausgebildet haben, neue Kommunikationsformen und Repräsentationsräume, die uns jederzeit mit der ganzen Welt in Verbindung setzen können, und nicht zuletzt neue ästhetische Praktiken schaffen ständig neue, zunehmend fragmentarisierte Raumwahrnehmungen und -erlebnisse. Umgekehrt verändern neue Raumerfahrungen tiefgreifend Körperpraktiken, Lebensformen und Lebensstile, Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation und natürlich Gefühlskulturen. 2 Das hat einerseits globale Vereinheitlichung und Ent-Differenzierung zur Folge, andererseits eine Ausdifferenzierung. Diese Umbruchssituation ist der Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Raum und Gefühl, die einige Beiträge dieses Bandes in historischer Perspektive vornehmen, während andere sich auf Gegenwartsphänomene beziehen. Die eigene kulturelle Situation schärft den Blick für Aufbrüche und Umbrüche in anderen Zeiten, und sie zwingt zur Auseinandersetzung mit Konzepten und Erlebensweisen von Raum, Zeit und Gefühl. Denn natürlich ändern sich die Wahrnehmungen und Konzepte ebenso wie die Gefühle historisch und geographisch. Entsprechend ändert sich auch der Blick auf historische Konstellationen und Figurationen. Alle Beiträge des Bandes gehen von einem dynamischen Raumkonzept aus. Prämisse ist, daß Raum weder absolut gegeben noch bloßes Wahrnehmungsphänomen ist, sondern durch Bewegung und durch Wahrnehmung sowie durch soziales und symbolisches Handeln von Menschen hervorgebracht wird 3. Insofern ist Raum nicht nur im konkret-materiellen Sinne zu verstehen, sondern auch – z.B. – als Raumvorstellung. Umgekehrt wirkt Raum auf die menschli2
Vgl. dazu den Beiträg von Dieter Mersch in diesem Band.
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Vgl. u.a.: Lefebvre 2006. Forschungsüberblicke geben Ott 2004; Dünne 2004; Dünne/ Günzel 2006; Günzel 2009.
Raum und Gefühl
che Wahrnehmung zurück. Ähnliches gilt für Gefühl, das als Konstante menschlichen Lebens ebenso veränderlich und historisch ist wie Raum. Wie das viel strapazierte etymologische Spiel mit der „E-Motion“ verdeutlicht, ist Gefühl dynamisch, flüchtig und wandelbar, und das sowohl in individueller wie in kultureller und auch in zeitlicher Sicht. Es gibt physiologisch beschreibbare Regungen und Reaktionen, die neurologisch auch Emotionen genannt werden. Das, was wir dann aber kulturell als Gefühle verstehen, sind in Zeit und Raum gewachsene und geprägte Bewegungen des Inneren in Kommunikation mit dem Außen, Inszenierungsformen also, die für das Subjekt wie für die anderen etwas „zur Erscheinung bringen“ und die spezifische Ausdrucksformen entwickeln. Allein das, was zur Erscheinung gebracht wird, kann kulturhistorisch untersucht werden, z.B. in Literatur und Kunst, in denen Raum und Emotion als Konstituenten menschlicher Erfahrung und Lebensgestaltung „verhandelt“ werden. Die Künste werden verstanden als Ort nicht der Darstellung, sondern der Verhandlung und Repräsentation von Leben 4 und somit als spezifischer Zeichengebrauch, der wiederum dazu beiträgt, Leben zu modellieren.
Raum Raum wird durch menschliches Handeln (wozu auch Wahrnehmung zählt) konstituiert, umgekehrt wirken Räume auf das Handeln und die Gefühle zurück. Die Beiträge dieses Bandes verwenden den Begriff „Raum“ auf verschiedene Weisen. Eine mögliche Kategorisierung ist, „Raum“ zunächst als eine noch unbestimmte Kategorie zu verstehen, die bezeichnet, dass wir uns nicht im Nichts aufhalten. Konkreter fasst ihn Henri Lefebvre als „physische[n] Naturraum“, der als Ursprung, als das Globale oder der Anfang fungiere, aus dem Kulturen (oder Gesellschaften, wie Lefebvre sagt) ihren je spezifischen Raum produzieren. Tatsächlich ist dieser „natürlich gegebene“ Raum bloße Fiktion, da wir keine prä-kulturelle Natur wahrnehmen können. Darum setzt die räumliche Praxis einer Gesellschaft ihren Raum und setzt ihn gleichzeitig voraus (Lefebvre 2006, 335). Von diesem Raum lassen sich Orte abgrenzen als eine Ordnung, „nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei 4
Der Begriff „Verhandlung“ für diesen Prozess ist Greenblatt (1986) entlehnt. Zu Kunst bzw. Literatur als Repräsentation von Leben vgl. Ette 2004 sowie Ottmar Ettes Beitrag in diesem Band.
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Dinge an derselben Stelle befinden.“ (Certeau 2006, 345) Weiter geht Marc Augé mit seinem Konzept des „anthropologischen“ Orts der Verwurzelung, der Stabilität suggeriere und das Eigene gegenüber dem Anderen markiere (Augé 2006). Damit bringt er, ebenso wie Gaston Bachelard mit der Vorstellung vom Haus als unserem Ur-Ort auf der Welt (Bachelard 1975), implizit Emotion ins Spiel, denn das Haus wie der Ort wird von beiden mit Geborgenheit und Wohlbefinden in Verbindung gebracht. Der Ort wäre also begrenzt, oft materiell greifbar und lokalisierbar im Raum, der sich wiederum mit seiner Hilfe (ständig neu) konstituiert. Konkrete Orte können dann aber wiederum überlagert werden von unterschiedlichen Räumen, die sich konstituieren im unterschiedlichen Gebrauch des Orts, in seiner kulturellen Kodierung, seiner individuellen Bedeutung – die mit seiner Geschichte zu tun haben kann –, seiner vorübergehenden Funktion oder auch nur Wahrnehmung. Dieser Raum wäre dann das, was man mit Orten macht: „Die Straße wird durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.“ (Certeau 2006, 345) Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass Räume den Ort nicht nur aufgrund eines mehr oder weniger funktionalen Gebrauchs5 überlagern (oder sich ihm anlagern), sondern insbesondere aufgrund unterschiedlicher atmosphärischer, ästhetischer und emotionaler Qualitäten, die sie entfalten und die ihnen zugefügt werden. Das könnte man vorläufig, in Abgrenzung zum oben skizzierten „Raum“, als „Räume“ im Plural oder auch als „Erlebnisräume“ bezeichnen. Jeder Ort kann somit nacheinander und vielleicht sogar gleichzeitig eine Vielzahl von Räumen werden, je nachdem, wann und wie er von wem „bespielt“ wird.6 Eine Kirche kann zum Ballsaal werden, ein Hotelzimmer zur Bühne eines privaten Dramas oder das Ankleidezimmer zum Experimentierfeld für Selbstentwürfe, der Lichthof eines Warenhauses zu einem orientalischen Zelt. So fokussiert und konkretisiert sich Raum im Ort, der sich wiederum ausweitet zu ganz anderen Räumen – oder in andere Räume, die zugleich materiell und nicht-materiell sind. 7 5
Das kann beispielsweise das sein, was Lefebvre „Raumrepräsentationen“ nennt, nämlich der konzipierte, abstrakte Raum. Das sind Auffassungen vom Raum, die bestimmten räumlichen Praktiken zugrunde liegen, die Orte schaffen und Raumwahrnehmungen prägen (wie die Zentralperspektive). Demgegenüber, so Lefebvre, werden Repräsentationsräume als gelebte Räume durch Bilder und Symbole vermittelt, die Einbildungskraft suche sie zu verändern und anzueignen (Lefebvre 2006, 336).
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Fischer-Lichte (2004) spricht von „Räumlichkeiten“ (187ff.).
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Diese Dreiteilung weist Ähnlichkeiten zu Lefebvres Dreiteilung von räumlicher Praxis, Raumrepräsentationen und Repräsentationsräumen auf, unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Punkten davon insofern, als sie
Raum und Gefühl
Empfindung Raumwahrnehmung ist immer auch Raumempfindung. Das deutsche Wort „empfinden“ kommt ursprünglich von „herausfinden, wahrnehmen“ und wurde bald eingeschränkt auf das Wahrnehmen seelischer Empfindungen (Kluge 2002, 243). Inneren Regungen unterworfen sein und es wissen mache Gefühl und menschliches Bewusstsein aus, schreibt Antonio Damasio (2005). Der Begriff „empfindsam“ und das verwandte, aus dem Englischen adaptierte „sentimental“ (Kluge 2002, 843) waren ursprünglich positiv gemeint, sie bezeichneten unter anderem „Feinfühligkeit“ gegenüber Menschen, Dingen oder Natur; beide wurden im 18. Jahrhundert zu Modewörtern. „Wahre Empfindung“ konnte vermeintlich das Echte vom Falschen, vom Gekünstelten unterscheiden, wie eines der berühmten Kupfer aus Daniel Chodowieckis Natürliche[n] und affectirte[n] Handlungen des Lebens (1778/79) in einer Art mise-en-abyme verdeutlicht:
13 Daniel Chodowiecki: Empfindung /Sentiment, aus: "Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens", 1779 © Kupferstichkabinett. Staatl. Museen zu Berlin Inv. 539.208-1885. Foto: Volker Schneider in weitere kulturelle Räume und Praktiken ausgreift. Lefebvres RaumKonzept ist auf konkret beschreibbare soziale Praktiken, insbesondere auf Produktionsverhältnisse und -praktiken, fokussiert, während ich im Interesse eines weiteren kulturwissenschaftlichen Verständnisses lieber von kulturellen Praktiken spreche, um Wahrnehmung, Aufmerksamkeitssteuerung, Symbolisierungen, Phantasien, ästhetische Arbeit, Gefühle und Atmosphären nicht nur einzubeziehen, sondern explizit in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses zu stellen.
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Die Bilder zeigen in der Gegenüberstellung, wie echte und wie falsche Empfindung sich äußern, also nach außen sichtbar gemacht werden. Sie zeigen zudem, wovon Empfindung ausgelöst werden kann, von einer weiten Landschaft z.B. Innen (Empfindung) und Außen (Anlass der Empfindung) treten in einen produktiven Dialog. Und schließlich wollen die Bilder selbst eine Reaktion auslösen, also (neben einem rational begründeten Urteil) eine Empfindung, die erkennt, was „natürlich“, „echt“ ist und was „affectirt“ bzw „künstlich“ oder „erkünstelt“. Wenig überraschend: Das, was als „natürlich“ dargestellt wird, entpuppt sich als ebenso kulturell produziert wie die „affectirte“ Empfindung. Sichtbar wird nicht die Empfindung selbst, sondern die Körpersprache, die Empfindung ausdrückt. Das macht uns heutigen Betrachterinnen und Betrachtern die kulturelle Normiertheit von Gefühlsausdruck transparent – und damit auch von Gefühl. Denn was wir sehen, ist ein bürgerliches Ideal von Innerlichkeit und harmonischer Schönheit gegenüber einem Bild (pseudo-)aristokratischer Ausschweifung und Unechtheit (Busch 1997). Anders ausgedrückt: Beide Bilder stellen historisch bedingte Typologien und Vor-Urteile dar – aber sie stellen sie als anthropologische Konstanten dar. Nicht zufällig dient eine Landschaft als Schauplatz und zugleich Gegenstand der Empfindung: ein Raum, der sich in alle Richtungen ins Weite erstreckt und damit auch die Weite der Empfindung auslöst. Die Adäquatheit des Bezugs der Wahrnehmenden zum Gegenstand der Wahrnehmung wird anschaulich in Szene gesetzt; sie impliziert Kommunikativität der Empfindungen: zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Raum. Zwei Jahrhunderte später hypostasiert Hermann Schmitz einen essentiellen Zusammenhang zwischen menschlicher Leiblichkeit und Raum. Die Strukturen des Raums entsprechen den leiblichen oder ergeben sich gar aus diesen. Nur in leiblicher Anwesenheit könne man Weite und Enge spüren; demgegenüber sei das Ausmessen des Raums eine rationale Tätigkeit des Verstandes8. Die Empfindung des Raums wäre demnach abhängig von der Beschaffenheit der Menschen und zugleich von dem, was ihnen begegnet. Gefühle werden sogar als Stimmungen verstanden, die sich im Weiteraum „ergießen“, schreibt Schmitz, und sie werden vom Subjekt aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Leib und Raum leiblich erfahren, das heißt, sie entstehen nicht im Subjekt, sondern das Subjekt tauche gleichsam in sie ein. Dem zugrunde liegt die aus der Antike rührende Vorstellung, dass Stimmungen und Gefühle nichts ganz und gar
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Schmitz 1998; Schmitz 1981; Schmitz 1995.
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Subjektives bzw. etwas dem Subjekt vollkommen Innerliches seien, sondern ihm begegnen. Es ist ihnen gleichsam ausgeliefert: Gefühle sind räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären, vergleichbar dem Wetter und der reißenden Schwere, wenn man ausgeglitten ist und entweder schon stürzt oder sich gerade noch fängt: also solchen in den spürbaren Leib eingreifenden Mächten, die nicht selbst leibliche Regungen sind, aber nur am eigenen Leib, wenn auch manchmal als Widersacher, gespürt werden. Ebenso werden Gefühle nur im eigenleiblichen Spüren als ergreifende Mächte wirksam, aber allerdings kann man sie als Atmosphären darüber hinaus oft auch in der Umgebung wahrnehmen. (Schmitz 2000, 42) Man könnte auch anders, vielleicht weniger (oder anders) essentialistisch argumentieren: Räume besitzen ebenso wie Dinge eine Aura, so dass sich eine Atmosphäre (Böhme 1995 und 2001) zwischen Subjekt und Objekt bilden kann. Voraussetzung dafür: dass das Ding auf ein Subjekt stößt, das bestimmte Empfänglichkeiten, bestimmte Dispositionen besitzt. Diese sind immer schon kulturell geprägt, z.B. in Bezug auf Geschmack, aber sie funktionieren trotzdem spontan und vor der bewussten Zur-Kenntnisnahme und Einordnung. Verwendet man „Aura“ im Sinne Walter Benjamins (Benjamin 1979), können technisch produzierte Objekte keine Aura besitzen, denn auratisch können nur einzigartige Kunstwerke sein. Auch für moderne Ästhetiker wie Martin Seel (Seel 2000 und 2001) vermag ästhetische Erfahrung aufgrund der Eigenschaften der Objekte Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden. Zweifellos ist es schwierig und wenig überzeugend, einem massenmedial gefertigten Billigprodukt eine Aura zuzubilligen. Dennoch können m.E. auch industriell gefertigte Objekte von einem gewissen Qualitätsniveau eine Aura besitzen, Kleider zum Beispiel – und ganz sicher Räume bzw. Orte. Dinge können sprechen (Daston 2008) und Räume können wollen (Bieger 2007). Allerdings ist eine Aura nichts Absolutes, sondern abhängig von der ästhetischen Gestaltung und von Kontexten der Präsentation, des Gebrauchs und der Begegnung mit dem wahrnehmenden Subjekt. Auch wenn sie in manchen Punkten undifferenziert bleibt 9, bietet Gernot Böhmes Theorie von ästhetischer Arbeit als Herstellung 9
Ungenau ist z.B. die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Kategorien von Objekten sowie die Systematik der tatsächlichen Entstehung von Atmosphären; so wird manchmal Dingen aufgrund kultureller Konventionen Atmosphäre wie eine feste Eigenschaft zugeschrieben, ohne dass klar wird, dass und wie sie in der Interaktion zustande kommt.
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von Atmosphären eine unverzichtbare Grundlage, um sich diesem Phänomen auch in Bezug auf Nicht-Kunst zu nähern. Denn Böhme unterstellt zu Recht, dass ästhetisch gestaltete Objekte Eigenschaften besitzen, die in der Begegnung mit einem wahrnehmenden Subjekt eine Atmosphäre entstehen lassen können – Atmosphäre als ein nie zu fixierender Zustand des Dazwischen, weder dem Objekt noch dem Subjekt ganz zugehörig, aber von beiden gemeinsam produziert.10 Es ist kein Zufall, dass Böhme gerade der Architektur und ihrem atmosphärischen Potential besonderes Augenmerk widmet (Böhme 2006). Gerade die architektonische und innenarchitektonische Raumgestaltung mit ihrer spezifischen Aufmerksamkeitslenkung11 lebt von den Stimmungsqualitäten, die sie Räumen verleiht, so dass diese starke emotionale Reaktionen, ja sogar extrem immersive Wirkungen zur Folge haben kann12. Heute sind Empfindsamkeit (oder gar Sentimentalität) aus der Mode. Aber Empfindungen haben wir noch; sie sind die Voraussetzung jeglichen Gespürs für die Aura von Räumen. „Empfindung“ hat freilich etwas Diffuses und Allgemeines gegenüber dem konkreteren „Gefühl“. Eine Voraussetzung von Gefühlen ist Intensität 13. Intensität ist eine Modalität des Empfindens, flüchtig und inhaltlich unbestimmt, die sich auf Stärke von Eindrücken bezieht und in benennbaren Gefühlen resultieren kann. Der Begriff „intensiv“ stammt aus dem französischen „intensif “, eine Ableitung von „intense“ = heftig. Dieses geht wiederum zurück auf lat. „intensus“, die Partizipialform zu „intendere“, d.h. seine Aufmerksamkeit auf etwas richten. (Kluge 2002) Das ist nach wie vor der Kern der Intensität. Intensität kommt in der Begegnung mit Menschen, Dingen oder Räumen zustande, die Aufmerksamkeit erzeugen und die wahrnehmende Person „ergreifen“. Die Intensität von Eindrücken und Gefühlen ist wesentlich für die Qualität von Wahrnehmungen, sie macht Ereignisse und Dinge bedeutsam, hebt sie anderen gegenüber hervor und macht sie überhaupt erst erinnerbar. Das Gefühl selbst ist voll10
Aus dezidiert medientheoretischer Perspektive plädiert auch Stephan Günzel für die Abwendung von der Subjektzentriertheit des Emotionskonzepts; vgl. seinen Aufsatz in diesem Band.
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Zum Thema Aufmerksamkeit vgl. Crary 1995; Assmann 2001.
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Vgl. den Aufsatz von Laura Bieger in diesem Band, außerdem Bieger 2007 und gerade über das Verhältnis des Körpers zum Ötsch 2006. Zur Architektur Meisenheimer 2004. - Natürlich kann jedes Objekt, unabhängig von seiner konkreten Anmutung, von entsprechend disponierten Menschen willkürlich mit Stimmungswerten, Gefühlen und Bedeutungen belegt werden. Aber das ist nicht das Thema dieses Buches.
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Vgl. zur Intensität den Beitrag von Brigitte Krüger in diesem Band; ferner Deleuze/Guattari 1996.
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kommen präsentisch, es kann nicht wirklich erinnert werden (im Sinne von: wieder-erlebt, re-aktiviert). Aber das Gefühl bringt die Möglichkeit der Erinnerungen an Dinge, Ereignisse, Menschen und Räume hervor.
Annäherungen an „Gefühl“ Intensitäten sind also Quantitäten von Empfindungen, die zur Qualität von Erfahrungen beitragen. Intensitäten können als Empfindungen wahrgenommen und zu Gefühlen verdichtet werden bzw. die Gefühle modellieren. Demgegenüber sind Gefühle eher benennbar, zuordenbar, und sie sind oft gemischten Charakters. In gewissem Sinne funktionieren sie als Synthese oder als Ordnungsprinzipien für alles das, was im Körper geschieht und was dem Subjekt von außen widerfährt. Das deutsche Wort „fühlen“ hat etymologisch zu tun mit Betasten, d.h. mit dem haptischen Fühlen; besser geklärt ist „Emotion“, das vom frz. „émotion“ kommt, das wiederum auf die Verbform „émouvoir“ zurückgeht, das heißt: bewegen, erregen. Die lateinische Wurzel dazu ist „movere“ = bewegen (—> emovere = herausbewegen, emporwühlen) (Kluge 2002). Neurologie und Psychologie sind einig, dass Gefühle angeboren sind, dass sie sich jedoch erst in kommunikativen Prozessen ausbilden.14 In der Psychologie gilt Emotion neben Kognition und Volition als „fundamentale Funktion der Psyche“, als der wilde, irrationale, „nicht durch Verstand und Vernunft dominierte Teil der Psyche“. (Städtler 2003, 227ff.) In solchen Bestimmungen steckt die für das abendländische Denken so bedeutsame Dichotomie Gefühl – Vernunft. Dabei wird die Vernunft als derjenige Teil betrachtet, der die Gefühle zügeln und regulieren sollte. Allerdings ist diese Dichotomie mittlerweile längst entschärft, denn man weiß längst, dass kognitive Prozesse, also etwa Lernprozesse, bedeutend besser funktionieren, wenn sie emotional gestützt sind15 und Erinnerung nur 14
Die Kooperation mit den Naturwissenschaften, speziell der Neurologie, sind für die Geisteswissenschaften fruchtbar, solange sie nicht der Gefahr erliegen, in einer quasi-positivistischen Wende Emotionen so stark in neurologischen Prozessen zu verankern, daß sich die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung in eine gegenläufige Bewegung zu aktuellen Konzepten der performativen Hervorbringung menschlicher Identitäten, Affekte und Verhaltensweisen setzt.
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Die Psychologie unterscheidet zwischen Hauptgefühlen und gemischten Gefühlen. Man kann Gefühle in vier Gruppen einteilen: Zuneigungsgefühle, Abneigungsgefühle, Wohlbefindensgefühle, Unbehagensgefühle; insgesamt gibt es nach Ulich / Mayring 2003 24 wesentliche Gefühle. Viele davon sind gemischte Gefühle.
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durch emotionale Besetzungen ermöglicht wird. Emotionen sind die Generatoren von Sinn und Bedeutung (Welzer 2005, 8 und 11). Der Neurologie gilt Emotion als reaktives, im Körperlichen verwurzeltes Geschehen (Damasio 2005, z.B. 21, 40), während Gefühle die Emotionen „in die Sprache des Geistes übersetzen“ (Damasio 2005, 103). Emotion sei jener Teil des Affekt-Prozesses, der gezeigt werde, Gefühl sei der, der verborgen bleibe (Damasio 2005, 37). „Die Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, die Gefühle auf der Bühne des Geistes.“ (Damasio 2005, 38) Emotionen sind also das, was sich unmittelbar und unwillkürlich in Körpersprache, Mimik etc. zeigt (und was man kulturwissenschaftlich untersuchen kann), während man lernen kann, das Gefühl nicht zu zeigen. Damasio setzt den Körper als einen Raum, zusammengesetzt aus verschiedenen Teilen (oder Orten), die alle mit Emotionen und Affekten besetzt sind und von hier aus mit der Umwelt in Interaktion treten. Er fährt fort: Gefühle sind Wahrnehmungen, und meine These lautet, daß die erforderliche Grundlage dieser Wahrnehmung in der Kartierung des Körpers im Gehirn geschaffen wird. (Damasio 2005, 104) Die räumliche Metaphorik ist kein Zufall. Raum und Gefühl sind nicht zu trennen, und das ist am Ende mehr eine Metapher dafür, dass wir uns Welt in Raumvorstellungen aneignen. Gefühle werden „verkörpert“16. Und das ist immer auch eine Verräumlichung. 17
Übertragung von Gefühlen
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Es gibt eine Ansteckung mit Gefühlen, im Leben wie in der Kunst (vgl. Fischer-Lichte/ Schaub/Suthor 2005). Unser mimetisches Vermögen trägt dazu bei; wir ahmen unwillkürlich den Affektausdruck, der uns begegnet, nach und lösen damit vergleichbare Empfindungen in uns aus – und nennen das dann Empathie. Die Rhetorik ist bekanntlich die seit der Antike gepflegte Methode, die eigene Rede so zu gestalten, dass sie die gewünschten Wirkungen bei den Zuhörern erzielt, also: bestimmte Gefühle auslöst. Das hat nicht notwendigerweise mit wirklich gefühlten Gefühlen zu tun, sondern ist vor allem einmal eine gut funktionierende Technik. Joseph Imorde (2004) zeigt hingegen in seinem Buch „Affektübertragung“, daß 16
Vgl. z.B. Starobinski 1991.
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Vg. dazu in diesem Band Burkhard Meyer-Sickendiek, der ein räumliches Modell von Gefühl am Paradigma der „Tiefe“ vorschlägt.
Raum und Gefühl
barocke Religiosität auf bestimmte Gefühlsäußerungen setzte, um einerseits die Authentizität des vom Subjekt Gefühlten zu beweisen und es andererseits auf die Gläubigen zu übertragen. Tränenfluten, so Imorde, waren der sichtbare und spürbare Beleg für die Anwesenheit Gottes im Prediger, für die Realität nicht nur der Ergriffenheit des Predigers, also dessen authentische Gefühle, sondern auch für die Realität Gottes in der Welt. Die Übertragung von Gefühlen ist also ein primär körperlicher Vorgang, der dann als Empfindung bzw. Gefühl wahrgenommen wird, oder, um wieder Damasio zu paraphrasieren, Emotionen sind körperliche Vorgänge, die in Gefühle übersetzt werden. Deswegen sind Emotionen Voraussetzung für das Erleben von Gefühlen (Damasio 2005, 14). Empathie ist in neurologischer Perspektive darauf zurückzuführen, daß das Gehirn Zustände simulieren kann. Ansteckung durch Gefühle geschieht dann durch Nachahmung, Mimesis von z.B. Gefühlsäußerungen anderer, und diese wiederum wird durch sogenannte Spiegelneuronen im Hirn ermöglicht (Damasio, 139) Wie immer man das mimetische Vermögen auch begründet: Offensichtlich geschieht die Übertragung von Gefühlen durch die überzeugende Inszenierung echter oder vorgetäuschter Gefühle, sei es in der gelebten Wirklichkeit, in Texten, Bildern oder im Film. Umso mehr können Räume mit Gefühlen anstecken – oder Gefühle Räume. Nicht, weil sie eine Mimik hätten, aber weil sie Stimmungen haben, die sich übertragen, wenn die Sinne sich öffnen.
Dieser Band Die Vielfalt der aktuellen Konzepte von Raum und Gefühl und deren Zusammenhang spiegelt sich in diesem Band wider. Viele Beiträge klären ihr Raum- und Gefühlsverständnis systematisch, entweder eher deduktiv (Meyer-Sickendiek, Ott, Mersch, Siewert) oder tendenziell induktiv (Krüger, Günzel, Lindemann). Andere gehen von einem impliziten Raumverständnis aus, das sich aus der Arbeit am Gegenstand aus erhellt (z.B. Stillmark, Theilen). Tatsächlich überschneiden sich die Ansätze und Themen der fünf Teile des Bandes; die Entscheidung, in welcher „Abteilung“ ein Aufsatz denn zu platzieren sei, fiel oft schwer und hätte auch ganz anders ausfallen können. Dennoch ergibt sich am Ende aus der Gliederung eine gewisse Schwerpunktsetzung. Der erste Teil (Wahrnehmung, Raum, Gefühl) setzt sich mit grundsätzlichen Konzepten von Gefühl, Raum und den produzierten Effekten auseinandersetzen. Der Beitrag von Burkhard Meyer-
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Sickendiek diskutiert am Beispiel der „Tiefe“ räumliche Modelle von Emotionen. In seiner Auseinandersetzung mit diesem in der Emotionsforschung weitgehend vernachlässigten Konzept verfolgt er vor allem die Auswirkungen der Ästhetiktheorie des 18. Jahrhunderts (mit ihrer Vorstellung vermischter Empfindungen) auf die Ganzheits- und Gestalttheorie sowie die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Leitend ist dabei die Frage nach der „Werthaltigkeit“ von Emotionen sowie deren Ambivalenz. Dieter Mersch nimmt weniger konkrete Gefühle als Erfahrungen, Denkschemata und Lebensstile in den Blick, die sich derzeit drastisch verändern, da die neuen Technologien uns längst in Besitz genommen haben und nicht mehr Kommunikation, sondern die Möglichkeit des Kontakts das Entscheidende geworden sei. Er führt das Konzept „faktale Atopien“ ein, um damit unbestimmte, „rissige“, multiple Topologien zu charakterisieren. – Der Aufsatz korrespondiert eigentümlich mit dem von Meyer-Sickendiek; in beiden geht es mit völlig verschiedenen Schwerpunktsetzungen um Fragen von Tiefe und Oberfläche. Stephan Günzel entwirft am Beispiel des Computerspiels eine mit dem Raumerleben verbundene Wahrnehmungstheorie. Er plädiert für eine Wendung von der Subjektzentriertheit des Emotionskonzepts hin zu einem Konzept, nach dem Emotionen weder innen noch außen sind, sondern zwischen, und er zeigt auf, dass das Computerbild sich nicht zuletzt aufgrund räumlicher Erfahrung seine Benutzer als affizierte und handelnde Subjekte schafft. Am Beispiel der real-fiktionalen Erlebnisarchitektur von Las Vegas, des Washingtoner Regierungsviertels und der White City der Weltausstellung 1893 in Chicago erläutert Laura Bieger im zweiten Teil (Die Räume und die Künste), wie Immersion als körperliches Erleben Distanz auflöst, indem sie die Wahrnehmenden in das Ereignis, den Raum oder das Bild eintauchen lässt. Michaela Ott analysiert, auf welche Weise die zeitbasierten Bildmedien wie der Film oder die Videokunst als entscheidende Raumzeittransformatoren der Moderne unbestimmte Affekträume generieren. Susanne Jaschko stellt den Trend zu relationalen und fluiden Räumen dar, die die physischen Grenzen von Architektur mit Hilfe neuer digitaler Technologien erweitern und Atmosphären schaffen; zur Zeit werden diese freilich noch vornehmlich von Mediendesignern und Künstlern entworfen und sind (noch) nicht materiell realisierbar. Im dritten Teil (Urbane Räume) lässt Angelika Corbineau-Hoffmann literarische Gestaltungen von Großstadtstraßen von der Antike bis zur Postmoderne Revue passieren und weist nach, in welchem Maße diese Straßen als Verhinderung oder als Ermöglichung des Schreibens fungieren; wie die Straßen mental transformiert oder zu Chiffren werden. Nicht alle Räume besäßen einen „genius loci“,
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aber deren besondere affektive Qualität rühre daher, „dass wir sie nicht einfach vorfinden, sondern (zumindest) mitschaffen.“ Robert Schade konzentriert sich auf eine einzige Großstadt, Belyjs Petersburg, und zeigt, wie Moderne und Großstadt ebenso wie Subjekt und Stadt auf unterschiedlichen Ebenen erzählerisch verschränkt werden und ambivalente Räume und Bewußtseinszustände hervorbringen. Gertrud Lehnert analysiert zwei Raumtypen: das Warenhaus des 19. Jahrhunderts und das Hotel. Am Beispiel von Zolas Bonheur des dames, Marcel Prousts Recherche und Vicky Baums Menschen im Hotel zeigt sie das halb reale, halb irreale Raum-Erleben, das diese beiden Heterotopien generieren, deren wesentliche emotionale Dispositive Einsamkeit und Rausch sind. Uwe Lindemann thematisiert das visuelle Dispositiv als wesentliches Merkmal der Warenwelten seit Mitte des 19. Jahrhunderts und fokussiert auf das Schaufenster als den Ort, an dem sich diese Zusammenhänge und „zentrale Problematiken der Modernisierung um 1900“ paradigmatisch verdichten. Als rational organisierter Zwischenraum stelle es die Doppelnatur der Ware aus: Gebrauchswert und emotionaler Erlebniswert, und ziele es auf emotionale Reaktionen der BetrachterInnen. In den Bibliotheken des 18. Jahrhunderts erkennt Brunhilde Wehinger Orte nicht nur der Bildung und des Wissens, sondern des emotionalen Erlebens. Die Gestaltung von Lesesälen ziele z.B. mit ihrer Anspielung auf antike Architektur auf ein spezifisches Raumgefühl und, im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie der Präsenz der Farbe Grün, auf die Erzeugung der rechten Atmosphäre. In den öffentlichen Bibliotheken verdichtet sich städtische Kultur, hier entfalten sich Geschmack und Intellekt. Im vierten Teil (Räume Schreiben) stehen literarische Raumgestaltungen zur Debatte und der wechselseitige Bezug von Raum und Schreiben: Raum schreiben, über Raum schreiben, Raum im Schreiben erfahrbar machen und konstitiuieren. Stephanie Siewert erkennt eine spezifische Melancholie von Menschen zwischen Kulturen und Sprachen. Deren Positionierung im traditionellen Melancholie-Diskurs sei nicht als Ableitung zu verstehen, sondern als Geschichte von Kreuzungspunkten und Schnittstellen. Die Melancholie unterlaufe eine Transformation von einer pathologischen Disposition zu einem kulturellen Dispositiv. Ottmar Ette schlägt einen großen Bogen um Raum, Emotion und Literatur als spezifische Form von Lebenswissen. In den Texten Jorge Semprúns und Emma Kanns entfalte sich ein Prozess der „Spatialisierung von Affektivität“, in dem zwei denkbar gegensätzliche Heterotopien, der Garten und das Konzentrationslager, im Prozess des Erzählens ineinander geblendet werden und eine Möglichkeit eröffnen, das Gegensätzliche zu leben; dem Grauen etwas entgegenzusetzen. Literatur wird zur
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ästhetischen Praxis eines Überlebenswissens. Brigitte Krüger fragt systematisch nach dem Bedingungsverhältnis von Raum, Intensität, postmoderner Literatur und der eigentlich antiquierten Gattung Utopie mit ihrem „Prinzip Hoffnung“. Postmoderne Texte bringen „Intensitätsräume“ hervor, die das „fiktionale Gelände der Utopien neu vermessen und kartieren“, Heterogenität statt Eindeutigkeit schaffen und die traditionelle Dichotomie von Utopie und Dystopie unterlaufen. Mit Hilfe einer exemplarischen Romananalyse klassifiziert sie charakteristische Raum-Konfigurationen der Intensität. Mit den konkreten visuell-räumlichen Gestaltungen von Büchern befasst sich Monika Schmitz-Emans’ Analyse von Labyrinthbüchern, deren hohen intellektuellen und zugleich affektiven Reiz – vor allem Angst, Lust, Spannung – sie herausarbeitet. Im fünften und letzten Teil (Literarische Räume) weist Zuzanna Jakubowski mit Hilfe aktueller Raumkonzepte die Realisierung von atmosphärischen, textuellen und metaphorischen Gefühlsräumen in Romanen der Schwestern Brontë nach. Die Analyse der Räumlichkeiten erweist, dass die viktorianische Geschlechter-Norm der „separate spheres“ in den Romanen sowohl reproduziert als auch immer wieder unterlaufen wird. Hans-Christian Stillmark fokussiert am Beispiel von Wolfgang Hilbigs Romanen auf Transformationsräume – Räume, deren semantischer Gehalt sich wandele, die Gegensätze in Bewegung bringen, Festes dynamisieren, wenn nicht auflösen. Sie zielen auf eine Gefühlslage von Zwiespalt und Gebrochenheit und auf „Verhaltensmatrizen“, die grundsätzlich durch Uneindeutigkeit und Unentscheidbarkeit charakterisiert sind. Ines Theilen deutet die Wüste Lop Nor von Raoul Schrott nicht nur als einen (psychischen) Grenzraum, sondern auch als Ent-Konkretisierung, da der geographische Orts hinter die Landschaft und ihre Stimmung zurücktrete. Damit öffne sich der Blick zurück auf die Tradition der Stimmung seit der Frühromantik, die Voraussetzung der Entstehung des literarischen Gefühlsraums anstelle personaler Innerlichkeit. Katja Stillmark deutet die Funktion der Straße in autobiographischen und dystopischen Texten der letzten Jahre als Speicher von Erinnerung und implizite Gesellschaftskritik.
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Gefühlstiefen: Aktuelle Perspektiven einer vergessenen Dimension der Emotionsforschung
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Von Gefühlstiefen zu sprechen, heißt Assoziationen an die Psychoanalyse wachzurufen. Anders gesagt: Die Vorstellung von der Tiefe des Gefühls wird häufig an die Vorstellung vom Unbewussten als einer „psychischen Tiefendimension“ (Freud 1975a, 133) im Freudschen Sinne gebunden. Dies erklärt sich durch das populäre Verständnis, die psychotherapeutische Praxis sei eine Aufarbeitung und Bewusstmachung tiefliegender Konflikte, die gegen Widerstände ans Licht geholt werden. Zwar hat Freud bekanntlich den Begriff des „Unterbewussten“ niemals akzeptiert. Die Kennzeichnung der Psychoanalyse mit dem Begriff der „Tiefenpsychologie“, die auf den Vorschlag des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler zurückgeht, hat Freud jedoch seit der Studie Das Unbewusste von 1915 übernommen (Freud 1975a, 132). Und den psychoanalytischen Versuch, eine verdrängte Wahrheit ans Licht treten zu lassen, hat schon Freud selbst mit einem Blick in die Tiefe umschrieben: Die Tiefenmetapher dient als Strukturprinzip der sogenannten Metapsychologie, insofern diese den Aufbau des psychischen Apparates anhand der Kategorie der Topik als einer räumlichen Kategorie entwickelte. Ein „spatial turn“ ließe sich also schon in der Psychoanalyse ausmachen, denn die Kategorie der Topik dient der Differenzierung des seelischen Apparates in verschiedene Systeme, die metaphorisch als pychische Orte illustriert wurden: Unbewusst, Vorbewusst und Bewusst bzw. in der späteren Fassung Es, Ich und Über-Ich. Zudem hatte Freud trotz der „zweiten Topik“ im Sinne der lokalisierbaren Instanzen von Es, Ich und Über-Ich sowie deren
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vertikaler Anordnung immer wieder betont, dass die Unterscheidung zwischen „bewusst und unbewusst“ letztlich „die einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie“ (Freud, 1975b, 287) sei. Insofern also ließe sich vermuten, dass die Rede von Gefühlstiefen mit einer irgend gearteten Vorstellung von unbewussten Gefühlen verknüpft sein könnte: Dem ist jedoch keineswegs so. Entscheidend ist nämlich, dass der Begriff der Gefühlstiefe, um den es im Folgenden gehen soll, weniger mit der Psychoanalyse denn vielmehr mit der Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts verknüpft ist. Und in diesem Kontext sind Gefühlstiefen niemals unbewusst. Dies liegt zum einen daran, weil die Gestaltpsychologie vor allem mit Felix Krueger einen Theoretiker besaß, der das Tiefeerleben aus dem Phänomen der „vermischten Empfindungen“ als einer zentralen Thematik der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts ableitete. Und es liegt zum anderen daran, weil Krueger die Gefühlstiefe auf das sogenannte „Gemüt“ bezog, welches schon im achtzehnten Jahrhundert nicht als Unbewusstes gedacht wurde. Die von Krueger 1898 geprägte Kategorie der Gefühlstiefe ist also vor allem deshalb frei von psychoanalytischen Überlegungen im Sinne einer Kategorie des Unbewussten, weil sie auf Diskussionen des achtzehnten Jahrhunderts bezogen ist, die insbesondere mit den seit Moses Mendelssohn intensiv analysierten Mischgefühlen verbunden sind. In seinem Aufsatz Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen von 1761 hatte schon Mendelssohn die Tiefenwirkung der vermischten Empfindungen gegenüber den sehr schnell langweilig wirkenden Empfindungen des bloß Angenehmen betont und so – in seiner Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai – auch dem ästhetisch Hässlichen seinen Platz in der Theorie des ästhetischen Vergnügens eingeräumt (Mendelssohn 2005, 157): Die vermischten Empfindungen haben die besondere Eigenschaft, daß sie zwar so sanft nicht sind, wie das reine Vergnügen, hingegen dringen sie tiefer in das Gemüt ein, und scheinen sich auch länger darin zu erhalten. Was bloß angenehm ist, führet bald eine Sättigung, und zuletzt den Ekel mit sich. (...) Hingegen fesselt das Unangenehme, das mit dem Angenehmen vermischt ist, unsere Aufmerksamkeit, und verhindert die allzu frühe Sättigung. Die folgenden Ausführungen zur Kategorie der Gefühlstiefe verfolgen die Auswirkungen dieser ästhetiktheoretischen Überlegungen der Aufklärung in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie des 20. Jahrhunderts. Sie rekapitulieren so die kurze, heute jedoch vergessene Karriere der Kategorie „Tiefe“ in der Emotionstheorie des
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20. Jahrhunderts. Diese Karriere beginnt mit Felix Kruegers Ergänzungen der Gefühlstheorien der Jahrhundertwende und mündet schließlich in der sogenannten Charakterkunde Albert Welleks und Ludwig Klages’, die aus den Überlegungen Kruegers schließlich eine Schichtentheorie der Persönlichkeit entwickelten. Tiefe ist also eine zentrale Kategorie der Emotionstheorien der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und dennoch darf diese Kategorie der Gefühlstiefe nicht mit den aus dem gleichen Zeitraum stammenden Schichtenmodellen der sogenannten Charakterkunde verwechselt werden: Schon Albert Wellek skizzierte im Anschluss an seinen Lehrer Felix Krueger zwei grundverschiedene Begriffe von Tiefe und betonte, dass nur derjenige Kruegers legitim sei, der Innigkeit bzw. Gemüthaftigkeit meint. Daher wendete sich Wellek mit seiner Schrift Die Polarität im Aufbau des Charakters gegen ein in der Philosophie seit der Antike bekanntes Modell von Schichtungen, das platonischen Ursprungs ist und letztlich auf einer Hierarchisierung basiert: diese „eindimensionale“ Schichtenlehre dürfe mit der Komplexität des emotionalen Erlebens, um derentwillen sich der Begriff der Tiefe erstmals in der Gefühlstheorie entwickelte, nicht verwechselt werden. Welchen Sinn dieses heute mehr oder minder vergessene Modell für eine aktuelle Emotionspsychologie besitzen kann, dies soll im Folgenden diskutiert werden.
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Unsere Frage nach der Tiefe als mögliche Kategorie der interdisziplinären Emotionsforschung setzt zunächst einmal voraus, gewissermaßen die Spreu vom Weizen zu trennen: Es gibt einen Diskurs über die Tiefen der Persönlichkeit, der sich kaum ernsthaft aktualisieren lässt. Dies liegt an der Tatsache, dass sich dieser Diskurs im Sinne der sogenannten Schichttheorien auf ein vertikales Denkmodell bezog, dessen letztlich platonische Logik schon von Albert Wellek distanziert wurde. 1903 trennte der Wiener Psychiater und Neurologe Erwin Stransky zwischen der Thymopsyche und der Noopsyche, wobei erstere die Affektivität, das Gemüt betrifft, d.h. überwiegend mit den Gefühlen zu tun hat, und zweitere den Intellekt, d.h. den kognitiven Anteil der Psyche (Stransky 1904). Ein vierwertiges Modell einer „Schichtung des emotionalen Lebens“ entwickelte dann Max Scheler 1913 in Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, das die „sinnlichen Gefühle“, die „Lebensgefühle“, die „rein seelischen Gefühle“ und die „geistigen Gefühle“ (Scheler 1913, 341-356) unterschied: Wir werden die-
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sen wichtigen Beitrag noch genauer darstellen. Scheler bereitet den Boden etwa für Friedrich Kraus und dessen 1919 in Allgemeine und spezielle Pathologie der Person entwickelte Unterscheidung zwischen Tiefenperson und Kortikalperson, wobei Kraus 1926 im zweiten Teil dieses seines Hauptwerks die Tiefenperson definiert als „eine schlechthin vitale, das tiefste Wesen des Menschen bildende, spontan dranghaft schöpferische, primär angelegte, nicht erst reaktiv entstandene innerliche Instanz.“ (Kraus, 1926, 3.) Weiter ausdifferenziert wird dieses Modell durch Schelers Schüler Erich Rothacker, der 1938 die Tiefenperson (vierfach gestuft) und die Person-Schicht (zweifach gestuft) unterscheidet. Gemeint waren damit von Rothakker die hierarchischen Funktionsbereiche der weitgehend unbewussten Es-Schicht, gegliedert in Vitalschicht, vegetative, animale und emotionale Schicht, und die Person-Schicht als einer unter der Herrschaft des Ichs stehenden Lenkungs- und Hemmungsfunktion, die von den kulturellen Erziehungsnormen geprägt sei. Allein für die Tiefenperson entwickelte Rothacker vier unterschiedliche Typen: 1. „Leben in mir“, 2. „Tier in mir“, 3. „Kind in mir“, 4. „emotionale Schicht“ (Rothacker, 1938). Im gleichen Jahr 1938 unterschied Philipp Lersch in Aufbau der Persönlichkeit dann zwischen einem endothymen Grund, der durch stationäre Gestimmtheiten, Gefühle und Antriebe geprägt sei, und einem „personellen Oberbau“, geprägt durch Strebungen, Willen sowie Denk- und Urteilsfähigkeit. (Lersch 1951, 450ff. Vgl. auch 80-287 sowie 418-449). In seiner Kritik dieser Modelle hat sich Albert Wellek in erster Linie auf deren vertikalen Grundgedanken bezogen, welcher Tiefe stets als „tief unten“ im Sinne des lateinischen profundus verstand, und dagegen ein Modell von Tiefe als „Innigkeit“ gestellt. So entstand Welleks Schalenmodell der Persönlichkeit, dass eine Art „Zwiebelschichtung“ um einen „Charakterkern“ annahm und so die letztlich platonische Idee einer Schichtung der Persönlichkeit in einem rein vertikalen Sinne distanzierte (Wellek 1966, 67ff.). Wellek entwickelte stattdessen eine Charakter und Persönlichkeit gleichsetzende polare Charakterlehre, bei der sich sieben „Charakterbereiche“ (Vitalität, Trieb, Empfindung, Gefühl, Fantasie, Verstand und Wille) um einen „Charakterkern“ gruppieren, aus dem heraus der Mensch Wertungen trifft und handelt. Als polare Ausformungen in jeder Schicht werden u.a. Intensität und Tiefe unterschieden. Zudem entwickelte Wellek eine Schichtenlehre, die das Vertikale und das Horizontale vereint und auf diese Weise das klassische Verständnis der Psychoanalyse invertiert: „Die Primitivschichten und ihre Leistungen können bewusst, die hohen wie auch die Kernschichten und deren Leistungen können unbewusst sein.“ (Wellek 1966, 99.).
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Entscheidend für unsere Fragestellung ist dabei, dass das Gemüt für Wellek jener „seelische“ Ort ist, in den vertiefte Gefühle eingehen. Gemüt wird von Wellek als „Ort der Zusammenbindung zur Gemeinschaft und eben dadurch der sozialen Haltungen und Gefühle“ (Wellek 1966, 324) definiert. Das Gemüt ist also der Ort unserer Bindungen im Sinne einer wertfühlenden Teilnahme an Menschen, Wesen und Dingen. Zum Gemüt als Ort der Bindung gesellt sich nach Wellek das Gewissen als Ort der verantwortlichen Bindung im Sinne eines Wollen, Handeln und Begehren (Wellek 1966, 324). Die Tiefe des Gemüts als Gefühlstiefe in Abhebung zur Affektivität als Gefühlsintensität lässt sich wiederum übertragen auf den Bereich des Verstandes, wobei Wellek dann in ähnlicher Form zwischen Esprit und Tiefsinn unterscheidet. So stehen sich ein „‚vitales Denken‘ – sit venia verbo –, verkörpert in der Gestalt des wendig-geistreichen Causeurs“, und „der grübelnde Tiefsinn, die lang- und schwerarbeitende Gründlichkeit“ (Wellek 1966, S. 197f.) gegenüber. Speziell mit seiner Unterscheidung von Intensität und Tiefe des Gefühls bezog sich Wellek auf Ludwig Klages Die Grundlagen der Charakterkunde, in der das Verhältnis von Gefühlstiefe und Gefühlsintensität gar mathematisch erläutert wird (Klages 1928, 106):
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Die (gleich der Stärke graduierbare) Tiefe des Erlebens (…) ist diejenige Eigenschaft des Gefühls, die niemals aus Anlässen von geringer Valenz entsteht und deren Bedingung daher der Erregung des Gefühls widerstrebt. Zu ihr aber einen ohne weiteres verständlichen Gegensatz bildet die der Selbstbesinnung gleichermaßen zugängliche Lebhaftigkeit des Gefühls, deren Bedingung vom leisesten Anlaß zur Entfesselung von Gefühlen genötigt wurde. Die Gefühlserregbarkeit (Eg) wächst also mit wachsender Gefühlslebhaftigkeit (Lg) und nimmt ab mit wachsender Gefühlstiefe (Tg); oder in schematisch verstehender Formel: Eg=Lg/Tg.
„Gefühlsganzheit“: Felix Kruegers gestaltpsychologische Kategorie der Tiefe Das Motiv der Tiefe lässt sich konkretisieren, wenn wir über Klages’ und Welleks Charakterkunde nun in die Gestaltpsychologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zurückgehen. Der Autor, den es im Folgenden zu erinnern gilt, ist der Leipziger Ganzheits- und
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Gestaltpsychologie Felix Krueger, der unter dem Eindruck Wilhelm Diltheys, Wilhelm Wundts, Hans Cornelius’ und Theodor Lipps den Begriff der Tiefe erstmals systematisch in die Gefühlsforschung eingeführt hat. Krueger orientierte sich dabei einerseits an Theodor Lipps Leitfaden der Psychologie, in welchem die Dimension der Tiefe bereits als spezifischer Gefühlscharakter erwähnt wird: Jedes ästhetische oder ethische Wertgefühl hat einen Charakter des Innerlichen oder in die Tiefe Gehenden, der es von dem Gefühl der bloß sinnlichen Lust, etwa an einer Geschmacksempfindung, spezifisch unterscheidet. Dieser Gefühlscharakter beruht auf der Tiefe des Persönlichkeitsmomentes, der Tiefe des Menschlichen und menschlich Bedeutsamen, das hier in dem Lustvollen für uns liegt. (Lipps 1903, 296) Diese Überlegungen Lipps werden von Krueger im Rekurs auf den Begriff des Erlebnisses systematisiert, der als ein zentraler Begriff von Diltheys hermeneutisch-historischer Methode auch für Kruegers Gefühlstheorie wichtig ist. Krueger fordert in dem Buch Zur Philosophie und Psychologie der Ganzheit eine diesem lebensphilosophischen Ansatz angemessene Strukturierung der Komplexität von Gefühlen (Krueger 1953). Vor allem der Essay über Die Tiefendimension und die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens von 1898 – also gute zehn Jahre vor der Prägung des Begriffes Ambivalenz durch Eugen Bleuler – ist im Rahmen unserer Fragestellung von Bedeutung. Krueger geht in diesem Essay zunächst auf seinen Lehrer Wilhelm Wundt und den von Wundt 1874 behaupteten „drei – in sich bipolaren – Hauptrichtungen der Gefühlsqualität“ ein. Bekanntlich betrachtete Wundt die Gefühle als Phänomene, welche sich zwischen den drei Polen Erregung – Beruhigung, Lust – Unlust, Spannung – Lösung befinden (Wundt 1911, 34.). Mit diesen drei Dimensionen lassen sich drei spezifische Fragen verbinden: a)
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Die Bestimmung von Lust und Unlust fragt danach, ob die Emotion als eher angenehm oder eher unangenehm erlebt wird. Die Bestimmung von Erregung bzw. Beruhigung fragt danach, ob die Emotion zu einer Handlung eher aktiviert oder deaktiviert. Die Bestimmung von Spannung bzw. Lösung fragt danach, ob die Emotion die Aufmerksamkeit eher erhöht oder erniedrigt.
Auf diese Weise lassen sich Affekte und Emotionen hinsichtlich ihrer Valenz bzw. Wertigkeit (angenehm – unangenehm; Lust – Unlust), ihrer Aktivität (Erregung – Ruhe) sowie ihrer Intensi-
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tät (Spannung – Lösung) skalieren. So ist etwa die Heiterkeit eine lustvolle, gelöste Erregung, Trauer dagegen eine unlustvolle, angespannte Ruhe, da sie über eine hohe Intensität, aber eine geringe Aktivität verfügt, Angst dagegen stellt eine unlustvolle, angespannte Erregung dar. Wundt versucht mit diesem Modell zu verdeutlichen, dass ganz verschiedene Gefühle immer zwischen diesen Extremen anzuordnen und entsprechend zu beschreiben seien. Für Krueger ist diese Beschränkung aber nicht ausreichend, da diese Form der „Zweidimensionalität“ der Komplexität der Gefühle nicht gerecht werden könne. Er entwickelte daher mit und gegen Wilhelm Wundt ein Modell, welches zwei Charakteristika der Gefühle besonders betont: Zum einen ihre „Komplexqualitäten“ (Krueger 1953, 202) d.h. ihre Ganzheit, und zum anderen die Tiefendimensionalität, d.h. ihre Gegensätzlichkeit (Krueger 1953, 177-194). Krueger beschreibt, dass Gefühle immer aus Teilkomplexen bestehen, die wiederum ihre eigenen Qualitäten („Komplexqualitäten“) haben. Die „unscharfe, gefühlsartige Gegebenheit“ der Erlebniswelt begriff Krueger als Zeichen der Ganzheitlichkeit des Gefühlserlebens. Entscheidend für diese Einschätzung ist dabei der für die Gestaltpsychologie so wichtige Gedanke der Emergenz. Das Gefühl als diffuses Erlebnis ist also mehr als nur die Summe seiner verschiedenen Komplexqualitäten. Krueger argumentiert also im Sinne der Gestaltpsychologie der Berliner Schule, welche durch Autoren wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka repräsentiert war. Auch diese betrachteten das Erleben vor allem in der Wahrnehmung als eine Ganzheit, die auf einer bestimmten Anordnung der ihr zugrunde liegenden Gegebenheiten beruht, wobei diese Gegebenheiten als Glieder mit dem Ganzen in der Beziehung wechselseitiger Bedingtheit stehen. In eben diesem Sinne ist auch für Krueger das gefühlsartige Erleben überhaupt die erste, genetisch früheste und echteste Art des Erlebens. Mit dem Erleben der Ganzheit ist nach Krueger eine „qualitative Aenderungsrichtung der Gefühle“ gemeint, die er als „ihre Tiefe und Innigkeit, ihre Wärme“ bezeichnet. Dieser Bezug unserer Gefühlerlebnisse auf die Tiefendimension bestimmt erst ihren seelischen Gehalt. Um diese seiner Ansicht nach notwendige Ergänzung der Wundtschen Dimensionalität zu illustrieren, nennt Krueger zwei Gruppen von Gefühlen, die sich nach dem Grad ihrer Tiefe unterscheiden lassen. Einerseits etwa „der unangenehme ‚körperliche Schmerz bei einer plötzlichen Verbrennung“, die „vorübergehende Qual des Durstes, die Befriedigung des Sattwerdens“, und „augenblicksbestimmte Spannung oder Verärgerung“, andererseits etwa das Gefühl „der Freundschaft, der Kindesfürsorge, der Pietät,
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der ehelichen Treue, der vaterländischen Not, des Sichversenkens in ein Stück Natur“ oder „der Gewissensqual“. Diese Gefühle ließen sich anhand der drei Wundtschen Schemata nicht wirklich erschöpfend unterscheiden, es fehle die Dimension der Tiefe, welche einzig der zweiten Gruppe der genannten Gefühle zukomme. Auch Krueger verwendet zur Verdeutlichung dieser Dimension des Gefühlslebens die Begriffe der Innigkeit und des Gemüts. Und dann verweist Krueger auf einen Umstand, der auch für ein Verständnis von Emotionen als „vermischten Empfindungen“ wichtig ist: Flache, untiefe Gemütszustände haben immer etwas einförmig Gerichtetes. (...) Dagegen enthalten alle tieferen Gefühle in sich etwas mehrspältig Gerichtetes. Und die tiefsten Gegensätze des Gemüts scheinen ohne Ausnahme darin übereinzustimmen, dass sie weitgespannte Gegensätze des Fühlens gleichzeitig, unmittelbar in sich vereinigen. (Krueger 1953, 191) Krueger nennt als Beispiele etwa den berühmten „Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“, den „Tropfen Wehmut, den „alles tiefere Glück in sich berge, oder das Gefühl des Erhabenen im Sinne Kants und Schillers“ (Krueger 1953, 191). Wenn Krueger dieses Zusammenspiel von Ambivalenz und Tiefenerleben durch den Umstand erklärt, dass „der Kontrast ein beherrschendes Prinzip künstlerischer Gestaltung“ sei, dann ist damit auf einen elementare Gesetzmäßigkeit der Gestaltpsychologie angespielt. Das dieser Gefühlstheorie zugrunde liegende Gestaltgesetz bezeichnet die Art des Zusammenschlusses von erlebten Teilen zu einer erlebten Ganzheit, ein Zusammenschluss, bei welchem die wahrgenommene Gestalt als ein erlebtes Ganzes vor anderen denkbarer Einteilung in einzelne Elemente gestaltlich ausgezeichnet ist, und zwar u.a. so, „dass möglichst einfache, einheitliche, ... geschlossene, ... symmetrische, ... gleichartige Ganzgebilde entstehen.“ (Metzger, 1954, 108f.). Denken wir etwa an so bekannte Bilder wie den berühmten „Necker-Würfel“, dessen Seitenflächen nicht vollständig gezeichnet sind, der aber dennoch als Würfel wahrgenommen wird: Auch die Ganzheit der Gefühle beinhaltet eine solche Komplexität.
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Figur und Grund: Zur Tiefendimension emotionaler Stimmungen Dass sich emotionale Phänomene im Sinne Kruegers als Vorderund Hintergrundphänomene beschreiben lassen, ist mehr als eine fragwürdige Übertragung von Wahrnehmungsgesetzen auf emotionale Phänomene. Die aktuelle Emotions- und Neuropsychologie verwendet nämlich eben diese Modelle, denken wir etwa an Antonio Damasios Begriff der „background emotions“. Diesen Begriff entwickelte Damasio sowohl in Descartes error als auch in The feeling of what happens, um die bekannten basic emotions Paul Ekmans, also Angst, Wut, Traurigkeit, Ekel, Überraschung und Glück, sowie die sogenannten secondary bzw. social emotions wie etwa Scham, Schuld oder Stolz um einen in der Alltagspsychologie überaus relevanten Bereich zu erweitern: Die Stimmungen und Befindlichkeiten des tagtäglichen Seins. Damasio erachtete es deshalb als notwendig, den Begriff „mood“ durch den der background emotions zu präzisieren, „because these feelings are not in the foreground of our mind.“ (Damasio 1999, 190). Das gleiche Bild findet sich schon bei Richard Lazarus: „Moods are products of appraisals of the existential background of our lives. This background has to do with who we are, now and in the long run, and how we are doing in life overall.“ (Lazarus 1994, 79-85, hier 84)
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Dieses anschauliche Unterscheidungskriterium von Vorder-grundemotion und Hintergrundstimmung hat insofern mit dem Begriff der Tiefe zu tun, als es sich einer Figur bedient, die man in der Wahrnehmungspsychologie Tiefensensibilität nennt. Wir kennen diese Sensibilität vom Bahnfahren, wenn die in der Nähe liegenden Dinge vorbeihuschen, die in der Tiefe des Raumes liegenden Dinge und Gegenstände hingegen länger im Blickfeld bleiben. Dieser sogenannte „Eisenbahneffekt“ lässt sich auch auf das Gebiet der Emotionserlebnisse übertragen. Das wahrnehmungspsychologische Gestaltgesetz, nach dem das perzeptive Feld der Wahrnehmung stets die Tendenz hat, sich in Figur- und Grundkomponenten zu gliedern, dient in seiner Anschaulichkeit auch zur Strukturierung des emotionalen Erlebens, d.h. zur Unterscheidung von vorbeihuschenden Affekten bzw. Gefühlswallungen einerseits, und Stimmung im Sinne länger andauernder Tönungen des Gefühlserlebens andererseits. In diesem Sinne definiert etwa Andrea Abele die Gefühle als „Figur-Phänomene“, die Stimmungen dagegen als „Hintergrundphänomene“. Sie bezieht sich dabei auf eine Charak-
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terisierung Otto Ewerts, nach welchem Stimmungen eher diffuse Gefühlserlebnisse seien, in denen sich die Gesamtbefindlichkeit einer Person ausdrücke. Für Ebert stellen Stimmungen den Hintergrund dar, vor dem sich Erlebnisse als Figur abheben (Otto, Euler, Mandl 2000, 12): Die Figur ist eindrucksvoll, bedeutsam und steht im Vordergrund. Sie hat eine Form und die Eigenschaft eines Gegenstandes. Der Grund hingegen ist formlos und erstreckt sich hinter der Figur. Er ist gegenstandslos und hat die Eigenschaft ungeformten Materials. Stimmungen werden mit dem Grund verglichen, der eine Art Dauertönung des Erlebnisfeldes darstellt, von dem sich mehr oder weniger scharf umrissen andere Erlebnisgegebenheiten abgrenzen. Felix Krueger hat diese sehr aktuellen Überlegungen schon gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entfaltet. Er hat seine Theorie einer Tiefendimension der Gefühle allerdings – anders als moderne Theoretiker der background emotions – integriert in ein „System der Wertungen“: „Unser Fühlen ist um so tiefer und inniger (…), je mehr es bestimmt ist durch die Struktur eigener Werte, die den Kern unserer Seele bildet.“ (Krueger 1953, 189). Dies erklärt wiederum, dass die Tiefe des Erlebens für Krueger auch ein Zeichen für das Edle ist. Dass er sich dabei in seinen Beispielen auch vergreift, also als Beispiel für die kontrastreiche Tiefe des edlen Geschmacks etwa „deutsche Früchte“ wie z.B. den „Gravensteiner Apfel“ oder den „Rebensaft des Rheingaues“ der „runden, einfarbigen Süßigkeit der Orangen und Feigen“ positiv gegenüberstellt, sei nicht unerwähnt. Entscheidend ist jedoch für unsere Überlegungen der wichtige Hintergrund der vermischten Empfindungen, aus welchen Krueger seine Theorie der Gefühlstiefe entwickelte. Ausgangspunkt ist also bei Krueger – im Unterschied zu den Schichtentheoretikern nach ihm – die „unscharfe, gefühlsartige Gegebenheit“ der Erlebniswelt sowie der Faktor der Unschärfe generell, den Krueger als Zeichen für die Ganzheitlichkeit des Gefühlserlebens hervorhebt. Diese Eigenschaft lässt das Gefühl zu einem diffusen Erlebnis werden, welches mehr ist, als nur die Summe seiner verschiedenen Komplexqualitäten.
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Gefühlsschichten: Max Scheler und der Sinn des Leidens Mit dem Begriff der Gefühlstiefe hat Krueger ein Modell entwickelt, welches in der Folge wirkungsmächtig werden sollte. Es geht zurück auf die Frage, wie sich Affekte, sinnliche Gefühle, vitale Gefühle und geistige Gefühle zueinander verhalten. Auch Max Scheler spricht in diesem Zusammenhang wie Dilthey und Krueger von einer Schichtung bzw. von tieferen und weniger tiefen Schichten des emotionalen Lebens. Die Unterscheidung einer differenzierten Sprache, die etwa zwischen Seligkeit und Wohlgefühl unterscheidet, bezeichnet nach Scheler damit scharf umrissene Verschiedenheiten des Gefühls selbst. Auf die besondere Art der Verschiedenheit deutet nach Scheler die Tatsache hin, dass diese verschiedenen Gefühlsarten „in einem und demselben Bewusstseinsakt und -moment koexistieren können.“ (Scheler 1954, 343). So könne man beispielsweise als Märtyrer selig sein und gleichzeitig einen körperlichen Schmerz erleiden, aber auch umgekehrt mitten im größten Unglück im Sinne der serenitas animi heiter sein. Hierbei findet kein Wechsel der Gefühlszustände statt, denn sie sind alle gleichzeitig gegeben, und sie vermischen sich auch nicht zu einem Totalgefühlszustand. Es handelt sich also nicht um Gefühle verschiedener Qualität, sondern um solche unterschiedlicher Tiefe. Nach Scheler fließen nämlich nur Gefühle derselben Schicht zusammen, diejenigen unterschiedlicher Schichten hingegen führten zu den beschriebenen Empfindungen koexistenter Gefühlsschichten. In Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik nennt Scheler vier verschiedene Gefühlsschichten (Scheler 1954, 344):
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1. sinnliche Gefühle oder „Empfindungsgefühle“ (Carl Stumpf ), 2. Leibgefühle (als Zustände) und Lebensgefühle (als Funktionen), 3. rein seelische Gefühle (reine Ichgefühle), 4. geistige Gefühle (Persönlichkeitsgefühle). Dabei unterscheidet Scheler diese vier Schichten anhand der Tatsache, dass die Ichbezogenheit der Gefühle bei eben diesen vier Arten eine jeweils grundverschiedene ist. Das sinnliche Gefühl, welches etwa im Schmerz, in der Wollust, im Kitzel und in der Juck-Empfindungen vorliegt (Scheler 1963, 39), ist an bestimmten Stellen des Leibes als ausgedehnt und lokalisiert gegeben. Es ist von den zugehörigen Empfindungsinhalten nicht loszulösen, es ist nie objektlos, stets als Zustand gegeben, nie Funktion oder Akt, und ohne jede Intention. Zudem sind sinnliche Gefühle ohne jede Person-
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beziehung, also lediglich gegeben als Zustände eines Teils des Leibes. Das sinnliche Gefühl ist zudem ausschließlich aktueller Tatbestand, es kann nicht erinnert oder gefühlsmäßig vorgestellt werden, sondern allenfalls abgeschwächt als ähnlich wieder aufleben, dazu muss allerdings sein Reizgegenstand auch gegenwärtig sein. Es ist ohne Sinnkontinuität, d. h. es ist punktuell, undauerhaft, es „deutet“ weder vor noch zurück. Dagegen ist nun das Lebensgefühl, welches Scheler etwa durch Begriffe wie Mattigkeit, Frische, Ruhe, Gespanntheit, Angst oder Gesundheit umschrieb (Scheler 1954, 344), am „Gesamtausdehnungscharakter des Leibes“ beteiligt. Nicht „ich“ bin behaglich, wie ich traurig oder verzweifelt bin, ich kann „mich“ nur so fühlen. Dieses „mich“ stellt nach Scheler mein „Leibich“ dar. Als dritte Schicht nennt Scheler dann die rein seelischen Gefühle wie etwa Traurigkeit, Angst oder Ärger. Diese seien wiederum von sich aus „Ichqualitäten“, also nicht durch den Bezug zur Leibsphäre, wie bei den Vitalgefühlen. Zugleich sind sie „funktionell bezogen auf wahrgenommene, vorgestellte, phantasierte Gegenstände, Personen der Umwelt, Dinge der Außenwelt oder des eigenen, erst durch die Vorstellung vermittelten Selbst.“ (Scheler 1954, 344). Bei den „geistigen Gefühlen“ als der vierten Schicht ist dann schließlich die tiefste Dimension erreicht. Zu diesen zählen etwa Seligkeit, Verzweiflung, Seelenfrieden oder Heiterkeit, und in diesen ist alles „Ichzuständliche“ gelöscht. Es sind „absolute, nicht auf außerpersonale Wertverhalte und auf deren motivierende Kraft relative Gefühle“. Sie sind nicht intentional, man könne also nicht „im selben Sinne ‚über etwas‘ verzweifelt und ‚über etwas‘ selig sein wie über etwas froh und unfroh, glücklich und unglücklich usw.“ (Scheler 1954, 355). Charakteristisch ist für diese tiefsten aller möglichen Gefühle zudem, dass sie sich kausal nicht herleiten lassen (Scheler 1954, 355): Wo das Etwas noch gegeben und angebbar ist, ‚über das‘ wir selig und verzweifelt sind, da sind wir sicher noch nicht selig und verzweifelt. Sehr wohl mag eine Reihe anderer Erlebnisse in motivierter Sinnverkettung uns dieser Gefühle berauben oder sie am Ende der Erlebnisreihe auftauchen lassen: Sind sie dann aber einmal da, so lösen sie sich von dieser Motivenkette eigenartig los und erfüllen gleichsam vom Kern der Person her das Ganze Wesen unserer Existenz und unserer ‚Welt’. Wir können dann nur selig oder verzweifelt ‚sein‘, und nicht Seligkeit oder Verzweiflung – im strengen Sinne – ‚fühlen‘, geschweige ‚uns‘ so fühlen. Es gehört aber zum Wesen dieser Gefühle, dass sie entweder gar nicht erlebt weden, oder vom Ganzen unseres Seins Besitz ergreifen.
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Es gibt also insgesamt sieben Anhaltspunkte, anhand derer Scherer die Gefühlstiefenstufen unterscheidet: a) Die Art der Ichbezogenheit; b) die Extensität bzw. Nichtextensität im Sinne der Unterscheidung von Einheitlichkeit und Außereinander; c) die Unterscheidung von Punktualität vs. Dauerhaftigkeit; d) die Intentionalität, e) der Einfluss auf die Aufmerksamkeit; f ) die praktische Herstellbarkeit; und schließlich g) die Unterscheidung von Absolutheit und Relativität. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal stellen die Beziehungen der Gefühle zum Wollen dar. Kein Gefühl ist dem Wollen in der Weise direkt unterworfen, wie z.B. Handbewegungen direkt dem Wollen unterworfen sein können. Aber Gefühle lassen sich mit Hilfe der Relation, mehr oder weniger indirekt dem Wollen unterworfen zu sein, ordnen. Die sinnlichen Gefühle sind am leichtesten lenkbar, während die Heilsgefühle der Seligkeit und der Verzweiflung „jeglicher Willensherrschaft entzogen“ sind; die vitalen Gefühle sind schwieriger zu kontrollieren als die sinnlichen Gefühle, aber leichter zu lenken als seelische Gefühle (Scheler 1954, 348f ). Daneben betont Scheler den Wertbezug der Gefühle, d.h. emotionale Verhaltungsweisen sind Antwortreaktionen bzw. Antworten auf (vermeintlich) gefühlte Werte. Entsprechend kann man zwischen berechtigten und unberechtigten Gefühlen unterscheiden, denn „Wertqualitäten fordern von sich aus gewisse Qualitäten (..) emotionaler ‚Antwortreaktionen‘“ (Scheler 1954, 264). Es gibt z.B. berechtigten und unberechtigten Enthusiasmus, (un)berechtigte Entrüstung (Scheler 1954, 182), (un)berechtigte Ruhmliebe (Scheler 1954, 555). Das vielleicht bekannteste Beispiel dieses Bezuges von Gefühl und Wert ist Schelers Theorie vom Sinn des Leidens. Ausgehend von der Gefühlserfahrung des Schmerzes, entwickelt Scheler den Gedanken einer Rechtfertigung des Leidens unter dem Zeichen des christlichen Opfers. Scheler schlägt dabei eine Klassifikation von Leidformen aufgrund ihrer Zuordnung zu den schon in Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik bestimmten Gefühlsschichten vor. Der physische Schmerz stellt dabei die tiefste Integrationsebene dessen dar, was Scheler die Tiefenschichten der Gefühle nennt. Diese Schichten sind nach Scheler in aufsteigender Reihenfolge (Scheler 1963, 39): 1.
Gefühlsempfindungen:
2.
Vitalgefühle:
Schmerz, Wollust, Kitzel und Juck-Empfindungen Mattigkeit, Frische, Lebensgefühl, Ruhe und Gespanntheit, Angst, Gesundheit
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3.
seelische Gefühle (intentional):
4.
rein geistige metaphysisch-religiöse Gefühle:
wahrgenommene, vorgestellte, phantasierte Objekte des Bewusstseins Seligkeit, Verzweiflung, Geborgenheit, Gewissensqual, Frieden, Reue
Scheler geht davon aus, das in jeder dieser Schichten spezifische Leidensweisen auftreten, welche den Betroffenen anzeigen, welche Verhaltensweise jeweils (objektiv) die richtige ist. Die Sensibilität, die notwendig ist, um solche Hinweise interpretieren zu können, nennt Scheler das „Wertfühlen“. Während Gefühlsempfindungen dem Wohlergehen des Organismus dienen, ist die Bestimmung der seelischen und geistigen Gefühle, die geistig-seelische Person zu vervollkommnen. Wo immer nun gelitten wird, leidet ein Teil einer Struktur um des Ganzen willen. Der formale Oberbegriff für dieses Phänomen ist nach Scheler derjenige des Opfers: „Ein Niedrigeres wird hingegeben für ein Höheres. (…) Alles Leiden ist stellvertretend und zuvorkommend, damit das Ganze weniger leide.“ Im Opfer wird daher die tiefste Empfindung dessen möglich, was allererst Tiefenschichten des emotionalen Erlebens erkenne lässt: Die Ambivalenz (Scheler 1963, 46): Und noch eine zweite Einsicht ist mit dieser verknüpft. Das Opfer ist wie ein Janushaupt, dessen Gesichter zugleich lächeln und weinen! Es schaut zugleich in das Tal der Tränen und das Tal der Freuden. Das Opfer umfasst beides: die Freude der Liebe und den Schmerz der Abgabe von Leben für das, was man liebt. (…) Nur in den niedersten, periphersten Zuständen unseres sinnlichen Daseins gehen daher Schmerz und Lust weit auseinander. Je mehr wir in die Tiefe unseres Selbst hineingehen und uns zur Aktualität unserer Person sammeln, desto mehr durchdringen sie sich.
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Tiefe als Weite: Hermann Schmitz’ Begiff des ‚Gefühlsraums‘ Wir sahen bisher, dass die Dimension der Tiefe für eine Emotionstheorie vor allem deshalb herangezogen wurde, um das seit dem achtzehnten Jahrhundert von Autoren wie Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai intensiv diskutierte Phänomen der „vermischten Empfindungen“ theoretisch zu erfassen. Die Diskussion um die Gleichzeitigkeit einander entge-
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gengesetzter oder aber schlicht verschiedener Empfindungen stand in der Aufklärung im Kontext der Frage nach dem Vergnügen am ästhetisch Hässlichen. Krueger hingegen bediente sich dieser Tradition, um die Einteilung des emotionalen Erlebens in Valenz, Aktivität und Intensität, wie sie von Wilhelm Wundt entwickelt wurde, durch die Kategorie der Tiefe zu ergänzen. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie eng dieser Zusammenhang zwischen der Analyse „vermischter Empfindungen“ und deren Verortung im Bezugsfeld von Vordergrund, Hintergrund und Tiefe ist: Was geschieht, wenn man diese Dimension der Tiefe wieder ausschließt aus der Analytik des Emotionalen? Wenn die Phänomenologie vermischter Empfindungen den Bezug darstellt, innerhalb derer sich von Krueger über Lipps, Scheler und Lersch bis hin zu Klages und Wellek die Diskussion der Tiefe entfaltete, dann lässt sich vermuten, dass man nicht eine dieser beiden Bezugsgrößen ausklammern kann, ohne zugleich die andere aus dem Blick zu verlieren. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden eine Emotionstheorie skizzieren, die sich mit der zuvor skizzierten Diskussion von Krueger bis Lersch und Wellek auseinander setzt. Dies ist die Neue Phänomenologie Hermann Schmitz’. Dessen im dritten Band von System der Philosophie formulierte These, nach welcher Gefühle nicht private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären seien, richtet sich nämlich auch und vor allem gegen die skizzierte Theorie der Gefühlstiefe. Anders gesagt: Die „Neue Phänomenologie“ von Schmitz ist auch als Versuch zu verstehen, den Begriff der Tiefe als Relikt eines grundlegend falschen Gefühlsverständnisses zu verwerfen (Schmitz 1969). Grund dieser Verwerfung der Tiefedimension ist die damit verknüpfte Vorstellung eines „inneren“, also qua Introjektion erfassbaren Gefühlserlebens: Dagegen stellt Schmitz die Räumlichkeit bzw. Weite des Gefühls (Schmitz 1969, 264). Nur die dimensionale Vorstellung eines so genannten „Gefühlsraumes“ vermag nach Schmitz die eigentliche Phänomenologie des emotionalen Erlebens zu erklären. Schmitz belegt diese These durch eine sehr genaue Analyse der Verortung des die Emotion auslösenden Objektes bzw. Reizes. Demnach seien emotionale Tönungen des Erlebens generell als räumlich ausgedehnte Atmosphären im Sinne des Begriffes der Stimmung zu verstehen. Das emotionale Fühlen als affektives Betroffensein von Gefühlen besteht nach Schmitz also in dem leiblich spürbaren Hineingeraten in den Bann solcher Atmosphären (Schmitz, 1969, 185ff.). Diese Räumlichkeit der Gefühle zeigt sich nach Schmitz in „stationären Merkmalen als Weite, Tiefe, Erfülltheit, Ausdehnung“, aber auch in „Richtungstendenzen“ wie etwa der zentripetalen und der zentrifugalen Bewegung (Schmitz 1969,
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189). Hinsichtlich der „Weite des Gefühls“ unterscheidet Schmitz das „leere Gefühl“ wie etwa die Verzweiflung, und das „erfüllte Gefühl“ wie etwa die Zufriedenheit. Hinsichtlich der „Richtung der Gefühle“ unterscheidet Schmitz zentripetale Erregungen, die „von allen Seiten beunruhigend auf den Betroffenen eindringen“, und zentrifugale Erregungen, die „von ihm her in alle Richtungen ausströmen“ (Schmitz 1969, 278). Zu den ersteren zählen Formen der Angst, aber auch der Hass (Schmitz 1969, 189), zu den zweiteren zählen etwa die Euphorie oder die Sehnsucht, aber auch „Andacht und tiefe Freude“ (Schmitz 1969, 189). Nun hat diese inzwischen wohl bekannte Gefühlsraumtheorie eine lange Tradition: Das eigentümliche, dem Raum innewohnende Psychische nannte schon Theodor Lipps in seiner Ästhetik die „Raumseele“, welche in der spezifischen Stimmung des Raumes gegenwärtig sei. Sie hafte nicht an den einzelnen sichtbaren Formen, sondern würde durch das „unendlich vielgestaltige, unsagbare Hin- und Herweben der Kräfte durch den Raum“ hervorgerufen. „Die Stimmung, die im Raum lebt“, ist zwar durch die Gegenstände bestimmt, aber nicht durch ihre Formen, sondern „durch die Weite, wie die Gegenstände im Raum zusammen sind, und sozusagen innerlich Zwiesprache halten, Zwiesprache unter sich oder mit Luft und Licht, in jedem Falle im Raume oder durch ihn hindurch.“ (Lipps 1906, 188-190). Wichtig ist in diesen poetisch gefärbten, aber für die Aussagen über den gestimmten Raum charakteristischen Ausführungen von Lipps die klare Feststellung, dass die Stimmung des Raumes keine „subjektive Angelegenheit“ ist: sie hänge nicht von der inneren Stimmung des Individuums ab. Lipps Gedanken weiterführend kann man sogar sagen, dass unsere privaten Gestimmtheiten – falls sie der Stimmung des Raumes entgegengesetzt ist – gar hinderlich sind, um die „Raumstimmung“ zu empfinden. Man könnte die Theorie des Gefühlsraums sicherlich auch auf Heideggers Begriff der „Gestimmtheit“ beziehen (Heidegger 1929, 134), allerdings verkoppelte Heidegger den Begriff mit der Geworfenheit, der Furcht und der Angst, die freilich nur als Sonderfälle der Stimmung zu verstehen sind. Ludwig Binswanger hingegen setzte den „gestimmten Raum“ – dieser Begriff stammt von ihm – mit dem „gelebten Raum“ schlechthin gleich. Von beiden Phänomenen wird der „orientierte Raum“, der der eigentliche Raum der Anschauung ist, abgegrenzt. Binswanger betont die Einheit von Mensch und Raum, die auf der „Einheit von Ich und Welt“ gründet. Der gestimmte Raum ist ein Raum, wo es sich nicht mehr um praktische und logische Ziele und Zwecke handelt, sondern um ein, wie man sehr gut sagen kann,
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zweckloses, aber nichtdestoweniger reiches und tiefes Dasein, das den Menschen erst zum Menschen macht. (Binswanger 1955, 200)
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Auch für Binswanger ist der gestimmte vom orientierten nur methodisch abhebbar, denn auch dieser ist „gestimmt“: „in einer Stimmung des ruhigen intellektuellen Achtens auf den Raum oder des Messens und Schätzens von Raum“, es ist dies „die ‚kalte‘ Stimmung des Berechenbaren, Abstrakten, Zahlenmäßigen“ (Binswanger 1955, 204). Wir haben es also hinsichtlich der Theorie des Gefühlsraums mit einem schon vor Schmitz intensiv diskutierten Phänomen zu tun. Otto Friedrich Bollnow etwa betonte, dass der gestimmte Raum kein Raum neben anderen möglichen Räumen sei, sondern eher ein „ursprünglicher Raum“, in welchem psychische Momente mit der Wahrnehmungserfahrung verwoben seien. Bollnow sprach dabei allerdings wiederholt von der „Tiefe des Lebens“, der er folgende Deutung verleiht: „Mit „Lebenstiefe“ ist (...) eine metaphysische Erfahrung gemeint, in der wir uns mit einem umgreifenden Leben verbunden, ja in ihm verwurzelt fühlen.“ (Bollnow 1989, 72). Anders als Schmitz assoziiert Bollnow mit dem Begriff der „Lebenstiefe“ jedoch eine „metaphysische Erfahrung“ im lebensphilosophischen Sinne. Zudem etabliert Bollnow ein ontologisches Verständnis von Tiefe, welches er an der Dichtung des Novalis orientiert. Mit Novalis unterscheidet Bollnow drei Wege in die Tiefe: erstens den Weg in das „Innere der Natur“, zweitens den Weg zu dem, für Bollnow nicht vorhandenen, Anfang der Geschichte und drittens den Weg in das Innere der menschlichen Seele, den Weg der Tiefenpsychologie. „Tiefe“ fungiert bei Bollnow daher als eine Art philosophischer „Grenzbegriff “ (Bollnow 1975, 164). Wenn Schmitz den dimensionalen Raum von einem Gefühlsraum unterscheidet, dann ist auch bei ihm dieser Begriff mit dem der Stimmung verbunden. Allerdings wendet sich Schmitz gegen die Subjektivitätstheorien der genannten Autoren: Gefühlsintensitäten richten sich nicht nach der Tiefe einer Person, sondern nach der „Eigenart“ bestimmter Emotionen, d.h. nach deren Erscheinungsform. Emotionen als „räumlich ergossene Atmosphären“ haben also in der Schmitzschen Gefühlstheorie eine relative ontologische Eigenständigkeit. Es gibt demnach in der Schmitzschen Phänomenologie Gefühle, die sich phänomenologisch durch eine Bewegung der Engung, und andere, die sich durch eine Bewegung der Weitung auszeichnen: Zwischen artverschiedenen Gefühlen bestehen also Unterschiede hinsichtlich der Dynamik von Engung und Weitung (Schmitz 1969, 335). Schmitz nennt diesbezüglich als Beispiele
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den Ärger, den Neid und die Bewunderung, denen eine bestimmte Form der Weitung fehlt. Ein gegenteiliges Beispiel ist die Ehrfurcht, die den von ihr ergriffenen dazu „treibe“, „eine freie Weite einzuräumen, worin sich dieser Gegenstand entfalten kann.“ (Schmitz 1969, 336). Daneben werden als weitere Beispiele die Trauer, das Glück, die Zufriedenheit und die Verzweiflung genannt, die gleichfalls durch eine Bewegung der Weitung begriffen werden. All diese Gefühle sind in der Logik Schmitz’ Stimmungen, präsentieren also Weite, wobei nach Schmitz die „Tiefe der Gefühle in ihrer Weite zu suchen ist.“ (Schmitz 1969, 337). „Die Beziehung des tiefen Gefühls zur Weite“ (Schmitz 1969, 337) macht Schmitz anhand einer Gegenüberstellung verschiedener emotionaler Tönungen deutlich, von denen manche sich stärker, manche weniger stark als „tief “ beschreiben lassen. Tiefe Gefühle sind also nicht innerhalb des Subjekts zu verorten, sondern als Erfahrungen einer leiblichen Weitung zu verstehen, was Schmitz anhand eines sehr schönen Vergleichs mit Blick auf den Gebrauch von Raumfarben verdeutlicht: Je weiter der Raum, desto tiefer die Raumfarbe. Entscheidend ist, dass Schmitz mit dem Begriff der Tiefe eine Weite assoziiert, und zwar verstanden „als das Wohin des Ausströmens und Versinkens, also als das, wohin das Gefälle der leiblichen Richtung tendiert.“ (Schmitz 1969, 339). Schmitz ersetzt also mit gewissem Recht die Idee der Gefühlstiefe durch eine Phänomenologie des Emotionalen als Atmosphäre, um so auch die sicherlich fragwürdigen Persönlichkeitsmodelle der zuvor genannten Schichtentheoretiker zu vermeiden. Stattdessen verankert Schmitz seine Gefühlstheorie in der Sphäre des Leiblichen, denn mit dem Begriff des Leibes betont er eben diese – vom Körper zu unterscheidende – räumliche Dynamik der Engung und Weitung. Der Begriff des Leibes wird von Schmitz also in entschiedenster Gegenstellung zu dem des Körpers verstanden: Untersteht letzterer dem Vorrang des Perzeptiven und der geometrischen Konstruktion und Projektion, so ist der Leib das, was sich unmittelbar zu spüren gibt – wenn man auf das Zeugnis der fünf Sinne als Maßgabe verzichtet. Der „spürbare Leib“ ist ein „Gewoge von Lebensinseln“, von spontanen Regungen und Erregungen mit wechselnden Herden, „vitaler Antrieb“ in einer zwischen einem „Engepol“ und einem „Weitepol“ sich vollziehenden „leiblichen Dynamik“ von Spannung und Schwellung. Von diesem Leib her werden je eine Theorie der Räumlichkeit, der Zeitlichkeit und der Identität als Weitungen einer ursprünglichen „Enge“ des Daseins, einer „primitiven Gegenwart“, entwickelt. Unklar bleibt an diesem Modell jedoch, wie sich vor dem Hintergrund dieser Deutung von Gefühlen als Atmosphären eben jene seit dem achtzehnten Jahrhundert bekannten emotionalen Phänomene
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beschreiben lassen, die wir als „vermischte Empfindungen“ kennen. Angesichts der von Schmitz betonten relativen ontologischen Eigenständigkeit der Gefühle als Atmosphären müssten sich dann Phänomene des ambivalenten Gestimmtseins durch eine Überlagerung vermischter Atmosphären selbst erklären. Eine alternative Deutung liefert in eben diesem Zusammenhang Gernot Böhme, der im Anschluss an Schmitz Kategorie der „Ingression“ als „Hineingeraten“ in atmosphärische Stimmungen entwickelte, die stets von einer Erfahrung der „Diskrepanz“ als Abweichung vom je eigenen Gestimmtsein begleitet sei. (Böhme 2001). In der Abfolge von Diskrepanz und Ingression sieht Böhme die Hauptkomponente „eigenleiblichen Spürens“. Dennoch aber ist auch diese Kategorie der Diskrepanz stets bezogen auf das Erleben fremder Atmosphären, also etwa das Eintreten des Schlechtgelaunten in einen Raum voll fröhlicher Atmosphäre. Die von Krueger wie Scheler beschriebenen Empfindungen koexistenter Gefühlsschichten beleuchten dagegen jedoch ein komplexes emotionales Empfinden, das schon das achtzehnte Jahrhundert im Gefühl des Erhabenen, in der kathartischen Lust am Leiden und Mitleiden, oder aber in der elegischen Melancholie kannte. Und diese vermischten Empfindungen scheinen in der Tat ohne die Tiefedimension nicht beschreibbar, denn angesichts ihrer gilt nach wie vor die eingangs zitierte These Moses Mendelssohns: Vermischte Empfindungen „dringen (...) tiefer in das Gemüt ein, und scheinen sich auch länger darin zu erhalten.“
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Kommen wir zum Ende. Tiefe ist eine vergessene und doch nach wie vor implizit anwesende Kategorie der Emotionsforschung. Sie zu aktualisieren hieße, gestaltpsychologische wie phänomenologische Gefühlstheorien der klassischen Moderne im aktuellen „emotional turn“ weit stärker zu berücksichtigen, als dies häufig geschieht. Aus mehreren Gründen scheint dies notwendig: Zum einen, um so die wichtige Frage nach der Werthaltigkeit von Emotionen in den Blick zu nehmen. Diese Frage beantworteten Felix Krueger und später Max Scheler unter Bezugnahme auf die hier skizzierte Dimension der Tiefe. Zum anderen, weil auch aktuelle Theoretiker der Emotionspsychologie hinsichtlich der von Antonio Damasio sogenannten background emotions eine Tiefendimension der Gefühle suggerieren. Und zum dritten, weil sich mit dem Begriff der Tiefe überaus hintergründige Reflexionen zur Phänomenologie ambivalenter Gefühlszustände verbinden, die auch aus der Perspektive der aktu-
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ellen Emotionsforschung von Wichtigkeit sind. Das Gefühl des Erhabenen, das Vergnügen an tragischen Gegenständen oder der süßliche Schmerz der Melancholie sind in den hier skizzierten Diskussionen immer auch als Beispiele für die These einer Tiefenhaftigkeit des Emotionalen diskutiert worden. Freilich macht eine Aktualisierung dieser Dimension nur dann Sinn, wenn man den Begriff der Gefühlstiefe scharf trennt von den erläuterten Anfängen in der „Schichtentheorie“ der Charakterkunde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Anders gesagt: Von Vordergrund, Hintergrund und Tiefe lässt sich mit Blick auf eine Phänomenologie des Emotionalen dann sprechen, wenn man damit nicht Persönlichkeitsschichten bezeichnet, sondern etwa zwischen gerichteten Gefühlen und nicht-proportionalen Stimmungen unterscheidet. Dabei scheint es ratsam, die Kategorie der Tiefe von ihrer neuphänomenologischen Kritik freizusprechen: „tief “ gehende Gefühle lassen sich nicht wirklich als Erfahrungen der Engung bzw. Weitung im Sinne Hermann Schmitz erklären. Denn offenkundig ist die Erfahrung der „tiefenhaften Empfindungen“ an einem inneren „Erlebnisfeldes“ orientiert, das sich in der lebensweltlichen bzw. atmosphärischen Umwelt nur schwer lokalisieren lässt. Tiefe ist wie die Stimmung gegenstandslos in jenem von Heidegger und Bollnow betonten Sinne: Das gestimmte Subjekt ist in seinem gefühlsmäßigen Erleben nicht in der Lage zu entscheiden, was dieses gerade umtreibt, d.h. wovor, worüber, worauf, wovon, wodurch es eigentlich emotional affiziert ist. Wie nah dieser Bezug zwischen Tiefe und Stimmung ist, betonte schon Albert Wellek, der im Sinne seiner bereits dargelegten Unterscheidung zwischen Gefühlsintensität und Gefühlstiefe die Stimmungen der zweiteren Dimension zuordnete. Ob dies Sinn macht, sei dem Leser überlassen. Zitiert sei es dennoch, als eine Art Schlusswort (Wellek 1966, 135): Auf unsere Gegenüberstellung bezogen, erscheint Angst im Sinne Kierkegaards tief, Furcht intensiv, affektiv im engeren Sinne. Und selbst die Wut erscheint vergleichsweise „tief “, wenn auch zugleich höchst intensiv, im Gegensatz zu dem bloß intensiven Zorn, wofern gilt, dass die Wut gleichsam den ganzen Menschen gegenüber der Welt ergreift. Dagegen Ängstlichkeit und Furchtsamkeit – welche beide mit der existentiellen Angst nicht verwechselt werden dürfen – sind bloß intensiv: teils affektiv, teils sogar sentimental; wie ja z.B. auch die Hypochondrie eine nächste Nachbarin der Sentimentalität ist: der Sentimentalität mit sich selber. Im selben Sinne ist Verzweiflung tief, Selbsthass als gerichteter Zerstörungswille intensiv. Schwermut als ungerichtete „Stimmung“ ist tief (im Volks-
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munde heißt es vielfach „Tiefsinn“ statt Trübsinn); Traurigkeit (über etwas) hingegen ist intensiv – so sehr die Gefühle tief liegen mögen.
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Fraktale Räume und multiple Aktionen. Überlegungen zur Orientierung in komplexen medialen Umgebungen Konvergente Technologien als mediale Environments Wer von neuen Technologien im Kontext des 21. Jahrhunderts spricht, bewegt sich auf dem unsicheren Terrain der Prognose. Gleichwohl erscheint in Bezug auf die Entwicklung von Technologiefeldern und der technischen Kommunikation eines unstrittig: ihre wachsende Konvergenz. Dies gilt schon für das Format des Digitalen, das erlaubt, unterschiedliche Formate wie Bild, Text und Ton, aber auch verschiedene Akteure und virtuelle Räume algorithmisch zu vereinheitlichen und ineinander zu verrechnen.1 Unter dem Stichwort „Converging Technologies“ wird darüber hinaus die Verschmelzung von Nano, Bio, Info und Cogno (NBIC) verstanden.2 Verbunden ist im ersten Fall die Optimierung von Darstellungsformen und deren Übertritte ins Spektakuläre – ablesbar besonders am jüngsten Hollywood-Film –, im zweiten Fall die Vision eines 1
So vermag der Computer als Universale Diskrete Maschine nach Friedrich Kittler sämtliche klassischen Medien in sich zu „verrechnen“ und sie damit zugleich einem einheitlichen digitalen Schema zu unterwerfen. Der Begriff zeigt an, dass die klassischen technischen Speichermedien wie Film oder Grammophon wie auch die Übertragungsmedien wie Fernsehen oder Rundfunk „zu Untermengen des Computers (...) geworden sind“. (Kittler 1998, 196-213, hier: 204); auch Tholen 1994, 124.
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Vgl. etwa Banse / Hronsky / Nelson 2006.
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durchgängig technologischen Zuschnitts gesellschaftlicher Lebensbedingungen im Zeichen neuer Wissenspraktiken. Das gilt auch für Kommunikationstechnologien als einem besonderen Zweig dieser Konvergenzen. Sie suchen vor allem Zeit-, Raum- und Interaktionsbarrieren zu überwinden, d.h. Kommunikation als einen ebenso ubiquitären wie instantanen Prozess zu realisieren, wobei sämtliche technologischen Innovationen der letzten Jahrzehnte auf dem „Regime“ des Digitalen als universalem „konvergierendem Prinzip“ und dem damit korrespondierenden Dispositiv der Computerisierung basieren – Friedrich Kittler hat darauf mit der Formel des UDM, des Computers als einer „universellen diskreten Maschine“ bereits in den 1980er Jahren reagiert. Über die Vereinigung aller klassischen Medien unter das digitale Schema hinaus sind gleichermaßen Bio- und Nanotechnologie ohne Digitalisierung und Computerisierung undenkbar, wie ebenfalls die Verbindung von Kognitionswissenschaft und Informationswissenschaft unter der mächtigen Metapher des Denkens als Rechnen steht, die Martin Heidegger bereits in den 1950er Jahren und, daran anschließend, ebenfalls Josef Weizenbau und Hubert Dreyfus in den 1980er Jahren kritisierten.3 Konvergenz gibt es demnach nur im Rahmen digitaler Codes; sie bilden sowohl den Motor als auch die Grenzen technologischer Angleichung, jene durchgängige „Be-Dingung“, die sie ebenso ermöglicht wie einschränkt. Bezogen auf die Kommunikationstechnologien bedeutet jedoch Digitalisierung nicht nur die Fusion von Text-, Bildmedien und Sound, sondern gleichermaßen auch der Übertragungswege und ihrer Vernetzung im globalen Maßstab. Netzwerke basieren zwar auf endlichen Verknüpfungen, doch haben sie eine derart unüberschaubare Ausbreitung gefunden, das für sie schlechterdings kein Bild, keine Figur oder Beschreibung taugt – allenfalls die Unbestimmtheit eines „Rhizoms“ oder „fraktaler Mannigfaltigkeiten“, die die Eigenart besitzen, ein Drittes zwischen Ordnung und Chaos zu markieren, das sich einfacher Theoretisierung widersetzt. Weil es sich zudem überall – im Prinzip – um das gleiche Format digitaler Computation handelt, lassen sich – das war der eigentliche Gedanke Friedrich Kittlers – bereits auf der untersten Ebene alle Formate miteinander verschalten und ineinander überführen oder konvertieren, sodass sie eine Integration der traditionell getrennten Informationssysteme von der Telefonie über Rundfunk und Fernsehen bis zum Internet gewährleisten. Tatsächlich haben wir es also mit einem Metasystem zu tun, das alle anderen Systeme 3
Heidegger 1954, 41ff. sowie Heidegger 1959, 12f. Vgl. auch Dreyfus 1989; Weizenbaum 1977.
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in sich schließt und dessen Grundlage die Installation intelligenter Software-Umgebungen und globaler Datennetze bildet, die die vorhandenen Technologien zu einer multiversalen Interaktivität zusammenschließen – wobei den drahtlosen Netzen wie UMTS und anderen immer mehr Bedeutung zufällt.4 Voraussetzung ist allerdings zum einen die Vereinheitlichung von Standards, Geräten und Interfaces, zum anderen ihre Multifunktionalität, sodass aus Mobiles, Fernsehern, Konsolen oder Playern Minicomputer werden, die gleichzeitig Bild, Text und Ton verarbeiten sowie Netzwerk- und Speicheraufgaben übernehmen können. Wir sind dann nicht nur mit einzelnen technologischen Objekten konfrontiert, die Interaktionen unterstützen, sondern mit ganzen Environments, die den Alltag ebenso steuern und kontrollieren, wie die Akteure sie für ihre eigene Zwecke zu nutzen und umzuprogrammieren vermögen. Ihre Umgebungen bilden folglich Räume neuer Qualität. Sie konfigurieren Lebensformen, die durch ihre Nutzer beständig „transskribiert“ und anderen Zwecken zugeführt werden. Anders ausgedrückt: Konvergente Technologien tendieren, gerade weil sie die Form komplexer Environments annehmen, zur Extension: Sie bilden Oberflächen, die bewohnt und befahren und deren Meridiane sich angeeignet werden müssen, um sich auf ihnen orientieren und sie erforschen zu können.
Gewinne und Verluste Auf kultureller Ebene zeitigt diese Entwicklung eine Reihe von Konsequenzen, die entsprechend nach Gewinn und Verlust umzurechnen wären. Kein sogenannter technischer „Fortschritt“ bietet allein Vorteile; vielmehr bleibt ihm sein eigener Widerspruch, seine Negativität immanent. So ist klar, dass Konvergenz eine Umstellung sämtlicher technischer Systeme und Lebensformen erforderlich macht und damit neue soziale Distinktionen und Verwerfungen erzeugt, insbesondere durch die Frage, wer partizipiert und wer ausgeschlossen bleibt. Ökonomisch bedingt Vereinheitlichung zudem eine Angleichung der Produkte in ihrer Tiefenstruktur, der auf der Oberflächenebene, der Ebene der Wahrnehmung und des Gebrauchs, die Diversifizierung ihres Designs gegenübersteht. Mit der wachsenden Vernetzung der Geräte und ihrer sich ausweitenden Vernetzungsmöglichkeit entstehen zugleich gegenfinale Effekte wie eine nicht mehr zu bewältigende Informationsmenge, ihre Unspezifik und Unüberschaubarkeit sowie die Implosion von Kommunika4
Vgl. Golding 2006.
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tion durch Spam, Viren, Trojaner und Ähnlichem, die auf sämtliche Systeme übergreifen und darin mutieren. Auf der Ebene der Inhalte bekommen wir es überdies mit umfangreichen Remediationsprozessen zu tun, die ein sich beschleunigendes Recycling von Formaten, Genres und Produkten besorgen und ihre Abnutzung forcieren. Sie implizieren Hybridbildungen sowie eine Migration von Ästhetiken, wie sie die Kunsttheorie und die cultural studies als „Kreolisierung“ diskutiert hat,5 deren vermeintliche Pluralität, besonders auf dem Gebiet der Popularkulte, auf eine umgekehrte Stereotypisierung zuläuft. Vermischung, ebenso die instantane Verfügbarkeit von Informationen an jedem Ort und zu jeder Zeit, provoziert überdies einen Konstruktivismus, in dessen Rücken sich der Schatten einer Prädominanz des Digitalen abzeichnet, die längst begonnen hat, auf Erfahrung und Denkschemata zurückzuschlagen. Wir verwenden nicht nur digitale Medien und bedienen uns ihrer mannigfachen Interaktionsmöglichkeiten, sondern wir folgen auch bereitwillig ihren Programmschemata, denken digital, leben in ihren Formationen, d.h. in diskreten Schritten und ihrer operativen Vernetzung, in Vorgängen freier Manipulation, des Löschens und Speicherns und vieles mehr. Von der Unterwerfung des Menschen an die Erfordernisse der Apparatur ist schon in den 1960er Jahren gesprochen worden – heute erleben wir eine flächendeckende Dispersion des Digitalen, die die Lösung nahezu sämtlicher Probleme durch die passende Implementierung eines Algorithmus verspricht, deren Nutzen nicht nur fraglich erscheint, sondern vielmehr Folgeanpassungen erfordert, die Alternativen unwahrscheinlich oder undenkbar erscheinen lassen. Ein Effekt dieser Entwicklung ist insbesondere die Verdrängung des Analogen, d.h. auch der Relevanz dessen, was Nelson Goodman mit Metaphern wie „Fülle“ und „Dichte“ fasste (Goodman 1996, 212ff.), die in erster Linie Raumvorstellungen entspringen und den Körper bzw. die Materialität von Dingen und Zeichen einschließen, ein weiterer das Anwachsen der Ideologien der Verfügbarkeit und Machbarkeit, die dazu tendieren, immaterielle Arrangements gegenüber materiellen zu privilegieren. Die Depravation des Analogen, welches eine Grenze zum Digitalen einschließt, impliziert im Besonderen die Verflachung von Übersetzbarkeiten, die stets am Problem des Unübersetzbaren partizipieren, welches im Register des Digitalen als einfaches Konvertierungsproblem auftaucht, das sich seinerseits auf algorithmische Lösungen reduziert. Wir bekommen es folglich mit einer Zirkularität zu tun, deren geschlossener Kreis Ausschließungsfunktionen ausübt. Dem Zirkel 5
Vgl. Documenta 2002.
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korrespondiert wiederum das, was Heidegger die „Machenschaften der Technik“ nannte 6, denen das Phantasma einer Aneignung und Verfügungsgewalt inhärent ist, die tatsächlich den Glauben nähren, Raum, Zeit, Dinglichkeit, aber auch Vernutzung, Entropie und Tod durch Simulationen überspringen zu können. Ubiquität ohne Raum- und Zeiteinschränkung sind zudem verbreitete Illusionen gerade mobiler Kommunikations- und Lebensformen, wie sich vor allem anhand der Handy-Kultur, die neben dem Internet einen Großteil der globalen Kommunikation ausmacht, ablesen lässt – die scheinbare Nähe und Bezogenheit bei – im Wortsinne – gleichzeitiger „Aus-Räumung“ und „Ent-Fernung“ des Anderen. Das Begehren nach universeller Erreichbarkeit und die Überbrückung von Distanzen einerseits sowie der Ausschluss von Gegenwart und die Ortlosigkeit andererseits bedingen sich gegenseitig. Der „postmoderne“ Fetischismus des Kommunikativen „um jeden Preis“ leidet an dieser Ambivalenz, der sie durch Forcierung der Konnexionalität beizukommen sucht, um deren zwiespältige Wirkung gleichsam durchs Surrogat sukzessive zu vergrößern. Allen technischen Innovationen wohnt diese Kurzsichtigkeit für Folgen sowie die Blindheit für ihre Ambiguität inne, ja das Technische selbst erweist sich in die ununterbrochene Produktion von Gegenfinalitäten und Paradoxien verstrickt. Unter den Formen technischer Kommunikation fällt dabei dem sich zunehmend mobilisierenden Internet insofern eine Sonderrolle zu, als sein Gebrauch auf alle Bereiche des Lebens übergreift. Einst gehörte es einer Wissenskultur an, die dem Austausch und der Vernetzung interdisziplinärer Diskurse diente, um dann nach einer Phase restloser Kommerzialisierung im privaten Raum angekommen zu sein. Es ist nicht die Wucherung des Netzes, die Belanglosigkeit seines „Lebens“, die Entkontrollierung des Surfers, der in seine Labyrinthe eintaucht, um sich endgültig in ihnen zu verlieren, welche schreckt, sondern umgekehrt die Regelung und Kontrolle jener Ordnungen von Intimität, die man polemisch das „Öffentlich-Private“ nennen könnte, die unsere Aufmerksamkeit 24 Stunden am Tag auf sich zieht. Mit Kontrolle sind weniger die automatischen Überwachungen der Datenströme, die von ihnen abgeleiteten Benutzerprofile, die Ausspionierung persönlicher Obsessivitäten und ähnliches gemeint, sondern weit mehr die verborgene Tatsache, dass wir durch das Netz „abgerichtet“ werden, dass es uns „besetzt“ und wir uns seinen Direktiven fügen, ohne uns dazu entschlossen zu haben, weil es begonnen hat, Teil unserer selbstverständlichen Lebensformen und Gewohnheiten zu werden, die wir sowenig able6
Vgl. wesentlich Heidegger 1962, S. 19ff.; Heidegger 1978, S. 22f.
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gen können wie unsere Umgangsformen oder die Zeitrhythmen des Alltags. Anders ausgedrückt: Wir sind es; es ist die Form unserer Sozialität, unseres Ausdrucks, unseres fein gesponnenen Gewebes gesellschaftlicher Beziehungen und Identitäten, deren plakative Vorderseite – ihr korrelatives Tool – das ist, was den bezeichnenden Namen Web 2.0 erhalten hat: Nicht nur im Sinne von „Web version two“, sondern vor allem in der Bedeutung eines Netzes zweiter Ordnung, einer Vernetzung von Vernetzungen, die ebenso sehr die Vernetzungen beobachten wie die Vernetzungen ihrer Beobachter prägen. Tatsächlich beherrscht die digitale Kommunikation mit SMS oder MMS, Blogs und Twitter oder der Verbreitung von Sounds, Videos oder Schnappschüssen aller Art über Portale wie Facebook, Youtube und Flicker nahezu den gesamten Raum des sozialen Austauschs, wobei nicht vergessen werden darf, dass es, im Maße wie es die direkte Kommunikation beschleunigt, auch den Kommunikationsdruck erhöht, sodass der Verlässlichkeit, etwa über Wireless- und Handy-Internet, überall angeschlossen und erreichbar zu sein, der Zwang entspricht, auch erreichbar sein zu müssen. In empirischen Sozialstudien gaben denn auch die meisten Befragten als Motiv für ihren Handykauf das dadurch vermittelte Gefühl der Sicherheit an, mit Anderen in Kontakt sein zu können, dem auf der anderen Seite jedoch auch eine Intensivierung von Überwachung korrespondiert, die da repressiv wird, wo z.B. mittels GPS, eine jederzeit technisch mögliche Verfolgung ausgeübt wird. 7 Es erscheint darum als kein Zufall, dass die äußere Gestalt von Handys der Fernbedienung ähnelt (Fortunati 2006, S. 172): Beide, Sicherheit und Kontrolle wie andererseits Narzissmus und Symbiose, bilden Korrelate. Nicht eigentlich Kommunikation, sondern die Möglichkeit des Kontaktes bezeichnet ihr Telos. Sie ist offenbar dabei, nicht nur die Strukturen des Sozialen, sondern vor allem den Aufenthalt an Orten, die Beziehung zu Raum und Zeit vollkommen auf den Kopf zu stellen.
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Fraktalisierung von Räumen, Zeiten und Handlungen Diese Neukonfiguration soll im folgenden paradigmatisch anhand des Zusammenhangs von Zeit-, Raum- und Handlungserfahrung unter den Bedingungen konvergierender Medien näher beleuchtet werden. Man hat Mobilität und Mobiles, die nicht nur vom Wort7
Ling: The Mobile Connection, a.a.O., p. 35ff; zur Kontrolle vgl. Katz 1999, 17.
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stamm her zusammengehören, für die Auflösung der traditionellen Raum- und Zeitvorstellungen verantwortlich gemacht. Dasselbe gilt für das Internet8, wie es zuvor schon vom Fernsehen behauptet wurde.9 Gewiss ist die Auflösung räumlicher und zeitlicher Schranken wie ebenfalls die damit einhergehende jederzeitige Konnexionalität eines der hervorstechendsten Merkmale der gegenwärtigen Kultur, wie ihr umgekehrt jenes Bedürfnis korrespondiert, den eigenen Ort in Gestalt eines elektronischen Mappings als Lokalisierung einer exakt bestimmbaren Raum-Zeit-Stelle innerhalb eines virtuellen Koordinatensystems – oder eines „Fadenkreuzes“ virtueller Fahndung – jederzeit und überall verfügbar zu machen. Das technische Werkzeug dazu gleicht einer imaginären Karte, die deutlich macht, wie tief Internet und mobile Kommunikation inzwischen in den geographischen Raum und seine Beherrschung eingedrungen sind. Ihren Spiegel finden sie in der Wegelogik der Computerspiele und jenen eingeblendeten Miniaturkarten, die das stets endliche Spielfeld eins-zu-eins wiedergeben und eine Synopsis erlauben. GPSMappings gleichen ihnen: Karten sind Herrschaftsinstrumente; sie repräsentieren nicht, sondern konstruierenden den Raum, in dem wir uns befinden, und verwandeln ihn in ein verfügbares, mathematisiertes Territorium, worin wir als „virtuelle Punkte“, als Spielfiguren oder Avatare zu sehen sind, an denen allein ihre Bewegung interessiert. Es scheint darum, dass wir reine Topologien mit simultaner Gegenwärtigkeit bewohnen, indem wir gleichzeitig in unterschiedlichen Situationen agieren, die erfordern, ihre jeweiligen Orte und Zeiten wie ihre disparaten Realitäten auf einmal zu vergegenwärtigen.10 Ja, man kann sogar sagen, dass jedes neue technische Medium, das die Wahrnehmung und damit auch die elementare Erfahrbarkeit der Welt bearbeitet, auch das Verhältnis zum Raum destabilisiert und andere, unklare Tiefendimensionen schafft. Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist (...) eine Sprache: Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen. (...) Die Stadt ist eine Schrift; jemand, der sich in der Stadt bewegt, das heißt der Benutzer der Stadt (was wir alle sind) ist eine Art Leser, der je nach seinen Verpflichtungen und seinen Fortbewegungen
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Vgl. Iglhaut / Medosch / Rötzer 1997.
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Daher stammt McLuhans Ausdruck vom „global village“: Bes. McLuhan / Fiore 1969, S. 125ff.
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Siehe dazu die Untersuchungen von Townsend 2000.
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Fragmente der Äußerung entnimmt und sie insgeheim aktualisiert (Barthes 1988, 202 und 206),
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hatte noch Roland Barthes in seinem Vortrag über Semiologie und Stadtplanung von 1967 schreiben können – heute haben sich die Lektüren um eine Vielzahl weiterer Dimensionen verdichtet, deren Vervielfältigung ihrer medialen Bearbeitung und Verdopplung durch die Systeme der Sichtbarmachung entspringen. In der Tat bieten die Städte keine einheitlichen oder homogenen Gefüge mehr, vielmehr überschneiden sich in ihnen die unterschiedlichsten Räume, jeder ausgestattet mit seiner eigenen Physiognomie und besonderen Brechung, worin zu sein bedeutet, zu navigieren und von Level zu Level zu springen. Es reicht darum nicht mehr, die Stadt als Textur, als „okkulte Ordnung“ (Lefebvre) zu beschreiben, auch deshalb nicht, weil es keine Grenze, keine entzifferbare Grammatik gibt, es sei denn man spricht von multiplen Schichten oder unendlichen Palimpsesten, die nicht nur aus Häusern, Stockwerken, Straßen und Plätzen, sondern auch aus unzähligen Bildschirmen, Mobiles, Smartphones und Navis bestehen, die unsere Aufmerksamkeit für Momente okkupieren, um sich im nächsten Moment in die unerforschliche Tiefe eines unauslotbaren rhizomatischen Abgrundes zu verlieren. Schon wenn ich telefoniere, bin ich gleichzeitig hier wie dort; mein Körper signalisiert eine Anwesenheit, die mein Ohr dementiert. Inmitten vertrauter Orte offnen sich so andere, flüchtige, vor allem aber flächige Räume oder Höhlungen ohne Oberflächen, die sich in immer neuen Faltungen weiter fortpflanzen zu scheinen. Das wird durch die Mobiltelefonie und die mobilen Netze wie die ubiquitäre Zugänglichkeit des Internets noch verschärft, weil zusätzlich Sound, Bilder oder Filme hinzukommen und die Wahrnehmung streuen. Der Raum ist disseminativ geworden; er erscheint flexibel und anfällig für Umschreibungen oder Transformationen aller Art, zwar bespielbar durch die Spontaneität der Akteure, die jedoch lediglich Fragmente oder Ausschnitte gewahren, auf die sie reagieren. Buchstäblich lassen sie den Raum dynamisch werden, sodass sich an den Schnittstellen urbaner Strukturen Inversionen ereignen: Nicht nur verwischen sie die Demarkationslinien zwischen privat und öffentlich, sondern vor allem die Differenz zwischen erlebtem Anschauungsraum und virtuellem und kommunikativem Geschehen. Es ist die nicht totalisierbare Gleichzeitigkeit von Abläufen hier wie dort und an unterschiedlichen Orten und Momenten, die den Raum und seine Bestimmung in eine Serie von disparaten Feldern zersplittert, welche sich ebenso dem klassischen Sichtbarkeitspostulat verweigern wie ihre Synthese zu einem einheitlichen und widerspruchsfreien Kontinuum miss-
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lingt. Der Ausdruck „Raum“ gleicht einer Variable, einer veränderlichen Multiplizität oder losen Reihung von Gebieten mit porösen Rändern, Verwerfungen und instabilen Zonen, deren Ebenen sich inkohärent zueinander verhalten und von unklarer Dimension, Dichte und Ausbreitung erscheinen. Wiewohl Folge jeder medialen Durchdringung von Erfahrung schlägt der Effekt erst mit der medialen Konvergenz und dem gleichzeitigen Aufenthalt in Filmen, Videos, Musiken, Kommunikationen, Schriften und Icons durch. Nicht ihre Wirkung oder Entzifferung zählt, sondern ihr Klima, ihr rascher Wechsel, ihre Geschwindigkeit. Mediatisierte Welten gleichen einem beständigen Einschlag von Blitzen, die in jedem Augenblick unsere – buchstäbliche – Befindlichkeit erschüttern. Entsprechend hat Mark Poster darauf hingewiesen, dass nunmehr nicht nur Informationen, sondern auch Personen und Verhaltenweisen auf unterschiedliche Weise durch Räume reisen und Orte beleben, die diffus bleiben und sich in Form einer „multiplicity and disperson of mediatized and non-mediatized spaces“ überlagern (Poster 2005, 34). Raum ist fortan, sowenig wie Zeit, nicht mehr etwas Einheitliches oder Verlässliches und Stabiles, sondern eine „Mannigfaltigkeit“ im Sinne Bernhard Riemanns, worin der Einzelne sich in jedem Moment neu definieren muss. As we shift scenes to the late twentieth and early twenty-first centuries, our urbanite is laden with the gear of information machinery: a beeper, a mobile phone, a personal digital assistant, an MP3-Player or walkman, a palmtop computer. In these postmodern geographies (…) one is simultaneously in several places, with perhaps an different identity in each location, seeing what appears before one in the street, but listening to a distant, telephonic voice or engaged in online gaming with participants from all over the globale. Space is now at once nearby and distant, local and global, but also multiple and fragmented, morphing the urban body not only into diverse shapes but also into several incarnations (…). (Poster 2005, 38 und 40)
Atopien versus Heterotopien: Die Notwendigkeit des Multitaskings Solche Räume können als fraktal bezeichnet werden. Fraktale Räume bestehen aus durchlöcherten, vielfach in sich gebrochenen Mannigfaltigkeiten. Sie lassen die Erfahrung von Raum, wie sie seit
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dem spatial turn neu thematisiert wird11, in die Krise treten. Buchstäblich sind wir mit Zwischenräumen, Verschachtelungen oder Bereichen unbestimmter Struktur konfrontiert, die miteinander konfligieren oder sich gegenseitig neutralisieren. Poster hat sie mit Michel Foucaults „Heterotopien“ verglichen, doch bezeichnen diese gerade nicht das Phänomen spatialer Multiplizität und Entgrenzung, auf das es hier ankommt, sondern sie beschreiben „Orte der Widersetzung“ und „Gegenräume“. (Foucault 2005, 10) Weit angemessener wäre es deshalb, von „fraktalen Atopien“ zu sprechen, soweit der Begriff des „Fraktals“ im mathematischen Sinne eine Figur von irrationaler Dimensionszahl kennzeichnet, die als Metapher für rissige und nicht festgelegte Topologien fungieren können. Man könnte ebenfalls wuchernde „Graphen“ aus Knoten und Kanten (knots and edges) anführen, deren Raumordnung unbestimmt bleibt und von denen man nicht sagen kann, was sie sind. Solche und ähnliche Netzräume erweisen sich als charakteristisch für die Wahrnehmung changierender und durchlässig gewordener medialer Anordnungen, etwa wenn eine Fahrt durch einen U-BahnSchacht zwei entfernt liegende Punkte ohne Bewusstsein ihrer Relationalität zueinander verknüpft, während Bildschirme den Blick auf imaginäre Ortschaften lenken und via mobile Verbindung mit anderen, ebenso ortlosen Reisenden gehalten wird. Die Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit und die Aufforderung zu instantaner Reaktion trägt in die räumliche Erfahrung eine Fraktur ein, die sie buchstäblich zersplittern lässt. Deswegen gleichen wir gerade nicht, wie Vilém Flusser es ausgedrückt hat, jenen „Flatlandern“, die eine Fläche oder Linie bewohnen, ohne wirklich gelernt zu haben, die dritte Dimension angemessen auszuschöpfen (Flusser 1999, S. 172ff. und 175ff.). Vielmehr bewegen wir uns in lauter fraktalen Zwischenräumen, die eigentlich nicht zu bewohnen sind, die vielmehr die Eigenart besitzen, unablässig wieder zu entgleiten, um von neuem eine weitere mediale Dimension aufzurufen, die uns zu zeitweiliger, wenn auch fragiler Verortung verhilft. Fraktalität fungiert mithin als Metapher für eine ebenso verzweigte Zwischenräumlichkeit wie Raumdynamik ohne Zentrum. Welche Lebensformen erlaubt sie? Statt an die Foucaultschen Heterotopien lassen sie eher an Gilles Deleuze’ und Felix Guattaris „Rhizomatik“ denken (Deleuze / Guattari 1992, 657ff.) Einem unauflösbaren Gewirr von Fäden und Netzen ohne Anfang und Ende vergleichbar, beherbergen sie einen Nutzer als Nomaden, der sich nicht entlang stabiler Achsen fortbewegt, sondern von Ortschaft zu Ortschaft „gleitet“ und dessen einziges Instrument der Navigator 11
Vgl. zum Beispiel Günzel 2007.
Fraktale Räume und multiple Aktionen
darstellt. Ist dieses Bild besonders in den 1980er Jahren als neues Identitätsmodell verklärt worden, korreliert ihm gleichermaßen ein alternatives Kommunikationsmodell, das gleichermaßen ohne Kern auskommt. Mobilität ist dessen Fetisch wie Grenze. Wenn, wie gesagt worden ist, Mobilität die maßgebliche Lebensweise und mobile Kommunikationen das entscheidenden Interaktionsmedien der Postmoderne bilden, dann entspricht ihn eine fraktale Nomadik, die wiederum nach neuen Gesetzen der Erfahrung und Orientierung verlangt, für die folglich Raum und Zeit auch nicht länger als apriorische Formen oder transzendentale Ordnungskategorien dienen, sondern deren Mittelpunkte die Beweglichkeit selbst bezeichnet. Räume und Zeiten werden dann durch Mobilität allererst hergestellt wie verändert, sodass wir es mit beweglichen Topologien zu tun bekommen, deren Durchquerung einer fortwährenden Rückkopplung und Selbstversicherung bedarf, die nicht anders denn durch Interaktionen erfolgen kann. Kommunikativität und Interaktivität eignet darin ein selbstreferenzieller Zug, der die postmodernen urbanen Nomaden, die wie wandernde Horden von Event zu Event ziehen, an den Gebrauch ihrer Mobiltelefone und BlackBerries ketten. Gehört zu ihnen die Auflösung des Raumes und das Verschwinden jenes Sichauskennens, das Zugehörigkeit erst vermittelt, lässt sich sagen, dass wir trotz einer vermeintlich globalisierten Welt und gerade wegen der beständigen Präsenz unüberschaubarer Informationen, Bilder, Töne und Stimmen immer weniger wissen, wo wir sind, weil wir zu viele Räume simultan bewohnen, die ihre Transparenz und Zuordnung zueinander ein für allemal eingebüßt haben. Man muss hinzufügen: Ihre Handhabung erfordert gleichzeitig die doppelte Fähigkeit zur gesplitterten Wahrnehmung wie gesplitterten Handlungsweise, zur Polyaisthesie (im Gegensatz zur Synästhesie) und zu einem Polypragmatismus. Multiple Räume verlangen multiple Aktionen, sodass die Fraktalisierung von Räumen und Zeiten nicht nur eine Gleichzeitigkeit des Aufenthalts in fragmentierten Umgebungen bedingt, sondern gleichermaßen auch neue Szenarien von Tätigkeiten erzeugt, die auf sie reagieren, sie fortsetzen und umschreiben. Sie lassen sich mit dem aus der Informatik entlehnten Begriffs des „Multitaskings“ beschreiben (vgl. Gerling / Bexte 2007). Ist damit ursprünglich die parallele Bearbeitung gestückelter Programmabläufe gemeint, die die Prozessorauslastung von Computern optimieren, gerinnt der Ausdruck nunmehr zum Vorbild einer an Mobilität und Multiplizität angepassten Daseinsweise. Wo wir uns zur selben Zeit in unterschiedlichen Räumen, Situationen, Erfahrungen oder Interaktionen bewegen, wo wir telefonieren, Emails lesen, Dateien aus dem Internet herunter-
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laden, Navigationswege suchen, gleichzeitig einkaufen oder Bilder verschicken und mit anderen kommunizieren, adaptieren wir das Modell simultaner Prozessierung und ähneln uns ihrem digitalen Schema an. Multitasking bedeutet dann die Übertragung paralleler Programmschritte auf komplexe Informations-Environments, die vergleichbare Leistungen erzwingen. Es avanciert damit zu einer unausweichlichen Kompetenz in konvergenten Kommunikationsräumen, Übertragungswegen und Technologien. Dem entspricht die Tendenz zur Verdichtung von Informationsflüssen und der Erhöhung von Zeittaktungen, die die „parallele Prozessierung“ als neue Kulturtechnik in die Subjekte einschreibt, die zugleich nicht anders können, als sie positiv zu besetzen und zum Lifestyle zu erklären. Das Handy und die ubiquitäre Verfügbarkeit der Netze sind dessen Emblem. Denn im Wortsinne ständig „zur Hand“, lassen sie sich als Kristallisationspunkte des Multitaskings beschreiben, als dessen Energiezentrum, das Beweglichkeit mit Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit koppelt. Das multifunktionale Handy ist gleichsam die stabile Traum-Zeit-Stelle, an der wir uns befinden, die unsere Lokalität definiert: Wie ein Terminal en miniature beherrscht es die Simultaneität akustischer und visueller Signale, die durch eine taktile Geschicklichkeit verwaltet wird, welche unterschiedliche Funktionen gleichzeitig aufrufbar macht. So koordiniert die Hand eine multiple Welt und manövriert sich durch sie mithilfe eines Geräts, das selbst jederzeit „zuhanden“ ist,12 um Mobilität, Vernetzung, persönliche Kontakte und Schaulust wie die Erfahrung von Raum, Zeit und Identität an einem Ort von der Größe eines Kieselsteins zu vereinen.
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Vgl. zu Heideggers Begriff der Zuhandenheit (Heidegger 1972, §§15-18, S. 66ff.)
Fraktale Räume und multiple Aktionen
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Stephan Günzel
Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild Gilles Deleuze unterteilt die Geschichte des Filmbildes in zwei Epochen: Eine Epoche des Raumes und eine Epoche der Zeit. Ungeachtet der Frage, ob sich die Einteilung historisch in dieser Eindeutigkeit aufrechterhalten lässt – identifiziert wird damit letztlich das Vorkriegs- bzw. Nachkriegskino –, ist die Unterscheidung systematisch relevant und zentral für eine Medientheorie des Bildes, insbesondere was deren raumwissenschaftliches Interesse angeht und zumal wenn es um die Frage nach Emotionen geht. Denn die Beschäftigung mit dieser unter dem Vorzeichen einer Wende, die, gleich ob man sie kulturalistisch oder unmittelbar räumlich charakterisieren möchte, kann Emotionen nicht mehr als ein Moment der Innerlichkeit verstehen, auch wenn gerade dieses Thema prädestiniert scheint, unter dem Primat des Subjekts verhandelt zu werden. Ein Schritt auf dem Weg zur Externalisierung des Emotionalen war fraglos die in Folge der neueren Phänomenologie aufgeworfene Frage nach der Atmosphäre nach Hermann Schmitz (1969), wie sie insbesondere durch den einschlägigen Essay von Gernot Böhme (1995) auch außerhalb von Phänomenologie und Philosophie wirkte. Letztlich aber blieb dieser Ansatz dem Primat der Innerlichkeit unterstellt, insofern es sich um das Raumerleben eines leiblichen Subjekts und dessen Gefühle handelt. Dies hat zum Teil mit dem phänomenologischen Ansatz selbst zu tun, in dem nicht nur ein Hang zu ‚heilen Räumen‘ besteht, sondern der zumeist als Methode der Introspektion (miss)verstanden wird. Ein in dieser Hinsicht wichtiger, weiterer Schritt war Peter Sloterdijks (1999) Unternehmung, die Atmosphären selbst als historisch-kulturelle Produkte zu begreifen, als eine wortwörtliche Poetik von Raum am
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Leitfaden vor allem der Kunstgeschichte und Architektur. Sphären werden demnach gebaut, bevor sie erlebt werden können. Sie sind zunächst objektiv vorhanden, bevor sie subjektiv empfunden werden können. Doch kann es – um es spatial-aporetisch zu reden – Emotionen überhaupt ‚im Außen‘ geben, oder sind sie nicht vielmehr notwendig ‚im Innen‘? Laut Deleuze können Emotionen in der Tat äußerlich sein: Mit seinem Koautor Félix Guattari (1996, 191) hat er in ihrer letzten gemeinsamen Arbeit den Bereich der Kunst insgesamt charakterisiert als die Produktion eines „Empfindungsblocks“, die entweder perzeptiver oder affektiver Art sein können – also räumlich gewendet: ein Von-Her (Eindruck) oder ein Hin-Zu (Ausdruck) sind, welches Deleuze und Guattari auch als den Prozess einer Rebzw. Deterritorialisierung bezeichnen. Für die Emotionsforschung relevant sein dürfte insbesondere die Deterritorialisierung als das räumliche Moment der Affekte, unter denen, im Unterschied zu der großen Gruppe von Emotionen, solche verstanden werden können, die mit einer Handlung oder Aktion verbunden sind. Die Deterritorialisierung, als welche sich der Affekt räumlich beschreiben lässt, ist für Deleuze und Guattari ferner die prototypische Art des Werdens – die Empfindungsblöcke, insbesondere des Films, heißen denn an anderer Stelle auch „Blöcke des Werdens“ (Deleuze/Guattari 1992, 324), aus denen heraus auch der phänomenale Raum in eine neue Perspektive gerückt werden kann: Im Gegensatz zu der von Edmund Husserl (1940) ausgegebenen Maxime, dass die ‚Urarche Erde‘ sich als Bodenform (und aus Sicht des Subjekts) nicht bewegt, setzen Deleuze und Guattari (1996, 97) dass erst mit Alfred Wegener seit Anfang des 20. Jahrhunderts anerkannte Faktum der Plattentektonik und behaupten, dass aus Sicht des Erdkörpers alles in Bewegung ist. Diese kopernikanische Deterritorialisierung setzt sich nun in der Kunst fort, wenn diese die Affekte als ein Äußeres oder auf das Außen bezogen ansieht; oder besser gesagt, als das Hinausgerissen-Werden oder „bersten nach“, von dem bereits Jean-Paul Sartre (1994, 34) sprach. Mit dem von Jean Hyppolite übernommenen Grundgedanken der Raumpoetik Gaston Bachelards (1960, 211ff.) ließe sich also sagen, dass die ‚Dialektik des Drinnen und Draußen‘, aus dem räumliche Aporien wie ‚im Außen‘ hervorgehen – und zu deren prominentestem Fall Kants Behauptung, auch die äußere, räumliche Anschauungsform sei im Subjekt, oder Heideggers diesbezüglich missglücktem, weil euklidisch reifizierenden Konterkarierungsversuch des ‚In-der-Welt-seins‘, gehören – nur durch eine grundlegende Kehre in der Beschreibung überwunden werden kann, die das Zwischen, das Hinüber oder die Teilung als primär setzt. Mit dieser Umstel-
Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild
lung gibt es nicht mehr länger Subjekt und Objekt der Wahrnehmung, sondern nurmehr ein ‚Mich‘, das aus seinen Wahrnehmungen, Empfindungen und Handlungen besteht oder deren Anhängsel ist (Wiesing 2009). Bereits Maurice Merleau-Ponty (1986, 28) spricht von der Wahrnehmung daher instruktiv als einem „Lebensblock“, in dem Subjekt und Objekt ununterscheidbar miteinander verbunden sind. Entsprechend sind Emotionen, wie dies prototypisch am Affekt gezeigt werden kann, auch nicht ‚innen‘, und – entsprechend auch nicht ‚im Außen‘ –, sondern zwischen. Nicht nur deshalb kommt ihnen eine mediale Qualität zu, sondern weil Medien selbst eine Zwischenstellung haben – gleich ob in ihrer Speicher-, Übertragungs- oder Mitteilungsfunktion. Vor diesem Hintergrund also lässt sich Deleuzes Medientheorie des Filmbildes zugleich verstehen als eine Theorie der Emotion, insofern diese eine Eigenschaft des Mediums, genauer seiner Präsentationsform ist, die perzeptiv oder affektiv rezipiert werden kann. Grundsätzlich zeichnet sich das Filmbild für Deleuze dadurch aus, dass es eine Bewegung zu sehen gibt – oder in seinem Sinne treffender formuliert: dass es selbst die Bewegung ist. Dieser von Henri Bergson (1919) herkommende Gedanke, dass Vorstellungen, Dinge, oder Zustände allesamt ‚Bilder‘ seien, kann durch das basale aber entscheidende Phänomen der Filmbildwahrnehmung erläutert werden, in der es im Regelfall keine Einzelbildwahrnehmung gibt, sondern die Bewegung am Anfang steht und sozusagen die atomare Einheit des Bildes ausmacht. Die Bewegung kann freilich durch den Schnitt oder die Montage unterbrochen sein, oder wenn der Filmtransport verlangsamt ist, können tatsächlich Einzelbilder gesehen werden, doch diese sind der Bewegungswahrnehmung nachträglich und gegenläufig. Anders gesagt: In der Bildbetrachtung tritt das technische Medium nicht als solches in Erscheinung, sondern kann andere Strukturen besitzen: eben die Bewegung der Bildbetrachtung – oder auch Beobachtung – im Gegensatz zu den Einzelbildern des Celluloid. Das Bewegungsbild – so Deleuzes Name für den räumlichen Empfindungsblock – durchläuft nun in der Geschichte des Kinos einzelne Stufen: zunächst wird es zum Wahrnehmungsbild, in denen nicht mehr nur das vorikonographisch-mediale Faktum der Bewegung zu sehen ist, sondern diese Bewegung bereits einem (anonymen) Betrachter zugewiesen wird. Aus diesem Zustand des Bildes habe sich dann über eine Zwischenstufe das Affektbild entwickelt (Ott 2005). Deleuze hat dieses mit der Großaufnahme parallelisiert und der Darstellung des Gesichts, mit dem erstmals nicht nur ein Bewegungsbild, sondern auch ein Ikon im Sinne der Semiotik von
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Charles S. Peirce (1983, 64) vorliegt, also eine Erstheit: ein Zeichen ohne externe Referenz aber mit Ausdruck. Als Vorbedingung für das Affektbild und gleichfalls als Zwischenstufen unterscheidet Deleuze (1989, 94f.) davon das Aktionsbild, welches historisch wie systematisch zwischen diesem und dem Wahrnehmungsbild liege. – Vor dem Hintergrund des subjektivistischen Primats ist dies freilich kontraintuitiv, würde der Affekt doch immer als das Unmittelbare angesehen werden, die Aktion aber als das Reflexive und Spätere. Unter dem Gesichtspunkt einer Wende, die weg vom Subjekt und hin zum Raum führt, ist dies jedoch konsequent: Hier muss die Aktion als das Primäre und der Affekt als das Spätere qualifiziert werden. Am Computerspiel lässt sich der Zusammenhang und die zunächst ungewöhnliche Reihung sehr gut verdeutlichen, da Simulationsbilder ebenfalls Empfindungsblöcke ausbilden können; nur im Unterschied zum Filmbild, dessen Urphänomen in der Bewegung(serfahrung) besteht, ist das definierende Merkmal des Computerspiels die Interaktion(serfahrung): Das heißt, die Bewegung wird nicht nur gesehen, sondern sie wird vom Bildbetrachter induziert. Dieser spezifische Empfindungsblock kann mit dem Neologismus des ‚Sehenhandelns‘ (Günzel 2008) beschrieben werden und in der Folge können auch am Simulationsbild verschiedene Stufen desselben nach Deleuze unterschieden werden. Als einer der ersten hat Alexander Galloway mit Blick auf Deleuze darauf hingewiesen, dass das Computerspiel ein Aktionsbild ist. Eingedenk der medialen Differenz will Galloway (2006, 2f.) diesen Terminus jedoch gar vom Kinobild als einem determiniertbewegten Bild trennen und allein für das Simulationsbild reservieren:
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If photographs are images, and films are moving images, then video games are action. […] With video games, the actionimage has survived but now exists not as a particular historical or formal instance of representation but as the base foundation of an entirely new medium. In der Tat ließe sich mit Deleuze sagen, dass das im Schritt zum Affektbild (als einstelliges Bildzeichen) vom Wahrnehmungsbild (der Bewegungsempfindung) ausgehende Aktionsbild selbst die Grundlage eines neuen Bildmediums ist; oder anders gesagt, wenn das Bewegungsbild in systematischer wie historischer Hinsicht mit der Bewegungswahrnehmung einsetzt, so das Computerspielbild mit dem Aktionsbild oder – um es eben nicht mit der spezifischen Form des Filmbildes zu verwechseln – mit dem Interaktionsbild, das ein Bildtyp sui generis ist (Wiesing 2005, 120ff.).
Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild
Verfolgt man die Parallelisierung mit Deleuze weiter, dann ist das, was sich im Filmbild als Resultat darstellt – das Affektbild –, im Computerspiel seinerseits am Übergang vom (Inter-)Aktionsbild zu etwas anderem angesiedelt: dem Raumbild (Günzel 2008a) als der Erfahrung nicht nur eines Illusionsraums hinter dem Rahmen als Fenster in eine imaginäre Welt, sondern die Erfahrung eines navigierbaren Raums (Manovich 2000). Gemeinhin wird diese Spezifik des Computerspielbildes in Anlehnung an erzähltheoretische Analysen durch den Verweis auf die immersive Wirkung von Computerspielbildern verdeckt (Ryan 2001). Doch die Rede von einem ‚Eintauchen‘ in das Bild ist eine Auffassung, die dem Paradigma des Subjektdenkens angehört und nicht von den medialen Eigenschaften des Mediums ausgeht. Der Effekt, dass sich ein Rezipient in der Erfahrung des Bildes ‚vergisst‘, sich mit der Bildwelt identifiziert oder in einer anderen Weise im Bild verliert, ist eine Beschreibung der Wirkung auf den Nutzer. Ungeachtet der Frage nach der Kontingenz dieser Wirkung ist die vorrangige Frage aus Sicht des Mediums gestellt, diejenige nach der Konstitution eines Subjekts – im Falle des (Inter-)Aktionsbildes: eines „Subjekts der Handlung“ (Pias 2002, 11). Der Spieler ist ein Anhängsel des Bildes und damit auch der Emotionen, im Näheren der Affekte. Dies lässt sich etwa an einer kurzen Stilgeschichte des exemplarischen Computerspielbildes aufzeigen: dem Genre des Ego- oder
Abb. 1 und 2: aus der Bildserie Shooter (2000/01) von Beate Geissler und Oliver Sann, http://www.lifeisgood.biz/shooter/
First Person-Shooters. Die Grundstruktur dieses Empfindungsblocks besteht in einer intentionalen Gerichtetheit des Bildes, die es aufgrund der strikt zentralperspektivischen Ausrichtung aufweist: Der zentrale Ort im Bild ist die zum Punkt verdichtete Linie, die sich zwischen dem Augpunkt der Betrachtung und dem Ziel der Handlung aufspannt (Günzel 2009). Das damit konstituierte und dem Bild zugehörige oder ihm anhängende Subjekt ist eines, dass paranoisch-fixiert ist. Es ist fixiert, nicht in erster Linie, weil die Bildbenutzer mehr oder minder bewegungslos vor dem Bildschirm situiert sind, sondern weil die Objekte, an denen die Handlung auszuführen ist, in den Bildmittelpunkt gerückt werden müssen, um
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Stephan Günzel
an ihnen überhaupt eine Handlung ausführen zu können; und es ist paranoisch, weil die Bildbegrenzung und Perspektivierung eine
Abb. 3: Battlezone
permanente Suchbewegung erfordert, durch welche die Objekte im virtuellen Off in die Aktualisierung überführt werden müssen. Die Transformationen des Empfindungsblocks ‚Egoshooter‘ durchläuft seit seiner Erschaffung im Jahr 1983 in Form des Spiels Battlezone, vor allem aber seit seiner Popularisierung zehn Jahre darauf durch Doom, mehrere Stufen, wobei die Grundstruktur der intentionalen Bildaktion unangetastet bleibt. Verdichtet aber wird
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Abb. 4: Doom
das Aktionsbild, insofern sich die Raumgestaltung auf eklatante Weise ändert und sich schließlich das Affektionspotential erhöht, sodass das Interaktionsbild zunehmend ‚sinnlich‘ wird.
Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild
Mit Alois Riegl (1927) gesprochen wandelt sich der Egoshooter vom haptischen zum optischen Raumbild, oder mit Heinrich Wölfflin (1915) geht er von der renaissancehaften Fläche zur barocken Tiefe
Abb. 5: Lampe in Wolfenstein
über. Tiefe meint hier nicht die intentionale Gerichtetheit, die ja eben auf dem Bildschirm zum zentralen Punkt verdichtet ist, sondern, dass die Oberflächen der Objekte und Architekturen eingefaltet werden und zu einer Verunendlichung der geometrisch erfassbaren Körper beitragen (Deleuze 2000), insofern statt addierte Pixel dynamischen Polygonen zu deren Darstellung eingesetzt werden. ‚Optisch‘ wiederum meint nicht, dass das Bild im Anfangsstadium vorher nicht gesehen werden kann, sondern dass die darin dargestellten Eigenschaften zunehmend sichtbare Eigenschaften sind, während zuvor nur tastbare Eigenschaften zu sehen waren: das Volumen der Dinge und die Grenzen des Raums. In Termini der klassischen Erkenntnistheorie gesprochen, werden über die primären Qualitäten zunehmen sekundäre visualisiert: Allen voran der Wechsel von Licht und Schatten, der in frühen Egoshootern wie dem Doom-Vorläufer Wolfenstein von 1992 allenfalls symbolisch vorhanden war. So etwa, wenn eine Lampe in einem Raum angebracht war, in dem es an keiner Stelle die Abwesenheit von Licht und damit auch keine Anwesenheit gab. Umgekehrt gibt es in Battlezone nur Dunkelheit, die aber nicht die Abwesenheit von Licht ist, sondern die Eigenschaft eines strikt geometrischen Raums ist, der
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Abb. 6: Mond in Battlezone
keine sinnlichen Qualitäten aufweist. Auch hier findet sich eine entsprechende Symbolik zur nachträglichen Kaschierung der nur vermeintlich sinnlichen Dunkelheit: ein Mondobjekt.
Stephan Günzel
Dagegen erscheint das Spiel Doom3 von 2004 wie ein Gemälde Caravaggios aus dem frühen Barock, indem nicht die Allgegenwart von Licht oder Dunkelheit als Ausdruck purer Geometrie vorhanden ist, sondern indem sich aus der Dunkelheit, die Schatten ist, die Objekte als Konturen abheben (Prater 1992). Es werden, mit
Abb. 7: Caravaggio, Jesus an der Säule
Mark Wolf (1997) gesprochen, innerbildliche Onscreenräume (onscreen-spaces ‚on screen‘) geschaffen, die – in den Termini Spencer Browns (1997) – aus dem unmarked space hervortreten und dem Dunkel abgerungen sind; oder summarisch, mit Deleuze und Guattari (1992, 658ff.) gesprochen, wird das anfangs gekerbte Raumbild geglättet.
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Abb. 8: Doom 3
Mit der Glättung und Faltung, mit dem Optisch-werden und der Hervorbringung von Tiefe geht der intentionale Empfindungsblock von einem reinen Aktionsbild in ein Raumbild über, das wie das
Vor dem Affekt: die Aktion – Emotion und Raumbild
Affektbild nach Deleuze eine autoreferentielle Erstheit ist. Dazwischen aber liegt im Computerspiel der Affekt, die Handlung ohne Reflexion, in subjektivistischen Termini gesprochen: die Reaktion. Doch nicht der Bildbetrachter ‚re-agiert‘ auf das Bild, sondern das Bild erschafft sich seine Bildbenutzer als affiziertes und handelndes Subjekt. Das Affektpotential des Spielbildes speist sich aus der Angst, als der vielleicht mächtigsten Emotion. Wiederum handelt es sich dabei nicht um ein Gefühl oder eine Stimmung, die vom Spieler ausgeht, sondern um eine, in welcher der Spieler als solcher durch das Simulationsbild konstituiert ist. So leidet zunächst auch nicht
Abb. 9: Half-Life 2
der Spieler im Egoshooter, sondern das formale Ego, welches aufgrund der intentionalen Verfasstheit des Bildes aber selbst nicht im Bild erscheint, sondern selbst das Bild – und damit auch sein Raum ist.
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Abb. 10: Doom 3
Wie bereits Ludwig Wittgenstein (1963, 68) in Anlehnung an Ernst Mach schreibt, „[lässt] nichts am Gesichtsfeld […] darauf schließen, dass es von einem Auge gesehen wird“. Bedroht wird im Spiel also
Stephan Günzel
nichts weniger als die Existenz des Bildes. Die Bedrohung ist das unausweichliche Ende des Spiels, sei es in dem positiven und selteneren Fall der Erreichung aller Spielziele oder im negativen und häufigeren Fall des ‚Game Over‘. Dem in Computerspielen allgegenwärtigen ‚Topos des Todes‘ (Mertens 2007, 47) entspricht als absolute Visualisierung die Unmöglichkeit zu sehen. Zumeist, wie in Half-Life 2 von 2004 in Form des Redout, der das Ende der Handlungsmöglichkeit und damit des Aktionsbildes ist, das sich seinerseits als Instabilität des Bildes wie in Doom 3 ankündigen kann, und Affektbild par excellence ist. Frühe Egoshooter kennen dagegen zwar bereits den Redout, nicht aber den Vorlauf zum Tode als stilistische Beeinträchtigung des Bildes. Sie bedienen sich wiederum einer Symbolisierung, insbesondere der Gesichtsdarstellung des ansonsten gesichtslosen Egos, dessen Leben zusehend zu Ende geht. Galloway (2006, 31) nennt den Tod im Spiel – der genaugenommen ein Tod des Spiel(bilde)s ist – einen „nondiegetic machine act“, im Näheren einen „disabling act“ des Programms. Die Angst nun ist der Zustand einer Bedrohung der transzendentalen Bedingung des Spiels, ein Aktionsbild zu sein. Im Übergang vom Aktionsbild zum Raumbild ist das Affektbild des Egoshooters daher als Angstraum konfiguriert. Die Angst als Nichtmöglichkeit des Sehenhandels ist dabei das Bindeglied zwischen der intentionalen Fixierung der Perspektivdarstellung und dem paranoischen Bildbewegungszwang.
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Laura Bieger
Ästhetik der Immersion: Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit dem Auflösen von Distanz.1 Sie ist eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens und keine Ästhetik der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht. Immersive Räume sind ein markanter Teil der Ästhetisierung von Lebenswelten, die unsere heutige Kultur so nachhaltig prägt. Es sind Räume, in denen Welt und Bild sich überblenden und wir buchstäblich dazu eingeladen sind, uns in die Welt des Bildes hinein zu begeben und uns in ihr zu bewegen. Und: es sind Räume, in denen sich die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit des Bildes in der unmittelbaren Wirklichkeit körperlichen Erlebens konsolidieren. Es ist also an der Schnittstelle von Raum und Bild, an der eine Immersionserfahrung ihre größte affektive Mobilisierung erreicht. Dieser Schnittstelle möchte ich mich zunächst noch einmal vom Bild her annähern: Jedes Bild eröffnet seinem Betrachter einen Raum der Wahrnehmung. In diesem konstitutiven und doch flüchtigen Zwischenraum löst es sich von seinem materiellen Träger und realisiert sich als Vorstellungsbild im Körper des Betrachters. Ohne diese Übertragung ist das Bild tote Materie. Es muss sich von einem
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Das hier vorgestellte Argument basiert in seinen Grundzügen auf meinem Buch Ästhetik der Immersion (2007).
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äußeren in ein inneres Bild verwandeln, muss dazu die Zuwendung eines Betrachters erfahren, muss animiert werden. Skulpturen machen diese räumliche Konstitution des Wahrnehmens noch deutlicher als Bilder, denn erst in der Bewegung an ihnen entlang und um sie herum, in den sich ergänzenden Sinneseindrücken aus unterschiedlichen Perspektiven konstituiert sich unser Eindruck – und die Skulptur als ästhetisches Objekt. Räume sind auf diese sukzessive Wahrnehmung ebenso angewiesen, und dadurch, dass sie innen hohl sind, ist unsere Bewegung an ihnen entlang freier, der Bewegungsradius größer und der Prozess imaginärer Ergänzung diffuser. Doch ob Bild, Skulptur oder Raum: ästhetische Erfahrung ist auf diesen Zwischenraum der Wahrnehmung so sehr angewiesen wie auf einen Gegenstand der Betrachtung und einen entsprechend gestimmten Betrachter. Denn ohne diesen Raum kann keine Bewegung stattfinden. Aber zuallererst ist ästhetische Erfahrung Berührung und von ihr angestoßene Bewegung. Sie bewegt denjenigen, der sich ihr hingibt, und verspricht im Vollzug dieser Bewegung eine Intensivierung von Lebensgefühl. Auch wenn es hedonistisch klingen mag, so betrachtet, ist ästhetische Erfahrung nicht weniger als ein Lebenselixier. Die notwendige Öffnung auf ein Außen und die mit ihr einhergehende Versehrung des Wahrnehmenden sind dabei jedoch zugleich auch Zeugen einer existentiellen (und potentiell schmerzhaften) Grundbedingung von Leben – mit John Dewey gesprochen vollzieht es sich nicht nur „in einer Umgebung, sondern auf Grund dieser, durch Interaktion mit ihr“ (Dewey 1988, 21). 2 Deweys pragmatische Ästhetik formuliert auch eine erste programmatische Abkehr vom traditionellen Werkbegriff und eine Verlagerung des Ästhetikverständnisses in Richtung sinnlicher Erfahrung, die heute in Positionen wie Gernot Böhmes Atmosphären-Konzept oder Juliane Rebentischs Ästhetik der Installation Konjunktur hat. Auch für Dewey ist der Grundimpuls von ästhetischer Erfahrung die von der Wahrnehmung ausgelöste Bewegung, die im Gegensatz zum bloßen Erkennen (bare recognition) in Wellen durch den gesamten Organismus strömt. Daher ist Perzeption nicht Sehen und Hören plus Emotion. Das erkannte Objekt oder die erkannte Szene ist ganz und gar von Emotionen durchdrungen. Wenn eine hervorgerufene Emotion das perzipierte oder vorgestellte Material nicht gänzlich durch-
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In diesen Absätzen klingen neben Dewey eine Reihe von Positionen zum Bildbegriff und der ästhetischen Erfahrung an, die hier kurz genannt seien: Belting 2001, Mitchell 2005, Böhme 1995, Rebentisch 2003, Bruno 2002.
Ästhetik der Immersion
setzt, so ist sie entweder beiläufig oder pathologisch (Dewey 1988, 67). Ich möchte Deweys Gedanken an dieser Stelle noch ein Stück weiter ausdifferenzieren. Denn die Bewegung, die Wahrnehmung auslöst, kann eine rein innerliche sein, wie es hier anklingt, aber auch eine Bewegung durch den Raum. Häufig verstärkt die Mobilität des Körpers die erlebten Sinneseindrücke und sie kann auf diese Weise auch eine Intensivierung ästhetischen Erlebens erwirken. Es gibt Räume – Kirchen, Regierungsbauten, Mahnmale, Museen, Vergnügungsparks, Kasinos, Nachtclubs –, die genau mit dieser Überblendung von ästhetischem Erleben und Raumerleben spielen. Sie verlangen geradezu nach einer körperlichen und einer affektiven Bewegung des Betrachters – wollen erlebt werden. Und können dabei in sehr unterschiedliche Funktionszusammenhänge eingebunden sein (z.B. die Affirmation religiöser Überzeugungen, die Symbolisierung und Verankerung von Macht, die Repräsentation und Vermittlung kollektiver Erfahrungen und Werte, die Steigerung von Konsum). In der Regel hat diese Funktion auch eine affektive Dimension: Sie kann ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, Sicherheit oder Geborgenheit herstellen, Selbstbezug und Lebensgefühl intensivieren, aber auch Ängste und Sehnsüchte auf den Plan rufen, das Gefühl von Ohnmacht und Vereinzelung erwirken, und vieles mehr. In meinem Buch Ästhetik der Immersion habe ich drei Schauplätze untersucht, die sich nicht nur in der Art ihrer Raumgestaltung, sondern auch in ihrer Funktion stark unterscheiden: den Strip
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Abb. 1: Postkartenansicht von Las Vegas aus dem Jahr 2002. Die Stadt verfügt heute über mehr gebaute Substanz als jemals zuvor
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von Las Vegas, das Washingtoner Regierungsviertel und die White City der 1893er Weltausstellung in Chicago. Um diese drei urbanen Bildräume kurz in ihren Grundzügen zu umreißen: Las Vegas verfügt heute über mehr gebaute Substanz als je zuvor, und in der Transformation seines Stadtbildes von einer losen urbanen Textur aus überdimensionierten Neonschildern und nach Aufmerksamkeit heischenden Kasinofassaden hin zu einer immer dichter werdenden Vision urbaner Hyperrealität hat sich auch das von ihm verkörperte Raumerleben nachhaltig verändert. Paris und New York liegen in Sichtweite, das imperiale Rom erstrahlt in neuem Glanz, Venedig ist vor der immerwährenden Gefahr seines Untergangs bewahrt. Was dieser Ort uns heute erleben lässt, ist die fiktionale Realität einer unerhörten räumlichen und zeitlichen Fülle und Verdichtung. Eine praktisch gegenläufige Raumerfahrung machen wir in dem weitläufigen Washingtoner Regierungsviertel, das uns mit seinen lan-
Abb. 2: Ansicht der White City. Der Court of Honor war das Herzstück der World Columbian Exposition
78 gen, geometrischen Sichtachsen und den klassizistischen Monumentalbauten ein architektonisch und landschaftlich inszeniertes Gefühl von Distanz und Ewigkeit vermittelt und diese in den Dienst nationalstaatlicher Machtrepräsentation stellt. Die White City der Columbia Exposition nimmt eine Scharnierposition zwischen diesen beiden Orten ein: Sie war eine Weltausstellungsarchitektur im Stadtformat, für bloße vier Ausstellungsmonate am Ufer des Lake Michigan errichtet, und wie später auch Las Vegas wurde sie mit dem Anliegen gebaut, ihre Besucher mit einer durch und durch inszenierten Visualität unmittelbar und nachhaltig zu beeindrukken. In ihrer dramatischen Übersteigerung klassizistischer Monu-
Ästhetik der Immersion
Abb. 3: Blick auf das Jefferson Memorial im Washingtoner Regierungsviertel zur Kirschblüte
mentalität verkörperte sie dabei jedoch keine nationale Vision wie Washington, sondern das bürgerliche Ideal einer „schönen Stadt.“ Allein der Rückgriff auf eine höchst provisorische Bauweise (gipsverkleidete Stahlkonstruktionen, außen Tempel, innen bloße Ausstellungshalle) hatte die Realisierung des gigantischen Entwurfs erlaubt; sie zeichnete die Modellstadt nicht nur mit einer visionären Qualität aus (die Größe vieler Hallen konnte nur erreicht werden, indem man die technischen Möglichkeiten des modernen Stahlbaus voll ausschöpfte), sondern auch mit einer geradezu traumhaften Flüchtigkeit. Von Chicagos aufstrebender Elite (und mit einem klaren Fingerzeig gegen die traditionellen Ostküstenmetropolen New York und Philadelphia) errichtet, war die White City in ihrem makellosen Anstrich und emphatischen Klassizismus raumgewordener Ausdruck eines Zukunftswunsches: die erzieherische Kraft des Schönen sollte in dem Erleben dieses Ortes eine bessere Welt erwirken.3 Die drei hier vorgestellten Raumtypen stehen insofern auch für unterschiedliche „Bauherren“ bzw. für drei Arten der Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse durch Raumkonstruktion (in Lefebvres Sinn von ‚conceived‘ oder ‚planned space‘): einmal aus3
In allen drei Fällen sind diese Raumkonstruktionen massiv geprägt von einer Dynamik des Kompensatorischen: in Las Vegas vom moralischen Ausnahmezustand (Glückspiel, Prostitution, Hedonismus) im Kontext einer sonst stark puritanisch-protestantischen gelagerten Gesellschaft, in Washington vom visuellen Wettmachen eines (von den Gründervätern als solchem empfundenen) Mangels an nationaler Geschichte und in der White City vom aufgeräumten Gegenbild zu den durch Massenimmigration und Industrialisierung außer Kontrolle geratenen Städte des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
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Abb. 4: Ansicht des Vorplatzes des Venetian. Erklärtes Ziel der Architektur ist es, einen Eindruck „authentischer Reproduktion zu erreichen”
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gehend von einer Institution (Regierung), dann von einer Gesellschaftsgruppe (Bürgertum), und schließlich als Teil einer Kultur des Konsums und der Selbstverwirklichung (häufig verbunden über das Versprechen, diese Selbstverwirklichung durch Konsum zu erreichen). Die tatsächliche Wirksamkeit dieser Räume stellt sich natürlich erst dann her, wenn sie auch unmittelbar genutzt bzw. belebt werden und sich über ihre mediale Vermittlung im Vorstellungshorizont einer Gesellschaft verankern (Lefebvres ‚perceived‘ bzw. ‚lived space‘; vgl. Lefebvre 1991). Ich habe eingangs von dem Phänomen der Ästhetisierung unserer zeitgenössischen Lebenswelt gesprochen und der ausgewiesenen Rolle, die immersiven Räumen dabei zukommt. Seit der Konsolidierung einer modernen Konsumkultur sind solche Räume vermehrt in kommerziellen Zusammenhängen gebaut worden; man denke hier nur an die ersten Kaufhäuser mit ihren verführerischen Schaufenstern und den schier unendlichen Innenräumen voller Waren, an die Panoramen und Dioramen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert parallel zum Massentourismus entstehen, an die berühmten Vergnügungsparks auf Coney Island mit ihren Phantasiearchitekturen und so programmatischen Namen wie Luna Park und Dreamland, an die opulenten Society-Restaurants, Kabaretts und Kinopaläste der 1920er und 30er Jahre, von denen viele mit einem Thema ausgestattet waren, das dazu einlud, den erwünschten Eindruck der Entrückung von der Welt des Alltag weiter auszuschmücken. Das Gefühl des Entrücktseins, mit dem all diese Räume spielen, lässt sich besonders wirkungsvoll herstellen, wenn eine Raumsituation nicht nur ein großes Erlebnispotential aufweist, sondern die-
Ästhetik der Immersion
Abb. 5: Fassadenansichten des New York New York und des Paris Las Vegas
ses zudem narrativ ausweitet und atmosphärisch verdichtet. Mit einer architektonischen Überblendung von Raum und Bild lässt sich dies besonders wirkungsvoll erreichen. Das Venetian in Las Vegas ist hierfür ein sehr anschauliches Beispiel. Bereits auf seinem Vorplatz ruft es eine ganze Reihe von Venedig-Bildern auf: Campanile, Dogenpalast und Rialtobrücke wurden in einem möglichst authentisch wirkenden Modus nachgebaut („authentic reproduction“, wie es stolz in der Werbebroschüre heißt). Im Gegensatz zu anderen Hotelkasinos dieser Generation wie dem New York New
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Abb. 6: Fotografie des Venetian von Bettina Khano, 2002, privat
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York oder dem Paris Las Vegas entsteht hier jedoch kein patchworkartiger und dadurch atmosphärisch flacher Eindruck einer Postkarten-Fassade; es entsteht ein kohärenter Bildraum, in den das wahrnehmende Subjekt sich mit der Annäherung an das Hotelkasino – und zwar mit seiner Vorstellung und seinem Körper – hineinzoomen kann, bis es komplett in die fiktionale Wirklichkeit dieses Bildraumes eintaucht. In der hier antizipierten Annäherungsbewegung an diesen Raum wird deutlich, wie sehr die von ihm bereitgestellte Erfahrung von der affirmativen Haltung des Betrachters abhängt. Der Vorplatz des Venetian muss seine Besucher vom Strip her abholen; er muss sie überzeugen, sich aus dessen Fülle von Eindrücken heraus zu lösen und sich auf eine illusionäre VenedigReise zu begeben. Diese – aktive und affektive – Affirmation des Eintauchangebots ist der Schlüssel zur Immersionserfahrung, und zwar mehr noch, als es eine bestimmte architektonische Rezeptur ist. Während Oliver Grau in seinen Untersuchungen zu immersiven Räumen zu dem Schluss kommt, dass diese (bis auf ihren notwendigen Eingang) abgeschlossen sein müssen (Grau 2001, 27), denke ich, dass selbst Raumsituationen unter freiem Himmel wie der Vorplatz des Venetian eine immersive Wirkung erzeugen können, wenn
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Abb.7: Die dichte und bildlich schlüssige Bebauung des Venetian-Vorplatzes lädt den Besucher zum imaginären und körperlichen Eintauchen ein
Ästhetik der Immersion
sie nur atmosphärisch dicht genug gestimmt sind – eine Lesart, die dem Wahrnehmungsanteil gegenüber dem architektonischen Anteil immersiver Erfahrung ein stärkeres Gewicht gibt.4 Und doch ist der beeindruckendste Raum des Venetian ein Innenraum: der im ersten Stock gelegene Nachbau des Markusplatzes. In seiner perspektivischen Verdichtung wirkt der Platz größer als er tatsächlich ist, und weil die mit einem Abendhimmel bemalte Decke nicht rechtwinklig, sondern abgerundet auf die Seitenwände trifft und die Malerei ein Stück über diese Rundung hinaus gezogen hat, entsteht in der Bewegung durch diesen Raum immer wieder der Eindruck, die Decke öffne sich und man stehe unter freiem Himmel. Die starke Farbigkeit von Himmel und Fassaden und die diffuse Ausleuchtung (man arbeitet mit einer Kombination aus indirektem Deckenlicht und kontrapunktischen Lichtquellen wie Straßenlaternen und „Innenbeleuchtungen“ von Häusern) verstärken den Eindruck von räumlicher Expansion. Mit den Mitteln einer illusionärem Ausweitung (oder gar: Umstülpung) des dreidimensionalen Realraumes in den zweidimensionalen Bereich des Bildraumes bedient sich das Venetian zum einen aus dem künstlerischen Repertoire des Barock. Es huldigt aber auch seinen Vorgängern aus dem Bereich der Unterhaltungskultur, genauer gesagt: dem Panoramas und dessen „faux terrain“, also der Ausweitung des Bildraumes durch die Platzierung von Objekten vor der Leinwand. Durch Kanäle, Gondeln, Brücken, Straßencafes, Boutiquen, etc. ist hier nicht nur der Realraum in den Bildraum, sondern auch das Venedig-Bild in den Realraum hinein verlängert worden.5 Doch anders als bei seinem historischen Vorgänger sind diese Gegenstände hier nicht nur statisch positioniert. Sie beleben den erweiterten Bildraum als Requisiten einer fortwährenden LiveInszenierung, an der die vom Hotel engagierten Darsteller (die Gondolieri und Carabinieri in entsprechenden Uniformen, die Sänger, Schauspieler, Kellner) ebenso mitwirken wie die Besucher des Hotelkasino, die sich als Touristen „selbst spielen.“ Die Rolltreppe, mit der man aus dem im Erdgeschoss gelegenen Kasinobereich in diese künstliche Venedig-Welt auftaucht, ist in diesem Sinne nicht nur Transportmittel des Eintauchens; sie markiert auch den Übergang in einen Bühnenraum, in dem der Spielcharakter des Ausnahmezustandes, der den gesamten Strip prägt, sich noch einmal radikal verändert: Ganz bewusst geschieht das Eintauchen in die fiktio4
Die zentrale Rolle der affirmativen Haltung gegenüber einem ästhetischen Wahrnehmungsangebot ist aus der Warte der Rezeptionsästhetik immer wieder betont worden. Vgl. Kemp 1992, Fluck 2009.
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Eine sehr anschauliche Geschichte immersiver Räume findet sich bei Grau 2001, 7-52. Zu Panorama und Faux Terrain vgl. Grau 2001, 55 und 96.
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nale Realität dieses Raumes, deren Kohärenz so weit geht, dass der Moment des Übergangs sie nicht gefährdet, sondern weiter untermauert. Ich werde auf diesen Punkt später noch einmal zurückkommen, möchte aber die Wichtigkeit des Kippmomentes zwischen Eintauchen und Auftauchen für die Immersionserfahrung schon an dieser Stelle betonen. In den Ein- und Ausgangssituationen des Venetian ist dieses Kippen besonders hervorgehoben, kann aber auch als eine bloße Verschiebung der Aufmerksamkeit (von: „was ist das für eine Welt“ nach: „wie ist sie gemacht“) erlebt werden.
Immersion und Verführung
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Immersive Räume wie das Venetian sind „scripted spaces“, und zwar in einem doppelten Sinn: sie geben Handlungsanweisungen und sie bestimmen den narrativen Rahmen, in dem diese Handlungen stattfinden.6 Und weil solche Räume nicht selten barock sind, stehen sie unter einem kulturkritischen Generalverdacht der theatralen Oberflächengestaltung, Verdrängung des Realen und Manipulation ihrer Betrachter. Ohne Zweifel: Sie leben von der Illusionsbildung, und diese geht Hand in Hand mit einem Angebot der Immersion. Beide, Illusion und Immersion, sind in ihrer Wirkungsausrichtung von Grund auf manipulativ; beide setzen auf eine affektive Bewegung des Betrachters; beide sind auf dessen affirmative Haltung angewiesen. Mit anderen Worten: Der Betrachter muss verführt werden – er muss aber auch verführt werden wollen.7 Immersion ist ein Spiel mit der Verführung, sich der Sogwirkung einer Illusion emphatisch hinzugeben. Und doch reichen illusionistischer Sog und kalkulierter Distanzverlust nicht aus, um ihre Wirkung hinreichend zu beschreiben. Denn Immersion ist eine Wahrnehmungsbewegung mit eingebautem Richtungswechsel, ein Pendelschlag zwischen Eintauchen und Auftauchen. Wie das Trompe-l’œil durchläuft auch sie eine kunstvolle Choreographie aus Illusionsbildung und deren Entlarvung, die starke Affekte wie Überraschung, Desorientierung, Ehrfurcht oder Begeisterung mobilisieren kann. Besonders gelungene Immersionsräume wie das Venetian verlän6
„Scripted spaces,“ schreibt Norman Klein zu diesen Räumen, „are walk-through or click-through environments (a mall, a church, a casino, a theme park, a computer game). They are designed to emphasize the viewer’s journey – the space between – rather than the gimmicks on the wall.” Klein 2004, 11.
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Ohne den Begriff weiter auszuführen, haben Robert Venturi, Denise Scott-Brown und Steve Izenour die Architektur von Las Vegas in diesem Sinne sehr treffend als eine Architektur der Überredung (architecture of persuasion) bezeichnet. Venturi et al. 1972, 9.
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gern diese Wirkung, indem ihre Grundchoreographie nicht nur einmal durchlaufen wird, sondern sich in einem Wechsel von Eintauchen und Auftauchen immer wieder erneuert und auf diese Weise das Verweilen im Grenzgebiet eines imaginären Schwebezustandes möglichst lange hinauszögert. Vielleicht leben wir tatsächlich, wie viele Kritiker meinen, in einem Zeitalter des Neobarock8: Shopping Malls, Kinos, Hotelanlagen greifen heute mehr und mehr auf diese Ansprachestrategien zurück und versuchen dabei über die Mobilisierung ihrer Besucher häufig vor allem eines: Konsum zu fördern. Von dieser Tendenz habe ich bereits gesprochen: Immersive Räume gibt es schon sehr lange, früher häufig als Sakralräume oder Kultstätten, aber seit der Konsolidierung moderner Konsumkultur tauchen sie vor allem in ihrem Umfeld auf. Doch von hier aus scheinen sie sich (gemeinsam mit anderen Räumen mit großer Erlebnisqualität) seit geraumer Zeit auch in andere Kultur- und Gesellschaftsbereiche auszuweiten. Das Jüdische Museum und das Holocaust Mahnmal in Berlin sind für mich zwei eindrückliche Beispiele dieser Entwicklung; der jüngste Umbau des Museum of Modern Art in New York ein anderes. In diesen Räumen rückt die narrative Dimension, die in den bisher beschriebenen Räumen sehr ausgeprägt war, in den Hintergrund oder verschwindet ganz und gar; stattdessen wird die somatische Komponente der Immersionserfahrung hier umso stärker angesprochen. 9 Im Kontext des Museums beziehungsweise des Mahnmals soll durch ein architektonisch erwirktes Gefühl von Desorientierung, Schwindel, Vertigo die Empfindsamkeit des Betrachters durch eine Intensivierung des Körpergefühls gesteigert werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Moment beim New Yorker Museum of Modern Art verweilen, das im November 2004 wiedereröffnet wurde. In dem hier besprochenen Zusammenhang ist das größere Maß an architektonische Expressivität von besonderem Interesse, mit dem sich das Gebäude nach zweijähriger Umbauzeit präsentierte. In gewisser Weise schließt es mit ihr zu einer architektonischen Praxis auf, die im Museumsbau inzwischen praktisch Konvention geworden ist, tut dies jedoch (anders als die selbstreferenzielle Spektakularität der Guggenheim Museen) nicht mit großer Geste in den Stadtraum hinein, sondern mit einer gezielt 8
Vgl. z.B. Klein 2004, Böhme 1995, Huxley 1997.
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In meiner Analyse von Las Vegas spreche ich in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen Modi des Immersiven: einem formalen Modus, der vorrangig über Raumkomponenten wie Farbe, Licht, Höhe, Tiefe oder Höhe funktioniert, und einem narrativen Modus, der die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die illusionsbildenden Komponenten des Raumes lenkt. Vgl. Bieger 2007, 214.
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Abb. 8: Blick in das Atrium des umgebauten Museum of Modern Art in New York
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Ausrichtung in den Museumsraum hinein, oder genauer: auf das sinnliche Erleben dieses Raumes. Das ausgewiesene Anliegen dieser neuen Expressivität ist eine Steigerung der Aufmerksamkeit, die wiederum einer intensivierten Betrachtung der Kunstwerke zugute kommen soll.10 Explizite Momente dieser neuen Räumlichkeit sind die schmalen Brücken und tiefen Schluchten um das neue Atrium, die mit Plexiglasgeländern und schmalen, vertikal gestreckten Fenstern dramatisch in Szene gesetzt wurden, aber auch die Platzierung von ausgewählten Kunstwerken in bestimmten Raumsituationen. Barnett Newmans Broken Obelisk droht durch seinen unwahrscheinlich wirkenden Balanceakt einen nahe stehenden Betrachter zu erschlagen, eine Wirkung, die sich durch die Platzierung der Skulptur mitten in dem schwindelerregend hohen Atrium noch verstärkt. Claude Monets Wasserlilien-Triptychon wirkt durch sein extremes Panoramaformat und seine diffusen, zwischen Oberflächlichkeit der Leinwand und Tiefensog des Dargestellten oszillierenden Raumrelationen; wobei sich die im Bild angelegte Ungreifbarkeit des dargestellten Raumes und die aus ihr erwachsene Verunsicherung des Betrachters auch hier durch seine Platzierung an einer 10
So heißt es in der hauseigenen Veröffentlichung zum Umbau: „While MoMA’s own history has been colored with the assumption that architectural expression and the proper environment for looking at art were mutually exclusive, Taniguchi has demonstrated that the two can be intertwined, specifically when the former is designed in such a way as to offer a subtle but rich series of sensory experiences that heightens awareness.” Riley 2004, 53.
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der beiden tragenden Wände dieses sonst sehr offenen Raumes verstärkt. Und der grüne Bell-47D1 Hubschrauber wurde in der räumlichen Enge des Treppenaufgangs zum Atrium so „eingeklemmt“, dass seine Flügel bei einer tatsächlichen Rotationsbewegung des Propellers nicht genügend Platz finden würden und man sich, wenn man unter ihm hindurchgeht, unweigerlich fragt, ob er wohl herunter fallen könnte. In der gesteigerten körperlichen Involvierung der Besucher, auf die man beim MoMA-Umbau gesetzt hat, werden die Museumsräume zugänglicher. Sie scheinen ihren Besuchern den Eindruck vermitteln zu wollen, man müsse für die Wertschätzung der hier ausgestellten Kunst vor allem sinnlich aufgeschlossen, aber nicht unbedingt in einer intellektuellen Weise vorgebildet sein. Gleichzeitig sind jedoch mit einem Eintrittspreis von 20$ die Kosten für einen Besuch dieser Räume so sehr gestiegen, dass sich dieses Entgelt im Prinzip nur lohnt, wenn man sich möglichst lange in ihnen aufhält. Um diesen Aufenthalt nun besonders abwechslungsreich zu gestalten, ist das Museum nicht nur mit einem opulenten Shop im Erdgeschoss, einem weiteren Buchladen im ersten Stock und zahlreichen kleineren Verkaufsständen zwischen den unterschiedlichen Ausstellungssektionen ausgestattet worden, sodass sich Kunstbetrachtung und Souvenir-Einkauf miteinander vermischen. Zudem befinden sich in besonders attraktiven Gebäudelagen drei Restaurants, die an renommierte New Yorker Gastronomiebetriebe verpachtet wurden und in denen man zwischen seinem Besuch der Paintingsand Sculpture Gallery mit den großen Meisterwerken der klassischen Moderne im dritten und vierten Stock und der Designausstellung in dem Stockwerk darüber ein mehrgängiges Menü zu sich nehmen kann. In diesem affirmativen Aufgreifen von Gestaltungsmustern kommerzieller Erlebnisarchitektur manifestiert sich ein markanter Einschnitt in die heterotopische Funktionalität der Institution des Museums, die sich bisher idealerweise in einem sicheren Außerhalb zur ökonomischen Rationalität anderer Gesellschaftsbereiche platziert hat. Es liegt auf der Hand, wie sehr das zunehmende Maß an kommerzieller Durchdringung, mit dem wir es heute zu tun haben, den Museumsbetrieb konzeptionell herauszufordern vermag. Und doch muss diese Entwicklung nicht zwangsläufig das Ende einer kritischen Kunstbetrachtung bedeuten; jedenfalls nicht, solange man sich der Aufgabe stellt, diese Kritikfähigkeit den aktuellen Kulturbedingungen innerhalb und außerhalb des Museums anzupassen und mit dem Erfahrungsspektrum körperlicher Unmittelbarkeit in Einklang zu bringen, das in der gegenwärtigen Gestaltung unserer Lebenswelten so intensiv bedient wird. Das neue MoMA verhält
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sich angesichts der Vermittlung dieses kritischen Umgangs mit dieser Art von ästhetischer Erfahrung allerdings bestenfalls ambivalent, weil es seinem Publikum die in seiner Architektur wirksame Spannung zwischen affektiver Wahrnehmungssensibilisierung und somatischer Vereinnahmung bzw. Manipulation nicht transparent macht. Diese Tendenz aufzuzeigen und dem neuen MoMA als konzeptionelle Schwäche auszulegen, soll jedoch keineswegs als ein pauschales Ablehnen der erlebnishaften Dimension der umgebauten Räume verstanden werden – auch wenn diese neue Ausrichtung zu einem substanziellen Teil aus dem Diktum einer wachsenden Kommerzialität heraus geboren ist und das Kunstmuseum aktuell in eine Funktionalität treibt, die sich durch ein rapide schwindendes Maß an Autonomie auszeichnet.11 Vielmehr möchte ich (mit dieser Situation im Blick) für eine umgekehrte Haltung plädieren: denn wenn ästhetische Erfahrung in unserer zeitgenössischen Kultur mehr denn je in kommerzielle Gebrauchszusammenhänge eingebunden ist, dann täte eine umfassende Sensibilisierung gegenüber diesen Erfahrungsangeboten gut daran, all diese Verstrickungen mit zu thematisieren; eine Haltung, die in nächster Konsequenz zu der Frage führen muss, wie sich das kritische Potential einer Ästhetik körperlicher Unmittelbarkeit freilegen lässt, mit der wir es hier zu tun haben – zumal dies aufgrund der speziellen Gratifikationsmuster dieser Ästhetik nur sehr bedingt auf dem Weg der intellektuellen Distanzierung geschehen kann. Welche Möglichkeiten einer kritischen Sensibilisierung im Umgang mit entsprechenden Wahrnehmungsangeboten lassen sich vor dem Hintergrund dieser Untersuchung ausmachen? Eine (vielleicht ein Stück weit ketzerische) Antwort auf diese Frage könnte lauten: Um die Ansprachestrategien eines heterotopischen Raumes wie dem neuen MoMA zu begreifen, hilft es, in Las Vegas gewesen zu sein. In dieser Bezogenheit der beiden Raumsituationen aufeinander, die ihren jeweiligen Raumerleben angelt, ist auch weiterhin von Las Vegas zu lernen. Denn in unserer zeitgenössischen Kultur gibt es nicht einen privilegierten Ort der Sensibilisierung, der uns einen kritischen Umgang mit den zunehmend ästhetisierten 11
Problematisch erscheint mir dagegen vielmehr die Tendenz einer Reduzierung der Auswahl an Exponaten, die eine sehr komprimierte und an den bekannten Meisterwerken ausgerichtete Geschichte der modernen Kunstentwicklung suggeriert. Ironischerweise hat der Umbau des Museums offenbar nicht dazu geführt, so viel neuen Raum bereitzustellen, dass sich diese Geschichte in einer programmatischen Breite und Komplexität erzählen ließe, sondern vielmehr in eine ›Best of Modern Art‹-Logik mündet, die einem breiten Publikum offenbar zugänglicher ist. Eine kritische Betrachtung der neuen Ausstellungskonzeption des MoMA findet sich bei Saltz 2004.
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Lebenswelten eröffnet, die heute unsere Realität bestimmen. Vielmehr erschließt sich eine kritische Haltung angesichts dieser Realität einer zunehmend ästhetisch verdichteten Räumlichkeit allein in einem fortwährenden Perspektivwechsel, in dem Erfahrungen aus den unterschiedlichsten medialen, räumlichen und funktionalen Kontexten über die Dimension des von ihnen vermittelten sinnlichen Erlebens miteinander kurzgeschlossen werden. Diese Art der kritischen Sensibilisierung begründet sich dabei gerade nicht in der Position eines kritischen Außerhalb oder in einem Ort vermeintlicher Handlungsentlastung, sondern in einem bewussten und doch affirmativen Eintauchen in entsprechende Wahrnehmungsangebote, in dem das Spektrum sinnlicher Erfahrung erweitert und vertieft werden kann. Die Erfahrungen, die ich in Las Vegas mache, sensibilisieren mich für die Erfahrungen, die ich im MoMA mache, und umgekehrt. In der kritischen Perspektivisierung, die auf diese Weise entsteht, stellt sich die relative Distanz zu dem einen Wahrnehmungsangebot immer aus der Position der Nähe zu dem anderen her.
Der bewegte Betrachter: Immersion und Kritikvermögen W.J.T. Mitchell hat mit seinem jüngsten Buch die Frage gestellt, was Bilder wollen (und nicht, was sie bedeuten oder tun), und diese Frage lässt sich (in einer losen Übertragung) auch auf Räume beziehen – denn ebenso wie Bilder wollen auch Räume wahrgenommen werden. Warum ist das Wollen mancher Räume eindringlicher und direkter als das anderer? Welche Ansprüche stellen sie dabei an uns, und wie verhalten wir uns zu diesen Ansprüchen? In meinem Buch habe ich diese Fragen mit Michel Foucaults Heterotopiekonzept kurzgeschlossen, und auch die Räume, von denen bisher die Rede war, weisen allesamt eine dem Realraum des Alltags entrückte, heterotopische Qualität auf (vgl. Foucault 1993, 37-39). Aber wie ist Foucaults Konzept zu überdenken, wenn sich die heterotopische Funktion dieser „Gegenplatzierungen“ nicht mehr vorrangig über ihre geographische Verortung oder ihre Architektur herstellt, sondern auch und notwendig über das Moment ihrer Wahrnehmung und seinem affektiven Echo? Wenn Räume konstitutiv als Produkt einer Raumwahrnehmung gefasst werden, dann wird auch heterotopischer Raum zum instabilen und dynamischen Ergebnis einer entsprechenden und entsprechend gestimmten Wahrnehmung. Welche Wünsche und Vorstellungen materialisieren sich in diesen „ande-
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ren Wahrnehmungsräumen“? Welche Impulse geben sie der gesellschaftlichen Ordnung, die sie hervorgebracht hat, und dem sozialen, ökonomischen und kulturellen Handeln, das diese reguliert? Ich möchte diese Fragen hier nicht erst auf heterotopische Raumwahrnehmung im Allgemeinen beziehen, sondern gleich auf immersive Räume: Was ist ihr besonderer Reiz? Ich denke, dieser Reiz hat auf die eine oder andere Weise damit zu tun, dass sie einem das Gefühl verschaffen, an einen anderen, fremden, aufregenderen, besseren Ort zu sein, oder genauer gesagt: sich an diesen Ort zu transportieren und sich von ihm umschließen zu lassen. Dieses Entrückungsgefühl teilen immersive Räume mit Fiktion in Allgemeinen, aber sie reichern es mit einem Gefühl verstärkter Körperlichkeit und Gegenwart an, das keine andere fiktionale Form in diesem Maß erreicht. Und damit intensivieren sie nicht nur für einen Moment lang unser Lebensgefühl, sondern sie erwirken auch ein Moment der Selbstversicherung. Wenn man sich nun den Modus dieser Intensivierung genauer anschaut, dann zeigt er sich als eine paradoxe Mischung aus Erlebnishunger und Sicherheit, dem Hunger nach Gefühl bei dessen gleichzeitiger Dosierung. Immersionserfahrung verspricht nicht nur, diese widersprüchlichen Bedürfnisse zu stillen, sondern auch sie miteinander zu versöhnen. Doch selbst wenn es stimmt, dass die heterotopischen Räume unserer Gegenwartskultur zunehmend auf ein strategisches Verwischen der Grenze zwischen Bildraum und Realraum setzen (und vieles spricht in meinen Augen dafür), dann muss damit dennoch kein Verlust des Realen einhergehen oder einer Realität Vorschub geleistet sein, in der soziales und kulturelles Handeln mehr und mehr in eine Matrix des Konsums eingespeist werden. Um aber dem Realen auf der Spur zu bleiben, kann es heute weniger denn je genügen, sich auf eine Kritikfähigkeit kühler Distanz zu verlassen. In dieser Haltung würden uns zu viele Räume verschlossen bleiben, die längst einen so bedeutenden Teil unserer Lebenswelt ausmachen. Es gilt, mit anderen Worten, unsere zeitgenössische Realität in diesen Räumen freizulegen, nicht außerhalb von ihnen. Die konsequente Verweigerung der Immersionsästhetik gegenüber Positionen kritischer Distanz muss dabei keine grundsätzliche Absage an unsere Kritikfähigkeit bedeuten. Was sie allerdings fordert, ist deren konsequente Neuverortung in einer Betrachterposition des Bewegtseins. Wenn die Eintauchbewegung des Pendelschlags, den dieses ästhetische Bewegtsein vollzieht, als Immersion zu fassen ist, dann lässt sich das Auftauchen als eine Bewegung in die Abstraktion beschreiben. Abstraktion wäre dann so etwas wie der Verstehensmodus ästhetischen Erlebens und Immersion dessen affektiver Motor. Gemeinsam spannen sie das Erfahrungsspektrum
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auf, das im Einlassen auf ein entsprechendes Wahrnehmungsangebot durchlaufen wird. Kritikfähigkeit ließe sich da herstellen, wo es gelänge, die Kippe zwischen diesen beiden Bewegungen erfahrbar zu machen. Die Frage, mit der ich an dieser Stelle enden möchte, ist für mich eine wirklich offene. Anders als z.B. Gernot Böhme bin ich davon überzeugt, dass Kunstmuseen nicht mehr als andere Orte dazu taugen, eine solche Kritikfähigkeit der relativen Distanz bzw. des affektiven Inmitten auszubilden. Aber wie steht es mit der Kunstbetrachtung? Kann es ihr gelingen, mit immersiven Wahrnehmungsangeboten zu spielen und diese transparent zu machen, ohne sie didaktisch zu zerlegen und dabei abzutöten? Worauf ich mit diesen Fragen hinaus möchte, werde ich kurz an zwei Beispielen durchspielen. Gregor Schneiders Rauminstallation „Die Familie Schneider – At Home“ wurde im Herbst 2004 im Rahmen der Londoner Frieze Messe gezeigt. 12 In einem sehr gewöhnlichen Reihenhausviertel hatte er zwei identisch anmutende Häuser umgebaut, in denen sich die Besucher allein und für die Dauer von jeweils zehn Minuten aufhalten sollen. Durch den Haupteingang gelangte man in einen stickigen und schäbigen Flur, im angrenzenden Wohnzimmer ein Aschenbecher mit vier ausgedrückte Zigarettenkippen, aus der Küche ertönte das Klappern von Geschirr, eine kleine, leicht gebückte Frau mit langen braunen Haaren, mit dem Rücken zum Betrachter, spülte Teller. Von hier aus ging es in den Keller, vorbei an Lachen auf dem Fußboden und zugeschnürten Müllsäcken an der Wand. Nur auf allen Vieren kam man weiter: zu einer extrem niedrigen, verschlossenen Kammer, in der Licht brannte. Wenig später gelangte man im ersten Stock zu einem unaufgeräumten Schlafzimmer, in dem ein Heizlüfter lief. Ein Kind saß regungslos in einer Ecke, ein schwarzer Müllsack über seinem Kopf. Ist es eine Puppe? Kaum hatte man sich mit diesem Gedanken zu beruhigen versucht, zuckte der Fuß des Kindes. Im angrenzenden Bad stöhnte ein Mann unter der Dusche. Alles fühlt sich so an, als sei man mitten in ein Verbrechen geraten. Ist es schon passiert? Passiert es noch? Doch erst im nächsten Haus wuchs das Unbehagen ins Unerträgliche, denn hier erwartete einen das exakt identische Szenario. Das Klaustrophobe an dieser Erfahrung, so denke ich, ist ihr schier unerträgliches Verzögern, den Betrachter wieder auftauchen zu lassen. Die Pendelbewegung, die immersive Erfahrung sonst durchläuft, findet zwar auch hier im Ansatz statt, und doch
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Eine Videodokumentation dieser Arbeit findet sich unter http://www. gregor-schneider.de/biography. Eine Buchpublikation unter dem Titel Die Familie Schneider ist 2006 erschienen.
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gelingt es ihr nur schwerlich, den imaginativen Sog der Räume zu perspektivieren und dadurch zu brechen. Und so wird das Erleben dieser Räume zu einem Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann. Das von Angst und Unbehagen geleitete Kollabieren der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion wird hier zum Angelpunkt ästhetischer Erfahrung, und zwar sowohl in ihrer affektiven als auch in ihrer imaginativen Dimension. Im Modus zu nahen Erlebens – räumlich, atmosphärisch und affektiv – vermittelt Schneider uns, wie dieser immersive Sog mit uns spielt. Aber er tut das zum Preis einer Erfahrung, die seinem Publikum auch ein Stück Gewalt antut. Ganz anders Katharina Grosses Rauminstallation „Shadow Box“, die im Frühjahr 2009 in der Berliner Temporären Kunsthalle zu sehen war.13 Vier unterschiedliche elliptische Skulpturen lehnten an den Längswänden, jeweils zwei einander gegenüber und so groß, dass sie fast bis unter die Drecke reichten. Bis auf die vier Ellipsen, die ein wenig an Flugzeugflügel oder Zeppeline erinnerten, war der Raum leer, und die Skulpturen waren so weitläufig verteilt, dass man sich unweigerlich von einer zur nächsten bewegen musste, um sie wirklich zu sehen. Und wenn man einer Skulptur nahe war, dann sah man mindestens eine andere aus der Ferne – und gewann auf diese Weise einen neuen Eindruck von ihr. Die offen zur Schau gestellte Konstruktion der Ellipsen lud zudem dazu ein, auch ihre Rückseiten zu betrachten, von wo aus sich durch Ausschnitte in den Skulpturen wieder neue Raum- und Bildeindrücke eröffneten. Aber nicht nur die spektakuläre Konstruktion und die immense Größe der Ellipsen hielten den Betrachter in Bewegung, sondern auch ihre unterschiedliche Gestaltung, deren Farb- und Formspiel man sich in der Annäherung hingeben, das man aber auch verstehen können wollte. Alle vier waren in kräftigen Farben gehalten, die mit einer Spraytechnik auf die Vorderseite der Ellipsen aufgetragen wurde, aber mal war die Wirkung flächiger, mal luftiger, mal ließen sich Kanten von Abdeckungen oder Spuren von während des Arbeitsprozesses aufgetragenen Materialien ausmachen. Keine von ihnen schien eine bestimmte Farbgebung zu favorisieren, zu deren Gunsten andere Farben ausgelassen wurden, und doch wirkten alle sehr unterschiedlich. Wo Gregor Schneiders Installation die Räume eng macht und affektiv überdeterminiert, ist Katharina Grosses Arbeit offen und weit, dabei aber nicht weniger klar gestimmt. Sie fordert von ihren Betrachtern,
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Eine anschauliche Dokumentation dieser Arbeit findet sich im Ausstellungskatalog Katharina Grosse – Shadowbox, erschienen 2009 im Verlag Walther König.
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selbst ihren Weg zu finden, und eröffnet dabei eine Raumerfahrung, die genau so lange andauert, wie man zwischen Hinein- und Herauszoomen umschalten mag. Der deutlichste Unterscheid der beiden Arbeiten ist natürlich, dass der immersive Sog von Schneiders Installation zu einem erheblichen Anteil narrativ produziert wurde und der von Grosses Installation rein formal. Aber auch formale Immersion kann klaustrophobisch werden, Räume verengen, Wahrnehmung überdeterminieren – man denke nur an die reizüberflutende Neonarchitektur des ‚alten‘ Las Vegas. Eben das tut Grosses Installation nicht; dennoch sie hält den Raum in einer inneren Spannung, die einen nicht nur unmittelbar in den Bann schlägt, sondern deren Sog man nachgehen und nachspüren möchte. Wo Schneider mit einer ins selbstreflexive gewendeten Mischung aus Unbehagen und Attraktion des Voyeurismus arbeitet (und mit all den Bildern in unserem Kopf, die dabei aufgerufen werden), die, wenn man sich voll auf sie einlässt, ein brutales Loch in die klaustrophobe Gegenwart seiner Räume reißt, liegt die Attraktion bei Grosses Arbeit gerade nicht in einem imaginären Dahinter, in das man qua Kunstbetrachtung gelangen soll, sondern in der (im besten Sinne) vordergründigen und unvoreingenommenen Gegenwart des Gezeigten. Mit Adjektiven wie eng und weit, offen und determiniert, etc. mag diese Gegenüberstellung eine Wertung suggerieren, die sie auf keinen Fall transportieren soll. Ich verwende diese Vokabeln, um Wirkungen beschreiben, die höchst unterschiedlichen künstlerischen Strategien geschuldet sind; Wirkungen, die auf unterschiedliche Weise eine Auseinandersetzung mit den Mechanismen immersiver Wahrnehmung einfordern. Und so verschieden sie dabei auch vorgehen, der Angelpunkt dieser Auseinandersetzung ist dabei in beiden Fälle eben jenes Kippmoment zwischen Eintauchen und Auftauchen, von dem die Immersionserfahrung in elementarer Weise lebt. Diese beiden Arbeiten demonstrieren zudem (und besonders eindrücklich in ihrer Gegenüberstellung), wie sehr die Herausbildung einer kritischen Haltung gegenüber immersiven Räumen davon abhängt, ob sie ein doppeltes Wahrnehmungsangebot machen: eines, in dem das Pendeln zwischen Eintauchen und Auftauchen zu erleben und der Moment des Kippens (oder dessen Verzögerung) reflexiv zu begreifen ist. Vielleicht kann die Kunstbetrachtung diese Dopplung tatsächlich auf besondere Weise produzieren und transparent machen. Damit wäre einiges gewonnen. Denn nur so kann der phantastische Sog immersiver Verführungskunst, mit dem wir es heute so häufig zu tun haben, wenigstens ein Stück weit navigierbar werden.
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Abb. 9 und 10: Katharina Grosse, „Shadow Box“
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Dass dem Raum in einem kritischen Verständnis eine gewisse Unbestimmtheit eignet, da er, im Gegensatz zu Newtons und Kants Annahme, nicht als dreidimensional-homogener Kontainer vorgegeben, sondern als sich in Zeit je anders konstituierende Größe gedacht wird, dürfte dank der regen Raumdiskussionen der letzten Jahre ausgemacht sein. Wir haben uns daran gewöhnt, von Verräumlichungen zu sprechen und das Räumliche als nicht-substantiellen, heterogenen Relationsraum mit Leibniz, Cassirer und Deleuze zu denken, der sich aus der Besetzung von Orten und aus deren Verknüpfung als bewegliche und veränderliche Prozessualität ergibt. Es ist kein Zufall, dass seine naturwissenschaftliche und kulturtheoretische Neubestimmung um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der Geburt des Kinos und mit dessen praktischen und theoretischen Raumzeittransformationen zusammenfällt. Die zeitbasierten Bildmedien haben sich als die entscheidenden Raumzeittransformatoren der Moderne erwiesen, insofern sie dank ihrer spezifischen Zeitigungsstrategien, aber auch gewisser ikonischer Bildtypen, die zur Selbstausstellung des Bildes tendieren, unbestimmte Affekträume generieren. Insofern werden unbestimmte Affekträume von den Bewegtbildmedien auf unterschiedliche und mehr oder weniger radikale Weise generiert: Bereits die Tatsache, dass sich die abgebildete Räumlichkeit mit dem Ablauf der Bilder transformiert und ihre gewohnte Kontainerform einbüßt, trägt zum Entstehen von affektiv aufgeladenen Räumen bei; vor allem aber entscheiden die Einstellungsgrößen, Kadrierungen und die Bild-Ton-Montagen darüber, inwiefern die herkömmliche Raumwahrnehmung unterlaufen und durch Verräumlichungsstrategien mit affektiven Valeurs ersetzt wird. So übernehmen etwa Nahaufnahmen, die sich der per-
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spektivischen Tiefenansicht und der Abbildung von Handlungsabläufen verwehren, die Funktion der Selbstaufladung des Films und der Affizierung des Zuschauers. Heterogene Bild-Ton-Montagen arbeiten ebenso wie dezentrierte Kadrierungen fragmentierten und unbestimmten Raumbildern zu. In der Gegenwart ist es vor allem die Videokunst, die den affektiven Charakter von Räumen befragt und ins Unbestimmte und Uneindeutige dekonstruiert. Diese Hervorbringung unbestimmter Affekträume in Film und neuerdings Videokunst soll hier Thema sein.
Unbestimmte Affekträume in der Filmtheorie 1908 formuliert der Mathematiker Hermann Minkowski auf der Basis von Einsteins Relativitätstheorie die Erkenntnis von der „Vierdimensionalität der Welt“: „Von Stund an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren“ (Minkowski 1976, 582). Der mit Zeit verschwisterte und sich der gewohnten Überschaubarkeit einer Schachtelvorstellung entziehende Raum fordert die Kunst seit der Wende zum 20. Jahrhundert zu fortgesetzten Raumneuschöpfungen heraus, wie sie sich in Kubismus, Futurismus und anderen Avantgardeströmungen spiegeln und heute mehr denn je in häufig skulpturalen Installationen zu spacigen Themen anzutreffen sind. Die jüngste Raumplastik von Hague Yang bei der Biennale von Venedig 2009 verleiht mit ihren raumteilenden und -gestaltenden Jalousien dem koreanischen Pavillon schon entsprechend dem Wortsinn des Materials, Jalousie, eine affektive Aufladung zwischen eifersüchtiger Beobachtungsbrechung und farbintensivem Wohlgefühl. Eine jüngst vergangene Ausstellung im Harburger Kunstverein verweist bereits auf die Wiederkehr des Raumthemas in ihrem Titel „space revised“, bietet aber nur eine einzelne Monumentalskulptur als Wahrnehmungs- und Reflexionsgegenstand. Eine vierdimensionale Welt ins Sichtbare zu rücken ist den zeitbasierten Medien von Film und Videokunst vorbehalten, die denn auch bis heute mit Raumzeitvariationen experimentieren. In der Filmtheorie wird die Raumfrage früh thematisiert, zunächst unter dem Blickwinkel der veränderten Raumwahrnehmung des Zuschauers im Kino, ausgelöst durch die neuen technischen Möglichkeiten des Films. Als einer der ersten erörtert der ungarische Filmtheoretiker Bela Balazs in Der Geist des Films von 1930 (Balazs 2001) die insbesondere von der Großaufnahme herbeigeführten filmischen Raummodifikationen. Die Großaufnah-
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men würden erlauben, „den Menschen näher zu kommen“ und sogar diese „aus dem Raum überhaupt heraus und in eine ganz andere Dimension“ (Balazs 2001, 16) hinein zu führen – eine Aussage, die deutlich werden lässt, dass Balazs noch auf die Kontainervorstellung referiert. Die Eröffnung neuer Raumdimensionen und veränderter „Raumgefühle“ schreibt er den filmspezifischen Verfahren der Kamerabewegung und Montage zu: Überblendungen etwa, die Raumwechsel ohne Perspektivenwechsel bieten, brächten reine Vorstellungen und Phantasiebilder hervor. Andererseits führe die Kamerabewegung durch reale Räume hindurch und lasse Raum „wirklich erleben. Den Raum, der nicht zur Perspektive geworden ist, nicht zum Bild, das wir von außen betrachten“(Balazs 2001, 59f.). Diesen Raum erlebe der Zuschauer als psychische Realität: „Wir durchschreiten mit ihr (der Kamera) den Raum und fühlen ihn“ (Balazs 2001, 60). Für Balazs wie später für Christian Metz 1 entstehen dank ihrer Erschließung in Zeit qualitativ andere Räume. Räume, die nicht visuell erfassbar, sondern fühlend und taktil erfahrbar sind. Zeitgleich mit Balazs’ Schrift gelangt Siegfried Kracauer in seinem Feuilleton „Über Arbeitsnachweise“ von 1930 zu einem eher soziologisch ausgerichteten Raumbefund: Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar (Kracauer 1992, 32).
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Kracauers Suche nach unbewusst-affektiven Raumbildern motiviert nicht zuletzt seine Zuwendung zum filmischen Medium, wie seine Studie From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film von 1947 zeigt, in der er die psychischen Dispositionen der Gesellschaft der Weimarer Republik retrospektiv aus ihren filmischen Raumbildern erschließt. Raumbilder sind für ihn 1
Vgl. Metz, 1972, 24-50. Entsprechend seiner frühen strukturalistischen Suche nach einem dem linguistischen gleichzusetzenden binären Filmcode weist Metz dem Räumlichen die Seite des signifié, dem Zeitlichen die des signifiant zu und unterscheidet filmische Erzählweisen im Hinblick auf ihre unterschiedliche Kombination der beiden Seiten. So nennt er die Narration „ein in der Zeit ablaufendes signifié“, während in der Deskription „die zeitliche Reihenfolge der signifiants aufhört, auf zeitliche Relationen zwischen den entsprechenden signifiés zu verweisen und zwischen den signifiés nur räumliche Korrelationen herstellt“ (S. 28).
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zwangsläufig unbestimmte, numinose Größen, die von affektiven und unbewussten Ortsbesetzungen erzählen, unreflektierte soziale Raumannahmen zur Ansicht bringen und „in“ dem von ihnen Dargestellten Ungesehenes und Ungedachtes mitartikulieren. Der französische Filmtheoriker André Bazin fordert in seinem gegenüber Kracauer zugespitzten Realismusverständnis der 50er Jahre, dass Filmbilder die raumzeitlichen Kontinua von Vorgängen, die vielfältigen und gegenläufigen Bewegungen des Lebens und dessen wesentliche „Ambiguität“ einzufangen hätten. Der Film habe durch filmische „Einräumungen“, um mit Heidegger zu sprechen, wie in den Filmen Erich von Stoheims, Jean Renoirs und Orson Welles‘, durch lange Plansequenzen mit bewegter Kamera, durch Schärfentiefe, tiefenräumliche Inszenierung und eine Wiedergabe des Dargestellten als Ausschnitt aus einem über den Bildrahmen hinausreichenden, realen Kontinuum der Dauer und Verbundenheit der Vorkommnisse zu entsprechen. Auch Deleuze schätzt am filmischen Medium dessen Potenz, dem vielfältigen Werden des Lebens gerecht zu werden, allerdings nicht ausschließlich in der Weise der fotografischen Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit. Mit Bazin teilt er zwar die Annahme, dass filmische Bilder erst dadurch möglich werden, dass es vorgängig zu ihnen Bilder im Außerhalb oder, wie er sagt, „Augen in den Dingen“ gibt, die verlocken und ködern und die Blickreflexion wachrufen. Da diese dinghaften Augen aber gerade keine anthropomorphen Blicke aus menschlicher Perspektive aussenden, verlangt er vom Film, den Raum nicht aus der angenommenen Normalwahrnehmung wiederzugeben, sondern „in“ dem, was an Bildern und Tönen begegnet, das dem menschlichen Auge sich Entziehende, Nicht-Gesehene und eben deswegen Bedenkenswerte freizulegen. Mit dem Filmischen verbindet sich für ihn, durchaus in Nähe zu Kracauer und Benjamin, die Forderung nach mikroskopischer Durchdringung der Realitätswiedergaben auf etwas „in“ ihnen hin – auch auf neue Raumzeitdimensionierungen, die mit der Heraufkunft von Künftigem verschwistert sind. Der Film soll als Lupe und als anderes Objektiv dienen, um unterschlagene und unterbelichtete Momente der äußeren Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen. Kraft seines Verflüssigungsverfahrens soll er das Veränderliche und Vergängliche des scheinbar Unbewegten unterstreichen und neue Zeitdimensionen kreieren. In seiner zeichenorientierten Perspektive bindet Deleuze die Erörterung des Räumlichen nicht an die Zuschauerwahrnehmung, sondern an die filmische Selbstgestaltung in Zeit, der er die Potenz zu Selbstvervielfältigung und Differenzgenerierung zuerkennt. Daher folgt für ihn das Filmräumliche nicht aus dem Einzelbild
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wie für den französischen Filmtheoretiker Jean Mitry, der in seiner Esthétique et psychologie du cinéma (1990) (Mitry 1990) das Einzelbild zum Grundelement des filmischen Ausdrucks und zur Darstellung einer gewissen Ausdehnung erklärt (Mitry 1990, 85). Schon weil Deleuze das Wesen des Films nicht in einer Abbild- und Repräsentationsfunktion erblickt, lässt er den Raum nicht im Einzelbild verortet sein. Die Möglichkeit singulärer Raumzeitentfaltung folgt für ihn aus der philosophischen Annahme, dass die Welt unendliche Virtualität von Bewegung, Zeit und Bildern ist. Diese reflektieren sich, wie er in Nähe zu Bergson sagt, zunächst unbegrenzt wechselseitig, ohne Zentrierung auf ein einzelnes wahrnehmendes Auge; diese wechselseitige Reflexion wird erst unterbrochen, wenn sich eine lichtundurchlässige Platte wie die Filmkamera zwischen sie schiebt, sie zurückwirft, reflektiert. Diese bildlichen Reflexionen konstituieren, je mehr sie in ihrer Optik vom menschlichen Blickwinkel abweichen, umso unbestimmtere Raumzeiten, die Deleuze als „beliebigen Raum“, „espace quelconque“, wiedergibt. Er zeichnet damit Bildgebungsverfahren aus, die sich der Reproduktion einer common-sense-Raumwahrnehmung entziehen und neue, nicht einfach zu erfassende Raumzeiten generieren. Wie mir scheint, ist dieses Verfahren besser durch den Begriff des „unbestimmten Raums“ wiederzugeben, den ich daher anstelle von Deleuzes Begriff verwende, da er den Beigeschmack des Beliebigen und Negativen vermeiden hilft, aber auch seine notwendige Bestimmung mitanklingen lässt. In seiner ersten Filmstudie Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (Deleuze 1997a) leitet Deleuze das Spezifische des Bewegungsbilds aus der Annahme her, dass sich die filmische Bewegung nicht aus der Aneinanderreihung von Fotografien und deren projektiver Ingangsetzung ergibt. Für ihn ist vielmehr jede Bewegung bereits in der einzelnen Fotografie, in ihrem „beweglichen Schnitt“ virtuell gefasst, weshalb sie beim Filmtransport herausgelöst, aktualisiert, als gefrorene Bewegung wiedererweckt werden kann. Das Bewegungs-Bild bringt die filmvorgängige Bild- und Bewegungsgegebenheit erneut zum Leben und reproduziert dank seiner technischen Anordnung den Eindruck von Kontinuität. Insofern teilt Deleuze mit Bazin die Auffassung, dass dem Bewegungsbild die Wiederholung filmunabhängiger Raumzeiten gelingt. Allerdings sieht er die von ihm geschätzten „beliebigen Räume“ gerade dort entstehen, wo die Wiedergabe äußerer Raumkontinua und aufwendiger Bewegungsabläufe durch filmspezifische Einstellungen und anders montierte Raumzeitformationen durchbrochen wird. Der Begriff des beliebigen Raums dient ihm gerade zur Bezeichnung von singulären filmischen Raumzeiten, die er zusammenfassend so charakterisiert: „Ein beliebiger
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Raum ist keine abstrakte Universalie jenseits von Zeit und Raum. Er ist ein einzelner, einzigartiger Raum, der nur die Homogenität eingebüßt hat, das heißt das Prinzip seiner metrischen Verhältnisse oder des Zusammenhalts seiner Teile, so dass eine unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird“ (Deleuze 1997a, 153). Seine Bestimmung beliebiger oder unbestimmter Räume setzt – in Nähe zu Balazs – im Zusammenhang mit der Erörterung von Großaufnahmen und dem ein, was er „Affektbilder“ nennt. Durch die technisch ermöglichte Produktion und Präsentation von Bildern, die die menschliche Wahrnehmung übersteigen oder unterlaufen, sieht er neue Raumrelationen mit neuen Qualitäten aufkommen, die den Fluss der filmischen Bewegung vorübergehend zum Innehalten bringen und dem Film eine vertikale Intensitätsdimension verleihen: Obwohl die Großaufnahme das Gesicht (...) von jeder RaumZeit-Koordinate ablöst, kann sie einen ihr eigenen Zeit-Raum einbringen (...) Einmal ist es der Tiefenraum des Bildfeldes, der der Großaufnahme einen Hintergrund verleiht, ein andermal ist es im Gegenteil die Negation der Perspektive und der Bildtiefe, die die Halbnaheinstellung einer Großaufnahme angleicht. (Deleuze 1997a, 151f.) Dank des Einsatzes von Großaufnahmen und deren „Vergesichtlichungsstrategie“ entstehen ungewohnt flächige Räume und unübliche Kombinationen von Vorder- und gegebenenfalls Hintergrund, Räume ohne „Maßverhältnisse“, wie sie Deleuze insbesondere in Dreyers Film La passion de Jeanne d’Arc entstehen sieht. Aufgrund der ungewohnten Nähe der Kamera erhalten diese Räume „taktile Wertigkeit“ und bringen unbekannte Qualitäten und Affekte zum Ausdruck, die auch aus der Vergrößerung des Gesichtsbildes und seiner amenschlichen Dimension resultieren. Affektive Aufladungen des Filmbildes sieht er gerade nach Maßgabe dessen sich einstellen, wie es seinen anthropomorphen Zuschnitt und seine bildliche Konventionalität hinter sich lässt, sich nahsichtig immanent vervielfältigt oder sich in projektiver Aufblähung hin zu einem unpersönlichen Ausdruck entstellt. Beliebige Räume mit affektiven Wertigkeiten entdeckt Deleuze nicht nur in Vergesichtlichungsverfahren, sondern auch in gleichsam umgekehrten Verfahren der Entgesichtlichung wie etwa in den Filmen von Robert Bresson. Dessen Strategie der „Entthronung“ des Gesichts in unüblichen Kadrierungen und Montagefolgen, seine Art, die Protagonisten an den Bildrand zu rücken, ihre Körper anzuschneiden und in unbestimmte Off-Räume zu verlängern, mithin das Bewegungs-Bild einem „Gesetz der Fragmen-
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tierung“ (Deleuze 1997a, S. 152) zu unterwerfen, brächten ebenfalls beliebige Räume hervor. In Erweiterung dieser Ausgangsbeispiele unterscheidet er innerhalb der Bewegungsbilder vielfältige Varianten beliebiger Filmräume, schon weil er davon ausgeht, dass nicht nur die Großaufnahme Ungesehenes zur Ansicht bringt, sondern im Prinzip jede Kadrierung Heterogenes und Unbeabsichtigtes umschließt und sich damit immer auch „dekadriert“ (Deleuze 1997a, 30). Die jeder Kadrierung innewohnende Vielfalt führe in der Entfaltung des Films notgedrungen zu einer „Deterritorialisierung des Bildes“ (Deleuze 1997a, 30) und zu einem Beliebig-Werden des filmischen Raums. So verleihe der deutsche expressionistische Film wie etwa Murnaus Nosferatu durch seinen Einsatz von Licht und Schatten und deren „Hell-Dunkel-Werte“ dem Räumlichen intensive Qualitäten und lasse ihn zu etwas „Unbegrenztem“ (Deleuze 1997a, 155) werden. In den Filmen von Sternberg wie Die blonde Venus verliere das Räumliche dagegen durch „poetische Abstraktion“ seine herkömmliche Begrenzung und werde „mit der Macht des Geistes, mit einer stets zu erneuernden geistigen Entscheidung identisch“ (Deleuze 1997a, 163). Diesen geistigen Räumen spricht er wie den Großaufnahmen Ereignisqualität zu, da sie sich nicht aus Vorbildern herleiten lassen, da sie keine Abbildfunktion erfüllen, sondern eine bislang ungesehene Raumzeitlichkeit offenbaren. Und sogar in Dokumentarfilmen oder quasi-dokumentarischen Arbeiten entdeckt er unbestimmte Affekträume – als aktuelle Beispiele dafür ließen sich die konzeptuellen Filme von James Benning anführen. Benning beobachtet mit unbewegter Kamera und unveränderter Einstellung Wolkenformationen an verschiedenen Himmeln in Ten Skies (2004) oder verschiedene Seen in 13 Lakes (2004). Während er jeden der Himmel und Seen in einer zehnminütigen Einstellung wiedergibt, teilen sich die minimalen Affekte der jeweiligen Wolken- und Wasserbewegungen und ihre unscheinbaren Lichtveränderungen mit. Nicht nur im Bewegungsbild freilich sieht Deleuze unbestimmte Affekträume generiert, sondern viel mehr noch im „Zeit-Bild“ (Deleuze 1997b) der Nachkriegszeit. Denn nunmehr müssten Räume, deren Kohärenz nicht zuletzt dank der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen ist, in patchworkartigen Verfahren wie in Rossellinis Paisà neu zusammengesetzt werden. Die Suche nach räumlicher Verortung oder die Frage nach der Konsistenz realer Räume höhlt die Bilder dabei tendenziell aus und lässt sie zu Verlaufsformen werden, die ihr Werden und Vergehen mitexponieren. Das neue Bild ist daher eines, das Arten der Zeitgebung praktiziert und neue Affekträume vor allem durch Zwischenraumbildung zwischen einzelnen Einstellungen und eine ganze Taktik
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der „Disparation“ entstehen lässt, wie sie insbesondere in den Filmen von Godard zu beobachten ist. Falsche Anschlüsse und assoziativ collagierte Bildfolgen, die die Linearität der Bewegungswiedergabe durchbrechen und eine Anschließbarkeit der Zeichen in unterschiedlichste Richtung suggerieren, bringen fragmentarische und zersplitterte Räume hervor. In ihrem Spiel mit dramaturgischen Wiederholungen und verfremdenden Variationen verleihen sie dem Film einen ironisch-verspielten Affekt. Auch die sich voneinander lösenden akustischen und optischen Zeichenserien tragen zum Vieldeutigwerden der filmischen Raumzeitlichkeit bei. Farbgestaltungen verleihen dem Raumbild unter Umständen psychischen Ausdruckscharakter, wie jenen tiefgreifender Realitätsentfremdung und Verstörung in Antonionis Il deserto rosso. Deleuze fasst diese filmischen Affekträume schließlich als Einlösung der Riemannschen „mannigfaltigen Räume mit n-Dimensionen“ zusammen: In diesem Sinn kann man von Riemannschen Räumen bei Bresson, im Neorealismus, in der Nouvelle Vague und in der New Yorker Schule sprechen; von Quantenräumen bei Robbe-Grillet, von Wahrscheinlichkeitsräumen und topologischen Räumen bei Resnais, von kristallisierten Räumen bei Herzog und Tarkovskji (Deleuze 1997b, 172). In dieser Zusammenschau wird erkennbar, dass Deleuze den gesamten Autorenfilm bis in die 80er Jahre als Produzenten singulärer filmischer Affekträume begreift. Keine Beachtung finden bei ihm jene aus diesem Grund die filmsprachlich vereinheitlichten, nicht-selbstreflexiven Filme des Erzählkinos, die mit ihren rasch wechselnden Einstellungen, ihren schnellen Schnitten und einer auf Bilderfluss, Raumkontinuität, Ereignischronologie und diegetisches Vorwärtsdrängen bedachten Montage einen Affekt aggressiver Welterschließung kultivieren.
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Unbestimmte Affekträume in zeitgenössischen Filmen Dagegen suchen erneut bedächtige Autorenfilme wie jene der sogenannten Berliner Schule mit langsamen Erzählweisen einen Affekt erneuten Staunens und behutsamer Weltverschonung zu evozieren. Neben diesen Autorenfilmen sind es gegenwärtig vor allem künstlerische Videoarbeiten, die nach Arten der Veruneindeutigung von Realitätswiedergaben suchen und ihrerseits unbestimmte Affekträume kreieren. Im Vergleich zu den Filmexperimenten der 60er
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bis 80er Jahren warten beide Formen mit deutlich weniger konstruktiven Experimenten und formal-provokativen Verstößen auf. Als hätten sich die Verfremdungseffekte abgenutzt und als zu spektakuläre Hinweise auf den Kunstcharakter des Vorgeführten selbst obsolet gemacht, fallen im künstlerischen Film und Videofilm der Gegenwart formale Zurückhaltung und affektive Unscheinbarkeit, einhergehend mit einem vermeintlichen Anschmiegen an die Realität und einer scheinbar dokumentarischen Wiedergabe äußerer Geschehnisse, auf. Der Film Crash Site – My Never Ending Burial Plot (2010) von Constanze Ruhm, der noch in Anlehnung an die Filmexperimente von Straub/Huillet mit Verfremdungseffekten arbeitet und die Illusionsebene in Arten der Wiederholung und Variation ostentativ durchbricht, erscheint als bedeutungsschwere Metaphorik, die dem Affekt der Gegenwart nicht mehr angemessen ist. Der Zeitgeschmack scheint zu verlangen, dass die künstlerische Irritation auf Taubenfüßen daherkommt und die Fiktionalität oder Uneigentlichkeit des Gezeigten erst nach und nach enthüllt. Erst bei längerem Hinsehen soll erkennbar werden, dass es sich bei ihm um eine Nachinszenierung, ein Reenactment, eine mediale Konstruktion oder eine Persiflage handelt, die die scheinbare Realitätswiedergabe aushöhlt, unterläuft, widerlegt. Eine spielerische Nachinszenierung eines Pressefotos bietet in diesem Sinn die jüngste Videoarbeit von Jeanne Faust, die bereits im Titel Reconstructing Damon Albarn (2010) ihre Strategie verrät. Vorgeführt wird die Maskierung zweier Männer, ihr Spiel mit anderen Identitäten, aber auch der Film als maskiertes Spiel. Mehr als alles andere stellt er seinen unsicheren Mitteilungsstatus aus. Heike Baranowskys raumgreifende Installation racetrack (2010) bietet auf drei Leinwänden bewegte Ansichten der Hochebene Racetrack Playa im kalifornischen Death Valley National Park. Was wie drei gesonderte Filme aussieht, erweist sich bei längerem Hinsehen dank eingebauter Stop/Motion-Effekte als aus einzelnen Fotos zusammengesetzte Loops, die der Videoinstallation einen spezifischen pulsierenden Rhythmus verleihen. Filmische Versatzstücke von mit der Kamera umkreisten Steinen werden bald wiederholt, gespiegelt, mal vorwärts, mal rückwärts abgespielt, synkopiert, weg- und herangezoomt, sodass dank der zusätzlich unterlegten zarten Soundkulisse der Eindruck eines wohlkomponierten Musikstücks entsteht. Diese Art Videofilme erzählt von einer Ästhetik, die eher beiläufig neue Wahrnehmungsangebote erstellt und die Normalwahrnehmung verschiebt. Sie scheint aus der Not geboren, die avantgardistischen Formexperimente vermeiden zu müssen, da diese selbst zu einem künstlerischen Stereotyp geronnen sind. Zwar inszeniert
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auch sie ein Unbestimmtwerden von Räumen und von deren affektiver Valeur, aber mit deutlich unauffälligeren Mitteln. In Fausts, Baranowskys, Bennings und verwandten Arbeiten etwa Sharon Lockharts Double Tide (2010), einer ebenfalls unbewegten, quasidokumentarischen Beobachtung einer Muschelsammlerin, verrät sich eine neue, vorsichtige Sensibilität, die das Gezeigte dank unauffälliger Gestaltungsverfahren der Wiedererkennbarkeit und affektiven Festlegung entzieht. Sie führt stattdessen vor, dass die ästhetische Differenz, die in den letzten hundert Jahren mit vielfältigen Irritationsstrategien auf das Nichtevidente unserer Realitätswahrnehmung verwiesen hat, sich heute auf so minimale Abweichungen beläuft, dass das Gezeigte vordergründig deckungsgleich mit einer realistischen Wiedergabe erscheint. Die Überzeichnung, das Unwahrscheinliche im Wahrscheinlichen, das Bemerkenswerte im scheinbar Bekannten, ist nunmehr so klein geworden, dass sich die Ironie und Kritik am Gezeigten einem unbedarften Betrachter unter Umständen sogar entzieht. Umso verstörender ist die Unterwanderung, die die bekannten Räume und gewohnten Affekte hier erfahren; klammheimlich und wie nebenbei wird das Unnormale der Normalzustände, wird die dem Alltäglichen inhärente Zwanghaftigkeit, wird der kontingente Charakter des Realen decouvriert. Die häufig praktizierte Entheimlichung der Räume und Entstellung des Alltags lässt einen Affekt des Unwohlbefindens zum Ausdruck
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Abb. 1: Corinna Schmitt: Zwischen vier und sechs
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kommen, der auch die Haltung des Betrachters diesen Kunstwerken gegenüber befragt. Als exemplarisch für ein solch affektives Unbestimmtwerden von Alltagsräumlichkeit sei hier Corinna Schnitts Videoarbeit Zwischen vier und sechs (6‘) von 1997 vorgestellt: Zu einer sanft gleitenden Kamerafahrt durch eine Vorortssiedlung, vorbei an Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten und eingeparkten Autos, erzählt eine weibliche Off-Stimme aus Tochterperspektive von perfekter mütterlicher Sorge und einem perfekt organisierten Familienleben. Bei der Rückkehr aus der Schule sei das Essen immer schon fertig zubereitet und manchmal bereits aufgetischt gewesen, weshalb pünktliche Rückkehr aus der Schule angesagt gewesen sei... Auf das Mittagessen seien in schöner zeitlicher Abfolge Mittagsschlaf, Teetrinken, Hausaufgaben, Abendessen, Cellospielen und Insbettgehen gefolgt, wobei die akkurate Sorge der Mutter mehrfach unterstrichen wird. Diese Überbetonung des Wohlbestellten lässt nach und nach Zweifel aufkommen am affirmativen Charakters des Erzählten, auch weil sich die Kamera im Kreis dreht und dieselben Straßen wiederkehren lässt. Dass es sich um eine wenn auch unauffällige Persiflage des beschränkten und einfallslosen Familienlebens handelt, wird deutlich, wenn als selbstverständlich ausgegeben und vorgeführt wird, dass die Kleinfamilie von Vater, Mutter und erwachsener Tochter an jedem Sonntag Straßenschilder putzen geht. 4 bis 5 Schilder würden sie an einem Sonntagsnachmittag schaffen, abhängig von der Strecke zwischen den Schildern, der Vater habe eine Karte der zu säubernden und bereits gesäuber-
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Abb. 2: Zwischen vier und sechs
Unbestimmte Affekträume im Film
ten Schilder angelegt und diese Planung zu seiner neuen Aufgabe nach der Pensionierung gemacht. Gezeigt wird der zügige Marsch von Vater, Mutter und Tochter mit Leiter und Eimer die Straße entlang von einem Schild zum nächsten, wobei der Tochter das Abreiben des Vorfahrtsschilds vorbehalten ist... Die Off-Stimme der Tochter kommentiert, dass sie froh sei, dass sich diese Beschäftigung von ganz alleine ergeben und die Familie darin einen natürlichen Zusammenhalt gefunden habe. Von daher wolle man gar keine Nachbarn mitputzen lassen. Wie nebenbei rutscht ein Fahndungsplakat der RAF an einem Baumstamm ins Bild – in mehrfach beiläufiger Weise wird hier die Saubermannexistenz in ihrer Zwanghaftigkeit und in ihrer affektiven Dürftigkeit ob der Beschränkung auf sich selbst, auf ihren stupiden Zeitvertreib und ob ihrer selbstlegitimierenden Glorifizierung offen gelegt. Vermutlich ist es kein Zufall, dass derartige Spiele mit der Mimesis, derartige affektive Aushöhlungen von Alltagspraktiken und derartige Raumentstellungen besonders häufig von weiblichen Künstlern ins Werk gesetzt werden. Ob Jeanne Faust, Heike Baranowsky oder Corinna Schnitt: Sie suchen wie zahlreiche andere zu zeigen, dass das Schmerzhafte der heutigen Realitätserfahrung im Zwang zu Normalität und Selbstkontrolle besteht, und zwar mithilfe von künstlerischen Verfahren, die in der Anlehnung an reale Raumzeiten und in der Einführung von Minimalabweichungen deren Abnormität exponieren.
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Abb. 3: Zwischen vier und sechs
Michaela Ott
Literatur Balazs, Bela (2001): Der Geist des Films. Frankfurt/M. Suhrkamp 2001 Deleuze, Gilles (1997a): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. von Ulrike Bokelmann und Ulrich Christians. Frankfurt/M. : Suhrkamp1997 Deleuze, Gilles (1997b): Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 Kracauer, Siegfried (1992): Der verbotene Blick. Leipzig: Reclam 1992 Metz, Christian (1975): A propos de l’impression de réalité au cinéma. In: Semiologie des Films, Hg. v. Christian Neh. Übers. v. Renate Koch. München: Fink 1972, S. 24-50 Minkowski, Hermann (1908): Raum und Zeit. Zitiert in: Gosztonyi, Alexander (1976) Der Raum, Bd. 1, Freiburg/München 1976, S. 582 Mitry, Jean (1990): Esthétique et psychologie du cinéma. Paris: Edtion du Lerf. 1990
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Susanne Jaschko
Performative Architektur – Mediale Erweiterungen und Dekonstruktionen von Räumen Der folgende Text behandelt das Thema der Verschmelzung von realem, physischem Raum und virtuellem, animiertem Raum und insbesondere die damit verbundene performative Qualität von Raum, wie sie von zeitgenössischen Künstlern und Mediendesignern gedacht und umgesetzt wird. Wir leben in einer Zeit der allgegenwärtigen Computernetzwerke, der kabellosen Datenübertragung in Echtzeit und der Bildschirmflut. Diese neuen Technologien formen das Gesicht unserer alltäglichen Lebensräume, im privaten wie auch im öffentlichen Raum. Der Essayist Florian Rötzer spricht in diesem Zusammenhang vom „digitalen Urbanismus“, dessen Kennzeichen Zerstreuung, Dezentralisierung, Globalisierung, Individualisierung und Mobilität sind. (Rötzer 2009) Das Verständnis von Raum in der Netzwerkgesellschaft ist ein komplett anderes als zuvor; es generiert neue Topografien und Geografien, die nicht länger kongruent sind mit der klassischen Weltkarte und der traditionellen architektonisch-urbanen Ordnung. Paul Virilio hat sich mit diesem Phänomen eingehend beschäftigt und Folgendes festgestellt: Real time now prevails above both real space and the geosphere. The primacy of real time, of immediacy, over and above space and surface is a fait accompli and has inaugural value (ushers a new epoch). (...) The big event looming upon the 21st century in connection with this absolute speed, is the invention of
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Susanne Jaschko
a perspective of real time, that will supersede the perspective of real space, which in its turn was invented by Italian artists in the Quattrocento. It has still not been emphasized enough how profoundly the city, the politics, the war, and the economy of the medieval world were revolutionized by the invention of perspective. (...) What lies ahead is a disturbance in the perception of what reality is; it is a shock, a mental concussion. (Virilio 2001)
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Neue Technologien sind nicht nur die Auslöser und Beschleuniger dieses Paradigmenwechsels, sondern tragen auch im Design, in der Architektur und der Kunst zum Entwurf, zur Darstellung, Vermittlung und zum Erleben neuartiger Raumkonstruktionen bei. Neue Medien werden eingesetzt, um gebauten oder klassisch gedachten Raum zu dekonstruieren, also aufzulösen und gleichzeitig um performative, virtuelle Elemente zu erweitern, anzureichern und zu augmentieren. In der Folge entstehen hybride Räume, die zwischen dem Realen und Virtuellen siedeln; fluide Raumkonstruktionen aus Stein und Licht, fiktionale Räume, die das Konzept von physischer Architektur in Richtung Unendlichkeit erweitern und eine starke Sinneserfahrung ermöglichen. Die Ausstellung Open House1 wagte einen Blick in die Zukunft des Wohnens. Vor dem Hintergrund der wachsenden Technisierung unseres Alltags stellten wir Kuratoren uns die Frage, welche Technologien und welche darauf basierenden Wohnkonzepte das Potenzial besitzen, unser Leben zukünftig in positiver Weise zu verändern. Elf Architekten und Designer haben diese Frage mit ihren individuellen Entwürfen im Kontext der Ausstellung beantwortet und dabei relevante Entwicklungen gesellschaftlicher, ökonomischer und technologischer Natur berücksichtigt, die bereits heute wirken oder die sich deutlich für die Zukunft abzeichnen. Eine große Herausforderung, vor der Architekten, Designer und die Unterhaltungselektronik-Branche im 21. Jahrhundert stehen, ist die Ausbalancierung des Verhältnisses zwischen der Stimulation der Sinne durch dynamische, mediale Bespielungen und Raumsituationen einerseits und dem Sicherheits- und Wohlgefühl, das sich aufgrund der Beständigkeit der Wohnumgebung einstellt, andererseits. Im traditionellen Wohnbau des 20. Jahrhunderts bedeutete das Zuhause eine konstante und wenig veränderliche Umge1
Die Ausstellung Open House. Architecture and Technology for Intelligent Living war eine Gemeinschaftsproduktion des Vitra Design Museums und des Art Center College of Design. Sie wurde kuratiert von Jochen Eisenebrand, Gloria Gerace und Susanne Jaschko. Ihre Premiere fand in der Zeche Zollverein im August 2006 statt. Im Anschluss wanderte die Ausstellung durch mehrere internationale Museen.
Performative Architektur
bung, in die nach und nach zwar Medien wie Radio und Fernseher Einzug hielten, ohne jedoch die architektonische Grundkonzeption zu beeinflussen. Veränderungen im Wohnraum blieben auf Ummöblierung und Neudekoration beschränkt. Eine Stimulation der Sinne und des Mentalen durch Kunst und andere intensive Rezeptionsprozesse fand in erster Linie außerhalb des Heims, in der öffentlichen Sphäre, statt. Die vernetzten, digitalen Medien bieten sowohl durch ihre potenzielle Implementierung in architektonische Elemente als auch durch ihre Fähigkeit, Atmosphären zu generieren, die Möglichkeit der anhaltenden Dynamisierung des Wohnraums. Die Disziplin der Architektur im 21. Jahrhundert ist herausgefordert, diese Technologien der Stimulation nicht nur sinnvoll zu integrieren, sondern die Beziehung zwischen der räumlichen Erfahrung gebauter Form, die bislang im Vordergrund stand, und der Erfahrung medialer Welten neu zu bestimmen. Der visuellen Qualität von privater Architektur wird im Allgemeinen großer Wert beigemessen. Sowohl in der Gartenarchitektur als auch im Gestalten von – beispielsweise – sich über den Tag hinweg verändernden Lichtsituationen in Gebäuden werden dynamische Prozesse inszeniert, die ein immer wieder neues ästhetische Erleben der Umgebung ermöglichen. Zudem sind Umgebungsveränderungen wichtige zeitliche und räumliche Anhaltspunkte innerhalb psychologischer Prozesse wie dem Erinnern. Für gewöhnlich memoriert der Mensch Situationen in Kombination mit sinnlichen Reizen der Umgebung. Architekten widmen der Gestaltung von dynamischen Prozessen in der Architektur zunehmend mehr Aufmerksamkeit, indem sie Gebäude unter Einsatz neuer Technologien als zeitbasierte und performative Systeme entwickeln. Dem Klang hingegen wird in der Architektur erst nach und nach gezielt Beachtung geschenkt. Für Open House hat das Team von Architekten Joel Sanders und Karen van Lengen zusammen mit dem Mediendesigner und Künstler Ben Rubin ein Haus konzipiert, das ganz der Verknüpfung von Auditivem und Visuellem gewidmet ist. Das Haus ist mit mehreren medialen audiovisuellen Kanälen ausgestattet, die Innen- und Außenraum miteinander verbinden. Diese sind so einstellbar, dass sie entweder in den Hintergrund oder temporär ins Zentrum der Wahrnehmung treten. Es bleibt ganz den Bewohnern überlassen, wie sie das System im Alltag nutzen und auf welche externen Klangquellen sie es einstellen. In diesem Projekt geht es also um die Auflösung oder Überbrükkung von physischen Raumgrenzen und die Schaffung von ineinander übergehenden Räumen durch die mediale Erweiterung eines modernen Architekturkonzeptes zugunsten eines dynamischen und
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performativen Raumes. Ziel der Erweiterung ist hier die Schaffung von einerseits neuartigen Raumatmosphären (durch das Mixen von Klang/Bild), andererseits eine neuartige Erfahrung des Außenraumes, der klanglich und visuell in den Innenraum hineingetragen wird. Eine Theorie, die in diesem Zusammenhang herangezogen werden kann, ist die des energetisch gebildeten Raumes, die der Architekturkritiker Reyner Banham in den 1960er Jahren entwickelte. (Banham 1965) Er beobachtete, dass Licht, Wärme und Klang unabhängig von architektonischem, gebautem Raum einen energiegeladenen Raum definieren und prägen können. Als Beispiel führte er die frühzeitliche Feuerstelle und das Lagerfeuer an, die je nach Intensität und Windrichtung einen dynamischen Raum formen. Banham vertrat die Meinung, dass moderne Medien Energien bündeln, kanalisieren und intensivieren und diese Energieflüsse einen Raum bilden können, der im Gegensatz zu gebautem, strukturellen Raum dynamisch und heterogen ist. Derzeit beschäftigen sich viele zeitgenössische Künstler mit Analyse und Kritik des traditionellen Raum- und Architekturverständnisses, wie man auch an der Biennale in Venedig 2009 sehen konnte, in der sich viele Werke, die Daniel Birnbaum für die Ausstellung Making worlds ausgesucht hatte, mit dem Thema Raum und Architektur auseinander setzten. Insbesondere repräsentative Architektur, die einen hohen Symbolgehalt besitzt, bietet einen idealen Angriffspunkt für Künstler. Der US-amerikanische Künstler Mark Napier hat sich in seiner Cyclops-Serie2 mit der Frage auseinandergesetzt, wie ein virtuelles Monument aussieht: The age of objects has ended. Rock, steel and cement are the losers. This ‚virtual world‘ made of code and data challenges the notion of physical monument as a means to permanence. We enter an age in which experiences can be transmitted over wires, objects can be transmitted as information, ‚printed‘ and recycled, much as water flows through the weather cycle. Permanence is no longer associated with physical objects, but with the persistence of ideas in the collective consciousness of the networked media. Eventually permanence becomes organic and process: a function of a systems ability to regenerate itself.3
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Aus dieser Serie stellte die Autorin mehrere Arbeiten in der Ausstellung Fluid Architectures vor, die im Mai/Juni 2009 im Netherlands Media Art Institute in Amsterdam, Niederlande, stattfand. Link: http://nimk.nl/eng/ search/fluid-architectures
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Napier, Mark: About the Cyclops Series, Link zum Text auf der Website: http://www.potatoland.org/cyclops/about.html
Performative Architektur
Napiers Antwort auf die Frage „Wie sieht ein virtuelles Monument aus?“ ist eine Parodie auf die Stabilität und das Überdauern von Architektur. Napier entwirft ein bewegliches Gebäude, das sich krümmt und zurückschnellt. Seine Interpretation eines zeitgemäßen Monumentes ist ein Objekt, das sich auf dem Grad zwischen Ding und Geschehen bewegt: eine organische, variable Form, die
Abb. 1: Mark Napier: Smoke, 2007 Die Software spielt innerhalb eines vorgegebenen Rahmens mögliche Erscheinungsformen des Architekturobjektes durch. Die Bewegung des Objektes ist fließend; die Veränderung kontinuierlich.
den ambivalenten Prozess von Dekonstruktion und Konstruktion darstellt. In der zeitgenössischen urbanen Architektur selbst lässt sich das Konzept der Prozesshaftigkeit bereits erkennen, am deutlichsten derzeit durch die Integration von Bewegtbildflächen in Architektur, in Form einer Medienfassade, oder die Projektion auf Architektur, welche beide eine Bespielung von Gebäuden mit bewegtem Bild ermöglichen. In der Folge wird die Architektur in eine dynamisierte Skulptur verwandelt. Hierfür gibt es vielfältige Beispiele, seien sie temporärer Natur oder eben dauerhaft integriert. Natürlich sind derartige, performative Reinterpretationen von Raum und Architektur nicht ohne Vorgänger; es sei hier nur kurz auf Moholy Nagys Licht-Raum Modulator hingewiesen: ein Apparat
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zur Demonstration von Licht- und Bewegungserscheinungen; oder auf Nicolas Schöffers Kinetische Architekturen. So sehr solche zeitgenössischen, urbanen Interventionen frische Perspektiven auf unseren Lebensraum und die Wahrnehmung und Gestaltung von architektonischem Raum eröffnen, so sehr provozieren sie auch Fragen nach der Ausbreitung einer Eventkultur – der sukzessiven „Eventisierung“ des Lebens und unserer Lebensräume – und dem Konsum-orientierten Verlangen nach neuen Erlebnissen. Die Mediatisierung unseres Lebens hat die Möglichkeit des „permanenten Spektakels“ entstehen lassen. Das permanente Spektakel, ein Oxymoron, ist ein Kind der „Aufmerksamkeits-Gesellschaft“, in der die Generierung von Aufmerksamkeit selbst Kapital ist. 4 Auf der formalen Ebene beschäftigen sich Medienfassaden und Fassadenprojektionen mit dem architektonischen Volumen und lösen dieses auf, um eine Vorstellung von Fluidität, Dematerialisation und Prozess zu vermitteln. Sie okkupieren gebauten Raum und fügen der Architektur eine virtuelle Ebene oder ein virtuelles „Level“ zu, das unserem traditionellen Verständnis vom Baukörper und seiner visuellen Präsenz entgegenwirkt. Der Begriff des „Levels“, der aus dem Bereich des Computerspiels stammt, ist an dieser Stelle durchaus angebracht, denn mit den Computerspielen öffnete sich eine Tür zu einer virtuellen Raumvorstellung, die nicht mehr physischen oder anderen Prinzipien der Realraumes unterliegen musste. Interessanterweise haben sich daraus nur selten wirklich innovative architektonische Formen entwikkelt, jedoch visualisiert sich in ihnen die Auflösung von realräumlichen Distanzen und damit klassischer zeit-räumlicher Gefüge. Fiktionale, unmögliche Räume wurden mittels Wand- und Deckenmalerei schon in der Antike, in der Renaissance und dem Barock zur gebauten Architektur hinzugefügt. Im Wohnbau wurden häufig Trompe-l’œils verwendet, um unklare Raumzuschnitte ästhetisch zu verbessern oder auch fantasievolle Ausblicke auf arkadische Landschaften aus den Wohnräumen zu ermöglichen. Die virtuellen Welten der vernetzten Computerspiele gehen aber einen entscheidenden Schritt weiter: Hier werden fiktionale Räume gemeinsam erlebt und werden zu Orten des gemeinsamen Handelns, was die scharfe Trennung zwischen Fiktionalem und Virtuellem auflöst und unser traditionelles Verständnis von Realität in Frage stellt. Tatsächlich ist diese Grenze zwischen Virtualität und Realität eine relativ künstliche und rührt aus den frühen Tagen der
4
Der deutsche Begriff und die Theorie der „Aufmerksamkeitsgesellschaft“ leitet sich aus der Theorie der „Attention Economy“ von Michael H. Goldhaber (1997) ab.
Performative Architektur
Cyberworld. Denn die Benutzung digitaler Medien, wie dem GPSbasierten Navigationsgerät oder Google Maps, führt zu einer Raumwahrnehmung und Raumerinnerung, bei denen Realphysisches und Medial-Virtuelles ineinander greifen. Künstlerische Arbeiten wie Facsimile von Diller and Scofidio oder Paul Sermons Liberate Your Avatar können als Beispiele für dieses neue Raumverständnis angeführt werden. So besteht Facsimile am Moscone Convention Center in San Francisco aus einer mobilen Bildwand, die an der Fassade entlang fährt und Bewegtbildaufnahmen aus dem Inneren des Gebäudes zeigt. Mal sind diese Filme Aufnahmen in Echtzeit, also Abbildungen des tatsächlichen Geschehens, mal sind es aufgezeichnete, fiktionale Geschehnisse. Auch die Installation Liberate Your Avatar ist eine Arbeit im öffentlichen Raum, allerdings nicht auf einem Gebäude, sondern in einem Park Manchesters in Großbritannien. Für Urban Screens Manchester 2007 5 entstand das Projekt, das Avatare in Second Life in den realphysischen Raum des Parks versetzte und mit den sich dort befindlichen Menschen zusammentreffen ließen. Mittels einer großflächigen Projektion wurde ein Abbild des Parks, das Sermon in Second Life gebaut hatte, in den echten Park projiziert. So entstand ein doppeltes Gefüge aus virtuellem und realem Raum, in dem sich Avatare und Menschen begegnen konnten. Denn das Videobild des Geschehens im Park wurde seinerseits wiederum in den virtuellen Raum von Second Life gespiegelt. So konnten die Akteure beider Räume das Geschehen auf der gemeinsamen virtuell-realen Ebene verfolgen und sogar miteinander interagieren. Der All Saints Gardens Park ist eine historische Stätte der Stadt, an der die Suffragette Emmeline Pankhurst einst gegen die männliche Herrschaft in der Gesellschaft protestierte. In Sermons Simulation des Parks bleibt sie dauerhaft an den Zaun gekettet, um uns daran zu erinnern, dass wir unsere Rolle in der digitalen Gesellschaft bewusst gestalten sollen. Meines Erachtens stehen wir heute einem kulturellen Phänomen gegenüber, das Scott McQuire mit dem Terminus des „relational space“, des relationalen Raums, beschreibt: ...a space which has been stripped of inherent qualities, such as stable dimensions and appearances (and of course stable social meanings), but is increasingly experienced as shifting, variable and contingent. Relational space can only be defined
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Die Veranstaltung Urban Screens Manchester 2007, kuratiert von der Autorin, bestand aus einer Konferenz und einem Kunstprogramm, die der Frage nachgingen, wie öffentliche Bewegtbildflächen kulturell sinnvoll und künstlerisch genutzt werden können bzw. welche Implikationen die Verbreitung der Flächen und ihre kulturelle Nutzung besitzen.
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by the temporary position occupied by each subject in relation to numerous others, which suggests that relational space is not easily unified since every subject belongs to multiple matrices or networks that overlap and interpenetrate.6
Abb 2: Paul Sermon: Liberate your Avatar Installation in All Saints Garden, Manchester, im Rahmen von Urban Screens 07. Die Installation spiegelt den Realraum in Second Life hinein und bringt umgekehrt Second Life in den Realraum. Dadurch sind Avtare in Second Life und Besucher der Installation in der Lage miteinander zu kommunizieren.
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In der vernetzten Gesellschaft wird Raum also eher durch die Beziehungen der Objekte untereinander bestimmt, denn durch ihre tatsächliche geographische, örtliche Nähe. Folgt man diesem Denkansatz, ergeben sich völlig neue Möglichkeit für Architektur und Raumkonzeptionen, welche letztlich die – und das bleibt zu diskutieren – neuen oder unveränderten Bedürfnisse des Menschen an die konstruierte Welt erfüllen. Weniger zweifelhaft ist jedoch, dass sich grundlegende Parameter der Raumwahrnehmung und damit der Raumverständnisses durch die neuen Medien verändert haben und weiter verändern werden.
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McQuire, Scott: The politics of public space in the media city. In: First Monday, Special Issue #4: Urban Screens: Discovering the potential of outdoor screens for urban society, February 2006. Link zum Text auf der Website: http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/viewArticle/1544/1459
Performative Architektur
Literatur Offline Banham, Rayner (April 1965): „A Home Is Not A House“. In: Art in America, Nr.2 Rötzer, Florian (2009): „Digitaler Urbanismus: Von der Überwachung zur Überbelichtung der Stadt“. In: Stefan Selke / Ullrich Dittler (Hg.: Postmediale Wirklichkeiten. Wie Zukunftsmedien die Gesellschaft verändern. Hannover: Heise Zeitschriften Verlag, S. 147ff. Vegesack, Alexander von/Eisenbrand, Jochen, (Hg.). (2006): Open House: Architektur und Technologie für intelligentes Wohnen. Vitra Design Stiftung GmbH Virilio, Paul (2001): „Speed and Information: Cyberspace Alarm!“ Original veröffentlicht in: Le Monde Diplomatique, August 1995. Wiederveröffentlicht in: David Trend (Hg.), Patrice Riemens (Übers.): Reading Digital Culture,. Massachussets/Oxford, Blackwell Publishing, S. 23 – 27 Online Fluid Architectures. http://nimk.nl/eng/search/fluid-architectures Goldhaber, Michael H. (April 1997): „The Attention Economy and the Net“. In: First Monday, Volume 2, Issue 4. http://firstmonday. org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/viewArticle/ 519/440 McQuire, Scott (February 2006): „The politics of public space in the media city“. In: First Monday, Special Issue 4: Urban Screens: Discovering the potential of outdoor screens for urban society. http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/ article/viewArticle/1544/1459 Napier, Mark: About the Cyclops Series. http://www.potatoland. org/cyclops/about.html
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Angelika Corbineau-Hoffmann
Passanten, Passagen, Kunstkonzepte: Die Straßen großer Städte als affektive Räume
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Große Städte als Räume auffassen zu wollen provoziert keinerlei Widerspruch, sondern kann sich allgemeiner Zustimmung sicher sein – aber die Straßen großer Städte? Eher linear als räumlich definiert, bilden sie Schneisen im Stadtkörper, geschaffen für Passagen, benutzt von Passanten, nützlich aus pragmatischer Sicht, aber ohne bemerkbare Eigenheiten, die Blick und Aufmerksamkeit fesseln oder gar ‚Raum‘ für unsere Erfahrungen schaffen könnten. Auch jene Affektqualitäten, die wir spontan der Großstadt zuschreiben, werden wir kaum mit gleicher Evidenz den Straßen großer Städte ansinnen dürfen. Vollends zweifelhaft wird das Unterfangen, die Großstadtstraßen als affektive Räume zu verstehen, wenn sie darüber hinaus Kunstkonzepte aufrufen oder bestätigen sollen: die Überforderung des Gegenstandes scheint komplett. Aber spricht nicht die Literatur, große Städte in all ihren Erscheinungsformen immer wieder evozierend, eine provokativ andere Sprache als unsere unmittelbare Erfahrung? Gehören zum literarischen Diskurs der Städte nicht auch die Straßen, selbst wenn der bisherige Forschungsstand im Hinblick auf die Großstadtliteratur sie weitgehend als weiße Flecke auf der literaturwissenschaftlichen Landkarte erscheinen lässt?1 1
Die kurzlebige Flaneur-Tradition, auf die Straße als Ort der Stadt-Lektüren angewiesen, bildet nur bedingt eine Ausnahme, bleibt doch hier die Räumlichkeit der Straße ausgeblendet. Anders verfährt die Kunstgeschichte mit den Straßen; vgl. Palmbach (2001), Hier zeigt sich, was die Impressionisten angeht, eine motivische Dominanz von Straßen und Plätzen. Auch geht Vf. vielfach auf die nach Haussmanns Umgestaltung
Passanten, Passagen, Kunstkonzepte
Die literarische Kartierung der Großstädte (Corbineau-Hoffmann 2009, 51-76), so die im Folgenden zu beweisende These, bleibt unvollständig ohne jene Straßenzüge, die wie ein Netz oder eine Matrix dem Diskurs der Metropolen unterlegt sind. So steht die nun zu unternehmende Expedition durch die Straßen großer Städte vor der Aufgabe, in ihnen eine Verbindung von literarische Räumlichkeit und Affektbesetzung aufzuspüren und diese mit den Kunstkonzepten der jeweiligen Texte ins Benehmen zu setzen – ein einsamer Weg, begleitet allein von der Frage, wie sich aus dem Verlauf der Straßen ein Straßen-Raum bildet mit all jenen affektiven Modulationen, die ‚gestimmten Räumen‘, der Konzeption von Elisabeth Ströker entsprechend, eigen sind. Wenn Ströker ausführt, der gestimmte Raum sei nicht nur Ausmessung, sondern Ausdrucksfülle, sein Vernehmen Betroffenheit, wird damit eine Emotionalität evoziert, die nach Außen dringen, sich aussprechen will. Strökers Ausführungen setzen die Thematik der Straßen in die Spur der Kunst, ja der Künste, und versprechen Einblicke in deren affektive Räumlichkeit (Ströker 1965, 23). Der Start für unsere Expedition befindet sich im antiken Rom, die Ziellinie in New York; der Weg ist weit, und es gilt, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht große Distanzen zu durchqueren – was den Anspruch auf Vollständigkeit der Quellen naturgemäß einschränkt … Beginnen wir am Anfang. In den Sermones und Episteln des Horaz kommt es jeweils einmal zu einer Beschreibung der Straßen Roms, die dem Begriff der Satire von ‚satura‘ [lanx] – einer voll gefüllten Schale2 – nahezu wörtlich entspricht. Statt nämlich sein Ziel zu erreichen, wird das ‚Ich‘ des Horaz3 durch eine Fülle von Hindernissen immer wieder aus seiner Bahn geworfen 4: (…) glaubst du, in Rom könne ich dichten, umdrängt von den Ansprüchen und Plagen des Lebens? (…) Da liegt ein Freund auf dem Quirinushügel krank darnieder, dort einer am Ende des Aventin; Besuch erwarten beide: du siehst, die Entfernungen sind recht menschlich bemessen! „Aber da sind ja die breiten, bequemen Straßen, wo dem Sinnenden nichts im Wege steht.“ von Paris neue Wahrnehmungsweise der Straßen ein; vgl. etwa S. 31-46; 116-124. Einen zeitlich anderen Schwerpunkt zeigt die Aachener Dissertation von Antonia Csiba (1999). 2
Die Ableitung von satur = voll hat sich allgemein durchgesetzt; vgl. aber oben Anm. 11.
3
Bei aller Kunstfertigkeit der Briefgattung in der Antike ist von einem grundsätzlich pragmatischen Texttyp auszugehen, so dass die Identität von ‚Ich‘ und Horaz angenommen werden darf.
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im 9. Sermon des ersten Buches von einem aufdringlichen Passanten, der sich erhofft, dass der Dichter ihn mit Maecenas bekannt macht.
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Angelika Corbineau-Hoffmann
Jawohl! In rücksichtsloser Hast kommt ein Bauführer und hetzt seine Mautiere und Träger; ein Kran windet bald Blöcke, bald Riesenbalken in die Höhe; düstere Leichenzüge verwickeln sich mit Lastfuhrwerken; hier flüchtet ein tollwütiger Hund, dort rennt ein kotspritzendes Schwein: geh hin und sinne da mit Andacht auf klangschöne Verse! (Ep. II, 2, V. 65-76) Die Straßen Roms, statt Horaz zu seinem Ziel zu führen, zwingen ihn immer wieder, sie durch Innehalten als Räume wahrzunehmen: Der solcherart Geblockte steht gleichsam im Stau und hält der großstädtischen Überfülle im Geiste die Ruhe der Dichtung entgegen. Zwar unter negativen Vorzeichen, aber mit allen Attributen eines wahrgenommenen (wenngleich nicht goutierten) Raumes versehen, erobern sich die Straßen von Anfang an ihren Platz in der Großstadtliteratur, obwohl sie dem Dichten entgegenstehen. Hätte Horaz nicht von Maecenas ein Landgut zum Geschenk erhalten, gäbe es, die Spekulation mag erlaubt sein, weder den Dichter Horaz noch jene Passage, die soeben zitiert wurde, und schon gar nicht die jetzt zur Darstellung anstehende sechste Satire Boileaus. Nicht anders als bei Horaz, bilden auch hier die Straßen Hindernisse für das Fortkommen, doch überbietet Boileau sein Vorbild, indem er das ‚Ich‘ verschiedenen Angriffen aussetzt, die nicht nur seine Ruhe, sondern nahezu schon seine körperliche Unversehrtheit bedrohen: En quelque endroit qu j’aille, il faut fendre la presse D’un peuple d’importuns qui fourmillent sans cesse ; L’un me heurte d’un ais, dont je suis tout froissé : Je vois d’un autre coup mon chappeau renversé. Là d’un enterrement la funebre ordonnance. D’un pas lugubre et lent vers l’Eglise s’avance, (…) Des Paveurs en ce lieu me bouchent le passage. Là je trouve une croix de funeste présage : Et des Couvreurs grimpez au toit d’une maison, En font pleuvoir l’ardoise et la tuile à foison. (…) Et pour surcroist de maux, un sort malencontreux Conduit en cet endroit un grand troupeau de bœufs. (Boileau 1966, 34)
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Mit hohem verbalem Aufwand – entsprechend der ebenfalls möglichen Herkunft von ‚satura‘ aus etruskisch ‚satir‘, ‚reden‘ 5 (Wilpert von, 1989) – stilisiert sich das ‚Ich‘ zum Opfer. Beredt wird 5
Diese Ableitung gibt Gero von Wilpert (7. Aufl. 1989), Art. ‚Satire‘; Belege hierfür konnte ich nicht ermitteln.
Passanten, Passagen, Kunstkonzepte
das Schreckliche geschildert, das sich in dieser Perspektive indes als Ursprung der Poesie erweist, als Generierung eines Textes aus dem Geist seiner Verhinderung. Die zwangsläufig herbeigeführte Erfahrung der Straße als ein Raum, der immer wieder zum Innehalten zwingt, bringt einen delirierenden, um sich selbst kreisenden Diskurs hervor; das Trauma kann nur durch die Flucht in die Wohnung Heilung finden – vermeintlich: Dass sich der Geplagte auch dort, umgeben von Straßenlärm und dem Geläut der Glokken („qui, pour honorer les morts, font tuer les vivants“ 6), nicht ausruhen kann7, folgt aus der immanenten Logik der Satire, deren hastender Diskurs zwar schließlich zum Ende kommt, aber nicht zur Ruhe. Hatte Horaz den Straßen Poesiefeindlichkeit bescheinigt, bedingen sie demgegenüber bei Boileau die Genese des Diskurses: Ihr Schrecken verlangt nach Ausdruck, ihre ‚Stimmung’ erklingt als lärmende Kakophonie. Bereits frühe Thematisierungen der Stadt – der antiken Metropole Rom, der (vor)modernen Großstadt Paris – fokussieren die Straßen. Wenn deren Funktion gestört, das Fortkommen des Passanten blockiert wird, entsteht ebenso zwangsweise wie zwangsläufig eine Raumerfahrung, die bei Horaz den utopischen Gegenentwurf konzentrierten Dichtens, bei Boileau die Ausdrucksfülle der Sprache als ihre Konsequenz hervorruft. Was die Straße dem Dichter zuträgt, ist der Ruhe zwar abträglich, bringt aber de Redefluss im Zeichen satirischer Fülle überhaupt erst hervor. Hier entsteht, als Sprache der Straßen, der Diskurs der Großstadt. Das diesem Prozess zugrunde liegende Raumkonzept entspricht jener ursprünglich Aristotelischen Vorstellung, dass der Raum geschlossen und daher nur so weit aufnahmefähig sei, wie es seine Begrenzungen zulassen. 8 Eine solche (salopp gesagt) ‚Container-Theorie’ erklärt, warum bei Horaz und Boileau die Straßen so heftige negative Affekte auslösen: Durch ihre Enge zwingen sie zum Innehalten und müssen als Räume wahrgenommen werden – das Gegenteil dichterischer Freiheit … Zwänge, Einschränkungen und Grenzen sind der Moderne bekanntlich suspekt. Es macht nachgerade die Definition der moder6
„Tandis que dans les airs mille cloches émuës / D’un funèbre concert font retentir les nuës, / Et se mélant au bruit de la gresle et des vents, / Pour honorer les morts font mourir les vivans.” (Boileau 1966, 34)
7
Dies verweist auf Juvenals dritte Satire, die wie Horaz auf die Hindernisse in den Straßen abhebt, dazu aber vor allem den Lärm der Stadt geißelt, dem man nur in den Vierteln der Reichen entkomme. Vgl. insbes. v. 232ff.
8
Bei Wertheim findet man eine Zusammenfassung, gleichsam eine Parallelkonstruktion zwischen der Entwicklung der bildenden Künste und den Veränderungen in der Raumtheorie. Zur Raumvorstellung der Antike vgl. Wertheim (2000, 103f.)
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Angelika Corbineau-Hoffmann
nen Großstadt aus, dass sie sich räumlich nicht beschränken, Grenzen immer wieder sprengen will, so wie es die Formel aus dem Paris der Revolution benennt: „Le mur murant Paris rend Paris murmurant“ oder, mit Simmel: „Für die Großstadt ist dies entscheidend, dass ihr Innenleben sich in Wellenzügen über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk erstreckt.“ (Simmel 1995, 126) Als die Großstadt erstmals einen eigenen, ausschließlich ihr gewidmeten Text hervorbringt – die zwölf Bände des Tableau de Paris von Mercier (Mercier 1788) –, bilden die Straßen der Stadt dessen unabdingbare Bedingung. Sich selbst als unermüdlichen Fußgänger stilisierend, durchquert Mercier alle Viertel von Paris und scheut dabei auch nicht die entlegenen und ärmlichen: „J’ai tant couru pour faire le Tableau de Paris, que je puis dire l’avoir fait avec mes jambes.“ (Mercier 1788, II, 229) Die Straßen bilden quasi die Matrix, mit der die Beobachtungen der Metropole unterlegt sind. Was der Zufall Mercier auf seinen Gängen durch Paris zuträgt, offenbart im Zeichen des Kontrasts die innersten Gesetze der modernen Metropole: „[…] le baptême qui coupe l’enterrement, le même prêtre qui vient d’exhorter un moribond, et qu’on appelle pour marier deux jeunes époux.“ (Mercier 1788, I, 4) Was die Straßen dem Betrachter als ‚Bilder’ bieten, ruft Betroffenheit und Empathie hervor: Un mouton meurtri de corps succombait au milieu de la rue Dauphine à la fatigue ; le sang lui ruisseloit par les yeux ; toutà-coup une jeune fille en pleurs se précipite sur lui, soutient sa tête, qu’elle essuie d’une main avec son tablier, et de l’autre, un genou en terre, supplie le boucher, dont le bras étoit déjà levé pour frapper encore. Cela n’est-il pas à peindre ? Quand verraije ce petit tableau au sallon du Louvre ? (Mercier 1788, II, 17)
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Eine solche Szene arretiert die Passage, lässt den Passanten innehalten. Aus den Bildern der Straße entsteht ein emotional grundierter Raum, in den der Passant wie in ein Bühnenbild eintritt. Merciers Leistung, die Großstadt als Semiopolis entdeckt zu haben, ist ohne seine Theatertheorie nicht denkbar9 (Graczyk 2004, 128-133) – auch nicht ohne jene Vorstellung von ‚Moral’ (im Sinne der ‚philosophia moralis’), die menschliches Verhalten an seine äußeren Bedingungen knüpft: „le moral de l’homme, par un lien inconnu, tient au physique des objets. (Mercier 1788, I, 167). Auf der Suche nach dem ‚verborgenen Band’ zwischen dem Stadtbild und der Moral der Großstädter wird Mercier zum Leser der Straßen, entzif-
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Hierauf weist zu Recht Annette Graczyk (2004) hin.
Passanten, Passagen, Kunstkonzepte
fert deren Botschaften, begründet die Lesart der Großstadt als Sinnsystem und initiiert damit die Parisliteratur.10 Wenn Balzac in seinen Erzählungen und Romanen Paris als Schauplatz wählt, gewinnt die auch hier vorherrschende moralische Betrachtungsweise zusätzlich einen pittoresken Reiz. Am Anfang von Facino Cane stellt sich der Erzähler als Bewohner einer Mansarde im Bastille-Viertel vor, einem Ort der einfachen Leute: Je demeurais alors dans une petite rue que vous ne connaissez sans doute pas, la rue de Lesdiguières: elle commence à la rue Saint-Antoine, en face d’une fontaine près de la place de la Bastille et débouche dans la rue la Cerisaie. (Balzac 1977, 1019) Da die Erzählung sowohl räumlich als auch psychologisch in Unbekanntes, Entlegenes hineinführt, ist der Erzähler mit der Fähigkeit ausgestattet, sich auf übernatürliche Weise in die Menschen einzufühlen. Er durchstreift bei seinen Studien die Straßen seines Wohnviertels und erhält bald Gelegenheit, seine Fähigkeit zur Empathie gleichsam narrationsgenetisch unter Beweis zu stellen. Facino Cane erzählt die Geschichte eines verarmten und erblindeten venezianischen Nobile, der sich als Klarinettist verdingt. Auf einer Hochzeit lernt der Erzähler ihn kennen und bemerkt sogleich, dass sich im Spiel des Venezianers dessen Schicksal artikuliert. Beide verlassen die Feier und begeben sich an einen einsamen Ort der Stadt, zu dem von fern der Lärm der Boulevards dringt: Je me laissai conduire (…). Il s’assit sur une pierre dans un endroit fort solitaire où depuis fut bâti le pont par lequel le canal Saint-Martin communique avec la Seine. Je me mis sur une autre pierre devant ce vieillard dont les cheveux blancs brillèrent comme des fils d’argent à la clarté de la lune. Le silence que troublaut à peine le bruit orageux des boulevards qui arrivait jusqu’à nous, la pureté de la nuit, tout contribuait à rendre cette scène vraiment fantastique. (Balzac 1977, 1026) Was dann folgt, verbindet die Geschichte eines leidvollen Lebens mit den Klagen der Musik zu einem buchstäblich ‚gestimmten’ Raum. Aus den Studien der Straße geboren, endet die Erzählung vor dem Hintergrund der großen Boulevards, deren Distanz das Schicksal Facino Canes mit dem Akzent der Verlorenheit versieht. In dem von den Pariser Straßen eröffneten Raum spielt eine Geschichte voller Pathos, den Protagonisten, den Erzähler und, intentional, den Leser / die Leserin verbindend. Facino Cane verliert sich gleichsam in 10
In einer anderen Publikation (1991) habe ich die Anfänge dieses Zusammenhangs dargelegt . Die weitere, an literarischen Höhepunkten reiche Entwicklung zeigt Karlheinz Stierle auf (1993).
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den Straßen wie der Text selbst, der aus ihnen seine initiale Dynamik gewonnen hatte. Erst die emotionale Kommunikation zwischen dem Erzähler und seinen Figuren erschließt das Schicksal des Venezianers für die Geschichte von Balzac: Si quelques promeneurs attardés vinrent à passer le long du boulevard Bourdon, sans doute ils s’arrêtèrent pour écouter cette dernière prière du banni, le dernier regret d’un nom perdu (…). (Balzac 1977, 1031)
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Balzac extrahiert aus den Straßen von Paris den Stoff für eine Dramatik des Alltags, der er die Qualität eines ‚poème’, eines modernen epischen Gedichts, zuschreibt. Indem die Straßen zum Aktionsraum des Tragischen, Fantastischen und Pittoresken werden, öffnen sie sich wie eine imaginäre Bühne für das Geschehen der ‚Comédie Humaine’. Die Straßen bilden bei Balzac einen öffentlichen Raum von allgemein menschlicher Relevanz, und in dieser Funktion sind sie jeder Begrenzung entzogen. Gegenüber dem beengten Straßenraum der Satire entsteht mit der modernen Parisliteratur ein offener Raum, in dem sich die immer wandelbare, letzthin unabschließbare Geschichte menschlicher Schicksale bewegt. Dies mit dem Konzept eines unendlichen Raumes abgleichen zu wollen, wäre sicher vermessen – und doch tendiert der moralische Stadtraum mit seinen Figurationen der Betroffenheit zu einer Erweiterung, welche dem euklidischen Modell zuwiderläuft und sich durch die potenzielle Unendlichkeit ihrer Bedeutungen der Vorstellung eines Raumes ohne Grenzen annähert, wie sie z.B. von Nikolaus Cusanus oder Giordano Bruno enwickelt wurde. (Vgl. Wertheim 2000, 138 ff.) Die Straßen von Paris seit und nach Mercier sind das Produkt einer emotional affizierten Figur, die ihnen Bedeutung zuschreibt und diese dem Leser zur Dechiffrierung, aber auch zum Mitfühlen überträgt. Ein solcher der Kommunikation geöffneter Raum konzentriert den Verlauf der Straßen in der Simultaneität einer Sinnsetzung, presst ihn gleichsam zu einem Bild zusammen, das letztlich eines darstellt: die Gemeinsamkeit des Humanum als Figur der Empathie. Von jenen zahlreichen Londoner Skizzen, die Charles Dickens zwischen 1833 und 1836 für verschiedene Zeitschriften verfasste und 1836 unter dem Titel Scetches by Boz als Buch publizierte11 (Slater 1994), sind einige dem Thema ‚Straßen’ gewidmet – im Hin-
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Im Folgenden zitiert nach der Dent Uniform Edition of Charles Dickens’ Journalism: Sketches by Boz and other early papers 1833-39, ed. by Michael Slater, Columbus: Ohio State UP 1994.
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blick auf London ein seit dem Spectator12 (Moser 2009, 25-49), seit Lichtenbergs London-Reise13 (Lichtenberg 1964, 208-217) und Hogarths Darstellungen14 (Lichtenberg 1972, 657-1060) ehrwürdiges Sujet. Die Entstehungsbedingungen dieser Texte, ihr mit den Konnotationen der Beiläufigkeit versehener Titel, deren Erscheinungsweise unter Pseudonym und Kapitelüberschriften wie „The Streets – Morning“, „The Streets – Night“ lassen kaum mehr als allenfalls hübsche Genreszenen erwarten, weit entfernt und Merciers Ernst und Balzacs Dramatik des Alltags. 15 Doch wo sich Dikkens/Boz in detailfreudigen Schilderungen von Alltagsszenen zu verlieren scheint, steht nicht der ästhetische Eigenwert der Thematik im Fokus, sondern deren weiter reichende Bedeutung. Was sich in den Straßen abspielt, mag als solches pittoresk, interessant oder charakteristisch sein – seine Botschaft erlangt es aber erst durch die reflektierenden Betrachtungen und moralischen Bewertungen des Berichterstatters, wenn z.B. Monmouth Street als „the burialplace of the fashions“ bezeichnet (Dickens 1994, 76) und im Weiteren ausgeführt wird: „There was the man’s whole life written as legitibly on those clothes, as if we had his autobiography engrossed on parchment before us.“ (Dickens 1994, 78) Die Möglichkeit, Gehen, ‚Lesen’ und Schreiben in eine intime Verbindung zu bringen, macht für Dickens die Faszination der Londoner Straßen aus: „We love to walk among these extensive groves of the illustrious dead, and to indulge in the speculations to which they give rise (…).“ (Dickens 1994, 76 f.) Was einst Mercier im Hinblick auf Paris ausrief: „Que de matière à reflexions!“, bewegt offenbar auch Dickens beim Anblick der Londoner Straßen. Während die Satire der Großstadt jegliche Affinität zur Reflexion abgesprochen hatte, bilden bei Dickens die Straßen von London den Initialimpuls für Gedanken und Gefühle. Dabei wird die affektive Qualität der Straßen als Folge ihrer spe12
Vgl. hierzu Christian Moser: „Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt“. In Metropolen im Maßstab 2009, S. 25-49, bes. S. 35-42.
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Der Brief mit den ausführlichsten Beschreibungen dessen, was sich in den Straßen Londons ereignet, schrieb Lichtenberg am 10. Januar 1775 an Ernst Gottfried Baldinger. In: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, Bd. 4: Briefe. München: Hanser 1964, S. 208-217.
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Hogarths Kupferstiche, darunter auch einige London-Darstellungen, wurden ebenfalls von Lichtenberg kommentiert; Vgl.: „Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“ in: Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, 3. Bd., München : Hanser 1972, S. 657-1060.
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In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Hogarth eine Serie der vier Tageszeiten schuf; vgl. dazu die „Erklärung“ von Lichtenberg (wie Anm. 30), S. 703-727.
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zifischen Beschaffenheit dargestellt – so z.B. bei den Straßen am Morgen: „There is an air of cold, solitary desolation about the noiseless streets“ – „cold an lifeless as they look in the grey, sombre light of daybreak (Dickens 1994, 49) In die “melancholy stillness“ des Abends, jetzt nur noch gebrochen durch den Lärm, der aus den Public Houses tönt, war vorher auch der Gesang einer mittellosen Frau eingedrungen: That wretched woman with the infant in her arms, round whose meagre form the remnant of her own shawl is carefully wrapped, has been attempting to sing a popular ballad, in the hope of wringing a few pence from the compassionate passer-by. A brutal laugh at her weak voice is all she has gained. (Dickens 1994, 58; „The streets – night“)
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Auch hier findet man ein Straßen-‚Bild’ wie bei Mercier. Was dieser im ‚tableau’ konzentrierte – die skandalösen Kontraste von Arm und Reich, die vorherrschend dunklen Farben – bestimmt ebenfalls die Straßen-Skizzen bei Dickens, hat aber an realistischer Prägnanz und deskriptiver Detailtreue gewonnen. Wenn Dickens mit ähnlich hohem verbalem Aufwand wie seinerzeit Boileau die Straßen schildert, dient dies nunmehr der Absicht, eine Verbindung von pittoresker Anschaulichkeit und moralischer Betroffenheit herbeizuführen. Betroffenheit kennzeichnet auch das sprechende Ich Baudelaires, das inmitten einer lärmenden Pariser Straße eine Passantin wahrnimmt und damit den Stoff und den Titel für ein Gedicht findet: A une passante. (Baudelaire 1975, I, 92 f.) In die strenge, traditionelle, großstädtischer Dynamik geradezu widersprechende Form des Sonetts eingepasst (oder hineingepresst), entsteht A une passante gleichwohl aus den Gesetzen der modernen Metropole. Indem die flüchtige Begegnung zwischen einer eleganten, voller Schwung durch die Straße schreitenden, schwarz gekleideten Passantin und einem in geradezu grotesker Pose verkrampften ‚Ich‘ – bloße Begegnung der Augen, um genau zu sein – einen Aufschwung in die Transzendenz nimmt („ne te verrais-je plus que dans l’éternité?“) – indem mithin ein für die Anonymität des Großstadtlebens alltägliches Faktum in den Rang eines Ereignisses erhoben wird, gerät der Anfang nur allzu leicht in Vergessenheit: die Straße. Und vielleicht zu Recht, denn ist sie für die Begegnung (und folglich das Gedicht) nicht bestenfalls die Figur der Ermöglichung, nicht aber das Prinzip der Gestaltung? Baudelaires Passantin, die vorübereilt und damit bleibende Bedeutung, unanfechtbaren ‚Wert‘ implizit negiert, was indes, wie Baudelaire kompromisslos formuliert, Ewigkeit nicht nur nicht
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ausschließt, sondern im Gegenteil hervorbringt, markiert wie bei einer perspektivischen Konstruktion den Fluchtpunkt literarischer Straßen-Räume in der Moderne. Gleich ob die Straßen faktisch bereits gegeben oder ‚nur’ fiktional konstruiert sind16, zeigen sich in ihnen Figurationen der Verborgenheit. Auch Baudelaires Passantin ist eine Figur der Straße, offenbart aber ihre Bedeutung erst im Text. Reichte es bis zum Realismus aus, die Straßen, das Geschehen in ihnen zu deuten und mit Affekten zu besetzen, konkret: sie zu ‚lesen’, werden sie bei Baudelaire vielmehr ‚geschrieben’. Die Straßen offenbaren nicht ihre Bedeutung in einem Akt der Dechiffrierung, sondern erhalten sie, ihnen gleichsam eingeritzt, in einem Prozess der Chiffrierung. Das sagt sich leicht; mit welchen Problemen jedoch die Schrift der Straße anfänglich behaftet war, zeigt eindrücklich eine Erzählung von Edgar Allan Poe – zu jenen gehörend, die Baudelaire ins Französische übersetzte. The Man of the Crowd (Poe 1993) führt zwei einander fremde Figuren zusammen, wobei der Erzähler, soeben von einer Krankheit genesen und noch aufs Höchste empfindlich, einen in der Menge der Stadt auffälligen Fremden durch die Straßen Londons verfolgt, um dessen Geheimnis zu ergründen. By and by, he passed into a cross street, which, although densely filled with people, was not quite so much thronged as the main one he has quitted. Here a change in his demeanour became evident. He walked more slowly and with less object than before – more hesitatingly. He crossed and re-crossed the way repeatedly without apparent aim; and the press was still so thick, that, at every such movement, I was obliged to follow him closely. (Poe 1993, 113) Trotz solch erzwungener Nähe gelingt es dem Erzähler nicht, das Geheimnis des „man of the crowd“ zu entschlüsseln; er findet aber einen ‚Namen’ für ihn – idealtypisch und wiederum Namen gebend für die Erzählung selbst, die sich aus den Straßen Londons und vor allem dem Straßengewirr der nächtlichen Stadt generiert. Was Balzacs Erzähler noch deuten konnte, bleibt für die Figur Poes kryptisch. Das hierfür verwendete Emblem ist das am Anfang und am Ende genannte, auf Deutsch geschriebene Buch, das sich ebenso wenig „lesen“ lässt wie die Figur des Titels. So schafft der Gang durch die Straßen, einer kriminalistischen Verfolgung ähnlich, nur einen letzthin unzugänglichen Raum, der seinen Sinn zwar nicht preisgibt, aber eben dadurch einen Text hervorbringt. Ein sol16
Die Problemstellung ist wichtig, wenn nicht tragend für die Literaturwissenschaft, kann aber im gegebenen Zusammenhang nicht verfolgt werden.
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ches Scheitern der Semiosis führt zur Konstruktion eines Raumes mit unkenntlicher Bedeutung, macht zwar aus dem Labyrinth der Londoner Straßen eine Chiffre der Sinnlosigkeit, ermöglicht aber zugleich und vor allem die Erzählung als deren ‚Ausdruck’.17 Während das Geheimnis in Poes Man of the Crowd dem Erzähler äußerlich ist und deshalb nicht entschlüsselt werden kann, wendet sich die Darstellung der Straßen in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge dem Innenraum zu. Die Straßen von Paris erscheinen in ihrer Rätselhaftigkeit als Projektion eines Ich-Erzählers, dem der Sinn für die Bedeutung seines Lebensraumes verloren ging. „Die Straße war leer“, stellt Malte fest: „ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh.“ (Rilke 1975, 712) Wenn die Innenwelt nach außen gewendet, der öffentliche Raum mit dem Signum des Individuellen versehen wird, gehen die Straßen der Stadt mit ihren Passanten eine Symbiose ein: Den Sinnverlust erleiden beide. Bei Rilke umfasst die Verrätselung der Stadt viele Facetten; zu ihnen gehört an prominenter Stelle das Eigenleben der Straßen. Bei einem Gang über den leeren Boulevard SaintMartin kommt Malte an einem Café vorbei, dessen Kellner einer lächerlichen Erscheinung hinterher blicken. In Malte steigt Angst auf: Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewöhnliche und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigt sich, daß vor mir niemand ging, als ein großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung, noch in dem Benehmen dieses Mannes etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an ihm vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhüpfte (…). (Rilke 1975, 769 f.)
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Die meisten methodischen Ansätze zur Textinterpretation (immanent, struktural, soziologisch z.B.) haben aus konzeptionellen Gründen verhindert, dass die alte Kategorie des ‚Ausdrucks’ ihr Deutungspotenzial entfalten konnte. Geht es wie im vorliegenden Band um Gefühle, wäre es jedoch bedenkenswert, sie zu reaktivieren. Eine hervorragende Grundlage dafür bietet der Artikel ‚Ausdruck’ von Hans Ulrich Gumbrecht (2000, 416-431). Zur Relation von Ausdruck und Gefühl vgl. insbes. S. 419-422.
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War der Erzähler bei Poe detektivisch dem Geheimnis des „man of the crowd“ auf der Spur, verharrt Rilkes Malte in der bloßen, distanzierten Beobachtung. Was sich Maltes Blick darbietet, gehört wie selbstverständlich zu den unlösbaren Rätseln der Straße. Rilkes Malte nimmt jene Seltsamkeiten wahr, die ihn selbst kennzeichnen und für welche er in Paris überall Entsprechungen findet. Da die Straßen der Stadt keinen Sinn mehr in sich bergen, findet in ihrer Fremdheit das seinerseits sinnentleerte Ich seinen Raum. Wie sich Einsteins Relativitätstheorie zufolge der Raum durch in ihm befindliche Körper verändert (vgl. Wertheim 2000, 190 ff.), erfährt auch der Stadtraum von Paris bei Rilke Verformungen durch die Figuren – Figur des Fußgängers, Figur Maltes, Figur seiner Vorstellungen … Die Straßen von Paris werden zu Chiffren einer Individualität, die ihr Zentrum verloren hat und sich deswegen in den Straßen verliert. Weniger labyrinthisch als bei Poe, führen die Straßen bei Rilke gleichwohl zu ähnlichen Brechungen der Normalität. Sie sind nicht mehr wie bei Mercier oder Balzac Handlungsräume, sondern selbst Aktanten im Prozess der Sinnzerstörung. Indem sie die Figuren, die Schreibweisen und die Lesarten verfremden, erfahren sie ihrerseits, wie der Einsteinsche Raum, Differenzierungen; sie bilden nun das Koordinatensystem eines dem Sinn entzogenen Raumes mit allen hieraus folgenden Erschütterungen. Verformungen und Erschütterungen erfahren die Straßen auch in Andrej Belyjs Roman Petersburg, freilich nachdem die Stadt in strenger Ordnung geformt worden war. Ihre Beschreibung folgt eingangs präzise dem Stadtplan: Die Häuser sind nummeriert zum Zwecke der besseren Auffindung; in der Nacht sind die Prospekte beleuchtet – tagsüber bedarf es keiner Beleuchtung [!] usw. (Belyj 2001, 7) Doch die Aussagen des Anfangs über Petersburgs Prospekte, in unüberbietbarer, schon das Skurrile tangierender Logik den Roman einleitend, werden alsbald durch das Hereinbrechen des Imaginären perturbiert: Grünlich bei Tag, doch jetzt hellglänzend, sperrt zum Newskij ein Schaufenster seinen feurigen Schlund auf: überall Dutzende, Hunderte feuriger Höllenschlünde; diese Schlünde speien quälend auf die Steinplatten aus ihr grellweißes Licht; die trübe Nässe spucken sie aus als feurigen Rost. Und vom Feuer zerfressen ist der Prospekt. Weißer Glanz fällt auf Melonen, Zylinder, auf Federn; weißer Glanz stürzt weiter, zur Mitte des Prospekts, stößt die abendliche Dunkelheit vom Trottoir: und die abendliche Nässe löst sich über dem Newskij auf im Geblinke und bildet eine dunkle, gelblich-blutige Trübe, gemischt aus Blut und Schmutz. (Belyj 2001, 65)
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Mag auch dieses Bild des Newskij-Prospekts am Abend partiell noch mit der Realität zu verrechnen sein, ist doch die Imagination, Höllenschlünde und feurigen Rost generierend, der entscheidende Faktor für eine mentale Transformation der Straße. Trotz aller Dynamik arretiert die Beschreibung ihren Gegenstand im Momenthaften und schafft damit einen Raum der Vorstellung. Stellten die Straßen bei Rilke einen Modus der Encodierung des Subjektiven dar, erweitert sich ihre Bedeutung bei Andreij Belyj ins Kosmische. Indem die Figuren den immer wieder aufgerufenen Achsen einer imaginären Stadtarchitektur folgen, führt Belyj Plan und Ordnung von Petersburg ad absurdum. Was historisch als Konstruktion auf dem Reißbrett entstanden war, gerät in Belyjs Roman zu einer abstrusen Realität im Hirn und reißt den gesamten Text in den Strudel des Imaginären hinein. Aus der Grundfigur des Newskij-Prospekts entsteht sukzessive eine teils absurde, teils höchst prägnante Geometrie der Imagination: (...) und er wünschte, daß die Kutsche vorwärts flöge, daß die Prospekte ihr entgegenflögen – Prospekt um Prospekt, daß die gesamte sphärische Oberfläche des Planeten umfangen wäre, wie mit Schlangenringen, von schwärzlichgrauen Hauskuben; daß die ganze, von Prospekten zusammengeschnürte Erde im linearen kosmischen Lauf die Unermeßlichkeit mit einem geradlinigen Gesetz durchschnitte; daß das Netz paralleler Prospekte, durchschnitten von einem Netz von Prospekten, sich zu kosmischen Abgründen auswachse (…) daß … daß … (Belyj 2001, 23)
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Die Unendlichkeit der Straßenräume führt bei Belyj zu einer delirierenden Konstruktion, die den Stadtentwurf ins Kosmische erweitert. Wo diese Straßen enden, ist unerfindlich, denn sie haben längst den Bereich imaginärer Räume erschlossen und damit ihre wahre Topografie offenbart: sie entwuchsen den Planspielen Peters des Großen, um sich nun einer Hirnrealität anzuverwandeln – dem alle Grenzen sprengenden Kunstkonzept von Belyjs „Petersburg“: Stadt und Roman. Unser Gang durch die Straßen kommt im New York Paul Austers, der City of Glass 18, an sein Ziel. Als Peter Stillman aus der Verwahrung entlassen wird, in die er wegen der unmenschlichen Behandlung seines Sohnes genommen worden war, heftet sich der Detektiv Quinn auf seine Spuren. Die Nachforschungen Quinns führen zu einem Buch, das Stillman verfasst und in dem er die Schrift eines gewissen Henry Dark mit dem Titel Das neue Babel referiert hatte. 18
So auch der Titel eines Teils der New York Trilogy
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Peter Stillman verhält sich höchst merkwürdig: Er streift durch die Straßen von New York, hebt Weggeworfenes auf und führt darüber Buch. Quinn seinerseits hält all dies in seinem Notizbuch fest und kommt zu einer sehr eigenartigen, im Text graphisch wiedergegebenen Einsicht. Die Wege Stillmans ergeben Buchstaben, aus denen sich die Worte THE TOWER OF BABEL zusammensetzen: Die Straßen werden Schrift. Der Verlust der Sprache in einer fragmentarischen Welt führt Stillman zu der Konsequenz, mit Hilfe der auf den Straßen von New York aufgelesenen Dinge eine neue Sprache zu schaffen: I find the streets an endless source of material, an inexhaustible storehouse of shattered things. Each day I go out with my bag and collect objects that seem worthy of investigation. My samples now number in the hundreds – from the chipped to the smashed, from the dented to the squashed, from the pulverized to the putrid. ‚What do you do with these things?‘ ‚I give them names.‘ ‚Names?‘ I invent new words that will correspond to the things. (Auster 2004, 71) Es geht Stillman darum, mit dieser Namensgebung eine neue Sprache zu schaffen, in der Wort und Ding eine präbabylonische Einheit bilden – eine neue Sprache nicht auf der Basis unserer Begriffe (die in der nach Babel veränderten Welt nicht mehr taugen), sondern mit Bezug auf die einfachen Dinge, wie sie auf den Straßen New Yorks massenhaft zu finden sind. Der Raum der Straße erweist sich als chiffrierter Raum der Sprache und der Schrift. Was bei Auster die detektivische Recherche offenbart, erhellt im Rückblick Genese und Charakter der Großstadtstraßen als eine Konsequenz der écriture. Es gebe Bücher, schrieb Poe, die sich nicht lesen ließen – die Straßen der Städte aber eröffnen, selbst in ihren labyrinthischen Verschlingungen, bedeutungsvolle, lesbare Räume, nicht der Wirklichkeit entstammend, sondern der Kunst. Der Gang von Rom nach New York, aus der christlichen Zeitenwende in die Postmoderne, konnte keiner konkreten Straße folgen, wohl aber einen konzeptuellen Weg weisen, und dieser offenbarte, bei aller Differenz der betrachteten Texte, eine Gemeinsamkeit: die Konzentration. Was immer sich zusammendrängt – das Geschehen in den Straßen, das Physische und das Moralische, die Gegenstände der Reflexion, die Konstruktionen des Imaginären – ließ die Straßen als affektive Räume erkennen, denen der Betrachter mit Betroffenheit begegnete. Lesarten verwandelten sich in Zuschreibungen; emotional sind beide. Ob indes damit die Affektbesetztheit der Straßen an der Wurzel erfasst ist, scheint auch am Ende noch ungewiss.
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Nicht alle Räume sind ‚gestimmt’, nicht alle verfügen über einen ‚genius loci’; im Gegenteil: nur die wenigsten. Deren besondere affektive Qualität aber rührt daher, dass wir sie nicht einfach vorfinden, sondern (zumindest) mitschaffen. Das gilt auch für die Straßen großer Städte in der Literatur; aber reicht das hin, um deren Gefühlswert zu erklären? Hier entsteht ein Affektraum als kognitive Architektur. Nicht durch die Zeit des diskursiven Textverlaufs, sondern aus der mentalen Umschichtung der Textelemente entsteht der (Straßen-)Raum als ‚Ordnung der Koexistenz. Der Prozess ist paradigmatisch, denn ein dieser umschichtenden Anordnung analoger Vorgang macht bei jeder verstehenden Lektüre von Literatur aus der Sukzessivität der Textelemente ein simultanes Ganzes als Figur im Geiste. Und ‚cosa mentale’ ist auch, was wir in diesen Straßen erfassen: Hier erkennen wir das Humanum (oder auch das Unmenschliche), hier sehen wir unser Bemühen um Verstehen, hier finden wir die Einschreibungen unserer Konzepte, erkennen die Spuren unserer Lektüren wieder, entschlüsseln die Gesetze des Lesens. Am Schluss finden wir den Ursprung, aus dem jegliche Affektbesetzung der Straßen resultiert: Sie kehrt sich um, wird zum Auto-Affekt. Die Straßen der Literatur katapultieren die Leserinnen und Leser plötzlich in ästhetisch und emotional so reiche Räume, dass es anmaßend wäre, sie vermessen zu wollen. Mit welchen Ergebnissen die Literaturwissenschaft sie durchmessen kann, versuchte der Gang von Rom nach New York anzudeuten.
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Literatur Auster, Paul (2004): „City of Glass“. In: The New York Trilogy, Collected Novels, Bd. 1. London: Faber and Faber, S. 71 Baudelaire, Charles (1975): „A une passante“. In : Pichois, Claude (Hg.) : Œuvres complètes. Paris, Bd. 1 : Gallimard, S. 92 Balzac, Honoré de (1977): „Facino Cane“. In: Castex, Pierre-Georges (Hg.): La Comédie Humaine VI: Etudes de mœurs. Paris : Gallimard Belyj, Andrej (2001): Petersburg. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, mit einem Nachwort von Irina Rakusa. Frankfurt am Main: Insel Boileau-Despréaux, Nicolas (1966): Satire VI. In: Escal, Françoise (Hg.): Œuvres complètes. Paris: Gallimard, S. 34 Corbineau-Hoffmann, Angelika (2009): „Stadt-Plan – Text-Plan“. In: Hölter, Achim / Pantenburg, Volker et al. (Hg.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst. Bielefeld: transcript, S. 51-76 Corbineau-Hoffmann, Angelika (1991): Großstadterfahrung und Wissenserfahrung in der pragmatischen Parisliteratur 17801830. Bielefeld (d.i. Berlin): Erich Schmidt Csiba, Antonia (1999): Die Straße in Malerei, Grafik und Plastik des 20. Jahrhunderts unter Berücksichtigung des Films und der Literatur (Dissertation) Dickens, Charles (1994): „Sketches by Boz and other early papers 1833-39“. In Slater Michael (Hg.): Dent Uniform Edition of Charles Dickens’ Journalism, Ohio State UP Graczyk, Annette (2004): Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München: Fink Gumbrecht, Hans-Ulrich (2000): „Ästhetische Grundbegriffe“. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart und Weimar: Metzler, S. 419-422. Lichtenberg, Georg Christoph (1972): „Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“. In: Promies, Wolfgang (Hg.): Schriften und Briefe. München: Hanser 1964, S. 657-1060 Lichtenberg, Georg Christoph (1964): „Schriften und Briefe“. In: Promies, Wolfgang (Hg.): Briefe, Bd. 4. München, Hanser 1964, S. 208-217. Mercier, Louis-Sébastien (1788): Tableau de Paris, 12 Bd., Amsterdam Moser, Christian (2009): „Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt“. In: Hölter, Achim / Pantenburg, Volker et al. (Hg.): Metropolen im
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Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst. Bielefeld: transcript 2009, S. 25-49 Palmbach, Barbara (2001): Paris und der Impressionismus. Die Großstadt als Impuls für neue Wahrnehmungsformen und Ausdrucksmöglichkeiten in der Malerei. Weimar: VDG Poe, Edgar Allan (1993): Tales of mystery and imagination. London: J.M. Deut Rilke, Rainer Maria (1975): „Malte Laurids Brigge“. In : Sämtliche Werke in zwölf Bänden, hg. vom Rilke-Archiv, besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 11: Malte Laurids Brigge, Prosa 1906-1926, Frankfurt am Main: Insel 1975 Simmel, Georg (1995): „Die Großstädte und das Geistesleben“. In: Kramme, Rüdiger u.a. (Hg.): Aufsätze und Abhandlungen 19011908. Frankfurt am Main: Suhrkamp Stierle, Karlheinz (1993): Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt. München: Hanser Ströker, Elisabeth (1965): Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt am Main: Klostermann Wertheim, Margaret (2000): Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Zürich: Ammann Wilpert, Gero von (1989): Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner (7. Auflage)
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„Flammende Prospekte“: Die Großstadt als Bewusstseinsspiel und die Ambivalenz des ungeordneten Raums: Andrej Belyjs Petersburg Petersburg, Petersburg! Auch mich hast du, ein fallender Nebel, verfolgt als müßiges Hirnspiel: du bist ein unbarmherziger Quälgeist; du bist ein ruheloses Trugbild; hast dich auf mich gestürzt über Jahre; ich bin gerannt über deine entsetzlichen Prospekte und in vollem Lauf auf jene gußeiserne Brücke geflogen, die, beginnend am Ende der Welt, abführt in endlose Ferne. (Andrej Belyj 2005, 75) Literarische Räume und Raumdarstellung allgemein, ihre Konzeption und Strukturierung, befinden sich in sinngebender und werttragender Funktion, sind wandelnde Zeichen-, Erinnerungs- und Affektträger. Spezifische Raumdarstellungen sind in der Regel an wahrnehmende Subjekte gebunden und somit mit psychischen und kognitiven Strategien verknüpft. Die literarische Moderne bringt neue Darstellungsmuster hervor, die zur formellen Innovation des literarischen Systems führen und in welchem z.B. multiperspektivisches Erzählen auch die Raumwahrnehmung verschiedener Perspektivträger bedingt, die einen Relationsraum schaffen und von individuellen Raumbezugnahmen ausgehen. Schreibweisen der Montage, des Bewusstseinsstroms, der fragmentarischen Wahrnehmung, des Experimentierens mit Zeit und Raum oder der Evozierung neuer visueller Experimente sind auf topographischer Ebene
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häufig mit urbanen Handlungsräumen verknüpft. Moderne Techniken der Subjektivierung, multiperspektivischen Fokalisierung und Montage beherrschen den Umgang mit der Großstadt. Das Großstadtbild erscheint fragmentarisiert und polyphon. Die Stadt selbst dominiert die Erzählung, Plot und Personen, welche in der Großstadt auf der Suche nach der Erfüllung ihres affektiven Begehrens umherstreifen. Die Stadt ist weiterhin Ort semiotischer Zuschreibungs- und Deutungsprozesse, auch Träger des Fremden, gültigen Wahrnehmungskategorien sich Entziehenden, da in ihr Heterogenes zusammengeballt erscheint. So fasst auch Barta den Großstadtroman als zentralen Bedeutungsträger des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts: (…) in all the arts, it is, perhaps, the modernist novel about the city that creates the most profound image of life at the beginning of the twentieth century (…) Topography and mythology, past and present, the concrete city and the city of the mind all merge. (Barta 1996, 99)
Polyphone (Bewusstseins-)Räume
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Klaus Scherpe zeigt in seinem Aufsatz „Nonstop nach Nowhere City“ verschiedene literarische Darstellungsweisen der modernen Großstadt auf. Nach der Feststellung, die Diskontinuität der Moderne und ihre Delokalisierung, Entgrenzung und Dekomposition als Zeichenstätte (Scherpe 1988, 130) lasse die Vorstellung einer ‚er-zählten Stadt‘ und ihrer traditionellen Repräsentationsmuster kaum mehr zu, skizziert er einige Modi der literarischen Umsetzung. So erwähnt er anfangs die in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1931/32) vorkommende strukturelle Erzählweise, die mit einer de-tailgenauen Präzision in Manier der Naturwissenschaften eine fast geometrische Wahrnehmung evoziert. Hier scheint der Erzähler von einem erhobenen Standpunkt außerhalb der Stadt zu berichten und die „Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander“ (Musil) (zit. nach Scherpe 1988, 133) gleichsam als die jeder Großstadt eigene Gesetzmäßigkeit zu konstatieren. Weiterhin spricht Scherpe vom Modell einer Stadt, die sich selbst erzählt, der – nach Calvino – „Stadt als Sprache, als Ideologie, als Konditionierung jeden Gedankens und Wortes und jeder Geste“ (Scherpe 1988, 135). Die symbo-lische und moralische Konnotation der Großstadt, zum Beispiel bei Balzac und Baudelaire oder den deutschen Expressionisten (als apokalyptisches, orgiastisches Großstadterlebnis),
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oder als ‚Hure Babylon‘, verliere an Überzeugungskraft, wenngleich moderne Texte oftmals darauf zurückgreifen. Die neuen Informationstechniken, Medien und die Unterwerfung des Mythos und der Religion schaffen neue Symbolwerte, wie etwa in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Diese multimediale Montagetechnik schaffe eine neue Zeichenfülle und führe zu einer Selbstbezüglichkeit der Zeichen untereinander. Die Stadt ist von Zeichen unterwandert, die nicht mehr der Identifikation dienen. Der moderne Großstadttext erscheint, wie die Analyse von Andrej Belyjs Roman Petersburg (1912/13) im Folgenden zeigen wird, strukturiert durch wiederkehrende Motive, epiphanische Augenblicke, transzendentale Dimensionen und verschiedene Charaktere, welche die Großstadtsinfonie komponieren. Moderne und Großstadt verschränken sich hier auf architektonisch-stadtplanerischer (die konstruierte, geometrische Struktur Petersburgs), semiotisch-innerliterarischer (der symbolischen Stadtdarstellung und apokalyptischer Visionen), metaphysischer Ebene (der Transzendenz und Vierdimensionalität der Stadt) oder auch soziologischmassenpsychologischer Ebene (der Darstellung der Revolutionsdynamik). So konkurriert etwa auf topographischer Ebene die geometrische, westeuropäische, klassische Architektur Petersburgs mit der chaotischen, asiatischen und revolutionären Topographie der Inseln: The ‚Western‘ section of the city is strictly geometrical and is as precise and artificial as its bureaucracy. The streets, rectilinear avenues, and flat squares of the city are described as a system of pyramids, triangles, and cubes. (…) The magnificence and regulated plan of the central city is juxtaposed to the shabbiness and random arrangement of the islands and the outlying areas. Such a juxtaposition (…) creates the sense of an artificial structure imposed on the natural order of things (…) Underneath the imposed structure (…) there exists a seething Asiatic turmoil that threatens to destroy the established geometric patterns. The islands off the right bank of the Neva, with their slums and factories, are filled up with an energy that may at any moment explode and break up the squares of the city. (Woronzoff 1982, 91) Petersburg erscheint hier auf der einen Seite als konstruierte, nach einem bewussten Plan entworfene Stadt, die von Logik, geometrischer Harmonie und Klarheit beherrscht ist, auf der anderen Seite als chaotisch-revolutionärer Raum. Die Dichotomisierung der beiden Räume entspricht der Gegenüberstellung des gekerbten, taxonomischen, durch den Staatsapparat geformten und des glatten,
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nomadischen Raumes im Sinne von Deleuze / Guattari (2006). Der nomadische, chaotische Raum der Inselbewohner stellt sich gegen den streng geometrisch angeordneten Raum, der die chaotische Bewegung der Bewohner diszipliniert und greift langsam, aus der Weite Asiens, auf diesen über. Der Roman beginnt im Epilog mit einer Art mündlichen Vortrags über die Topographie und Bedeutung Petersburgs als Teil des Russischen Reiches. Die Stadt erscheint einerseits als geographische Einheit und Punkt auf der Landkarte und damit bereits in eine symbolische Zeichenordnung überführt, klassifiziert und ontologisch festgeschrieben, anderseits als illusorisch-dämonischer Raum, der sich dem Verstand, der Kartographie und der Sprache widersetzt. Die Zeit der Handlung ist die sich anbahnende Russischen Revolution von 1905. Der Senatorsohn Nikolaj Apollonowitsch erhält von einer revolutionären Gruppe um den vereinsamten und paranoiden Aleksandr Iwanowitsch Dudkin und Nikolaj Stepanitsch Lippantschenko den Auftrag, seinen Vater, den Senator und hohen Beamten der Stadt Petersburg, Apollon Apollonowitsch Ableuchow, mit einer Bombe umzubringen. Diese Bombe wird ihm von Dudkin in einer Sardinenbüchse ausgehändigt, der dazugehörige Brief mit der Aufforderung zum Mord allerdings geht über mehrere Umwege, unter anderem an Nikolajs unerfüllte Liebe, Sofja Petrowna Lichutina. Diese übergibt diesen Brief später auf einem Maskenball an Nikolaj. Die Bombe explodiert zwar gegen den Willen Nikolajs, aber tötet am Ende niemanden. Der im Fieberwahn paranoid gewordene Dudkin allerdings bringt Lippantschenko, den eigentlichen Initiator des Anschlags, mit einer Schere um. Die Stadt Petersburg wird als öffentlich-politischer Raum verstanden, es begegnen sich hier unterschiedliche Anschauungen und Ideen. Der Passant steht in familiärem Kontakt zu seinen Mitbürgern: „Der Newskij Prospekt, wie jeder andere Prospekt, ist ein öffentlicher Prospekt; das heißt: ein Prospekt für das Zirkulieren des Publikums“ (Belyj 2005, 7). Der Stadtraum ist auf der einen Seite ein offener, chaotischer, fast karnevalistischer Raum, der bis ins Innere der Häuser reicht. So droht auch der Körper Nikolajs in dessen Ausdehnungsphobien in den Raum hineinzuwachsen und letztendlich mit dem All zu verschmelzen. Die Darstellung der (Großstadt)räume erscheint von verschiedenen Bewusstseinsträgern reflektiert. Verschiedene ‚Erzähler‘ relativieren das Bild einer stringenten Darstellungsweise, wie auch Belyjs Konzept des ‚cerebral play‘1 (Barta 1996, 23) andeutet. Es bedin1
Das in Belyjs Aufsatz ”The Magic of Words” formulierte Konzept des ‚zelebralen Spiels’ bedeutet, dass alle Realitätsproduzenten selber Produkt
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gen sich im Roman Großstadtdarstellung und Bewusstsein der einzelnen Reflektoren des urbanen Raums. Die perzipierte Stadt wirkt auf die materialisierten Gedanken ein und umgekehrt, ganz im Sinne des ‚cerebral play’. Der von der Imagination durchdrungene, erlebte Raum kann, ganz im Sinne von Bachelards’ Poetik des Raumes nicht mehr als euklidischer, geometrischer Raum verstanden werden. Der Mensch wird als ein „halboffenstehende[s] Sein“ (Bachelard 2006, 175) verstanden. So stellt auch Barta fest, dass „the ‚external’/’objective’ and the ‚internal’/’subjective’ worlds become inseparably dependent on each other“ (Barta 1996, 20) und “the text records the response of their consciousness to the urban environment” (Barta 1996, 21). Die klare Unterscheidung zwischen Innenund Außenräumen, zwischen res cogitans und res extensa wird weitgehend instabil, die Grenzen werden durchlässig. Der städtische Außenraum konvergiert mit dem Raum der Subjektivität, Raum kann als wechselseitig verschiebbare Relation verstanden werden, auch innerhalb eines Subjektes existieren verschiedene Räume. So stellt sich die Stadt für Nikolaj Apollonowitsch nach dem Vorfall auf dem Maskenball (er erregt hier einen öffentlichen Skandal) und dem brieflichen Auftrag des Vatermords, als Ausweitung des Gefühlsraums dar: „Nikolaj Apollonowitsch bog in ein leeres Gäßchen ein. Das Gäßchen war öde, wie auch alles sonst: wie dort oben die Weiten; so öde, wie die menschliche Seele öde ist“ (Belyj 2005, 272). Später, nach der desillusionierenden Begegnung mit dem Doppelagenten, verdinglichen sich Nikolajs Dissoziation und Identitätszweifel in den unendlichen Weiten der flammenden, apokalyptisch wirkenden Großstadtprospekte. Auch der Körper Dudkins und dessen Vergangenheit ist nicht von seiner Außenwelt trennbar. Dieser, vor einiger Zeit ins Gebiet der Eiswüste Jakutsk verbannt, trägt, wie er selbst sagt, noch immer das Eis in sich; die sich so innerhalb seines Körpers materialisierte Leere isoliert ihn von den anderen, indem er sich unter Menschen ins Unermessliche geworfen sieht. Das Raumkonzept des ewigen Eises und der sozusagen ungekerbten Natur lässt ihn immer wieder die innere Leere mit der äußerlichen Leere der Einsamkeit korrespondieren und letztendlich vollständig halluzinieren, indem jeder der von ihm perzipierten Räume bloße Imagination ist und noch dazu das labile Körpergefüge Dudkins eng mit der Öffnung des Raums ins Dämonische zusammenhängt.
der Bewusstseinsleistung eines ihnen übergeordneten Bewusstseins seien. Niemand ist demnach erkenntnistheoretisch unabhängig. (Barta 1996)
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Laut Fisher werden solcherlei psychotische Raumkonzepte innerhalb der modernen Ästhetik fruchtbar gemacht als veränderbare Modi des Sehens, die normalerweise als geschädigt, überbelastet oder unbedeutend abgetan werden: Krankheit und Fieber, die besondere Aufmerksamkeit des verfolgten Menschen, der Blickwinkel von Halluzinierenden, Wahnsinnigen oder Besessenen. (Fisher 1988, 110) Im Sinne einer ‚doppelten Wahrnehmung‘ (Fisher 1988, 112) werden sie als Erweiterung einer monoperspektivischen Sichtweise aufgewertet. Fieber, Halluzination und die damit verbundene affektive Raumerlebensstörung erzeugen ein psychotisches Raumkonzept, welches als objektives Korrelat der körperlich-psychischen Empfindung des jeweiligen Bewusstseins fungiert. Die Stadt wird zu einem Symbol im Sinne des symbolistischen Verständnisses des Zeichens. Das Außen wird hier nicht nur als Projektion, als bloß imaginierter Raum verstanden, Stadt und Bewusstsein durchdringen sich hingegen gegenseitig, es herrscht ein reziprokes Wechselspiel zweier untrennbarer Zustände. Die Stadt wird durch ein fieberhaftes Bewusstsein perzipiert und erzeugt wiederum das Fieber, manifestiert sich im Körper und in der Psyche: Die Petersburger Straße durchdringt im Herbst den gesamten Organismus: bringt das Mark zum Erstarren und kitzelt das frierende Rückgrat; doch kaum trittst du von ihr in einen warmen Raum, fließt die Petersburger Straße in deinen Adern als Fieber. (Belyj 2005, 35)
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Die Stadt birgt eine ständige Bedrohung für die Sinne und Ratio der Bewohner. So wird der Mythos St. Petersburgs, nach Puschkin, Gogol und Dostojewskij eine Stadt der Halluzinierenden und Wahnsinnigen, als Ort einer übermäßigen Hitze und Enge, verbunden mit schlechter Luft und Scheinhaftigkeit, von Belyj fortgeschrieben. So stellt auch Barta als eine Facette der literarischen Großstadtdarstellung in Petersburg fest: „Bely’s Russian capital is primarily a nightmarish vision, and the movements of the characters seem to be taking place in a dream whose components have their foundations in the ‚Petersburg myth’“ (Barta 1996, 21). Die Assoziation von Nacht mit der Hölle gemahnen an die moralische und symbolische Funktion der Stadt an das ‚Sündenbabel’: Von feurigem Trug erfüllt ist am Abend der Newskij. Und in brilliantenem Licht erstrahlen die Mauern vieler Häuser: hell funkeln aus Diamanten gebildete Wörter: ‚Kaffeehaus’, ‚Farce’, ‚Brillianten Theta’, ‚Uhren Omega’. Grünlich bei Tag, doch jetzt
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hellglänzend, sperrt zum Newskij ein Schaufenster seinen feurigen Schlund auf: überall Dutzende, Hunderte feuriger Höllenschlünde; diese Schlünde speien quälend auf die Steinplatten aus ihr grellweißes Licht; die trübe Nässe spucken sie aus als feurigen Rost. (Belyj 2005, 65) Die nächtliche Stadt erscheint als Illusion, als verdammter Ort, der Feuer, Blut und Schmutz gebiert. Apokalyptische Visionen des Bewusstseins materialisieren sich wiederum im Stadtbild, die Stadt wird zur Phantasmagorie, welche ebenso zum Reich des Jenseits gehört und sich der topographischen Ordnung widersetzt. Die Stadt öffnet sich regelmäßig zur transzendenten, metaphysischen vierten Dimension, die sich aus Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Wünschen erschafft und in welcher verschiedene Räume und Zeiten miteinander koexistieren können. Diese vierte, unsichtbare Dimension ist verdeckt vom produzierten Material der Stadt. Sowohl Nikolaj Apollonowitsch als auch Dudkin vermuten hinter der Fassade der Gegenstände eine unendliche, leere Welt. In Nikolajs Vorstellungen im Halbschlaf ereignet sich eine Art Riss in der Wirklichkeitsauffassung, abstrakte Gedanken verbildlichen sich und wachsen in seinem Kopf, dehnen sich unendlich aus: Stellen Sie sich nur vor, daß hinter der Tür – nichts ist, und daß, wenn man die Tür weit öffnet, die Tür sich in leere, kosmische Unermeßlichkeit öffnet, wohin man nur…höchstens kopfüber stürzen kann, um zu fliegen, zu fliegen und fliegen – und wo man bei der Ankunft erkennt, daß diese Unermeßlichkeit der Himmel ist und die Sterne, die wir über uns sehen und sehend – nicht sehen. (Belyj 2005, 351) Für den Psychotiker dient die Stadt allerdings ebenso als illusionistischer, trügerischer Ausweg aus einem hermetischen Bewusstseinszustand. Der zunehmend verwirrte Dudkin kann zwar räumlich aus seinem über enge Räumlichkeiten vermittelten Bewusstsein und Körper ausbrechen, dies kann ihn allerdings nur temporär von seinem zirkulären Gedankengebäude und den Halluzinationen ablenken: Aleksandr Iwanowitsch Dudkin musterte seine Behausung, und wieder (…) zog es ihn aus dem verräucherten Zimmer – fort: zog es ihn auf die Straße, in den schmutzigen Nebel, um sich zu verflechten, zusammenzukleben, zu verschmelzen mit den Schultern, den Rücken, den grünlichen Gesichtern auf dem Petersburger Prospekt und ein einziges, riesiges Grau zu bilden. (Belyj 2005, 363)
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Die Vermischung, die Entgrenzung des eigenen, sich vor dem horror vacui fürchtenden Bewusstseins in der Masse gelingt Dudkin aber nicht. Der Passant der Straße kann von der Großstadtszenerie keine Entspannung erwarten, sie entzieht sich dessen Ordnung in einem vielgliedrigen Chaos. Und doch verschmilzt die Masse zu einem einzigen Organismus, der zeitlich und räumlich unendliche Ausdehnungen erfährt. Der Erzähler stellt den depersonalisierten Großstadtkörper aus räumlicher Distanz dar, um von dem einzelnen Teil in eine höhere Ordnung zu abstrahieren: Hier liefen viele Füße; und stumm starrten sie auf die vielen Füße der dahinlaufenden dunklen menschlichen Masse: diese Masse, übrigens, eilte nicht, sondern kroch: kroch und schlurfte – kroch und schlurfte auf vorübereilenden Füßchen; aus vieltausend einzelnen Gliedern war die Masse zusammengeklebt; jedes einzelne Glied war – ein Rumpf; Rümpfe liefen auf Füßchen. Es gab keine Menschen auf dem Newskij Prospekt; nur ein kriechender, surrender Vielfüßler war dort; in einen einzigen feuchten Raum entließ eine Vielfalt von Stimmen – eine Vielfalt von Wörtern; gegliederte Sätze zerschlugen dort aneinander; unsinnig, furchtbar zersprangen dort Worte, wie Bruchstücke leerer und an einer Stelle zertrümmerter Flaschen: sie alle, durcheinandergeraten, verwoben sich wieder zur Unendlichkeit eines fliegenden Satzes ohne Schluß und Beginn; dieser Satz erschien unsinnig und gewoben aus Trug; das Ununterbrochene des Unsinns des so zusammengesetzten Satzes hing als schwarzer Ruß über dem Newskij; über allem stand schwarzer Rauch von Trug. (Belyj 2005, 383)
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Die Darstellung der Menschenmasse zeigt ein Bild der Uniformität, des automatisierten Wiederholens von Bewegungen, der in seiner Komplexität nicht mehr perzipiert werden kann und verdinglicht wird. Der vervielfachte Bewegungsablauf kann ästhetisch in seinen unterschiedlichen Ausformungen nicht mehr gefasst werden und wird künstlich synchronisiert, indem er zur Synthese des Mannigfaltigen wird. Andererseits erfolgt die ästhetische Umsetzung auch auf andere Weise, wenn die Distanz zum vielgliedrigen Organismus verloren geht. Der Erzähler oder focalizer scheint hier mit wachsender Nähe wiederum innerhalb der großstädtischen Masse positioniert und nimmt die Bilder der strömenden Menschenmasse synekdotisch wahr. Die Beschreibung hat Aufzählungscharakter, die hektische Momentwahrnehmung generiert unvollständige Augenblicksbilder:
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Nasen strömten in Mengen vorüber; Adler-, Enten-, Hahnennasen, grünliche und weiße; hier strömte auch vorüber die Abwesenheit jeglicher Nase. Hier strömten Einzelne, und Paare, und Dreier- und Vierergruppen; und Melone um Melone; Melonen, Federn, Schirmmützen; Schirmmützen, Schirmmützen, Federn; Dreispitz, Zylinder, Schirmmütze; Kopftuch, Regenschirm, Feder. (Belyj 2005, 24) Die Aufzählung vereint Groteskes und Phantastisches, wie etwa die Abwesenheit jeder Nase, die intertextuell auf eine weitere den Petersburg-Mythos konstituierende Erzählung Gogols2 verweist. Die Evozierung des Straßenbildes erfolgt unmittelbar, die visuelle Momentwahrnehmung wird nachgezeichnet. Wiederholungen finden in unmittelbarer Aufeinanderfolge statt, ganz wie das Bewusstsein sie wahrnimmt und ähnlich dem Bewusstseinsstrom als dessen Niederschlag innerhalb der modernen Ästhetik. Belebtes wird hier unbelebt und Unbelebtes belebt: Von der Straße fluteten ihnen entgegen schwarze menschliche Massen: vieltausendköpfige Schwärme Melonen hoben sich wie Wogen. Von der Straße fluteten ihnen entgegen: Lackzylinder; sie ragten aus den Wogen wie Dampferschlote; von der Straße schäumte ihnen ins Gesicht: eine Straußenfeder; eine pfannkuchenrunde Schirmmütze lächelte mit dem Mützenrand; und die Mützenränder waren: blau, gelb, rot (…) All das flutete von der Straße ihnen entgegen: sinnlos, eilig und reichlich. (Belyj 2005, 379) Die diskontinuierliche Wahrnehmung des Großstadttreibens zeichnet eine unaufhörliche Bewegung und Wiederholung der Abläufe nach. Die Aneinanderreihung des Synekdotischen resultiert, ähnlich wie im Prinzip der Collage, in „catalogues of things united solely by their adjacency“ (Barta 1996, 16), die künstlich Unzusammenhängendes vereint und das Chaos so lediglich aufzeichnet und in Symbole überführt. Die Stadt erscheint wiederum polyphon, als Ort der Gerüchte eines Gedankenkollektivs, welches in synekdotischen Gesprächsfetzen zitiert wird. Diese Vielstimmigkeit wird auch durch die Nebeneinanderstellung von Geräuschen und menschlichen Stimmen erzeugt:
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Nikolai Gogol: Die Nase (1836). Hier verschwindet eines Tages die Nase des Protagonisten Kowalew und findet sich später wieder auf unerklärliche Weise an seinem Platz in dessen Gesicht wieder. Auch die Erzählung spielt in Petersburg, genauer sogar auf dem Newskij-Prospekt.
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es zirkulierte in die Unendlichkeit der Prospekte, überwand die Unendlichkeit der Prospekte, überwand die Unendlichkeit, ohne jedes Murren – im unendlichen Strom von seinesgleichen, – inmitten von Fliegen, Tosen, Beben, Droschken, von weitem den melodischen Läufen der Automobilhupen lauschend und dem zunehmenden Grollen der gelbroten Straßenbahnen (einem dann wieder abnehmenden Grollen), unter ununterbrochenem Zuruf der stimmgewaltigen Zeitungsverkäufer. (Belyj 2005, 19) Heterogenes kann so in Kontakt miteinander treten, was auch Schlör als Signum der Moderne ausmacht: „Die Stadt ist der Schauplatz der Moderne, ihre Bühne, ihr Ort; das Symbol für ‚Modernität’ ist (…) die Straße (…) sie ist der Ort der Konfrontation und Begegnungen“ (Sykora 1996, 29). Die Angst vor dem Chaos der Masse und des Ungreifbaren lässt den Senator Apollon Apollonowitsch die Stadt ausschließlich in seiner Kutsche durchkreuzen. Die Raumordnung der Kutsche schützt ihn so vor der bedrohlichen, diffusen Masse und der damit verbundenen Revolution der Bürger, die der Senator so fürchtet. Das Innere der Kutsche ist wiederum geometrisch und konstruiert, sie trennt ihn von der ambivalenten Flut der Laufenden: vom Straßengesindel trennten ihn vier senkrechte Wände; so war er geschützt vor den vorüberflutenden Menschenmengen und den trübsinnig durchweichten roten Blättchen, die da hinter der Kreuzung verkauft wurden. (Belyj 2005, 21) Die Raumordnung ist als eine individuelle, nicht empirische zu verstehen. Raum, Körper und Bewusstsein sind wiederum eng miteinander verknüpft:
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Im Bürger vermutete Apollon Apollonowitsch etwas Minderes, hinter dem Glas der Kutschenfenster Vorüberfliegendes (die Entfernung zwischen der nächsten Mauer und dem Türschlag der Kutsche betrug ja für Apollon Apollonowitsch viele Milliarden Werst). (Belyj 2005, 296f ) Auch der Logiker Apollon Apollonowitsch fasst die Stadt nicht, wie sie ‚wirklich‘ ist, sondern versieht sie mit den ihm eigenen Ordnungen und affektiven Zuschreibungen – auch denen seines Körpers – so leidet er unter einer Herzerweiterung, die psycho-physisch auch auf den Raum ausgreift und mit der Angst vor der unkontrollierbaren Weite des Raumes verbindet. Das ubiquitäre Motiv der Katastrophe, des Aufruhrs und der Revolution erscheinen mit dem Großstadtkörper auf unmittelbare
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Weise verbunden. Die Großstadt ist Ort der revolutionären Masse. Die menschliche Masse erscheint, ganz im Sinne massenpsychologischer Theorien von Freud und Le Bon, als instinktgeleitete seelische Einheit, welche sich intellektuell dem Anführer unterordnet und über Mechanismen der Affektevozierung und -steigerung zu Zerstörung und Revolution nutzbar machen lässt. So besitzen sie auch nach Le Bon „eine Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde (…) Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben“ (zit. nach Freud 1970, 11f ). Die ästhetische Umsetzung der massenpsychologischen Dynamik erfolgt wiederum aus der erhobenen Position des Erzählers: schwarze Figürchen strömten aus Läden, Höfen, Frisörgeschäften und kreuzenden Prospekten; und in die Läden, Höfe und Seitenprospekte liefen die schwarzen Figürchen eilig zurück; sie heulten, sie brüllten und trampelten: kurz – eine Panik; von fern, über den Köpfen dort, schien Blut zu sprudeln. (Belyj 2005, 486) Die Gefühle der Masse sind kollektiv und ansteckend. Der einzelne wird hier zum unbewussten Automat. Das Chaos überträgt sich auf die einzelne Psyche, welche seine jeweilige Individualität verliert. Die Masse lebt in überschwänglichen Gefühlen. Die Großstadt dient hier als Versammlungsort für die Auflösung des bewussten Ichs, das Akzeptieren des Irrationalen.
Ordnung und Ambivalenz Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (1995) beschreibt das Anliegen der Moderne mit jenem Ordnungswillen, der das Irrationale, Ambivalente aus dem Denken eliminieren möchte. Ähnlich der instrumentellen Vernunft bei Horkheimer / Adorno (1988) erscheint das exzessive Rationale letztendlich aber zutiefst irrational. Bauman definiert die Moderne einerseits als die geistesgeschichtliche Aufklärung, andererseits als die Entwicklung einer industriellen Gesellschaft. Diese setze sich die Aufgaben der Ordnung, Transparenz und Universalität, welche das der Natur inhärente Chaos in klare Formen überführt. Dies gelingt wiederum nur durch die Ausübung von Macht und Autorität. Bauman bestimmt die Moderne als Existenzform, die sie sich in Ordnung und Chaos
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unterteilt. Die rationale Ordnung soll universalisiert werden und kann durch Mechanismen des logischen Entwurfs, der Gestaltung, Verwaltung und Technologie realisiert werden. Inkohärenz, Irrationalität, frei flottierende Affekte und Anarchie sind Feinde dieser dichotomischen Moderne: „Es ist ein Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit“ (Bauman 1995, 19). Die moderne, rational geplante Großstadt mit ihrer geometrischen Architektur, kann, will man Baumans Gedanken weiterdenken, als Gegensatz zur ursprünglichen, ambivalenten und ungeordneten Natur – des glatten Raums bei Deleuze / Guattari – aufgefasst werden. Für dieses, laut Bauman moderne Denken soll hier paradigmatisch der Senator und Vater Nikolajs, Apollon Apollonowitsch Ableuchow stehen, der einer der höchsten Verantwortlichen für die Stadtplanung ist. Ableuchow wird eingeführt als Vertreter der Ordnung und der logischen Klassifizierung. Schon dessen häusliches Ordnungssystem verweist einerseits auf eine präzise Klassifikation, andererseits wiederum auf Kategorien eines nach Newton geometrisch konstruierten Raumes. Die Überführung des Chaos in symbolische Ordnungen verweist auf das Prinzip des Menschen als symbolisches Wesen, welches die Komplexität der Welt in ihn vertraute, künstliche Muster überführt. Das Arbeitszimmer des Senators besteht aus planvoll – nach den Namen der Weltgegenden – angeordneten Schränken und Büchern, ein Buch ‚Kursus Planimetrie’ liegt zum Lesen bereit. Die Ordnung des Arbeitszimmers steht mikrokosmisch für die konstruierte Stadt. Ableuchow verweist ständig auf Regeln, Paragraphen und geometrische Figuren, die sich der anarchischen Revolution, der ungeordneten Raumordnung der Inseln und der allgemeinen Aufhebung der Ordnung entgegensetzen. Den diffusen Formen setzt dieser den parzellierten, vollständig geometrischen Raum entgegen:
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(…) er wünschte (…) daß die ganze, von Prospekten zusammengeschnürte Erde im linearen kosmischen Lauf die Unermesslichkeit mit einem geradlinigen Gesetz durchschnitte; daß das Netz paralleler Prospekte, durchschnitten von einem Netz von Prospekten, sich zu kosmischen Abgründen auswachse aus den Flächen von Quadraten und Kuben: ein Quadrat pro Bewohner. (Belyj 2005, 23) Auch Foucault beschreibt den parzellierten Raum als idealen Disziplinarraum, in welchem die vollständigste Kontrolle unter anderem über die gleichmäßige Verteilung der Individuen in einem analyti-
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schen Raum gewährleistet sei, der dem ziellosen Herumschweifen des Individuums vorbeugt: Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebenso viele Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind (…) gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung. (Foucault 1976, 183) Das Chaos wird dadurch gebannt, indem es in klar abgegrenzte Einheiten überführt wird. Diese absoluten geometrischen Formen versinnbildlichen die gewollte Überlegenheit dieser artifiziellen und abstrahierenden Ordnungsprinzipien über die sich widersetzende und verworrene amorphe Natur. Die Angst vor dem Unermesslichen, den horror vacui kann nur die kristalline Form bannen. Um etwa das Eindringen des Unbewussten, Chaotischen in den Schlaf zu verhindern, stellt sich der Senator im Halbschlaf geometrische Figuren wie Parallelogramme, Kegel und Kuben vor. Dies betrachtet Weber als Eigenschaft Belyjscher Figuren, die chaotische Ordnung der Dinge zu bewältigen: „so besitzt (…) die Vorstellung die Fähigkeit, die ungeordnete, oft chaotische Wirklichkeit kraft ihrer Kreativität in eine autonome Ordnung zu überführen. A.Belyjs Personen berufen sich dabei häufig auf geometrische oder mathematische Systeme“ (Weber 1981, 43). Die Fähigkeit zu Abstrahierung bleibt eine zentrale Eigenschaft des Senators. Er beraubt den Dingen die Einzigartigkeit und Ambivalenz, in dem er sie in höhere Kategorien überführt: doch der Senator erhob all diese Gesondertheiten aufs neue zur Einheit (…) In lakonischer Kürze würde er auch sein eigenes Haus charakterisieren, das für ihn aus Wänden bestand (die Quadrate und Kuben bilden), aus ausgeschnittenen Fenstern, Parkettafeln, Stühlen und Tischen; dann – begannen die Details… (Belyj 2005, 45) Die Dinge werden identisch mit den sie klassifizierenden Symbolen und weithin mit dem auf einer reinen Logik basierenden Bewusstsein des stadt- und zimmerplanerischen Demiurgen Ableuchow, der sein eigenes Universum erschafft. Dessen Plan für die Stadt ist ein geometrischer, das Prinzip der Klassifikation und Kategorisierung ist immer auch in räumlicher Hinsicht zu verstehen. So meint auch Bauman, dass „klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur zu geben“ (Bauman 1995, 14). Hier ist zuallererst eine geometrische Struktur gemeint, die sich räumlich ausbreitet. Nicht nur im Arbeitszimmer, auch in der Groß-
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stadt überträgt Apollon Apollonowitsch das geometrisch-klassifizierende System auf die komplexe, ambivalente Umwelt. Auch ist es der klassifizierende Blick, der in der visuellen Begegnung mit dem ‚Rasnoschitzen’ Dudkin die ambivalente Figur in bekannte Muster übertragen will: „die Besonderheit dieses Ausdrucks bestand nur in der Schwierigkeit, das Gesicht unter irgendeine vorhandene Kategorie zu subsumieren – in nichts sonst…“ (Belyj 2005, 30). Schon Milgram beschreibt den Mechanismus des Großstadtbewohners, die „Entwicklung optimal effizienter Wahrnehmungsmechanismen zur Feststellung, ob ein Individuum in die Kategorie ‚Freund’ oder ‚Fremder’ fällt“ (zit. nach Hauser 1990, 12). Der klassifizierende Blick eliminiert über die Option Inklusion/Exklusion die drohende Ambivalenz und überführt das Andere, Amorphe in vertraute Muster. Doch das Gesicht des Fremden entzieht sich der Dichotomie und bestätigt das Chaos, die Bedrohung der Ordnung. Die „reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen“ (Simmel 2006, 12), den Intellekt als Reizschutz und Distanzorgan stellt auch Simmel als Eigentümlichkeit des modernen Großstadtbewohners heraus. Dieser werde gegen die Unterschiede der Dinge abgestumpft, kann das Wesen der Dinge, wie sie ‚wirklich’ sind, ähnlich wie Ableuchow, nicht mehr erfassen und nimmt die Dinge weithin schematisch, als bloße klassifizierte Positionen innerhalb des Systems wahr. Ableuchow versteht sich als Zentrum, von welchem die von ihm ausgehenden Befehle und Kraftentladungen sich telefonisch in die Peripherie verteilen. Dieses Prinzip bestätigt sich auch in der täglichen Kutschfahrt durch die Stadt. Die Blicke aus der Kutsche heraus sind idealiter einseitig, was seine Macht auch in der Ordnung der Blicke spiegelt. Er bleibt als Befehlsgeber und Stadtplaner Dirigent der Zirkulation. Auch im Gespräch kann er Ambivalenz und die Kommunikation über mehrere Kanäle nicht ertragen. Sein sprachlicher Utilitarismus und Pragmatismus soll frei von jeglicher – auch affektiver – Ambiguität bleiben: Apollon Apollonowitsch Ableuchow, offen gesagt, ertrug kein unmittelbares Gespräch, das verbunden war mit dem Blick in die Augen des anderen (…) Jeder sprachliche Austausch hatte, nach Meinung Apollon Apollonowitschs, ein klares und geradliniges Ziel. (Belyj 2005, 261) Das Gleichmäßige, Harmonische und Geometrische ist sowohl die gewünschte Form des euklidischen Raums als auch der Bewegung für den Senator. In der städtischen Kutschfahrt bewegt sich sein Gefährt über die Linien der Stadt in symmetrischer Weise, „wenn wie ein Pfeil sein lackierter Kubus die Linie des Newskij durch-
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schnitt“ (Belyj 2005, 21). Als exemplarischer Stadtbewohner fürchtet er die Weite des Landes, das Unkultivierte, Unharmonische und Ungleichmäßige. Die zivilisatorische Ordnung der Großstadt wird von ihm bevorzugt. Diese Vorstellungen von Symmetrie und der Abwesenheit der Ambivalenz, des Schmutzes außerhalb der dichotomischen Ordnung also, übertragen sich auf seinen Körper. Er ist Gesundheitsapostel und erfreut sich an der symmetrischen Ordnung seiner Gliedmaßen. Auch versucht er sein Zimmer und seine Bibliothek von jeglichem Schmutz, der materialisierten Ambivalenz der nicht in sein Ordnungskonzept passenden Substanz, freizuhalten. Doch auch der Senator findet sich innerhalb des Wechselspiels von Bewusstsein, Körper und Raum wieder. Seine Gedanken und die gewünschte Abwesenheit der ungesteuerten Gefühlswelt materialisieren sich in raumzeitliche Gebilde, die von diesem nicht kontrolliert werden können: Hinter der zugeschlagenen Tür lag kein Salon: dort lagen… zerebrale Räume: Windungen, graue und weiße Substanz, die Zirbeldrüse; die schweren Wände (…) die kahlen Wände waren nur bleierne und schmerzhafte Empfindung: der Hinterhaupt-, Stirn-, Schläfen- und Scheitelbeine. (Belyj 2005, 45f ) Die geometrische Ordnung der Stadt wird immer wieder mit der Darstellung ambivalenter, chaotischer Räume als psycho-physische Bewusstseinszustände der Figuren kontrastiert. Die durch den Senator Apollon Apollonowitsch personifizierte Ordnung trifft auf irrationale und ambivalente Elemente der chaotischen Revolution der Inseln, was dieser versucht unter Zuhilfenahme von Techniken der geometrischen Konstruktion, Klassifikation, symbolischen Ordnung und Abstraktion zu eliminieren. Die geordnete Stadt und die chaotische, ‚wilde’ Natur (auch des Menschen und seines Irrationellen und Unbewussten) treffen aufeinander. Allmählich, im Laufe des Romans kommt es zu einer Art Entropie, der Auflösung der gesetzten Ordnungen. So manifestiert sich nicht nur die Revolution über das sukzessive Übergreifen der chaotischen Räume auf das geometrisch konstruierte Petersburg - auch nach dem Skandal auf dem Maskenball (der stadtweit gesuchte Mann in der Verkleidung des roten Domino wird als sein Sohn Nikolaj Apollonowitsch entlarvt) verfällt der Körper des Senators, die personifizierte Ordnung wird aufgelöst. Der Senator erscheint immer mehr hämorrhoidal, krankhaft, unrasiert und verwirrt. Die Zeit hat ihren Kampf gewonnen. Der Senator tritt in den Ruhestand und mit ihm die alte Ordnung.
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Literatur
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Gertrud Lehnert
Einsamkeiten und Räusche. Warenhäuser und Hotels Einleitung Warenhäuser1 und Hotels verkörpern seit dem 19. Jahrhundert geradezu idealtypisch zentrale Aspekte der modernen urbanen Lebensverhältnisse. Jede Gesellschaft, so kann man Henri Lefebvre (Lefebvre 2006) paraphrasieren, produziert ihren eigenen Raum. Das bürgerliche 19. Jahrhundert inszeniert sich selbst und sein Selbstbewusstsein in Warenhäusern, Museen, Hotels und Bahnhöfen. Auf der für die Moderne charakteristischen, sich oft verschiebenden Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit angesiedelt, sind sie für unaufhörliche Bewegung gemacht: im Kommen und Gehen wird die Grenze zwischen Innen und Außen überschritten, im Labyrinth des Innen kann man sich verlieren. Ein Verweilen ist nicht vorgesehen, jedenfalls keins, das über die Ladenöffnungszeiten oder über den Aufenthalt als Gast hinausginge. Die Spezifik beider Räume liegt im konstitutiven Wechsel von Fremdheit und vorübergehender Vertrautheit, von Ortlosigkeit und der Illusion eines Ortes, von Einsamkeit und dem Gedränge fremder Menschen. Mehr oder weniger unverrückbar bleibt freilich die Grenze zwischen der „Bühne“2, auf der Kunden und Gäste sich inszenieren, und den Räumen hinter den Kulissen, in denen unsichtbare Ange1
Vgl. zur Entstehung unter anderem Williams 1982; Marrey 1979; Frei 1997; Crossick / Jaumain 1999, König 2007. Zu Zola u.a. Lehnert 1999; Lehnert 2002; Lehnert 2008. Vgl. auch den Beitrag von Uwe Lindemann in diesem Band.
2
Vgl. zum Konzept von Theatralität u.a: Fischer-Lichte 2001.
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stellte die Maschinerie zum Laufen bringen und am Laufen halten. Diejenigen, die hier arbeiten, haben ein anderes Verhältnis zu diesen Räumen als die Gäste bzw. KundInnen. Warenhaus und Hotel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeichnen sich erstens – auf der materiellen Ebene – durch ihre historisierende Prunkarchitektur aus3 und konstitutieren sich zweitens vorrangig durch Bewegung und in Bewegung. Martina Löw 4 nennt Spacing und Synthese als Konstituenten eines modernen Raumverständnisses; das impliziert auch Bewegung, die ich gerade für solche semi-öffentlichen urbanen Räume noch stärker hervorheben möchte. Michel de Certeau erklärt, ein Raum entstehe, „wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“ (de Certeau 2006, 345) Das gilt für Raum schlechthin; das Warenhaus als spezifischer Ort macht es besonders anschaulich und ist darüber hinaus vorwiegend durch das gekennzeichnet, was de Certeau als Bewegungswahrnehmung und -form der Wegstrecke (im Gegensatz zur Karte) bezeichnet. Warenhaus und Hotel sind typische Durchgangsräume, vielleicht auch Übergangsräume, deren spezifische Differenz im Vergleich zu anderen Übergangsräumen genau bestimmt werden muss. Als gestaltete und geplante Orte, d.h. als Architektur, setzen sie auf starke Affekte und regen deshalb auch die kulturelle und individuelle Imagination an. Zugleich leben sie davon, dass sie notwendig erinnerungslos sind. Das ist ein Widerspruch, denn bekanntlich ist unsere Fähigkeit zum Erinnern an starke affektive Eindrücke gebunden5. Genau in diesem Widerspruch entfaltet sich das Potential dieser Orte als konkrete Erlebnisorte einerseits und als symbolische, auch literarisch verhandelte Räume andererseits. Ihre potentielle Qualität als Übergangsorte liegt ebenfalls darin begründet. Meine These ist, dass Warenhaus und Hotel (aber z.B. auch das Museum6, das ich punktuell im Vergleich speziell zum Warenhaus heranziehe) je verschiedene, aber spezifisch moderne Affekte, 3
Freilich ist diese historisierende Prunk-Architektur in dieser Form nur aufgrund modernster Bautechniken wie dem Eisenbau möglich. Auch Zola (2002, S. 321) beschreibt die scheinbar schwebelose Eisenarchitektur, die den Eindruck eines Spitzengewebes erzeuge.
4
Löw 2001. Zur aktuellen Raumtheorie siehe ferner: Dünne, Günzel 2006; Günzel 2007.
5
Vgl. u.a. Welzer 2005, Assmann 2006, Erll 2005.
6
Vgl. hierzu etwa Bennett 1995; Savoy 2006; in sozialhistorischer Perspektive und im Vergleich zum Warenhaus Rooch 2001.
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Erlebnisse und Interaktionen und Kommunikationsformen hervorbringen. Das hängt einerseits mit ihrer konkreten materiellen Struktur (Architektur, Inneneinrichtung) zusammen und mit den Dingen, die im Raum stets wechselnd angeordnet werden, sowie der Art und Weise, wie diese Dinge betrachtet und behandelt werden. Andererseits basiert diese auf der kulturellen Kodierung dieser Räume. Und irgendwo dazwischen – zwischen materieller Struktur, menschlicher Wahrnehmung, beeinflusst von kulturellen Codes und individuellen Erfahrungen – entstehen Atmosphären, die wesentlich sind für das menschliche Raumerlebnis. Mein Interesse richtet sich im Folgenden auf die Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gefühle, die sich in Wechselwirkung mit den neuen Räumen herausbilden (die ja ihrerseits bereits auf veränderte Wahrnehmungen und Lebensformen reagieren), und auf die damit verbundenen spezifischen Kommunikations- und Ausdrucksformen. Mein spezielles Interesse gilt der (visuellen) Inszenierung von Emotionen und von kommunikativen Ereignissen in diesen spezifischen Räumen, die für die hegemoniale, d.h. zunehmend bürgerliche und urbane Kultur seit dem Beginn der Moderne paradigmatisch sind. Textgrundlagen sind für das Warenhaus Emile Zolas Roman Au bonheur des dames (1882f ) sowie Paul Göhres Buch über das zeitgenössische Berliner Warenhaus Wertheim (1907)7, für das Hotel vornehmlich Marcel Prousts A la recherche du temps perdu und zusätzlich kontrastierend Vicky Baums Menschen im Hotel. Methodisch gehe ich trotz meines Bezugs auf literarische Texte nicht literaturhistorisch, sondern kulturhistorisch vor, d.h. ich stelle nicht die Textanalyse ins Zentrum, sondern beschränke mich auf das Skizzieren von Beobachtungen und Thesen und ziehe die literarischen Texte als Belege für kulturelle Vorstellungen und Normen heran. D.h., ich betrachte die Texte selbstredend nicht als Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern als ein spezifisches mediales, ästhetisches Verhandeln von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Ereignissen und Emotionen im Sinne und in Weiterentwicklung des New Historicism à la Stephen Greenblatt8. Im weiteren Sinne verstehe ich dieses Vorgehen als eine Form der Diskursanalyse, bei der schriftliche Texte unterschiedlicher Art mit kulturellen Texten – also kulturellen Handlungen und Artefakten, die als Zeichen lesbar sind – in Verbindung stehen.
7
Zola 2002; Göhre 1907.
8
Greenblatt 1986; vgl. auch Baßler 1996; Lehnert 2007.
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Heterotopien, „non-lieux“, liminale Räume?
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Ähnlich dem Warenhaus kann das Hotel, wenn auch mit charakteristischen Verschiebungen, als sozialer oder kultureller Mikrokosmos verstanden werden. Konstitutiv für beide Raumtypen ist, dass sie Durchgangsorte sind, sich aber den Anschein eines Ortes zum Verweilen zu geben bemühen. Das tun vor allem die höherpreisigen Warenhäuser und Hotels, die Grand Hotels zumal, über die ich im folgenden handele, da sich in beiden die Spezifika, auf die es mir für die Raumtypen ankommt, idealtypisch ausprägen und systematisch erfassen lassen. Für beide konstitutiv sind die wechselnden Relationen von innen und außen, privat und öffentlich. Essentiell ist außerdem, dass sie nur unter Mitwirkung der kulturellen und individuellen Imagination effektiv werden können. Für das Warenhaus gilt das aber offensichtlich in höherem Maße als für das Hotel. Hotel und Warenhaus sind als „besonders“ markierte reale, materielle Orte innerhalb der modernen Kultur. Beide, Warenhaus und Hotel, können daher als Heterotopien im Sinne Foucaults (2002) betrachtet werden: im Gegensatz zu Utopien wirkliche Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft als Gegenplazierungen hineingezeichnet sind. Abgesehen davon, dass ich Foucaults eher knappe und beiläufige Definition zu vage finde, um Heterotopien von anderen Orten zu unterscheiden, bietet seine Kategorie geeignete Einstiegsmöglichkeiten in die Diskussion spezieller Räume. 9 Freilich stehen beide Raumtypen, Hotel und Warenhaus, auf der Grenze zwischen Heterotopie und dem, was Marc Augé „NichtOrte“, „non-lieux“ nennt (Augé 1994); vielleicht sind sie diesen sogar näher (zumal m.E. beide Kategorien sich in einigen Aspekten überschneiden können). Nicht-Orte konstituieren sich laut Augé bekanntlich als „fliehende Pole“, als Palimpseste, „auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet“ (Augé 1994, 94). Nicht-Orte erzeugen geteilte Identität im Gegensatz zur Identität der Orte (Augé 1994, 118). Allein, aber den anderen gleich, trete der Benutzer des Nicht-Orts in ein Vertragsverhältnis ein, das ständigen Nachweis der Identität mittels Kreditkarte o.ä. verlangt. Befreit von gewohnten Bestimmungen, sei er „nur noch, was er als Passagier, Kunde oder Auto9
Nach Foucault haben Heterotopien eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum, entweder schaffen sie einen Illusionsraum, der den gesamten Realraum als illusorisch denunziert (hier ließe sich ohne weiteres das Grand Hotel nennen), oder einen Kompensationsraum, dessen Wohlgeordnetsein Realräume als ungeordnet erweist (das Warenhaus als Ort der Verfügbarkeit der ganzen Welt in Form von Waren?).
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fahrer tut und lebt.“ (Augé 1994, 120) Sowohl Warenhaus wie Hotel bieten die von Augé genannten ‚passiven Freuden der Anonymität‘ und die ‚aktiven Freuden des Rollenspiels‘, auch die flüchtige Identität mittels eines Ausweises, der nichts über das Individuum aussagt, sondern nur seine institutionelle oder pekuniäre Existenz bezeugt. Die Flüchtigkeit der „non-lieux“ ist es, die sie zumindest graduell von den Heterotopien unterscheidet, die das oft nicht sind. Hinzu kommt, dass „non-lieux“ nicht von vornherein mit gesellschaftlichen Bedeutungen aufgeladen sind, wie das im Falle der Heterotopien eher erwartbar ist. Sie sind eher von allen frequentierte und akzeptierte Durchgangsorte. Aber das sind, wie mir scheint, fließende Unterscheidungen. Ein Ort ist begrenzt und im Raum materiell lokalisierbar. An Orte können sich Erlebnisräume anlagern, die sich konstituieren im vorübergehenden Gebrauch oder auch nur der Wahrnehmung des Orts. Besitzen Warenhaus und Hotel die Qualitäten von liminalen bzw. Übergangsorten? Victor Turner (1995), der van Genneps These von den „rites de passage“ weiterentwickelt, spricht von Liminalität und liminoiden Phasen. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Gradationen eines Dazwischen: ein Nicht-Mehr und ein Noch-Nicht, in dem alles passieren, alles sich ändern kann, aber auch die Rückkehr zum Alten möglich ist. Liminale oder liminoide Phasen sind von Bedeutung für die Möglichkeit kultureller Entwicklung. Bezieht man dieses primär zeitliche Konzept des Liminalen/Liminoiden auf Räume oder auch Orte, wären Übergangsräume als Räume des Dazwischen zu beschreiben, in denen Veränderung möglich, aber nicht zwingend ist. Es scheint mir aus verschiedenen Gründen sowohl sinnvoll als auch fragwürdig, Hotel und Warenhaus als Übergangsräume, liminale Räume zu bezeichnen, dazu komme ich später zurück.
Warenhaus und Hotel: Architektur, Funktionen, Effekte Mit dem Warenhaus inszeniert sich im 19. Jahrhundert die Moderne als Konsumgesellschaft und schafft sie sich ihr sichtbarstes Symbol: den Ort, in dem Shoppen als selbstzweckhafte Beschäftigung und als Erlebnis zelebriert wird.10 (Den Begriff „Shoppen“ verwende ich im Gegensatz zum Einkaufen im Sinne einer erlebnisgesättigten, stark mit imaginären Komponenten durchsetzten Aktivität, 10
Vgl. zur Shoppingkultur im 20. Jahrhundert etwa: Schulze 1992; Haubl 1996; Lehnert 2009.
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die es im 19. Jahrhundert längst gab, wenn auch nicht das Wort dafür.) Auch wenn die Zeit des Warenhauses gerade zu Ende zu gehen scheint, weil der Erlebnischarakter, zunehmend gesteigert, auf andere Formen des Shopping übergeht (wie thematische OutletCenter oder Online-Shopping), lohnt es eine Beschäftigung damit. Denn das Warenhaus des 19. Jahrhunderts ist das Paradigma für eine neue Shoppingkultur, die bis heute wirksam ist, auch wenn es selbst ja schon ein Nachfolger anderer innovativer Kaufmöglichkeiten ist, wie Passagen, Basare, auch große Einzelhandelsläden mit Show Rooms zum Verweilen und Schauen. Das Warenhaus setzt von Anfang an auf Immersion. Allein die Architektur macht das evident. Aber die Architektur muss für diesen Effekt unterstützt werden von der zwingend dazu gehörenden Inszenierung der Dinge im Raum – oder umgekehrt die Inszenierung des Raums durch die Dinge. Das Museum setzt demgegenüber eher auf ästhetische und intellektuelle Erfahrung, eher auf Ehrfurcht als auf Überwältigung - und immer auf Distanz, die ja schon durch die Abgrenzung der Objekte von den Zuschauern beispielsweise durch Glasscheiben manifestiert wird. Das Hotel steht m.E. zwischen diesen beiden Polen Museum – Warenhaus. Die Trennung von Innen und Außen durch Glasscheiben wie im Warenhaus, die Trennung des Sehenswerten und der Betrachter wie im Museum durch Glasscheiben, wird zusammengeführt in der berühmten Szene der Recherche, in der die Gäste im hell erleuchteten Restaurant speisen und von Zuschauern, die ihre Nasen von außen an die großen Fensterscheiben drücken, wie exotische Fische in einem Aquarium wahrgenommen werden. Hotels werden laut Nicolas Pevsner (Pevsner 1976) seit dem späten 18. Jahrhundert in Weiterentwicklung der Gasthäuser zu luxuriösen und vieldimensionalen Orten, in denen sich eine wohlhabende reisende Öffentlichkeit versammelt und alles zu ihrer Bequemlichkeit Nötige vorfindet, von den eleganten Zimmern über Restaurants, Lesezimmer, Theater, Bars bis hin zu Geschäften. (Die Zimmer werden übrigens in den wenigsten Darstellungen der Hotels ernsthaft thematisiert.) Hotels scheinen von Anfang an als „Erlebnisarchitektur“ geplant. Sie leben von der Spannung zwischen den zentralen öffentlichen, scheinbar Gemeinschaft fordernden und fördernden Räumen und den privaten Zimmern, die Rückzug ermöglichen. Cordula Seger spricht vom architektonischen Gemeinplatz Grand Hotel, d.h. „über den standardisierten Bautyp hinaus den durch Konventionen und Hierarchien gesellschaftlich regulierten Ort.“ (Seger 2005, 6) Sie geht von der These aus, dass der imaginäre Raum Grand Hotel aus der Interdependenz zwischen
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Literarisierung, architektonischer Entwicklung und sozialer Besetzung entstehe. Das scheint mir überzeugend. Das Berliner Hotel Adlon beispielsweise macht solche Prozesse unmittelbar evident: die architektonisch durchaus verfälschende Imitation eines alten Modells, die nur vom Mythos des alten lebt. Am Hotel fällt auf, dass die funktionalisierte Gliederung des Raums neben die zentralen öffentlichen Räume als wesentliches Element die Zimmer setzt, Rückzugsorte par excellence, die in den beiden anderen Raumtypen nicht vorgesehen sind. Der sichtbare Luxus wird zum Bestandteil der Bequemlichkeit eines vorübergehenden Aufenthalts, der – wenigstens formal – das Fehlen der eigenen vertrauten Orte11 kompensieren soll. Die Möglichkeit der Begegnung mit anderen in der Halle, im Restaurant – auf den ersten Blick den Plätzen in Städten der Renaissance vergleichbar – erweist sich als trügerisch. Verweilen ist nicht vorgesehen, sondern Durchgang12. D.h., wenn Begegnung möglich ist, dann auf denkbar flüchtige Weise, nur den Schein der Authentizität wahrend und letztlich stets auf soziale Reputation bedacht. Contenance ist dabei immer wichtig; ein Verlust der (Selbst-)Beherrschung ist zwar jederzeit möglich, aber nicht vorgesehen. Anschaulich wird das in Vicky Baums Menschen im Hotel. Der kriegsversehrte Dr. Otternschlag verbringt seine Tage zwar untätig, einsam und depressiv in der Hotelhalle, was ungewöhnlich ist. Aber schließlich mäandert er täglich mindestens einmal durch die Halle, scheinbar ziellos, und kommt schließlich, von den Portiers vorhergesehen, bei ihnen an, um nach Post zu fragen. Niemals ist Post für ihn da, und alle wissen das. Dieses Ritual gehört aber zu der Selbstinszenierung des Einsamen, das die Möglichkeit zumindest vorspiegelt, er könne noch normal in der Welt leben und mit der Welt durch Fäden persönlichen Kontaktes verbunden sein. Der einzige Kontakt ist für lange Zeit dann schließlich nur der äußerst flüchtige mit dem Portier. Auch wenn die Wanderung des Einsamen eine Absicht verfolgt und sie zugleich zu verbergen sucht, nämlich eine soziale Inszenierung und die Selbstvergewisserung des eigenen Lebens, so ist sie doch zugleich auch ein „Bewegungsereignis“, um einen Begriff von Bernhard Waldenfels zu borgen. Waldenfels verdeutlicht damit, dass im „Sichbewegen“ die Trennung zwischen reinem Bewegtwerden und reinem Bewegen unsinnig sei: 11
Ich verstehe das eigene Zuhause als anthropologischen Ort im Sinne Augés.
12
Das verhält sich mikrokosmisch zur Bewegung durch die modernen Städte, wie es u.a. Richard Sennett in sozialhistorischer Perspektive aufgezeigt hat (Sennett 1995).
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Wenn jemand, der sich bewegt, seiner Bewegungen niemals völlig Herr ist, so entfällt auch die Alternative zwischen einer Selbstbewegung, die ihre Ursache in sich hat, und einer Fremdbewegung, bei der die Ursache außerhalb zu suchen ist. Für eine teleologische Betrachtungsweise versteht es sich von selbst, dass auch die Handlung als spontane und willentliche Bewegung von anderem bewegt wird, nämlich von dem Ziel, um dessentwillen sie in Gang gesetzt wird. (...) Gehen wir (...) davon aus, dass wir uns nicht nur auf vorgegebene Ziele zu bewegen, dass vielmehr jede Zielordnung aufgrund ihrer Selektivität mit Kontingenz behaftet ist, so müssen wir unterscheiden zwischen normalen Bewegungen, die auf zielgerechten Bahnen verlaufen, und anomalen Bewegungen, die durch überraschende Widerfahrnisse aus der Bahn geworfen werden und nirgends einen festen Halt finden. (Waldenfels 2007, 18) Dr. Ottenschlag bewegt sich so gezielt–ungezielt, wie es von Waldenfels als grundlegend für jede Bewegung beschrieben wird. Natürlich dient das auf der Ebene der „histoire“ dem Herauszögern des Moments, in dem er sich dem Nein stellen muß. Freilich vollzieht er auch eine Art räumlicher Aktivität, die mir einerseits als typisch für das Hotel scheint und die andererseits und vor allem grundsätzlich raumkonstituierend ist. Indem Dr. Otterschlag vor allem mit dem Raum interagiert – bzw. dem Ort Hotelhalle, den er zu seinem ganz persönlichen Raum der Einsamkeit macht, wird er zum Paradigma des Sichbewegenden, der Raum und Zeit bildet:
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Das Hier als der Ausgangspunkt und das Dort als der Zielpunkt einer Bewegung sind keine beliebigen Raumstellen innerhalb eines homogenen Raumes und keine beliebigen Zeitpunkte auf einer ins Endlose verlaufenden Zeitlinie, sondern bevorzugte Zeit-Orte. Das Hier-Jetzt, das die Situation des Sprechers anzeigt, verweist ebenso auf die Situation des Sichbewegenden. (Waldenfels 2007, 21) Spezifisch für die Bewegung im Hotel ist, dass dieses ziellose-zielorientierte Mäandern in einem öffentlichen Raum für ein Publikum und für die sich bewegende Person selbst inszeniert wird. Dieser öffentliche Raum ist jedoch ein Innenraum, der eine Art Zwischenposition zwischen der Straße draußen und dem privaten Raum einnimmt. Sein Betreten ist durch einen Türsteher reguliert, die Hotelhalle stellt einen Übergang von der Öffentlichkeit der Straße zur Privatheit des (Hotel-)Zimmers dar. In der Halle steht der Handelnde genauer unter Beobachtung als auf der Straße, da die Halle eben nur semi-öffentlich ist und unter der Verfügungsgewalt ande-
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rer als des Handelnden steht, der diesen Ort nur gleichsam leihweise zu dem seinen macht. Das – und die nur notdürftig versteckten Zielorientiertheit - unterscheidet das Wandern in der Hotelhalle vom Flanieren des echten Flaneurs in der Großstadt. Dr. Otternschlag befindet sich in einem Ort, der Vertrautheit, Bekanntschaft und Zugehörigkeit grundsätzlich vorspiegelt. Auf vollkommen andere Weise wird das auch in Marcel Prousts Recherche deutlich, als der Ich-Erzähler zum ersten Mal das Grand Hotel im Seebad Balbec betritt. Der Hoteldirektor ist eine recht groteske Figur, die dem erwünschten sozialen und finanziellen Niveau des Grand Hotel nicht im mindesten entspricht, ja der ungeachtet seiner eigenen Position (oder, auf der Ebene des „discours“, gerade deshalb?) nicht einmal zwischen den Hochstaplern und den wirklich Hochgestellten unter seinen Gästen zu differenzieren vermag. Schon früher wird ein weniger auffälliges, aber deutliches Signal gesetzt: eine „Treppe aus falschem Marmor“ ist so ziemlich das allererste, was wir überhaupt über die materielle (und damit sofort auch ideelle) Beschaffenheit des Hotels mitgeteilt bekommen: Erzähler und Großmutter betreten die „hall“ des Hotels „mit ihrer monumentalen Treppe aus falschem Marmor im Hintergrund“ (Proust 1970, 311). Dann erst betritt der absurde Direktor die Szene. Und schon zwei Seiten später ist erneut von den „Stufen aus falschem Marmor“ die Rede. Das ist offensichtlich so wichtig, dass es zum ersten und bestimmenden Qualifikativ dieses Hotels wird. Das Hotel ist ein Nicht-Ort, der dem Erzähler den Boden unter den Füßen wegzieht, weil es nicht in seiner Welt, in seinem Leben verankert ist, weil es ein flüchtiger, ein improvisierter, ein falscher Ort ist. Der Text erzählt nicht nur, dass das so ist, er führt es im Erzählen selbst vor. Die erwähnte Aquariumsszene führt zudem die fragile Trennung zwischen den sozialen Statusgruppen vor: die einen, die es sich nicht leisten können, drin zu sein, stehen draußen und drücken sich die Nasen an den Glasscheiben platt, um die anderen zu beobachten, die innen im Luxus schwelgen. So einfach ist es jedoch nicht: Wer ist Subjekt, wer Objekt? Wer schaut, wer wird angeschaut? Welche Machtpositionen werden hier eingenommen, vertauscht und wieder vertauscht? Kann, wer sich und seinen Status zur Schau stellt, passives Objekt der fremden Blicke sein, oder ist dieses Sich-Zur-Schau-Stellen nicht höchst aktiv? Kann umgekehrt das Schauen nicht ganz anderes sein als Sehnsucht nach dem, was einem unerreichbar ist, sondern eine aktive Inbesitznahme und Bedrohung? Im Hotel tritt der ästhetische Effekt von Architektur und Inneneinrichtung anders in Erscheinung als im Warenhaus. Er wird deutlicher sozial funktionalisiert; er soll nur insofern überwältigen, als
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er den Rahmen für eine soziale Selbstinszenierung (und damit verbunden sicher auch Selbstgenuss) bietet. Damit wird er auch immer wieder zum Rahmen einer neuen theatralen Aufführung, denn tatsächlich kann man sich hier, losgelöst von allen Bindungen, die einen zu Hause situieren und verwurzeln, im gleichsam luftleeren Raum bewegen und eine andere Existenz vorspiegeln. Andererseits ermöglicht er es auch, die vermeintlich tatsächliche Existenz zur Erscheinung zu bringen, was ja immer auch heißt, dass im performativen Handeln etwas hervorgebracht ist, was sonst nicht sichtbar wäre.
Einsamkeiten und Räusche Auch das Warenhaus benötigt zu seiner Wirksamkeit die Interaktion vom Menschen mit dem Raum einerseits und mit anderen Menschen andererseits. Auch im Warenhaus ist Begegnung nur flüchtig möglich, wenn überhaupt. Allerdings setzt das Warenhaus weniger auf zwischenmenschliche Begegnung als auf die Begegnung der Kundin mit den Dingen. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Denn was hier ausgelöst werden soll, und zwar in aller Öffentlichkeit, ist Rausch: Kaufrausch.
Kaufrausch
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Der Kaufrausch ist im 19. Jahrhundert und lange darüber hinaus der einzige Rausch, der Frauen in der dominanten Geschlechternorm zugestanden wird, weil er im semi-privaten Raum und scheinbar unsichtbar geschieht. Analog ist das Anschauen und Begehren von Konsumobjekten das einzige aktive Begehren, das Frauen – zumindest offiziell – zugestanden wird.13 Damit der Kaufrausch entstehen kann, muss – in der Terminologie des 20. Jahrhunderts gesagt –, 1. an die Stelle zielorientierten, rational gesteuerten Kaufens erlebnisorientiertes Shoppen treten, 2. müssen sich die Käuferinnen freiwillig in eine Situation begeben, in der sie der Verführung zum Kauf ausgesetzt sind. Sie nehmen also den vorübergehenden Kontrollverlust als integrales Element des Rauschs billigend in Kauf. Ein kontrollierter Kontrollverlust wird von der Institution Warenhaus (als Paradigma der Konsumgesellschaft) ebenso gezielt hergestellt, wie er von der Käuferin aktiv herbeigeführt wird. Dann erst geschieht etwas zwischen der Käuferin und der Ware. Schon im Prozess des Entwurfs und der Herstellung, dann in Prä13
Vgl. Lehnert 2009; Lehnert 2008.
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sentation und Werbung wird jede beliebige Ware mit ästhetischen, sinnlichen und emotionalen Qualitäten versehen, um begehrbarer zu werden, als sie es als pures industrielles Artefakt eigentlich sein könnte. Aber erst, wenn die Käuferin aktiv wahrnimmt, imaginiert und begehrt, entsteht in ihrer Begegnung mit dem Objekt eine Atmosphäre, die für jede Käuferin – oder: für jede Begegnung Käuferin – Objekt auf ihre Art spezifisch ist. Das gilt ganz besonders im Zusammenhang mit Mode, die als Form der Körpertechnik 14 eine ganz besonders intime Beziehung zur Käuferin verspricht. Es geschieht also eine Bezugnahme Käuferin – Ding; die Atmosphäre fungiert gleichzeitig als Ergebnis, als Medium und als Raum der Begegnung. Im nächsten Schritt wird das Ding zur Projektionsfläche für Phantasien der erstaunlichsten Art und schließlich zum Objekt der Begierde15. Das ist in der Konsumkultur unabdingbar und konstituiert den entscheidenden Unterschied zur Begegnung von Mensch und Artefakt im Museum, wenngleich heute die Museen in ihren Museums-Shops diese Grenze auch zunehmend überschreiten. In dieser Konstellation ist das Ding kein Gebrauchsgegenstand mehr, auch wenn es noch so nützlich sein mag, sondern es wird zum Symbol, das die Befriedigung unterschiedlichster – oft nicht klar artikulierbarer – Sehnsüchte verspricht. Jedoch findet keine Metamorphose des Objekts statt, sondern eine Illusionsbildung. Begabt wird das Ding mit seinen oft trügerischen Eigenschaften von der phantasiebegabten Käuferin, die einerseits aktiv ihre Imaginationskraft in das tote Ding investiert und es auf diese Weise fast belebt. Die Begegnung mit dem Ding und der momentane Kontrollverlust bewirken ein Glücksgefühl in der Käuferin: Sie ist außer sich – und zugleich ganz bei sich und in der Situation/im Moment. Andererseits ist sie – sofern sie anfällig für Konsumräusche ist16 – passiv einem unwiderstehlichen Drang ausgesetzt, dieses eine besondere Ding (und noch viele andere von der Sorte) haben zu müssen. Ganz gleich, ob sie sie braucht, und koste es, was es wolle. Nur der Kauf kann in diesem Moment beruhigen, glücklich machen, nur der Besitz verspricht die Erfüllung ihrer Wünsche – oder nicht? Wenn Frau Marty in Zolas Paradies der Damen (1882f.) sich dem Vergnügen hingibt, in den Spitzen zu wühlen, ist das ein durch und durch sinnliches Ereignis, das sie gern verlängern und mit nach Hause nehmen würde. Und nachdem sie einen ganzen Tag in einem 14
Vgl. dazu u.a. Craik 2005.
15
Vgl. dazu die eingängige Studie von Wolfgang Ullrich: Habenwollen (2008).
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Die weibliche Sozialisation setzt darauf. Nicht erst Simmel oder Veblen haben das direkt oder indirekt herausgearbeitet.
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Ausverkauf verbracht hat, sind die Indizien des Kaufrauschs der Dame auch körperlich unmissverständlich: Frau Marty hatte jetzt das angeregte und nervöse Gesicht eines Kindes, das unvermischten Wein getrunken hat. Mit klaren Augen, die Haut kühl und frisch von der Kälte, die auf der Straße herrschte, war sie hereingekommen, dann aber hatte sie sich allmählich die Augen und den Teint versengt am Schauspiel dieses Luxus, dieser starken Farben, deren ununterbrochener, rasch vorüberziehender Reigen ihre Leidenschaft aufstachelte. Als sie endlich fortging, nachdem sie, entsetzt über den Rechnungsbetrag, gesagt hatte, sie werde zu Hause bezahlen, hatte sie die verzerrten Züge, die geweiteten Augen einer Kranken. (Zola 2002, 344) Frau Marty ist im Kaufrausch gewesen; der Vergleich mit dem Weingenuss spricht eine deutliche Sprache. Zu diesem Rausch hat nicht nur das Übermaß begehrenswerter Waren beigetragen, sondern untrennbar davon auch deren Präsentation in einem scheinbar unendlichen Labyrinth von Räumen, in denen die Kundin sich verliert, sich in Dinge verliebt, dem Ansturm auf ihre Sinne ausgeliefert ist und den Verführungen ausgesetzt ist, gegen die sie sich nur pro forma zuweilen verbal zur Wehr zu setzen vermag.
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Die doppelarmigen eisernen Treppen zeigten kühne Kurven, schufen vermehrte Podeste; die über die Leere geworfenen eisernen Brücken zogen sich in großer Höhe schnurgerade dahin; und all dieses Eisen bildete unter dem weißen Licht der Glasdächer eine schwerelose Architektur, ein dem Tageslicht Zugang gewährendes Spitzengewebe, die moderne Verwirklichung eines Traumschlosses, eines Babel, das Etagen aufeinander türmte, Raum für große Säle schuf und bis ins Unendliche Ausblick auf andere Etagen und andere Säle auftat. (Zola 2002, 321) Nicht genug damit: Auf die konkrete, in sich schon überwältigende Architektur werden von den Dekorateuren unterschiedliche Erlebnisräume projiziert: ein orientalisches Zelt (Zola 2002, 114f.), ein leuchtender Palast (Zola 2002, 342), eine Gletscherlandschaft (Zola 2002, 511). Diese Raumfiktionen üben einen unwiderstehlichen Zauber aus und stecken die Waren mit diesem Zauber an. Für den Besitzer des Bon Marché freilich, der diesen ganzen Zauber in Szene setzt, ist das ganze Haus nichts als ein Schlachtfeld, auf dem er Siege feiert und das er von oben wie ein Feldherr inspiziert. Frau Marty verfällt dem Haus und seinen vielfältigen sinnlichen Genüssen ‒ dem Ort und seinen fiktionalen Räumen ‒ mit Haut und
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Haaren. Erst in dem Augenblick, in dem sie die Rechnung präsentiert bekommt, wird sie wieder nüchtern. Gesund und im Vollbesitz ihrer mentalen Fähigkeiten ist sie morgens zum Ausverkauf gekommen, völlig aufgelöst verlässt sie am Abend das Haus, in einem emotionalen Zustand, der eigentlich nicht für die Öffentlichkeit taugt, weil er viel zu intim ist: Die Analogie zur erotischen Erregung ist offensichtlich, die Kleidung, die Spitzen, alles, was zur Mode zählt, ist gleichsam fetischisiert worden.17 Dieser Konsumrausch verlangt nach Wiederholung, wird doch das so herbeigeführte Glück, dieses Sich-Verlieren im momentanen Tun, ganz schnell schal – er lässt nichts übrig außer Ernüchterung und der Sucht nach Wiederholung des Rauschzustands. Und so wird er wiederholt und wiederholt, gerade weil er im Ergebnis immer scheitert. Das Versprechen bleibt umso verführerischer, weil die Des-Illusion regelmäßig eintritt. Und jeder Rausch, mag er noch so sehr eine Gemeinschaft vorgaukeln, ist eine einsame Erfahrung.
Einsamkeiten Die Einsamkeit in der scheinbaren Gemeinschaft, in der Menschenmenge, teilt das Warenhaus mit dem Hotel. Das Hotel verspricht Bequemlichkeit, ja Luxus; es will für das vertraute Zuhause eintreten, vorübergehend die Position eines „Orts“ (im Augéschen Sinne als anthropologischer, verwurzelter und verwurzelnder Ort) einnehmen. Tatsächlich liegt es viel näher, das Hotel als den Ort vollkommener Einsamkeit und Entwurzelung zu verstehen. Ohne Welt, ohne Zimmer, ohne Leib, die nicht von den mich umgebenden Feinden bedroht worden wären, bis ins innerste Gebein von Fieber heimgesucht, war ich ganz allein und hatte Lust zu sterben. Da trat meine Großmutter ein; und der Ausweitung meines beengten Herzens boten sich auf einmal unermessliche Räume dar. (Proust 1970, 318) So schildert der Erzähler der Recherche seine Ankunft in einem ihm unbekannten Hotel im unbekannten Ferienort Balbec. Wie Angelika Corbineau-Hoffmann (2003, 13) schreibt, ist die Bedingung der Identität des Ich im Proustschen Œuvre die Identität des Raums. Das Umgekehrte gilt freilich auch: die Voraussetzung der Identität des Raumes ist die zerbrechliche Identität des Ichs, denn es ist ja einzig die Erinnerung des Körpers, die überhaupt Identitäten zu produzieren vermag. Im Hotel, so verdeutlicht das Zitat, werden 17
Mode als Fetisch ist nur ein Aspekt von Mode. Insofern teile ich Barbara Vinkens Modeanalyse als Fetischismus nicht (vgl. Vinken 2001).
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diese Identitäten zunächst außer Kraft gesetzt, denn das Hotel ist per definitionem erinnerungslos: Die Zimmer werden nach gängiger Mode und dennoch möglichst neutral eingerichtet. Ist ein Gast abgereist, werden sie wieder so hergerichtet, dass sie idealiter neu und unbewohnt wirken. Völlige Austauschbarkeit und Gleichgültigkeit sind die Strukturprinzipien, ganz gleich, wie intensiv, ja umwälzend die emotionalen Erlebnisse einzelner Gäste im Hotel gewesen sein mögen. Das könnte auch ihre Nachwirkung betreffen: Was im Hotel stattgefunden hat, hat gar nicht stattgefunden? Sicher ist: Der Hotelraum soll, im Gegensatz zu anderen Räumen, gerade keine Gefühle oder gar Vergangenheiten speichern; seinen Effekt bezieht er aus der psychologisch neutralen, nur durch Statusinszenierungen wirkenden Inneneinrichtung.18 In Menschen im Hotel wird das umstandslos ausgesprochen: Ohne Sentimentalität verlässt die Grusinskaja das erlebnisreiche Hotelzimmer mit der Tapete, die ihr immer auf die Nerven ging. Im Hotel Imperial in Prag ist schon ein anderes für sie reserviert, und im Hotel Bristol in Wien auch, ihr gewohntes Zimmer nach der Hofseite (...) Und eines in Rio und eines in Paris, in London, in Buenos Aires, in Rom, eine endlose Perspektive von Hotelzimmern mit Doppeltüren und fließendem Wasser und mit dem undefinierbaren Geruch der Rastlosigkeit und der der Fremde .../ Zehn Minuten nach neun fegt das unausgeschlafene Stubenmädchen in Numero 68 flüchtig den Staub fort, es wirft die welken Blumenarrangements weg, trägt die Teetasse hinaus, und zuletzt bringt es neue Bettwäsche – noch feucht vom Bügeln – für den nächsten Gast ... (Baum 2005, 162f.)
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Die Dinge im Zimmer werden neutralisiert, desinfiziert, stumm gemacht. Wenn sie noch etwas sagen, dann jedenfalls nichts über Erfahrungen, die in und mit ihnen gemacht worden sind. Sie verweisen höchstens immer wieder auf das Hotel als solches und seinen Anspruch, vorübergehender Ort zu sein. Zurück zu Prousts Erzähler, für den in neuen Umgebungen immer wieder die Desorientierung re-aktualisiert wird, mit der der Roman als ganzer bekanntlich beginnt: Das Aufwachen aus kurzem Schlummer und die Desorientierung in Raum und Zeit, 18
Zwar schildern Stephen King in The Shining oder John Irving in The Hotel New Hampshire durchaus andere Hotels und Hotelräume; das geschieht aber aus ganz anderen Perspektiven: Irvings Protagonisten sind keine Gäste, sondern leben im Hotel; Kings Hotel setzt auf den Schauder der untoten Vergangenheit in einem leeren Hotel, in dem der labile Hausmeister deren Anfechtungen ausgesetzt ist.
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die das Kaleidoskop der unterschiedlichen und unzusammenhängenden Erinnerungen auslöst. Im Hotel erlebt er diese Desorientierung immer aufs Neue in der Konfrontation mit der schrecklichen Stummheit der Dinge: Unsere Aufmerksamkeit füllt ein Zimmer mit Gegenständen an, doch unsere Gewohnheit lässt sie wieder verschwinden und schafft uns selber darin Platz. Platz aber gab es für mich in meinem Zimmer in Balbec (das meines nur dem Namen nach war) nicht; es war voll von Dingen, die mich noch nicht kannten und mich so misstrauisch anstarrten, wie ich es mit ihnen tat, und ohne von meiner Anwesenheit sonst irgendwie Kenntnis zu nehmen, mir zu verstehen gaben, dass ich ihr Dasein störe. (Proust 1970, 317) Und einige Seiten später: Vielleicht ist das Grauen, das ich empfand - und das auch viele andere verspüren – wenn ich in einem unbekannten Zimmer schlafen sollte, nur die bescheidenste, dumpfe, körperbedingte, unbewusste Form jenes großen verzweifelten Widerstandes, den die Dinge, die das Beste unseres gegenwärtigen Lebens ausmachen, unserer geistigen Bekanntschaft entgegensetzen, die Bedingungen einer Zukunft zu unterschreiben, in der sie nicht vorkommen. (Proust 1970, 321f.) Foucault schreibt: „Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“ (Foucault 2002, 38) In Prousts Roman gewinnt diese moderne Identitäts- und Ortslosigkeit eine noch existentiellere Dimension: es geht um nichts anderes als den Tod. Nun beginnt zwangsläufig der Prozess des Erschließens, nein: des Erschaffens des Raums, damit er Ort werde. Die Vorstellungskraft ordnet die Gegenstände im Raum neu an, färbt sie um und macht sie zu Gefährten – und lässt sie redselig werden. Damit wird vorübergehend und nur scheinbar der Tod verbannt. Erst durch das Schaffen eines Orts aus dem Raum aufgrund von Plazieren von Dingen gewinnt das Subjekt seine Identität, die indessen jederzeit wieder existentiell bedroht werden kann. Die folglich mit dem Hotel wesensmäßig verbundenen Gefühle sind Einsamkeit, Selbstverlust und Todesangst. Nur der Selbsterhaltungstrieb lässt dann Neugier auf das Fremde entstehen, erst dann
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folgt die Fähigkeit, sich einzulassen und vorübergehend auch dort, an diesem Nicht-Ort, zu leben und so zu tun, als wäre er ein Ort.19 Die Räusche, die im Hotel natürlich auch möglich sind, finden im Verborgenen statt und sind charakterisiert durch ihre vermeintliche Folgenlosigkeit. Die Liebesnacht, die die alternde Primaballerina Grusinskaja in Menschen im Hotel mit dem Baron anschließend von Gaigern – dem charmanten Dieb und Hochstapler – erlebt, ist nur hier und jetzt möglich. Und obgleich sie glaubt, eine neue große Liebe gefunden zu haben, bleibt die für beide rauschhafte Nacht nicht nur deswegen folgenlos, weil der Baron anschließend bei einem Einbruch erschossen wird, sondern auch, weil die Realisierung dieser Nacht von der spezifischen Situation eines im Grunde unverbindlichen transitorischen Zustandes abhängt. Sie wäre anders und anderswo nie zustande gekommen.
Erinnerungslosigkeiten
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Die Orte ändern sich ständig, sie werden umgebaut, neu dekoriert; sie leben geradezu von ihrer eigenen Erinnerungslosigkeit. Und dennoch: Die Gäste sollen sich an das Hotel erinnern und wiederkommen; die Kundinnen sollen sich an das Warenhaus erinnern und wiederkommen. Die Affekte, die Hotel und Warenhaus auslösen, sind nur mittelbar mit ihnen verbunden. Im Warenhaus resultieren die Affekte aus dem Zusammenspiel von beeindruckender Architektur und den ständig neuen Dingen im Raum, also aus dem Zusammenspiel von Stabilität und Wandel. Ohne die käuflichen Waren entstünden keine Affekte, denn diese resultieren nur aus der entstehenden Atmosphäre. Zweifellos gibt es Dinge, die eine spürbare Aura besitzen; oft hat diese nur im Museum Zeit, sich zu entfalten und gespürt zu werden, aber auch käufliche Dinge können eine Aura haben. Das hängt von ihrer Qualität ab; keineswegs ist Aura an Handarbeit und Einzigartigkeit gebunden. Im Warenhaus entsteht die Atmosphäre zwischen Kundin und Konsumobjekt gezielt gesteuert, da den Objekten schon in Herstellung und Präsentation künstlich Eigenschaften zugefügt werden, die sich auch als Versprechen lesen lassen. Die Kundin soll das Versprechen der Dinge wahrnehmen und im besten Falle die Dinge imaginativ mit einer Seele ausstatten. Daraus resultiert Begehren und schließlich die Hoffnung, dass dieses Versprechen eingelöst werde, wenn man 19
Natürlich gibt es Menschen, die immer im Hotel leben, z.B. Coco Chanel. Auch das wäre ein eigenes Kapitel in einer größeren Studie über das Hotel, die ich einer anderen Gelegenheit vorbehalte.
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das Objekt ersteht. Darum muss man wiederkommen, denn kaum ein Ding löst das Versprechen ein, das es gibt. Wären die Dinge im Hotel auratisch oder wären die Zimmer des Hotels voller Erinnerungen an die anderen Gäste, die hier gelebt haben, würde das Prinzip nicht funktionieren, das die Menschen wiederkommen lässt, weil ihnen vorgegaukelt wird, sie wären die einzigen, die diese Räume bewohnen.
Übergangsräume? Hotels sind Orte, an denen alles möglich scheint und tatsächlich nichts wirklich möglich ist. Sie initiieren nicht einen anderen Seinszustand, sondern feiern die Wiederholung. Ähnliches gilt für das Warenhaus, vielleicht sogar in höherem Maße. Und dennoch: beide Raumtypen können – zumindest ansatzweise – auch als Übergangsräume betrachtet werden, an denen potentiell etwas Wichtiges, sogar Leben-Veränderndes geschieht. Mechthild Albert (2003) schreibt Übergangserfahrungen im Werk Prousts einen zentralen inhaltlichen und poetologischen Wert zu, konzediert zugleich, dass es sich dabei auch um Zeittypisches handele. Sie spricht von der Unverortbarkeit der Schwelle als Übergangsort (im Sinne Waldenfels’). Ich meine, wie zu sehen war, dass sich in der Recherche durchaus Verortungen der Schwelle finden, wenigstens in einem äußerlichen Sinne: das Hotel als materieller Ort ist eine solche Schwelle von einem Seinszustand zu einem anderen. Letztlich macht diese Erfahrung nur konkret wahrnehmbar, was die Recherche ästhetisch strukturiert und was die Essenz der Lebenserfahrung des Erzählers ist: Übergänge machen das Leben schlechthin aus. Die konkret wahrnehmbare ebenso wie die ästhetisch in Szene gesetzte Schwelle vermag diesen Prozess des ständigen Wandels und der Vergänglichkeit ins Bewusstsein zu rufen gegenüber der Gewohnheit, die bestrebt ist, den Ablauf der Zeit und Schichtung der Räume und Orte zu einer harmonischen Einheit zu gestalten. Sinn der Schwellen wäre es, diese notwendig vordergründig bleibende Glättung immer wieder zu durchbrechen und dem Subjekt seine grundsätzliche Einsamkeit in der Welt zu verdeutlichen, und natürlich auch seine Vergänglichkeit. Das lässt sich verallgemeinern. Für das Warenhaus ist die Antwort auf die Frage, ob es ein Übergangsraum ist, noch schwerer. Es verspricht ja, im Kauf einen anderen Zustand herbeizuführen. Waren versprechen viel, vor allem ein schöneres Leben, ein anderes Lebensgefühl. Vermutlich ist es eine Frage der Wertung von liminalen Räumen, ob man es dazu rechnet
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oder nicht. Sicher überführt es nicht in einen anderen Lebenszustand; aber es markiert immer wieder eine Schwelle zwischen dem alltäglichen und dem erhofften Selbstgefühl – als Hoffnung, dass das Leben sich ändern könne. Dass das Selbstgefühl sich ändern könnte. Oder es verspricht gar nichts Konkretes, sondern nur: das immer wieder Andere, das Neue, außerhalb der eigenen vier Wände, außerhalb der Arbeit. Konsumkritisch müsste man sicher sagen, dass hier keine Veränderung geschieht, sondern ausschließlich und programmatisch die Vorspiegelung von Veränderung. Aber auch das versetzt in einen Zustand des Übergangs, in dem subjektiv Neues möglich scheint. Dass dieses Neue sich als nichtig erweist, ist die andere Geschichte.
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„Alles will jetzt lesen.“ Formen der Geselligkeit in öffentlichen Bibliotheken und Lesekabinetten im Zeichen der Aufklärung In Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1731-1754) lautet das Lemma für den Artikel über die Bibliothek: „Bücher-Vorrath“. Dies ist, wie sich herausstellt, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vieldeutiges Wort: Es bezeichnet sowohl die Büchersammlung als auch das Gebäude oder den Raum, wo die Bücher „aufgehoben“ werden, sowie die Kataloge, in denen die seit Jahrhunderten gesammelten Werke fortlaufend bibliographisch erfasst und geordnet werden. Zedlers bemerkenswert umfangreicher Artikel zum Begriffsfeld „Bibliothek“ handelt die unterschiedlichen Bedeutungen in alphabetischer Reihenfolge ab, skizziert grosso modo die Geschichte ausgewählter Bibliotheken vom Altertum bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und beendet nach fast 35 Spalten den Artikel mit einer allgemeinen Betrachtung über das Prinzip der öffentlichen Bibliotheken, die von den Büchersammlungen in Privatbesitz unterschieden werden: Die öffentliche Bibliothek, die dem allgemeinen „gelehrten“ Publikum zur Verfügung stehen soll, diene dem „öffentlichen Nutzen“. Das eindringliche Plädoyer für die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken geht davon aus, dass angesichts der Kostspieligkeit der Bücher und Zeitschriften deren Erwerb mit öffentlichen Mitteln im Interesse des Gemeinwohls sei: „Der rechte Endzweck nun von öffentlichen Bibliothecken [sic] ist also dieser, dass
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man denen andern die Kosten erleichtere.“ Indes soll der Bucherwerb für die öffentlichen Bibliotheken wohl überlegt und vernünftig sein: Rare und große Werke, wichtige und auserlesene Bücher, „nicht aber nichtswürdige und geringschätzige“ gelte es zu erwerben. Vor allem sollte der Zugang zum „Bücher-Vorrath“ erleichtert werden, etwa mithilfe eines vernünftig eingerichteten „Catalogus“ und der Unterstützung durch den „Gelehrten, der Bibliotheck kundigen, und freundlichen Bibliothecarius“. Eine dergestalt „wohl eingerichtete“ öffentliche Bibliothek, in der – so darf angenommen werden – den Lesern unbedingt das Grosse vollständige Universal-Lexicon zur Verfügung stehen sollte, könnte dem gelehrten Publikum das gesammelte Bücherwissen bereitstellen und im Sinne der Aufklärung die Möglichkeit bieten, an der Wissensgesellschaft zu partizipieren. Wie im Zedler, so wird die Wertschätzung der europäischen Buchkultur wenig später auch in der französischen Encyclopédie (1751-1780) zum Leitfaden der von den Herausgebern persönlich verfassten Artikel „Bibliothécaire“ und „Bibliothèque“ (Diderot) sowie „Catalogue“ (d’Alembert). Deutlich herausgestellt wird dabei die zentrale Rolle, die das Medium Buch für das Denken der Aufklärung spielt: Das Buch wird zum Prestigeobjekt, die Bibliothek zum Gegenstand des Räsonnements und zugleich zum Symbol der intellektuellen Kultur. Noch expliziter als im Zedler wird in den erwähnten Encyclopédie-Artikeln die Bibliothek als Raum des universellen Wissens mit einer spezifischen Ordnung profiliert. So merkt d’Alembert im Artikel „Catalogue“ an: Nur ein vernünftiges, d.h. wissenschaftliches und mithin transparentes Katalogsystem ermögliche den Lesern den Zugang zu dem in der Bibliothek gespeicherten Wissen. Damit dieses Wissen, so heißt es im Artikel „Bibliothécaire“, nicht wie in einem undurchdringlichen Labyrinth verborgen bleibe, seien kompetente Bibliothekare unverzichtbar. Der moderne Bibliothekar, der für die Leser da sei, arbeite selbst wissenschaftlich. Im Artikel „Bibliothèque“ skizziert Diderot eine eindrucksvolle, historisch und geographisch weit ausholende Landkarte der großen Universalbibliotheken Europas und feiert diese – fürstlichen, ekklesiastischen, universitären oder privaten – Büchersammlungen als Kulturgut des Kontinents, nicht ohne einen freundlichen Hinweis auf die reiche Bibliothekslandschaft in Deutschland: „Allemagne honore & cultive trop les Lettres, pour n’être pas fort riche en bibliothèques.“ Es folgt eine Auswahl von deutschen Universitäts-, Hof- und Ratsbibliotheken, die sich auszeichneten durch „le nombre & la bonté des livres, & le bel ordre qu’on y a mis“. Eigens hervorgehoben werden die fürstliche Bibliothek in Wolfenbüttel und die königliche Bibliothek in Berlin, wo man die umfangreichsten und wertvollsten Sammlun-
„Alles will jetzt lesen“
gen vorfinde, ausgestattet mit einem soliden Katalog sowie sorgfältig gebundenen Büchern. Insgesamt vermittelt sich die Bibliothek in den Enzyklopädieartikeln seit dem 18. Jahrhundert als ein Bücher-Raum mit einer spezifischen Wissensordnung, für die der Katalog steht, der von wissenschaftlichen Bibliothekaren verantwortet sein sollte; auch verfügt jede für die Enzyklopädisten erwähnenswerte Bibliothek über eine aufschlussreiche Geschichte, und sie bietet ihren Lesern eine unverwechselbare Atmosphäre, die letztlich geprägt ist von der Bibliotheksarchitektur, den Bibliothekaren und Benutzern (Hölter 1993, 67). Im Zedler wird die ‚Bibliotheksatmosphäre‘ mit dem Hinweis auf den Bibliothekar, der nicht nur kompetent, sondern auch freundlich sein soll, diskret angedeutet. Was den „Bücher-Vorrath“ betrifft, so geht es dabei eben nicht nur um Bücher und Verzeichnisse, sondern um diejenigen, die zum „allgemeinen Nutzen“ die Bücher lesen wollen. Auch Diderot und d’Alembert machen die Perspektive der Bibliotheksbenutzer stark: Aus ihrer Sicht sind es die „hommes de lettres“, Schriftsteller, Aufklärer, Intellektuelle, die öffentliche Bibliotheken frequentieren. Darüber hinaus generieren die Bibliotheken von Beginn an ihren eigenen Diskurs, etwa in Form von Bibliothekstraktaten, die in den Enzyklopädieartikeln in Erinnerung gerufen werden. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Bibliotheksangelegenheiten dann zum Gegenstand einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin. Im Interesse und Auftrag der Öffentlichkeit wurden die großen Büchersammlungen den von den Aufklärern geforderten, wissenschaftlich ausgebildeten Bibliothekaren anvertraut, und es wurde die wissenschaftliche Ausbildung der Bibliothekare sichergestellt. Die großen, öffentlich zugänglichen Universalbibliotheken Europas, die Zedler oder Diderot ihren Lesern vorstellen, repräsentieren in Form des Katalogs, dem traditionellerweise ein eigener Raum zur Verfügung steht, eine Wissensordnung, die die unaufhörlich steigenden Büchersammlungen überschaubar machen und die Kenntnis des Bestandes tradieren soll. Doch sind diese Bibliotheken im 18. Jahrhundert nicht per se Brennpunkte des aufgeklärten Lebens. Sie werden bewundert ob ihrer wertvollen Bestände, ihrer „collections curieuses“ (Diderot 1999, Art. „Bibliothèque“), ihrer Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte. Aber das Insistieren auf Öffentlichkeit, Nützlichkeit, Transparenz dieser Schätze geht einher mit einer positiv konnotierten Neugierde gegenüber den Tempeln der Buchkultur: Man unternimmt Bibliotheksreisen, will die prestigereichen Sammlungen besichtigen, die bibliophilen Sehenswürdigkeiten vor Ort in Augenschein nehmen. Nicht nur sammlungsgeschichtlich, auch
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architekturgeschichtlich hatten die Bibliotheken den Reisenden im 18. Jahrhundert einiges zu bieten. Neben den mittelalterlich geprägten Bibliotheken mit ihrem Pultsystem, die man ‚Kettenbibliotheken‘ nannte, weil die Folianten auf den Lesepulten angekettet waren (man stelle sich den Lärm beim Rasseln der Ketten vor!), ermöglichten die Bibliotheken der Frühen Neuzeit, die für eine ausgewählte Öffentlichkeit – Studenten, Gelehrte, Reisende – zugänglich waren, dank ihres Lesesaals ein ganz anderes Raumgefühl. Die seit der Renaissance zunächst in Oberitalien eingeführte Saalbibliothek orientierte sich an der antiken Baukunst und bevorzugte den runden Kuppelbau im Stile des Pantheon – hier herrschte die klassische Ostausrichtung vor: Der Lesesaal sollte vom hellen Licht der Morgensonne beleuchtet werden, so dass sich den Lesenden eine Atmosphäre bot, die angenehm für Körper und Geist war – umso mehr, wenn der Bibliothekar nicht nur kompetent, sondern, wie es im Zedler heißt, auch freundlich war. Bestärkt wurde diese als angenehm empfundene Raumerfahrung durch die Farbe grün, die als wohltuend für die Augen gilt und die Dekoration des Lesesaals prägte. Beim Blick aus dem Fenster sollte ein Garten zu sehen sein. Die heutzutage in den meisten öffentlichen Bibliotheken vorhandenen Grünpflanzen erinnern an diese frühneuzeitliche Tradition. Die Bibliothek Friedrichs des Großen im Schloss Sanssouci (erbaut 1745-47) erfüllt einige der klassischen Regeln der Bibliotheksarchitektur: Sie ist nach Osten ausgerichtet, mit Blick auf den Park; der rotundenförmige Bibliotheksraum erinnert an das Pantheon, wobei in Sanssouci nicht die Götter auf die Besucher herabblicken, sondern antike Dichter-Philosophen in Form der hoch aufgestellten Porträtbüsten. Diese fürstliche Bibliothek war – wie das Schloss auf dem Weinberg insgesamt – als Refugium für den König in der Rolle des „Philosophen von Sans-Souci“ konzipiert; hier bewahrte er einen Teil seiner sorgfältig, in rotem Maroquinleder eingebundenen Bücher auf (Röhm 1986, 143). Hingegen war die Bibliothek, die Friedrich II. Ende der 1770er Jahre im Zentrum Berlins erbauen ließ (die Königliche Bibliothek, Unter den Linden) von Beginn an für die Öffentlichkeit bestimmt. In einem Brief an Voltaire (9. November 1777) unterrichtet Friedrich den ‚Patriarchen von Ferney‘ darüber, dass er in Berlin eine neue „bibliothèque publique“ habe erbauen lassen: Denn Voltaires Werke seien bislang so schlecht untergebracht gewesen (d.h. in der Bibliothek des Berliner Schlosses), dass man bei ihrem Anblick schlechte Laune bekommen habe. Nun habe er „le plus bel étui possible“ errichten lassen,
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um „les Œuvres de l’Homer de nos jours“ gebührend aufzubewahren.1 Friedrich Nicolai widmete wenige Jahre später in seiner Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam (1786) den öffentlichen Bibliotheken eine ausführliche Darstellung: Er referiert Geschichte, Besonderheiten des Buchbestands, Verwaltungsstruktur, die Namen der amtierenden Bibliothekare, Adressen und Öffnungszeiten der verschiedenen Berliner Bibliotheken. Und seine Bewunderung gilt – wie nicht anders zu erwarten – der Königlichen Bibliothek („eine der ansehnlichsten in Europa“), die Friedrich II. als „bibliothèque publique“ bezeichnete: Da der Platz im Seitengebäude des Schlosses zu enge ward, so ließ der König auf dem Platze am Opernhause ein prächtiges Gebäude errichten (…), in welches die Bibliothek im J. 1779 (sic) versetzt ward. Sie steht im zweyten Geschosse dieses Gebäudes. Der sehr hohe und große Saal ist 258 Rheinl. Fuß lang, und 56 F. breit, hat an beiden Seiten Fenster, und wird in der Mitte von 10 korinthischen Säulen, und zwey Scheidewänden unterstützt. (…) Das Lesezimmer (…) ist täglich, Vorund Nachmittags (Sonnabends Nachmittags ausgenommen), offen, und enthält Tische, Stühle, und alle Bequemlichkeiten zum Lesen und Excerpieren. (…) Wer die Bibliothek besehen will, meldet sich Tages zuvor bey den Bibliothekaren. (Nicolai 1995, 512, 515) Das laut Nicolai „prächtige“ Bibliotheksgebäude (am heutigen Bebelplatz), für Friedrich II. scherzhaft „das denkbar schönste Etui“ zur Aufstellung der intellektuellen Kostbarkeiten aus der Feder Voltaires, wird von den Berlinern spöttisch „Kommode“ genannt. Berlins öffentliche Bibliotheken waren um 1780 – das jedenfalls vermittelt die Beschreibung aus der Feder Nicolais – fest in der Hand der Aufklärer: Die Oberaufsicht über die Königliche Bibliothek führte Staatsminister von Zedlitz und in den anderen zweiunddreißig öffentlich zugänglichen Bibliotheken, die Nicolai in seinem Reiseführer für Berlintouristen, der Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, vorstellt, werden als Bibliotheksdirektoren u.a. Johann Erich Biester, Friedrich Gedike, Jean Pierre Erman, Jean Bernard Merian genannt – Berliner Aufklärer, 1
Die außergewöhnlich dichte Sammlung von Erst- und Frühausgaben Voltaire’scher Werke in der Staatsbibliothek zu Berlin geht darauf zurück, dass Friedrich II. alles, was von Voltaire erschien, für seine Privatbibliotheken, aber eben auch für die öffentliche Bibliothek Unter den Linden beschaffen ließ; vgl. Detemple (1994): Voltaire. Die Werke. S. 10: „Für die Königliche Bibliothek in Berlin war und blieb auch nach Friedrichs Tod Voltaire ein Muß.“
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Freimaurer, Mitstreiter, Freunde und in ihrer Rolle als Bibliothekare vermutlich auch gute Kunden Friedrich Nicolais, der als Autor des ‚Berlinreiseführers‘ ja nicht nur Aufklärungsschriftsteller, sondern auch Verleger und Geschäftsmann war und ein Interesse an einer regen Bibliothekslandschaft und möglichst vielen Bibliotheksbesuchern haben musste. Sogar zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Berlin der 1780er Jahre, die eine bemerkenswerte Privatbibliothek besaßen, werden im Kapitel „Bibliotheken von Privatpersonen“ namentlich erwähnt – auch sie vermutlich gute Kunden des Verlegers Nicolai. Öffentliche Bibliotheken sind in der Wahrnehmung der Aufklärer jedoch mehr als ein Bücherdepot. Die Bibliothek gilt ihnen als privilegierter Raum, wo sich die jeweils aktuelle Kultur der städtischen Gesellschaft verdichtet, wo Intellektualität und Geschmack, das heißt: literarische Urteilsfähigkeit und zivilisierte Formen des Umgangs in Gesellschaft zur Entfaltung kommen, wo eine Stimmung anzutreffen ist, die auf das Denken der Aufklärung mit ihrem Bildungsanspruch günstig einwirkt. Kleist bringt diese Auffassung in einem Brief vom 14. September 1800 aus Würzburg, wo er sozusagen als Tourist auch die Stadtbücherei aufsuchte, auf den Punkt: Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als – in den Lesebibliotheken. (Kleist 1985, 562)
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Der allgemeine Zugang zu den Bibliotheken wird seit der Aufklärung eben nicht nur im Interesse der beschleunigten Zirkulation und Verfügbarkeit des „gelehrten“ Wissens gefordert, sondern auch hinsichtlich der berechtigten Erwartungen der allgemeinen Leserschaft, die sich für die Neuerscheinungen im Bereich der Belletristik interessiert. Dass die literarischen Aktualitäten, deren Präsenz in den Bibliotheken auch immer etwas vom Zeitgeist vermitteln, oder das sogenannte ephemere Schrifttum im 18. Jahrhundert nicht zum Sammelgebiet der prestigereichen Universalbibliotheken gehörten, darauf hat die Bibliotheksforschung aufmerksam gemacht (Arnold/ Vodosek, 1988). Dass aber der Besuch in einer Stadtbücherei um 1800 diesbezüglich zu herben Enttäuschungen führen konnte, vermittelt Kleist in seinem Brief aus Würzburg in Form eines pointierten Dialogs: Höre was ich darin (in der Lesebibliothek, B. W.) fand, und ich werde Dir ferner nichts mehr über den Ton von Würzburg zu sagen brauchen.
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„Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.“ – Hier steht die Sammlung zu Befehl. – „Etwa von Wieland.“ – Ich zweifle fast. – „Oder von Schiller, Goethe.“ – Die möchten hier schwerlich zu finden sein. – „Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen?“ – Das eben nicht. – „Wer liest denn hier eigentlich am meisten?“ – Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen. – „Und die unverheirateten?“ – Sie dürfen keine fordern. – „Und die Studenten?“ – Wir haben Befehl ihnen keine zu geben. – „Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?“ – Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen. – „Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?“ – Wir dürfen nicht. – „Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden?“ – Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben. – „So, so.“ – – Nach Vergnügungen fragt man hier vergebens. Man hat hier nichts im Sinn als die zukünftige himmlische Glückseligkeit und vergißt darüber die gegenwärtige irdische. (Kleist 1985, 562-563) Nicht zuletzt um solchen Erfahrungen zuvorzukommen, wurden verstärkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Lesegesellschaften gegründet, die Bibliotheken und Lesezimmer für ihre Mitglieder einrichteten, oder es wurden Lesekabinette oder Leihbibliotheken eröffnet, die den Erwartungen des urbanen Publikums an aktuelle Literatur und Publizistik entgegenkamen. In den angemieteten oder käuflich erworbenen Räumen der Lesegesellschaften befanden sich die aus den Mitgliederbeiträgen erworbenen Neuerscheinungen, kostspielige Nachschlagewerke, gemeinsam abonnierte Zeitschriften, die neuesten Kartenspiele, vor allem aber Bücher, die gerade en vogue waren und die man nicht ein zweites Mal las. Es sind diese unterschiedlichen ‚Bücherräume‘ der städtischen Leserschaft des 18. Jahrhunderts, in denen ein wesentlicher Aspekt des Projekts Aufklärung seinen Ausgang nahm. Die Lesegesellschaften, die unabhängig von den Vorgaben der Obrigkeit ihren Bucherwerb tätigen und die Lektüre in den halböffentlichen Lesezimmern gemeinsam genießen und besprechen konnten, konstituierten konkrete Formen der Gegenöffentlichkeit, die sich im Sinne von Jürgen Habermas als eine Kristallisationsform der bürgerlichen Öffentlichkeit erweisen sollten. Entschiedener als die traditionellen Universalbibliotheken repräsentieren diese Räume der selbst bestimmten Lektüre die ‚Bibliothek der Aufklärung‘ und damit „den Grad
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der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks“ (Kleist). Vermutlich ebenso wenig wie Kleist in der Stadtbibliothek zu Würzburg fanden die Studenten in den traditionsreichen, respektheischenden Universitätsbibliotheken die „guten Bücher“ (Kleist) zeitgenössischer Autoren. Die Bücherzimmer der Lesegesellschaften, die Lesekabinette oder populären Leihbibliotheken boten sogar mehr als Bücher zur einsamen Lektüre: Sie ermöglichten die Begegnung der Lesenden untereinander, setzten auf die Unterhaltung über das Gelesene und somit auf Formen der Geselligkeit, die die Bibliothek zu einem athmosphärisch dichten Raum der kommunikativen Erfahrung, des Erlebens, der Emotionen machten. Die dank des bürgerschaftlichen Engagements eingerichteten, mit privaten Mitteln finanzierten Bibliotheken der Lesegesellschaften unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von der traditionellen Universalbibliothek, die auch im Jahrhundert der Aufklärung für Gelehrsamkeit, Wissenschaft, Forschung steht und sich durch umfassende Sammlungen seltener Bücher und Handschriften, die es philologisch zu erschließen gilt, profiliert. Sie bietet im Idealfall dem Benutzer optimale Voraussetzungen für seine wissenschaftliche Arbeit: „Alle Bequemlichkeiten zum Lesen und Excerpieren“ seien in der Königlichen Bibliothek zu Berlin vorhanden, betont Nicolai (Nicolai 1995, 515). Die Lesebibliothek der städtischen Aufklärung hatte nicht nur keine Mittel für den Erwerb historischer Sammlungen oder Handschriften, sie hatte andere Interessen. Als ‚Bibliothek der städtischen Aufklärung‘ reklamiert sie vielmehr eine vernünftige, ökonomisch vertretbare, aktualitätsbezogene Sammlungskonzeption und verzichtet auf alles, was ihr als nutzlos, ökonomisch unseriös oder einfach als unerschwinglich erscheint. Die ‚neue‘ Bücherei wurde als Raum begriffen, der dem aufklärerischen Bildungsanspruch gerecht werden, die Popularisierung und letztlich die Demokratisierung des Wissens gewährleisten, zugleich aber dem Vergnügen einen Spielraum einräumen sollte, denn letztlich ging es beim Lesen auch um die Suche nach der „gegenwärtigen irdischen Glückseligkeit“ (Kleist). Das in Lesegesellschaften engagierte Publikum verschaffte sich auf diesem Wege einen unkontrollierten Zugang zum Wissen, zur Bildung, aber eben auch – ganz diesseitig – zum Lektürevergnügen, zum ästhetischen Genuss, kurz: zu einem Lebensstil der geschmackvoll praktizierten Aufklärung. Die Einrichtung eines Bücherraums gehörte dabei zur wichtigsten Aufgabe. Damit wurde die Möglichkeit der unzensierten Lektüre, der Unterhaltung im weitesten Sinn des Wortes, des Spiels usw. eröffnet. Mit guten Gründen hat man das Jahrhundert der Aufklärung als das „gesel-
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lige Jahrhundert“ bezeichnet (Im Hof, 1982). Diese neue Kultur der städtischen Geselligkeit brachte neue Umgangsstile und Kommunikationsformen mit sich und prägte die Atmosphäre in den Lesezimmern. Hinsichtlich der diesbezüglichen Raumwahrnehmung ist die Geschichte des Lesesaals, des Herzstücks jeder Bibliothek, aufschlussreich. Dieser kollektiv genutzte Raum erweist sich als ein Ort der Geselligkeit, in welchem – anders als in den wissenschaftlichen Bibliotheken – auch für das leibliche Wohl gesorgt war: Es gab Trinkschokolade, Kaffee, Tee, Limonade und andere Erfrischungen (Im Hof 1982, 128). Anzumerken ist, dass die Lesegesellschaften sozial homogen waren und Gesellschaften, in denen Männer und Frauen gleichberechtigt waren, über einen langen Zeitraum hinweg in der Minderheit waren. Das führte um 1800 schließlich dazu, dass Lesegesellschaften von Frauen für Frauen gegründet wurden. Denn es waren in erster Linie die Salons, die im 18. Jahrhundert beiden Geschlechtern den Raum für Geselligkeit im Zeichen der Aufklärung boten. Im Zentrum ihres Interesses stand jedoch das thematisch prinzipiell offene Gespräch, nicht etwa die gemeinsame Lektüre oder die darauf bezogene, gewissermaßen verabredete Unterhaltung über das Gelesene. Im deutschsprachigen Kulturraum, wo sich die Salonkultur erst im späten 18. Jahrhundert etablierte, waren die Lesegesellschaften „Selbsthilfeorganisationen, die das Lesen guter und unterhaltsamer Bücher propagieren und erleichtern sollten“ (Im Hof 1982, 126). In ihren Lesezimmern und in den Lesekabinetten, die bis weit ins 19. Jahrhundert ein exklusiv männliches Publikum und Ähnlichkeit mit den Kaffeehäusern hatten, konnte man seinen Wissensdurst nach Aktuellem und Historischem stillen, sich, in Erwartung neuer, wissenswerter Erkenntnisse, mit fremdem Gedankengut auseinandersetzen, oder, nach getaner Arbeit, gemeinsam anregende und vergnügliche Stunden verbringen und so das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Es war die Zeit der Muße, in der man sich mit Gleichgesinnten unterhielt. Letztlich realisierte man ein freiwilliges Bildungsprogramm, das die Stadtbüchereien heute noch anbieten. In den Lesegesellschaften konnte Aufklärung ‚von unten‘ in Form von Lektüre, Kommunikation, Kritik und Geselligkeit zum Erlebnis werden. Die Leseforschung hat den enormen Aufschwung der Popularisierung des Wissens und der Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beleuchtet und den Übergang von der „intensiven“ Lektüre weniger (erbaulicher) Bücher hin zum „extensiven“ Lesen von zahlreichen Büchern, die man nur einmal las und dann anderen überließ, nachgewiesen (Im Hof 1982, 125). Zeitgenössische Quel-
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len sprechen von „abentheuerlicher Leselust“, das überhandnehme und Personen aus allen Ständen erfasst habe (Wehinger 1989, 215). Gelehrte und Ungelehrte, Handelsleute, Handwerker, Ökonomen, Militärpersonen, Alte und Junge, männliches und weibliches Geschlecht sucht einen Teil der Zeit mit Lesen auszufüllen (…). Alles will jetzt lesen, selbst Garderobenmädchen, Kutscher und Vorreuter nicht ausgenommen. (Im Hof 1982, 127)
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Das betraf nicht nur die ortsansässigen Mitglieder der Lesegesellschaften und Leihbibliotheken oder die Habitués der Lesekabinette, sondern auch auswärtige Gäste und Reisende, für die Bibliotheken und Lesekabinette ihre Türen öffneten. Darauf legten die Freimaurer besonderen Wert: Sie richteten in ihren europaweit vernetzten Logen Bibliotheken ein, die zum Begegnungsraum für Logenbrüder wurden, die sich auf Reisen befanden. In Nicolais Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam werden die Adressen von zwei Berliner Freimaurerbibliotheken mitgeteilt: die Bibliothek der Loge „Zu den drey Weltkugeln“ (im Bär’schen Haus, Leipziger Straße) und die der Loge „Royale York de l’Amitié“ (im Logenhaus). Was deren Buchbestand betrifft, so hebt Nicolai hervor, dass in der Bibliothek „Zu den drey Weltkugeln“ den Reiseberichten eine „beträchtliche“ Bedeutung zukomme, während sich die Bibliothek der Loge „Royale York de l’Amitié“ durch eine außergewöhnliche Sammlung französischer Zeitschriften auszeichne (Nicolai 1995, 523). Die effizienten Vernetzungsstrategien der Freimaurer und die Korrespondenzen der Logen untereinander bestärkten die Mobilität der einzelnen Mitglieder und ihre Internationalität. Ihre Bibliotheken konnten für die Reisenden zum Anlaufpunkt in einer fremden Stadt, zu einem Raum des Austauschs, der interkulturellen Kommunikation und der Muße werden (Im Hof 1982, 163-169). Nicolai, der nicht zufällig so großen Wert auf die Darstellung der öffentlich zugänglichen Bibliotheken in seiner Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam legte, kam damit durchaus dem Zeitgeist entgegen: Reisende Schriftsteller vor allem erwarten bei einem Besuch in der Bibliothek oder im Lesekabinett einer fremden Stadt, Wissenswertes zu entdecken oder interessante Gesprächspartner anzutreffen. Doch hohe Erwartungen gehen mit dem Risiko einher, enttäuscht zu werden. Im bereits erwähnten Brief aus Würzburg vermittelt Kleist diese Erfahrung: Weder in der Lesebibliothek noch beim Spaziergang durch die Stadt wurden seine Erwartungen erfüllt: „Nirgends findet man ein Auge, das auf eine interessante Frage eine interessante Antwort verspräche“. (Kleist 1985, 563) Dass Schriftsteller auf Reisen öffentliche Lesesäle und Lesekabinette schätzten, ist zahlreichen Reiseberichten zu
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entnehmen. So berichtet der schwedische Schriftsteller Per Daniel Amadeus Atterbom in seinen Reisebriefen (1817-1819) von seinem Aufenthalt in Berlin (1817). Von der öffentlichen Bibliothek Unter den Linden, die er besichtigte, gibt er mit einer spöttischen Bemerkung zur Architektur seinen ersten Eindruck wieder: Nun kommen zwei einander gerade gegenüberliegende Eckgebäude (…); das zur Rechten ist die Akademie der Künste, das linke ist die Bibliothek; aber weswegen das eine zugleich ein Reithaus ist und das andere die Gestalt eines Nachtstuhls erhalten hat, das möge der Schatten Friedrichs des Großen geneigtest erklären. Der letzte Umstand hindert indessen nicht, daß die Bibliothek innerhalb einer Menge heller und freundlicher Zimmer eine kostbare Büchersammlung birgt. Ein Zimmer ist vom Fußboden bis zur Decke fast nur mit italienischen Reiseschilderungen angefüllt. Mich freut nur, daß ich sie nicht zu lesen brauche. (Atterbom 1967, 53-54) Insgesamt sind Atterboms Reisebriefe auf heitere Art ironisch. Von Atterboms Ironie bleibt auch Nicolai, dessen Aufklärungsprosa mit der „Trockenheit“ der Berliner Landschaft verglichen wird, nicht verschont (Atterbom 1967, 49). Um sich aktuelle und interessante Lektüre zu verschaffen, so berichtet er, (…) bin ich Mitglied der vornehmsten, hiesigen Lesegesellschaft, des „Casino“, geworden, die in einem Palaste nicht weit vom Gendarmenmarkt ein großes, ja prächtiges Lokal besitzt, woselbst man sich jedoch mit deutschen, englischen, französischen, kurzum mit lauter unschwedischen Zeitungen begnügen muß. (Atterbom 1967, 59) Nicht ohne Leidenschaft verfolgt der Reisende im „Casino“ aktuelle literarische und politische Debatten, partizipiert an der Geselligkeit, studiert und porträtiert die Menschen, die dort ein- und ausgehen, während er sich als ironischer Beobachter stilisiert (Atterbom 1967, 61). Voller Sympathie und Bewunderung, ohne ironische Distanz, dafür mit großen Gefühlen erinnert sich Johanna Schopenhauer an ein Bibliothekserlebnis: In der Reise nach England (1803) berichtet sie von einem unvergesslichen Tag, den sie im British Museum verbrachte: Im Handschriftensaal entdeckte sie „eine unendliche Fundgrube für den Geschichtsschreiber“. Die Lektüre der Briefe von der Hand der englischen Königinnen weckte ihre Neugierde und rührte sie zu Tränen:
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Besonders rührend war uns der, welchen sie (Maria Stuart, B.W.) an Elisabeth liebend und vertrauend schrieb, sobald sie die englische Grenze betreten hatte, ohne die traurige Zukunft zu ahnen, die sie sich mit diesem Schritt bereitete. (Schopenhauer 1982, 176) Ein Brief Cromwells, den er an seine „liebe Frau in Edinburgh“ schrieb, „erbaute uns ungemein; er war während der Zeit des Prozesses gegen den unglücklichen König Karl geschrieben“ (Schopenhauer 1982, 176). Die „große“ Geschichte aus der Perspektive des Individuums betrachtet, ruft auf Seiten der Bibliotheksbesucherin große Gefühle hervor: Mitleid, Bewunderung, Melancholie. Doch noch stärker wirkte die Entdeckung von zwei Manuskripten auf die Autorin, der die Tradition der englischen und französischen Aufklärung seit ihrer Jugend vertraut war: Die erste Niederschrift von Popes Essay on Man, „auf kleinen Papierstückchen sehr schlecht und unleserlich niedergeschrieben, auf Briefkuverte, Visitenkarten, Einladungsbillete, ja sogar auf den Rändern alter Zeitungsblätter, und dann mit Stecknadeln und seidenen Fäden bestmöglichst zusammengeflickt“ (Schopenhauer 1982, 177). Die detaillierte Schilderung dieser Trouvaille verdanken wir dem weiblichen Blick, der sich Zeit nimmt für das Detail, für die Buchstaben einer Handschrift („mit Schnörkeln überladen“) oder die unterschiedlichen Papierstückchen, auf denen Pope sein epochales Lehrgedicht notierte. Wenig später traut Johanna Schopenhauer ihren Augen nicht: „Ein kleines in blau Papier geheftetes Büchlein von Rousseaus eigener Hand, sehr klein und zierlich geschrieben (…)“ zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. „Es führte den Titel ‚Rousseau, jugé de Jean-Jacques’“. Als Rousseauleserin ist sie umso beeindruckter, als sie bis dato niemals von einer solchen Schrift gehört hatte. Es folgt ein Zitat aus Rousseaus Handschrift, das man ihr abzuschreiben erlaubte, mit der Anmerkung:
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Mit welchem bittern Gefühl mag der arme Jean-Jacques dies niedergeschrieben haben! Sei sein Unglück auch nur eingebildet gewesen, ihm war es dennoch nur zu wirklich. Freudig dachten wir, als wir diese Zeilen lasen, daß das gequälte Herz, aus welchem jener Schrei des Schmerzes noch jetzt zu uns herübertönt, nun schon lange nicht mehr schlägt und endlich Ruhe fand. (Schopenhauer 1982, 177-178) Weder Mitleid noch Freude, dafür Ärger über die Nachrichten, die Ludwig Börne in den Pariser Lesekabinetten tagein, tagaus in den internationalen Zeitungen über die Zustände in Deutschland lesen musste, kennzeichnen seine Briefe aus Paris (1830-1833), in denen
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er u.a. von seinen Pariser Gewohnheiten schreibt, öffentliche Bibliotheken und Lesekabinette zu besuchen auf der Suche nach französischen Neuerscheinungen, deren Übersetzung oder Rezension er deutschen Verleger anbieten könnte, um seinen Parisaufenthalt zu finanzieren. In den Schilderungen aus Paris (1822-1824) bringt Börne seine Bewunderung für die in Paris allgemein verbreiteten Lesekabinette zum Ausdruck: „(…) jetzt gibt es kaum eine Straße von Bedeutung, in der man nicht wenigstens eines fände“. Er ist begeistert von der „tief verwurzelten Volkssitte“, Zeitung zu lesen und dadurch „die allgemeine Teilnahme an bürgerlichen Angelegenheiten“ zu beanspruchen: „Alles liest, jeder liest.“ (Börne 1964, 238). In den Lesekabinetten herrscht reges Interesse an den Nachrichten, die täglich in den Zeitungen erscheinen; das Publikum ist, wie die ausgelegten Zeitungen, international – Börne ist fasziniert. Im Vergleich mit den Lesekabinetten in Deutschland, die um 1820 offenbar den biedermeierlich-restaurativen Zeitgeist beherbergten, waren die Pariser Lesekabinette ein Paradies: Es herrscht in diesen Lesekabinetten die feierlichste Stille. Nicht das leiseste Wörtchen vernimmt man, obzwar dort nicht, wie in musterhaften deutschen Lesegesellschaften, der Paragraph der Statuten, der das Sprechen verbietet, an die Wand genagelt ist, noch eine Schelle auf dem Tische steht, die Störenden zu mahnen. Wenn Franzosen schweigen, so ist dieses ein unwiderleglicher Beweis, daß ihre Aufmerksamkeit eifrig und ernst beschäftigt ist; denn bei anderen Gelegenheiten, wie an Speisetischen, machen vier Franzosen einen größeren Lärm als der ganze „Weiße Schwan“ in Frankfurt am Main während der zweiten Meßwoche mit allen seinen Gästen. (Börne 1964, 241) Auch die öffentlichen Bibliotheken, die Börne aufsuchte, boten für reisende Schriftsteller wie für „unbemittelte Studierende und Literaturfreunde oder für solche, denen es an Bequemlichkeit häuslicher Einrichtung fehlt, eine sehr wohltätige Anstalt“ (Börne 1964, 241). In den Briefen aus Paris, die in den frühen 1830er Jahren entstanden, vermitteln sich – nicht zuletzt als Referenz an den Brief als literarische Form – die starken Gefühle angesichts der Lektüreerfahrungen, die der Autor beim Zeitungslesen in den Lesekabinetten macht. Am 18. September 1830, Börne ist erst zwei Tagen zuvor in Paris angekommen, beginnt er seinen Brief mit dem Satz: „– Ich komme aus dem Lesekabinett. Aber nein, nein, der Kopf ist mir ganz verwirrt von allen den Sachen, die ich aus Deutschland gelesen!“ (Börne 1986, 27) Es sind diese verwirrenden Emotionen, die sich bei der Zeitungslektüre, die im Lesekabinett stattfindet, unaufhörlich wiederholen und ihn veranlassen, darüber mit Ironie
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und Leidenschaft zu schreiben; im Brief vom 28. Januar 1831 heißt es dazu: Soeben komme ich vergnügt aus dem Lesekabinette – vergnügt, weil ich mich geärgert habe. Sooft mir dergleichen Ärgerliches begegnet, halte ich es gleich fest und mache mir den Ärger ein; denn in Paris ist er nicht alle Tage frisch zu haben; die deutschen Zeitungen kommen so unregelmäßig hier an. Sie werden vielleicht in meinen Briefen einen Widerspruch mit meiner Klage finden; Sie werden meinen, über französisches Wesen hätte ich mich doch oft genug geärgert. Das ist aber etwas anders. Das war nicht Ärger, das war Zorn; Ärger aber ist zurückgetretener Zorn. Man ärgert sich nicht, wenn einem der Gegner an Macht überlegen ist – das merkt und berechnet man in der Leidenschaft nicht – sondern, wenn uns der Gegner entweder an Unverschämtheit überlegen ist, so dass er uns unter die Beine kriecht und uns umwirft, oder an Autorität, so daß er uns das Sprechen verbietet und wir uns nicht wehren dürfen. Der Zorn aber ist wohlgemut, stark und darf seine Kraft gebrauchen. (Börne 1986, 139-140)
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Bei Börne erscheint das Lesekabinett als Raum starker Emotionen, was an den Texten liegt, die er dort liest. Die Tatsache, dass mit dem öffentlichen Lesesaal im Zeichen der Aufklärung so hochfliegende Erwartungen verknüpft wurden wie die Befriedigung der philosophischen Neugierde in Form der Partizipation am Fortschritt des Wissens oder gar der Genuss der „gegenwärtigen irdischen Glückseligkeit“ (Kleist) beim Lesen guter Bücher – wobei sich dazwischen ein Spielraum für alltäglichere Emotionen wie Bewunderung, Freude, Ärger, Frustration eröffnet –, ist nicht zuletzt Ausdruck für die affektive Besetzung eines Bildungs- und Begegnungsraumes, den sich das Bürgertum bei seinem Aufstieg als kulturtragende Schicht aneignete. Dass die damit einhergehenden Vorstellungen von einer lichten „Bücherwelt“ indes auch phantasmatische Vorstellungen von Ordnung, Transparenz, Macht beinhalten, ist Thema der Kunst und Literatur. In den Romanen, die seit dem 19. Jahrhundert die Bibliothek zum fiktiven Handlungsort machen, ist es die (imaginäre) Bibliothek selbst, die als „verkehrte Bücherwelt“ (Dickhaut 2004) Verwirrung stiftet wie ein Labyrinth, in dem sich weder Leser noch Bibliothekare orientieren und zurechtfinden können.
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Literatur Arnold, Werner / Vodosek, Peter (Hg.) (1988). Bibliotheken und Aufklärung, Wiesbaden: Harrassowitz Atterbom, Per Daniel Amadeus (1967): Ein Schwede reist nach Deutschland und Italien. Jugenderinnerungen eines romantischen Dichters und Kunstgelehrten aus den Jahren 1817 bis 1819. Hg. von Elmar Jansen. Weimar: Gustav Kiepenheuer Beaurepaire, Pierre-Yves (2003): L’Espace des francs-maçons. Diplomatie, culture et sociabilités au temps des Lumières. Rennes: Presses Universitaires de Rennes Börne, Ludwig (1964): Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag Börne, Ludwig (1986): Briefe aus Paris. Hg. v. Alfred Estermann. Frankfurt am Main: Insel Delon, Michel (Hg.) (1997): Dictionnaire européen des Lumières. Paris: Presses Universitaires de France Detemple, Siegfried (1994): Voltaire. Die Werke. Zum 300. Geburtstag, Ausstellungskatalog. Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin Dickhaut, Kirsten (2004): Verkehrte Bücherwelten. Eine kulturgeschichtliche Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur. München: Wilhelm Fink Diderot, Denis / Jean Le Rond d’Alembert (1999): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens des lettres [1751-1765]. 36 Bde. CD-ROM: Redon, Marsanne Frédéric le Grand (1853): Œuvres de Frédéric le Grand [1846-1857]. Bd. 23. Hg. v. Johann David Erdmann Preuß. Berlin: Rudolf Decker, S. 411-413 Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen in einer Kategorie der öffentlichen Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp Hölter, Achim (1993): „Zum Motiv der Bibliothek in der Literatur“. In: Arcadia 28 (1993, Heft 1), S. 65-72 Im Hof, Ulrich (1982): Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München: Beck Kleist, Heinrich von (1985): Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. Hg. v. Helmut Sembdner. München: Hanser Nicolai, Friedrich (1995): “Öffentliche Bibliotheken”, in: ders.: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, bearbeitet v. Ingeborg Spriewald. In: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, hg. v. P. M. Mitchell, H. Roloff, E. Weidl. Bern, Berlin, Frankfurt am Main, Bd. 8, Teil 1, S. 512-523
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Röhm, Hannelore (1986), Friedrich II. und seine Bibliotheken, in: Friedrich II. und die Kunst. Ausstellung zum 200. Todestag. Ausstellungskatalog, hg. v. Hans-Joachim Giersberg / Claudia Mekkel, Bd. 1. Potsdam: Staatliche Schlösser und Gärten, S. 140-144 Schopenhauer, Johanna (1982): Reise nach England, hg. v. Konrad Paul. Berlin: Rütten & Loening Wehinger, Brunhilde (1989): Lektüre, Träumerei, Tränen und geheime Lust. Der Leser als Müßiggänger. In: Joseph Tewes (Hg.): Nichts Besseres zu tun. Über Muße und Müßiggang. Oelde: Tewes Verlagsbuchhandlung, S. 205-215 Wieckenberg, Ernst-Peter (Hg.) (1988): Einladung ins 18. Jahrhundert. Ein Almanach. München: C. H. Beck Zedler, Johann Heinrich (1731-1754): Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. 63 Bde. In: http:// www.zedler-lexikon.de München: Bayerische Staatsbibliothek. Digitale Bibliothek
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Schaufenster, Warenhäuser und die Ordnung der „Dinge“ um 1900: Überlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik und Geschlechterpolitik in der Moderne Das Pariser Warenhaus Bon Marché gehört Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur zu den berühmtesten Warenhäusern Frankreichs, sondern ist über die Grenzen des Landes hinaus in ganz Europa bekannt. Neben dem Louvre und dem Eiffelturm ist es eine touristische Attraktion ersten Ranges. Man kann sogar an Führungen durch das Warenhaus teilnehmen. Um die Bekanntheit zu fördern, werden zum Zwecke der Eigenwerbung auch Postkartenserien produziert. Auf diesen Postkartenserien werden meist kleine Geschichten erzählt, so zum Beispiel die über einen indischen Sultan, der drei Söhne hat, die alle in dieselbe Cousine verliebt sind. Um es nicht zum Streit zwischen den Söhnen kommen zu lassen, stellt er ihnen eine Aufgabe. Sie sollen das letzte und nützlichste Weltwunder finden und herbringen. Der erste Sohn bringt einen fliegenden Teppich, der zweite einen magischen Apfel, der alle Krankheiten heilen kann, und der dritte ein Fernrohr. Mit dem Fernrohr ist es möglich, in Paris das letzte „Weltwunder“ zu sehen: das Warenhaus Bon Marché. Der Sohn, der das Fernrohr gebracht hat, erhält die Cousine zur Frau, und man reitet auf einem Elefanten zur nächsten Weißwarenausstellung nach Paris (vgl. Miller 1981, 176f.).
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Man könnte diese Geschichte unter vielfältigen Gesichtspunkten analysieren: konsumgeschichtlich, werbestrategisch, genderpolitisch, postkolonial, möglicherweise sogar in Kombination aller Gesichtspunkte. Ich möchte allerdings nur auf einen einzigen, wie mir scheint, aber bedeutsamen Aspekt hinweisen: das visuelle Dispositiv, das am Ende der Geschichte den Sieg über Verkehrstechnologie (fliegender Teppich) und Medizin (heilender Apfel) davonträgt. Das in der Geschichte profilierte visuelle Dispositiv korrespondiert dabei nicht allein mit dem Repräsentations- und Distinktionsbedürfnis des Bürgertums in der frühen Moderne (vgl. Sennett 1986, 225ff.). Es ist vielmehr zugleich ein wesentliches Merkmal jener Warenwelten, die sich mit den Warenhäusern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituieren. Dabei fungieren Warenhäuser nicht nur als ihre eigenen Werbeträger, indem sie eine bis dahin nur Sakral- und Repräsentationsbauten vorbehaltene Architektur besitzen, sondern sie setzen ihre Waren in wechselnden Ausstellungen auch opulent in Szene. Sie treiben damit eine Entwicklung voran, bei welcher der Gebrauchswert von Waren zunehmend von einem kulturell-symbolischen Wert überkodiert wird. Unmittelbare Folge ist, dass derjenige, der die Waren betrachtet, nicht mehr allein das sieht, was er haben will, sondern auch das, was er sein will (vgl. Bowlby 1985, 32). Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Konsum und bürgerliches Repräsentations- bzw. Distinktionsbedürfnis über das visuelle Dispositiv in der schon bei Thorstein Veblen beschriebenen Figur der „conspicious consumption“ verschränken können (vgl. Veblen 1979, 68ff.). Das Schaufenster, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre etabliert, ist ein Ort, an dem sich die soeben angedeuteten Zusammenhänge paradigmatisch verdichten, d.h. wo sich Lebensstile und Emotionen in einer für die konsumorientierte Moderne typischen Weise räumlich überlagern und verstärken. Warum gerade das Schaufenster ein Ort ist, an dem zentrale Problematiken der Modernisierung um 1900 gebündelt werden, soll im Folgenden in historischen und systematischen Überlegungen entfaltet werden. Dabei werden meine Ausführungen von dem Verdacht getragen, dass die in der Forschungsliteratur anzutreffende Fokussierung auf die Begehrens- und Wunschsemantik bezüglich Schaufenstern zwar ein wichtiger, aber nicht der alleinige Kontext ist, aus dem heraus die Rolle der Schaufenster für die Beschreibung der Modernisierung um 1900, besonders mit Blick auf die moderne Ökonomie, verstanden werden muss. Ich gehe von der These aus, dass die Ordnung der „Dinge“ in Schaufenstern rational organisiert ist und dass sie deswegen nicht nur bestimmte Wünsche und Begehrlichkeiten wecken, sondern auch Leitbilder hervorbrin-
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gen, die mit einem bestimmten kulturellen Wissen einschließlich seiner Distinktionen, Normen und Werte verknüpft sind. Um diese These belegen zu können, werde ich die Schaufensterproblematik in den größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang des „exhibitionary complex“ einbetten, den Tony Bennett in der Fortführung der Ideen Michel Foucaults als ein wesentliches Merkmal der Umstrukturierungen des öffentlichen Raums im 19. Jahrhunderts beschrieben hat (vgl. Bennett 1988, 1995). 1 In historischer Hinsicht werde ich das diskursive Feld jener Auseinandersetzungen umreißen, die zum Thema Schaufenster um die Jahrhundertwende ausgetragen werden. Dabei soll insbesondere das heterogene Ensemble von Interessen beleuchtet werden, in dessen Rahmen versucht wird, das Schaufenster als kulturellen Faktor zu etablieren bzw. als kulturelle Gefahr zu diskreditieren. Das Augenmerk wird auf die Situation im Deutschen Reich gelegt, da hier das „Schaufensterproblem“ mit besonderer Schärfe verhandelt wird.
Geschichte und Funktion von Schaufenstern Zur Geschichte und Funktion von Schaufenstern sind in letzter Zeit einige umfangreiche Studien erschienen (Spiekermann 1999a: 573f., Spiekermann 2000, Schleif 2004, Szymanska 2004; vgl. Osterwold 1974). Aus diesen Studien geht hervor, dass man die Entwicklung der Schaufenster in vier Phasen unterteilen kann. Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es Schaufenster nur bei Luxuswarengeschäften (Phase 1). Ab 1830 setzt sich das Schaufenster allmählich als übliches Werbemedium des Kleinhandels mit periodischen Gütern durch; etwas später folgt der Nahrungsmittelhandel (Phase 2). Ab den 1870er Jahren findet der Übergang vom geschäfts- zum warenzentrierten Schaufenster statt (Phase 3).2 Und um 1900 wird die 1
In diesem Zusammenhang sei auf den Artikel über Schaufenster von Rüdiger Zill hingewiesen, der in zahlreichen Punkten einen Gegenentwurf zu meinen eigenen Ausführungen darstellt. Bei Zill wird das Thema aus einer ahistorischen, rein auf ästhetische Merkmale beschränkten Perspektive betrachtet, die meines Erachtens in wesentlichen Aspekten die sozialhistorische Bedeutung und Einbettung der Schaufenster-Kunst in der Moderne verkennt (vgl. Zill 2008).
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Dieser Gegensatz von geschäftszentriertem und warenzentriertem Schaufenster wird literarisch schon in Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1883) verarbeitet. Dort heißt es über das Stoffgeschäft Au Vieil Elbeuf mit seinen geschäftszentrierten Schaufenstern bzw. Schaukästen, es habe lediglich „deux vitrines profondes, noires, poussièreuses, où l’on distinguait vagement des pièces d’étoffes entassées“ (Zola 1980, 34). Demgegenüber besitzt das Warenhaus Au Bonheur des Dames mehrere große warenzentrierte Schaufenster, in denen die Stoffe
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„Werbesphäre in den Laden hinein [ausgeweitet]. Er wurde sein eigenes Schaufenster (…). Der Betrieb wurde zu seiner eigenen Reklame, der Stellenwert der Schaufenster schwand dadurch zugunsten des Einkaufserlebnisses.“ (Spiekermann 1999a, 574)3 Dass die Größe und Zahl der Schaufenster im Laufe des 19. Jahrhunderts zunimmt, liegt einerseits daran, dass die Konkurrenz der Geschäfte, zumal in Großstädten, immer schärfer wird und die alten Ladenschilder bald nicht mehr ausreichen, um auf das Warenangebot aufmerksam zu machen. Zum anderen haben große und zahlreiche Schaufenster den technischen Vorteil, dass sie für eine bessere Beleuchtung des Ladenraums sorgen, der sonst durch nicht ungefährliche Gaslampen erhellt werden muss.4 In ästhetischer Hinsicht sehen die Schaufenster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anders als heute aus: Man kennt den bandagierten Mann, dem sämtliche Leib- und Beinbrüche auf einmal verbunden sind, er kündet inmitten von Zahnzangen, Stechbecken und Suspensorien die Vielseitigkeit chirurgischer Geschäfte. (…) Und jene Bismarcktürme aus Schokolade oder Seife, Tempel aus Stearinkerzen und mit Raffaelischen Engeln in Schmalz verzierte Schinken, sie alle sind uns in recht peinlicher Erinnerung“, so Karl Ernst Osthaus über die „alten“ Schaufenster in einem Beitrag für das Jahrbuch des Deutschen Werkbundes. (Osthaus 1913, 61) 5 Obwohl sich Schaufenster um die Jahrhundertwende vom geschäftszum warenzentrierten entwickeln, bleibt die symmetrische, aus heutiger Perspektive überladen wirkende Ausstellung von Waren so farbenreich und opulent präsentiert sind, dass „le magasin semblait crever et jeter son trop-plein à la rue“ (Zola 1980, 31). 3
Vgl. das Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße in Berlin, das 1899/1900 erbaut wurde und dessen riesige Schaufensterscheiben sich fast über die ganze Vorderfront erstreckten (eine Abb. des Tietzschen Warenhauses findet sich in: Architektur für den Handel 1996, 42). Paul Göhre schreibt darüber: „Zugleich erfüllen diese Riesenfenster die höchsten Anforderungen wieder einer scheinbar ungewollten Reklame: sie gewähren überall Einblick in die Warenlager des Hauses. Nicht bloß durch die Schaufenster zu ebner Erde, von denen sich eins ans andre reiht, sondern ebenso sehr in den oberen Etagen, die wie geöffnet vor dem Beschauer auf der Straße sich aufeinander türmen: das ganze Innere des Hauses mit seinen Warenmassen, seinen Käufermassen, seinen Verkäuferscharen liegt ganz enthüllt vor jedem Passanten: das Wesen des Schaufensters ist hierdurch ins Gigantische übersteigert (…).“ (Göhre 1907, 12)
4
Erst mit der Einführung der elektrischen Beleuchtung tritt dieses Motiv für große Schaufenster in den Hintergrund.
5
Zur frühen Ästhetik der Schaufenster vgl. Schleif 2004, 34ff. Meine Ausführungen in diesem Abschnitt stützen sich in wesentlichen Teilen auf die ausgezeichnete Studie von Nina Schleif.
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weiterhin die Regel. Erst in den 1910er Jahren beginnen Schaufenster „sachlicher“ und „künstlerischer“ zu werden, 6 was einerseits auf die Bemühungen verschiedener Interessengemeinschaften zurückzuführen ist (vgl. Schleif 2004, 70ff.).7 Zum anderen spielen für diese Entwicklung insbesondere Warenhäuser eine Rolle, da sie die Dekoration früh professionalisieren und spezielle Abteilungen einrichten, die sich – teilweise unter künstlerischer Leitung wie z.B. im Wertheim-Warenhaus in der Leipziger Straße in Berlin (vgl. Stephanie-Hahn 1926, 10) – ausschließlich mit der Ausstellung und Präsentation von Waren befassen. Die Werbung mit Schaufenstern führt zu einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses von Verkäufer und Käufer. Das Schaufenster schafft einen Zwischenraum zwischen dem Laden und seinen Kunden, der weder ganz zur Sphäre des Geschäfts noch ganz zur Sphäre der Straße (bzw. Passage) gehört. Im Gegensatz zum alten Handel, der auf einer persönlichen Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer beruht, wird durch das Schaufenster eine andere Form der Kommunikation zwischen Verkäufer und Käufer etabliert. Diese ist geprägt durch eine starke Tendenz zur Anonymisierung, da das Schaufenster nicht mehr einzelne Individuen, sondern größere Gruppen ansprechen soll. Während das geschäftszentrierte Schaufenster zunächst eine repräsentative und informative Funktion besitzt, tritt spätestens mit dem warenzentrierten Schaufenster eine symbolische Funktion hinzu, welche die Ware mit abstrakten Ideen, Vorstellungen und Werten verknüpft. Diese abstrakten 6
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Vgl. die folgende Äußerung aus dem deutschen ‚Klassiker‘ zur „Schaufensterkunst“ von Elisabeth von Stephanie-Hahn: „Wie schon in der ersten Auflage des Buches betont ist, wird mit der Reform der Schaufenster-Dekoration nicht beabsichtigt, die Sachlichkeit der Warenaufbauten durch geniale Künstlerstilleben zu stören, sondern durch künstlerisch sachliche Anordnungen den Waren im Schaufenster besondere Reize und besondere Aufmerksamkeit zu verleihen.“ (Stephanie-Hahn 1926, 7) Diese Tendenz zur Versachlichung der Schaufenster wird nicht zuletzt dadurch gefördert, dass darin eine besonders gute werbepsychologische Ausgangsposition gesehen wird. Seine Sachlichkeit und Unauffälligkeit, d. h. letztlich seine Alltäglichkeit und Orientierung am Common Sense garantieren ihm, zumindest in der Theorie, eine subtile, aber nachhaltige Wirkung. Dies führt allerdings in eine gewisse Paradoxie hinein, denn „[o]bwohl Schaufenster also einerseits immer nur etwas Erwartetes hervorbringen dürfen, gehört es andererseits zu ihren ebenso ,typischen‘ Merkmalen, ständig Neues zu präsentieren.“ (Szymanska 2004, 28) Bereits 1897 wird in Detroit die internationale Vereinigung der Display Men gegründet, im selben Jahr erscheint die erste Ausgabe der Fachzeitschrift „Show Window“. 1910 gibt es in Berlin die Höhere Fachschule für Dekorationskunst, die 1912 der Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann angegliedert wird. 1928 findet der erste Internationale Kongress der Schaufenstergestalter in Leipzig statt. Vgl. die Übersicht bei Osterwold 1974, 60f.; zum internationalen Kongress vgl. Schleiff 2004, 123ff.; zur amerikanischen Entwicklung vgl. Lancaster 1995, 58ff.
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Ideen, Vorstellungen und Werte sollen neben dem Gebrauchswert den emotionalen Erlebniswert einer Ware vermitteln. Dazu kommen ästhetische Momente, die helfen sollen, Waren als geschmackvoll und schön einzustufen. Ergebnis dieser symbolischen, emotionalen und ästhetischen Kodierung von Waren ist nicht nur die Ästhetisierung der Warenwelt, sondern ebenfalls eine Ästhetisierung der Alltagswelt durch „Atmosphären, Gefühle und inszenierte Erlebnisse“ (Szymanska 2004, 34).8 An dieser Ästhetisierung der Waren- und Alltagswelt sind Schaufenster, nicht zuletzt in technischer Hinsicht, beteiligt: In dem Maße, wie sich das Einkaufen auf ein Blicken durch Ladenfenster reduziert, wird das Sehen zum beherrschenden Sinn. Das Fensterglas eliminiert Geruch, Geräusch und Tastsinn und führt zur Ästhetisierung der Ware. Das Ding verflüchtigt sich zum Bild, das die Begehrlichkeit des Konsumenten wecken soll. (Taylor 2002, 43) Indem das Glas zwischen Betrachter und Ware tritt, kommt es zu einer eigentümlichen Dopplung von gleichzeitiger Nähe und Distanz. Zum Berühren nahe bleibt das ausgestellte Objekt dennoch unantastbar und kann daher nur begehrt werden (vgl. Lenk 2000, 53).9 Im Gegensatz zur Museumsvitrine, wo das ausgestellte Objekt
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8
Dieser Aspekt wird wenig später durch die Etablierung von Markenprodukten in hohem Maße gefördert. Der Markenname selbst wird vielfach zum Auslöser der mit einer Ware verknüpften abstrakten Ideen, Vorstellungen und Werten. Vgl. den hervorragenden historischen Überblick zur Soziologie von Marken bei Hellmann 2003.
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Vgl. die folgende Äußerung von Hartmut Böhme: „Dinge hinter Glas werden nur angeschaut; sie bieten dadurch die Möglichkeit, ganz bei uns zu bleiben: bei der Selbstempfindung angesichts des von uns getrennten Dings.“ (Böhme 2006, 356f.) In historischer Hinsicht wird die Ästhetisierung von Waren hinter Glas durch eine Entwicklung vorbereitet, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts den Seh- vom Tastsinn abzutrennen beginnt. Während der Tastsinn „ein integraler Bestandteil klassischen Theorien des Sehens im 17. und 18. Jahrhundert“ ist, vollzieht sich die „Trennung von Tast- und Sehsinn (…) im Rahmen einer umfassenden ‚Trennung der Sinne‘ und der industriellen Neuerfassung des Körpers im 19. Jahrhundert. Daß das Sehen nicht mehr analog zum Tasten begriffen wurde, bedeutete auch die Loslösung des Auges aus dem Netzwerk der Referentialität, die in der Greifbarkeit und ihrer subjektiven Beziehung zum wahrgenommenen Raum verkörpert war. Diese Autonomisierung des Sehens, die sich auf vielen verschiedenen Gebieten vollzog, war eine historische Bedingung für die Umstrukturierung des Betrachters, der für den Konsum von ‚Spektakeln‘ ausgerüstet sein sollte. Die empirische Isolierung des Sehens ermöglichte nicht nur dessen Quantifizierung und Homogenisierung, sondern brachte es auch mit sich, daß die neuen Objekte des Sehens, seien es nun Waren, Fotografien oder der Akt der Wahrnehmung selbst, eine mysteriöse und abstrakte Identität erhielten, die keine Beziehung mehr zur Position des Betrachters auf einem einheitlichen Erkenntnisfeld mehr
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dauerhaft dem Gebrauch entzogen ist, fungiert das Schaufenster jedoch lediglich als retardierendes Moment. Zwar ist im Schaufenster „das, was da wirbt, (…) zunächst nicht käuflich, sondern wird eigens zu Werbezwecken ausgestellt und damit den ökonomischen Tauschverhältnissen erst einmal entzogen“ (Wegmann 2008, 54). Aber der Entzug des ausgestellten Objektes ist nicht permanent wie im Museum, sondern der Entzug muss in dem Augenblick aufgehoben werden können, wo der Kunde den Laden betritt, also die Grenze zwischen Außen und Innen überschreitet, dessen Schnittstelle das Schaufenster markiert. Deswegen gehört es gerade nicht zu den „Paradoxien von Schaufenstern, dass sie Waren zu Ausstellungszwecken der Warenzirkulation entziehen, um diese dadurch zu befördern“ (Wegmann 2008, 54), denn die ausgestellten Waren sind im Zeitalter der Massenproduktion mit denen, die im Laden zu kaufen sind, ja identisch. Diese Identität der ausgestellten Waren mit denen, die käuflich zu erwerben sind, lässt sie daher Teil der Warenzirkulation bleiben, obwohl sie ihr scheinbar entzogen sind. Im Gegensatz zur Museumsvitrine geben ausgestellte Waren ein Versprechen des zukünftigen Gebrauchs und/oder Symbolwertes, das der Käufer mit den im Laden käuflichen identischen Waren einlösen kann und soll.10 Auf diese Weise wird durch den charakteristischen Modus der modernen Warenausstellung im Schaufenster mit der Ware zugleich eine Versprechenssemantik verknüpft. Das Vor-dem-Schaufenster-Stehen ist nicht nur ein „entscheidender Initiationsritus der Moderne, der ein spezifisches Trennungserlebnis vermittelt und habitualisiert“, indem „das Schaufenster Verführung und Erfüllung hatte“ (Crary 1996, 30). Das Sehen selbst gewinnt also eine andere Qualität, indem es vom (Be-)Greifbaren entkoppelt wird. Durch das Schaufenster wird diese Trennung nicht nur veranschaulicht, sondern dezidiert eingeübt. Auch darin kann im Rahmen einer allgemeinen Geschichte der Wahrnehmung die kulturgeschichtliche Bedeutung des Schaufensters ausgemacht werden. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass im Französischen diese Entkopplung von Sehen und Tasten sogar auf sprachlicher Ebene ausgedrückt wird, wenn ein Schaufensterbummel als „lèche-vitrines“, zu deutsch also „Schaufenster ablecken“, bezeichnet wird. 10
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung scheint es eine erhebliche Verkürzung, wenn Wegmann schreibt: „Von der Religion über die Ausstellungskunst zur Schaufensterwerbung – so lassen sich in nuce die Karrierestationen eines unverfügbaren, dem allgemeinen Verwendungszusammenhang entzogenen Bereichs skizzieren. Das Schaufenster ist dann nichts anderes als die Profanisierung und Ökonomisierung solcher dem Gebrauch entzogener Sphären, heißt sie nun Religion oder Kunst. Das nunmehr öffentlich ausgestellt wird, was sich damit dem öffentlichen Gebrauch entzieht, ist das Entscheidende an der Schaufensterwerbung.“ (Wegmann 2008, 55). Die Logik der Warenausstellung ist in zentralen Aspekten schlicht anders organisiert als die Ausstellung von Kultgegenständen oder Museumsstücken!
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[trennt]“ (Wegmann 2008, 55). 11 Es fördert im selben Maße auch einen „Warenfetischismus“ 12, bei dem die Bereitschaft zu zahlen nicht von der Rationalität begrenzt wird, nicht zahlen zu können, sondern vom Wunsch und Begehren, mit der Versprechenssemantik der Ware zu verschmelzen – und dafür zahlen zu wollen. Während der Erwerbsakt einer Sache vom Code Zahlen/Nicht-Zahlen reguliert ist, wird die Dynamik des Erwerbs von der Aura der Ware angetrieben, die in den Differenzen Lust/Unlust, Partizipation/Nicht-Partizipation, Glück/Nicht-Glück, Schönheit/Nicht-Schönheit, Sinn/ Nicht-Sinn, man möchte fast sagen: Sein/Nicht-Sein prozessiert. Diese Differenzen entstammen sämtlich nicht dem ökonomischen System. Lust, Glück, Partizipation, Schönheit, Sinn, Sein: Dies sind indes Qualitäten, welche die Waren, insofern sie Fetisch sind, als Suggestion inkorporieren, obwohl sie das Jenseits der Ware sind. Dies macht den seltsamen Doppelstatus der Ware als Fetisch aus, Ding und Symbol, Immanenz und Transzendenz uno loco zu vereinen. (Böhme 2006, 287)
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Im Schaufenster tritt dieser Doppelstatus der Ware in Reinform zutage. Vor allem wird hier durch die dekorative Kodierung der ausgestellten Ware und der damit verkoppelten Versprechenssemantik ein spezifisch utopisches Element etabliert, denn „[d]er Warenfetisch winkt mit der Partizipation am Schlaraffenland (in allen Varianten). Die Ware ist also der Code einer Utopie. Das ist ihre systematisch erzeugte Illusion.“ (Böhme 2006, 334) Ästhetisierung, Fetischisierung, Ökonomisierung und Utopie überlagern sich im Schaufenster auf komplexe Weise und verstärken sich gegenseitig. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden meines Erachtens die aus heutiger Perspektive aufgeregten Diskussionen nachvollziehbar, die um die Jahrhundertwende um das Schaufenster als kulturellen Faktor bzw. als kulturelle Gefahr geführt werden (ausführlich dazu in Abschnitt III und IV). 11
Vgl. hierzu Walter Benjamin: „Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da (…) keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pomps [,] der äußeren Anspannung des Verehrenden wäre. (…) Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ (Benjamin 1985, 100)
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Vgl. hierzu auch: „[I]m ‚Einschluss‘ des ästhetischen Objekts wird dieses unausweichlich zum Fetisch: (1) Objekt einer Devotion, die seiner überalltäglichen, herausgehobenen Attraktion gilt, (2) Objekt einer Ambivalenz, die zwischen dem sistierten Begehren nach Aneignung und der Angst vor seiner überlegenen, ergreifenden, faszinierenden Qualität oszilliert, (3) Objekt einer Lust, die durch das Vitrinenglas vor dem Objekt, wie umgekehrt das Objekt vor uns geschützt ist.“ (Böhme 2006, 355)
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Das umgekehrte Panoptikum Nach der architektonischen Seite hin bezeichnet diese Ausstellung vielleicht den Gipfelpunkt dessen, was das Ausstellungsprincip bisher in ästhetischer Productivität geleistet hat. Nach einer anderen Seite seiner Fruchtbarkeit hin steht sie wenigstens auf einer relativen Höhe: ich meine die durch die Ausstellungen hervorgerufene Steigerung dessen, was man die Schaufenster-Qualität der Dinge nennen könnte. Die Warenproduction unter der Herrschaft der freien Concurrenz und mit dem durchschnittlichen Uebergewichte des Angebots über die Nachfrage muss dazu führen, den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite zu geben. Wo die Concurrenz inbezug auf Zweckmäßigkeit und innere Eigenschaften zu Ende ist (…) [,] muss man versuchen, durch den äußeren Reiz der Objecte, ja sogar durch die Art ihres Arrangements das Interesse der Käufer zu erregen. Dies ist der Punkt, an dem gerade aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth eine Wendung in das ästhetische Ideal erwächst. (Simmel 2004, 36f.) Dies schreibt Georg Simmel 1896 über die Berliner Gewerbe-Ausstellung und nicht, wie man vielleicht im ersten Moment denken würde, über einen Rundgang durch ein Warenhaus. Von Simmel werden unter wirtschaftlicher Perspektive nochmals wesentliche Punkte der Ästhetisierung der Warenwelt genannt: „äußerer Reiz“ bzw. „verlockende Außenseite“ und das „Arrangement“ der Waren. Den Gesamtzusammenhang, in dem er die „ästhetische Productivität“ ansiedelt, die aus der „äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth“ resultiert, nennt er das „Ausstellungsprincip“. Dieses „Ausstellungsprincip“ ist ein wichtiger Bestandteil dessen, was Tony Bennett fast einhundert Jahre nach Simmel als „exhibitionary complex“ bezeichnen wird (Bennett 1988). Während Simmel lediglich die wirtschaftliche Seite des Ausstellungsprinzips umreißt, versucht Bennett, die Umstrukturierungen des öffentlichen Raums im 19. Jahrhundert im Ganzen zu erfassen. Seine Ausführungen beruhen auf der Beobachtung, dass im 19. Jahrhundert „Dinge“ und „Körper“ zunehmend von geschlossenen, privaten Räumen in den öffentlichen Raum transferiert werden, womit zugleich die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem unscharf werden (vgl. dazu, wenn auch in anderem Kontext, Habermas 1990). Indem „Dinge“ und „Körper“ in den öffentlichen Raum gebracht werden, erzeugen sie gleichzeitig eine neue, visuelle Ordnung der Dinge, wobei
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die Ordnungsprinzipien selbst, so Bennetts These, als Kontrollmechanismen fungieren.13 Im Gegensatz zu den geschlossenen (Disziplinar-)Räumen der Irrenanstalt, der Schule oder des Gefängnisses findet im öffentlichen Raum von Gewerbe- oder Weltausstellungen, in Museen, bei Völkerschauen oder in Warenhäusern eine Umkehrung des Foucaultschen Panoptismus statt: „The Panopticon was designed so that everyone could be seen; the Crystal Palace was designed so that everyone could see.“ (Bennett 1988, 78: Hervorheb. U. L.) 14 Die Macht, die durch diese Umkehrung des Panoptismus ausgeübt wird, ist keine der Strafandrohung, sondern eine, die es übernimmt, „Dinge“ und „Körper“ in einer bestimmten Art und Weise visuell zu organisieren. Außerdem werden Orte geschaffen, an denen Betrachter in ein zuvor festgelegtes Verhältnis zu den ausgestellten „Dingen“ und „Körpern“ gebracht werden. Dieses Verhältnis kann unter vielfältigen, sich durchaus überlagernden Gesichtspunkten gestaltet sein: erzieherisch, wirtschaftlich, kulturell, ästhetisch usw. Die visuellen Ordnungen selbst können wiederum nach eigenen Prinzipien organisiert sein, etwa Fortschritt oder Entwicklung symbolisieren oder negativ Entartung. Dies kann gleichzeitig von einem Vergleich verschiedener Zeiten, Kulturen oder Ländern begleitet sein und so ein komplexes Ensemble von sich überlagernden Ordnungen und Systematiken schaffen. Die neuen visuellen Ordnungen erzeugen also ein Wissen, das im Gegensatz zum wissenschaftlichen Wissen keiner ausdrücklichen Argumente und Begründungen bedarf, weil es seine Evidenz aus seiner unmittelbaren Sichtbarkeit bezieht. Es ist ein Wissen, das in der Regel sogar ohne konkrete Zuschreibungsinstanz auskommt. Die Umkehrung des Panoptismus im „exhibitionary complex“ reagiert wie auch der Panoptismus selbst auf das Problematisch-Werden des sozialen Raumes, das die Disponibilisierung von Ordnung und die Pluralisierung von Wirklichkeit in der Neuzeit zur Folge hatte (…). Wenn es nämlich eine neue historische Wirklichkeit gab, die das Ordnungs- und Wirklichkeitsproblem des Kontingenzraumes vehement auf-
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Vgl. hierzu: „Sie alle [Museum, Kaufhaus, Freizeitpark] sind abschreitbare Raumprogramme, schaffen in ihrer Organisation des Raumes aus einzelnen Elementen eine Art Erfahrungsschleuse, in die der Besucher sich hineinbegibt. Dort treten ihm (…) Angebote entgegen, die nicht unstrukturiert, sondern in einer kohärenten Ordnung präsentiert werden. (…) Räume also schaffen Ordnungen und strukturieren damit Erfahrungen vor (…).“ (Lenk 2000, 53)
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Vgl. die Ausführungen und die Abbildungen bei Bennett 1995, 48ff. Es springt vor allem die frappierende Ähnlichkeit der frühen Museums- und Warenhausarchitektur ins Auge.
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warf, dann waren dies die große Städte. In ihnen manifestierte sich das neuzeitliche Ordnungs- und Wirklichkeitsproblem wie nirgends sonst. (Makropoulos 1997, 54f.) Im 19. Jahrhundert spitzt sich die Problematik des urbanen Raums nochmals zu, denn in den europäischen Metropolen verfestigte sich die Kontextualität urbaner Wirklichkeiten (…) als strukturelle Heterogenität, steigerte sich nicht selten zur Disparität, und das setzte umgekehrt jedem Versuch einer panoptischen Gesamterfassung des Wirklichen mit den Erkenntnisinstrumenten der politischen Verwaltung unüberschreitbare Grenzen (…). (Makropoulos 1997, 57) Genau dies soll der „exhibitionary complex“ kompensieren. Wo der ‚klassische‘ Panoptismus problematisch wird oder gar versagt, müssen andere Formen der Selbst- und Fremdkontrolle etabliert werden, in denen Freiheit und Kontrolle direkt miteinander verschränkt werden können. Im „exhibitionary complex“ wird das panoptische Moment der Überwachung in die Öffentlichkeit selbst verlagert, indem die neuen visuellen Ordnungen suggerieren, dass jeder alles beobachten und überwachen kann. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die ausgestellten „Dinge“ oder „Körper“, sondern ebenso in Bezug auf die anderen Betrachter dieser „Dinge“ und „Körper“. Die Kontrollmechanismen werden verinnerlicht. In diesem Sinne heißt es bei Bennett zusammenfassend: „[E]xpositions realized some of the ideals of panopticism in transforming the crowd into a constantly surveyed, self-watching, self-regulating, and […] consistently orderly public – a society watching over itself.“ (Bennett 1988, 81) Dieser Befund trifft sich mit den soziologischen Analysen, die Richard Sennett über die Entwicklung der „Tyrannei der Intimität“ im 19. Jahrhundert angestellt hat. Wenn, wie Sennett schreibt, „Persönlichkeit als Produkt der äußeren Erscheinung [gesehen wird], allenfalls kontrolliert von einem an der eigenen Vergangenheit orientierten Bewußtsein, und Spontaneität als Abweichung“, dann sind die Folgen für das Auftreten einer Person im öffentlichen Raum „Passivität, zwischenmenschlicher Austausch als Geheimnis, Mystifikation der äußeren Erscheinung“ (Sennett 1986, 274). Dies führt zu dem „modernen Paradoxon[ ] von Sichtbarkeit und Isolation“ und – so könnte man mit Bennett hinzufügen – Selbstkontrolle durch Sichtbarkeit und (scheinbare) Transparenz: [D]er Zuschauer wird zum Voyeur. Schweigend, unter dem Schutz der Isolation bewegt er sich im öffentlichen Raum,
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beobachtet das Leben auf der Straße und hält sich durch Phantasien und Tagträume an der Wirklichkeit [und an Schaufenstern, könnte man ergänzen] schadlos. (Sennett 1986, 349) Sennett liefert mit seinen Erläuterungen zur modernen Persönlichkeit die Gründe, warum sich der „exhibitionary complex“ im 19. Jahrhundert so erfolgreich durchsetzen und warum gerade im Kontext der modernen Konsumkultur daraus enormer ökonomischer Profit geschlagen werden kann. 15 Wenn man der ist, „als der man erscheint“ (Sennett 1986, 271), muss auf das äußere Erscheinungsbild besonderer Wert gelegt werden, und zwar in der Dopplung von Angepasstheit, weil man nicht als deviant auffallen möchte, und persönlicher Note, weil trotzdem die eigene Individualität zum Vorschein kommen soll. Mit Simmel könnte man sagen, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur die „Dinge“ eine „Schaufenster-Qualität“ gewinnen, sondern ebenso die Menschen, die sich als „Persönlichkeiten“ im öffentlichen Raum bewegen und dessen „verlokkende Außenseite“ und Verhalten der permanenten Beobachtung durch andere „Persönlichkeiten“ unterliegt. 16 Wie sehr sich dieses Konzept von „Persönlichkeit“ in den 1920er Jahren durchsetzt hat, lässt eine Beschreibung erahnen, die sich in Siegfried Kracauers Die Angestellten (1929) findet: Außerordentlich lehrreich ist eine Auskunft, die ich in einem bekannten Berliner Warenhaus erhalte. ‚Wir achten bei Engagements von Verkaufs- und Büropersonal‘, sagt ein maßgebender Herr der Personalabteilung, ‚vorwiegend auf ein angenehmes Aussehen.‘ (…) Was er unter angenehm verstehe, frage ich ihn; ob pikant oder hübsch. ‚Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch...‘ Ich weiß. Eine moralisch-rosa Hautfarbe – diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen angefüllt ist. (…) Die Behauptung ist kaum zu gewagt,
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Vgl. auch das Kapitel „Warenöffentlichkeit“ in Sennett 1986, 254ff.
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Im erweiterten Kontext der Modernisierung kann dieses Konzept von „Persönlichkeit“ auch als Sozialtechnik gelesen werden, die versucht, die spezifisch moderne Erfahrung von Kontingenz zu bewältigen: „Affektbeherrschung, Selbstbeherrschung [bzw. Sozialdisziplinierung im weiteren Sinne] und Naturbeherrschung griffen ineinander und bildeten so den Versuch, durch strengste Reglementierung und Organisierung aller Handlungsmöglichkeiten eine lückenlose soziale Ordnung zu etablieren, deren positives Ziel darin bestand, die Kontingenz zu bewältigen, die nach der Auflösung der tradierten pragmatischen und metaphysischen Ordnung als bodenlos erschien. (…) Es ging um Techniken der Selbststabilisierung von Menschen (…), die sich [in der Moderne, U. L.] konstitutiv als krisenhaft erfuhren“ (Makropoulos 1997, 43).
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daß sich in Berlin ein Angestelltentypus herausbildet, der sich in der Richtung auf die erstrebte Hautfarbe hin uniformiert. Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann. Eine Zuchtwahl, die sich unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht und zwangsläufig durch die Weckung entsprechender Konsumentenbedürfnisse von der Wirtschaft unterstützt wird. (Kracauer 1971, 24f.) 17 Es bedarf kaum einer weiteren Erläuterung, dass eine Produktwerbung in Schaufenstern, die nicht unter Nützlichkeitsaspekten organisiert ist, sondern versucht, abstrakte Werte, Ideen oder Vorstellungen bezüglich bestimmter Lebensstile, aber auch Raumordnungen etwa bezüglich „idealer“ bürgerlicher Wohneinrichtungen zu vermitteln, diesem Persönlichkeitskonzept, das ganz auf Äußerlichkeit setzt, in hohem Maße entgegenkommt. Waren, die in solcher Weise kulturell-soziale Werte und Vorstellungen transportieren, eignen sich als Mittel der Selbstrepräsentation und Distinktion im öffentlichen und – natürlich – im privaten Raum außerordentlich gut (vgl. Budde 1997).18 Das Ausstellungsprinzip organisiert daher nicht nur die visuelle Ordnung der Dinge in der musealen oder in der Sphäre des Konsums, sondern es wird gespiegelt in einem „Persönlichkeitskonzept“, dessen Betonung des äußeren Erscheinungsbildes mit der neuen visuellen Ordnung der Dinge in der Öffentlichkeit und im Privaten ausgezeichnet korrespondiert.19 Ausstellungsprinzip, Per17
An anderer Stelle heißt es bei Kracauer: „In der Regel spielt nämlich heute das Äußere eine entscheidende Rolle, und man muß nicht einmal Rachitis haben, um abgelehnt zu werden.“ (Kracauer 1971, 23)
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Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass ein Hauptproblem auf Seiten der Läden und Warenhäuser Ende des 19. Jahrhunderts gerade darin besteht, die „Unpersönlichkeit“ von maschinell hergestellten Massenwaren, besonders aus der Konfektion, zu verschleiern. Hierfür werden schon früh verschiedene Strategien entwickelt, wobei sich die Strategie der Suggestion von Knappheit und zeitlicher Begrenztheit des Angebots („solange der Vorrat reicht“) als besonders wirksam erweist. Zwar lässt auch diese Strategie Massenwaren nicht als einmalig erscheinen, aber immerhin wird durch die quantitative und zeitliche Begrenzung eine gewisse Besonderheit (Spezialität) suggeriert. Zu dieser Strategie leisten warenzentrierte Schaufenster einen erheblichen Beitrag, indem sie durch den regelmäßigen Wechsel der Dekoration (einschließlich des Wechsels der ausgestellten Waren) diese Knappheit und zeitliche Begrenztheit des Angebots zugleich ankündigen und – was noch wichtiger ist – symbolisieren.
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Man vgl. hierzu Michael Millers These, dass die modernen Konsumwelten überhaupt erst so etwas schaffen wie einen einheitlichen bürgerlichen Lebensstil (Miller 1981, 178ff.). Wie eine Illustration zu Millers These wir-
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sönlichkeitskonzept und „exhibitionary complex“ verstärken sich gegenseitig und bilden die Grundlage des schon eingangs angesprochenen visuellen Dispositivs, in dem Nähe und Distanz, Transparenz und Opazität sowie Sichtbarkeit und Isolation stets gleichzeitig präsent sind.
Das Schaufenster als kultureller Faktor „Ordinäre Dinge, wie ein Kochtopf oder eine Suppenkelle, erhielten durch ihre Ausstellung, die erst durch die Betrachtung ihren Sinn erfüllte, eine exklusive Aura.“ (Laukötter 2005, 223) Dieses Zitat stammt nicht aus einem Aufsatz über Schaufenster, sondern aus einem Text über Völkerkundemuseen. Und es heißt weiter: Doch völkerkundliche Museen erschufen nicht nur ihre völkerkundlichen Gegenstände, sondern lieferten in Rückgriff auf die sich etablierende wissenschaftliche Disziplin der Völkerkunde ihre eigene Daseinsberechtigung gleich mit (…). Sie stellten der Öffentlichkeit eine Unmenge an ‚neuem Wissen‘ zur Verfügung und generierten dadurch neue ‚Experten‘, die dieses ‚Wissen‘ wiederum sammelten, interpretierten, organisierten und ausstellten. (Laukötter 2005, 223)
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Der Ausgangspunkt scheint derselbe, aber das Ergebnis unterscheidet sich prima vista erheblich. Während das Museum ein „Ort der Rationalität“ mit einem „spezifischen Bildungsauftrag“ ist, dient die Warenauslage im Schaufenster einzig und allein der Absatzsteigerung, der andere Funktionen klar untergeordnet sind. Während die museale Ordnung der Dinge einer wissenschaftlichen Logik und Legitimation gehorcht, welche die Dinge gerade dem Gebrauch entzieht, folgt die Ordnung der in einem Schaufenster ausgestellten Dinge einem rational nur schwierig zu ermittelndem Alltagswissen um die (möglichen) Bedürfnisse einer anonymen Käuferschaft. Während also das Museum „als Zeigeort der Geschichte“ verstanden werden kann, können Schaufenster lediglich als „Zeigeort[e] eines sozialen Gedächtnisses“ aufgefasst werden, „womit jener große Erinnerungskomplex gemeint ist, der in Alltagsinteraktionen ausgetauscht und konstruiert wird (…). Das soziale Gedächtnis
ken die in Elisabeth von Stephanie-Hahns Buch Schaufenster Kunst (1926) abgebildeten ‚realistischen‘ Schaufensterpuppen aus den 1920er Jahren: hier verbindet sich Kleidung mit Körperhaltung, Lebensstil, geschlechtsspezifischer Kodierung zu einem umfassenden Persönlichkeitskonzept (Stephanie-Hahn 1926, 265-269).
Schaufenster, Warenhäuser
bildet ein Gegengewicht zur Geschichte, es ist nicht intellektueller, sondern affektiver Art.“ (Szymanska 2004, 43)20 Aber sind die Unterschiede zwischen Museumsvitrine und Schaufenster tatsächlich so groß wie angedeutet (intellektuell / affektiv, Bildungsauftrag / Absatzsteigerung, Geschichte / Gedächtnis, männlich / weiblich21) und weist der von Bennett beschriebene „exhibitionary complex“ beiden Ausstellungsorten in funktionaler Hinsicht nicht ähnliche Eigenschaften zu? Werden an beiden Orten nicht visuelle Ordnungen präsentiert, deren Modi der Erzeugung und Durchsetzung von Selbst- und Fremdbildern auf vergleichbaren Mechanismen beruhen? Perspektiviert man diese Fragen historisch, wird schnell klar, dass sich die beschriebenen strukturellen und inhaltlichen Differenzen von Museumsvitrine und Schaufenster erst in den 1920er Jahren tatsächlich verfestigen. In der Zeit davor werden vor allem im deutschsprachigen Raum immer wieder Versuche unternommen, das Schaufenster der Museumsvitrine sowohl strukturell als auch funktional anzunähern. Der kulturelle Auftrag, den man den Schaufenstern zuschreiben möchte, zielt insbesondere auf die Geschmackserziehung von Bevölkerungsschichten, die gewöhnlich keine höhere Bildung genossen haben, wobei Bildung und Wissen auch um 1900 noch als Garanten des guten Geschmacks gelten (vgl. König 1999, 416). Die im zeitgenössischen Kontext vielfach konstatierte Krise des Geschmacks ist daher gleichzeitig eine Bildungskrise und letztlich Symptom einer allgemeinen gesellschaftlichen Krise. In diesem Sinne schreibt Karl Ernst Osthaus in dem schon eingangs zitierten Aufsatz: Es [das Schaufenster] führt kein Eigenleben. Die Regeneration des Geschmacks, die wir heute auf allen Gebieten beobachten, hat es in ihr Wachstum eingezogen. Es ist zu einem Schaufenster von künstlerischen Experimenten geworden, die um so wichtiger sind, als sie sich vor aller Augen an der Straße vollziehen. (…) Der Ladenbesitzer ist damit zum Volkserzieher geworden oder doch zu einem Mittler, von dem das Schicksal des Geschmacks in weiten Kreisen abhängt. Er hat sich diese Rolle nicht ausgesucht, sie ist ihm zugefallen. Doch wenn er groß von seinem Berufe denkt, wird er sie mit Freude aufgrei20
Vgl. auch Kleindorfer-Marx / Löffler 2000, wo mit Blick auf aktuelle Entwicklungen hauptsächlich die Differenzen zwischen Warenhaus-Ausstellungen und Museums-Ausstellungen betont werden. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Lenk im selben Sammelband (siehe das Zitat in Anm. 13). Allgemein zum architektonischen Kontext von Museum und Warenhaus vgl. auch Rooch 2001.
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Die Unterscheidung zwischen männlich / weiblich, und welche Folgen sich daraus ergeben, wird im nächsten Abschnitt ausführlich diskutiert.
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fen. Sie führt ihn aus der Enge seiner Gilde wieder ins geistige Leben seines Volkes hinaus, wo neben dem Golde auch der Mensch gewogen wird. (Osthaus 1913, 69)22 Der Gegensatz von „Gold“ und „Mensch“ impliziert, freilich auf anderer Ebene, nicht nur den Gegensatz von Schaufenster und Museumsvitrine, sondern er benennt zugleich den zentralen, die Krise auslösenden Faktor: den modernen Kapitalismus, dem es nur noch auf das „Gold“ und nicht mehr auf den „Menschen“ ankommt. Osthaus strebt einerseits eine Refunktionalisierung der Kunst im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie an. Andererseits hofft er zugleich auf eine Reintegration der kapitalistischen Ökonomie „ins geistige Leben“. Das Schaufenster bildet die Schnittstelle zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und Volk, Geist bzw. Bildung und Kunst auf der anderen Seite. Das Projekt, das hinter diesen Worten aufscheint, ist eins, in dem die als gefährlich angesehenen Kräfte des Kapitalismus wenn schon nicht gebannt, so doch kanalisiert werden. Was Osthaus und andere „Schaufenster-Theoretiker“ der Jahrhundertwende wie Alfred Lichtwark, Ernst Friedmann, Joseph August Lux oder Friedrich Naumann anvisieren, ist nichts weniger als eine umfassende Neudefinition des Verhältnisses von Wirtschaft und Kultur.23 Wie diese Neudefinition mit Blick auf das Schaufenster in praktischer Hinsicht aussehen soll, lässt sich in dem Handbuch zur Schaufenster Kunst von Elisabeth von Stephanie-Hahn nachlesen: Diese Arbeitsgemeinschaft [zwischen Künstlern und Schaufensterdekorateuren, U. L.], die wir wohl als Idealzustand für die 22
Der altertümliche Sprachgestus im letzten Satz des Textausschnitts von Osthaus scheint mir im Übrigen signifikant gewählt, indem hier auf eine Zeit angespielt wird („Gilde“, „Golde“ usw.), in der die Sphären von Wirtschaft und Leben (scheinbar) noch nicht strikt voneinander getrennt waren. Vgl. auch, was Elisabeth von Stephanie-Hahn in der 1. Aufl. ihres Handbuchs Schaufenster Kunst (1919) schreibt: „Die neuzeitliche Schaufenstergestaltung, das Schaufenster als Schaubühne erlesensten Geschmacks, erscheint uns heute schon als etwas Selbstverständliches. Der Geschäftsmann, durch die große Konkurrenz zu immer größerer Reklame gezwungen, konnte nichts Vorteilhafteres tun, als dem starken ästhetischen Bedürfnis des Publikums Rechnung tragend, durch künstlerischen Geschmack seiner Schaufenster sich einen sicheren Lockreiz zu schaffen. Dem Künstler, dem der Auftrag zufiel[,] aus dem einfachen Warenfenster ein Kunstwerk zu schaffen, ist in dieser Arbeit eine neue kulturelle Aufgabe zugefallen. Kaufmann und Künstler, wenn auch der Eine vom materiellen, der Andere vom idealen Standpunkt getrieben, sehen hier das Ziel ihres Verlangens durch die Erscheinung des ‚künstlerischen Schaufensters‘ erreicht.“ (Stephanie-Hahn 1919, 7)
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Zu diesem Thema im Ganzen ausführlich Schleif 2004: 78ff., die den Komplex um die Schaufenster-Reformtexte mit Blick auf Deutschland und USA detailliert aufgearbeitet hat.
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Schaufensterkunst bezeichnen können, hat den Künstler zum praktischen Fachmann und den praktischen Fachmann zum Künstlertum erhoben. (Stephanie-Hahn 1926, 11; vgl. Stephanie-Hahn 1919, 8ff.) Der künstlerische Schaufensterdekorateur habe seine „Schaffenskraft“ daher nicht nur „zum Broterwerb“ einzusetzen, sondern er sei gleichfalls „idealen Werte[n]“ verpflichtet; er solle durch seine „Schaufensterkunst das Empfinden für Farbe und Schönheit im Volke“ steigern und „für Geschmacksunsichere geschmacksbildend“ (Stephanie-Hahn 1926, 7) wirken. Damit erwerbe der künstlerische Schaufensterdekorateur nicht nur „dem Kaufmann Spezialwerte“, sondern er schaffe insgesamt „kulturelle Allgemeinwerte“ (Stephanie-Hahn 1926, 7). Ganz ähnlich heißt es schon früher bei Naumann: Das Schaufenster ist ein wichtiges Stück der Gesamterscheinung unserer Städte. Hier wirkt der Kaufmann als Künstler und nicht nur als Vermittler [zwischen Produktion und Konsum, U. L.]. Vor seinen Glasscheiben lernen Frauen und Männer, was schön ist. (Naumann 1913, 13f.) In der Figur des künstlerischen Schaufensterdekorateurs soll ein Zwiespalt versöhnt werden, der im 19. Jahrhundert insbesondere Kunst, Kultur und Ökonomie zunehmend auseinander treten lässt. Was bei Osthaus noch Utopie ist, erscheint bei Stephanie-Hahn bereits eingelöst.24 Während Simmel rein wirtschaftlich argumentierte, wenn er schrieb, dass „aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth eine Wendung in das ästhetische Ideal erwächst“ (Simmel 2004, 37) und damit auf die frühen Entwicklungen des Produktdesigns anspielte, wird diese „Wendung in das ästhetische Ideal“ bei den Schaufenstertheoretiker/innen umgewendet in die Vision einer Gesellschaft, in der Wirtschaft, Kunst und Kultur gleichberechtigt nebeneinander stehen und voneinander profitieren können. Nicht aus dem wirtschaftlichen Denken resultiert hier das „ästhetische Ideal“, sondern es besteht vor und neben der Wirtschaft. Die Kunst soll gerade nicht
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Auch an anderen Stellen ihres Buches wird Stephanie-Hahn nicht müde, die „neue kulturelle Aufgabe“ (Stephanie-Hahn 1926, 9) zu betonen, die den Künstlern im Rahmen der Schaufensterdekoration zugefallen sei. Außer Frage steht dabei, dass die „Schaufensterkunst“ längst zum „Kulturfaktor“ (Stephanie-Hahn 1926, 15) geworden sei (vgl. auch StephanieHahn 1919, 7ff.).
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im Kontext eines reinen ökonomischen Kalküls funktionalisiert werden können.25
Das Schaufenster als kulturelle Gefahr Wenn man heute solche und ähnliche Texte der Jahrhundertwende liest, fragt man sich unweigerlich, wie es möglich war, derartige Hoffnungen an ein Medium wie das Schaufenster zu knüpfen, dessen primäre Aufgabe es von Anfang an war, dem wirtschaftlichen Erfolg des Einzelhandels zu dienen. Dass es überhaupt möglich war, lässt sich mit Verweis auf das Ausstellungsprinzip und seiner inneren Logik gut erklären. Gleichwohl machen die kulturoptimistischen Stellungnahmen zu den Aufgaben einer zukünftigen Schaufensterkunst nur einen Teil des diskursiven Feldes aus, auf dem Folgen der sich konstituierenden Konsumgesellschaft reflektiert werden. Auf der anderen Seite existieren zahlreiche kulturpessimistische Stellungnahmen, denen trotz ihrer Heterogenität eins gemeinsam ist: alle werden von einer anti-modernen, anti-urbanen und anti-kapitalistischen Haltung grundiert. Die wichtigsten Bezugsfelder dieser Haltung hinsichtlich Schaufenster sind Religion, Arbeitsschutz, Mittelstands- und Geschlechterpolitik. Die Kirchen hatten bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, den negativen Folgen der Industrialisierung, die sie vor allem in einem wachsenden Materialismus sahen, entgegenzutreten. Wichtiges Element dieser Bemühungen war ihr Kampf für die Sonntagsruhe und Sonntagsheiligung, in deren Verlust sie eine wesentliche Ursache für den angeblichen moralischen Verfall und die Sittenlosigkeit ihrer Zeitgenossen vermuteten (Reinhardt 1995, 120),
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so Dirk Reinhardt in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Beten oder Bummeln? Von Arbeitsschutzmotiven überlagert und verstärkt, wird Anfang der 1890er Jahre im Deutschen Reich ein Sonntagsruhegesetz verabschiedet, das die Sonntagsöffnungszeiten von Geschäften stark einschränkt (vgl. Reinhardt 1995, 121) . Es gelingt zwar nicht, Geschäfte am Sonntag ganz zu schließen, was u. a. damit zusammenhängt, dass dieser Tag für breite Bevölkerungsschichten der 25
Ähnliche Projekte, die eine Synthese zwischen Kunst und industrieller Produktion anstreben, findet man um 1900 auch in der Architektur. Wie der künstlerische Schaufensterdekorateur wird hier der Architekt zu einer Figur stilisiert, die den Brückenschlag zwischen Ökonomie, Kunst und Kultur leisten könne (vgl. Makropoulos 1997, 93).
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einzige der Woche ist, an dem sie nicht arbeiten mussten und daher einkaufen konnten. Aber indem das Sonntagsruhegesetz in Kraft tritt, wird auch der sog. „Blendzwang“, also das Verhängen von Schaufenstern am Sonntag, erneut zum Thema. Obwohl es teilweise sehr alte Verordnungen gegen das Offenhalten von Schaufenstern am Sonntag gab, brachte erst „die reichseinheitliche Sonntagsruhegesetzgebung der Jahre 1890 bis 1892 (…) die Verbotswelle ins Rollen“ (Reinhardt 1995, 122). Um 1900 formiert sich seitens des Handels erster koordinierter Widerstand; um 1910 herum setzen sich wirtschaftliche Argumente gegen die Sonntagsruhe und Sonntagsheiligung durch, und der „Blendzwang“ wird im Deutschen Reich vielerorts aufgehoben. In aller Schärfe wird die Polemik gegen Schaufenster allerdings erst in den Kreisen der Warenhausgegner zugespitzt, welche die modernen Warenhäuser um 1900 als kulturelle Gefahr ersten Ranges identifizieren (vgl. Briesen 2001). Zielscheibe der Polemik sind nicht zuletzt die Ausstellungspraktiken der Warenhäuser. So z. B. heißt es in einer anonym herausgegebenen Broschüre, die in Anlehnung an Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames mit Im Paradies der Damen betitelt ist: Eines muß der Neid selbst den Warenhäuslern lassen: Sie kennen die Menschen, im besonderen diejenigen weiblichen Geschlechtes genau. Sie wissen, daß der Blick des Weibes – von Ausnahmen abgesehen – nur wenig die Oberfläche einer Sache durchdringt. Der Schein gilt mehr als das Sein. Darum hypnotisiert er die Käuferin vor dem Eintritt durch einen Blick in’s Schaufenster. Dort stehen, hängen und liegen sie, alle die Waren. (…) Auch das naschhafte Vöglein möchte so gerne die saftigen Beeren genießen, vor denen der hinterlistige Vogelsteller seine Ruten anbringt. Es geht aber den armen Wesen meist schlecht dabei. (Anonym 1903, 13f.; Hervorheb. U. L.) Im Hintergrund dieser Äußerung, die Frauen als hilflose Opfer gegenüber den Verführungen der Warenwelt darstellt, steht die Kleptomanie-Debatte, die um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreicht (vgl. Rappaport 1996, Haupt 1997, Spiekermann 1999b, König 2000, 2001). Eine typische Äußerung zum Zusammengang zwischen Weiblichkeit, Ausstellungspraktiken der Warenhäuser und Verbrechen findet man z. B. in Lombrosos und Ferreros psychopathologischer Studie Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte: Der Ladendiebstahl ist seit der Entstehung der modernen Riesenbazare eine specifische Form der weiblichen Kriminalität
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geworden; die Gelegenheit zum Verbrechen liegt darin, daß hier zahllose Dinge vor weiblichen Augen ausgestellt sind und die Begehrlichkeit reizen (…). Die Verführung ist um so größer, als für das Weib Putzgegenstände nicht überflüssig, sondern durchaus nöthig sind, als unentbehrliche Werkzeuge für die Anziehung des anderen Geschlechtes. (Lombroso / Ferrero 1894, 459)
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Was bei den Diskussionen um den sonntäglichen „Blendzwang“ in den theologischen Kontext der individuellen Verführung zur Sünde gestellt wird, das wird bei Lombroso / Ferrero als geschlechtsspezifische Disposition ausgewiesen. Erst hierdurch wird es möglich, dass der „Warenhäusler“ das „weibliche Geschlecht“ durch den „Blick in’s Schaufenster“ zu „hypnotisieren“ vermag. Bekanntlich wird bereits in Zolas Au Bonheur des Dames die Verführungskraft der Warenwelt auf Frauen gleichermaßen eindrücklich wie übertrieben dargestellt (vgl. Crick 2003). In den angeführten Zitaten steht im Vergleich zu Zola allerdings weit mehr auf dem Spiel als das gesellschaftliche Ansehen und die Geldbörse eines Ehegatten, der den Kaufrausch oder die Diebstähle seiner Ehefrau moralisch und finanziell nicht mehr tragen kann. Nun steht die neue ökonomische Ordnung einschließlich des „exhibitionary complex“ selbst am Pranger – eine neue, visuelle Ordnung, in der es nicht mehr auf Innerlichkeit ankommt, sondern ausschließlich auf Äußerlichkeit. Dabei wird der „Blick“ der Frauen ins Schaufenster verdoppelt durch den „Blick“ der Männer auf die Frauen, die gezwungen sind, „Putzgegenstände“ zur „Anziehung des anderen Geschlechtes“ in welcher Form auch immer zu erwerben, um im biologischen Sinne wettbewerbsfähig zu sein. Die Kleptomanin bzw. Oniomanin, also die Stehl- bzw. Kaufsüchtige können letztlich gar nicht anders als gemäß ihrer biologischen Anlagen handeln, und der „Warenhäusler“ nutzt dies als versierter Psychologe im Sinne seiner ökonomischen Interessen aus. Genau hierin liegt die Provokation, die von den Schaufenstern und den in ihnen ausgestellten Waren ausgeht: Es werden auf signifikante Weise kapitalistische Ökonomie und Biologie miteinander verschränkt, wobei im Zusammentreffen von Warenwelt und Weiblichkeit, zumindest diskursiv, enorme transgressive, bzw. – aus zeitgenössischer psychologischer Sicht – pathogene Kräfte freigesetzt werden (vgl. auch Lindemann 2008). Die Ästhetisierung der Warenwelt verläuft damit nicht nur parallel zur Ästhetisierung der Alltagswelt, sondern mündet in eine gleichzeitige Ästhetisierung26 und Pathologisierung des weiblichen 26
Diese Ästhetisierung des weiblichen Körpers ist von vielen Faktoren bestimmt und nicht zuletzt ein Ergebnis des bereits erwähnten Persön-
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Körpers. Entscheidend ist, dass die transgressiven Kräfte des Weiblichen im öffentlichen Raum „freigesetzt“ werden, wobei die kapitalistische Ökonomie und ihre „Verführungstechniken“ die Kontrolle über die weibliche Biologie übernehmen. Was der „exhibitionary complex“ garantieren soll, nämlich Eigen- und Fremdkontrolle durch Transparenz und Sichtbarkeit, wird durch die neue visuelle Ordnung der Dinge und Menschen im Zeichen der Konsumgesellschaft unterlaufen, und zwar einseitig, indem der über die Ästhetisierung hergestellte Konnex zwischen Weiblichkeit und Konsum mit einer Entgrenzungsfigur verknüpft wird.27 Erst die geschlechtsspezifische Deutung des Ausstellungsprinzips lässt hier das Schaufenster als kulturelle Gefahr erscheinen. Damit bestätigt sich, was der Theorie nach der „exhibitionary complex“ immer schon impliziert: Es geht um Kontrollmechanismen und Machtverhältnisse, die sich nicht nur in der visuellen Ordnung der Dinge ausdrücken, sondern auch im Verhältnis der Menschen zu den ausgestellten Dingen sowie der Menschen untereinander im Verhältnis zu den ausgestellten Dingen und der Ordnung, die sie vermitteln. Und dieses Verhältnis ist vielfach dezidiert geschlechtsspezifisch kodiert.28
Das „moderne“ Schaufenster Wenn man über Schaufenster und die diskursiven Kontexte spricht, in denen sie um 1900 erscheinen, geht es um weit mehr als eine Analyse der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierenden Konsumgesellschaft. Es ändert sich nicht nur das Verhältnis lichkeitskonzeptes im 19. Jahrhundert, mit dem die Rolle der bürgerlichen Frau, ihre Verhaltensnormen und ihr Körperbild, auch und gerade im öffentlichen Raum, in vielerlei Hinsicht neu bestimmt wird (vgl. Sennett 1984, 287ff. u. 333ff.). Dazu tritt – verstärkend – das Distinktions- und Repräsentationsbedürfnis der bürgerlichen Klasse, in dem der bürgerlichen Frau ebenfalls eine entscheidende Rolle zugewiesen wird (vgl. Veblen 1979). 27
Verstärkt wird dies nicht zuletzt dadurch, dass der Einzelhandel schnell das große ökonomische Potential wahrnimmt, das in der Verbindung von Weiblichkeit, Konsum und Ästhetisierung liegt. Dies führt zu einer forcierten Genderisierung der Reklame und nicht zuletzt auch der Räume, in denen um die Jahrhundertwende Waren verkauft werden. So wird etwa das Warenhaus als eine „Verlängerung des frauengemäßen Privatraumes“ (Lamberty 2000, 39) angesehen.
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Spätestens an dieser Stelle dürfte klar werden, dass der „exhibitionary complex“, wie ihn Bennett als zentrale Analysekategorie für die Umstrukturierungen des öffentlichen Raums im 19. Jahrhundert postuliert, in Bezug auf die Veränderungen in der Konsumwelt bedeutende geschlechterpolitische Implikationen besitzt. Dieser Aspekt bleibt bei Bennett aber weitgehend unberücksichtigt.
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von Produktion, Distribution und Konsum, sondern die Diskussionen über den kulturellen Wert oder Unwert von Schaufenstern zeigen eindrücklich, dass versucht wird, den Standort des modernen Individuums im anonymen großstädtischen Milieu zu bestimmen. Dabei machen sowohl die kulturoptimistischen als auch die kulturpessimistischen Stellungnahmen sichtbar, wie sehr mit den Folgen der Modernisierungsprozesse der Jahrhundertwende gerungen wird. Die Umstrukturierungen des öffentlichen Raums im 19. Jahrhundert, für die das Schaufenster natürlich nur exemplarisch stehen kann, sind daher nicht nur eine Frage einer neuen Raumordnung bzw. eines neuen intellektuellen und/oder affektiven Erlebens dieser veränderten Raumordnung, sondern diese Umstrukturierungen reichen, wie angedeutet, im Zeichen der umfassenden Ästhetisierung aller Lebensbereiche weit ins soziale Leben hinein. Dabei ist es kein Zufall, dass um die Jahrhundertwende gerade Schaufenster in den Fokus der Diskussionen um die Neuordnung des öffentlichen Raums rücken. Zwar lässt sich mit Hilfe des „exhibitionary complex“ und des modernen Persönlichkeitskonzepts erklären, warum das Schaufenster wirtschaftlich so erfolgreich wird. Warum es jedoch zu derart umfangreichen Diskussionen Anlass gibt, lässt sich damit nur unzureichend erläutern. Dass es zu diesen aufgeregten Diskussionen kommen kann, liegt meines Erachtens weniger an bestimmten inhaltlichen Fragestellungen, etwa den beschriebenen geschlechterpolitischen Implikationen, sondern weit mehr an den sich im Laufe des 19. Jahrhunderts massiv verändernden Modalitäten der Wahrnehmung und den Anforderungen, die durch die neuen, urbanen Wahrnehmungsformen erzeugt werden (vgl. Crary 1996, 21f.). Denn am Schaufenster und seiner Rolle im öffentlichen Raum lässt sich nicht nur die umfassende Ästhetisierung des Alltags ablesen, die sich um die Jahrhundertwende ereignet, sondern Schaufenster sind zugleich zentrale Elemente dieser neuen Formen urbaner Wahrnehmungsmodi: im beständigen Wechsel der ausgestellten Waren, in der Inszenierung immer neuer Moden, Lebensstile und Identitäten, im Wecken von immer neuen Bedürfnissen, in der latenten Überforderung der Betrachter/innen mit all diesen Identifikationsangeboten und Wunschbildern sowie im Schaufensterbummel als Modus zeitgemäßer Zerstreuung wird die transitorische und beschleunigte Wahrnehmung der Moderne unmittelbar erfahrbar.29 Was sich auf der inhaltlichen Seite der Diskussionen um die Schaufenster zeigt, das Ringen um eine Kraft, welche die verschiedenen Bereiche der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft 29
Allgemein zu den Diskussionen zum Thema „Reizüberflutung“ durch Werbung um 1900 vgl. Lamberty 2000, 38ff.
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wieder zusammenführen kann, das wird im Schaufenster als strukturelles Problem sichtbar. Denn mit der Etablierung der Schaufenster im Stadtbild der modernen Großstädte steht weit mehr auf dem Spiel als lediglich die Institutionalisierung einer neuen Form der Warenwerbung. Es geht vielmehr um die Umwälzungen, die um die Jahrhundertwende in allen Bereichen der Gesellschaft spürbar sind, und diese sind am Schaufenster und den Veränderungen, die es im Stadtbild hervorbringt, besonders deutlich ablesbar. Hier liegt meines Erachtens in struktureller Hinsicht der Angelpunkt aller Debatten, die über den kulturellen Wert oder Unwert des Schaufensters geführt werden, wie polykontextual diese Debatten im einzelnen auch organisiert sein mögen.
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Stephanie Siewert
Die Topographie der Melancholie in transnationaler Perspektive
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In den kulturwissenschaftlichen Debatten um kulturelle Identitäten im Zeitalter der beschleunigten Globalisierung haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten performative Ansätze der Transkulturalität und kulturellen Hybridität durchgesetzt. Gleichzeitig verkünden andere Diskurse eine Rückkehr in den kulturellen Essentialismus und einen unüberwindbaren Kampf der Kulturen. Sowohl in dynamischen als auch essentialistischen Identitätsvorstellungen geht es im weitesten Sinne um Definitionen von Heimat, Zugehörigkeit und Originalität, die in ihrer affektiven Aufladung, gerade in Hinblick auf diasporische Erfahrungen, eine nicht zu unterschätzende Anforderung an unsere Gesellschaften stellen. Mein Aufsatz beschäftigt sich nun mit der malaise von Autorinnen und Autoren, Kritikerinnen und Kritikern, deren „Melancholie der Diaspora“ im Zuge transnationaler Bewegungen eine, so die These, besondere Bedeutung zukommt. Reingard Nethersole bemerkt, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit transnationalen und globalen Phänomenen in den letzten Jahren in zwei Richtungen entwickelt hat: Zum einen unterliegen die Ansätze einer zunehmenden Homogenisierung und zum anderen einer verstärkten „Alterisation“ – einem „Othering“ in dem die Grenzen zwischen „uns“ und „ihnen“ scharf definiert werden (2008, 9). Dabei werden die spezifischen historischen Entwicklungen bestimmter Phänomene eben nicht in den Blick genommen und auf ihre „Originalität“ hin untersucht, sondern als gesetzte, a-historische Begrifflichkeiten angewandt (Vgl. Gilroy 2005, Chen 2001). Im Sinne der histoire croisée wäre es jedoch notwendig, eine Methode zu entwickeln, die sich der Anerkennung der Einzigar-
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tigkeit jener Verortungsprozesse und dem Credo einer universellen Verletzlichkeit von Körpern verschreibt. Den Ausgangspunkt bildet hier ein Prinzip der Humanität, das der Philosoph und Schriftsteller Kwame A. Appiah mit den Worten des römischen Dramatikers Terenz in Erinnerung ruft: „Homo sum, humani nihil a me alienum puto“ – „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches achte ich mir als fremd“ (zit. nach Appiah 2006, 111)1. In diesem Sinne stellt sich die Frage, wo und wie sich die spezifische Melancholie von Menschen, die zwischen den Kulturen, Geographien und Sprachen leben, innerhalb des historischen Melancholiediskurses verorten lässt. Im Anschluss an die Fragestellung lese ich die Geschichte der Melancholie als eine kontrapunktische Geschichte, in der die zeitgenössischen transnationalen Entwicklungen nicht als Ableitung eines historischen Paradigmas gelesen werden sollen, sondern innerhalb einer Geschichte von Kreuzungspunkten und Schnittstellen. Meine Überlegungen stellen demnach den Versuch dar, eine „equality in difference“ herauszuarbeiten, die trotz des proteischen Charakters2 der Melancholie bestimmte konstitutive Elemente voraussetzt. Jene Einheit in der Vielzahl der Symptome beschreibt der englische Gelehrte und Schriftsteller Robert Burton in seiner Abhandlung The Anatomy of Melancholy (1621) als „similitudo dissimilis – like men’s faces, a disagreeing likeness still; And as in a River we swim in the same place, though not in the same numericall water“ (1989, 397). Michel Foucault argumentiert in seinem Werk Folie et Déraison. Histoire de la Folie à l‘Âge Classique (1961), dass zu Lebzeiten Burtons die morbide Einheit nicht länger über die beobachteten Zeichen, oder über die angenommenen Ursachen definiert wurde. Stattdessen bezeichnete sie eine qualitative Einheit mit ihren ganz eigenen Regeln der Übertragung, Entwicklung und Transformation. Unterschiedliche Zustände, Eigenschaften und Reaktionen wurden unter dem gemeinsamen Titel der Melancholie subsumiert, jedoch nicht in Hinblick auf eine gemeinsame Ursache, 1
„Homo sum, humani nihil a me alienum puto ist ein Wort des Terenz (169 v. Chr.), von Chremes im Heaut. 1, 1,25 gesprochen, das auf Menandros zurückgeht und schon von Cicero (de off. I,9, 30) und Seneca (ep. 95) als Prinzip der Humanität anerkannt wurde.“ (Friedrich Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, 1907).
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Der englische Schriftsteller, Geistliche und Gelehrte Robert Burton hat die Schwierigkeiten, eine kohärente Definition der Melancholie zu entwickeln, mit dem Kampf gegen die Hydra verglichen. So betrachtet er seinen Versuch einer allgemeinen Deutung zunächst als hoffnungsloses Unterfangen: „ [S]carce two of two thousand, that concurre in the same symptomes; The tower of Babel never yeelded such confusion of tongues, as this Chaos of melancholy doth variety of Symptomes“. (Burton 1989 [zuerst 1621], 397)
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sondern weil sie ein ähnliches Profil aufwiesen. Dieses Profil suggerierte eine kausale Basis, die nicht länger auf der Physiologie der antiken Vier-Säfte-Lehre beruhte, sondern auf der Pathologie einer Idee, einer Angst, eines Terrors – oder im Kontext des psychopathologischen Diskurses des 20. Jahrhunderts – eines Verlustes. Während das 19. Jahrhundert die Welt als trompe l‘œil entlarvte und der Weltschmerz des fin de siécle die Substanzlosigkeit der Welt beklagte, war es im 20. Jahrhundert das Ich selbst, das sich als arm und leer entpuppte3. Zentral für meinen Ansatz ist die Transformation der Melancholie, die hier weder als krankhafte (pathologische) Disposition, noch als Stimmung, sondern vielmehr als kulturelles Dispositiv verstanden wird. In einem notwendigen Rekurs auf bestehende Konzepte und Vorstellungen greife ich den Melacholiediskurs innerhalb einer Theorie der Bewegung und der Relationalität von Subjekten auf, die hier auf eine besondere Form des In-der-Welt-Seins verweist. Als Verhandlungsraum ist jener innere Raum der Melancholie zugleich ein Wegeraum, der über die Auseinandersetzung mit den verlorenen Positionen eine spezifische exilische Erfahrung reproduziert. In der Analyse der spezifischen Topographie dieses „Verhandlungsraumes“ zeichneten sich vier mir zentral erscheinende Konstituenten ab, die ich im Folgenden darlegen möchte. Zunächst beschreibt das Melancholische Erfahrungen des Verlustes, deren Dialektik von Zweifel und Sehnsucht sich über die Wirkung eines (phantasmagorischen) „Anderswo“ entfaltet. Einen weiteren Aspekt bildet die der Melancholie inhärente Struktur der Transgression. Als „border syndrome“ par excellence wird die Melancholie, entgegen traditioneller psychopathologischer Deutungen, als identitätsstiftendes Element betrachtet. Die abschließenden Überlegungen gelten der Bedeutung der Imagination und der Melancholie als Erzählung des „Außer-Gewöhnlichen“ (Exzeptionalität, Sublimität, Genialität). Die Bedeutung der Melancholie ist eng gebunden an die Erfahrung eines substantiellen, ursprünglichen Verlustes, der sich sowohl auf heilsgeschichtlicher, metaphysischer, zivilisationsgeschichtlicher als auch individualgeschichtlicher Ebene manifestiert. Friedrich Schelling in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) erkennt in der Sehnsucht nach der verlorenen natürlichen Einheit und Harmonie eine universelle Größe: 3
Freuds Text „Trauer und Melancholie“ (1917) löst hier den Melancholiediskurs aus der Physiopathologie und erkennt sie als einen vornehmlich psychodynamischen Prozess (narzisstische Störung). Freuds Verdienst liegt vor allem in der Entwicklung einer strukturellen Definition der Melancholie als einer komplexen Beziehung zwischen dem Selbst und dem verlorenen Objekt.
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Das Dunkelste und darum das Tiefste der menschlichen Natur ist die Sehnsucht, gleichsam die innre Schwerkraft. Hierdurch besonders ist die Sympathie der Menschen mit der Natur vermittelt. (...) Auch das Tiefste der Natur ist Schwermuth; auch sie trauert um ein verlorenes Gut, und auch allem Leben hängt eine unzerstörliche Melancholie an (...). (Schelling 1973, 465f ) Schelling erhebt hier das Konzept des homo viator, das den Menschen als ewiges Fragment bestimmt, zur condition humaine. Der Mensch als Reisender ist im Zwischenstadium der Menschlichkeit gefangen. Er trauert um den Bruch mit der Einheit und sehnt sich nach der Wiedervereinigung von Raum und Zeit. In diesem Leben ist der Mensch nicht nur der Unendlichkeit der Geschichte ausgesetzt, sondern darüber hinaus auch der Unerzählbarkeit der Welt. Das Glück residiert immer anderswo. Zunächst auf das göttliche Versprechen und die Rückkehr ins Paradies bezogen und im säkularen Zeitalter als Verlockung der Einlösung individualistischer Bedürfnisse verstanden, wird das Ziel jener Reise immer wieder aufgeschoben. Im 19. Jahrhundert bleibt im Verlust der metaphysischen Heimat der Blick auf den Horizont gerichtet, auch wenn das Ziel nicht mehr auszumachen ist. Die Sehnsucht bleibt zwischen den Punkten der Abfahrt und Ankunft gespannt. So resümiert Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883-85): Habe ich – noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft? Einen guten Wind? Ach, nur wer weiß wohin er fährt, weiß auch, welcher Wind gut und sein Fahrtwind ist. Was bleibt mir zurück? Ein Herz, müde und frech; ein unsteter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochenes Rückgrat. Dieses Suchen nach meinem Heim: o Zarathustra, weißt du wohl, dies Suchen war meine Heimsuchung, es frißt mich auf. Wo ist – mein Heim? Danach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. O ewiges Überall, o ewiges Nirgendwo, o ewiges – Umsonst. (Nietzsche 1954, 551) In zeitgenössischen transnationalen Bewegungen fallen telos und Ausgangspunkt in den Bereich der Unbestimmtheit. Die Distanz zwischen den Häfen der Abfahrt und Ankunft kollabiert. Diese Entwicklung wurde in Zeiten der beschleunigten Globalisierung maßgeblich von den Migrationsbewegungen als auch von den neuen Medien wie Kino, Fernsehen, Video-Technologie und Internet beeinflusst. Über die globale Distribution von Bildern hat die Imagination im kulturellen und sozialen Leben der Menschen eine neue Bedeutung erfahren (Appadurai 1996). Jene mobilen Einheiten werden zu Katalysatoren globaler „Disembedding-Prozesse“, in deren
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Folge Lebensentwürfe über nationale und lokale Grenzen hinweg imaginiert werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Entgrenzung von Personen, Bildern und Ideen eine neue Dimension angenommen und damit neue, diverse und mobile Lebensentwürfe geschaffen.4 Im Kontrast zur Linearität einer von Abfahrt und Ankunft bestimmten Bewegungsrichtung steht nun ein multidirektionales Modell, wie es Klaus Müller-Richter und Raimona Uritescu-Lombard beschreiben. Hier sind die Migrationsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts: (...) a multidirectional trans-, inter- and intra-national movement in space and time that is driven by medially constructed image-narratives. In other words, far from describing a unidirectional trajectory between a clear point of departure and an unproblematic point of arrival, the movement of migration turns out to be repetitive, intermittent, circular, or asymmetrical. It describes, on the contrary, a topography constituted through successive layering: for example, the same space can be the site of (ancestral) memory, a place of cultural or religious origin, as well as the location of a future home or a future utopia. (2007, 8)
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Wir haben es also nicht nur mit den migrationsbedingten realen Grenzüberschreitungen zu tun, sondern darüber hinaus mit virtuellen Deterritorialisierungsprozessen. Was passiert nun aber, wenn sich die kulturelle Zugehörigkeit nicht länger über die „Blut und Boden“-Referenz (Heidegger 1933) und die Opposition eines „hier und dort“ beschreiben lässt, sich vielmehr selbst als Konstruktion entlarvt und das „Anderswo“ zum modus vivendi wird? Historisch betrachtet hat das Anderswo immer wieder einen anderen Bestimmungsort gefunden. Im 15. Jahrhundert wurde die „Neue Welt“ zum Abbild des irdischen Paradieses. Im 18. Jahrhundert rückte der Orient als Wiege der Zivilisation in den Mittelpunkt der Fantasie und europäische Intellektuelle des 18. und 19. Jahrhunderts sahen in der jungen amerikanischen Republik die Auferstehung des antiken Griechenland oder des klassischen Rom. Diese Sehnsucht reflektiert nicht weniger eine narzisstische Repräsentation des Anderen als die Suche nach einem ursprünglichen Ort der Zugehörigkeit. Iain Chambers bemerkt hierzu, dass die Suche nach
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In vielen Fällen schließen sich jedoch jene imaginierten Leben und die realen sozio-ökonomischen Möglichkeiten aus. Die soziale Imagination mag eine „upward mobility“ suggerieren oder auch auslösen, sie muss sich jedoch auch immer an der konkreten sozio-ökonomischen Situation und kulturellen Verortung messen.
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Authentizität im Grunde der infantilen Spiegelphase gleichkommt, nur ist dieser „Prozess der Rückgewinnung“ keineswegs unschuldig: We seek to return to the beginnings, no longer our own, but that of an „Other“ who is now requested to carry the burden of representing our desire. The Western demand for the „mythical uncontaminated space“ of an „authentic native“ culture perpetuates the imperial gesture through the seemingly opposed modality. (Chambers 1994, 71f ) Es ist eben jene Anziehungskraft einer essentialistischen Identitätspolitik, die die Unterdrückung anderer Stimmen legitimiert und bis heute eine machtvolle Erzählung bildet. Die postkolonialen Studien haben als Forschungsfeld, Theoriediskurs und Lektüremodell jene hegemonialen Strukturen und Mechanismen dekonstruiert und durch andere Vorstellungen und Strategien des Lebens und Schreibens konterkariert. Der Postkolonialismus und die Globalisierung haben eine ganz neue Art des Schreibens befördert – eine Literatur in Bewegung, ein Schreiben zwischen Welten (vgl. Ette 2005)5 – in dem sich der Begriff „mother country“ zu einem komplexen und konfliktreichen Dispositiv (der Unterdrückung) artikuliert. Die Frage, so scheint es, ist nun, ob und wie sich eine „homely position” innerhalb jener besetzten Erzählung finden lässt. Der Theoretiker und Kulturwissenschaftler Edward Said bemerkt hierzu: „Having myself lost a country with no immediate hope of regaining it, I don’t find much comfort in cultivating a new garden, or looking for some other association to join“ (Said 1999, 112). Zum einen lässt sich hier ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber einer neuen „Zugehörigkeit” erkennen, zum anderen zeigt sich ein Bedürfnis, fast eine Obsession, die verlorene Heimat zurück zu gewinnen. Stuart Hall betont in diesem Kontext die Bedeutung der Sehnsucht und die damit verbundene Aktivierung des Imaginären: Who can ever forget, when once seen rising up out of that bluegreen Caribbean, those islands of enchantment. Who has not known, at this moment, the surge of an overwhelming nostalgia for lost origins, for „times past“. And yet this „return to the beginning“ is like the imaginary in Lacan – it can neither be fulfilled nor requited, and hence is the beginning of the symbo5
Azade Seyhan definiert jene transnationale Literatur als ein „(...) genre of writing that operates outside the national canon, addresses issues facing deterritorialized cultures, and speaks for those in what I call ‚paranational‘ communities and alliances. These are communities that exist within national borders or alongside the citizens of the host country but remain culturally or linguistically distanced from them and, in some instances, are estranged from both the home and the host culture.“ (2001, 10)
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lic, of representation, the infinitely renewable source of desire, memory, myth. Search, discovery – in short, the reservoir of our cinematic (and poetic, Herv. d. Verfasserin) narratives. (Hall 1990, 236) Die Vergangenheit wird durch die Erinnerungen, Fantasien, Erzählungen und Mythen rekonstruiert und immer wieder neu imaginiert (Hall 1990, 226). Als Ort aus dem wir alle emigriert sind, ist sein Verlust Teil unserer gemeinsamen Geschichte, doch, so wendet Salman Rushdie ein: (T)he writer who is out-of-country and even out-of-language may experience this loss in an intensified form. It is made more concrete for him by the physical fact of discontinuity, of his present being in a different place from his past, of his being elsewhere. (Rushdie 1992, 12)
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Die Disintegration des Selbst wird hier als Effekt des transnationalen Raumes gelesen. Die wahrgenommene und gelebte Differenz zwischen dem Selbst und der Welt wird hier transformiert und potenziert durch die innere Differenz, die „cracks and splits” – der psychischen und physischen Entwurzelung und eines Lebens zwischen einem diffusen und zerstreuten historischen Erbe und einer heterogenen Gegenwart. Die Imagination bekommt innerhalb der transnationalen Erzählungen eine existentielle Notwendigkeit. Über die Möglichkeit einer Insel hinaus wird der Raum der Imagination selbst zu einem heimatlichen Ort – das Schreiben als kontingenter Prozess des Beheimatetseins wird zum archäologischen Prinzip erhoben. Die Imagination schafft somit die Möglichkeit, sich der für immer verlorenen und abwesenden Position zu bemächtigen. Das Verlorene wird unter den Konditionen des Trauernden wiederbelebt – wohl wissend um die phantasmagorische Qualität des „Anderswo”, wie Salman Rushdie resümiert: It may be said that writers in my position, exiles or emigrants or expatriates, are haunted by some sense of loss, some urge to reclaim, to look back, even at the risk of being mutilated into pillars of salt. But if we do look back, we must also do so in the knowledge that our physical alienation from India almost inevitably means that we will not be capable of reclaiming precisely the thing that was lost; that we will, in short, create fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, Indias of the mind. (Rushdie 1992, 10) So kann der Versuch einer imaginären Aneignung zugleich als eine imperialistische Geste gedeutet werden – „for it is engaged in
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an attempt to establish a trajectory, a however limited and transitory, territory and dominion of perception, power and knowledge“ (Chambers 1994, 10). Das Einschreiben des Selbst in den poetischen Diskurs deutet darauf, dass eine vollständige Rückgewinnung, die „reale” Wiederherstellung der verlorenen Position, gar nicht gewollt sein kann, da sich das Subjekt über die geisterhafte Abwesenheit der verlorenen Position erhält bzw. speist. Die Besetzung der Position des abwesenden Anderen kann als Form der Aneignung und darüber hinaus als ein Machtgewinn über die verlorene Position betrachtet werden und wird somit zum kreativen, subjektkonstituierenden Moment. In ihrer 1993 erschienenen und 2003 erweiterten Autobiographie Fault Lines. A Memoir beschreibt die Dichterin, Schriftstellerin und Kritikerin Meena Alexander, deren multiple Grenzüberschreitungen von Indien in den Sudan über England in die USA führten, sich selbst als „a woman cracked by multiple migrations” (1993, 3). Ihr autobiographisches Werk zeugt von der Schwierigkeit, das durch die Überschreitungen fragmentierte Selbst in einer Erzählung zu bannen und die oft konfliktbesetzte Auseinandersetzung mit der eigenen Verortung innerhalb einer patriarchalischen und postkolonialen Umwelt zu beschreiben: What could I ever be as a mass of faults, a fault mass? I looked it up in the dictionary: Fault: Deficiency, lack, want of something... default, failing, neglect. A defect, imperfection, blameable quality of feature: a. in moral character, b. in physical or intellectual constitution, appearance, structure or workmanship. (Alexander 1993, 3) Das geographische Vokabular wird hier als Metapher eingesetzt, um die fragmentarische Natur des transnationalen Raums zu beschreiben. Die Wissenschaft von der Beschaffenheit der Erde und das Wörterbuch als Modi des Realen werden mit dem inneren Raum und den imaginären Grenzgängen in Beziehung gesetzt. Die reale/ physische Geographie wird über den poetischen Diskurs wieder angeeignet – der innere und der äußere Raum, das Reale und Imaginäre fallen zusammen. Die „Masse” ist keinesfalls eine kohärente Einheit, sondern vielmehr ein Nexus von unterschiedlichen Positionen und Diskontinuitäten. Alexander beschreibt sich selbst als eine „mass of faults”, eine nicht definierbare Anzahl von Brüchen, oder aber als eine „Masse”, die sich über jene Brüche definiert – a „fault mass”. Dem melancholischen Diskurs des 18. Jahrhunderts nicht unähnlich, sind die Texte zeitgenössischer transnationaler Autorinnen und Autoren durch eine innere Zerrissenheit, eine Störung der
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Integrität der äußeren und inneren Welt charakterisiert. Sie versuchen die Teile ihrer „crooked existence“ zusammenzusetzen und den Zustand der Unruhe und Heimatlosigkeit, der sich auch bei den Romantikern des 18. Jahrhunderts findet, in einer Erzählung zu bannen. Hier antizipiert August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur (1808) die Melancholie als condition moderne und beleuchtet die schwierige Beziehung zwischen dem „Entwurzelten” und der Heimat: Und wenn nun die Seele, gleichsam unter den Trauerweiden der Verbannung ruhend, ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimat ausatmet, was anderes kann der Grundton ihrer Lieder sein als Schwermut? (...) Die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahnung. (Schlegel 1962, 25).
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Das zeitgenössische transnationale Subjekt haust und entfaltet sich im Zwischenraum der Zeiten und Geographien, im immerwährenden Raum des „Anderswo”, zwischen den phantasmagorischen Ufern des „Hier und Dort“. Jene Autorinnen und Autoren „spell out the fragments of a broken geography“ (Alexander, 1993, 2) – sie besitzen nicht länger die Landschaften und Geographien, die realia ihrer Erinnerung. Die Grenzgänge bzw. Überschreitungen legen den Blick frei für die zerstreuten Perspektiven, sie aktivieren und bezeugen die Auflösung moralischer Wahrheiten und die zeitlichen und räumlichen Koordinaten der Zugehörigkeit. Jener Modus der Nicht-Geschlossenheit, in dem die Geister der Vergangenheit und Bilder einer zukünftigen Heimat einen Platz finden, kann uns helfen, die vielfältigen ontologischen und epistemischen Aspekte des Verlusts zu verstehen. Somit bezeichnet die Melancholie kein nostalgisches Festhalten an alten Ordnungen, sondern einen gegen-hegemonialen Diskurs. Bereits in der Antike und mit der Vier-Säfte-Lehre des Hippokrates (400 v. Chr.) wird die Melancholie zum Signum des Ungleichgewichts und der Un-ordnung des Organismus. Dieses Stadium der Überschreitung hat im Zuge der Melancholiegeschichte unterschiedliche Wertungen erfahren. Die Melancholie wird gedeutet als ein Zustand des Überschusses, als eine Grenzüberschreitung, die sich soziokulturell zwischen Erhöhung und Ausschluss bewegt. Jener Schwellentopos ist bereits in Theophrasts Frage, warum alle Überragenden (perritoí) Melancholiker seien, angelegt. Das griechische Wort perritoí, bezeichnet zunächst die wertindifferente Qualität eines „Außer-Gewöhnlichen”. Doch zeigt sich hier bereits die ambivalente Bestimmung des melancholischen Zustandes. Denn
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anders als die ingeniosi der Renaissance ist perritoí nicht eindeutig positiv konnotiert, auch wenn Theophrasts Diktum stets als Untersuchung über den Ursprung und das Wesen der Genialität gelesen wurde. Das „Außer-Gewöhnliche“ oder auch „Großartige“ ist hier einerseits als das Hervorragende und Ausgezeichnete zu verstehen und andererseits als das Übermäßige, Exaltierte und, ethisch akzentuiert, als das Vermessene und Hybride. (Theunissen 1997, 18ff.) Die Überschreitung konnte also sowohl als Auszeichnung, als auch als negativer Auswuchs verstanden werden. Der Melancholiker bewegte sich demnach zwischen verschiedenen Stadien der Anerkennung. Diese spezifische Bewegung der Überschreitung des Gewöhnlichen und das dialektische Verhältnis, das die Negativität als Ermöglichungsgrund des Positiven voraussetzt, bilden zwei der zentralen Modi der Melancholie. Georges Canguilhem erläutert in Hinblick auf die antike Melancholie, dass jener Modus der Transgression als ein Zeichen der gestörten Integrität der inneren und äußeren Ordnung angesehen werden kann – als eine Entzweiung von der natürlichen und gesellschaftlichen Harmonie. Laurent Cantagrel kommt darüber hinaus in seiner Abhandlung über die Melancholie der Romantik zu einem ähnlichen Schluss: À quelque catégorie sociale qu‘il appartienne, le melancolique est un être en rupture, qui ne vit pas en harmonie avec le rythme de la nature et de la collectivité (...) le mélancolique incarne un principe de désordre. (Cantagrel 2004, 48) Die Melancholie ist hier nicht nur Auslöser und Anzeichen der Krise, wie u.a. von Julia Kristeva angenommen, sondern ist zugleich auch die Konsequenz der Grenzüberschreitung. In den zeitgenössischen transnationalen Erzählungen wird die Notwendigkeit der Überschreitung normativer und „vertrauter” Gefilde zu der notwendigen Kenntnis und Erkenntnis des Anderen betont. Jener visionäre Aspekt generiert sich über das Überschreiten materieller und geistiger Grenzen, einer konstanten Reflektion des Verlustes und der Beheimatung in der schmerzvollen Erfahrung des Zwischenraums, die der humanistischen Implikation einer Wiedervereinigung oder Versöhnung mit der Essenz des Subjekts, oder einer Versöhnung mit der Geschichte eine Absage erteilt. Das Außer-Gewöhnliche, die fremde Präsenz innerhalb der Gesellschaft (wie sie Paul Gilroy für den postkolonialen Diskurs beschreibt), nimmt im besten Fall6 die Rolle des kulturellen Visionärs ein und 6
Meint vorwiegend eine bestimmte Gruppe von Literaten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich im System der westlichen Kritik etabliert haben und innerhalb der akademischen Welt eine (gewollte?)
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wird zu einer kritischen moralischen Instanz, wie sie schon Immanuel Kant in seinen Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) vergegenwärtigte. Aus der Außenseiterposition leitet sich, so Kant, eine Erkenntnis über das Wahre und Schöne 7 ab: Er (der Melancholiker) erduldet keine verworfene Unterthänigkeit und athmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu den schweren Eisen der Galeerensklaven sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer und nicht selten seiner sowohl als der Welt überdrüssig. (1910, 33) Das Ästhetische und Ethische finden sich hier in einer Figur vereint. Der Melancholiker verkörpert den freien und sich seiner selbst bewussten Menschen, der die Konditionen der Fremdherrrschaft erkennt und ablehnt. Doch ist jene Erhabenheit an den Preis der Einsamkeit gekoppelt und an eine Desillusion, die sich gerade durch die Einsicht in die Beschränktheit der menschlichen Natur offenbarte. Diese Einstellung positionierte den Melancholiker einerseits im Kern der gesellschaftlichen Prozesse und Kritik und andererseits außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und bestimmte somit seine spezifische Heimatlosigkeit. Das Wahre und Schöne haben sich im (post)modernen und post-kolonialen Zeitalter in opake und mobile Begrifflichkeiten gewandelt – in Parameter der Anerkennung, die, so die Annahme, jene erahnen können, die sich ebenfalls im Zwischenraum der Interpretation befinden. Karen Kaplan mahnt an, dass sich diese Position auch auf die exilische Natur der Kritik übertragen sollte: We must leave home, as it were, since our homes are often sites of racism, sexism, and other damaging social practices. Where we come to locate ourselves in terms of our own specific histories and differences must be a place with room for what can be salvaged from the past and what can be made new. What we gain is a reterritorialization; we inhabit a world of our own making. (Kaplan 1987, 194f )
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Außenseiterposition einnehmen (siehe u.a. Edward Said, Salman Rushdie, Homi K. Bhabha oder Gayavatri Spivak). 7
Dichter des 19. Jahrhunderts wie Charles Baudelaire oder John Keats erkannten in der Melancholie eine tiefe Befähigung zu leiden, aus der sich eine sublime Einsicht in die Welt – eine Erkenntnis über das Gewöhnliche hinaus – offenbarte.
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Literatur Alexander, Meena (1993): Fault Lines. A Memoir. New York: The Feminist Press Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press Appiah, Kwame A. (2006): Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York: W.W. Norton & Company Burton, Robert (1989) [zuerst 1621]: The Anatomy of Melancholy. Vol. I. Oxford: Oxford Univ. Press Cantagrel, Laurent (2004): De la Maladie à l‘Écriture. Genèse de la Mélancolie romantique. Tübingen: Max Niemeyer Verlag Chambers, Iain (1994): Migrancy, Culture, Identity. London: Routledge Chen, Anne Anlin (2001): The Melancholy of Race. Psychoanalysis, Assimilation and Hidden Grief. New York: Oxford Univ. Press Gilroy, Paul (2005): Postcolonial Melancholia. New York: Columbia University Press Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos Foucault, Michel (1961): Folie et Déraison: Histoire de la Folie à l‘Âge classique. Paris: Union Générale d‘Edicion Freud, Sigmund (1972) [1917]: Trauer und Melancholie. Sigmund Freud Studiengausgabe. Bd. III. Frankfurt am Main: S. Fischer Hall, Stuart (1990): „Cultural Identity and Diaspora“. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference. London: Lawrence & Wishart, S. 222- 37 Kant, Immanuel (1910) [zuerst 1764]: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Berlin: Brandt Buchhandlung Kaplan, Caren (1987): “Deterritorialization. The Rewriting of Home and Exile in Feminist Discourse”. Cultural Critique 6, S. 187-98 Kristeva, Julia (1989): Black Sun. Depression and Melancholy. Trans. Leon S. Roudiez. New York: Columbia Univ. Press Müller-Richter, Klaus, Uritescu-Lombard, Ramona (2007): “Preface”. In: dies. (Hg): Imaginäre Topografien. Migration und Verortung. Bielefeld: transcript, S. 7-10 Nethersole, Reingard (2008): “Cosmopolitanism and Identity. Challenges for Comparative Literature”. Arcadia – International Journal for Literary Studies. Bd. 43, Heft 1, S. 8-27 Nietzsche, Friedrich (1954) [zuerst 1883]: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hg. v. Karl Schlechta. München: Hanser Rushdie, Salman (1992): Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991. London: Penguin
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Said, Edward (1999): “No Reconciliation Allowed”. In: Aciman, André (Hg.): Letters of Transit: Reflections on Exile, Identity, Language, and Loss. New York: The New Press, S. 87-114 Schelling, Friedrich Wilhelm J. (1973) [zuerst 1810]: Stuttgarter Privatvorlesungen. Hg. v. Miklos Vetō. Torino: Bottega D‘Erasmus Schlegel, August Wilhelm (1962) [zuerst 1808]: “Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur”. In: Kritische Schriften und Briefe. Bd. V. Hg. v. Edgar Lohner. 7 Bde. Stuttgart: Kohlhammer Seyhan, Azade (2001): Writing Outside the Nation. Princeton: Princeton Univ. Press Theunissen, Michael (1997): “Melancholie und Acedia: Motive zur zweitbesten Fahrt in die Moderne”. In: Heidbrink, Ludger (Hg.): Entzauberte Zeit. Der Melancholische Geist der Moderne. Ludger Heidbrink. München: Carl Hanser Verlag, S. 16-41
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Lager Leben Literatur. Emma Kann und Jorge Semprún in Gurs: Im Spannungsfeld von (UOHEHQXQG(U¿QGHQ Im memoriam Emma Kann (1914 ‒ 2009)
Im Garten, im Lager Emmeles Garten war ein kleines Paradies mit Blumen, Obstbäumen, Gemüsebeeten, mit großen, goldgelben Kürbissen im Herbst und einer ganzen Wildnis von Stachelbeeren und Johannisbeeren. An manchen Stellen war der Garten wohlgeordnet, an anderen fast im Naturzustand gelassen. Hinter dem kleinen weißen Haus befand sich ein rechteckiger Rasen, den ein Pfad der Länge nach in zwei gleiche Hälften teilte. An drei Ecken des Rasens standen große, sehr alte Apfelbäume. Ihre Zweige kamen sich so nahe, dass sie zur Zeit der Apfelblüte fast ein weißes Dach über dem Rasen bildeten. An der vierten Ecke befand sich eine alte, nicht mehr benutzte eiserne Wasserpumpe, in derem obersten Teil Schwalben nisteten. (Kann o.J., 2)1
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Ich zitiere nach einer mir von der Autorin überlassenen Fotokopie des unveröffentlichten Manuskripts; alle unveröffentlichten Schriften Emma Kanns finden sich leicht zugänglich im Nachlass der Autorin im „Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek” in Frankfurt am Main. Diese veröffentlichte auch einen Nachruf, der unter
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In dieser Passage aus ihrem auf die Jahre 1990/91 datierten Text Emmeles Garten, der an zweiter Stelle im zweiten, mit dem Titel „Erlebnisse“ überschriebenen Teil ihres noch unveröffentlichten Autobiographischen Mosaiks steht, entwirft die am 25. Mai 1914 in Frankfurt am Main geborene und am 19. Januar 2009 in Konstanz verstorbene Lyrikerin Emma Kann ihr ganz persönliches, heimeliges Bild eines Paradieses, das ihre Kindheits- und Jugendjahre in ein sanftes Licht hüllt. Die Vielzahl unterschiedlicher Blumen, Bäume, Kräuter und Pflanzen entspricht in diesem hortus, der mit allen Attributen eines locus amoenus ausgestattet ist, der Diversität an Menschen, die sich in der Welt der blonden und blauäugigen Emmele, „fast eine Art Gretchenfigur“ (Kann o.J., 2), in den zwanziger Jahren in der Umgebung von Frankfurt am Main treffen. Es ist eine Welt, in der die Menschen im Einklang mit der Natur leben, und eine Welt, in der auch die Literatur nicht fehlen darf, wird in Emmeles Garten doch vielleicht zum ersten Mal das literarische Talent der damals vierzehnjährigen Emma anerkannt. Der damalige Feuilleton-Chef der Frankfurter Zeitung, der – wie wir erfahren – kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Kummer verstarb, erkennt die Begabung des jungen Mädchens, gibt ihm aber zugleich die Warnung mit, „dass Dichten eine Kunst sei, von der man nicht leben könne“ (Kann o.J., 5). Emma Kanns Leben sollte dieser Einsicht nicht widersprechen. Die wunderbar freie Atmosphäre von Emmeles Garten, die innerhalb der autobiographischen Diegese die erste der großen literarisch ausgeformten Heterotopien bildet, verändert sich freilich im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre in Deutschland. Vielleicht ist bereits die den Garten umgebende „Hecke von Knallerbsenbüschen“ (Kann o.J., 1), die beim Zerplatzen ihrer Samen einen lauten dumpfen Knall ertönen lassen, eine erste akustische Vorbotin des kommenden Unheils. Wie in vielen Texten Emma Kanns beobachtet man auch hier, in diesem scheinbar außerhalb der Zeit angesiedelten Garten, das zunächst unmerkliche, bald aber unwiderstehliche Eindringen jener verheerenden Entwicklungen und Ereignisse, die noch die letzten Reste einer scheinbar heilen Welt vor 1933 mit sich fortspülen sollten. Die Weltwirtschaftskrise, die die meisten der hier ein und ausgehenden Gäste des Gartens betrifft, wird bald dazu führen, dass auch die katholische Emmele und ihr aus einer jüdischen Familie in Franken stammender Mann Ralph ihren Garten 1932 verkaufen müssen, zu einem Zeitpunkt, als sich längst die ersten Vorboten der dem Titel „Zum Tod der Lyrikerin Emma Kann” abrufbar ist unter http:// www.d-nb.de/sammlungen/dea/nachr exil/emma kann.htm.
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braunen Flut – etwa in Gestalt eines jungen Redakteurs, der bald das Amt des Feuilleton-Chefs übernehmen wird – in den Garten eingeschlichen haben. Die Zeit in Emmeles Garten ist gestundet. Immer wieder hat Emma Kann sehr behutsam aufgezeigt, wie das Bedrohliche auf zunächst eher beiläufige, nebensächliche Weise die einst so sicheren, von Traditionen geschützten Innenräume besetzt und sich im Alltag der Menschen breit macht. So führt sie in dem auf 1991/92 datierten Text Frankfurter Zwischenspiel, der ebenfalls dem zweiten Teil des Autobiographischen Mosaik zugehört, sehr eindrücklich vor, wie ein Lehrling, der schon wenige Monate später in SA-Uniform erscheint, die Arbeitsatmosphäre an einer Frankfurter Bank Stück für Stück so grundlegend verändert, dass alle Formen des Zusammenlebenswissens nach und nach außer Kraft gesetzt werden und eine so unerträglich affektbeladene Atmosphäre in den Räumen der Bank, im Raum der Arbeit entsteht, dass dem Ich – dem längst auch alle Türen zum Studium verschlossen sind – nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Arbeitsstelle in der Bank, die Heimatstadt und Deutschland zu verlassen oder sich selbst ohnmächtig auszuliefern. Affektivität und Raumerfahrung werden hier von Emma Kann in eine wechselseitige Prozessualität eingebunden, die den Raum als Lebens-Raum in fundamentaler Weise als Spatialisierung von Affektivität markiert. Vor dem Hintergrund eines zusammenbrechenden Zusammenlebenswissens ist das Exil sehr bald die einzige Möglichkeit, die sich dem Überlebenswissen des Ich noch bietet. In Emmeles Garten wird das Hereinbrechen des Unheils in all seiner gnadenlosen Logik in wenigen Pinselstrichen skizziert. Die nationalsozialistische Machtübernahme zwingt die ersten ins Exil nach Frankreich, Emmeles Mann Ralph wird als Jude von seiner Frau getrennt und nach Theresienstadt deportiert, überlebt aber anders als seine Verwandten, die ausnahmslos in den Vernichtungslagern in Polen umkommen, weil Emmele auch unter Lebensgefahr nicht in die von ihr geforderte Scheidung einwilligt, sondern zu ihrem Mann hält (vgl. Kann o.J., 10). So erscheinen die Konzentrations- und Vernichtungslager der bestialischen Nazimaschinerie, deren Vorboten und Vertreter zunächst eher freundlich und jovial aufgetreten waren, bereits in Emmeles Garten und möblieren so als spatiales heterotopisches Gegenmodell eine Kippfigur, in welcher der Garten immer schon auf das Lager verweist und das Lager auf den Garten. In einem undatierten Text aus dem zweiten Teil des Autobiographischen Mosaiks wird unter dem Titel Fahrt in den Frühling von einer Reise der mittlerweile achtzehnjährigen Ich-Erzählerin mit einer Freundin in die Schweiz berichtet, wo man in der idyllischen
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Landschaft des Zürichsees bei einer Fahrt im offenen Wagen plötzlich mit einer Stimme konfrontiert wird, die unüberhörbar alles in ihren Bann schlägt: Dort hörten wir durch das offene Fenster eines Wirtshauses die Stimme von Josef Göbbels, dessen Rede am Radio übertragen wurde. Wir hielten an und hörten von der Straße aus zu. Es war eine erschreckende Rede, voll von Drohung und Hass. Das Schlimmste war, dass dies nun nicht mehr der Propaganda einer Oppositionspartei entsprang, die nach Macht strebte, sondern das Programm einer Regierung darstellte, welche die Macht bereits fest in den Händen hielt. Das Gasthaus stand nahe am Seeufer. Ich blickte hinüber auf die Ufenau, wo Ulrich von Hutten seine Zuflucht gefunden hatte, und dachte an Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Huttens letzte Tage. Conrad Ferdinand Meyer war damals einer meiner Lieblingsdichter. Nicht weit von mir, auf dem Pflaster des Platzes, taten eine männliche und eine weibliche Taube das, was dem Leben von Generation zu Generation Dauer verleiht. Die Sonne schien und der See funkelte. Es war ein herrlicher Tag. Und Göbbels redete und schrie und höhnte und triumphierte. Wir standen und lauschten, wir waren zur Hilflosigkeit verdammt. (Kann o.J., 9)
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Die nachhaltige Faszinationskraft dieser Passage beruht auf einer verdichtenden Engführung sich gänzlich widerstrebender Geschehnisse und Erlebnisse, gehen die lebensbedrohenden Hasstiraden Goebbels’ doch einher mit den Nachklängen der Literatur, mit der Präsenz der Zeugung des Lebens, mit dem Genießen der Natur und dem Gefühl, zur Hilflosigkeit verdammt zu sein. Diese paradoxe Denk- und Schreibfigur findet sich immer wieder in Emma Kanns Schriften wie in ihren Gedichten, wird zuvor aber im selben autobiographischen Text auf höchst spannende Weise reflektiert. Denn dort stellt das Ich fest, mit welcher Intensität es die politischen Veränderungen in Deutschland wahrnimmt und zur Grundlage des eigenen Erlebens macht. Aber es gibt noch etwas anderes: Trotzdem war ich fähig, gewissermaßen mit einem anderen Teil meines Ichs, diesen Ferienaufenthalt voll zu genießen und jeder Einzelheit mein Interesse und mein Empfinden entgegenzubringen. Diese Spaltung fiel mir damals zum ersten Mal auf. Ich habe sie in den Kriegsjahren und später häufig in mir beobachtet, eine Elastizität, in der Leiden und Freude gleichzei-
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tig nebeneinanderher existieren in einer intensiven Lebenslust trotz aller Trauer und Gefahr. (Kann o.J., 8) Die Intensität dieser Lebenslust inmitten von Trauer und Gefahr soll an dieser Stelle nicht psychoanalytisch oder tiefenpsychologisch ausgedeutet, sondern auf der Ebene des Lebens situiert werden, genauer: auf der Ebene des Wissens vom und im Leben. Denn unverkennbar handelt es sich hier um ein Gnosem, um ein zentrales Element des Lebenswissens und Überlebenswissens, das es dem Ich erlaubt, in Situationen von höchster Lebensbedrohung Reaktionen stärkster Lebensbekräftigung zu erzeugen und zu genießen. Was zunächst als anderer Teil des Ich und als Spaltung des Ich umschrieben wird, erscheint wenige Zeilen danach als eine Elastizität, die es erlaubt, das Gegensätzlichste gleichzeitig zu leben und zu erleben. Es geht um das Viel-Logische, das sich der Dominanz einer einzigen, totalitär auftretenden Logik widersetzt. Die gnosematische Dimension spielt dabei ein Wissen vom und über das Leben, aber auch im und zum Leben ein, die in ihrer Wirkmächtigkeit gewiss aus unterschiedlichster disziplinärer Perspektive untersuchbar ist, hier aber aus einer philologisch-literaturtheoretischen Blickrichtung überdacht werden soll. Ohne jeden Zweifel handelt es sich um ein zentrales Gnosem des in Emma Kanns Schriften entfalteten Lebenswissens, das – gleichsam aus der selbstreflexiven Beobachterposition – als ein Erlebenswissen erscheint und als Überlebenswissen fungiert. Es verleiht dem Ich eine ausreichende Biegsamkeit, um in einer extremen Belastungssituation nicht zu zerbrechen, steigert aber zugleich eine Lebenslust, wie wir sie im lustvollen Genießen von Natur und Literatur, von Zeugung und Zeugnis in der vorangehenden Passage erkennen konnten. Das Gnosem markiert eine immer wieder beobachtete Fähigkeit, der Lebensbedrohung eine Lebenslust entgegenzusetzen, die sich als trotziges Beharren auf der Lust am eigenen Ich und seinem Leben begreifen lässt. Im Autobiographischen Mosaik erscheint dieses Gnosem, dieses Grundelement des Lebenswissens und Überlebenswissens, an den unterschiedlichsten Stellen. Vor dem hier gewählten Hintergrund der Heterotopie des Gartens ist es aufschlussreich zu beobachten, wie in der extrem lebensbedrohlichen Situation des am Fuß der Pyrenäen gelegenen Lagers Gurs eben jenes Überlebens-Gnosem ins Spiel kommt, das in Fahrt in den Frühling auf so pointierte Weise eingeführt wurde. Denn in dem auf das Jahr 1995 datierten Text Gurs, der sich an der viertletzten Stelle der insgesamt 14 Texte befindet, welche den hier ins Zentrum gerückten zweiten Teil des Autobiographischen
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Mosaiks bilden, wird die Deportation der mit einem belgischen Staatenlosen-Pass ausgestatteten Ich-Erzählerin ins Frauenlager von Gurs von Beginn an in ein höchst intensives Erleben der Landschaft des Pyrenäenvorlands integriert: Wir fuhren durch eine atemberaubend schöne Landschaft. Dann bogen wir ab in eine Straße, die mit Stacheldraht abgegrenzt war. Hinter dem Stacheldraht standen Frauen. Sie winkten uns und riefen uns zu: „Wo kommt Ihr her?“ Wir antworteten „Aus Toulouse“. Ich habe ähnliche Szenen später oft von der anderen Seite des Stacheldrahts her beobachtet. Dann brachte man uns in das Lager und verteilte uns auf die Baracken. Das Lager von Gurs war ein Jahr vorher als Auffanglager für Flüchtlinge eingerichtet worden, die am Ende des spanischen Bürgerkriegs zu Tausenden über die Pyrenäen kamen. Noch immer waren Spanier und Mitglieder der Internationalen Brigade hier untergebracht. Wir sahen sie nur, wenn sie irgendwelche Reparaturen an den Baracken ausführten. Denn das Lager hatte Unterabteilungen, sogenannte Ilots, die mit Stacheldraht voneinander abgegrenzt waren. Man kannte daher praktisch nur das Ilot, in dem man selbst sich befand. (Kann o.J., 2)2
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Man würde diesen Text in einer fundamentalen Weise missverstehen, würde man ihm einen wie auch immer gearteten Versuch einer Verharmlosung der Lagerrealität unterstellen. Der Literatur – und ich komme darauf noch ausführlicher zurück – geht es nicht vordringlich um die Darstellung von Wirklichkeit, sondern um die Repräsentation einer gelebten und erlebten Realität. Nicht umsonst steht der zweite Teil des Autobiographischen Mosaiks – anders als der erste Teil, der den Titel „Betrachtungen“ trägt – im Zeichen jener titelgebenden „Erlebnisse“, die das dargestellte Leben ebenso auf der Ebene des erlebenden Ich wie auf jener des erzählenden Ich aus der Perspektive eines spezifischen Erlebenswissens entfalten. Ein zentrales Gnosem aber, welches das Überleben des Ich und damit überhaupt erst das Erleben ermöglicht, betrifft jene Lebenslust, die sich gerade in der Situation höchster Lebensbedrohung einstellt. Die Schilderung der primitiven Verhältnisse in einem Lager mit Latrinen, die ständig „hoffnungslos verschmutzt“ (Kann o.J., 2)
2
Eine korrigierte und leicht veränderte Fassung dieses Prosatextes findet sich in Kann, Emma: Meine Erinnerungen an das Lager Gurs. In: Exil (Frankfurt am Main) XV, 2 (1995), S. 25-28.
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waren, geht direkt über in eine auf den ersten Blick eher überraschende Reflexion: Ich sah keine Bäume in dem Lager von Gurs. Nur unter der Stacheldrahtbarriere wuchs ein wenig Gras. Der Boden war lehmig. Wenn es regnete, was häufig geschah, wurde es so schlammig, dass ich meist barfuß ging, da es unmöglich war, sich die Schuhe sauber zu halten. Zum Glück war es Sommer – Ende Mai, Juni, die erste Juliwoche. (Kann o.J., 2) Die vergebliche Suche nach Bäumen spielt wie das Gras unter dem Stacheldrahtverhau Elemente jenes Gartens ein, die in Emmeles Garten ein wahres Paradies verkörpert hatten. In einem Gespräch in Konstanz am 10. Oktober 2003 teilte mir die Autorin mit, dass sie die Gedichte, die sie in Gurs verfasste, in Ermangelung eines Tisches entweder auf den Lehmwällen, die rund um die Baracken liefen, oder unter einer Decke, die sie als Schutz gegen Wind und Wetter über die Einzäunungen warf, auf den kleinen Grasflächen nahe der Stacheldrahtbarrieren niederschrieb3. So könnte man durchaus im Lager von Gurs in jenen kleinen bedrohten Grasstreifen, auf denen Emma Kann einige ihrer Gurs-Gedichte verfasste, noch die Gegenwart von Emmeles Garten erblicken, in der sich die Präsenz der verschiedenartigsten Bäume, Früchte und Pflanzen, aber auch die Erinnerung an den wohlproportionierten Rasen mit jenem erstmaligen Erscheinen der eigenen Lyrik, der eigenen Gedichte verbindet. Ihr erster professioneller Leser aber war schon wenige Jahre später, nach Hitlers Machtergreifung, von einem vielleicht gütigen Schicksal aus dem Leben abberufen worden. So sollten die deutschsprachigen Gedichte Emma Kanns, die bald nach ihrer Flucht über Casablanca und Cuba in die USA in englischer Sprache zu schreiben begann, erst sehr spät und in sehr eingeschränktem Maße ein deutschsprachiges Lesepublikum erreichen. Mit der Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1981 und der damit verbundenen lyrischen Rückkehr in die deutsche Sprache entwickelte sich ein translingualer Prozess weiter, der die Dichtkunst Emma Kanns zweifellos den Literaturen ohne festen Wohnsitz zuzurechnen erlaubt. Für ein größeres Publikum sind Emma Kanns Gedichte freilich erst noch zu entdecken4. In Gurs aber war die Lyrikerin noch unendlich weit von jeder Hoffnung entfernt, Europa in Richtung Vereinigte Staaten verlassen zu können. Durch den Zusammenbruch Frankreichs unmittelbar 3
Weitere Erinnerungen an das Lager in Gurs finden sich auch in meinem Interview mit der Autorin vom 24. April 1991; vgl. Ette 1993, 33-40.
4
Vgl. hierzu Ette 2007a, 93-96.
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nach dem Ende der drôle de guerre und der sich dadurch kurzfristig ergebenden Verwirrung gelang es Emma Kann immerhin, das Lager von Gurs auf eigene Faust, aber ordnungsgemäß und mit Entlassungspapieren ausgestattet wieder zu verlassen. Hannah Arendt, die Emma Kann im Lager von Gurs kennengelernt hatte, weil ihr der Name der damals noch nicht so prominenten Philosophin „durch die Amsterdamer Emigrantenzeitschrift ‚Die Sammlung’“ (Kann o.J., 3) bekannt war, erzählte im Sommer 1962 und damit aus zeitlicher wie räumlicher Distanz, wie sie im Juli 1940 (und damit zum selben Zeitpunkt wie Emma Kann) aus dem Lager von Gurs hatte entkommen können: Einige Wochen nach unserer Ankunft in dem Lager (...) war Frankreich geschlagen, und die gesamte Kommunikation brach zusammen. In dem anschließenden Chaos gelang es uns, Entlassungspapiere zu bekommen, mit denen wir das Lager verlassen konnten. Zu dieser Zeit gab es keinen französischen Untergrund (die französische Widerstandsbewegung kam erst viel später auf, nämlich als die Deutschen beschlossen, Franzosen zur Zwangsarbeit in Deutschland heranzuziehen, worauf viele junge Leute untertauchten und dann die maquis bildeten). Niemand von uns konnte „beschreiben“, was auf diejenigen wartete, die zurückblieben. Alles, was wir tun konnten, war, ihnen zu sagen, was unserer Meinung nach passieren würde – nämlich die Übergabe des Lagers an die siegreichen Deutschen. (Etwa 200 Frauen von insgesamt 7000 verließen das Lager.) Das passierte tatsächlich, aber da das Lager im späteren Vichy-Frankreich lag, passierte es Jahre später als wir erwarteten. Der Aufschub half den Insassen nicht. Nach einigen chaotischen Tagen war alles wieder sehr geordnet und Flucht nahezu unmöglich. Diese Rückkehr zur Normalität haben wir zutreffend vorausgesehen. Es war eine einmalige Chance, aber sie bedeutete, dass man mit nichts als einer Zahnbürste verschwinden musste, denn es gab keine Transportmittel. (Young-Bruehl 2000, 226) 5
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Auf die von Hannah Arendt hier gestreifte „Rückkehr zur Normalität“ wird sogleich zurückzukommen sein. In Emma Kanns „Erlebnis“ des Verlassens des Lagers von Gurs stößt man auf eine gänzlich andere Tonlage, die freilich wiederum von einer intensiven Wahrnehmung der Landschaft am Fuß der Pyrenäen begleitet wird: Ich verließ dann das Lager allein und lief die Straße hinunter nach Oloron, dem nächsten größeren Ort, etwa vierzig Minuten zu Fuß. Es war ein herrliches Gefühl, den Stacheldraht hin5
Zur Dimension des Lagers bei Hannah Arendt vgl. auch Ette 2006, 87-114.
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ter mir zu lassen und durch diese schöne und fruchtbare französische Landschaft zu gehen. Überall arbeiteten Frauen in dunkler Kleidung auf den Feldern. (Kann o.J., 4) Immer wieder wird der ästhetische Genuss – sei es, wie in diesem Falle, die Lust an der Natur oder, wie in anderen Fällen, an der Literatur – zu jenem entscheidenden Gegengewicht, welches das Ich davor schützt, in Verzweiflung, aber auch in Tatenlosigkeit zu verfallen. Die Einrichtung einer Gegen-Welt, in der die lustvolle Wahrnehmung des Schönen erfolgen kann, verwandelt das Ästhetische in eine Kraft, die sich der Unterwerfung unter eine vermeintlich alles totalitär beherrschende Realität sanft, aber kompromisslos entgegenstemmt. Keine Ästhetik des Widerstands, wohl aber der Widerstand der Ästhetik. Zugleich setzt das Ästhetische die Kräfte eines Überlebenswillens frei, die es dem Ich ermöglichen, sich dem zur Falle gewordenen Deutschland ebenso zu entziehen wie einem Lager, das für viele schon bald zu einem Durchgangslager in den Tod werden sollte. Folglich endet der Text Gurs nicht zufällig mit dem Verweis auf die aus Baden und der Pfalz deportierten Juden, zu denen auch Verwandte der Ich-Erzählerin gehörten: Zu diesem im Lager Zurückgebliebenen kamen im Herbst 1940 alle Juden aus Baden und aus der Pfalz, welche die deutsche Regierung nach Gurs deportierte. Damit begann die schrecklichste Zeit des Lagers von G u r s. (Kann o.J., 5) Auch die Rede von der deutschen Regierung ist nicht etwa als Verharmlosung eines totalitären Regimes zu verstehen, sondern macht klar, dass längst der Ausnahmezustand – ganz im Sinne Giorgio Agambens (2003) – zur Normalität geworden war. Dabei erzeugt das Schreiben jenen Eigen-Raum, aus dem eine möglichst intensive Innenansicht dieser Normalität des Ausnahmezustands vermittelbar wird ‒ und zwar nicht nur im Schreiben nach der Bedrohung, sondern gerade auch im Schreiben in und während der Bedrohung. Denn das Schreiben auf der kleinen verbliebenen Grasfläche im Lager brachte eine Reihe von Gedichten hervor, in denen die Literatur im allgemeinen und das Dichten im besonderen jenes zentrale Wissenselement realisieren, das ein Überleben der Autorin ermöglicht6: Literatur als ästhetische Praxis eines Überlebenswissens, das sich – wie schon im Frankfurter Zwischenspiel – jeglicher Gleichschaltung entzieht.
6
Zu der damit verbundenen Ästhetik vgl. Ette 2007a.
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Ohne an dieser Stelle noch einmal auf die Gesamtheit der im Lager Gurs entstandenen lyrischen Texte eingehen zu können7, sei doch zumindest ein Gedicht angeführt, das unmittelbar nach dem Entkommen aus Gurs entstand, ein Gedicht, als dessen Entstehungsort das kleine Dörfchen Precilhon angegeben wird, wo Emma Kann mit anderen Flüchtlingen vorübergehend einquartiert worden war. Der Titel des noch immer unveröffentlichten Gedichts Frieden im Krieg verweist darauf, dass die Bewohner des Dorfes die Flüchtlinge freundlich aufnahmen und ihnen – worauf auch im Prosatext Gurs verwiesen wird – sogar ein Abendessen zubereiteten. Also Frieden, mitten im Krieg? Ein jeder Tag ragt wie ein Pfahl Ueber dem Meer von Blute, Das unser Dasein ueberschwemmt. Nichts bleibt als die Minute, Die grade ist. Der Bauer dreht Zum Sonnenlicht die Garben. Das Land dehnt zu den Bergen sich In scharfen, klaren Farben. Das Gestern starb. Das Morgen starb. Das Sehn vertrieb das Denken, Und zwischen Tod und Tod geniesst Es was die Stunden schenken. (Kann o.J., o.S.)
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Der Allgegenwart des Todes wird auf der Ebene des Erlebens ein in Bildern gespeichertes Wissen entgegengestellt, das in der Versöhnung von Landschaft und Mensch, von Natur und Kultur in „scharfen, klaren Farben“ dem „Meer von Blute“ einen unbändigen Erlebenswillen, eine intensive Lebenslust als Verdichtungsstruktur gegenüberhält, die stets von ihrer eigenen prekären, gestundeten Zeit weiß. Geschichte und Zukunft sind auf eine Gegenwart zusammengeschmolzen, deren Gegen-Wert als Gegenstand des Gedichts ein möglichst unvermitteltes Erlebenswissen ist, das sich auf die Lücke zwischen den Toden, zwischen den Toten konzentriert. Die atemberaubenden Bilder, die in die Normalität des Ausnahmezustands wie absichtslos eingelegt sind, inszenieren die Spaltung und mehr noch die fundamentale Elastizität, die sich im Lebens- und Überlebens-Gnosem der Dichterin Emma Kann literarisch verdichten. Sie künden von der Kunst, sich inmitten der Todesgefahr einen eigenen Lebens- und Erlebensbereich zu schaffen, dessen radikale
7
Vgl. hierzu Ette 2006.
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Eigen-Logik auf zutiefst paradoxe Weise das eigene reale Überleben miteinbezieht.
In der Literatur, im Leben In der Literatur geht es im Grunde nicht um die Realität, nicht um die Wirklichkeit als solche; es geht der Literatur – und es geht in der Literatur – vielmehr um das Leben. Nicht die dargestellte Wirklichkeit steht im Zentrum dieser Kunst, sondern die literarische Repräsentation erlebter und gelebter Wirklichkeit. Wenn sich die Literatur mit der geschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Realität auseinandersetzt, dann beschäftigt sie sich damit folglich aus der Perspektive der gelebten oder erlebten, der lebbaren oder erlebbaren Wirklichkeit. Kurz: Die Literaturen der Welt konfrontieren uns dank ihrer ästhetischen Erkenntnisleistung mit Lebensformen und Erlebensformen von Wirklichkeit, die in ihrer (kulturellen) Diversität im Grunde als Wirklichkeiten gedacht werden können. Diese werden innerhalb jener relativen Autonomie, die sich in historisch und kulturell jeweils verschiedener Weise ausgeprägt hat, gemäß der Eigenlogik, dem Eigen-Sinn literarischer Formen und Sprachen, künstlerisch vor Augen geführt, mithin der ästhetischen Erfahrung eines unterschiedlichen Zeiten, Räumen und kulturellen Formationen angehörenden Lesepublikums zugänglich gemacht. So schaffen die Literaturen der Welt in ihren je spezifischen Kontexten einen Erprobungs- und Experimentierraum von und für Lebensformen und Lebenswissen, der vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwartsliteratur reicht und sich ständig und lebendig ohne einen Schlusspunkt fortschreibt. Literatur zielt auf das Ganze: Es geht ihr – und in ihr – um das Leben. Im neunten Kapitel seiner Poetik hat Aristoteles in unverkennbarer Absetzung von Platon bekanntlich den Eigen-Wert der unterschiedlichen Formen der Dichtkunst hervorgehoben und zugleich von der Aufgabenstellung des Geschichtsschreibers abgesetzt. Entscheidend für die hier gewählte Perspektive scheint mir in den berühmten Formulierungen des Aristoteles weniger, dass es anders als für den Geschichtsschreiber „nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte“ (Aristoteles 1982, 29). Im Zentrum der auf diese Scheidung bezogenen Überlegungen steht eine paradoxe Denkfigur, die sich daraus ergibt, dass für Aristoteles die Geschichtsschreibung auf das Besondere, die Dichtung aber auf das Allgemeine ziele
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und daher auch ein ernsthafteres und philosophischeres Ziel verfolge. Das Allgemeine aber, so Aristoteles’ prägnante Formulierung, bestehe darin, „dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut“ (Aristoteles 1982, 31). Mit anderen Worten: Die Brechung einer komplexen Realität durch die je besondere Prägung, Bildung und Ausstattung eines Menschen und damit durch die Perspektive eines einzelnen Menschenlebens eröffnet im Sinne des Aristoteles den historisch wie kulturell wandelbaren ästhetischen Raum, innerhalb dessen das Allgemeine in seiner Komplexität erreichbar, darstellbar und schreibbar wird. Durch die Fokussierung auf ein bestimmtes Lebenswissen8 wird ein Wissen vom Leben repräsentierbar, das im Sinne der aristotelischen Poetik mit Bestimmtheit die jeweils gewählte Fokussierung übersteigt. Das nach bestimmten Regeln der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit generierte komplexe Lebenswissen, das zweifellos einer relativen Eigen-Gesetzlichkeit und Eigen-Logik der Literatur verpflichtet ist, erhebt damit Anspruch auf einen höheren Erkenntniswert, als dies der im Besonderen verhafteten und an das Besondere geketteten Geschichtsschreibung in ihrer Orientierung am tatsächlich Geschehenen und damit Partikularen möglich wäre. Dabei sollten wir mit Blick auf die Poetik nicht vergessen, dass Aristoteles in seiner Rhetorik neben der Veranschaulichung und der Vergegenwärtigung die Verlebendigung als herausragendes Mittel der (ästhetischen) Gestaltung zur Überzeugung durch Rede hervorhob9. Mir scheint, dass es gerade die Verlebendigung aus dem Blickwinkel eines je spezifischen Lebenswissens ist, auf der die besondere Überzeugungskraft der Literatur beruht10. Die Beziehung zwischen Literatur und Wissen ist gerade im Verlauf der letzten Jahre keineswegs zufällig in den Mittelpunkt von Ansätzen gerückt (worden), die sich um ein neues Verständnis des Literarischen bemühen. Man könnte mit guten Gründen die These wagen, dass längst die Thematik des Wissens an die Stelle der seit anderthalb Jahrzehnten dominanten Memoria-Problematik als zentrales Paradigma geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung getreten ist – eine These, die gerade mit Blick auf die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte wie den Geschichten der Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager in Europa wie außerhalb Europas von einiger Brisanz ist. Denn steht nicht die 8
Vgl. zur Definition dieses Begriffs Ette 2008a, 414-415; sowie Ette 2004.
9
Aristoteles 1980, S. 188-197 (1410a - 1412b).
10
Vgl. hierzu Nünning 2009, S. 93-107.
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gesamte Auseinandersetzung mit dem univers concentrationnaire vorwiegend im Zeichen der Memoria und des damit verbundenen Zeugnishaft-Testimonialen? In seiner 2008 erschienenen Studie Literatur und Wissen (2008) versuchte jüngst etwa Ralf Klausnitzer, einen ebenso panoramatischen wie systematischen Überblick über die vorhandenen Zugänge und Modellbildungen zu bieten. Schon im Vorwort zu dieser Arbeit wird dabei deutlich, wie weit der Wissensbegriff mit Blick auf die Literatur gespannt werden kann, wobei die Ansprüche, die Literatur geltend machen könnte, freilich unentwegt – und gänzlich anders als bei Aristoteles – in das Reich der Potentialität verwiesen werden: Auch literarische Texte sind keine „Container“ vorgängig gewonnener Einsichten oder Kenntnisse; sie erscheinen und wirken vielmehr als besondere Realisierungen von Sprache, in und mit denen mögliche Welten generiert und hypothetische Geltungsansprüche auf zugleich figurative und performative Weise artikuliert werden. Literarische Texte imaginieren Handlungen in fiktionalen Räumen und also gleichsam auf Probe; sie spielen kontrafaktische Annahmen durch und entwickeln Szenarien, in denen differenzierte Planungen angestellt, Vermutungen getestet und Erfahrungen formuliert werden können. (Klausnitzer 2008, vii)11 Der Anspruch der Literatur ist hier nicht nur gebändigt und ins Reich der Möglichkeiten wie der fiktionalen Räume verwiesen, sondern zugleich auch – ganz im Gegensatz zu Aristoteles’ Poetik – auf die „besondere Realisierung“ und damit auf das Reich des Besonderen zurückgedrängt. Dem Begriff des Lebens selbst kommt in dieser Konstruktion und Perspektivierung von Literatur keine eigentliche Rolle zu. In seiner schärfer zugeschnittenen, aus verschiedenen Gründen aber nicht unumstrittenen Aufsatzsammlung Das Wissen der Literatur versuchte Jochen Hörisch seinerseits, die titelgebende „riskante bis provokante Wendung“ (Hörisch 2007, 7) vor dem Hintergrund der Erfahrung durchzuspielen, dass es „seit jeher zweifelhaft (sei), ob das Medium der Literatur, der schönen Literatur beziehungsweise der sogenannten Belletristik überhaupt wissenstauglich und seriös ist“ (Hörisch 2007, 7). Wir sind hier ganz offenkundig Jahrtausende entfernt vom Anspruch eines Aristoteles, demzufolge „Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“ sei (Aristoteles 1982, 29).
11
Die erste Kursivierung O.E.
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Was also weiß die Literatur? Und warum wird der Geltungsanspruch ihres Wissens von Vertretern einer Literaturwissenschaft, die heute unter dramatisch erhöhtem Legitimationsdruck zu stehen scheint, so verhalten formuliert? Wie ließe sich eine Neuformulierung der Beziehung zwischen Literatur und Wissen denken, die nicht vornehmlich die zunehmend marginalisierte Rolle der Literaturwissenschaft, sondern die jahrtausendealte Tradition der Literatur und ihrer Geltungsansprüche reflektiert? Im Schatten der Konfliktzonen zwischen platonischen und aristotelischen Lehren blieb weithin das Faktum verdunkelt, dass im Bereich der Dichtkunst, der Literatur, die von Aristoteles hervorgehobene Brechung durch einen jeweils bestimmten Menschen die Beziehung zwischen Literatur und Wissen an ein Drittes koppelt, das zumeist – und dies bis in die jüngste Gegenwart hinein – geflissentlich übersehen wurde: eben das Leben. Wie aber ließe sich das Leben literaturtheoretisch ins Spiel bringen? In der Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“12 wie in der Diskussion13 der dieser Schrift gewidmeten Debatte, die in der Zeitschrift lendemains geführt wurde, sollte in gedrängter Form der Versuch unternommen werden, auf die folgenschwere Ausblendung des Lebens – beziehungsweise unterschiedlicher Kategorisierungsformen des Lebens – aus den Literaturwissenschaften aufmerksam zu machen. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Dimension des Lebens insbesondere im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend ausgeblendet wurde und in den aktuellen Erörterungen etwa des Verhältnisses von Literatur und Wissen weiterhin ausgeblendet bleibt, mag eine Passage aus Jochen Hörischs durchaus lesenswertem Buch belegen. So wird in Das Wissen der Literatur ausführlich die Ars Poetica des Horaz untersucht, indem der Literaturtheoretiker dem berühmten Vers 333 („Aut prodesse volunt aut delectare poetae“) in seiner Analyse den oft unterschlagenen Vers 334 („Aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“) folgen lässt. Er führt durchaus Gerd Herrmanns Übersetzung („Helfen wollen die Dichter oder doch uns erfreuen / Oder beides: die Herzen erheitern und dienen dem Leben“) an (Hörisch 2007, 25 ff.), doch spielt das in Versendstellung besonders betonte vitae in seiner Deutung überraschenderweise keine Rolle. Das gelesene Leben wird gleichsam überlesen. Man könnte es an vielen Beispielen belegen: Das Leben scheint philologisch so selbstverständlich zu sein, dass es schlicht ver12
Vgl. Ette 2008b, 111-118.
13
Vgl. hierzu ausführlich Ette 2004.
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schwindet oder im Diskurs zu Begriffen wie „Wirklichkeit“ und „Realität“ oder „Gesellschaft“ und „Geschichte“ mutiert. Dies aber kann sich die Literaturtheorie heute – und dies heißt: in den Zeiten einer gezielt reduktionistischen Aneignung des Lebensbegriffes durch die Life Sciences14 – nicht länger erlauben. Mithin muss es heißen: Attention à la vie – und zwar nicht nur auf einer thematischen, sondern auf einer systematisch-literarästhetischen Ebene. Folglich gilt es, im Rahmen des aktuell erneuerten Interesses an der Beziehung von Literatur und Wissen das Leben in den Literaturwissenschaften als unverzichtbaren Bezugspunkt zu seinem Recht kommen und wieder lebendig werden zu lassen. Wenn Literatur im Sinne Horazens nicht nur die Herzen erfreuen, sondern auch dem Leben dienen soll, dann sollte die Literaturtheorie sich heute darum bemühen, Begrifflichkeiten zu entwickeln, die auf eine theoretisch, nicht aber ideologisch15 fundierte Weise (und durchaus im Sinne des Altphilologen Friedrich Nietzsche) „im Dienste des Lebens“ (Nietzsche 1955, 124) stehen. So könnte ein offener Lebensbegriff entfaltet werden, der ein Wissen vom Leben und ein Wissen des Lebens von sich selbst nicht nur als ein Wissen über das Leben, sondern mehr noch als ein Wissen im Leben zu implementieren imstande ist. Dabei ist die Denkfigur des aristotelischen Paradox von größter Bedeutung, unternimmt sie doch den Versuch, das Allgemeine aus einem partikularen Wissen entstehen zu lassen, das einem Menschenleben und dessen Lebenswissen zugeordnet wird. Damit wird keine radikal andere Sichtweise von Literatur angestrebt, wohl aber eine leichte, wenn auch nicht unmerkliche und folgenlose Drehung der Blickrichtung vollzogen, die sich der Ausblendung des Lebens wie des Lebensbegriffs widersetzt und zugleich die von Aristoteles hervorgehobene philosophische und ernsthafte Dimension der Literatur in ihrer stets relativen Eigengesetzlichkeit ernst nimmt. Dieser leichte Dreh lässt nicht länger die Wirklichkeit oder – um mit der so wichtigen Formel Erich Auerbachs16 zu sprechen – die dargestellte Wirklichkeit im Brennpunkt einer kritischen Betrachtung und Untersuchung von Literatur stehen, sondern rückt die literarische Darstellung und die spezifische Kraft 17 ästhetischer Repräsentation von erlebter oder erlebbarer Wirklichkeit ins Zentrum. Wenn sich – wie gezeigt werden konnte – das Lexem des „Lebens“ durch das gesamte Hauptwerk Auerbachs zieht und sich gerade am 14
Zur Unterscheidung zwischen Theorie und Ideologie vgl. Zima 1989.
15
Vgl. Auerbach 1946.
16
Vgl. hierzu Menke 2008.
17
Vgl. Ette 2007b, 30 f.
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Ottmar Ette
Ausgang von Mimesis in einer beachtlichen, bislang aber unbeachtet gebliebenen Verdichtung findet18, so erscheint es mir als symptomatisch und alles andere als kontingent, dass das letzte Kapitel dieses im Istanbuler Exil geschriebenen Werkes, in dem nicht von ungefähr vom bedrohten „Lebensreichtum“ die Rede ist, mit dem kleinen Wörtchen „erleben“ endet (Auerbach 1946, 493). Literatur ist es aus dieser Blickrichtung nicht so sehr um ein mehr oder minder spezifisches Wissen von einer jeweils besonderen Wirklichkeit zu tun, sondern um die Erprobungsformen eines Lebenswissens, das sich als die Potentialität eines aus der Perspektive eines bestimmten Menschen beziehungsweise von bestimmten Menschen entfalteten Erlebenswissens versteht und die Aneignungen von Wirklichkeit als Erlebensformen und Erlebensmöglichkeiten von Wirklichkeiten erkundet. In diesem Streben nach (der Repräsentation von) Erlebenswissen aber geht es der Literatur im Kern nicht um besondere Realisierungen von Sprache, sondern in ihrer Suche nach dem Allgemeinen ums Ganze: eben um das Leben, das die Literatur auf allen ihren Ebenen und noch in ihren komplexesten intertextuellen Verstrebungen durchzieht.
Im Leben, in der Literatur
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In seinem im Jahre 1994 veröffentlichten Band L’écriture ou la vie hat der am 10. Dezember 1923 in Madrid geborene Jorge Semprún auf ästhetisch beeindruckende Weise die paradoxe Beziehung zwischen den titelgebenden Begriffen Schreiben und Leben gestaltet. Dem vorwiegend in französischer Sprache schreibenden Autor, der mit dem in Paris geborenen und in spanischer Sprache schreibenden Max Aub ein zentrales chassé-croisé der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts bildet, gelingt in diesem fulminanten Buch eine ebenso ethisch wie ästhetisch beeindruckende Auseinandersetzung mit dem univers concentrationnaire, in das der 1942 in die Résistance-Organisation „Franc-Tireurs et Partisans“ eingetretene und seit Sommer 1943 für das Netz „Jean-Marie Action“ arbeitende junge Philosophiestudent an der Sorbonne geriet, nachdem er infolge der Verhaftung und Folterung durch die Gestapo im Januar 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde. Wie für Max Aub das allgegenwärtige Wörtchen campo in sich alle literarischen und vitalen Bedeutungsebenen bündelte, so wurde das Lager für Jorge Semprún gleichsam zur Matrix des gesamten Schaf-
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Vgl. hierzu Ette 2007c.
Lager Leben Literatur
fens, zum eigentlichen Schlüsselbegriff, in dem sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts konzentrierte. Die sich seit Le grand voyage, Semprúns Romandebüt aus dem Jahre 1963, in dem sich bereits alle großen Themen der literarischen Lebensreise des 1964 mit dem Prix Formentor ausgezeichneten Schriftstellers finden lassen, entfaltende Beziehung zwischen den Sprachen und Ausdrucksformen der Literatur und der Philosophie hat eine Philosophie des ÜberLebenSchreibens entstehen lassen, die in der Literaturgeschichte des univers concentrationnaire ihresgleichen sucht19. Dabei werden aus der Perspektivik eines bestimmten Menschen, den wir nicht mit Jorge Semprún verwechseln oder gar gleichsetzen dürfen, Philosopheme im Bereich und mit den Mitteln der Literatur erprobt und umgekehrt die Sprachen der Literatur in die Philosophie dergestalt übersetzt, dass viel-logische, unterschiedliche Logiken gleichzeitig entwickelnde Strukturen in ihrer Simultaneität ästhetisch verlebendigend vor Augen geführt werden. Allein die Schriftsteller vermögen es, so Jorge Semprún in seiner Ansprache am 10. April 2005 in Weimar aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, „die lebendige und vitale Erinnerung wieder zum Leben [zu] erwecken“ (Semprún 2006a, 2). Wie aber erreicht dies die Literatur? Wie kaum ein anderer europäischer Schriftsteller des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts erprobte Jorge Semprún durch sein translinguales Schreiben jenseits der eigenen Muttersprache die Möglichkeiten wie die Grenzen der Literatur, um einem auf dem eigenen Erleben basierenden, aber niemals auf dieses Erleben reduzierbaren Wissen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Seine Kunst verkörpert buchstäblich die grundlegenden Antworten, die ein Überlebenswissen und ein Überlebenswille auf die Herausforderungen einer Geschichte totalitärer Barbarei und Lebensvernichtung zu geben vermögen. In L’écriture ou la vie lässt sich ein wesentlicher Ausgangspunkt des Semprúnschen Oeuvre ausmachen: Das Zeugnishafte, Testimoniale allein, als écriture nicht mit der littérature zu verwechseln, vermag es nicht, aus der Erfahrung des Todes jenen Funken des Lebens zu schlagen, der nicht zuletzt deshalb überlebenswichtig ist, weil er sich der lebensbedrohenden Falle von „Schreiben oder Leben“ zu entziehen weiß. So stellt der Ich-Erzähler am Ende einer Diskussion um die Möglichkeiten, von den Konzentrationslagern später erzählen zu können und dabei von Menschen verstanden zu werden, die diese menschenverachtende Erfahrung nicht in ihrem 19
Vgl. hierzu Ette 2007c.
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eigenen Leben erleben mussten, eindeutig die Notwendigkeit des Hinausgehens über die Darstellung des „Faktischen“ fest: Ça veut dire quoi, „bien racontées“? s’indigne quelqu’un. Il faut dire les choses comme elles sont, sans artifices! C’est une affirmation péremptoire qui semble approuvée par la majorité des futurs rapatriés présents. Des futurs narrateurs possibles. Alors, je me pointe, pour dire ce qui me paraît une évidence. Raconter bien, ça veut dire: de façon à être entendus. On n’y parviendra pas sans un peu d’artifice. Suffisamment d’artifice pour que ça devienne de l’art! (Semprun 2006b, 165)
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Wenn es folglich gilt, vom Tod in einer dem Leben zugewandten und verlebendigenden Kunstform zu berichten, dann vermag allein der Rekurs auf die Kraft einer ästhetisch fundierten Erkenntnis jenes Verständnis, jenes Verstehen herbeizuführen, das es erlaubt, die Grenzen des je Besonderen auf die Erfahrung eines Allgemeinen hin zu transzendieren. Damit aber werden die traditionellen Grenzziehungen zwischen „Realität“ und „Fiktion“, zwischen „Wirklichkeit“ und „Literatur“ nicht nur in ihrer Brüchigkeit vorgeführt, sondern an entscheidender Stelle durchbrochen. An die Stelle dieser überkommenen Grenzziehung tritt das Spannungsfeld von Erleben und Erfinden, von gelebter und erfundener Geschichte(n), von erfundenem Leben und gelebter Erfindung, ein mobiles narratives Netzwerk, das stets auf der Gleichzeitigkeit vieler Logiken beruht, die – von einem scheinbar singulären Leben her gebündelt – sich auf das Allgemeine hin öffnen. Denn gerade mit Blick auf die Wirkung, mit Blick auf das Erleben von Literatur ließe sich sagen: Auch das erfundene Leben ist als gelesenes ein erlebtes Leben – unabhängig davon, ob es wie von den zeitgenössischen Lesern von Goethes Werther in auszulebende Handlungsmuster umgesetzt wird oder nicht. Damit ist längst auch die Scheidung zwischen Leben und Fiktion brüchig geworden: Beide sind in einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang eingetreten, so dass Erleben und Erfinden nicht ein Gegensatzpaar im Sinne von „Realität“ und „Fiktion“ bilden, sondern sich wechselseitig durchdringen, ohne sich doch je im Selben aufzulösen. Es gehört gewiss zu den vornehmsten Aufgaben der Literatur, den Raum der Freiheit zu eröffnen, um das Leben neu zu erproben, neu zu erfinden und das erfundene Leben in gelebte Erfindung zu übersetzen und dadurch intensiver erlebbar zu machen. Entscheidend für diese Intensität der Literatur als Lebenswissen und Erlebenswissen ist freilich eine möglichst große Komplexität
Lager Leben Literatur
und Offenheit des Lebensbegriffs und Lebensverständnisses. Indem uns die Literatur ermöglicht, in verdichteter Form unterschiedliche Logiken gleichzeitig zu erleben und zu durchleben, gibt sie uns den Schlüssel in die Hand, uns aus der Herrschaft einer einzigen Logik, einer einzigen Geschichtsschreibung des Besonderen zu befreien und jeglicher Reduktion des Lebens (auf eine klar festgelegte Praxis) wie des Lebensbegriffs (auf ein biowissenschaftlich determiniertes Verständnis) entgegenzutreten. Das Semprúnsche Erzählmodell, das sich immer wieder aufs Neue aus dem Erleben und Überleben des Konzentrationslagers Buchenwald speist und das eigene Leben immer wieder anders erfindet und erzählt, eröffnet so den Freiraum für eine Literatur, die sich nicht auf die Logik des Testimonialen reduzieren lässt, sondern die Spannung zwischen Erlebtem und Erfundenem verschiedenartig entfaltet und intensiviert. Literatur ist ein Erprobungsraum sinnlich erfahrbarer Komplexität. Von dieser gleichsam unendlichen Bewegung zwischen Erleben und Erfinden werden auch die Grenzen zwischen Leben und Tod erfasst, so dass das eigene Leben nur aus der Erfahrung des Todes und der eigene Tod nur aus dem Erleben des Lebens gedacht werden können. Dabei rückt die nicht weniger paradoxe Beziehung zwischen Leben und Wissen ins Zentrum, die in Semprúns L’écriture ou la vie mit einer bemerkenswerten Formulierung auf den Punkt gebracht wird: Sans doute la mort est-elle l’épuisement de tout désir, y compris celui de mourir. Ce n’est qu’à partir de la vie, du savoir de la vie, que l’on peut avoir le désir de mourir. C’est encore un réflexe de vie que ce désir mortifère. (Semprun 2006b, 61, Kursivierung O.E.) Das immer wieder anders von Semprún perspektivierte Sterben seines ehemaligen Lehrers an der Sorbonne, jenes Maurice Halbwachs, dessen Überlegungen grundlegend waren für die Entfaltung der Memoria-Problematik im 20. Jahrhundert, öffnet sich hier auf ein Lebenswissen, das selbst im Todeswunsch noch einen letzten Lebensreflex und eine damit verbundene fundamentale Lebensreflexion zu erkennen vermag. Denn ist es nicht ein ganz spezifisches savoir de la vie, das es dem Ich überhaupt erst ermöglicht, das Konzentrationslager von Buchenwald nicht nur zu überleben, sondern das eigene Erleben in eine Literatur zu übersetzen, die sich nicht länger in Form einer simplen écriture der Todeserfahrung als eine tödliche Bedrohung dem eigenen Leben-Wollen entgegenstellt? Nun erst kann jenes Rätsel gelöst werden, dem sich die Erzählerfigur über einen so langen Zeitraum fast hilflos ausgeliefert fühlt:
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Il faut que je fabrique de la vie avec toute cette mort. Et la meilleure façon d’y parvenir, c’est l’écriture. Or celle-ci me ramène à la mort, m’y enferme, m’y asphyxie. Voilà où j’en suis: je ne puis vivre qu’en assumant cette mort par l’écriture, mais l’écriture m’interdit littéralement de vivre. (Semprun 2006b, 215) So ließe sich als ein zentrales Gnosem des Semprúnschen Erzählmodells jene Einsicht herausarbeiten, dass ein Lebenswissen nur dann zu einem Überlebenswissen werden kann, wenn es die statischen Grenzziehungen zwischen Leben und Tod, zwischen „Realität“ und „Fiktion“ unterläuft, um viel-logische Verstehens- und Lebensstrukturen zu entwerfen, in denen sich Erleben und Erfinden miteinander verbinden, ohne miteinander zu verschmelzen. Wie aber lässt sich dieses Gnosem, diese grundlegende Wissenseinheit des Semprúnschen savoir de la vie, genauer fassen?
Im Lager, im Garten des Wissens Gleich auf den ersten Seiten von Jorge Semprúns Le grand voyage entsteht im Dialog auf dem Weg nach Weimar, ins Konzentrationslager Buchenwald, gleichsam eine Kartographie der Lager in Europa, ein Wissen, das zu diesem Zeitpunkt zumeist heimlich zirkuliert und ungleich verteilt ist:
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Il a eu le temps de savoir. C’était l’époque des départs massifs pour les camps. Des renseignements sommaires parvenaient à filtrer. Les camps de Pologne étaient les plus terribles, les sentinelles allemandes en parlaient, paraît-il, en baissant la voix. Il y avait un autre camp, en Autriche, où il fallait espérer également ne pas aller. Il y avait ensuite des tas de camps, en Allemagne même, qui se valaient plus ou moins. La veille du départ, on avait su que notre convoi était dirigé vers l’un de ceux-là, près de Weimar. (...) „Il y a des camps en France?“ Il me regarde, interloqué. „Bien sûr.“ „Des camps français, en France?“ „Bien sûr“, je répète, „pas des camps japonais. Des camps français, en France.“ „Il y a Compiègne, c’est vrai. Mais je n’appelle pas ça un camp français.“
Lager Leben Literatur
„Il y a Compiègne, qui a été un camp français en France, avant d’être un camp allemand en France. Mais il y en a d’autres, qui n’ont jamais été que des camps français en France.“ Je lui parle d’Argelès, Saint-Cyprien, Gurs, Châteaubriant. „Merde alors“, qu’il s’exclame. (Semprun 2006c, 22-24) Diese Passage des großen Debütromans von 1963 spielt nicht nur mit der Tatsache, dass das Wissen um französische Lager in Frankreich bei Franzosen nicht immer sehr verbreitet war (und vielleicht noch immer nicht ist), sondern entwirft auch eine Ubiquität von Lagerstrukturen, die einerseits zwischen verschiedenen Lagertypen differenziert und andererseits darauf aufmerksam macht, dass es Lager vor den Lagern der Nationalsozialisten gab. Dabei bedarf es nicht einmal des Verweises auf die campos de concentraciones der Spanier auf Cuba oder auf die concentration camps in Südafrika. Es wird ausreichend deutlich: Die Lager sind keine Erfindung der (jeweils) Anderen. Vor dem Hintergrund der ästhetischen Implikationen des Spannungsfeldes zwischen Erleben und Erfinden, wie es im vorherigen Abschnitt anhand von L’écriture ou la vie entwickelt wurde, war es nur folgerichtig, dass sich der in Spanien geborene Schriftsteller, der in seiner Jugend mit seiner Familie im Spanischen Bürgerkrieg sein Geburtsland hatte verlassen müssen und seine politischideologische Sozialisation in Frankreich erfuhr, mit den französischen Lagern in Frankreich auseinandersetzte, auch wenn seine eigene Lagererfahrung die des Konzentrationslagers rund um Goethes Eiche auf dem Ettersberg war. Doch wie hätte Jorge Semprún, der translinguale Autor einer Literatur ohne festen Wohnsitz, der auf der spanischen wie der französischen Seite der Pyrenäen sein stets prekäres Zuhause hat, jenen Lagern ausweichen können, welche nicht nur die Geschichte Spaniens und Frankreichs im 20. Jahrhundert auf so tragische Weise miteinander verbinden? Jorge Semprúns Theaterstück GURS: une Tragédie européenne20, das vom Centro Andaluz de Teatro in Sevilla, dem Kapuzinertheater in Luxemburg und dem Théâtre National de Nice als Auftragsarbeit der Europäischen Theaterkonvention vergeben und in Sevilla 2004 uraufgeführt wurde21, rückt dabei auf verschiedenen Zeitebenen die 20
Vgl. hierzu Semprún 2006, 4. Gastspiele der verschiedenen beteiligten Theater lassen sich ebenso nachweisen wie eine von Hanns Zischler angefertigte Übersetzung des Stückes ins Deutsche. Am 17. und 18. August 2006 gastierte etwa das Théâtre National de Nice im Rahmen des „Brecht-Fests” am Berliner Ensemble. Vgl. hierzu auch Neuhofer 2006, 18.
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Ich danke Tobias Kraft für den Hinweis auf diese Quelle: http://www. theatre-contemporain.net.
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Problematik von Flucht, Vertreibung und Migration ins Zentrum. Daniel Benoin, unter dessen Regie das Stück in Nizza im Dezember 2004 aufgeführt wurde, hielt die guten Gründe fest, wegen derer man sofort an Semprún gedacht hatte, als es im Rahmen der Convention Théâtrale Européenne zum Beschluss kam, gemeinsam am Thema „Le théâtre en Europe: miroir des populations déplacées“, zu arbeiten: C’est l’homme du déplacement, l’homme du croisement des langues, l’homme d’une véritable vision européenne, née dans la souffrance et la guerre. Sa maîtrise de l’espagnol, du français et de l’allemand en fait d’autre part l’écrivain rêvé pour tenter l’écriture d’une pièce qui comporterait dès l’origine trois grandes langues de l’Europe d’aujourd’hui. C’est le sens de la „commande“ que nous lui avons faite. 22 Gleich zu Beginn des in fünf Akte eingeteilten Stückes betont die ins Frauenlager von Gurs deportierte Myriam Lévi Toledano, die sich mit Erlaubnis der Lagerverwaltung auf der Suche nach einem Piano für das „Foyer culturel“ des Lagers Gurs gemacht hat, die historische Dimension der aktuellen Verfolgungen: C’est moi qui en ai hérité. Quand la persécution a commencé, mon père a voulu que la famille se disperse, pour qu’il y ait au moins un survivant... J’ai choisi la France. „C’est toi qui gardes les clefs de Sefarad“ a dit mon père... „En France, tu vas survivre.“ La petite clef, dorée, elle ouvrait sûrement un tiroir secret... (Semprún 2006d, 5)
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Mit dem großen Schlüssel für das Haus, das die sephardische Familie bei ihrer Vertreibung 1492 in der für seine drei Kulturen berühmten Stadt Toledo zurücklassen musste, und dem kleinen goldenen Schlüssel, über dessen Schloss sich über die Jahrhunderte kein Wissen mehr in der Familie erhalten hat, ererbte Myriam auch ein Überlebenswissen, das bei Verfolgungen in der Zerstreuung der Familienmitglieder das beste Mittel zum genealogischen Fortbestehen ‒ wenn auch nicht aller Familienmitglieder ‒ erblickte. Dieses über Jahrhunderte tradierte Überlebens-Gnosem ist angesichts der Massenverfolgungen freilich ebenso in die Krise geraten wie das Vertrauen, durch eine Flucht nach Frankreich das eigene Leben retten zu können. Längst war Frankreich als Zufluchtsort nicht mehr sicher, wie die spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge schmerzhaft am eigenen Leib erfahren mussten. Bald schon sollte Gurs auch für die verfolgten Juden mit seiner Geschichte für die 22
Vgl. Ette 2004, 189-225.
Lager Leben Literatur
Existenz französischer Lager in Frankreich einstehen ‒ und das südfranzösische Lager bildet gleichsam das Gegenmodell zum längst verlassenen Garten der Familie im Toledo der Judengassen. Myriam erinnert sich an die Erzählungen ihrer Familie, an das über Jahrhunderte gespeicherte Lebenswissen der Sepharden. Dabei verknüpft sich die Erinnerung an das verlassene Toledo mit dem Bild des Gartens mit seinen Blumen, mit seinen plätschernden Brunnen: Dans la rue qui monte, rue des juifs... c’était son nom. Je n’y ai jamais été: c’est par ouï-dire... Les fleurs dans les jardins, les fontaines, les synagogues, le moindre détail de la rue: c’était dans les récits de famille... (Semprún 2006d, 4) Die sehr bewusst europäische Dimension des in seiner Anlage mehrsprachigen Stückes wird bereits paratextuell im Titel markiert. Semprún konzentriert hier in wenigen Szenen, aber mit großer historischer Tiefenschärfe die tragische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert von einem Konzentrationslager aus, ein Verfahren, wie wir es aus der besten ästhetischen Tradition der Lagerliteratur kennen, arbeitete doch etwa ein Max Aub in seinem wunderbaren Manuscrito Cuervo immer wieder heraus, in welchem Maße sich die ganze Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung der Menschheit wie der Menschlichkeit in einem einzigen campo, „seinem“ Lager von Le Vernet d’Ariège, konzentrieren lasse (Semprún 2006d, 8). Als Fraktalstruktur eignet sich das Lager in besonderer Weise, gleichsam als mise en abyme die Totalität des Totalitarismus zur ästhetisch überzeugenden Anschauung zu bringen. Immer wieder werden die harten Fakten des Lagers Gurs eingeblendet, wird etwa in einem Dialog mit dem Lagerkommandanten darauf verwiesen, dass es noch im Sommer 1940 insgesamt 1640 hier zumeist seit dem Ende des Bürgerkrieges internierte Spanier gegeben habe, dazu etwa 1000 unerwünschte Ausländer, „des Juives apatrides“ (Semprún 2006d, 7), für die wir in Emma Kann und Hannah Arendt bereits zwei historische Beispiele kennengelernt haben. Binnen weniger Tage seien im Oktober 1940 10945 Juden aus ganz Europa nach Gurs geschafft worden, so dass es ‒ wie der Lagerkommandant im Gespräch mit dem „Inspecteur général“ und der Delegierten einer protestantischen Hilfsorganisation leidenschaftslos vorrechnet ‒ nunmehr nicht weniger als 12000 Internierte im Lager gebe (Semprún 2006d, 9). Längst sei alles zur Routine geworden, auch wenn US-amerikanische Journalisten, die das Lager vor kurzem besuchten, die Zustände in Gurs angeprangert hätten. Es wird deutlich, dass sich die Lagerleitung von einem Konzert mit der Geigenvirtuosin Myriam ‒ und auch die Namen anderer großer Künstler wie Alfred Nathan, Kurt Leval oder vor allem Ernst Busch wer-
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den genannt ‒ am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli des Jahres 1941, eine Verbesserung der Berichterstattung erhofft (Semprún 2006d, 12). Ein Konzert oder eine Theateraufführung in Gurs sollen ‒ mehr noch als gemeinsame Fußballspiele ‒ eine Normalität des dortigen Lagerlebens vortäuschen. Die zu Beginn des zweiten Aktes im Zeichen des „Souvenezvous“ aufgelisteten nackten Zahlen des „camp de concentration français de Gurs“ – 23000 republikanische Spanier, 7000 Angehörige der Internationalen Brigaden, 120 französische Patrioten und Widerstandskämpfer, 12860 immigrierte und internierte Juden, 6500 deutsche Juden aus Baden sowie 12000 im Vichy-Frankreich festgenommene Juden (Semprún 2006d, 20) – leiten nicht nur die für Semprúns Stück charakteristischen Szenenwechsel, sondern auch Zeitsprünge ein, die gerade das Verfahren des Theaters im Theater vor Augen führen. Auch die Namen anderer französischer Lager wie Le Vernet oder Saint-Cyprien, die von 1939 bis 1944 existierten, werden eingeblendet: Eine Kartographie französischer Lager in Frankreich entsteht. Jenseits der Fragmente einer totalitären Geschichte, deren Allgegenwart alle Handlungen des Semprúnschen Stückes durchzieht, zeichnet sich bereits ein neues Europa ab, das sich auf Vielsprachigkeit gründet: So soll das Theaterstück im Theaterstück zumindest in den drei (Semprúnschen) Sprachen Spanisch, Französisch und Deutsch aufgeführt werden (Semprún 2006d, 13). Und die Figur des Regisseurs erinnert – nicht zufällig unter Rückgriff auf den von Maurice Halbwachs geprägten Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ – alle Mitspieler daran: „Nous sommes dans le domaine de la mémoire collective, du devoir de mémoire...“ (Semprún 2006d, 23) Eine der Memoria verpflichtete Literatur stemmt sich dem sich ausbreitenden Vergessen – auch der stalinistischen Lager23 ‒ entgegen und knüpft an literarische Traditionen aus unterschiedlichen europäischen Ländern – für die die Namen von André Malraux, Bert Brecht oder die Dichter des Siglo de Oro stehen ‒ sehr bewusst an. Ist diese Literatur aber alleine der Memoria, mithin Erinnerung und Gedächtnis, verpflichtet? Die unterschiedlichsten Geschichten, die sich zwischen der Judenvertreibung und den Inquisitionstribunalen im Spanien des 15. Jahrhunderts und dem stalinistischen Archipel Gulag des 20. Jahrhunderts ansiedeln, werden ganz im Sinne des Regisseurs mit der Geschichte des Lagers Gurs verbunden. Myriam aber fordert als Schauspielerin, dass die Geschichten dieser Geschichte mit ihr selbst, mit ihrem Leben (avec ma vie, Semprún 2006d, 17) zu tun 23
Vgl. die englischsprachige Originalausgabe von Arendt 1951.
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haben müssten. Diese dezidierte Einforderung einer Rückbindung an das eigene Leben aber ist vor dem Hintergrund unserer Überlegungen von entscheidender Bedeutung, soll eine Reduktion des Textes (und damit wohl auch der Literaturen des univers concentrationnaire überhaupt) auf die Dimension des Zeugnishaften und der Memoria verhindert werden. Denn auch in Semprúns „europäischer Tragödie“ genügt es nicht, an die Geschichte zu erinnern, wie sie gewesen ist, und Fakten und Fragmente einzublenden, die den Anspruch auf dargestellte Wirklichkeit untermauern. Literatur und Kunst sind vielmehr Lebensmittel in dem Sinne, dass sie für Menschen, die der Beherrschung durch eine ganz bestimmte Geschichte ausgeliefert und unterworfen sind, Voraussetzung und Mittel zum Leben, Überleben und Zusammenleben sind. Denn es ist der Lebensbezug auf produktions-, rezeptions- und distributionsästhetischer Ebene, der die Literatur auszeichnet – auch und gerade dort, wo sie dem konkurrierenden Diskurs der Geschichte beziehungsweise der Geschichtsschreibung ausgesetzt ist. Das zentrale Gnosem eines vielsprachigen und vielkulturellen Zusammenlebens wird auf der Ebene des Theaters im Theater gleichsam experimentell erprobt und zu einem entscheidenden Bestandteil eines Überlebenswissens und Zusammenlebenswissens, das sich der Sprachenverwirrung, der Verfluchung einer aufgrund ihrer Vielsprachigkeit nicht mehr kommunikationsfähigen Menschheit – „La Tour de Babel, en somme!“ (Semprún 2006d, 20) –, entgegenwirft. Damit aber zeigt sich, dass die Semprúnsche Erinnerungskultur nicht nur rückwärtsgewandt, sondern dezidiert zukunftsbezogen angelegt ist: Die Konzentrationslager werden zum Schmelztiegel einer neuen europäischen Kultur, deren Schöpfungskraft fraglos in der Erfahrung des univers concentrationnaire wurzelt und jeglichem Totalitarismus – sei er stalinistischer, nationalsozialistischer, frankistischer oder kommunistischer Prägung – abgeschworen hat. Die Hannah Arendt der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft24, die wie Emma Kann das Lager von Gurs selbst durchlaufen hat, hätte sich in der hier aufscheinenden Konzeption eines künftigen Europa gewiss wiedergefunden. Und auch hier sollten wir uns wie bei Emma Kann davor hüten, an eine Verharmlosung der Brutalität der Konzentrationslager – die Semprún oft genug in ihren menschenverachtendsten Aspekten freigelegt hat – zu denken. Die Literatur eröffnet vielmehr den Raum und das Potential einer Freiheit, die
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Vgl. Semprun 1998.
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sich ebenso experimentierfreudig wie zukunftsorientiert den Zwängen und Begrenzungen des historiographischen Diskurses entzieht. In einer so verstandenen Verpflichtung zur mémoire collective scheint in diesem Stück wie in allen Texten des europäischen Autors etwas von der Suche nach Gemeinschaft, jener Suche nach Brüderlichkeit auf, die das Überlebenswissen der Semprúnschen Texte hin auf ein prospektives Zusammenlebenswissen öffnet. Die gemeinsamen vielsprachigen Theaterproben in Gurs werden wie die Sonntage in der Baracke 56 des Kleinen Lagers von Buchenwald (Semprún 2006d, 23), die Gespräche mit Maurice Halbwachs und vielen anderen der von den Nationalsozialisten Verschleppten, zur Keimzelle des Künftigen, einer auf der Achtung des Anderen basierenden Gemeinschaft, die sich dem Grauen und der massifizierten Vernichtung entschlossen widersetzt. Es geht in diesem Lehrstück gewiss um Gurs und es geht um viel mehr: Wie ein Zusammenleben in einem künftigen Europa organisiert werden kann und möglich wird, in dem auch “les jeunes beurs des cités (Semprún 2006d, 23), welche die Vernichtung der Juden Europas nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte begreifen, sondern sich auf die gewalttätigsten Sätze des großen postkolonialen Denkers Frantz Fanon berufen25, in die Gemeinschaft eines vielsprachigen Europa integriert werden können. Jenseits des Überlebenswissens geht es um ein Zusammenlebenswissen, das jegliche Form der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung des Anderen verhindert – und dies im übrigen ganz im Sinne Fanons: „Il y a une phrase de son bouquin, Les damnés de la terre, qu’on pourrait citer. Quand vous entendez dire du mal des Juifs, prêtez l’oreille, on parle de vous.“(Semprún 2006d, 23) Dass das univers concentrationnaire zu jenem Ort wird, an dem sich die Matrix eines neuen Europa, einer künftigen Gemeinschaft herauskristallisiert, die zwischen den Kulturen, zwischen den Muttersprachen und zwischen den Vaterländern ihre eigene Dynamik, ihre eigene Bewegung entwickelt, gehört zu den faszinierenden Thesen, die das Werk dieses Europäers par excellence für seine Leserinnen und Leser bereit hält. Kein Zweifel: Es geht dem Verfasser von L’écriture ou la vie um die Schaffung und Bekräftigung multipler Zugehörigkeiten jenseits aller – wie man mit Amin Maalouf formulieren darf – mörderischen Identitäten26. Man wird folglich Jorge Semprún gewiss nicht gerecht, wenn man ihn allein – wie dies schon oft geschehen ist – als den Verfasser einer großartigen Memoria-Literatur bezeichnet und begreift. Viel25
Vgl. hierzu Maalouf 1998.
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Vgl. hierzu Maalouf 1998.
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mehr stellen sich seine literarischen Werke immer auch prospektiv der Herausforderung und Frage, wie nach dem Überleben das Wissen für ein künftiges Zusammenleben entwickelt werden kann. Denn das Zusammenlebenswissen ist – wie uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber etwa auch ein Blick in die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen zeigt – starken historischen Schwankungen ausgesetzt, kann es doch in Krisenzeiten sehr rasch verloren gehen, während die Mühen, es wieder aufzubauen, unendliche sind. Vergessen wir daher nicht: Noch in der Heterotopie des Lagers erscheint bei Emma Kann wie bei Jorge Semprún die Heterotopie eines Gartens, dessen Vielfalt noch inmitten des Herrschaftsanspruchs eines totalitären Denkens aufblitzt. Der Garten des Wissens, dessen Bild aus den vergangenen Zeiten gleichsam paradiesisch aufscheint, ist nicht der Garten einer lebensfernen Historie, über die schon Friedrich Nietzsche in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben spottete, ist also nicht der „Garten des Wissens“, in dem der „verwöhnte Müßiggänger“ gedankenverloren lustwandelt (Nietzsche 1955, 97). In der Vision des Gartens entfaltet sich vielmehr ein Spannungsfeld zwischen Erleben und Erfinden, das nicht vor dem Vorgefundenen und Erlittenen flieht, sondern mit der widerständigen Kraft des Ästhetischen sich „zum Leben und zur Tat“ (Nietzsche 1955, 97) hinwendet. Das Aufscheinen des Gartens im Lager ist das Aufscheinen des Lebens selbst: eines Lebens, für das die Literatur ein Lebens-, Überlebens- und Zusammenlebenswissen bereithält, das mit dem je eigenen Leben und Lebenswissen verknüpft werden kann. Denn die Lebens-Gnoseme der Literatur zielen auf ein Allgemeines, das sich aus dem Erlebten und Erfundenen entfaltet: ein Wissen, das noch aus dem Lager, dem Ort des Todes und der Vernichtung, den Funken eines Lebens schlägt, der sich im savoir de la vie der Literatur vervielfacht.
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Lager Leben Literatur
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Intensitätsräume. Die Kartierung des Raumes im utopischen Diskurs der Postmoderne: Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten 1. Neuvermessung einer literarischen Gattung „Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blikkes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit ewig landen wird“, schreibt Oskar Wilde in seinem lange verschollenen Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen (Wilde 2004, 47). Er ist vor mehr als 100 Jahren entstanden. Schon vor 100 Jahren, aber umso mehr aus heutiger Sicht, scheint es „vermessen“, über Utopien zu reden. Zum Einen ist spätestens seit den 80er Jahren des gerade vergangenen Jahrhunderts im Gestus der Endgültigkeit von der „Schwundspur des Utopischen“ (Berghahn 2008, 145, Baudrillard 1990, 7) bzw. von der „Erschöpfung utopischer Energien“ (Habermas 1994, 108) die Rede. Sie äußere sich, wie es einem Gespräch zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch zu entnehmen ist, als Unfähigkeit, sich ein Ganzes vorzustellen als etwas, das den Sprung ins ganz Andere bedeute (vgl. Gespräch 1975, 58). Andererseits verweist die Bezeichnung „ou-topos“ – „Nicht-Ort“ auf die Unmöglichkeit, Utopien im Realen zu verorten. Der zwanghafte Versuch, das zu tun, ist wiederholt gescheitert. Utopien grün-
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den sich im Ideellen, sind zunächst ideelle Konstrukte. Sie reduzieren sich keineswegs auf ideale Denkmodelle oder „wirklichkeitsfremde Gedankengänge“ (vgl. Zinsmeister 2005, 8), wie wir sie aus Platons Staat kennen, sondern sind immer und vor allem auch szenische Entwürfe, für die der Ort (vergleichsweise die Zeit) eine besondere Bedeutung bekommt. Sie zu entwerfen, das ist keineswegs nur eine Aufgabe von Architektur, Bildender Kunst und den modernen Medien, sondern auch eine Aufgabe der Literatur ‒ wenngleich zunehmend der Eindruck entsteht, dass nicht Künstler, Schriftsteller oder Architekten diese projektive Funktion übernehmen, sondern dass Lifescreener, Softwaredesigner und Gentechniker jenes bild- und ereignishafte Denken kreieren, das „aus der Bahn“ springt. Wo aber hat die literarische Utopie da ihren Ort? Ist es nicht ein Paradoxon, von der postmodernen Literatur, von der es heißt, dass sie das Hier und Jetzt bevorzuge, lieber archiviere statt antizipiere, dekonstruiere als konstruiere, einen Beitrag zu einer antiquierten literarischen Gattung zu erwarten?
2. Postmoderne Utopien als Intensitätsräume
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Meine Beobachtung geht von der These aus, dass postmoderne (postpostmoderne) literarische Utopien wie Die Möglichkeit einer Insel (Houellebecq 2005), Der fliegende Berg von Christoph Ransmayr (Ransmayr 2006) oder Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht (Kracht 2008) vor allem im letzten Jahrzehnt sich wirkungsvoll zurückgemeldet haben und ihre Überlebenskraft behaupten, nicht in erster Linie durch eine Abkehr von der Dimension der Zeit hin zu einer erneuten Verräumlichung, sondern durch eine Intensivierung des Raumes. Sie bringen auf sehr unterschiedliche Weise einen Raumtyp hervor, der in Weiterführung des Raumkonzeptes von Foucault als „Intensitätsraum“ beschrieben werden kann. Foucault, der die Intensität des Raumes vor allem aus diskursiver Sicht als „Gemengelage von Beziehungen“ und rhizomatischen Verknüpfungen bestimmt, die letztendlich mannigfaltige Plazierungen definieren, die sich nicht in irreversiblen Formen „festlegen“ lassen, bindet diesen Begriff an das gegenwärtige Epochencharakteristikum des Simultanen (Foucault 1990, 34, 38). „Intensität“, (lateinisch „intensus“, „intendere“ im Sinne von „ge-spannt“, „aufmerksam“, „heftig“; aber auch „Wirksamkeit“, „Dichte“ „Fülle“) ist ursprünglich ein in der Physik geläufiger Begriff zur Be-zeichnung von Energiefluss und Energiedichte, der bereits seit der Antike sinnesphysiologisch konnotiert wird. Gegenwärtig wird er vor allem zu einer Denkfigur in jenen Bereichen,
Intensitätsräume
in denen es um „gleitende Modellierungen“ dynamischer Zustände (vgl. Kleinschmidt 2004, 10; Mersch 2004) geht, die man zu erfassen versucht, ohne sie in polaren Beschreibungsrastern stilllegen zu müssen. Das trifft auf die Mannigfaltigkeit bzw. Ausdifferenzierung von sinnesphysiologischen Wahrnehmungen, Emotionen und Affekten ebenso zu wie auf die „Dichte des Denkens“. Diese verknüpft sich nach Auffassung Susan Sontags mit der „Intensität des Erlebens“ (vgl. Misik 2008,1), denkt man an Foucaults Wuchern der Diskurse (Bublitz u.a.1999) oder an Deleuzes geophilosophisches Denksystem bzw. seine ästhetische Kartographie. Der Begriff „Intensität“ hat aus meiner Sicht seinen Platz am Schnittpunkt zentraler ästhetischer Diskurse – sowohl zur Charakterisierung ästhetischer Verfahren der Verdichtung, etwa im Sinne der intertextuellen Verknüpfung bzw. der Ballung der Diskurse, als auch der Spannung und Verdichtung sprachlich-rhetorischer Reize durch affektive Aufladung und Zentrierung der Aufmerksamkeit. Im zuletzt genannten Sinne ist der Intensitätsbegriff von Deleuze / Guattari für die Untersuchung von besonderem Interesse. Der Begriff des „Intensivwerdens“ steht im Zentrum ihrer Kunstauffassung, die über ästhetische Defigurationen ein wahres Kräftefeld von Affekten und Perzeptionen einfängt bzw. freilegt, die sich in Monumentalität in Form von fiktionalen Räumen, Skulpturen, Musik und Malerei als „Empfindungsblöcke“ zeigen (Deleuze / Guattari 2000, 191; vgl. auch Ruf 2003, 61 ff.; 73; Heyer 2001,115). Kunst von Dauer, so Deleuze / Guattari, entziehe sich einer Repräsentationsfunktion im Sinne festlegbarer Bedeutungen und Ähnlichkeiten. Sie sei weder an den Empfindenden gebunden, noch ließe sie sich in vertraute Erlebnis- und Gefühlspaletten (Trauer, Glück, Freude, Schauer, Ekel) einordnen. Aus der Differenz der Wahrnehmung zum Vertrauten würden Kräfte mobilisiert, die zu unvoreingenommener Wahrnehmung veranlassen, Ordnungsraster und signifikante Haltepunkte außer Kraft setzen zugunsten einer absoluten Grenzüberschreitung und Deterritorialisierung, was das „Nicht-menschlich-Werden des Menschen“ einschließe: Der Affekt ist kein Übergang von einem Erlebniszustand in einen anderen, sondern das Nicht-menschlich-Werden des Menschen. Ahab ahmt nicht Mobby Dick nach, und Penthesilea ‚mimt’ keine Hündin. Das ist keine Nachahmung, keine erlebte Sympathie und auch keine imaginäre Identifikation […]. Dabei verwandelt sich nicht das eine in das andere, sondern etwas passiert von einem zum anderen. Dieses Etwas kann nur als Empfindung präzisiert werden. (Deleuze / Guattari 2000, 204)
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Bezogen auf die Literatur können diese sich im Aufbrechen traditioneller Einheiten von Zeit, Raum und Handlung, narrativer Ordnungsmuster, traditioneller Gattungspräferenzen oder aber auch in der Deterritorialisierung der Sprache bis hin zu jener Grenze äußern, an der sie ihre Signifikanz verliere. Durch eine so hervorgebrachte „größtmögliche Differenz“, die sog. „Intensitätsdifferenz“ (Deleuze / Guattari 1976, 32), etablierten sich die Affekte. Kunst, so Ruf, habe bei Deleuze nicht die Funktion der Selbstvergewisserung oder der Selbstfindung, sondern bewirke durch absolute Deterritorialisierung das Infragestellen menschlicher Identität (vgl. Ruf 2003, 82). Diese Differenzerfahrung bzw. Erfahrung der Deterritorialisierung beziehe sich auch auf die utopische Funktion der Philosophie wie der Kunst: Die Utopie ist nicht zu trennen von der unendlichen Bewegung: Etymologisch bezeichnet sie die absolute Deterritorialisierung, stets aber an jenem kritischen Punkt, an dem diese sich mit dem vorhandenen relativen Milieu verbindet […] ‚Erewhon’ verweist nicht nur auf ‚No-where‘, Nirgendwo, sondern auch auf ‚Now-here‘, Hier- und Jetzt. (Deleuze / Guattari 2000, 115)
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Differenzerfahrung wird – vergleichbar mit Deleuze / Guattari – auch zur Grundlage eines über Affekte etablierten Utopiebegriffs und der Imagination utopischer Räume bei Ernst Bloch. In seiner frühen Schrift Geist der Utopie (Bloch 1964), v.a. in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung (Bloch 1985), hat er den affektiven Anteil an der Konstruktion von Utopien herausgearbeitet. Das Utopie- und Fiktionsbedürfnis des Menschen sieht er als eine anthropologische Konstante; nicht nur als Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs, sondern in dessen Überschreitung auch als individuelle und gesellschaftliche Verortung im antizipierten Raum. Neben den von Bloch beschriebenen „gefüllten Affekten“ wie Neid, Habsucht, Verehrung, Wut, Ekel, Schmerz sind es vor allem die „Erwartungsaffekte“ wie Angst, Furcht, Glauben und Hoffnung, die für Utopien relevant werden (Bloch 1985, 82). Die Differenzerfahrung bei Bloch jedoch ist Mangelerfahrung eines gegenwärtigen Nicht-Habens (physisch, materiell, geistig) und ist ‒ im Gegensatz zu Deleuze / Guattari ‒ ausgerichtet auf Überwindung durch eine affektiv wie intentional gerichtete Aktion auf ein absehbar erreichbares oder auf ein noch nicht absehbares teleologisches Ziel hin ‒ auf eine ideale Gesellschaft und „auf ein sich bildendes Selbst“ (Bloch 1985, 77), das Deterritorialisierung sukzessiv in der Zeit aufhebt: Alle Affekte sind auf das eigentlich Zeithafte in der Zeit bezogen, namentlich auf den Modus der Zukunft, aber während die
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gefüllten Affekte nur eine unechte Zukunft haben, namentlich eine solche, worin objektiv nichts Neues geschieht, implizieren die Erwartungsaffekte wesentlich eine echte Zukunft, eben die des Noch-Nicht; des objektiv so noch nicht Dagewesenen. (Bloch 1985, 83) Affekte, so Bloch, umlagern das „helle Bewusstsein“; manifestieren sich – wie bei Freud ‒ im Tagtraum, in Sehnsüchten, in der Kunst als „Vor-Schein“ einer besseren Welt und als Versprechen auf eine positive Endzeit der Geschichte. Zweifellos generieren derart ausgerichtete Affekte andere Intensitäten und „Empfindungsblöcke“ als die von Deleuze und Guattari beschriebenen. Die totalitären Züge solcher Utopien blieben Bloch nicht verborgen; er schrieb sie jedoch dem unzureichenden, in der Gegenwart gefangenen Antizipationsvermögen des Träumers zu, das „ganz Andere“ zu denken. Sowohl Blochs affektorientiertes Utopiekonzept, das die Hoffnung als den unzerstörbarem Kern des Menschen, nicht aber die Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung von Hoffnungen als Affekt wie als menschliche Erfahrung weiter verfolgt hat, als auch Deleuzes affektive Ästhetik werden aus meiner Sicht zum ideellen Bezugspunkt postmoderner literarischer Utopien. Postmoderne literarische Utopien, so meine weiterführende These, etablieren sich als Intensitätsräume in verschiedener Hinsicht: ‒ durch die affektive Hervorbringung und Aufladung utopischer Räume, die das „Prinzip Hoffnung“ umspielen, unterlaufen, sowie durch die Abbildung von Gefühlslagen, die sich z. T., überlagern und so zu Fluchträumen, Kompensationsräumen, Räumen der Langeweile und des Fatalismus, Räumen der Angst und Verweigerung werden, ‒ durch die Diversität utopischer Diskurse und deren Vernetzung im Sinne des Rhizomatischen (insbes. des informationstechnologischen, postkolonialen, biogenetischen, religiösen Diskurses), ‒ durch die Integration von Metadiskursen, die den Umbau des philosophischen Phänomens wie der literarischen Gattung selbst betreffen (z.B. durch die sukzessive Verschiebung der Ortlosigkeit zum Spiel mit der Verortung, deren Kennzeichen Realitätsaffinität, Austauschbarkeit und Privatisierung sind, oder die postmoderne Überschreibung z.B. der Inselutopien wie der Robinsonaden). Im Gegensatz zu den in sich geschlossenen ganzheitlichen klassischen Utopien schaffen sie durch Parzellierung und Fragmentarisierung bzw. Einlagerung
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von Heterotopien Raum für ein Nebeneinander „unvollständiger Versionen des Anderen“ (Hirsch 1997, 24). Mein Interesse richtet sich vornehmlich auf die affektive Hervorbringung und Aufladung utopischer Räume, wie sie sich in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten1 etablieren. Neben den ästhetischen Verfahren und Textstrategien, die derart das fiktive Gelände der Utopien neu vermessen und kartieren, geht es mir um Hinweise auf den Umbau bzw. die Neukonstituierung oder Überschreibung einer literarischen Gattung, die sich aus den traditionellen Dichotomien von Eutopie und Dystopie befreit.
3. In den Katakomben der frühen Moderne. Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
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Krachts 2008 erschienener Roman liest sich wie ein allegorischer Roman, in dem nicht nur Blochs „Vorschein“-Hypothese („Auch Utopien haben ihren Fahrplan“ [Bloch 1985, 555]) und seine affektorientierte Hoffnungsphilosophie einer eingehenden Reflexion unterzogen werden, sondern auch Marx’ und Lenins kommunistische Gesellschaftsentwürfe oder weniger populäre Auffassungen wie die vom Zusammenhang von Utopie und Geisteskrankheit. Ausgehend von der metaphorischen Umschreibung der Utopie als Ver-rücktheit vertritt Wolf Lepenies in polemischer Zuspitzung die Auffassung, in Wirklichkeit seien die Utopien, die die europäische Geschichte hervorgebracht habe, nichts anderes als Gewaltphantasien verzweifelter, trauriger, enttäuschter und an der Mitwelt krank gewordener Gemüter. Gravierende Handlungshemmung und Affektstau hätten sich kompensiert in einem überbordenden Denkund Schreibzwang: ’zu behaupten, die Utopie sei aus der Handlungshemmung entstanden, heißt, die Utopisten (…) hätten kaum nur gedacht und entworfen, wenn sie hätten handeln können (…) Utopisches Denken ist die Vorbereitung zur Darstellung einer Enttäuschung an der Welt… Diese Traurigkeit der Welt setzt utopisches Denken in Gang’ (zitiert nach Winter 1993, 223f.).
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Die im laufenden Text in Klammern stehenden Seitenzahlen beziehen sich auf den im Literaturverzeichnis angegebenen Band.
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Nicht ohne ironische Anspielung auf das eigene künstlerische Selbstverständnis Krachts wird diese Sublimierungsthese gleich zu Beginn des Romans unmittelbar verräumlicht. Der Erzähler geht ausgerechnet bei seinem Antrittsbesuch im Kommissariat des Obersten Kantonsowjet in Neu-Bern durch die Wölfligasse. Adolf Wölfli, 1834 im Kanton Bern geboren, ein Kaspar Hauser der Schweiz, wurde wegen wiederholter Notzuchtverbrechen an minderjährigen Mädchen in die Irrenanstalt in Waldau bei Bern wegen Unzurechnungsfähigkeit eingeliefert. In seinem enormen Denk-, Schreibund Malzwang, Teil seiner Krankheit, erschuf er sich über einen Zeitraum von 30 Jahren auf mehr als 25000 Folioseiten eine neue, phantastische Welt aus Kunst, Musik und Dichtung. Verbunden mit dieser Episode ist v. a. auch die Absicht, dieses Verrückt-Sein im Sinne des Spiels um Platzierung und Deplatzierung als Textstrategie zu installieren. Sie bestimmt wesentlich die Struktur des Romans und erzeugt eine erste Konfiguration, die als Bewegter Raum bezeichnet werden könnte. Die erzeugte Bewegung erweist sich aber als perfekte Täuschung. Es ist nur eine scheinbare Grenzüberschreitung. Die an Bernstein erinnernde These von der Verabsolutierung der Bewegung gegenüber dem Ziel wird erinnert. Die Räume werden nicht neu geordnet, sondern nur umdekoriert. Geschichte wird verrückt. Im Stile einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung geht er der Frage nach, wie sich die Welt entwikkelt haben könnte, wenn Lenin 1917 nicht aus dem Schweizer Exil nach Russland zurückgekehrt wäre, um die Sozialistische Sowjetrepublik zu gründen, sondern dort die erste Schweizer Sowjetrepublik (SSR) errichtet hätte. Im Kampf um eine „gerechte Welt“ (Kracht 2008, 61) führt sie seit 96 Jahren ihren Krieg, für den „sie auf der Welt“ (Kracht 2008, 21) sind und in dessen Folge sich nicht nur die politischen, sondern auch die geografischen Koordinaten ständig verschieben. Der Leser, der etwa 100 Jahre später hineingeholt wird in das Geschehen, liest eine Weltkarte, auf der die Sozialistische Schweiz ihr selbsternannter Mittelpunkt ist: Im Norden ist sie bedroht von einem Bündnis deutsch-englischer Faschisten an der Frontlinie zwischen Straßburg und Heidelberg und im Süden vom italienischen Faschismus. Im Osten, jenseits von „SchweizerischSalzburg“ (Kracht 2008, 17), verläuft die Grenze des KoreanischMinsker Reiches, während Russland weiter im Norden durch einen Chemieunfall versteppt ist. In Asien ist ein Hinduistisches Reich entstanden; dahinter, im pazifischen Raum, das Großaustralische Imperium. Die „Amexikaner“ (Kracht 2008, 49) haben sich gegen den Kontinent abgeschottet. Afrika ist in drei Machtzonen aufgeteilt; in den faschistisch-britischen Norden, den burischen Süden und die sozialistisch-schweizerische Mitte, aus der nach ihrer Indu-
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strialisierung die Soldaten für den „ewigen Krieg“ rekrutiert werden. Unschwer zu erkennen ist Baudrillards These von der Schwundspur des Utopischen durch die Krümmung der Geschichte nach rückwärts als Reaktion auf die selbstzerstörerische Moderne: Die Wiedervereinigung Deutschlands und eine ganze Menge anderer Dinge sind unausweichlich, nicht im Sinne eines Sprungs der Geschichte nach vorn, sondern weil das 20. Jahrhundert noch einmal geschrieben wird, aber verkehrt herum. Das wird die letzten zehn Jahre bis zum Ende des Jahrhunderts vollauf in Anspruch nehmen. Und in dem Tempo, in dem wir daran gehen, werden wir bald beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen angekommen sein. (Baudrillard 1990, 7, vgl. auch 35 f.)
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Ordnungssysteme und Identitäten überlagern sich: Das Phänomen der Globalisierung hat alle Ordnungssysteme überschrieben, nicht nur die geografischen und politischen. Es hat die Völker vermischt und die Grenzen kultureller Traditionen und Identitäten unkenntlich gemacht: Entfernungen misst man in Werst, Afrikaner werden zu Schweizer Eidgenossen, Figuren – wie der Erzähler ‒ haben ihr Herz nicht auf dem linken, sondern auf dem rechten Fleck. Menschen werden zu Kampfmaschinen und Roboter zu menschlich empfindenden Wesen – nur die Steckdose unter der Achselhöhle verrät ihre Identität. Märchengestalten wie ein Zwerg namens Uriel lesen die Bibel in afrikanischer Übersetzung, während die Schweizer sich von der Schriftsprache verabschiedet haben, und polnische Juden kommunizieren auf Latein. Der europäische Kontinent als Zentrum der Zivilisation und Hort der Kultur scheint gefährdet: Der Ich-Erzähler, ein „Wanderer zwischen den Welten“, wird nach körperlicher Zurichtung und gründlicher Gehirnwäsche aus dem Nyasaland (Malawi) von der Schweiz importiert, um mit dem „Prinzip Hoffnung“ im Gepäck die abendländische Kultur zu retten. Dieser Raumtyp, der schon affektbesetzt ist im Sinne einer Desorientierung und Verunsicherung, wird konterkariert mit einem zweiten, dem Erstarrten Raum, und zwar durch die Stilllegung der Zeit. Foucaults These von der Stilllegung der Zeit und der Wiederentdeckung des Raums folgend, dominiert die „gefühlte“ Zeit, die nicht nur bleiern, sondern eisig ist. Der Raum wird als affektiver Raum installiert. Er bekommt eine unwirkliche Dimension, in der die Übergänge zwischen realen, mythischen, fiktiven und imaginären Welten fließend werden. Jede räumliche Einheit existiert
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so auch mehrfach und in verschiedenen Relationen: real, symbolisch, leiblich, mythisch. Wir begleiten den schwarzen Ich-Erzähler, einen Parteikommissär, um das Jahr 2014 von Neu-Bern aus zu Fuß und zu Pferde quer durch die Schweizer Republik zum Réduit in den Alpen, dem Sitz des Obersten Sowjets. 1889 als Festungsbau entstanden, als Bollwerk der Wehrhaftigkeit gegen den deutschen Faschismus und Schutz der Schweizer Neutralität zum Alltagsmythos der Eidgenossen erhoben, wird er zum mythischen wie zum poetischen Ort; Ort des Eindringens in die Tiefe, des Schürfens nach dem Wesentlichen, Göttlichen. Er ist der Ort, an dem man die Bewegungsgesetze des Untergrundes studieren kann. Er ist der Ort der Innerlichkeit wie der Heimkehr (des Todes). Er wird zum Ort literarischer Begegnung – von Dürrenmatts Winterkrieg in Tibet bis hin zu Conrads Herz der Finsternis und Kafkas Der Bau und Das Schloss. Er wird zum zentralen Topos der Erwartungsaffekte im Blochschen Sinne und deren Dekonstruktion. Er hat einen „Auftrag“ – gleich den Missionären in Heiner Müllers Stück Der Auftrag und in Anna Seghers Erzählung Das Licht auf dem Galgen, den offensichtlich abtrünnigen Konterrevolutionär Oberst Brazhinsky festzunehmen. Die Handlung erscheint zunehmend nebensächlich im Vergleich zu den Blicken und der affektiven Ausstattung der Figur, die im Durchschreiten genau den Raum entstehen lässt, der die „Zukunft unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart“ (Klappentext) ausmacht. Der Erzähler ist mit zwei Besonderheiten ausgestattet: als Farbiger hat er mit der Verwandlung zum Schweizer Eidgenossen auch seine Augenfarbe gewechselt – statt braun – ist er nun blauäugig, und so versucht er zumindest die Welt um sich herum zu sehen. Das prädestiniert ihn für eine besondere affektive Ausstattung, die in der Psychologie als Affektspannung bezeichnet wird, die sich polarisiert zwischen Hoffen und Bangen, wie Bloch es beschreibt. Als Politkommissär glaubt er an den Krieg, der den „neuen Menschen“ (Kracht 2008, 43) erschaffen wird: „Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg“ (Kracht 2008, 21). Auf dem Weg zum Bergmassiv begegnet er den leibhaftigen Folgen dieses 100jährigen Krieges ‒ dem Mangel, dem Hunger, der Depression und Apathie: ‚Ich habe keine Angst mehr‘, sagt ein alter Soldat. ‚Ich habe verlernt zu lesen, wie ich es früher konnte. Der Krieg macht uns zu Geisteskrüppeln (…) Es kommt nichts mehr nach uns. Oder aber es geht immer so weiter.‘ (Kracht 2008, 95) Gegen seinen Willen wird der Erzähler – gleich Marlow – „ergriffen“ von Angst, Ekel, Abscheu, Verstörung und Erstarrung. Der von seinem „Auftrag“ Besessene versucht, diese sich steigernde Span-
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nung kognitiv zu beherrschen. Die Sprache ist konzentriert, teilnahmslos, ja eisig wie das Klima. Sie hält das Unbewusste in Schach und taucht auch den Raum in ewiges Eis: die Schweiz ist in Schnee und Kälte erstarrt, und erstarrt sind auch ihre Bewohner, weil sie sich nicht mehr an den Wechsel der Jahreszeiten erinnern können. Der Krieg hat alles gleich gemacht: „(…) es gab kein Auf- und Ab mehr, kein bemerkbarer Wechsel, ebenso keine Gezeiten, keine Wogen, keine Mondphasen“. (Kracht 2008, 13) Daraus erwächst ein dritter Raumtyp – Der Raum als Theaterkulisse: Das präzise Auserzählen des menschlichen Leids bricht sich in ästhetisierten Naturbildern. Es erinnert an die Kriegsberichte von Ernst Jünger, Erich Maria Remarque, oder aber an Hans Grimm, den berüchtigten „Lebensraumpublizisten“. So wird durch Distanz eine scheinbare „Nichtanwesenheit“ im Raum erzeugt. Der Erzähler wird zum Betrachter, der Raum zur Bühne. Der Roman setzt ein, als der Ich-Erzähler in seiner ersten Nacht in einem kargen Raum erwacht „im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte die Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig, und das Kissen roch nach Menschentalg, so konnte ich nicht schlafen.“ (Kracht 2008, 11) So riecht, so fühlt sich der Krieg an, und auch so: „Der Schnee roch nach Eisen.“ (Kracht 2008, 12) Der erstarrte Blick des Erzählers kann auf dem Weg zum Bahnhof die Landschaft nur wie eine „Theaterkulisse“ wahrnehmen:
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(…) erst ging es an mit Raureif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie. Die Sonne glitzerte kalt im Schnee. Ein gepanzertes, außer Gefecht gesetztes Automobil stand quer, man hatte es noch nicht weggeräumt. Weit in der Ferne, im Süden, waren die vereisten Berge zu sehen. (Kracht 2008, 13; vgl. auch 26) Unwirklich erscheint auch folgende Szene: In Chur sieht er marodierende welsche Soldaten, die einem deutschen Gefangenen seine eigenen Epauletten an die nackten Schultern genagelt hatten, um ihn dann, „verblutend, wimmernd und halb verrückt vor Angst“ (Kracht 2008, 22), an einem Lindenbaum zu erschießen. Eine weitere Konfiguration kommt hinzu: Der fluktuierende Raum. Der Raum, den er durchschreitet, ist ein zwangsläufig fluktuierender Raum, der das geometrische, zentralistische Planungsprinzip – als Verweis auf die klassischen Utopien – längst unterlaufen hat. Die Argumentation entpuppt sich als Zwecklüge, um den Verfall zu kaschieren:
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Die SSR benötigte das überholte und bourgeoise Konzept einer Hauptstadt nicht mehr, es gab lediglich fluktuierende Zentren der jeweiligen politischen oder militärischen Macht, Grenoble, Laibach, Schweizerisch-Salzburg, Basel, Klagenfurt, Neu-Bern, Triest, das zerstörte Zürich wurde gerade wieder aufgebaut, Strassburg und Karlsruhe hatten wir wohl erneut an die Deutschen verloren. Es lag etwas Großes in der Luft, ich konnte es spüren, es schmeckte metallisch und scharf im Gaumen; ein Zeitenwechsel, ein Aufflammen des Krieges zu unseren Gunsten. (Kracht 2008, 29) Es ist nach Deleuze / Guattari der „glatte Raum“ der Nomaden, aber auch der Raum der Kriegsmaschinerie (vgl. Deleuze /Guattari 1992, 661 ff.). Als Lebensraum hat er ausgedient; an den Rändern der ehemaligen Städte vagabundieren die nomadisierenden Eidgenossen; die Haustiere verwildern, fallen in ihre alten Beuteschemen zurück. Nicht einmal die Vegetation kann sich den ehemals bewohnten Raum zurückholen. Eis und Schnee verhindern es. Das Organische verwandelt sich in Anorganisches. Eine „Letzte Welt“, wie bei Christoph Ransmayr (Ransmayr 1990). Das ist dann Die Ödnis. Die Ödnis wird ihm zur Projektionsfläche utopischer Entwürfe, der gewaltsam geglättete, „ruinierte“ Raum (Kracht 2008, 26) wird im Traum neu gekerbt: Hier in dieser zerstörten Ödnis werden wir Theatergebäude errichten, hier den Sowjetrat, hier die Fabriken, hier die Staatsbank. Berühmte Architekten werden sie bauen, nicht wahr? Ja, modern wird alles sein, aus Glas und Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen. Wir werden Kirchen und Kapellen wieder einreissen, die die Deutschen gebaut haben, diese Stätten der Erniedrigung und der heuchlerischen Anbetung eines toten Gottes. (Kracht 2008, 26 f.) Eine „silberne Schienenbahn mit „zuverlässige(n) Bruder-Freunde[n]“ am Steuer, die vor den Fahrgästen salutieren, soll es geben, auch pneumatische Tunnelbahnen auf gigantischen, unterirdischen, „sich in der von knisternder Elektrizität erhellten Dunkelheit kreuzende[n] Netze[n].“ (Kracht 2008, 27) Das Set der Bilder setzt sich zusammen aus den Requisiten des Baukastens der Eisen- und Glasarchitektur des 19. Jahrhunderts, aus dem Zeitalter der Erfindung der Eisenbahn, der technikbegeisterten frühen Moderne, wie sie sich in Fritz Langs Metropolis und Bernhard Kellermanns Der Tunnel zeigt. Es wird mühsam zusammengefügt aus den geistigen Bausteinen einer kommunistischen Utopie – angefangen von Marx’ Religionskritik aus der Einleitung zur Kritik
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der Hegelschen Rechtsphilosophie „Religion ist Opium für das Volk“ (Marx 1956, 378) bis hin zu Lenins legendärem Satz „Kommunismus ‒ das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ (Lenin 1971, 513). Sarkastisch wird es dort, wo die ausgreifenden Visionen des Erzählers schon keine Utopie, sondern 100 Jahre Realität sind: „Die nächste Moderne kommt bestimmt“, so könnte man auf Jost Hermand mit Bezug auf dessen Band Nach der Postmoderne (Hermand 2004) verweisen. Was die Vision nicht zulässt ist, dass der Raum mit Leben gefüllt wird. Es bleibt ein lebloser, künstlicher Raum: „Ich komme nur ganz kurz hierher. Berge und Wolken. Vögel sind dort. Ich sehe sie nicht“, heißt es in einer der Anspielungen auf die Zeile aus dem irischen Volkslied „Danny Boy“ (1910): „Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten“ (Kracht 2008, 27), vielen bekannt durch die Interpretation von Jonny Cash. Am Ende aber, am Ziel des langen Marsches, steht Der hohle Raum. Dazu wird am Ende das oben erwähnte Schweizer Réduit, ehemals Projektionsraum aufgeschobener Erwartungen und utopischer Raum, der in die Tiefe geht und in der Höhe sich immer weiter ausdehnt. Erhofft wird, hier das eigentliche Machtzentrum der SSR zu finden – ein Modell der zukünftigen SSR im Kleinen, gedacht als Heterotopie. Entstanden aber ist ein Hochsicherheitstrakt zum Schutz von etwas, das nicht existiert – weder ideell noch materiell:
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Diese gewaltige Ingenieurleistung, dieser Triumph der Arbeiter, vor über hundert Jahren mit dem Festungsbau des Kernlandes zu beginnen und bis heute weiterzubauen, ein nie endendes Werk zu schaffen, das war die eigentliche Stärke, die Unangreifbarkeit der SSR. Die Alpen waren von Stollen durchzogen, innen ausgehöhlt, Hunderttausende Soldaten konnten sich zurückziehen ins Innere des Massivs, dutzende Werst in den Stein und in das Erz hinein. Andere große Völker der Geschichte, wie die Amexikaner, hatten Pyramiden gebaut, wir gruben Tunnels. (Kracht 2008, 48 f.) Das Réduit als labyrinthisches System fungiert aber nicht einmal mehr als technisches Museum. Maschinenräume sind zu Salons umfunktioniert, in denen Offiziere ausgestopfte Vögel zur Schau stellen. In ihnen wird der längst vergangene Alltag archiviert, u.a. sind auch Uhren dabei. An den Wänden sich entlang ziehende Reliefarbeiten erzählen im Wechsel der kunsthistorischen Stile die Geschichte der Schweiz als eine „Geschichte des Krieges“, bis sie ins Stocken gerät, weil die Geschichte sich nicht mehr als Nacheinander, sondern als „sonderbare(n) Gleichzeitigkeit“, als stagnierende Bewegung im Raum, vollzieht. Was im Stile des sozialistischen Realismus abbildbar war, endet in der Darstellung „vertiginös-
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nausealer[n] Kreise[n]“ (Kracht 2008, 122), wie der Erzähler sie aus der afrikanischen Höhlenmalerei seiner Kindheit kennt und deren Grundstruktur der konzentrische Kreis ist. Was sich dem Parteikommissär auftut, ist – ähnlich wie dem Landvermesser K. in Kafkas Schloss oder dem absonderlichen Tier in Kafkas Bau – ein völlig autonomes Gebilde, das immer größer wird und dem nicht nur die Umwelt, sondern auch der Bauplan abhanden gekommen ist. Das Réduit erweist sich als „magisches Ritual“, als „leeres Ritual“ (Kracht 2008, 127): Ich habe den Bau errichtet und er scheint wohlgelungen. Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin (…). Ich will mich nicht dessen rühmen, diese List mit Absicht ausgeführt zu haben, es war vielmehr der Rest eines der vielen Bauversuche, aber schließlich schien es mir vorteilhaft, dieses eine Loch unverschüttet zu lassen. Freilich manche List ist so fein, daß sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst (…) (Kafka 1983, 532), heißt es in Kafkas Bau. Die SSR als Modell ihrer selbst erinnert an die Luhmannschen Systeme, die es nur noch mit sich selbst zu tun haben. Drinnen ist draußen und umgekehrt. Als vorletzte Stufe steht der Sprachraum als Ausdruck der Sprachlosigkeit, in dem die „allumfassende Dekadenz des Geistes“ (Kracht 2008, 120) ihren Niederschlag findet. Kommuniziert wird hier in einer „Rauchsprache“ (Kracht 2008, 43) ‒ einer lautlosen, zeichenlosen Sprache, durch die sich, wird sie „in den Raum“ (Kracht 2008, 44) gestellt, der Wille des Sprechers unmittelbar auf den Adressaten durch eine Schallumklammerung überträgt. Es ist eine Sprache unter Umgehung der Abstraktion, wie sie sich auch in den Affekten äußert. Und dann das Finale: Der Nicht-Ort. Die übergroße Hoffnung hat sich als „Falle“ erwiesen. Das eigentlich unzerstörbare Bollwerk stürzt nicht zusammen, sondern wird durch einen Gasangriff der Deutschen ausgeräuchert. Diese Inszenierung der Apokalypse trägt unverkennbar die Handschrift Ernst Jüngers: Den Balkon betretend, sah ich das erhabene Bild Dutzender deutscher Luftschiffe, die den Himmel über meinem Kopf füllten. Und während vor den runden, gläsernen Scheiben der Gasmaske die Sonne orangenrot und wundervoll glühend hinter den Alpen versank und unsere Scheinwerfer wie weisse Nadeln den Abendhimmel durchstachen, begann erneut das infernalische, monströse Bombardement des Réduits. (Kracht 2008, 132)
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Der vermeintliche Konterrevolutionär Brazhinsky läuft Amok. Er sticht sich – dem antiken Ritual folgend – die Augen aus. Wie sich die Affektspannung des Erzählers entlädt, bleibt eine Leerstelle, wie es auch eine Leerstelle bleibt, welche Lehre ihm hier erteilt wurde. Der Erzähler findet den Ausgang aus dem Labyrinth. Er läuft nicht Amok. Mit Schweizer Gründlichkeit hängt er nur die Gasmaske an einen der letzten Haken, nicht aber die Hoffnung. Welcher Art diese ist, die er da an seinen Schuhsohlen auf dem langen Marsch zurück gen Süden trägt, bleibt offen. Fest steht nur: aus dem Erstarrten Raum wird wieder ein Bewegter Raum. Es wird wärmer. Der Schnee schmilzt. Die Vegetation ist wieder an ihrem Platz. Die Hoffnung stirbt also nicht, sie verlässt nur (per Schiff ) den Alten Kontinent und sucht sich ein neues Asyl in Afrika. Den Anderen Ort? Sie artikuliert sich als „Unbehagen an der westlichen Kultur“ und beginnt als Zerstörung der kolonialen Architektur und der Räume der westlichen Zivilisation. „Und die blauen Augen unserer Revolution brannten mit der notwendigen Grausamkeit“ (Kracht 2008, 147), registriert der Erzähler: Ganze Städte wurden indes über Nacht verlassen, und ihre afrikanischen Einwohner kehrten, einer stillen Völkerwanderung gleich, zurück in die Dörfer. Der Schweizer Architekt, der sie sorgfältig am Reissbrett geplant und hatte erbauen lassen, reiste mit dem Luftschiff in die leeren urbanen Zentren Ostafrikas und konnte, einmal angekommen, nicht einen einzigen Menschen daran hindern, seine betongewordenen Visionen, die er zum Wohle der Bevölkerung hell, geordnet, modern und elegant entworfen hatte, zu verlassen. (Kracht 2008, 148) Der Schweizer Architekt nimmt sich den Strick und fällt den Hyänen zum Opfer.
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4. Der „verdeckte Raum“ – Resümee Den „verdeckte(n) Raum“ (Müller-Funk 2008, 7) aufzusuchen, hieße, anders als im Sinne der Intertextualitätskonzepte unterschiedlichster Ausprägung, den neuen Text nicht zu konfrontieren mit anderen Texten, sondern ihn aus der Perspektive der Leserinnen und Leser zu kontextualisieren durch den Herkunfts- und Lebensraum des Autors (die Schweiz und seine transitären Lebenswelten Thailand, Bangkok, Argentinien), durch den nationalen Textraum und das Hineinstellen in die alte Gattungstradition wie auch in die neu sich konstituierenden Gattungsvorstellungen, wie sie etwa in
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den o. g. Texten von Ransmayr und Houellebecq konstituiert werden. Das mag sehr lehrreich sein, und ich habe das zunächst auch probiert, um diesen Schluss dann zurückzustellen. Aus meiner Sicht will der Text zunächst nichts be-deuten, und er will nicht so gedeutet werden. Er ist auf die verdeckten Affekte der Leserinnen und Leser, die Erschütterung ihrer „Erwartungsaffekte“ aus. Das betrifft die Erschütterung eines Gefühls von Sicherheit, „dass alles so weiter geht“ einerseits, andererseits aber auch die Angst, dass es eine große Täuschung ist, die Zukunft als offenen Raum perspektivischer Entwürfe anzusehen. Der Text endet nicht mit Zerstörung, sondern im ambivalenten Neubeginn – mit dem Nomadentum im Innersten Afrikas. Auf der Umschlagseite von Kracht’s Roman ist eine Karte von Zentralafrika in den Grenzen des 19. Jahrhunderts zu sehen, und mittendrin der Titel: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Auf Blochs affektorientiertes Hoffnungskonzept bezogen heißt das auch: die Erwartungsaffekte werden „ersetzt“ durch die „gefüllten Affekte“, die schnelle Erfüllbarkeit im Hier und Jetzt. Sie sind nicht utopierelevant, sondern reduzieren sich auf Beseitigung des Mangels, fallen auf das rein Physiologische bzw. die Triebstruktur zurück. In Houellebecq’s Roman Die Möglichkeit einer Insel äußert sich das in der Dominanzsetzung des sexuellen, des genetischen und des Körperdiskurses. Das betrifft die narzisstische Kränkung, dass die Alte Welt offensichtlich nicht das Zentrum tiefgreifender Entwürfe, sondern Meisterin in der Choreographie von Oberflächenphantasien ist. Offensichtlich sind die Baupläne der Alten Welt unbrauchbar geworden, die Architekten der Zukunft „Auftrags“- Täter. Es ist das Gefühl, nicht beteiligt, sondern nur anwesend zu sein. Der Utopie-Diskurs ist ein dezidierter Herrschaftsdiskurs. Der Erzähler kehrt nach Afrika zurück und bleibt Beobachter des Geschehens auf der neuen Bühne: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, was für ihn – und offensichtlich nicht nur für ihn – heißt, nicht dabei zu sein.
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Literatur
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Baudrillard, Jean (1990): Das Jahr 2000 findet nicht statt. A. d. Französ. v. Peter Gebele u. Marianne Karbe. Berlin: Merve Berghahn, Klaus L. (2008): Zukunft in der Vergangenheit. Auf Ernst Blochs Spuren. Bielefeld: Aisthesis Bloch, Ernst (1964) [1918]: Geist der Utopie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp Bloch, Ernst (1985) [1955-1959]: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Kapitel 1 – 32. Werkausgabe Bd. 5. Frankfurt a. Main: Suhrkamp Bublitz, Hannelore/Andrea D. Buhrmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hg.) (1999): Das Wuchern der Diskurse. Frankfurt a. Main: Campus Deleuze, Gilles / Félix Guattari (1976): Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt a. Main: Suhrkamp Deleuze, Gilles / Félix Guattari (2000): Was ist Philosophie? A.d. Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt a. Main: Suhrkamp Deleuze, Gilles / Felix Guattari (1992): Tausend Plateaus. Aus dem Französischen von Günther Rösch. Berlin: Merve Foucault, Michel (1990) [1987]: „Andere Räume“. In: Barck, Karlheinz/ Gente, Peter / Paris, Heidi / Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, S. 34-46 Gespräche mit Ernst Bloch (1975) [1964]. Hg. von Rainer Traub und Harald Wiesner, Frankfurt a. Main: Edition Suhrkamp Habermas, Jürgen (1994) [1984]: „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“. In: Ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 105-129 Hermand, Jost (2004): Nach der Postmoderne: Ästhetik heute. Köln: Böhlau Heyer, Stefan (2001): Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch Tausend Plateaus. Wien: Passagen Verlag Hirsch, Hartmut (1997): Von Orwell bis Ackroyd. Die britische Utopie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Verlag Dr. Kovač Houellebecq, Michel (2005): Die Möglichkeit einer Insel. A.d. Französischen von Uli Wittmann. Köln: DuMont Kafka, Franz (1983): Der Bau. In: Franz Kafka. Das erzählerische Werk. I. Hrsg. von Klaus Hermsdorf. Berlin: Rütten & Loening
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Kleinschmidt, Erich (2004): Die Entdeckung der Intensität: Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Kracht, Christian (2008): Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch Lenin, Wladimir Iljitsch (1971) [1920]: Aus der Rede Lenins auf dem 8. Allrussischen Sowjetkongreß über den Elektrifizierungsplan (GOELRO), am 22. Dezember 1920. In: Lenin, Werke in 40 Bd.. (und 2 Ergänzungsbänden, Register, vergleichendes Literaturverzeichnis), Bd. 31. Berlin: Dietz Verlag Marx, Karl (1956) [1843]: „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. In: MEW in 43 Bd., Bd.1. Berlin: Dietz Verlag Mersch, Dieter (2004): „Intensität und Pathos ästhetischer Ereignisse“. In: Pathos. Verdacht und Versprechen. Ästhetik & Kommunikation, Heft 124 (35 Jg.) 2004, S. 63-72 Misik, Robert (2008): Vordenkerin Susan Sontag. Ikone der Intensität. In: Die Tageszeitung 23./24. April 2008, tazmag S. 1-3 Müller-Funk, Wolfgang: „Räume in Bewegung. Narrative und Chronotopik in Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg“. In: KAKANIENREVISITED, 4 (11. Jg.) 2008. http//www.kakanien. ac.at/beitr/theorie/WMueller-Funk3 Ransmayr, Christoph (1990) [zuerst 1988]: Die letzte Welt. Frankfurt a. M.: Fischer Ransmayr, Christoph (2006): Der fliegende Berg. Frankfurt a. Main: S. Fischer Ruf, Simon (2003): Fluchtlinien de Kunst, Ästhetik, Macht, Leben bei Gilles Deleuze. Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann Wilde, Oskar (2004) [zuerst 1970]: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Neufassung. Aus dem Englischen von Gustav Landauer und Hedwig Lachman. Zürich: Diogenes Winter, Michael (1993): Ende eines Traums. Blick zurück auf das utopische Zeitalter Europas. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler Zinsmeister, Annett (Hg.) (2005): Constructing Utopia. Konstruktionen künstlicher Welten. Zürich ‒ Berlin: Diaphanes
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Mit dem Stichwort „Labyrinth“ werden schon darum vielfältige Konnotationen aufgerufen, weil Labyrinthe seit dem Altertum Gegenstand von Aussagen, Beschreibungen und metaphorischen Anspielungen sind, die sich kaum überblicken, geschweige denn systematisieren lassen (vgl. Kern 1982). 1 Man könnte metaphorisch die Semantik des Labyrinthischen selbst als labyrinthisch bezeichnen. Wo von Labyrinthen die Rede ist, geht es oft um Probleme der Orientierung – etwa wenn sich angesichts der Herumirrens in einer unbekannten Großstadt die Metapher des Stadtlabyrinths aufdrängt; abstrakter gesagt, steht das Konzept des Labyrinths in engem Bezug zur Spannung von Ordnung und Unordnung. Aber damit ist nur einer der Assoziationskomplexe benannt, die sich an Labyrinthisches knüpfen. Ohne dass es möglich wäre, das Dunkel der Frühgeschichte auf der Basis von Felsritzungen in Höhlen, archäologischen Fundstükken und änigmatischen Textfragmenten hinreichend zu erhellen, sprechen doch viele Indizien dafür, dass labyrinthische Strukturen in frühen Kulten und Ritualen eine wichtige Rolle gespielt und dass sich entsprechende Vorstellungen mit ihnen verbunden haben. Auch wenn sich diese kultisch-rituelle Semantik des Labyrinths ei1
Vgl. dazu neben Hermann Kern den Art. „Labyrinth“ (Lima de Freitas) (1987), in: Mircea Eliade (Hg.): The Encyclopedia of Religion. Bd. 8. London: Macmillan, S. 411-419.
Das Buch als labyrinthischer Raum
ner verifizierbaren Rekonstruktion entzieht, wird von Anthropologen und Kulturwissenschaftlern gelegentlich die spekulative These vertreten, es bestehe ein im Wesen des Menschen selbst verwurzelter Bezug zum Labyrinth und seiner Erfahrung – unabhängig vom geschichtlichen Wandel und unabhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext.2 Labyrinthe sind in verschiedenen medialen Formen, mit verschiedenen Materialien respektive im Medium verschiedener Darstellungsverfahren geschaffen worden: als graphische Strukturen auf Wänden, Gefäßen, Münzen und anderen Gebrauchsobjekten, als Gebäude oder Gebäudeteile, als Fußböden, als Gärten, als Zeichnungen in Handschriften, als Drucke, in jüngerer Zeit auch in neuen medialen Arrangements wie etwa als Lichtlabyrinth (vgl. Bord 1976). Zwischen dem Labyrinth als architektonischer Struktur und dem Labyrinth als Tanzfigur besteht eine sachliche Verknüpfung, insofern zu den kulturhistorisch frühen Aussagen über Labyrinthe die Beschreibung eines labyrinthförmigen Tanzplatzes gehört, also eines im weiteren Sinn architektonischen Gebildes, das aber zum Tanzen angelegt war. Auch die rätselhaften sogenannten Trojaburgen in Nordeuropa sind als Schauplätze ritueller Tänze gedeutet worden (Ilias 18, 590-606; vgl. Kern 1982, 50). Im Mittelalter wird an die Form des römischen Mosaik-Labyrinths angeknüpft: Auch in Kirchen legt man Fußbodenlabyrinthe an, und in Handschriften werden Labyrinthe integriert.3 Während das Labyrinth als Architektur, Bewegungsfigur und graphische Figur schon vor der Zeitenwende vielfach belegt ist (es gibt ja sogar Beispiele aus prähistorischer Zeit), wird erst spät die 2
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Man mag solch ‚fundamentalistischen‘ Ansätzen als unbeweisbaren Hypothesen skeptisch gegenüberstehen – und Hermann Kern artikuliert eine entsprechende Skepsis, indem er es in Abgrenzung von der Transkulturalitätsthese wahrscheinlicher findet, dass das komplexe Konzept des Labyrinths in einer bestimmten Kultur erarbeitet wurde und von dort auf andere ausstrahlte. Dass es Hypothesen gibt, denen zufolge sich im Bild des Labyrinths ein im Menschen selbst angelegtes Erlebnis- und Erfahrungsmuster konkretisiert, trägt an sich aber zur semantischen Anreicherung des Labyrinths doch immerhin bei. Neben aus Baumaterialien (z.B. Steinen) geschaffenen, getanzten und graphischen Labyrinthen als zwei Realisationsformen konkreter labyrinthischer Strukturen liegen seit der Antike Textzeugnisse vor, in denen von Labyrinthen die Rede ist – zumindest das Stichwort „Labyrinth“ fällt – oder (mutmaßliche bzw. so genannte) labyrinthische Strukturen beschrieben werden. Diese Texte sind selbst keine Labyrinthe, tragen aber zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der mit dem „Labyrinth“ verbundenen Vorstellungen maßgeblich bei. Hermann Kern stellt daher in seiner historischen Übersicht über frühe Dokumente zum Konzept „Labyrinth“ neben das Labyrinth als Tanz- bzw. als Bewegungsfigur und das Labyrinth als graphische Figur das Labyrinth als Gegenstand von Texten (vgl. Kern 1982, 24f.).
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Form des Textes – also das Medium geschriebener Buchstaben und Wörter – dazu eingesetzt, labyrinthische Strukturen zu realisieren. Um die Rede von ‚labyrinthischen Texten‘ nicht völlig ins Unbestimmte abgleiten zu lassen, kann man sich in einer ersten Annäherung darauf verständigen, Texte nur dann als ‚labyrinthisch‘ zu beschreiben, wenn sie in ihrer visuellen Gestalt von der Normalform des in gleichförmigen, untereinander stehenden Zeilen angelegten Textes abweichen bzw. wenn sie statt einer linearen Lektüre einen Lesevorgang erfordern, bei welchem der Blick immer wieder die Richtung wechselt – so wie derjenige, der ein Labyrinth begeht, immer wieder die Richtung wechseln muss. Ob man die Einladung zur ‚richtungswechselnden‘ Lektüre als hinreichende oder als notwendige Bedingung dafür betrachten möchte, dass ein Text ‚labyrinthisch‘ heißen darf, ist Entscheidungssache. In jedem Fall lenkt die Betrachtung von Texten als mögliche Labyrinthe die Aufmerksamkeit auf deren konkrete Gestalt, deren ‚Architektur‘. Im Mittelalter erfolgt eine Zusammenführung der antiken Konzeption des graphischen Labyrinths mit textgestalterischen Verfahren, die als ‚labyrinthisch‘ beschrieben werden können. Schon in der frühchristlichen Reparatusbasilika in Orléansville/Algier (4. Jahrhundert) findet sich ein wichtiges Dokument dafür: Hier ist ein Fußboden im Stil römischer Fußbodenlabyrinthe gestaltet (als Einweglabyrinth vom römischen Typus ist es ein Labyrinth im Kernschen Sinn) (vgl. Adler, Ernst 1987, 168 u. Kern 1982, 116f.). Die Kombination der Labyrinth-Struktur des Buchstabens mit der Form des Permutationstextes deutet darauf hin, dass letzterer mit ‚Labyrinthischem‘ assoziiert bzw. als ‚labyrinthisch‘ betrachtet wurde (also gleichsam als Labyrinth im Labyrinth). In späteren Zeiten, vor allem im Barock, übernehmen labyrinthische und permutative Texte in verschiedenen Spielformen allerlei Funktionen. Insbesondere laden sie auch weiterhin zu Kontemplation und Meditation ein: nicht nur über religiöse, sondern auch über weltliche Themen – und in der sprachkritischen Moderne insbesondere über die Wörter, Redensarten, Syntagmen der Sprachwelt. Zu einem vertieften Interesse an Spielformen labyrinthischer Textgestaltung wie überhaupt an Formen visueller Textgestaltung kommt es (nach einer früheren Blüte des Genres im Barock) im 20. Jahrhundert. Schon die Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte experimentieren vielfach mit Formen nicht-linearer Textgestaltung, mit unkonventioneller Typographie sowie mit Misch- und Übergangsformen von Bild und Text; die Neoavantgarden setzen
Das Buch als labyrinthischer Raum
diese Experimente fort.4 Formal knüpfen die Labyrinthgedichte des 20. Jahrhunderts immer wieder an alte, teilweise bis in die Antike zurückreichende Formen an. Die Funktion des Labyrinthischen in der Visualdichtung unterliegt jedoch einem diskursgeschichtlich bedingten Wandel. Neue Auslegungsmöglichkeiten labyrinthischer Strukturen erschließen sich; gleichzeitig erweitert sich das Spektrum an Möglichkeiten. Autoren der Moderne arbeiten an neuen Spielformen des Labyrinthischen im Medium der Texte. Dies zeigt, wie signifikant die Idee des Labyrinthischen immer noch ist, wie wenig aber offenbar die konventionellen Strukturen als modellhafte Ausdrucksformen des Lebens-, Erfahrungs-, und Leseprozesses genügen. Labyrinth-Dichter der Moderne experimentieren wiederholt mit größeren Textdimensionen. Das Konzept des Labyrinths – oder, vorsichtiger gesagt: des Labyrinthischen – ist dabei offenbar unter anderem deshalb so reizvoll, weil es eine intellektuelle und zugleich eine affektiv-emotionale Bedeutungsdimension hat. Die mit ihm verbundenen Konnotationen der Verwirrung und Desorientierung, der Suche, der Aussicht auf Unerwartetes, der Angst vor einem vorzeitigen Ende des Wegs, vor Gefahren oder unüberwindbaren Hindernissen lassen das Labyrinth sowohl als Herausforderung an den Intellekt (an Kombinationsfähigkeit, Antizipationsvermögen, Erinnerungsvermögen etc.) erscheinen, wie auch als emotionale Herausforderung: Die Auseinandersetzung mit einem Labyrinth kann, je nachdem, wie es gestaltet ist und in welcher Weise man es ‚begeht‘, zu einem angstvollen Abenteuer werden; sie kann den Labyrinthgänger mit den Grenzen seiner Belastbarkeit konfrontieren, und das, was ihn im Labyrinth erwartet, kann äußersten Schrecken erwecken. Liebeslabyrinthe wiederum, wie man sie als Bestandteile artifizieller Gartenanlagen Jahrhunderte lang geschätzt hat, verheißen emotionale Bewegungen ganz anderer Art. Und selbst wenn weder Gefährliches noch erotisch Reizvolles den Labyrinthgänger erwarten, etwa bei der Vertiefung in die Labyrinthe der Rätselecken in Zeitschriften, so erzeugt das Sich-Einlassen aufs Labyrinth doch offenbar eine gewisse Spannung. Woher käme sonst das zur Lösung des Rätsels nötige Durchhaltevermögen? 4
Ein Motiv dafür ist das vielfach auch theoretisch artikulierte Ungenügen an konventionellen Formen der Sprachverwendung und Textgestaltung und das Bedürfnis nach neuen Formen des Ausdrucks. Ein anderes, ebenso wichtiges Motiv ist eine verstärkte Sensibilität für das, was man die ‚Materialität der Schrift‘ nennen könnte: für Form und Formbarkeit von Buchstaben und Textflächen, für die Bildsprachlichkeit von Schriftzeichen-Arrangements – und für das gestische und dynamische Moment, das geschriebene und gedruckte Texte besitzen können, wenn sie so gestaltet sind, dass man ‚Bewegung‘ assoziiert.
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Buch-Labyrinthe
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Neben den von Kulturhistorikern des Labyrinths untersuchten Formen des Labyrinths und in Fortsetzung der durch labyrinthische Textformen gestalteten Labyrinthe stellt das Buch-Labyrinth oder Labyrinth-Buch ein eigenes künstlerisches Labyrinth-Genre mit eigenen Semantisierungspotenzialen dar. Wann aber ist ein Buch ein „Labyrinth“? Immerhin: Jedes Buch, dessen einzelne Teile (Buchstaben, Wörter, Sätze, Abschnitte, Kapitel) zu einer nicht-linearen Lektüre einladen, könnte als LabyrinthBuch beschrieben werden, z.B. Anthologien, die sich in beliebiger Folge lesen lassen, und andere Bücher, in denen man herumblättert. Auch Lexika, Enzyklopädien, Wörterbücher sind eigentlich nicht für eine lineare Lektüre gedacht. Dass man sie kreuz und quer lesen kann und soll, signalisieren u.a. Querverweise („=>“), welche Lesewege vorschlagen, die durchs Buch hin und her verlaufen. „Labyrinthischen“ Charakter kann man außerdem solchen Erzählexperimenten zuschreiben, bei denen der entsprechende Text zwar im Normalfall von vorn bis hinten durchgelesen, zugleich aber die Suggestion eines nicht-linearen Textes erzeugt wird. Dies kann auf unterschiedliche Weisen geschehen: etwa wenn der Romantext sich selbst als gewundenen Weg interpretiert und den Leser u.a. dazu auffordert, noch einmal zurückzugehen oder Leerstellen zu überspringen – wie der Tristram Shandy Lawrence Sternes, oder wenn sich der Romantext als Kompilation fragmentarischer Texte unterschiedlicher Herkunft ausgibt und den Leser nötigt, sich immer wieder vom einen zum anderen Kontext zu bewegen – wie der Kater Murr E.T.A. Hoffmanns, oder wenn der Roman seinen Leser durch abbrechende Geschichten in ‚Sackgassen‘ führt – wie Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore. Der Begriff „Buchlabyrinth“ bzw. „Labyrinthbuch“ ist kein klar definierter Gattungsbegriff. Man könnte insbesondere verschiedene Buchformen unter diesen Begriff subsumieren, wie sie von literarischen Autoren realisiert worden sind: (1) Bücher, in denen die traditionellen Formen visueller Text-Labyrinthe verwendet werden wie beispielsweise in Raymond Federmans Double or Nothing oder Paul Wührs Gegenmünchen; (2) Bücher, die in nichtlinearer Folge der Seiten gelesen werden wollen oder können – wie beispielsweise Julio Cortázars Rayuela; (3) Bücher, die auch konkret-materiell aus unterschiedlich kompatiblen Textbausteinen bestehen – wie Raymond Queneaus Sonett-Maschine mit ihren 1014 virtuellen Gedichten; (4) Bücher, deren Lektüre bei an sich linearem Lesedurchgang aufgrund ihrer Struktur im Zeichen wiederholter Richtungswech-
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sel steht, etwa weil sich unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen ineinander verschlingen und ein Strukturplan infolgedessen die Gestalt eines graphischen Labyrinths annehmen müsste – wie im Fall von Michel Butors L’emploi du temps. Eine Kombination verschiedener Ebenen des Labyrinthischen charakterisiert John Barths Buch Lost in the Funhouse. Fiction for Print, Tape, Live Voice. Zwischen dem Labyrinth-Buch und dem Buch-Objekt bestehen enge Affinitäten und partielle Überschneidungen. Buch-Objekte können „labyrinthische“ Strukturen besitzen. Zudem kann jedes Labyrinth-Buch als ein „Objekt-Buch“ in dem Sinn betrachtet werden, dass seine konkrete Gestalt bedeutungskonstitutiv ist.5 Hier bietet sich auch am ehesten ein Ansatz zu einer Bestimmung des „Buch-Labyrinths“ zu Orientierungszwecken: Buch-Labyrinthe sind Bücher, die durch ihre materielle Gestaltung an Spielformen realisierter Labyrinthe anknüpfen und dabei implizit oder explizit an die Bedeutungsgeschichte des Konzepts „Labyrinth“ erinnern. Sie gehören einem Überschneidungsbereich zwischen Literatur (qua Schreib-Kunst) und bildender Kunst (Buchgestaltungskunst, Künstlerbuch, typographischer Kunst) an. Das ästhetisch gestaltete Buch-Labyrinth bietet viele verschiedene Möglichkeiten der Kombination materiell-medialer Eigenschaften verschiedener der bisher katalogisierten Realisationsformen des Labyrinths (textueller, visueller, architektonischer, raumgestalterischer). In einer Epoche der zunehmenden Entdifferenzierung der Künste, des Spiels mit Gattungsgrenzen, der intermedialen Experimente muss es insofern vielfältige Interessen auf sich ziehen. Mehrere Tendenzen konvergieren auf dem Weg dahin: diskursive und historische Interessen am Labyrinth als Konzept oder Modell, ästhetische Gestaltungsformen in der Literatur und in der bildenden Kunst – und die Profilierung des Künstlerbuchs als eines eigenständigen (wenngleich vielfach vernetzten) Genres. Die wichtigsten Impulse, die auf die Buch-Labyrinth-Kunst Einfluss genommen haben, seien kurz skizziert: (1) Buchlabyrinthe können u.a. als mediale Weiterentwicklungen der Form des Textlabyrinths betrachtet werden. (2) Wichtige Anregungen für die Realisierung von Labyrinthbüchern gehen von der Literatur aus: von Beschreibungen ima5
Ein wichtiger Indikator für die intendierte „Labyrinthik“ eines Buches ist die (angebliche oder tatsächliche) Verlegung des „Eingangs“, die Verschiebung oder gar Verbergung des Eingangs zum Text. In Hoffmanns Kater Murr wird der Leser darüber belehrt, dass der Anfang gar nicht der richtige Anfang ist; hier sind (angeblich) versehentlich zwei potentielle Anfänge miteinander vertauscht worden. John Barth spielt in vergleichbarer Weise mit der Idee des Anfangens.
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ginärer Labyrinthbücher. Wichtig ist dabei vor allem Jorge Luis Borges, der mit vielen seiner Texte eine Überblendung der Konzepte „Labyrinth“ und „Buch“ vornimmt – und in seinen Erzählungen diverse Labyrinthe skizziert, die das Vorstellungsvermögen letztlich überfordern. Borges’ maßgeblicher Beitrag zur Geschichte des Schreibens über Labyrinthe besteht wohl vor allem darin, dass er die Konzepte des Labyrinths und des Textes bzw. des Buchs auf so einfallsreiche und provozierende Weise miteinander verknüpft.6 Nicht nur, dass er Texte bzw. Bücher beschreibt, die Labyrinthe sind, und Labyrinthe, die aus Büchern bestehen – er gewinnt auch dem Konzept des ‚labyrinthischen Textes‘ – als eines nicht-linearen Textes, der vom Leser immer wieder ‚Richtungswechsel‘ fordert – neue Aspekte und Modifikationen ab. Die dekonstruktive Auseinandersetzung mit linearen Strukturen ist bei Borges motiviert durch seine kritische Auseinandersetzung mit dem Modell einer linear verlaufenden Zeit. Er setzt diesem Modell in seinen Gedanken- und Schreibexperimenten Alternativmodelle entgegen: Das Konzept einer zyklischen Zeit (diverse Texte greifen das Konzept einer ewigen Wiederkehr auf, von dem er sich aber auch distanziert; allerdings handeln viele Texte von Wiederholungen), das Konzept einer sich verzweigenden Zeit, in der alternative Geschichtsverläufe sich parallel abspielen, und das Konzept einer rein imaginären, ‚idealen‘, nichtexistenten Zeit. Zu Richtungswechseln beim Lesen wird der Borges-Leser vor allem dann veranlasst, wenn sich in den Borges-Texten verschiedene Ebenen fiktiver Realität treffen und durchkreuzen, wenn Rahmen- und Binnengeschichten auf verschiedenen Niveaus stattfinden und miteinander in Kontakt geraten. (3) Weitere wichtige Impulse für die Realisation von Buch-Labyrinthen bzw. Labyrinthbüchern gehen von der Semiotik und Texttheorie aus, wie sie seit den 1970er Jahren u.a. durch Umberto Eco prominent vertreten und mit Konzepten des Labyrinthischen verknüpft wird.
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Eco hat angesichts der verwirrenden Fülle von Labyrinthmodellen und Labyrinthkonnotationen in seinen semiotischen Schriften sowie im Nachwort zu Il nome della rosa zwischen verschiedenen Labyrinthtypen unterschieden, um eine erste Ordnung der fraglichen 6
Nicht alle von Borges so genannten „Labyrinthe“ sind mit geläufigen Vorstellungen über Labyrinthe kompatibel. Gleichwohl gibt es bestimmte Eigenschaften, welche die Borgesianischen Labyrinthe untereinander verbinden, die nicht für alle, aber stets für mehrere prägend sind und die so dazu führen, dass seine Labyrinthe eine Kette bilden und sich wechselseitig bespiegeln und vernetzen.
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Phänomene vorzunehmen; auf ihn haben sich seitdem viele Theoretiker des Labyrinths berufen. Prägend für seinen Ansatz ist dabei die Deutung der Labyrinthtypen als verschiedene Modelle menschlicher Erkenntnis. In jedem der drei benannten Labyrinthtypen spiegelt sich Eco zufolge eine bestimmte Form der um Orientierung bemühten Auseinandersetzung mit Erfahrungsgegenständen; jedes Modell korrespondiert einem spezifischen Konzept von Erfahrung als dem Erwerb und der Strukturierung von empirisch begründetem Wissen. Dass es aus Ecos Perspektive mit den drei Labyrinthtypen um Modelle der Erkenntnis (im Sinn des Erwerbs von Wissen) geht, plausibilisiert die von ihm vorgenommene (oder hervorgehobene) Verknüpfung von Labyrintherfahrung und kriminalistischer Recherche. Ecos semiotisch-erkenntnistheoretischer Ansatz zur Semantisierung des Labyrinthischen läuft nicht nur klar darauf hinaus, das Labyrinth intellektualistisch-erkenntniskritisch (eben: als Erkenntnismodell) zu deuten; er blendet dementsprechend auch die kultisch-rituellen Konnotationen weitgehend aus. So ist der im kretischen Labyrinth wartende Minotaurus für ihn nur Anlass zur scherzhaften Bemerkung, dieses Minotaurus bedürfe es dort auch, weil es sonst langweilig würde, und das Äquivalent des Minotaurus in Ecos eigenem Klosterbibliotheks-Labyrinth ist ein als intertextuelles Zitat konzipierter grotesker alter Mönch. (Mit dem Hinweis auf die ‚Langweiligkeit‘ von intellektuell leicht bewältigbaren Labyrinthen und der entsprechenden Notwendigkeit eines anderen spannungserzeugenden Faktors deutet Eco freilich an, dass Labyrinthe nicht nur an die Rationalität appellieren, sondern auch eine affektive Komponente besitzen.) (4) Parallel zu Ecos semiotisch-texttheoretischen Reflexionen über Labyrinthe hat Hermann Kern als Sammler und Kompilator durch seine große und in einem umfangreichen Katalog dokumentierte Labyrinth-Ausstellung wichtige Grundlagen für die anschließende Auseinandersetzung von Kunst- und Kulturhistorikern, aber auch von Künstlern und Schriftstellern mit Labyrinthen geschaffen. Schon dadurch, dass er die Vielfalt der Spielformen des Labyrinthischen in Erinnerung rief (unter gewollter Konzentration auf Einweg-Labyrinthe) hat Kern die Voraussetzung für weitergehende Deutungen und Gestaltungen von Labyrinthen geschaffen. (5) Neben den bisher genannten Impulsen, die auf die literarischästhetische Gestaltung von Buch-Labyrinthen stimulierend gewirkt haben, wären andere zu nennen – insbesondere das Interesse esoterischer Diskurse und das einer entsprechend spekulativen Anthropologie und Psychologie am Sinnbild
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des Labyrinth. Auch hier spielt die doppelte Adressierung von Intellekt und Emotionalität eine maßgebliche Rolle, wobei affektive Beziehungen zum Labyrinth tendenziell in den Vordergrund rücken.
Labyrinth-Bücher im Schnittfeld zwischen Literatur und Künstlerbuch – Beispiele Gleichnis der verschiedenen Konzepte von Erfahrung, Orientierungsversuchen und Wissenserwerb sind mit den drei Labyrinthtypen Ecos (Einweglabyrinth, Irrgarten, Rhizom) drei Formen der Bewegung im Raum. Gerade Buchlabyrinthe bzw. Labyrinth-Bücher sind durch ihre Räumlichkeit charakterisiert. Die folgenden Beispiele – im breiten Spektrum zwischen literarischem Werk und Künstlerbuch situiert – illustrieren verschiedene Optionen einer labyrinthischen Buch-Raumgestaltung. Sie stehen jeweils exemplarisch für die Möglichkeiten, die die von ihnen repräsentierte Form des Buches bietet.
Beispiel 1: Ein Roman als labyrinthischer Buchraum: Umberto Eco, „Il nome della rosa“
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Erkenntnisprozesse sind bei Eco nicht nur Gegenstände der diskursiven Erörterung und der narrativen Darstellung; sie werden durch die Konzeption seiner Romane zugleich auch arrangiert bzw. ausgelöst, was für Il nome della rosa exemplarisch gilt. Der Weg des Lesers durch den Roman ist ein Weg durch ein Labyrinth der Zeichen, wobei dieses Labyrinth – wie Eco selbst betont – so modelliert wurde, dass es den drei verschiedenen Labyrinthtypen gleichzeitig korrespondiert. Als ein Roman, der sich (unter anderem) ostentativ in die Tradition der Kriminalliteratur stellt, spricht Il nome della rosa im übrigen sowohl den Intellekt als auch (wenngleich mit Ironie und gleichsam zitathaft) die Emotionen des Lesers an: Dieser soll Spannung empfinden und zugleich Hypothesen bilden – wie ein Labyrinthgänger. Zur Erzeugung jener Spannung werden krimitypische Mittel wie Vorausdeutungen, falsche Fährten und verzögerte Aufklärungen eingesetzt, und die ‚affektive‘ Beziehung des Lesers zu den Figuren, die das Roman-‚Labyrinth‘ maßgeblich mitkonstituieren, wird mit klassischen kriminalliterarischen Mitteln erzeugt:
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durch die Beschreibung von Physiognomien und durch andere Strategien der Figurencharakteristik. Der Weg durch einen Roman ist natürlich stets auch materialiter ein Weg durch ein Buch; man muss ja umblättern, um ihn zu lesen. Dass man dabei ‚unterwegs‘ ist, fällt einem aber nur auf, wenn Text und Layout auf signifikante Weise gestaltet wurden und die optisch wie haptisch wahrgenommene Struktur des Werks entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zieht. Um die Bedeutung der Buchform, des durchlaufenen Buch-Raumes zu betonen (der mittelbar selbst ein Modell des Erfahrungs-Raums, genauer: des Welt-Labyrinths ist), lässt sich Eco verschiedene buchgestalterische Maßnahmen einfallen. Diese wirken komplexitätssteigernd und stehen in Korrespondenz zu der für Labyrinthe konstitutiven Spannung zwischen Ordnung und Unordnung. Stark akzentuiert werden topographische und temporale Ordnungsprinzipien. Die Bezifferung und Benennung der Romankapitel folgt dem Muster mittelalterlich-klösterlicher Zeiteinteilung. Dieses Abbild eines klösterlichen Tagesablaufs korrespondiert dabei zudem der Vorstellung verschiedener Kloster-Räume. Fiktionale Paratexte erzeugen differente Ebenen dargestellter Wirklichkeit und konfrontieren den Leser mit der Frage nach seiner eigenen Situierung im Gefüge der „Wirklichkeiten“. Architektonische Zeichnungen des Klosters und der Bibliothek suggerieren, dass sich das Buch mimetisch zu einer abgebildeten Topographie verhält. Insgesamt sind Ecos buchgestalterische Maßnahmen nicht völlig ungewöhnlich, vergleicht man sie mit experimentellen Schreibweisen wie Barths Lost in the Funhouse. Aber als buchgestalterische Momente betonen sie doch klar die Signifikanz des Buchs als Textträger und bekräftigen die vom Inhalt des Romans suggerierte Gleichung von Buch/Bibliothek, Welt und Labyrinth. Der Leser wird mit einem in konkretem wie übertragenem Sinn ‚labyrinthischen‘ Text konfrontiert, aber es entspricht bekanntlich Ecos Verständnis von „Interpretation“, dass Leser-Wege keinen determinierten und vorausberechenbaren Verlauf nehmen. Sie verlaufen auf jeweils individuelle Weise (was u.a. bedeutet, dass vielleicht Dinge entdeckt werden, von denen der Autor als Dädalus nichts ahnte.) Das Lesen von Texten ist wie das „Lesen“ der Dinge ein semiotischer Prozess, bei dem Abduktionen eine konstitutive Bedeutung haben. Bezogen auf das Buch als ein räumliches Labyrinth aus Zeichen bedeutet dies, dass der Leser diese Zeichen in hypothetische Beziehungen zueinander setzen und dem Buchraum insofern aktiv rhizomatisch strukturieren muss.
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Beispiel 2: Buchgestalterische Suggestionen labyrinthischer Raumerfahrung in der Literatur: Mark Danielewski, „House of Leaves“
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Mark Z. Danielewskis House of Leaves ist ein einfallsreiches Experiment mit der Buchform, das explizit auf das Mythologem des Labyrinths und die Figur des Minotaurus Bezug nimmt – und ganz unübersehbar in vielem durch Borges inspiriert wurde. Obwohl man House of Leaves ohne weiteres als Roman, also als literarisches Werk, beschreiben würde, nehmen buchgestalterische Mittel konzeptuell einen so breiten Raum ein, dass das „Haus“ in die Nähe buchkünstlerischer Arbeiten rückt. Der Text selbst besteht aus Elementen, die eine nicht-lineare Sequenz bilden und verschiedenen Ebenen dargestellter Wirklichkeit zuzuordnen sind: Von einer anonymen Herausgeber-Ebene aus wird (analog zu Borgesschen Verfahren) ein Textkorpus präsentiert und durch Anmerkungen kommentiert. Dieses Textkorpus setzt sich seinerseits wieder aus Heterogenem zusammen: So präsentiert eine Figur namens Johnny Truant einen Text, den er zudem mit langen eigenen Annotationen versieht, in welchen sich sein Leben episodenweise dargestellt findet. Der von Truant präsentierte Text als solcher bildet eine weitere Textebene; es handelt sich um den Bericht eines (mittlerweile verstorbenen) blinden alten Mannes, der sich Zampano nennt. Zampano seinerseits beschreibt und kommentiert Filmmaterial, das vor allem ein gewisser Will Navidson gedreht hat. Navidsons solcherart indirekt dargestellter Film wiederum handelt von einem Haus, in dem sich unversehens und wider die Gesetze der Geometrie unermessliche und labyrinthische Innenräume auftun – Räume, in denen man sich verlieren kann und in denen sich eine minotaurische Instanz herumzutreiben scheint. Es beginnt damit, dass plötzlich eine Tür da ist, wo zuvor keine war – und dass Navidsons Entdeckung und Vermessung zufolge sein Haus innen größer ist als außen. Der Fall Navidson ist der Romanfiktion zufolge von vielen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Texten kommentiert worden; auf diese verweisen abundante Fußnoten. Unter den im Roman erwähnten Personen finden sich – ähnlich wie bei Borges – neben fiktionalen Charakteren auch reale, darunter Derrida. Die erzählten Geschichten und die Art ihrer Verbindung erinnern (neben den Bezügen zu Borges) auch an Lovecraft, Flann O’Brian, Joyce, Stephen King. Unkonventionell ist Danielewskis Buchraum-Gestaltung: Die verschiedenen Ebenen der Darstellung sind dabei erstens typographisch (durch Schriftarten und Layout) voneinander abgehoben.
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Hinzu kommt die typographische Suggestion von Bewegungen und Bewegungsrichtungen. Zweitens werden die Buchseiten streckenweise von Quadraten durchschossen, auf denen ein Text vorne in normaler Typographie, auf der Reversseite in Spiegelschrift zu sehen ist, so dass die bedruckten Seiten ihre Räumlichkeit betonen und die Idee eines ‚Durchstiegs‘ von der jeweiligen Vorder- auf die Rückseite suggerieren. Da sich diese Seiten zu einer Sequenz fügen, ergibt sich durch das Gesamtarrangement der Eindruck eines den Buchraum durchziehenden Tunnels. Drittens sind viele Ausgaben des Buchs so gestaltet, dass der äußere Einband gegenüber dem eingebundenen Buch selbst um genau das Stück zu kurz ist, das zunächst die Diskrepanz zwischen den Innen- und dem Außendimensionen des von Navidson vermessenen labyrinthischen Hauses ausmacht. Das Buch ist also selbst zumindest ein Double des labyrinthischen Hauses. Weitere Strategien der typographischen Komplizierung kommen hinzu; sie korrespondieren jeweils inhaltlichen Elementen. Die Geschichte um das Haus ist erkennbar von anderen Autoren inspiriert; an Borges soll man sich zweifellos erinnern – und wie Jorge von Burgos in Ecos Rosen-Roman sorgt auch hier ein blinder alter Mann dafür. Intertextuelle Verflechtungen lassen sich in großer Zahl aufspüren – ein weiterer Aspekt von „Labyrinthik“. Auch stilistisch bietet der Roman Anlass, ihn mit einem Labyrinth zu vergleichen: Die Passagen, in denen Johnny Truant zu Wort kommt (stilistisch wie inhaltlich der amerikanischen Underground-Literatur à la Bukowski stark verpflichtet), sind ermüdend lang – und teilweise öde wie ein Labyrinth, das nicht enden will. Man mag diese Langweiligkeit ausgedehnter Textpassagen für einen künstlerischen Fehlgriff des Autors halten, man kann in ihr aber auch ein bewusst eingesetztes literarisches Mittel vermuten. Ein Leser, der dazu genötigt wird, sich durch solche Seiten hindurchzukämpfen (die er auch nicht einfach überschlagen mag, weil er ja etwas Entscheidendes verpassen könnte), wird wohl zumindest ansatzweise die Belastungen nachempfinden können, die der Wanderer in einem konkret-räumlichen Labyrinth aushalten muss: Es gilt durchzuhalten.
Beispiel 3: Der esoterische Ratgeber als Tanzplatz und als Medium spiritueller Erfahrung: Sig Lonegren, „Labyrinthe“ Ganz andere Perspektiven auf das Labyrinth als im Fall der Labyrinth-Romane Ecos und Danielewskis eröffnen sich dem, der sich auf Sig Lonegrens Labyrinthe einlässt; das Buch steht exemplarisch
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für den esoterisch inspirierten Diskurs. Hier geht es um die „Magie der Labyrinthe“ (Lonegren 1993, 5); Themen Lonegrens sind „heilige Geometrie“, „Archäoastronomie“, „Erdenergien“, C.G. Jungs Mythenbegriff, „Tunnel“ und „Schatten“, „Die Anima“, die „Göttin“, „Energie-Leys“, das „Muten an Heiligen Orten“, Astrologie, magische Quadrate, Spiegel und Chakren, den Mond und das „Auge der Labrys“, die alten Götter, die Göttin auf Kreta, die „Zyklen der Wahrheit“, das „Medizinrad“, Labyrinth-Zeremonien und der „Tod am Nachmittag“. In programmatischem Singular ist von „dem Labyrinth“ und der „dazugehörigen Mythologie“ die Rede. Lonegren fasst das Labyrinth als Urfigur auf, zu deren Erfahrung der Mensch aller Zeiten und Erdteile durch ein anthropologisch begründetes (und nicht kulturell vermitteltes) „Labyrinth-Bewusstsein“ (Lonegren 1993, 15) disponiert ist.7 Labyrinth-Wissen – von Lonegren im englischen Original durch das Kunstwort „to gnew“ bezeichnet, welches abgesehen von seiner Homophonie mit der Vergangenheitsform von „to know“ auf die Gnosis als ein ‚anderes‘ Wissen verweisen soll (vgl. Lonegren 1993, 17) – ist intuitiv und bezieht sich auf das, was sich der rationalen naturwissenschaftlichen Erkundung entzieht. Gegenstände dieses spezifischen Wissens sind insbesondere „Heilige Räume“, die man durch Rutengänge (das sogenannte „Muten“) aufspüren kann. Antike Labyrinthe wurden den Ausführungen Lonegrens zufolge auf der Basis intuitiv gewonnenen Wissens über solchen „Kraftzentren“ der Erde errichtet (Lonegren 1993, 22). Um sich der Energien eines Labyrinths zu vergewissern, kann es sinnvoll sein, sich Ruten zu basteln; Lonegren bietet eine Bastelanleitung dazu – und empfiehlt Kleiderbügel aus Draht als Ausgangsmaterial. Bewegungen durch Labyrinthe und durch andere Räume sind ein weitläufiger Gegenstand des Buchs. Das Abschreiten von Räumen – vor allem physisch, ersatzweise auch mit den Augen oder Händen – setzt den Menschen (so die Grundthese) in eine Beziehung zu seiner räumlichen Umwelt bzw. intensiviert diese Beziehung. Meditative Labyrinthgänge werden zum Anlass, sich in spirituelle Fragen zu versenken (vgl. Lonegren 1993, 7
Es geht an dieser Stelle nicht um eine kritische Würdigung der esoterisch-mystizistischen Lehre, die hier anlässlich des Stichworts „Labyrinth“ vertreten wird, sondern allein um die Frage nach der spezifischen Perspektivierung labyrinthischer Raumerfahrung sowie nach den buchgestalterischen Konsequenzen. Darum sei jene Lehre nur kurz skizziert: Labyrinthe wurden „im Dunkel der Vorgeschichte“ als „magische Ein-Weg-Irrgärten“ erstmals erfunden, und zwar „von einer Kultur (...), die sich auf einer völlig anderen Bewusstseinsebene bewegte als unsere moderne“ (Lonegren 1993, 17). Aber bis zur Gegenwart bieten Labyrinthe die Chance „unsere analytisch-rationale Bewusstseinsebene mit unserer intuitiv-spirituellen Bewusstseinsebene zu vereinen“ (Lonegren 1993, 17).
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139). Im letzten Kapitel gibt Lonegren Anweisungen zur Errichtung „dauerhafter“ Labyrinthe an verschiedenen Orten. Inhaltlich sei Lonegrens Labyrinthbuch nicht kommentiert. Interessant für unseren Kontext ist es, weil der Esoteriker seinen Diskurs über Labyrinthe zum Anlass nimmt, den Buch-Raum ästhetisch zu gestalten und Lektüre als Raum-Erfahrung einzuspuren. Er ermutigt seine Leser nicht nur dazu, Labyrinthe abzuschreiten und durch Rutengänge Kraftzentren der Erde aufzuspüren; er lädt auch dazu ein, Labyrinthe zu zeichnen, und zwar ins Buch selbst – wie ein Rutengänger, der einen vorgezeichneten Weg abschreitet. Über das ganze Buch verstreut finden sich die Ausgangsstrukturen für Zeichnungen von Einweglabyrinthen, die so platziert sind, dass sie zur Komplettierung einladen,8 und das Ausmalen der Formen wird immer wieder explizit als angemessene Rezeptionsweise hervorgehoben. Noch weitere Maßnahmen stimulieren eine aktive, raumbezogene Rezeption: Eine längere Sequenz von Seiten ist so angelegt, dass sich beim schnellen Blättern nach dem Modell des Daumenkinos in der rechten oberen Ecke die Entwicklung einer komplexeren labyrinthischen Struktur aus einfachen Bausteinen zeigt, vor den Augen des Lesers also ein Labyrinth entsteht. Anlässlich der Darstellung des Labyrinths von Chartres wird der Leser aufgefordert, dem Pfad des Labyrinths mit den Augen zu folgen – so wie frühere Pilger sich auf den Knien durch das Kirchenlabyrinth bewegt hätten (vgl. Lonegren 1993, 43). Zudem enthält das Buch Fragen und meditative Übungen, die dem Leser eine aktive Partizipation abverlangen. Das Buch selbst will, wie es einleitend heißt, kein Sachwissen, sondern intuitives Wissen vermitteln, und dies sei nur möglich, wenn man die aufgegebenen „Übungen im Wissen“ an jedem Kapitelende selbst durchführe (vgl. Lonegren 1993, 18). Die hier geforderte Leseraktivität hat nichts zu tun mit der (auf ihre Weise ebenfalls als ‚labyrinthisch‘ beschreibbaren) Hypothesenbildung, die Eco als konstitutiv für den Rezeptionsprozess eines Textes (und für den Erkenntnisprozess) begreift. Vielmehr geht es darum, sich auf das Buch als auf einen Labyrinth-Raum einzulassen und Labyrinthfiguren gestisch nachzuvollziehen. Aus einer Einleitung und zehn Kapiteln bestehend, korrespondiert das Buch makrostrukturell kaum zufällig einem Labyrinth mit 11 Umgängen. Insgesamt wendet sich dieses Buch-Labyrinth nicht nur an den lese-fähigen Rezipienten, sondern auch an dessen Sinne, an die Bereitschaft, sich von visuellen und haptischen Erfahrungen beeinflussen zu lassen.
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Schon einleitend heißt es, man werde „an verschiedenen Stellen des Buches Farbstifte und einen Bleistift brauchen“ (Lonegren 1993, 18).
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Es hat, wie ein gemauertes oder gegrabenes Labyrinth, eine intellektuelle und eine sinnlich-affektive Dimension. Dass Lonegren dem rituellen Charakter von labyrinthischen Bewegungsfiguren und insbesondere dem Tanz besondere Aufmerksamkeit zuwendet, überrascht nicht: Das passt zum einen zu der universalistisch-esoterischen Grundtendenz seiner Ausführungen, zum anderen aber bildet es die Basis für seine eigene Strategie der Buchgestaltung. Lektüre wird zum Labyrinthtanz mit Augen und Bleistift. Im Ansatz wird es durch seine Füllung mit Labyrinthen (nach eigenem Selbstverständnis) zum Raum einer spirituellen Erfahrung, zum Tanzplatz,9 zum ‚heiligen Ort‘. Beim ‚tanzenden‘ Lesen erfolgt (der These des Buchs zufolge) im Idealfall der intuitive Kontakt mit den als gegeben gedachten „Erdenergien“.
Beispiel 4: Das Künstlerbuch als Durchgangsraum: Der labyrinthische Buchkörper bei Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki
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Die Buchgestalter Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki haben – angeregt durch die bei Borges verheißene „Zweite Enzyklopädie von Tlön“ – ein 50bändiges Künstlerbuchprojekt realisiert, das Die zweite Enzyklopädie von Tlön heißt. Jeder der 50 Bände ist einem Stichwort und damit einem Thema zugeordnet und in Abstimmung auf Stichwort und Thema buchkünstlerisch gestaltet. Zum Einsatz kommen verschiedenste Papiertypen, Drucktechniken, Layoutmuster und sonstige Buchgestaltungsformen. In der Regel enthalten die Bände Bilder und Graphiken sowie Texte. Letztere sind allesamt Zitate, wenngleich oft in verfremdeter Form; viele entstammen literarischen Texten, aber auch Sachbücher und andere Textformen wurden als Zitatspender genutzt. Die 50bändige Enzyklopädie wirkt insgesamt ‚dädalisch‘, insofern sie ihren konstruktiven Zug durch Inhalt und Präsentationsform der Bände betont: Die allesamt in variierenden Tönen desselben Grau eingebundenen Bände wirken wie Bausteine zu einer 9
Man mag sich dem interaktiven Charakter des Buches verweigern und die Lehre vom Labyrinth als ‚heiligem Ort‘ abstrus finden – den Hinweis darauf, wie wichtig es sei, selbst Labyrinthe mit den eigenen Händen und dem eigenen ‚Geist‘ zu schaffen, den Dank für die Erfüllung einer Anweisung, den Glückwünsch zur erfüllten (simplen) Labyrinthzeichenaufgabe, die wiederholten Bitten, den Aufforderungen des Buchs zu folgen, um sich bei der Erfahrung der magischen Dimension von Labyrinthen ‚helfen‘ zu lassen – ; zu konstatieren ist immerhin, dass Labyrinth-Lehre und Buchform aufeinander abgestimmt sind.
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Kunst-Welt. Sie sind zwar unterschiedlich dick, passen aber zueinander und suggerieren eine Analogie zwischen Bücher-Paket und architektonischen Komplexen. In den Bänden selbst bieten sich die jeweiligen Gegenstände auf eine planvoll arrangierte Weise: wie in einem komplexen, aber wohlgeplanten Gebäude. Zudem verweisen die titelgebenden Leitwörter der Bände vielfach auf die Elemente, aus denen „Welten“ gebildet werden sowie auf Prozesse der Erschließung und Vermittlung von Welten: auf die vier klassischen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer (TERRA, EAU, AIR, FUEGO), auf die Grundfarben (BLAU, YELLOW, RED), auf Erde und Mond (MOND), auf den Traum (REVE), auf ‚welterzeugende‘ Geräte und Medien wie Spiegel und Buch (ESPEJO, READER) sowie auf verschiedene Buchtypen (COOKBOOK, ATLAS, MAPAMUNDI), auf Licht und Dunkel (LUZ, SCHATTEN, NACHT), auf FLORA und FAUNA, auf das ZÄHLEN und die ZEIT, auf Lebensbeginn und Lebensende (EI, TOD).10 Der Weg des Lesers führt durch ein abwechslungsreich gestaltetes Labyrinth aus einander ähnlichen, aber nicht gleichförmig gestalteten Büchern, vorbei an literarischen Texten und Zahlen, an Bildern und Tafeln, an Werken der bildenden Kunst und an literarischen Texten. Die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius wird komplett zitiert – im Rekurs auf das spanische Original wie auf verschiedene Übersetzungen. Ein Band gilt dem Stichwort „Labyrinth“ (LABY); er ist der auffälligste der 50 Bände – der Form nach einem Pop-up-Buch ähnlich. Die einzelnen Seiten des Bändchens, inklusive der Einbanddeckel, weisen allesamt im mittleren Bereich eine rechteckige Öffnung auf. Diese Öffnungen sind nicht völlig kongruent, überlagern einander aber teilweise, so dass in der Mitte des geschlossenen Buchs eine Öffnung bleibt, die sich aus der Schnittmenge aller Öffnungen gebildet hat. Unter allen Bänden der 2. Enzyklopädie weist nur diese eine solche von der konventionellen Buchform abweichende Gestalt auf. Sie suggeriert einen möglichen „Weg“ durchs Buch, einen zumindest tastend vollzogenen Einstieg in den Buchraum, der aber zuvor so gestaltet worden ist, dass sich eben ein bestimmter Weg ergibt – und kein Geflecht alternativer Wege. Klappt man das „Labyrinth“ auf, so entfaltet sich die farbige Seitensequenz. Die einzelnen Seiten zeigen Reproduktionen von Holzschnitten und Stahlstichen aus dem 19. Jahrhundert, die mit intensiven Farben überdruckt 10
Durch die Verwendung vielfältiger Zitate – wörtlicher Zitate, aber auch formaler Zitate wie etwa der Formen wissenschaftlicher oder kartographischer Darstellung – gestaltet sich die Zweite Enzyklopädie Ketelhodts und Malutzkis als intertextuelles Verweisungsgeflecht. Vor allem Borges wird immer wieder zitiert. So gibt es Bände mit den Titeln TLÖN, UQBAR, ORBIS TERTIUS.
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sind: eine bunte, collagierte Welt aus Heterogenem, die labyrinthische Abenteuer verheißt, durch die Komposition des Bandes aber wie artifiziell gebändigt erscheint. Der Leser hat zwar manche Freiheiten – unter anderem die, die Bände statt in alphabetischer Folge in anderer Reihenfolge zu durchblättern – aber er wird durch die Gestalt der Bücher selbst auf die Buchgestaltungs-Kunst als eine reflektierte, planende Verfahrensweise verwiesen. Die künstlerische Arbeit selbst interpretiert sich anlässlich dieses Künstlerbuchobjekts als dädalisches Konstruieren, das dem Leser nicht nur Deutungs- und Assoziationsangebote macht, indem es eine Fülle kultureller und ästhetischer Gegenstände zitiert, abbildet, wiederholt, sondern auch sinnlich-konkret erfahren werden will. Das Auge findet ohnehin reiche Abwechslung, den Gehörsinn sprechen solche Bände an, deren Papiere spezifische (Blätter-)Geräusche von sich geben; einzelne Bände wenden sich bedingt durch das eingesetzte Material auch auf ungewohnte Weise an den Geruchssinn und den Tastsinn. Solch sensuelle Effekte betonen nicht zuletzt den physisch-räumlichen Charakter des buchkünstlerischen Werks. Es kann als ein Kernanliegen vieler Hersteller von Künstlerbüchern gelten, die sinnliche und affektive Beziehung des Rezipienten zu Büchern als visuell, haptisch, gegebenenfalls auch olfaktorisch und akustisch erfahrbaren Objekten zu demonstrieren und bewusst zu machen. In unserem Fall verknüpft sich dieses Anliegen mit der Erinnerung daran, dass für Labyrinthe in dieser Hinsicht Analoges gilt wie für Bücher: Sie wenden sich an unseren Intellekt, aber sie werden auch sinnlich-physisch erfahren, stimulieren die Sinne und lösen affektive, emotionale Reaktionen aus.
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Beispiel 5: Ein Labyrinth aus Blättern: Das Künstlerbuchprojekt der „Zweiten Enzyklopädie von Tlön“ bei Barbara und Markus Fahrner Die Zweite Enzyklopädie von Tlön von Barbara und Markus Fahrner, eine weitere Umsetzung der Borgesianischen Anregung, ist ebenfalls alphabetisch strukturiert. Anders als von Ketelhodt und Malutzki wählen Fahrner und Fahrner als Form ihres Labyrinths eine Sequenz von Aktenordnern. In diesen finden sich unterschiedliche Materialien abgeheftet: beschriebene, bedruckte und bemalte Papiere, Collagen, Drucksachen, Graphiken, Photokopien und kleine Objekte wie Beutelchen, Folien. Die Form des Objekts suggeriert Flexibilität und Wandelbarkeit: Die abgehefteten Objekte sind zwar Stichworten zugeordnet und werden entsprechend diesen Stichwor-
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ten in alphabetischer Folge präsentiert – aber die Zuordnung zu den Stichworten erscheint in vielen Fällen assoziativ. Neben Anspielungen auf Wissenschaft, Technik, Kunst, Alltagskultur und Literatur finden sich verschiedene Materialien, die auf esoterisches Wissen Bezug nehmen: auf Kultisch-Rituelles, auf Meditationspraktiken, auf fernöstliche Spiritualität. Insgesamt provoziert diese Zweite Enzyklopädie – der Form nach eine scheinbare An-Ordnung von Inhalten – auf mehreren Ebenen Desorientierung. Die Auswahl der Lemmata als solche lässt keine bestimmte Systematik erkennen. Eher nimmt sich das abgeheftete Material aus, als sei es zuerst gefunden bzw. hergestellt und dann (oft auf der Basis spontaner Einfälle und Assoziationen) mit einem Stichwort versehen und abgeheftet worden.11 Erinnern die grauen Bände der Zweiten Enzyklopädie von Ketelhodts und Malutzkis an Bausteine als die Elemente komplexer (‚dädalischer‘) Architekturen, so stellen sich angesichts der grünen Aktenordner der beiden Fahrners eher Reminiszenzen an florale Welten ein: die Inhalte scheinen zu ‚wuchern‘. Prinzipiell gestattet das Abheft-Verfahren als solches ja Eingriffe durch den Benutzer: die Neu- und Umordnung des Vorgefundenen, Erweiterung oder Reduktionen. Aktivität wird dem Benutzer aber auch deshalb abverlangt, weil sich das abgeheftete Material vielfach in papiernen Umschlägen, Taschen oder Tüten befindet: Es kann und muss herausgenommen und wieder verpackt werden – man muss sich durch die Bestände der Enzyklopädie hindurchbewegen, Richtungen wechselnd, mit Orientierungsoptionen spielend. Die durch die Form des Aktenordners und der abgehefteten Tüten, Umschläge und sonstigen Verpackungen notwendige physische Lese-Arbeit gestaltet sich selbst als eine Art Meditationsübung, die sich mit dem Weg durch die zweite Enzyklopädie der Fahrners verbindet. Diese steht insofern in der Nachfolge der visuellen Permutationstexte, die zur meditativen Versenkung in den Text-Raum einluden. Man findet zwar kein Lemma „Labyrinth“, doch finden sich wiederholt labyrinthische graphische Elemente. Zudem suggerieren Verweise zwischen den Lemmata die Möglichkeit einer Kreuz- und Querlektüre.
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Während die zuerst genannte zweite Enzyklopädie abgesehen von den leinenen Einbänden insgesamt aus bedrucktem Papier besteht, finden sich in dieser Zweiten Enzyklopädie auch andere Materialien als Papier, und viele der ‚Exponate‘ sind handgeschrieben oder handgezeichnet; hinzu kommen Druckgraphiken, die durch Signaturen oder Übermalungen zu Unikaten gemacht worden sind.
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Beispiel 6: Graphic Novels in labyrinthischer Buchform: Marc-Antoine Mathieus Geschichten über Monsieur Acquefacques
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Marc-Antoine Mathieu hat eine ganze Reihe von Bildgeschichten (bandes dessinées, Graphic Novels) geschaffen, bei denen er neben den für die bande dessinée charakteristischen Darstellungsmitteln auch buchgestalterische Mittel einsetzt, mit denen die räumliche Dimension des Buchs akzentuiert wird. So ist Le début de la fin – La fin du début als ein Buchobjekt gestaltet, das in zwei Richtungen (von der ‚vorderen‘ bis zur ‚hinteren‘ Umschlagseite und vice versa) gelesen werden kann: Die Geschichte des Helden M. Acquefacques beginnt zweimal, und in der Buch-Mitte begegnen sich beide Teilgeschichten, ‚durchkreuzen sich‘ – und finden in ihrem jeweiligen Komplement eine Fortsetzung. Der Buchraum erweist sich als ein doppelter Raum – der den Leser mitten in der Lektüre zu einer Drehbewegung provoziert. In dem Band La 2,333e dimension geht es explizit um die Differenz zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, also um Flächigkeit und Räumlichkeit. Auch Le processus dreht sich alles um die Differenz zwischen dem, was der Comic ist (ein flächiges Gebilde), und dem, was er darstellt (räumliche Gegebenheiten). Mit seinen selbstreflexiven Comics thematisiert Mathieu den Raum, in dem seine Figuren agieren, als durch illudierende Verfahren erzeugten Schein-Raum – erzählt aber auch von angeblichen Übertritten flächiger Figuren in die Dreidimensionalität. Einem der Bände Mathieus ist eine 3-D-Brille beigelegt, die es dem Leser leichter machen soll, diese Suggestion nachzuvollziehen. In Le processus trifft man an einer Stelle beim Umblättern auf eine ins Papier geschnittene Spirale, die ganz konkret die Vermittlung zwischen Zwei- und Dreidimensionalität herstellt, indem sie sich durch den Akt des Blätterns auseinanderzieht und zum räumlichen Gebilde wird. An anderer Stelle übernehmen Ausstanzungen analoge ‚verräumlichende‘ Funktionen. All dies geschieht anlässlich von Geschichten, die in labyrinthischen Räumen spielen und von einem nach Orientierung suchenden Helden handeln. Inhaltlich bestehen komplexe Beziehungen zur Sphäre der literarischen Texte, insbesondere zu dem oftmals mit Labyrinthik assoziierten Kafka (dessen Namenspalindrom der Held Mathieus, Acquefacques=Akfak, trägt) sowie zu Borges. Insgesamt stellen Mathieus Bild-Geschichten originelle Beispiele für die Möglichkeit räumlicher Buchgestaltung im Medium Comic/ Graphic Novel dar. Dieses Genre erkundet hier seine Brückenfunktion zwischen Literatur und bildender Kunst, literarischem Erzäh-
Das Buch als labyrinthischer Raum
len und materiell-konkreter Buchgestaltung, – und zwar im konsequenten Rückgriff auf das Modell vom Buch als Labyrinth, einem Modell, das in verschiedenen Variationen durchgespielt wird. Eine These zum (vorläufigen) Abschluss: Geht es mit der Realisation von Labyrinthen von der Antike bis heute u.a. um das Labyrinth als prägnante Metapher der Welterfahrung, so kommt in der Gegenwartsliteratur und -kunst dem Buchlabyrinth eine prominente Stellung zu. So wie beispielsweise das Kirchenbodenmosaik in besonderem Maße dem Ausdrucks- und Meditationsbedürfnis der frühchristlichen Ära und das Irrgartenlabyrinth dem ästhetischen Sinn der Renaissance entgegenkam, so ist das Labyrinthbuch die materielle Realisationsform des Labyrinthischen, die – im 20. Jahrhundert entwickelt – den zeitgenössischen Modalitäten der Erfahrung und Interpretation von Welt in besonders hohem Maße entspricht.
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Monika Schmitz-Emans
Literatur
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Art. „Labyrinth“ (Lima de Freitas) (1987). In: Mircea Eliade, Mircea (Hg.): The Encyclopedia of Religion. Bd. 8. London: Macmillan Adler, Jeremy / Ernst, Ulrich (1987): Text als Figur. Weinheim: VCH Danielewski, Mark Z.: (2000): House of Leaves. New York: Pantheon Books Eco, Umberto (1980): Il nome della rosa. Mailand: Bompiani Eco, Umberto (1984) [zuerst 1983]: Nachschrift zum „Namen der Rose“. München/Wien: Carl Hanser. Hier: Die Metaphysik des Kriminalromans (S. 63ff.) Eco, Umberto (1985) [zuerst 1984]: Semiotik und Philosophie der Sprache. Übers. v. Trabant-Rommel, Christiane / Trabant, Jürgen. München: Wilhelm Fink Ernst, Ulrich (1990): Labyrinthe aus Lettern. Visuelle Poesie als Konstante europäischer Literatur. In: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung. S. 197-215 Fahrner, Barbara / Fahrner, Markus u.a. (1998-2003): Zweite Enzyklopädie von Tlön, 1998 bis 2003. Frankfurt am Main: Selbstverlag. Siehe auch: http://www.fahrnerandfahrner.com Kern, Hermann (1995) [zuerst 1982]: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen eines Urbilds. München: Prestel Ketelhodt, Ines von / Malutzki, Peter (2007): Zweite Enzyklopädie von Tlön. Buchkunstprojekt 1997-2006, Flörsheim: Ketelhodt. Dazu: Ketelhodt, Ines von / Malutzki, Peter (2007) (Hg.): Zweite Enzyklopädie von Tlön. Katalog. Flörsheim: Ketelhodt Lonegren, Sig (1993) [zuerst 1991]: Labyrinthe. Antike Mythen & moderne Nutzungsmöglichkeiten. Übers. v. Andreas Jonda. Frankfurt am Main: Zweitausendeins Mathieu, Marc-Antoine (1999) [zuerst 1990]: Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Der Ursprung. Übers. v. Sachse, Harald. Berlin: Reprodukt. (Originaltitel: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. L’ORIGINE. Paris: Guy Delcourt Pruductions Mathieu, Marc-Antoine (2004) [zuerst 1991]: Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Die Vier F... Übers. v. Sachse, Harald. Berlin: Reprodukt. (Originaltitel: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. LA QU... Paris: Guy Delcourt Pruductions) Mathieu, Marc-Antoine (2008) [zuerst 1993]: Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Der Wirbel. Übers. v. Sachse, Harald. Berlin: Reprodukt. (Originaltitel: Julius Coren-
Das Buch als labyrinthischer Raum
tin Acquefacques, prisonnier des rêves. LE PROCESSUS. Paris: Guy Delcourt Pruductions) Mathieu, Marc-Antoine (1995): Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Der Anfang vom Ende – Das Ende vom Anfang. Übers. v. Sachse, Harald. Hamburg: Carlsen. (Originaltitel: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. LE DÉBUT DE LA FIN – LA FIN DU DÉBUT. Paris: Guy Delcourt Pruductions) Mathieu, Marc-Antoine (2004) [zuerst 1993]: Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Die 2,333. Dimension. Übers. v. Budde, Martin. Berlin: Reprodukt. (Originaltitel: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. LA 2,333e DIMENSION. Paris: Guy Delcourt Pruductions)
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Zuzanna Jakubowski
Separate Spheres: Atmosphärische, textuelle und metaphorische Gefühlsräume in Romanen der Schwestern Brontë1 Im Folgenden soll es nicht um ein bestimmtes Gefühl2 – wie Liebe, Trauer oder Wut – und seine literarische Darstellung gehen, sondern um mögliche Arten der Realisierung von Gefühlsräumen in literarischen Texten: Im Werk der Schwestern Brontë können atmosphärische, textuelle und metaphorische Gefühlsräume ausgemacht werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Ausleben und Unterdrücken von Gefühlen, dem Verhältnis von Gefühl, Regulation und Macht im Verhältnis zu räumlichen Konstellationen in 1
Die folgenden Ausführungen basieren auf meinen Überlegungen zu geschlechtsspezifisch codierten literarischen Räumen im Werk der Brontës und ihrer inhärenten Destabilisierung, die unter dem Titel Moors, Mansions, and Museum. Transgressing Gendered Spaces in Novels of the Brontë Sisters 2010 erschienen sind. Die Erweiterung um die Dimension Gefühlsräume schien aufgrund der Beschaffenheit der Romane vielversprechend. (Vgl. Jakubowski 2010)
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In der Emotionsforschung wird immer auch über Termini diskutiert, im Besonderen über Unterschiede in der Verwendung von ‚Gefühl‘, ‚Affekt‘, ‚Emotion‘: „Strittig ist, ob ‚Fühlen‘ physisch oder psychisch gedacht wird, hinzu kommt die Frage, welche Wertungen und Bedeutungen mit dem Ausdruck ‚Gefühl‘ (‚tief‘ und ‚echt‘) im Unterschied zu Affekt (‚oberflächlich‘ und ‚artifiziell‘) verbunden werden. Demgegenüber erscheint der Terminus ‚Emotionalität‘ [...] vergleichsweise neutral, zumal wenn man, wie es hier geschieht, von der Grundbedeutung ‚Bewegung‘ (lat. motio) ausgeht.“ (Benthien et al. 2000, 10) Die vorliegende Arbeit soll keinen Beitrag zu dieser Debatte leisten und verwendet Emotion und Gefühl synonym als sprachliche Bezeichnung eines bestimmten, im Folgenden noch näher zu erläuternden, mentalen Phänomens.
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Separate Spheres
drei exemplarisch gewählten Romanen. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die geschlechtliche Codierung der Räume für die literarische Darstellung von Emotionen spielt. Zentrale These wird sein, dass die Gefühlsräume in den Texten der Schwestern Brontë das viktorianische Prinzip der separate spheres destabilisieren, indem sie normierte räumliche und emotionale Grenzen überschreiten und somit auch dazu beitragen, Geschlechterbinarismen zu hinterfragen. Ich werde zunächst auf die Produktion von Raum, das Verhältnis von Gefühl und Raum und auf die Spezifika viktorianischer Gefühlsräume eingehen. Anschließend werde ich mich auf die Destabilisierung von Gefühlsräumen und im Besonderen auf die räumliche Darstellung unterdrückter und hervorbrechender Emotionen in Emily Brontës Wuthering Heights (1847), Anne Brontës The Tenant of Wildfell Hall (1848) und Charlotte Brontës Villette (1853) konzentrieren.
Literarische Gefühle Wie aber treten Gefühle in der Literatur in Erscheinung?3 Laut Simone Winkos grundlegender literaturwissenschaftlicher Arbeit zu Emotionen in literarischen Texten werden Emotionen in der Literatur entweder thematisiert („Figuren oder die Erzählinstanz sprechen über Emotionen, seien es ihre eigenen oder die anderer Figuren, oder sie reflektieren abstrakt über Emotionen“, Winko 2003, 47) oder dargestellt („vermittelt über die Handlung des Textes, das Verhalten der Figuren, über Situationen, in denen Figuren agieren bzw. die sie hervorrufen, und über Objekte, mit denen umgegangen wird oder die beschrieben werden“, Winko 2003, 47). Im Werk der Brontës möchte ich den zweiten Fall, die indirekte Darstellung von Emotionen über Raumkonstellationen, beschreiben. Emotionen sind dabei zu verstehen als mentale Phänomene, die, auf einer physiologischen Grundlage basierend, zwar vom einzelnen als unmittelbar erfahren werden, deren Erleben aber kulturell geprägt ist (Winko 2003, 109). Und wenn das Erleben von Gefühlen kulturell vermittelt ist, obliegt es auch einer ideologischen Kontrolle. Die „Verwaltung der Gefühle“, die stets „auf Macht durch menschliche Selbst- und Weltbemächtigung“ ausgerichtet ist, findet laut Hermann Schmitz, außer in Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft, vor allem auch im „Kultursystem [...] der Phantasie, das hauptsächlich von der Dichtung besetzt wird“, statt 3
Es wird im Folgen ausschließlich um Gefühle auf der werkästhetischen, nicht aber der rezeptionsästhetischen Ebene gehen.
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(Schmitz 2000, 53). Gefühle in der Literatur erhalten somit eine nicht zu ignorierende machtpolitische Dimension, die Aufschluss gibt über die „emotionalen Regeln“ (Winko 2003, 109) einer Kultur, diese aber auch in Zweifel ziehen kann. Gefühle werden verwaltet, normiert, reglementiert; sie wirken auf den Fühlenden unvermittelt und sind doch in ihrer Wahrnehmung immer schon kulturell ‚kodiert‘ (Winko 2003, 109). Simone Winko stimmt Hermann Schmitz‘ These von einer Verwaltung der Gefühle durch die Dichtung zu, wenn sie feststellt, dass die Sprache ein zentrales Medium der Kodierung von Emotionen darstellt (Winko 2003, 109). Sprache, besonders Dichtung, bietet aber auch die Möglichkeit, gängige Normierungen infrage zu stellen bzw. zu destabilisieren. Das macht eine Analyse der Gefühlsräume im Werke der Schwestern Brontë fruchtbar für eine gender-kritische Lektüre, denn die literarische wie ‚lebensweltliche‘ Gefühlsreglementierung vollzog sich im viktorianischen England entlang der geschlechtsspezifischen separate spheres.4 Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es daher, das kulturelle Wissen um Emotionen und die normierenden emotionalen Regeln (Winko 2003, 109) aus den Gefühlsräumen der Schwestern Brontë herauszulesen bzw. den ihrem Werk eigenen literarischen Umgang mit räumlichen und emotionalen Normen zu ergründen.5
Die Produktion von literarischem Raum Raum bzw. die Produktion von Raum wird in den aktuellen Sozialund Kulturwissenschaften als ein vielschichtiger und häufig inkon4
„Schließlich und nicht zuletzt bleibt die Frage der kulturellen Zuordnung einzelner Affekte - wie auch bestimmter Gefühlszustände und der Affektivität im Allgemeinen - zur Binarität der Geschlechter zu untersuchen: Frauen galten und gelten zumeist als unkontrollierter und emotionaler. ‚Negative‘ Gefühle wie Trauer, Angst, Schmerz oder Scham wurden im historischen Prozeß immer wieder vorzugsweise weiblich codiert.“ (Benthien et al. 2000, 9) Zu erzähltem Raum als Ausdruck der Geschlechterordnung vgl. Würzbach 2001.
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„Zum Wissen einer Kultur gehört das Wissen über die psychophysische Beschaffenheit und Ausdrucksform von Emotionen sowie die normierenden ‚emotionalen Regeln‘, die festlegen, in welchen Situationen ein Individuum welche Emotionen fühlen sollte und welche Form des Ausdrucks als adäquat gilt. Dieses Wissen bestimmt nicht nur den kommunizierten Ausdruck, sondern bereits die subjektive Wahrnehmung von Emotionen. (...) Kulturelles Wissen und Regeln lassen sich über die Analyse emotionaler Kodierungen erschließen: Semiotische betrachtet, stellen Emotionen einen eigenständigen Kode dar und sind zugleich selbst kulturell kodiert. Diese Kodierungen repräsentieren das gemeinsame kulturelle Wissen über Emotionen (...).“ (Winko 2003, 109, Hervorhebungen im Original.)
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sistenter Prozess sozialer und vor allem auch kultureller Handlungen und Beziehungen konzeptualisiert. Man kann mit Henry Lefebvre sagen, dass Räume, seien sie ‚lebensweltlicher‘ oder literarischer Natur, Produkte sozialer Praktiken sind, die von konkreten Machtverhältnissen abhängen. Als Produkte sozialer Praktiken sind Räume – auch literarische – wesentlich bestimmt durch soziale Unterschiede. Dies lässt sie als Träger von Machtgefügen erscheinen (Lefebvre 2006, Lefebvre 1999).6 Die Produktion von Raum ist dabei nicht als ein singulärer, freiwilliger Handlungsakt zu verstehen, sondern vielmehr als eine Reihe von obligatorischen, sich wiederholenden und vor allem auf lebensweltliche Bezugsfelder verweisenden Handlungen. In diesem Lichte betrachtet erscheint die künstlerische Teilhabe an der (Re-)Produktion sozialer Räume besonders aufschlussreich, thematisiert sie doch auch die Affirmation und Infragestellung existierender räumlicher Arrangements und der dazugehörigen Machtverhältnisse. Liest man literarische Räume als performative Prozesse, so öffnet man sie gegenüber den emanzipatorischen Bestrebungen von Minoritäten. Das Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert und die damit verbundene Verlagerung des Arbeitsplatzes von einem privaten in einen öffentlichen Raum bringt eine Reorganisation des sozialen räumlichen Gefüges und seiner Wahrnehmung mit sich, die sich auch auf die literarischen Raum-Imaginationen auswirkt. Auch die veränderten Geschlechterrollen innerhalb des erstarkenden Bürgertums spielen hierbei eine Rolle: Das zentrale Bild für die Trennung von Mann und Frau entlang der ideologischen Grenze des Öffentlichen und Privaten im Großbritannien des 19. Jahrhunderts ist die Vorstellung der separate spheres.7 Aus der Perspektive der Gender Studies ist dabei zum einen die gesellschaftshistorische Dimension viktorianischer Raumproduktion von Bedeutung, zum anderen aber auch der geschlechterspezifische Produktions- und Vereinnahmungsprozess dieser Räume in visuellen Medien und literarischen Texten.
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In ihrem Essayband Making a Social Body. British Cultural Formation 1830-1864 folgt Mary Poovey (1987) Henri Lefebvres Auffassung einer sozialen Herstellung von Raum, wenn sie konstatiert, dass die sozialen und ideologischen Umwälzungen der Industrialisierung zur Entstehung sozialen Raums führten. Ihre zentrale These besagt, dass der moderne Kapitalismus nach einer fundamentalen Reorganisation des Raums verlangte. Ihre Beispiele für neu entstehende Räume sind z.B. die Fabrik oder auch das Empire.
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Für eine umfassende Untersuchung zum männlichen und weiblichen Ideal im viktorianischen England und zur Ideologie der separate spheres vgl. Davidoff / Hall 2002.
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Ich möchte hier von der These ausgehen, dass die Romane der Schwestern Brontë das viktorianische Konzept der separate spheres auch in Bezug auf die binäre Gefühlswelt (d.h. die Unterscheidung in männliche und weibliche Gefühle, sowie die Differenz zwischen innerem Gefühl und äußerem Ausdruck) sowohl reflektieren und (re-)produzieren als auch zugleich die Grenzen zwischen weiblichen und männlichen Räumen auf subtile Weise immer wieder überschreiten. Das veranlasst zu der Annahme, dass diese Grenze durchlässiger ist als gemeinhin angenommen wird und ihre Beschreibung nicht zwangsläufig in Dichotomien verhaftet bleibt.8 Das Œuvre der Schwestern Brontë hinterfragt somit die vermeintliche Undurchlässigkeit der viktorianischen Dichotomie männlicher und weiblicher, öffentlicher und privater Räume und geschlechtsspezifischer Gefühlszuschreibungen, ohne sie nur zu invertieren.
„Buried in trees“ and „bleak hill top“ – atmosphärische Gefühlsräume
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Angesiedelt in der rauen Naturlandschaft Yorkshires, vermittelt Emily Brontës Wuthering Heights einen Eindruck extremer Räumlichkeit. Schon der Titel, zu Deutsch „Sturmhöhe“, drückt ein Gefühl gleichzeitiger räumlicher Exponiertheit und Unstetigkeit aus. In der Brontë-Forschung wurde daher wiederholt bemerkt, dass Wuthering Heights den Eindruck beim Leser erwecke, ebenso sehr von der Landschaft und dem Wetter zu handeln wie von den Figuren (Stoneman 1998, xii). Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Hermann Schmitz von Gefühlen als räumlichen Atmosphären sprechen: „Gefühle sind räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären, vergleichbar dem Wetter (...)“ (Schmitz 2000, 42). Niklas Luhmann aber besteht auf der Bindung zwischen Atmosphären, auch literarischen, und den Dingen / Räumen, die sie erzeugen: „Ein besetzter Raum läßt Atmosphären entstehen. Bezogen auf die Einzeldinge, die die Raumstellen besetzen, ist Atmosphäre jeweils das, was sie nicht sind, nämlich die andere Seite ihrer Form; also auch das, was mit verschwinden würde, wenn sie verschwänden“ (Luhmann 1995, 181). So führt Luhmann weiter aus, dass „jede Stellenbesetzung eine Umgebung schafft, die nicht das jeweils festgelegte Ding ist, aber auch nicht ohne es Umgebung sein könnte“ (Luhmann 1995, 181). Die rivalisierenden Anwesen 8
Zur Dichotomie des Privaten und Öffentlichen vgl. Pohl 2008, Chase, Levenson 2000, Davidoff 1995.
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in Wuthering Heights sind Atmosphären hervorbringende „Raumstellen“. Auch wenn die anfängliche Symmetrie des Settings und der Figuren im Verlauf des Romans zerfällt9, die beiden Anwesen bilden zunächst einmal die offensichtlichen räumlichen und affektiven Antagonismen des Romans. Ich möchte die zwei Häuser im Folgenden als atmosphärische Gefühlsräume –, im Sinne von literarischem Setting, also Raumbeschreibungen – begreifen, als Orte literarisch realisierter Wechselwirkung von Raum und Gefühl. Wuthering Heights sind Haus und Hof der Land bestellenden, von häuslicher Gewalt geprägten Familie Earnshaw, Thrushcross Grange ist Sitz der Land besitzenden, vornehmen Familie Linton.10 Das Anwesen Wuthering Heights vereint Küche und Wohnzimmer in einem schlichten Raum und wird markiert von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs, wie einfachem Geschirr, Vorräten, einer offenen Feuer- und Kochstelle, Waffen und anderen Jagdutensilien (vgl. E. Brontë 1998, 3). Wuthering Heights wurde von der Forschung als „functional place“ identifiziert, während Thrushcross Grange sich als „place of leisure“ (Stoneman 1998, xvii) präsentiert: Rote Plüschteppiche und Polsterungen, weiß-goldener Stuck, Schoßhunde, Süßigkeiten und ein kristallener Kronleuchter entlarven Thrushcross Grange als das direkte Gegenteil von funktional und somit das Gegenstück zu den Heights (vgl. E. Brontë 1998, 41-42). Der Antagonismus zwischen den beiden Häusern beschränkt sich jedoch nicht auf die Einrichtung, sondern erstreckt sich auch auf die landschaftliche Situierung und die Beschreibung der Architektur. Thrushcross Grange liegt im Tal, vergraben zwischen Bäumen („buried in trees“, E. Brontë 1998, 181), inmitten eines gepflegten Parks, Wuthering Heights auf einer Anhöhe („bleak hill top“, 9
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C.P. Sanger (1926) beschreibt den symmetrischen Stammbaum in Wuthering Heights und etablierte somit eine binäre Lesart des Texts. Die scheinbare Symmetrie des Figurenensembles (Catherine und Heathcliff – Edgar und Isabella) und des Settings (Wuthering Heights – Thrushcross Grange) sowie der damit assoziierten Affekte (wild – friedlich) wird mit dem Auftreten einer zweiten Generation aber verkompliziert. Catherine heiratet Edgar und wechselt somit auch räumlich die Seiten. Ihre Tochter Cathy fühlt sich nach dem Tod ihrer Mutter gefangen innerhalb der kultivierten Mauern von Thrushcross Grange, erlebt wahre Gefangenheit aber erst auf Wuthering Heights als Heathcliffs Mündel. Dieser heiratet aus Rache Isabella und lebt nach ihrem Tod mit dem gemeinsamen, ungeliebten Kind Linton auf Wuthering Heights. Ohne weiter ins Detail gehen zu müssen, wird aus dieser verkürzten Darstellung bereits klar, dass die zunächst etablierte Symmetrie durch eine Verschiebung der Positionen aufgehoben wird. Terry Eagleton (1975) hat darauf verwiesen, dass die Raumverteilung in Wuthering Heights auch in marxistisch-materialistischen Begriffen bedeutsam ist, nämlich als Aufeinandertreffen zweier ökonomischer Prinzipien, dem des Kleingrundbesitzes und dem des erstarkenden Kapitalismus.
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E. Brontë 1998, 6), dem Wetter ausgesetzt, umgeben von verwildertem Moor. Durch die schmalen Fenster der Heights („deeply set in the wall, and the corners defended with large jutting stones”, (E. Brontë 1998, 2), wirken die Heights wie der unheimliche Handlungsort einer gothic novel. Die „low-browed lattices“ (E. Brontë 1998, 182) von Thrushcross Grange im Gegenzug sind einladend und offen. Die zwei Anwesen und ihre affektive Besetzung könnten nicht unterschiedlicher sein. Entsprechend wurde der Roman lange Zeit als eine Polarisierung sich ausschließender affektiver Gegensätze gelesen: Ruhe/Sturm, hell/dunkel, Kultiviertheit/Brutalität, Grange/Heights (vgl. Frith 1997, 243). Es findet jedoch nicht bloß eine simple Inversion der zunächst etablierten Gegensätze, Räume und Gefühlskonstellationen statt, sondern eine Verschachtelung der Positionen und ihrer moralischen Wertung bis zu ihrer Unentwirrbarkeit. Dabei spielt das regelmäßige Übertreten von Gutsgrenzen in beide Richtungen sowie die Doppelbenennung der Figuren (Catherine Earnshaw Linton, Cathy Linton Heathcliff Earnshaw, Edgar Linton, Linton Heathcliff ) eine bedeutende Rolle. Bei genauerer Lektüre und mithilfe der theoretischen Überlegungen Gilles Deleuzes und Félix Guattaris wird die Instabilität des vermeintlichen räumlichen Antagonismus deutlich; die durchaus als ideologisch zu verstehende räumliche und affektive Opposition wird strukturell aufgebrochen: Das als gesittet und geschützt dargestellte Thrushcross Grange ist umgeben von hohen Mauern, das exponierte und Gewalt fördernde Wuthering Heights hingegen von unbegrenzter Natur. Der vermeintlich offene Raum ist umgeben von einem geschlossenen, der vermeintlich geschlossene von einem offenen (vgl. Taubenböck 2002, 115). Mit der Begrifflichkeit von Deleuze/Guattari können das Moor und der Park als glatter und als gekerbter Raum identifiziert werden:
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Es ist so, als ob sich ein glatter Raum loslöste, aus einem gekerbtem Raum hervorginge, und zwar nicht ohne eine Korrelation beider, die sich wechselseitig wieder aufnehmen, eine Weiterentwicklung des einen durch das andere, und dennoch eine komplexe Differenz, die sich fortsetzte. (Deleuze/Guattari 1980, 661) So wird durch die Einbettung eines räumlichen Gegenteils effektiv die vereinfachende räumliche Opposition in Frage gestellt und mit ihr die antagonistische Gefühlswelt der Protagonisten. Die Veruneindeutigung räumlicher Opposition beschränkt sich hier nicht auf die umgebende Landschaft, sondern lässt sich auch anhand zwei weiterer Gefühlsräume illustrieren, die das Innerste der Anwesen ausmachen. Wuthering Heights, durchweg als Hort
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von Gewalt, Unterdrückung und unkontrollierter Gefühlsausbrüche portraitiert, besitzt einen friedlichen Kern: A high wind blustered round the house, and roared in the chimney: it sounded wild and stormy, yet it was not cold, and we were all together – I, a little removed from the hearth, busy at knitting, and Joseph reading his Bible near the table (...) Miss Cathy (...) leant against her father’s knee, and Heathcliff was lying on the floor with his head in her lap. (E. Brontë 1998, 37) Von einer bedrohlichen Natur („roared“, „wild and stormy“) umgeben, sitzen die Bewohner der Heights friedlich beieinander. In Thrushcross Grange hingegen spielen sich Szenen ab, die die bisherige Charakterisierung des Herrenhauses als Ort des Friedens in Frage stellen: Isabella (...) lay screaming at the farthest end of the room, shrieking as if witches were running red hot needles into her. Edgar stood on the hearth weeping silently, and in the middle of the table sat a little dog, shaking its paw and yelping, which, from their mutual accusations, we understood they had nearly pulled in two between them. (...) yelling, and sobbing, and rolling on the ground, divided by the whole room (...). (E. Brontë 1998, 42) Die Trennung der Kinder in der zweiten Szene durch „the whole room“ steht in klarem Kontrast zu der räumlichen Nähe der Personen in der ersten. Deutlich wird aus diesen exemplarischen Zitaten auch die affektive Aufladung der Räume in Wuthering Heights: Während Thrushcross Grange hier geprägt ist von einer Kaskade ungezügelter Gefühlsausdrücke („screaming“, „shrieking“, „weeping“, „yelling“, „sobbing“, „rolling on the ground“), zeigt sich Wuthering Heights als friedvolles Auge des Orkans. Das Setting des Romans ist weder rein fantastisch oder gothic, noch rein realistisch, die räumlichen Beschreibungen oszillieren zwischen diesen Polen und immer wieder werden die Grenzen von den Bewohnern durchbrochen, unterwandert, destabilisiert. Die Feststellung, dass Wuthering Heights ebenso sehr von Landschaft und Wetter handele wie von den Figuren, weist bereits auf eine Verschränkung und Bedingtheit von Gefühlen, Räumen und Atmosphären in Hermann Schmitz’ Sinn hin (Blume / Demmerling 2007, 118). Die Inversion positiver und negativer räumlicher und emotionaler Konnotationen untergräbt die normativen Oppositionen im Roman. Das Oszillieren der Räume (und Emotionen) zwischen glattem und gekerbtem Zustand stellt die starren Dichotomien räumlich-emotionaler Zuweisung und ihrer sozio-kulturellen
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Denotationen in Frage, bringt sie doch eine „dissymetrische Bewegung“ (Deleuze / Guattari 1980, 668) hervor.
„Whispering to the fishes“ – das Tagebuch als textueller Gefühlsraum
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Ich möchte im folgenden Anne Brontës Roman The Tenant of Wildfell Hall (1848) als Aneignung von textuellen Gefühlsräumen lesen. Der Roman erzählt die Geschichte einer Frau, die sich ihrem gewalttätigen Mann sexuell verweigert, ihn verlässt und (das ist das eigentlich Empörende) anschließend sich und das gemeinsame Kind mit dem Erlös aus ihren künstlerischen Fertigkeiten durchbringt. Die Struktur des Werks – es handelt sich um einen dreiteiligen Briefroman mit wechselnder, palimpsestartig geschichteter Erzählperspektive – ist in ihrer Komplexität mit der verschachtelten Erzählsituation in Wuthering Heights vergleichbar.11 Auch hier berichtet ein männlicher Erzähler, Gilbert Markham, in der Retrospektive von erschütternden Ereignissen, und auch hier macht sich eine sich widersprechende, auf den ersten Blick nur verdeckt bzw. vermittelt zu Wort kommende Stimme bemerkbar: die von Helen Huntingdon, der Protagonistin des Romans. Ihre Gefühle und ihre eigene Version der Ereignisse, dargelegt in einem Tagebuch, das den mittleren Teil des Romans ausmacht, werden gerahmt von den Briefen Gilberts an seinen Schwager. Neben den Tagebuchauszügen und den Briefen enthält der Roman auch noch Briefe von Helen an ihren Bruder, die alle (bis zu einem gewissen Grad) von der Erzählstimme Gilberts gebrochen werden. Zwischen Gilbert und Helen entspinnt sich eine Liebesbeziehung. Ich möchte diese auf einem komplexen Austausch von Texten basierende Struktur (vgl. Jay 2000, 41) als literarischen bzw. textuellen Gefühlsraum verstehen, in dem auf den ersten Blick Helens Stimme von der Gilberts eingeschlossen 11
„Wuthering Heights has a double frame, as its world is doubly removed from that of its readers, but Lockwood, the first narrator we encounter, is far from an all-knowing ‚author’.“ (Stoneman 1998, xx) Neben dem unzuverlässigen, weil außen stehenden Erzähler Lockwood ist Nelly Dean eine weitere voreingenommene Erzählerin, die die zweite Ebene der Vermittlung bilde, und deren Stimme der Leser nur durch Lockwoods Erzählung präsentiert bekommt. Im Innersten der narrativen Verschachtelung finden sich Catherine und Heathcliff (ebenso wie die verbleibenden Nebenfiguren), die stets von innen nach außen, gegen die normentreue Erzählung Lockwoods drängen: „Rather than (...) an equilibrium between ‚storm’ and ‚calm’, we have something more like a restless force – Catherine and Heathcliff – continually pushing against an encircling framework of religion, propriety, and social expectations“. (Stoneman 1998, xiii)
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wird, wie Sandra Gilbert und Susan Gubar es für die von Frauen verfasste Literatur des 19. Jahrhunderts postulieren: „Figuratively, such women were, as we have seen, locked into male texts, texts from which they could escape only through ingenuity and indirection” (Gilbert, Gubar 1979, 83). Die narrative Struktur von The Tenant of Wildfell Hall wurde zumeist als Erzählstrategie gedeutet, mit der Anstößigkeit des Themas (d.h. häusliche Gewalt) vermittelt umzugehen (Jacobs 2003, 219). Das den Mittelteil des Romans ausmachende Tagebuch wurde von der Brontë-Forschung jedoch unterschiedlich aufgefasst. So empfindet Winifred Gérin Helens Tagebuch als Störung der Liebesgeschichte (vgl. Gérin 1959, 254). Inga Stina Ewbank vermisst eine gelungene Einbindung des Mittelteils durch die narrative Rahmung (vgl. Ewbank 1966, 84). In „Helen’s Diary Freshly Considered“ attestiert Lori A. Paige dem Tagebuch eine meta-textuelle Bedeutung für den Roman (vgl. Paige 1991). Naomi Jacobs befindet, dass der Bruch zwischen männlicher und weiblicher Erzählsphäre den der separate spheres repliziere (vgl. Jacobs 2003, 217). Des Weiteren wurde die Einbettung der Protagonistin in den Erzählfluss Gilberts auch als Marginalisierung und Objektifizierung der Frau durch das Patriarchat gewertet (Jacobs 2003, 221; Langland 1996, 494). Für die letzte These spricht, dass Helen als verhandelbares Objekt (der Begierde) im Briefwechsel zwischen Gilbert und seinem Schwager auftritt (Jay 2000, 39), dass Gilbert offen zugibt, Helens Tagebuch zensiert zu haben, und auch sein Fetischisieren von Helens Briefen: „Were not these characters written by her hand? And were not these words conceived by her mind, and many of them spoken by her lips?“ (A. Brontë 1998, 415). Während die narrative Rahmung in The Tenant of Wildfell Hall von der Forschung unterschiedlich interpretiert wird, lässt sich das Tagebuch zunächst einmal als emotionaler Ausdrucksort ausmachen. Der Befund darüber, ob das Tagebuch nun ausschließlich als ein die patriarchale Struktur replizierendes Moment verstanden werden kann, lässt sich anhand der Genese der Gefühlsräume, an deren Ende das Tagebuch steht, erstellen. Im Verlauf des Romans eignet sich Helen eine ganze Reihe künstlerischer Räume an, die es ihr erlauben, sich emotional auszudrücken und ihr Einkommen zu sichern: Da wären zunächst ihre Jugendmalerei, die Bibliothek im Haus ihres Mannes, das Atelier in Wildfell Hall und, in zwei Instanzen, ihr Tagebuch. Ich behandele das Tagebuch im folgenden auf zweierlei Weise: zum einen als Objekt im Roman, als Gefühlsraum, an dem die Protagonistin Zuflucht findet, und zum anderen als Element des Texts, als Mittelteil des Romans und als einen der patriarchalen Erzählung zumindest strukturell entgegengesetzten textuel-
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len Gefühlsraum.12 Zentraler Aspekt meiner Betrachtungen ist die Spannung zwischen dem Gefühlsausdruck und seiner Kontrolle. Im 19. Jahrhundert erreicht in Europa die Introjektion, also historische Verinnerlichung der Gefühle, ihren Höhepunkt (vgl. Benthien et al. 2000, 11).13 Martina Kessel geht in ihrer Arbeit zu Affektkontrolle und Gefühlsehnsucht im 19. Jahrhundert in diesem Zusammenhang auf Norbert Elias‘ Analyse einer Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge ein: „Im Verinnerlichungsschub der Aufklärung wurde diese Arbeit an der eigenen Persönlichkeit programmatisch und intentional (Kessel 2000, 156-157, vgl. Elias 1939). Selbstkontrolle und Gefühlsbeherrschung werden zu zentralen Leitwerten im 19. Jahrhundert, auch wenn sie ihr Gegenteil – die Sehnsucht nach ‚unaffektiertem‘, ‚echtem‘ Gefühl – als konstituierendes Spannungsfeld immer mit sich führen (Kessel 2000, 156f ).14 Das Oszillieren zwischen Gefühlsausdruck und Selbstkontrolle tritt als räumliche Struktur in den hier besprochenen Romanen hervor. In Wuthering Heights wird den beiden Häusern je Gefühlsausbruch und Gefühlskontrolle zugeschrieben und im Zuge des Romans diese Zuschreibung veruneindeutigt. The Tenant of Wildfell Hall thematisiert die Notwendigkeit der Selbstkontrolle für eine Frau im viktorianischen England, das von „nicht-egalitären Gefühlsstandards“ für die Geschlechter geprägt war (Kessel 2000, 172)15, anhand der Progression von Gefühlsräumen, die Helen zur Verfügung stehen. Die Räume, die Helen für sich beansprucht, sind alle im weitesten Sine künstlerischer Art. Der erste Gefühlsraum, in dem Helen 12
Elizabeth Berry benennt die doppelte Funktion von Helens Tagebuch als „part of the narrative structure“ und als ein „element of structural imagery in itself“ (Berry 1994, 72-73).
13
„In der Soziologie, der philosophischen Phänomenologie ebenso wie der Psychoanalyse hat sich die Vorstellung von der ‚Introjektion‘ als eine Leitthese herausgebildet. Demnach sind Gefühle in der abendländischen Kultur im Laufe des historischen Prozesses zunehmend verinnerlicht worden; in archaischer Zeit dagegen wurde das, was wir unter ‚Gefühlen‘ verstehen, mit externen, atmosphärischen Mächten identifiziert, die das Subjekt buchstäblich ‚ergreifen‘.“ (Benthien et al. 2000, 11)
14
„Dennoch werden spontane Reaktionen ebenso sichtbar wie die Rolle von Gefühlen in der Präsentation des Selbst oder Gefühlsstrategien, die nicht nur vom Wunsch nach Kontrolle geprägt waren, sondern auch von der Sehnsucht nach dem freien Lauf der Gefühle. Denn es war gerade die Ambivalenz zwischen Gefühlskontrolle und einer Forderung nach (kontrollierbarer) Leidenschaftlichkeit, die die Gefühlskultur des 19. Jahrhunderts prägte.“ (Kessel 2000, 157)
15
„Die Unfähigkeit, sich zu kontrollieren, wurde in diesem Rahmen Frauen und den Unterschichten zugeschrieben, während es zum normativen Kanon und zum Selbstverständnis von Männern der Oberschicht gehörte, sich als das Geschlecht darzustellen, das allein in der Lage sei, Gefühle zu beherrschen und daher auch zur Herrschaft in Politik und Gesellschaft berechtigt zu sein.“ (Kessel 2000, 157)
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ihren Gefühlen für Arthur Huntingdon Ausdruck verleihen kann, ist ihre Jugendmalerei. Roberta White bemerkt, dass viktorianische Damen, wenn sie auch keine professionelle Karriere als Künstlerinnen anzustreben hatten, sehr wohl um sogenannte „parlour skill[s]“ bemüht sein sollten, zu denen auch die Malerei zählte (White 2005, 16). Die junge Helen, sich der Fallstricke des Geschlechterverhältnisses noch nicht bewusst, verrät ihre Gefühle durch ein Porträt ihres Auserwählten, das sie bezeichnender Weise auf der Rückseite einer Zeichnung angefertigt hat. Als dieser es bemerkt, kommentiert er nicht nur die nötige Verschlüsselung von Gefühl (vgl. A. Brontë 1998, 147). Der neue ästhetische Raum (die Rückseiten ihrer Bilder, vgl. „aesthetic space“ Jay 2000, 45, Clapp 1996, 81), zunächst Ausdrucksraum des Begehrens, wird jedoch schnell zum Raum von Bedrohung. Helens emotionale ‚Freizügigkeit‘ führt vor und während ihrer Ehe zu Bloßstellung und Unterwerfung: ihr Portfolio wird in einer körperlich anmutenden Geste von Huntingdon schon vor der Trauung geradezu ‚ausgeweidet‘ („Let me have its bowels then’, said he, and just as I wrenched the portfolio from his hand, he deftly abstracted the greater part of its contents (...)“ A. Brontë 1998, 151). Als ihr Ehemann dann dringt er in ihren zweiten Ausdrucksraum ein, die Bibliothek, entwendet und liest ihr Tagebuch, den dritten Ausdrucksraum, und verbrennt ihre Malutensilien als er dem Tagebuch ihre Pläne zur künstlerischen Selbständigkeit entnimmt: „It’s well these women must be blabbing – if they haven’t a friend to talk to, they must whisper their secrets to the fishes, or write them on the sand or something (...)“ (A. Brontë 1998, 352). Gefühlsausdruck ist somit laut Huntingdon, seinem Zeitgeist entsprechend, ein Merkmal des weiblichen Geschlechts und wird Helen zum Verhängnis. Erst das eigene Atelier in Wildfell Hall, obwohl auch dieses vor neugierigen Nachbarn nicht gänzlich sicher ist, vermag Helen gegen Eindringlinge zu verteidigen. Jedoch ist es eben das Tagebuch, der textuelle Gefühlsraum, der der Handlung die entscheidende Wendung und Helen Autorität über ihre Gefühle verleiht. Nach Huntingdon kommt auch Markham in den Besitz von Helens Tagebuch und vermittelt seinen Inhalt weiter an seinen Freund Halford. Das Weiterreichen von Helens Aufzeichnungen kann durchaus als Akt der patriarchalen Aneignung aufgefasst werden,16 im Besonderen, da Markham diese auch ediert: „(...) a few passages here and there of merely temporal interest to the wri16
„The passing of a woman’s story between men in order to repair their intimacy represents an act of appropriation. Gilbert appears to be in possession of his wife’s diary, which he not only transcribes but also edits.“ (Jay 2000, 39)
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ter, or such as would serve to encumber the story rather than elucidate it“ (A. Brontë 1998, 122). Der entscheidende Unterschied zu Huntingdons Aneignung des Tagebuchs liegt aber darin, dass Helen Markham das Tagebuch aus freien Stücken übergibt, eben um ihn zu korrigieren und die Autorität über ihre Lebensgeschichte wiederzuerlangen. Und nicht nur das, sie ist auch diejenige, die eine entscheidende Zensur vornimmt, indem sie zunächst alle Seite herausreißt, die ihre Gefühle für ihn verraten könnten: „She did not speak, but flew to her desk, and snatching thence what seemed a thick album or manuscript volume, hastily tore away a few leaves from the end, and thrust the rest into my hand (...)“ (A. Brontë 1998, AB 121). Auch ist Helens Tagebuch in keiner Weise als mit weniger Autorität ausgestattet zu verstehen, bloß weil es sich um ein privates Dokument handelt. Textsorten ursprünglich privater Natur, wie Briefe oder Tagebücher, werden im 18. und 19. Jahrhundert zu weiblichen Gefühls- und Ausdrucksorten mit semi-öffentlichem Charakter, die gerade auch zur Überschreitung von „Gefühlsregeln“ oder aber zum strategischen Einsatz der eigenen Gefühle dienten (vgl. Kessel 2000, 167-168). Helens Tagebuch, das sich vordergründig mit romantischen, familiären und häuslichen Verhältnissen befasst, wird zum Ort für Gesellschaftskritik (vgl. Jay 2000, 36). Helen hat durch die Invasion ihrer Gefühlsräume gelernt, Gefühlskontrolle als Macht einzusetzen. Alisa Clapp hat gezeigt, dass es Helens Erfahrung mit künstlerischem Ausdrucksraum war (ihrer Jugend- und kommerziellen Malerei), die sie die Notwendigkeit gelehrt hat, ihre Gefühle zu kontrollieren und, wenn nötig, zu verstecken (vgl. Clapp 1996, 121). Gefühlskontrolle wird im 19. Jahrhundert zu einem zentralen Aspekt des Geschlechterverhältnisses:
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Das dynamische Verhältnis von Gefühlen und Macht zwischen den Geschlechtern erwies sich als sehr viel schwerer zu steuern, wenn Frauen sich weigerten, ihre Gefühle zu zeigen oder aber andere darüber sprechen zu lassen. Selbstkontrolle hieß für Frauen ihre Gefühle in Grenzen zu halten und diese gleichzeitig offen zu legen. Eine Verschlossenheit, die weder positive noch negative Gefühle verriet, implizierte eine Uneindeutigkeit, die die innere Bemächtigung durch andere erschwerte oder verweigerte. (Kessel 2000, 172) Es ist diese Uneindeutigkeit im Ausdruck ihrer Gefühle, derer sich Helen bedient, um Autonomie zu erlangen. Im Kampf um den Erzählanteil der Protagonisten, in der ständigen Transformation der Erzählhaltung, erscheint erneut das Motiv der Durchmischung der Räume, diesmal auf der Ebene des Tex-
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tes als literarischem Raum. Zudem diskreditiert sich Gilbert durch einen Mangel an Gefühlskontrolle (er schlägt und verletzt Helens Bruder im Glauben, dieser sei ihr Liebhaber), während Helen lernt, ihre Gefühle zu zügeln, worüber ihre Aufzeichnungen Auskunft geben. Helens Tagebuch wird zu einem Ort ästhetischer Subjektivität, einem Ort künstlerischen Ausdrucks für die Protagonistin. Helen beschreibt hierin ihre Gefühle, interpretiert, fixiert sie und therapiert sich darin auch selbst. Das widerständige Potential weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert wird in Anne Brontës Roman deutlich eben durch textuelle Räume, so die strukturelle Einbettung von Helens Tagebuch. Im dritten Teil des Romans scheinen dann Gilberts und Helens Stimmen eher bis zur Unkenntlichkeit zu verschmelzen als sich zu widersprechen (vgl. Langland 1996, 498). Dies macht wiederum den transgressiven Charakter der Raumkonstruktionen im Werk der Schwestern Brontë deutlich. Die vermeintlich im Erzählfluss des männlichen Erzählers gefangene Protagonistin korrigiert in ihrem Tagebuch dessen Fehleinschätzungen an entscheidenden Stellen in der Erzählung, macht ihn unglaubwürdig und erhält so schließlich auch ein solches Maß an narrativer Autorität und Gefühlskontrolle, dass sie als begehrendes Subjekt mit einer räumliche Grenzen überschreitenden Geste (Helen greift durch das offene Fenster hindurch nach einer Rose, die sie ihm dann überreicht) Markham einen Heiratsantrag machen kann (vgl. Langland 1996, 499f.). Dieser affektive Akt veruneindeutigt erneut die separate spheres und stellt die Stabilität dieser Grenze in Frage.
„A holy tent“ – das Herrenhaus als metaphorischer Gefühlsraum Ich bin bisher auf atmosphärische und textuelle literarische Gefühlsräume eingegangen. Im Folgenden möchte ich am Beispiel von Charlotte Brontës Villette abschließend noch die metaphorischen Gefühlsräume im Werk der Schwestern Brontë aufzeigen. Wie auch in The Tenant of Wildfell Hall erlangt in Villette die Protagonistin Lucy Snowe letztlich Autonomie, indem sie räumliche Grenzen überwindet, die ich als Metaphern für die kulturell begründete Grenze zwischen körperlicher und seelischer Empfindung, innerer und äußerer Gefühlswelt lesen möchte.17 Unfähig, sich in 17
Vgl. Benthien: „Die antike ‚Erfindung des Seelenraums‘ führt zu dem folgenreichen Dualismus von Leib und Seele, der die christlich-abendländische Tradition nachhaltig geprägt hat und - wie es sich etwa in dem grundlegenden Problem des Austausches, des commercium, zwischen
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einem System eindeutiger (räumlicher und somit gesellschaftlicher) Oppositionen zu positionieren, beginnt die Erzählerin, sich selbst metaphorisierte Räume zu schaffen, die ihrem Verlangen nach Uneindeutigkeit entsprechen. Die Räume in Villette sind so fremd und unheimlich, insubstantiell, zerbrechlich und fragmentiert wie Lucys Gefühle.18 Ihre Reise führt sie von dem Haus ihrer Patentante zu Beginn des Romans bis zu ihrem eigenen Schulhaus an dessen Ende. Villette wird strukturiert von Räumen, die Lucy durchqueren muss, um letztlich zu sich selbst zu gelangen. Ihre Gefühle jedoch entwachsen im Laufe ihrer Reise den beschränkenden Korridoren der Räume, die sie umgeben. Denn auch Lucy, wie schon Catherine und Helen in den vorangegangenen Texten, lebt eine verschachtelte Existenz. Als Haushälterin einer alten Dame beschreibt sie ihre Lebensumstände wie folgt: „I, too, retired to my crib in a closet within her room“ (C. Brontë 1985, 101). Und auch in Madame Becks Mädcheninternat, in dem Lucy zunächst als Kindermädchen und dann als Lehrerin angestellt wird, herrscht eine klaustrophobische Enge von labyrinthischen Gängen, Treppenhäusern und Zellen: Being delivered into the charge of the maitresse, I was led through a long, narrow pas-sage into a foreign kitchen, very clean but very strange. (...) She desired me to follow her upstairs. Through a series of the queerest little dormitories (...) a long, low, gloomy room (...) she conducted me to an apartment where three children were asleep in three tiny beds. (C. Brontë 1985, 130) Lucy beschreibt in diesen Textausschnitten ihr Inneres, ihre Gefühlswelt, über das Äußere, die Räume, die sie durchquert. 19 Die Räume werden zu metaphorischen Gefühlsräumen, die Lucys gefühlte innere Enge und Verschlungenheit beschreiben. den zwei Instanzen der ‚Seele‘ und des ‚Körpers‘ zeigt - bis weit in die Neuzeit, ja in die Gegenwart, hineinwirkt“ (Benthien et al. 2000, 11); und Böhme: „Wie kommen Gefühle aus der Enklave der Seele ‚heraus‘ - wenn sie zwar in ihr entspringen und ablaufen, doch aber leiblich sich ‚ausdrücken‘, auf andere ‚gerichtet‘ und ‚übertragen‘ oder gar auf beliebige Objekte ‚projeziert‘ werden sollen? Und wie kommen Gefühle in die Seele ‚hinein‘ - wenn Gefühle lebensgeschichtlich erworben, in materiellsozialen Situationen fabriziert, und dennoch irgendwie ‚introjiziiert‘ und dabei von geprägten Formen zu einem individuellen Fühlen des unverwechselbaren Ich transformiert werden sollen?“ (Böhme 1997, 529).
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18
John Hughes attestiert in seinem Aufsatz „The Affective Worlds of Charlotte Brontës Villette“ dem Roman einer der befremdlichsten des 19. Jahrhunderts zu sein und betont die Instabilität der fiktionalen Welt Villettes, in der eine Verortung für die Protagonistin genauso unmöglich scheint, wie für den Leser (vgl. Hughes 2000, 718).
19
„Lucy seems to discover and define herself through an identification with space.“ (Piehler 2003, 54)
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Villette ist abwechselnd geprägt von unartikulierten Gefühlsausbrüchen und strengster Selbstkontrolle. Tony Tanner attestiert Lucys Gefühlsentwicklung eine stotternde Vorwärtsbewegung (vgl. Tanner 1985, 32.). Diese artikuliert sich im Roman über räumliche Metaphern. So versteckt Lucy zunächst die affektiv aufgeladenen Briefe, die sie von Graham Bretton, dem Objekt ihrer unartikulierten Gefühle, bekommen hat, in einem Etui, in einer Schachtel, in einer Kommode in dem labyrinthischen Mädcheninternat. Als diese von den neugierigen Augen Madame Becks bedroht sind, vergräbt sie sie im ehemaligen Klostergarten des Pensionats unter dem Baum, unter dem auch vor Jahrhunderten eine abtrünnige Nonne lebendig begraben worden sein soll. Die Verquickung von räumlicher Enge, Verstößen gegen gesellschaftliche „Gefühlsregeln“ und regulierter Weiblichkeit wird in dem letzten Bild besonders deutlich. Im Gegensatz aber zu ihren verschachtelten und vergrabenen Gefühlen erleidet Lucy auch heftige Gefühlsausbrüche, die ebenso räumlich dargestellt werden und ebenfalls die Grenze zwischen Innen und Außen thematisieren. So sitzt Lucy während eines Gewitters auf der Fensterbank ihres Zimmers: It was wet, it was wild, it was pitch dark (...) too terribly glorious, the spectacle of clouds, split and pierced by white and blinding bolts. I did long, achingly, then and for twenty-four hours afterwards, for something to fetch me out of my present existence, and lead me upwards and onwards. (C. Brontë 1985, 176) Das Gefühlsgewitter ist zugleich schrecklich und glorreich: Lucys Sehnsucht nach einer Öffnung ihrer Gefühlswelt und Angst vor den Konsequenzen einer Verletzung „emotionaler Regeln“ wird hier deutlich. Aber auch das empfindliche Verhältnis von innerer und äußerer Gefühlswelt. Auf der Fensterbank ihrer Zimmers, innerlich am Sturm teilnehmend, beginnt Lucy diese Gefühlsgrenze aufzulösen. Aber erst als Lucy sich dem reglementierenden Blick Madame Becks entziehen kann, gelingt es ihr, die Grenze endgültig zu überschreiten: Ein fantastische Spektakel im Park, welches die Protagonistin unter Einfluss starker Medikamente zunächst nicht einordnen kann, wird zum metaphorischen Gefühlsraum für eine von Kontrollzwängen befreite Lucy. Bezeichnenderweise betritt sie das Festival nicht durch den bewachten Haupteingang, sondern durch ein Loch im Zaun und überschreitet damit die entscheidende Gefühlsgrenze (vgl. C. Brontë 1985, 550 und Tanner 1985, 28). Auf der anderen Seite findet sie sich inmitten eines Karnevals wieder, der in symbolischem Konflikt steht mit der katholischen,
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patriarchalen, west-europäischen Kultur Villettes, wie die Vielfalt der orientalischen Raumstrukturen („altar“, „temple“, „pyramid“, „obelisk“, „sphinx“) anzeigt.20 Aus der anfänglichen Enge, der strikten Fremd- und Selbstregulation ist eine rauschhafte Raum- und Gefühlserfahrung geworden, die nicht mehr den Kategorien Ausbruch – Unterdrückung verhaftet bleibt, sondern der Protagonistin erlaubt, ihre Gefühlswelt, den Karneval, zu erforschen. Beispielhaft für die Art, in der die Protagonistin über räumliche Metaphern zu sich selbst findet, möchte ich abschließend das Verhältnis von Lucys Gefühlen und der Hausmetapher, derer sie sich zum Schluss des Romans bedient, beleuchten.21 Enttäuscht von der Ablehnung, die sie durch Graham Bretton erfährt, beschreibt die verschmähte Lucy das Herz des Angebeteten als Haus: 22 I believe in that goodly mansion, his heart, he kept one little place under the skylights where Lucy might have entertainment, if she chose to call. (...) he kept one little closet, over the door of which was written ‚Lucy’s Room‘ (C. Brontë 1985, 555). Aus dieser Passage ließe sich leicht deduzieren, dass Lucy die Ideologie weiblicher Häuslichkeit soweit verinnerlicht hat, dass sie ihre Gefühle als genauso gefangen betrachtet wie ihre physische Person (vgl. Tanner 1985, 14). Die folgende Passage, in der sie der räumlich-metaphorischen Beschreibung Grahams eine Schilderung ihrer Selbst entgegensetzt, überzeugt jedoch vom Gegenteil: I kept a place for him, too – a place of which I never took the measure, either by rule or compass: I think it was like the tent of Peri-Banou. All my life long I carried it folded in the hollow of my hand – yet, released from that hold and constriction, I know
20
Der fantastische Gefühlsraum ist damit auch bezeichnenderweise kein natürlicher („not of trees and shaddow“), sondern ein kulturell hergestellter („strangest architectural wealth“), und lässt sich somit analog zur historischen Debatte Natürlichkeitsthese vs. kulturelle Herstellung von Gefühlen lesen. Vgl. Benthien et al. 2000, 12.
21
Gwendolyn Wright hat in Moralism and the Model Home (1980) den Zusammenhang zwischen sozialen Normen und häuslicher Architektur untersucht, und auch Daphne Spain kommt in Gendered Spaces (1992) zu dem Ergebnis, dass Behausungen gesellschaftliche Werte sowie Möglichkeiten sozialer Interaktion reflektieren (vgl. Spain 1992, 7). So widerspiegelt zum Beispiel der Aufbau des viktorianischen Hauses auch die prinzipielle Segregation der viktorianischen Gesellschaft entlang Geschlechter- und Klassengrenzen.
22
Das Haus als Metapher für die Seele ist nicht unüblich. Vgl. Schmitz: „‚Seele‘ (psyché) ist der erste Name dieser Innenwelt, mit der die Person gleichsam ein Haus bekommt, in dem sie Herr sein kann“ (Schmitz 2000, 43).
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not but its innate capacity for expanse might have magnified into a tabernacle for a host. (C. Brontë 1985, 555) Lucys Gefühlsraum hat keine messbare Dimension und erinnert darin an Hermann Schmitz Ausführungen zum prädimensionalen fühlenden Leib, der „flächenlos ausgedehnt“ (Schmitz 1998, 12) ist im Gegensatz zum vermessbaren Körper. Auch Deleuze und Guattari stellen die flächenlose Ausdehnung des glatten Raums, der Vermessbarkeit des gekerbten Raums gegenüber. Lucys Gefühlsbefähigung übersteigt in dieser Metapher bei Weitem die Grahams. Sein Herz ist ein in funktionale Räume aufgeteiltes Herrenhaus. Lucys Gefühlsraum aber ist charakterisiert durch seine Grenzenlosigkeit. Die endgültige räumliche Übertretung in Villette markiert die Metaphorik, in der die Protagonistin ihren eigenen Raum beschreibt: zunächst als beschränkenden und beschränkten Ort (als bürgerliches Wohnhaus), dann als nomadischen Ort (als Zelt) und schließlich als einen heiligen Ort (als Tabernakel). Räume werden in den Romanen der Schwestern Brontë nicht nur affiziert oder bringen Gefühle hervor, sondern sind oft konstituierender Bestandteil von Gefühl und Gefühlsausdruck. Wuthering Heights und Thrushcross Grange bilden das isolierte emotionale Koordinatensystem, in dem sich die Figuren in Emily Brontës Wuthering Heights bewegen. Wer es verlässt, kommt der Handlung abhanden. Dennoch ist die Polarität der beiden Anwesen bei genauer Lektüre nicht zu halten: In Deleuze und Guattaris Terminologie ist der glatte Raum hier bereits gekerbt und dem gekerbten Raum entwächst ein glatter, die atmosphärischen Gefühlsräume verlieren ihre Eindeutigkeit durch die narrative Korrektur der nach außen drängenden Stimmen Heathcliff und Catherines. Auch Helens in die Rahmenerzählung eingebettete Stimme bildet ein Korrektiv zur patriarchalen Erzählhaltung Markhams. In The Tenant of Wildfell Hall bedient sich Anne Brontë einer narrativen Struktur, die das Tagebuch der Protagonistin als widerständigen textuellen Gefühlsraum ausmacht, durch den Helen Autonomie durch Gefühlskontrolle erlangt. In Villette muss Lucy die Dichotomie aus Selbstkontrolle und Gefühlsausbruch erst überwinden, um dann ihre Gefühlswelt neu zu erkunden. Charlotte Brontë bedient sich dabei einer Reihe metaphorischer Gefühlsräume, die Lucy aus engen Kammern und verschlungenen Korridoren in fantastische und nomadische Weiten führen. Das viktorianische Diktum der separate spheres wird in den Texten der Schwestern Brontë nicht nur reproduziert, sondern auch unterwandert, die binäre Scheidung in männliche und weibliche Räume, männliche und weibliche, unterdrückte und ausbrechende Gefühle auf subtile Weise verunsichert.
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Literatur
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Transformationsräume im Werk Wolfgang Hilbigs Wenn Kafkas Satz „Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“ (zit. nach Delius 2009) zutreffend ist, müsste es für die literaturwissenschaftliche Arbeit auch darum gehen können, dieses Zimmer bei dem zu untersuchenden Autor oder der zu untersuchenden Autorin ausfindig und lesbar zu machen. Im Falle von Franz Kafka selbst gerät man allerdings in einen Wahlzwang – handelt es sich um „Das Schloß“, das „Tor zum Gesetz“, eine „Strafkolonie“ oder etwa um ein Schlafzimmer, in dem man womöglich als Insekt erwacht? Ist das Zimmer einer der austauschbaren Kontorräume, ein Maulwurfsloch oder ein Käfig bzw. eine Akademie, worin Affen oder Hungerkünstler präsentiert werden? Es scheint sich in den Entwürfen von Schriftstellern, eben weil sie in ihrer Arbeit plurale Identitäten entwerfen, oft um eine Vielzahl von Zimmern zu handeln, die zudem metaphorisch behandelt und beschrieben sind, so dass sie sich zum Aufbau von unterschiedlichsten Lektüren und Sinnräumen anbieten. Ein vorläufiges Resümee der Eingangsüberlegung könnte so zusammengefasst werden: Im besten Fall ist es der auktoriale Raum, der eine jeweils eigene und originäre Bibliothek beherbergt. Diese präsentiert sich dem Leser, was nun aber das Zimmeroder Raumproblem nicht gerade vereinfacht. Wenn ich nun die Zimmer eines Schriftstellers aufsuche, der in vollem Bewusstsein und in engster Nachbarschaft zu den Räumen Franz Kafkas gearbeitet und geschrieben hat, so stehe ich einem interessanten Phänomen gegenüber. Die Zimmer Wolfgang Hilbigs oder hier genauer formuliert: die einmal etablierten Räume verwandeln sich unversehens. Sie sind in ihren Funktionen und Semantiken durch teilweise
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ununterscheidbare Übergänge im Fluss, sie entziehen sich in ihren dynamisierten Bedeutungen der eindeutigen Konturierung und damit dem zweifelsfreien Verstehen sowie klarer Sinnzuordnung. Was von ihnen beschrieben wurde, ist nicht ohne weiteres im kohärenten Verständnis lesbar. Es wird darauf zurückzukommen sein. Beobachtbar sind an ihnen, und dies soll als Ausgangsthese vorangestellt werden, alle erdenklichen Variationen und Varianten der Verwandlung, der Entgrenzung und des Transformationellen, oder, wie Hilbig es selbst formulierte, der „Entwirklichung“ 1. Transformationsräume sind Räume, deren semantischer Gehalt sich wandelt. Sie können als Amalgamierungen aufgefasst werden, die von vornherein „alles“ bergen und die sich aus kulturellen Gegensätzen konstituieren, die damit auch die sie bewohnenden Personen figurieren. In den Transformationsräumen sind Attribute akkumuliert, die die traditionelle Fixierung der räumlichen Anordnung, wenn nicht außer Kraft setzen, so doch mindestens in Frage stellen. Somit dynamisieren sie scheinbar Festes und lösen Fixiertes auf. Für die hier vorgenommene Fokussierung auf den affektiven Gehalt ist von Bedeutung, dass diese Raume nicht nur Gefühle auslösen, sondern, dass mit dem Affektbegriff ebenso prozessuale oder auch liquide Strömungen und von Bewertungen und Gefühlen geleitete Handlungen und Verhaltensmatrizen evoziert werden. Das bedeutet auch, dass in den Texten nicht etwa eine experimentelle Struktur in der Art einer bedingten Reflexanordnung vorliegt, die eine eindeutige Wiederholbarkeit anstrebt, sondern eine Verhaltensmöglichkeit intendiert wird, die auf Uneindeutigkeit und Unentscheidbarkeit, mithin auf Zwiespalt und Gebrochenheit basiert. Ich möchte im Folgenden an einigen Beispielen aus dem erzählerischen Werk Wolfgang Hilbigs solche Transformationsräume aufsuchen und zu lesen versuchen. Ich begrenze mich dabei auf einige wenige Räume wie Ruinen, Waldstücke, Küchen und Fabriken. Es ist möglich, derartige Transformationen auch an Kellern, Fahrgasträumen, Fabriken oder an anderen Räumlichkeiten zu beobachten. Ich habe die von mir ausgewählten deshalb hervorgehoben, weil ich an ihnen zugleich literarische Topoi aufsuche, die metaphorischen und für das Werk Hilbigs auch konstitutionellen Status besitzen. Eingangs jedoch noch eine Überlegung zu der besonderen Schreibsituation von Wolfgang Hilbig.
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Vgl. zum Begriff der „Entwirklichung“ bei Wolfgang Hilbig ausführlicher: Stillmark 1999.
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Arbeit an der Selbstbeschreibung Dass die Texte Wolfgang Hilbigs häufig um eine Mittelpunktfigur kreisen, die ein Alter Ego des Autors darstellt, ist kein Geheimnis. Dass sie zudem das Schreiben selbst thematisieren, ist ebenfalls ein Gemeinplatz. Allein schon die Nennung einer Anzahl von Titeln aus der Prosa bringt den Autor und sein Schreiben in den Vordergrund, Der Brief, Zweite Vorgeschichte, Die Beschreibung, Die Beschreibung II, Er, Der Leser, ’Ich’, Die Arbeiter, Er, nicht ich, Die Erinnerungen, Die Vorgeschichte. Im Changieren um die Identität und um die Schwierigkeiten desjenigen, der sich müht, einen haltbaren Text zu verfassen, ist das Werk wie eine kontinuierliche Isotopie lesbar. Bis zum (wahrscheinlich) letzten nunmehr veröffentlichten Text aus dem Jahr 2005, Die Nacht am Ende der Straße (Hilbig 2009, 730ff.), der in erschütternder Weise den fiktiven Autor „C. H.“ oder aber auch Wolfgang Hilbig diese mühselige Arbeit beschließen lässt, kann das Hilbigsche Werk als ein Schreiben gegen die eigenen Selbstzweifel gelesen werden. Aber auch diese Feststellung zwingt dazu, genauer über den Standort des Selbst nachzudenken: spricht damit tatsächlich der Autor, ist es eine ihm ähnliche Figur in der Prosa oder nimmt der Erzähler die Problematisierung des eigenen Standorts und der eigenen Identität vor? Auch hier zeigen einige Titel der Prosa die kontinuierlichen Positionswechsel an: Er, nicht ich, ’Ich’, Er. Mitunter ist in den Darstellungen ein osmotisches Ineinander zu beobachten. Hilbigs „Subjekt“ ist vielfachen Verlusten ausgesetzt und dies bildet wiederum ein thematisches Zentrum seines Schreibens. In jedem Fall ist die Klärung der Positionen von Autor, Erzähler und erzählter Figur eine Herausforderung für die Lektüre, die damit den Leser in die Arbeit Hilbigs als Ganzes hineinzieht. Gerade weil Hilbig einfachen Verhältnissen entstammte und sich dementsprechend unglaublichen Mühen unterzog, ein Autor zu werden und hernach sich als solcher zu behaupten hatte, sind die Zweifel an der eigenen Identität außerordentlich tiefgehend und schlagen sich auch in seinen Texten nieder. Dass Hilbig 1965 seine frühen Schriften sämtlich verbrannte, ist bekannt. Dass ausgerechnet bei der Stasi ein Teil der verloren geglaubten Texte archiviert war, ist eine Ironie des Schicksals. Dennoch, trotz der frühen Gewissheit, als Schriftsteller Geltung zu erlangen: Die Arbeit an den Öfen (Hilbig 2009, 448ff.), so der Titel eines Erzählbandes, muss als die grundlegende Ausgangssituation in einem metaphorischen wie in einem ganz unmittelbaren Sinne aufgefasst werden. Es ist die Arbeit in den Heizungskellern, die Hilbig über lange Jahre verrichtet hat, ohne Aussicht auf Änderung
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der Lebenslage. Sie kann, indem sie von ihm beschrieben wurde, aber auch als sein besonderer Ausgangspunkt im Hinblick auf seine schriftstellerische Poetik verstanden werden. In der Arbeit am Text veränderte sich die Arbeit an den Öfen und bewirkte als das Feuer den Prozess der Verwandlung von ehemals lebendigem Material in Asche. Gleichzeitig ging es Hilbig, wie man immer wieder wahrnehmen kann, aber auch um die Rückverwandlung von Asche in Lebendiges, was auf diese Weise immerhin eine Legitimierung der Arbeit als Schriftsteller und Autor schuf. In dieser Form von Transzendenz waren Grenzen zu überschreiten und Verwandlungen zu vollziehen. Hier erwies sich das Schreiben als eine Herstellung von Freiheit und Selbstbestimmung. Indem diese Arbeit an den Öfen eine Überwindung von einschränkenden Grenzen im Schreiben bedeutete, kam er in praktischer wie in theoretisch-reflektierender Hinsicht Positionen der Romantik nahe. Im Unterschied zur historischen Romantik betonte Hilbig aber das Irdische (Hilbig 1982, 120ff.) in der poetischen Arbeit am Mythos. Der Graben, der sich von Hilbigs Herkunft als Arbeiter hin zum Standort des Schriftstellers auftat, war für Hilbig ein vertrauter Topos. Er bezeichnete eine verhasste Grenze und aber auch eine Lebensaufgabe, die als ersehnte Grenzüberschreitung Antrieb seines Schreibens war. Die Affekte von Zuneigung und Ablehnung, ja Liebe und Hass als starke Gefühle seien hier herausgestellt, ihnen muss ebenso nachgegangen werden wie den Verwandlungen der Räume, in denen sie sich ereigneten. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass diese Grenzüberschreitung in der DDR-Literaturgeschichte als eine der wichtigsten Vorgänge und zentralen Anliegen gefördert, dirigiert und/oder eben auch verhindert wurde. Die Autoren und ihre literarischen Figuren waren bei dieser Grenzüberschreitung zum Teil unerhörten Zerreißproben ausgesetzt. Allein das Zur-Sprache-Kommen der Arbeiter war in den um Wahrhaftigkeit bemühten Werken der DDR-Literatur ein problematischer Prozess, der den Vorgangsfiguren2 häufig und zu recht versagt blieb. An den Gestaltungen des Arbeiters Hans Garbe, alias Hans Ähre, alias Büsching, alias Balke war gerade das Scheitern im Verstummen eindrucksvoll zu studieren. Trotz Paul Bauch und mit Bienkopp, Balla und Bolbig wurden Geschichten erzählt, die an der Problematik des Sprechens zerbrachen. (Die besonderen Varianten weiblicher Emanzipation beanspruchten ein eigenes Kapitel...) Ich verweise im Hinblick auf die Schwierigkeiten männlicher Emanzipation auf meinen Aufsatz Der Arbeiter – die zentrale Nebengestalt 2
Vgl. Michael Opitz / Michael Hofmannn (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart Weimar: Metzler Verlag S. 354-356, hier: 2009, 354f.
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der DDR-Literatur (Stillmark 2002, 347ff ). Ich beschreibe darin u.a., welche Probleme ein literarischer Prototyp bereitete, der das gesellschaftlich Neue in seiner Arbeit mit den Händen leistet, sprachlich jedoch nicht zu sich kommt und also im Prozess der von Ausbeutung befreiten Arbeit sich selbst entfremdet bleibt. Hier nur so viel: Eduard Claudius’ Ähre fuchtelt wild, kann aber nicht reden, Brechts Büsching schweigt und auch Heiner Müllers Balke oder auch Werner Bräunigs Lohse zeichnen sich durch eine auf das Nötigste beschränkte Redefähigkeit aus. Es nimmt nicht wunder, dass Katja Lange-Müller in ihrem Nachwort zu Hilbigs Werkausgabe gerade damit beginnt: „Es mag seltsam, ja anekdotisch anmuten, und doch hat Wolfgang Hilbig in seinem ganzen, freilich nicht allzu langen Leben sehr viel mehr geschrieben als gesprochen. Reden (...) war seine Sache nicht.“ (Lange-Müller 2009, 743) Anders, wie schon angedeutet, Hilbigs Protagonisten. Gerade an ihnen vollführt Hilbig, nicht selten in wütend-überschlagendem Pathos gegen seine Umgebung, das Ringen um das Wort und um die Formulierung seiner selbst.
Aus der „Asche“ Von der „Asche“ war bereits im Zusammenhang mit der „Arbeit an den Öfen“ die Rede. Folgt man den räumlichen Isotopien durch das Labyrinth des Hilbigschen Werks und sucht man nach den frühen Räumen, so trifft man zunächst auf das Terrain von kindlichen Spielplätzen. Sie liegen in einer Gegend von Meuselwitz, die die Einwohner der Kleinstadt als „Asche“ bezeichnet haben. Ursprünglich befand sich in der Nähe von Hilbigs Heimatstraße ein ehemaliges Schachtloch, das später als Müllplatz diente. Die „Asche“ bezeichnete hier nicht nur den Müllplatz, sondern den Ortsteil, der von den Pfahlbürgern abschätzig benannt und auch eher gemieden wurde. Die RudolfBreitscheid-Straße, die die Familie Hilbig bewohnte, lag an der Peripherie von Meuselwitz und war Teil der „Asche“. Hilbig war also schon seit seiner Kindheit einer „aus der Asche“, ein Ort, der von Hinzugezogenen und Umsiedlern bewohnt wurde. Hilbigs Großvater mütterlicherseits, Kazimierz Starlek, der Bergarbeiter aus dem polnisch-ukrainischen Osten, gehörte zu dieser Gruppe. So wie der fremdartig klingende Rufname des Großvaters, „Kaschie“, auf den Enkel überging, so war die ganze Familie Hilbig mit dem Verdikt des Nichtzugehörigen von den autochthonen Meuselwitzern versehen worden. 1941, am 31. August wurde er geboren, vaterlos auf-
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gewachsen, bis weit in die Schulzeit hinein war Wolfgang Hilbig „Kaschie aus der Asche“. Wem angesichts dieser Beschreibung und im Hinblick auf den weiteren Lebensweg Hilbigs unwillkürlich das mythische Bild des „Phönix aus der Asche“ einfällt, dem ist, was die Erweckung des arbeitenden Körpers zum sprechenden Schreiben betrifft, nicht zu widersprechen, zumal ein Gedicht Hilbigs in Analogie zu dieser Denkfigur die ungewöhnliche Begegnung eines Fasans mit einem Kohlenhaufen paraphrasierte. Unbenommen, auch dies wäre die Perspektive einer Lesart eines Hilbigschen Raumes. Aber: hinzu kommt, dass in der Nazi-Zeit gerade in der „Asche“ ein Außenlager des KZ Buchenwald eingerichtet war. Das KZ war Teil der deutschen Rüstungsindustrie. Es waren nach Hilbigs und den Vermutungen seiner literarischen Gestalten, wie etwa in der Erzählung Die Weiber, anscheinend vorwiegend weibliche Häftlinge hier gefangen gehalten worden. Meuselwitz lag im Krieg im Visier der alliierten Bomberflüge. Dass die Schäden des Krieges im thüringischen Meuselwitz enorme Dimensionen besaßen, muss hervorgehoben werden. Karen Lohse spricht von einem Ausmaß der Schäden durch Bombardierungen, die die von Dresden überstiegen. „85% der Bausubstanz fielen den Angriffen zum Opfer (...) Die Vergangenheit hatte sich in Müll verwandelt. Mit dem Trümmerschutt der Stadt wurden die Tagebaue der Umgebung verfüllt.“ (Lohse 2008, 29f.) Die Anlagen dieser Fabrik- und Gefängnisgelände wurden nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut und bildeten bis in die 70er Jahre hinein ein Ruinenfeld, das für die Kinder der Nachkriegszeit ein natürlich verbotenes und so auch ideales Spielgelände bildete (vgl. Lohse 2008, 23). In Hilbigs Texten, die diese Kinderzeit thematisieren, toben in der „Asche“ erbitterte Kämpfe zwischen den Einheimischen und den Zugezogenen. Dem widerspricht aber auch Hilbig selbst, denn er kommt u.a. in seinem Prosatext Alte Abdeckerei auf die Erlebnisse dieser Kinderzeit zurück. Er schildert dabei aber einen Jungen, der eher vereinsamt und allein dieses Gelände erkundet und dabei immer weiter in ein als gefährlich empfundenes Terrain vordringt. Schließlich noch eine weitere semantische Variante der „Asche“: Auch im Text Die Kunde von den Bäumen (Hilbig 1996) ist ausgiebig vom Müll und von der „Asche“ die Rede. Die Mühen des Schriftstellers Waller, der von den Verwüstungen der Landschaft und der Menschen erzählen will, verlaufen ohne ein greifbares Ergebnis. Außer dem Satz „Die Kirschbäume sind verschwunden“ kann er nichts schriftlich festhalten. Vielleicht, so vermutet der Protagonist, hängt das mit dem neuerworbenen Schreibtisch zusammen, den Waller rettet, bevor er in die „Asche“ (Hilbig 1996, 13) gefah-
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ren wird. Er kann damit der Küche entfliehen, die sein bisheriger Schreibort gewesen war. Allerdings entkommt der Schreibtisch der offenbar ihm verhängten Bestimmung nicht, denn die Tischplatte bedeckt sich schnell mit beißender Asche, die auch durch die Fenster und Wände ins Innere des Hauses dringt. Ihr trockener saurer Geschmack hält Waller für den Geschmack des Todes. Schließlich droht sogar der einzige in einem halben Jahr verfasste Satz unter der Asche zu verschwinden, denn: Erneut gischteten Hagel von Asche zum Fenster herein, die Dünste der Nacht überbordeten den Schreibtisch, der wie ein manövrierunfähiges Boot war, ein Boot in schwerer See, das schon lange von einer endlosen Dünungswoge herunterrollte, ich sah das Möbelstück nur unter Verrenkungen… kein Wunder, daß ich eine schielende Mißgestalt war, wenn ich mich endlich von meinem Tisch geflüchtet hatte. (Hilbig 1996, 16) Waller spürt in der Erzählung „zwanzig Jahre lang den Atem der Asche an der Stirnhaut (...) Und die Asche, dachte ich, übersät mir auch alle meine Gedanken … die Asche ist es, die meine Papiere beschrieben hat mit ihren gleichförmigen und unleserlichen Schriftzügen.“ (Hilbig 1996, 68) Das Haus, das ja einen Schutzraum vor den Wetterunbilden bieten soll, ist den Asche-Stürmen schutzlos ausgeliefert. Es kann weder sich noch seine Bewohner vor den tödlichen Asche-Eruptionen bewahren und es wird von der um sich greifenden Erosion aus Wind und Zivilisationsresten verschüttet. In der Konsequenz sind Haus und Bewohner von der „Asche“ bedeckt und somit zu einem Teil des Mülls mutiert. Mit „jenem Datum im August“ (Hilbig 1994, 70) verbreitet sich das Vergessen, die Geschichte verliert sich und „vielleicht waren sie im Grunde einverstanden mit all ihrem schlafwandlerischen Tun auf dem Land der Asche.“ (Hilbig 1994, 71) Überdeutlich und potenziert ereignen sich in der Beschreibung die Transformationen des Raumes. Metaphorisch ist die Transformation aber noch weiter ausgedehnt, denn die feste Substanz des Hauses, seine Ausstattung und seine Umgebung haben sich in ein Boot auf schwerer See verwandelt. Sie sind sprachlich verflüssigt und gewissermaßen „liquidiert“ worden. Es ist keineswegs übertrieben, dass an dieser Stelle diese Konnotationen des Todes evoziert werden, denn hier schließt sich ein weiterer Zusammenhang. In den Berichten über die mörderische Vergangenheit von „Lagern“, die sowohl als „Gulag“ und auch als „Auschwitz“ traurige Spezifizierung erfahren haben, ist das Wort „Liquidierung“ zum Idiom der Mörder geworden.
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Über die „Asche“, die die Überreste des ehemals Lebendigen markiert, ergibt sich von der Kunde von den Bäumen über die Alte Abdeckerei eine topologische Spur hin zum Roman Das Provisorium. Hilbigs Protagonist in diesem Roman, der Schriftsteller C., ist von einer Manie besessen. Er kauft unablässig Bücher. Er fühlt sich von diesen Büchern gleichsam verfolgt und bewahrt die thematisch einschlägigen in zwei gesonderten Kisten, die er mit der Aufschrift „Holocaust & Gulag“ bezeichnet hat. Sie sind ihm der „geballte(n) Schrecken des 20. Jahrhunderts“, das „einzig wirklich notwendige Wissen des 20. Jahrhunderts“ (Hilbig 2000, 153; Hervorhebung im Original). C. sucht die unmittelbare, körperliche Nähe dieser Bücher und vermag sie paradoxerweise aber nicht zu lesen. Sie sind bei seinen vielfachen Wohnungswechseln sein einziges Umzugsgut und gewinnen über ihn eine eigentümliche Macht. Da er sie nur mit sich schleppt und nie zu lesen versteht, bedrohen sie ihn als ein beständiger Vorwurf. In ihrer Gegenwart kommt C. sich vor „(...) wie der Wachmann eines Kazett’s“ (Hilbig 2000, 153). Mit diesen Büchern, so empfindet C.: (...) war jede Klage feige, kindisch, gegenstandslos geworden. Wer diese Kisten im Haus hatte, dessen Beschwerden klangen so lächerlich, wie das Pfeifen einer Ratte. Man mußte sich schämen für jede Unzufriedenheit, sich hassen, wenn man noch Unglück empfinden konnte, und man mußte es verschweigen vor diesem Wahnsinn, der die Sprache würdelos gemacht hatte. (Hilbig 2000, 154)
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Verglichen mit diesem grundlegenden Wissen, betrachtet er nicht nur die eigenen Schreibversuche, sondern die gesamte literarische Öffentlichkeit als verlogen und gescheitert. Dass die Literatur sich als ein Marktsegment der kapitalistischen Ökonomie generiert, macht für den Autor Wolfgang Hilbig diese Verlogenheit und Verkrüppelung umso schlimmer. Wenn hier die Wegwerfgesellschaft und die Todesmaschinerie des 20. Jahrhunderts in einen Zusammenhang gesetzt werden, bedeutet dies nicht, lediglich einen moralischen Widerspruch gegen das System hervorgebracht zu haben. Insofern diese Anklage sich ins Verhältnis zu dem Kinderspiel in der „Asche“ setzt, insofern das Köpfen von Brennnesseln als mutwilliges Knabenspiel im Text Alte Abdeckerei herausgehoben wird und den später Erwachsenen zu einem Teil der Vernichtungsfabriken heranführt, lässt sich das leichtfertige Töten in der Welt der Kriege und Lager zu einer folgerichtigen Kontinuität zusammendenken. Wie C. im Provisorium, so war auch Hilbigs Protagonist in der Alten Abdeckerei (Hilbig 1993) einer von den systemkonformen Tätern. Er kam aus der alten Abdeckerei, in der organische
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Kadaver zu Seife verkocht wurden, er war einer von denen, neben denen man nicht sitzen wollte, sei es aufgrund ihres undurchdringlichen Schweigens, sei es aufgrund ihres verräterischen Geruchs. Mit Bestürzung müssen Hilbigs literarische Widergänger feststellen, dass kindliche Unschuld nicht mehr geltend gemacht werden kann. Die Systematik der Vernichtung ist in der Alten Abdeckerei fortgeführt in eine kosmische Katastrophe, die den irdischen Teil des Sonnensystems aus dem Lot bringt. Die Systematik aufzuzeigen, die alles letztendlich in „Asche“ verwandelt, ist zu einem der wichtigsten Schreibimpulse Wolfgang Hilbigs geworden. Dabei springen die gestalteten literarischen Anordnungen von der fiktiven in die wirklichen Verhältnisse – ähnlich denen, wie sie Ottmar Ette bei Jorge Semprun und Emma Kann beschreibt. In eine unselige Familiengeschichte eingebunden – man erinnert sich, dass Hilbigs Vater aus dem Kriege nicht heimkehrte –, gebrandmarkt als Unzugehöriger aus der „Asche“, lediglich erfolgreich als kindlicher Krieger und als jugendlicher Boxer (wobei er seine Sportlerlaufbahn abbricht, nachdem er Zeuge geworden, wie einer seiner Sportkameraden an einer Gehirnblutung starb), nach den verschiedensten Versuchen, in beruflicher Hinsicht Fuß zu fassen, vermag Wolfgang Hilbig nur im Schreiben relativen Halt gewinnen. Gleichwohl drängt sich ihm auch hier die niederschmetternde Einsicht auf, produktiver Teil des Ganzen zu sein, das nach seinem Ermessen blindlings seinem Ende zuarbeitet. Sich wiederzuerkennen als ganz normaler Teil einer Verbrauchsökonomie, die dem Wachstumsfetischismus frönt, raubt, wie einer seiner letzten Erzählbände hieß, den Gerechten den Schlaf. In der Erkenntnis der Teilhabe am Gesamtzusammenhang verwandeln sich Opfer- und Täter-Positionen in ein unübersichtliches, gespensterhaftes Dasein. Die sich verändernden Subjektpositionen spiegeln auch eine dynamische Raumsituation: Adolf Endler spricht folgerichtig über Hilbigs Ortschaft („Meine Heimat – die Hölle“) davon, dass „E.“ nicht die Abkürzung von industriell vergifteten Gegenden im Umkreis von „Espenhain“ meint, sondern „die Erde schlechthin“ (Endler 1992, 320).
In den Fabriken Bei der Auslotung der Semantik des Wortes „Asche“ kommt Hilbig von den regionalen Varietäten in der Meuselwitzer Gegend zu überregionalen geschichtlichen, politischen und sozialen Bezügen, die er in anderen Texten noch weiter führt. Karen Lohse ist zu wider-
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sprechen, die „Asche“ steht keineswegs als ein Signalwort für die Romantisierung, eher würde ich betonen, dass mit der Bildung und Verwandlung von organischen Stoffen ein universeller, menschheitsgeschichtlicher und existentieller Vorgang signalisiert wird, der in seiner umfassenden und unaufhaltsamen Systematik Hilbigs Gestalten zuweilen die Sprache raubt. Wie ist das zu erklären? Zunächst und ganz unmittelbar ist evident, dass die beruflichen Tätigkeiten, die Hilbig und seine Protagonisten lange Jahre in den Heizungskellern ausgeführt haben die zeitweilige Erwärmung der menschlichen Arbeits- Wohn- und Lebensräumen – eben in der Verbrennung von Kohle zu Asche bestand. Ob die Heizung einer Werkzeugmacherei, Wäscherei oder einem anderen Industriezweig diente, die Arbeit an den Öfen verwandelte Kohle in Asche. Hilbig und seine Gestalten betrieben in ihrer Arbeit also eine Transformation. In Bezug auf die Lage der Dinge standen sie in der Kette derer, die die Landschaft veränderten, selbst in einer wichtigen Transformatorenfunktion. Sie waren es schließlich, die die sächsische Kohle in Wärme verwandelten. Eine schwere Arbeit, die zudem noch, wie die der Angehörigen der Müllabfuhr, den Status des Ungelernten besaß, und eine wenig anerkannte Arbeit: Der Facharbeiter (der Hilbig auch einmal war) sah auf die Müllleute und Heizer nicht nur im räumlichen Sinne herab. Das Selbstbewusstsein, das sich auf die Erzeugung von Klassenbewusstsein richtete und das sich im Slogan der Propaganda „Ich bin Bergmann – wer ist mehr?“ ausdrückte, war auf die Männer aus dem Schacht und also von „unten“ gerichtet. Der Keller war im Gegensatz zum Arbeitsplatz des Bergarbeiters insofern ein verachteter Raum. Günter Wallraffs Kennzeichnung des Rangs dieser Arbeiter in der sozialen Pyramide Westdeutschlands war in der DDR bekannt: Unten und Ganz Unten wurden in hohen Auflagen verbreitet. In Hilbigs „Essai“ Die Arbeiter (Hilbig 2009, 58ff.) aus dem Jahre 1975 ist der soziale Raum im Arbeiter- und Bauernstaat einer ätzenden Kritik unterzogen. Wenn sich hier noch ein Disput entfaltet, der mit der herrschenden Ideologie des dialektischen und historischen Materialismus streitet, so war schon in Die verlassene Fabrik (Hilbig 2009, 25), einem von Hilbigs frühesten Texten, diese Auseinandersetzung des Menschen im kosmologischen Sinn von grundsätzlicher Tiefe. In ihr betritt ein Erzähler eine ehemalige Brikettfabrik, die dem Zerfall überlassen wurde. Restströme setzen die Beleuchtung in unregelmäßigen Abständen in Gang. Der Erzähler kehrt an seinen Arbeitsplatz und den seiner Väter zurück. Er hört, wie die Tür zum Ausgang ins Schloß fällt und der Schlüssel betätigt wird. Die Lage wird in jeder Sekunde bedrohlicher, denn eine augenblickliche Ver-
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eisung setzt ein. Der Ich-Erzähler weiß, dass er selbst die Tür verschlossen hat, er erlebt an sich die Umkehrung der zeitlichen Verhältnisse und die eigene Verwandlung in seinen Vater, Großvater, Urahn. Er ist Zeuge davon, wie sich plötzlich die verrosteten Förderbänder, Pressen und Anlagen wieder in Gang setzen und (...) das stoische Gleichmaß ihrer Arbeit verrichten. / Tief in der Vergangenheit begonnener Winter, hinter den Ebenen, wo er den Nebeln nicht entweichen kann, ebenso uraltes Eis, das langsam schmilzt und langsam wieder einfriert, kalt und zerrissen hängt sein bewegungsloses Triefen aus den geplatzten Rohren, kein Wärmehauch, der das Glitzern des Todes von den Wänden löst, die Gebirge der Nebel abtaut, der Heizer liegt erschlagen unter seiner Kohle. (Hilbig 2009, 27) Die Zeit des Heizers ist abgelaufen. Die Geschichte der menschlichen Gattung, deren Varietät der Heizer ist, hat sich in diesem kurzen Text von ihrem Anthropozentrismus gelöst. Es ist eine Zeit, die vielleicht in Gesteinszeitaltern messbar wird, und in denen das Auftauchen und Vergehen des Menschen nicht einmal eine Episode ausmacht. Möglich ist auch, dass sich die Irreversibilität der Zeit auf unerklärliche Weise aufhebt, dass die Raumzeit des Universums anderen und dem menschlichen Maß unbekannten wie unzugänglichen Dimensionen folgt. Der Heizer, der Mensch, dies wäre wiederum eine andere Lesart, ist ein vergängliches Moment im Mythos einer prometheischen Überhebung…. – gleichviel, die Relationen haben sich in Hilbigs Text gründlich verschoben. Die Fabrik als Produktionsstätte wird damit zu einer Destruktionsstätte, hier verausgaben sich Menschen, Materialien und Energien. Das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis ist in den Hilbigschen Werkstätten längst von der technologischen oder ingenieurtechnischen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse entkoppelt. Die Fabriken sind verlassene Wesen, die gespenstergleich in den letzten Zügen ihrer einstigen Bewegung verkommen. Auflösungserscheinungen, Zerfallsprozesse und Regressionen sind an ihnen ablesbar, keine Progressionen. Der einst als utopische Parole ausgegebene wissenschaftlich-technische Fortschritt erweist sich in Hilbigs Texten als dessen Gegenteil. Es bedurfte keiner Studien des Club of Rome, damit diese Erkenntnis beim Heizer von Meuselwitz sich als schlagende Überzeugung in seine Texte einkerbte. Aus dem von seiner Kohle erschlagenen Heizer ist kein Aufsteigen des Phönix’ zu erwarten.
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Der Schläfer im Gras Ist, wenn die menschliche Arbeits- und Lebenswelt vom Bazillus des Untergangs vergiftet ist, die Natur ein Residuum der anderen Art? Gibt es dort noch von der Zivilisation unberührte Orte? Haben die in der Natur befindlichen Bewegungen eine Raumsituation erzeugt, in der das Leben nicht durch die menschliche Hybris gefährdet ist? Im kindlich-jugendlichen Streuner, der im Wald sich einen Flekken ungestörten Daseins zeitweilig erobert hat, der dort den Maßregelungen der Familie und der Erwachsenenwelt entzogen sich den Rhythmen des Pflanzlichen und des Erdhaften anverwandelt hat – in der Erzählung Kommen kopuliert der junge Mann voller Wonne mit dem sonnenerwärmten Schlamm –, scheint eine dem Heizer entgegengesetzte Figuration von Hilbig gestaltet worden zu sein, die ihren Platz wohl gefunden hat? Aber nein, bei genauerer Lektüre erweist sich der Waldbruder nur als ein kurzzeitig dem menschlichen Treiben entsprungener Gefangener. In der Erzählung Schläfriges Gras (Hilbig 2009, 639-646) von 1968 entflieht der jugendliche Ich-Erzähler seiner lieblosen Familie. Er sucht die „Zärtlichkeit des warmen Grases im Sommer, die der Sonne, die lauen schweren späten Sommerabende mit ihren trunken Düften – nie ist es genug“ (Hilbig 2009, 640). Der intertextuelle Bezug zu Rimbauds und Trakls Lyrik baut sich fast unscheinbar auf. Das trunkene Schiff und der Schläfer im Gras sind als Spuren und Markierungen gesetzt, die den Text zu einem vielschichtigen Gebilde aufladen. Scheinbar beharrt die Erzählung aber noch auf Eichendorffs Waldseligkeit. Ein Vagabund legt sich zu dem Erzähler, beide genießen den Nachmittag, die angenehme Luft und die Weite:
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Besser auf jeden Fall als zwischen diesen ekelhaften vier Wänden, in diesem scheußlich fremden Zimmer, wo man nachts, wenn man allein ist in der Enge, die Fremdheit noch deutlicher spürt als hier auf der weiten Wiese. Die Fremdheit - es ist die Fremdheit dieser Welt, die eine böse und schwitzende Kälte in uns ausgebreitet hat (...). (Hilbig 2009, 643) Das Gespräch zwischen den beiden, die da im Gras dösen, ist lükkenhaft. Es teilt sich aber scheinbar gerade in den Pausen eine freundliche Übereinstimmung zwischen beiden mit, die zweifellos mit der angenehmen Lage zu tun hat. Und doch entstehen am Rande des Schlafes Bilder, die in die Stadt führen und dort Menschen in ihrer scheinbar alltäglichen Geschäftigkeit imaginieren. Der Raum des Waldes verwandelt sich in einen städtischen Ort. Die in Formen des Waldes festgelegte Szenerie wird in die Vision eines Stadtbildes verschoben und über diese vorgestellten Bilder werden wiederum
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Rauchschwaden gelegt. Das vorgestellte Sichtbare, das sich über das unmittelbar Sichtbare legte, wird damit in eine weitere Dimension des Nicht-Sichtbaren potenziert, wobei das nun aufscheinende Schreckensbild die arkadische Szene sprengt: Über den Dächern Rauch, fetter süßlicher Rauch, keiner sieht ihn. Hundegebell, eine lange Reihe trauriger Menschen, die Köpfe gesenkt, gehn sie müden Schrittes wie zu einer dumpfen unhörbaren Musik, Männer, Frauen mit kahlgeschorenen Köpfen, alle in gestreiftes Leinen gekleidet, alle einen gelben Stern auf der Brust, umbellt von Hunden, umbellt von großen Männern in straffen braunen Uniformen, Maschinenpistolen, ein tödlicher trauriger Zug zieht schweigsam durch die Straße, schattenhaft – die Leute schlendern lachend hindurch, junge Männer spazieren durch ausgemergelte Frauenbrüste, Kinder treten über riesige Bluthunde weg, Frauen sehn die Männer nicht, die dürren hängenden Schultern der Männer. (...) Trauer bleibt, Todesruhe, stickiger Qualm aus glühenden Öfen und heillose antwortlose Trauer. Die Menschen gehen hindurch, eilig, beschäftigt, lachend, lutschen Eis am Stiel, durch das Grauen, durch den Tod durch die Trauer. / O welches Land, o welch müde Generation. (Hilbig 2009, 645) An Schlaf ist nach dieser Imagination nicht mehr zu denken, alles hat sich verwandelt. Selbst die Müdigkeit ist von diesen Vorstellungen betroffen und wartet darauf, befreit zu werden. „ Es gibt so vieles, von dem wir uns befreien müssen, denke ich, so viel und zuletzt auch von unserer Müdigkeit.“ (Hilbig 2009, 646) Wie sich zeigt, sind selbst die Räume unberührter Natur von den Bildern geschichtlicher und sozialer Missstände überlagert. Fremdheit, Kälte, Gewalt, Mord und Grauen lassen den Schläfer nicht zur Ruhe kommen. Ein später Erzählband trägt den Titel Der Schlaf der Gerechten. Es liegt auf der Hand, dass dieser Schlaf eine Chimäre ist. Die Empörung schlägt im ruhebedürftigen Müden in eine aufgeregte Wachheit um. Der körperliche Zustand, der innere Raum, auf dem die Gefühle erwachsen, hat die Tendenz, sich in ein Unruhezentrum zu transformieren, in dem Protest, Widerstand und Aufruhr nach erneuter, nunmehr sprachlicher Formulierung ringen. Hilbig lässt in der Zeit seiner Beschreibung, die in ihrer Erzählzeit eine Dehnung erfährt, den Leser an den Verwandlungen der äußeren Räume sowie seiner inneren Befindlichkeiten teilhaben, die Antriebe seines Schreibbedürfnisses freilegen oder nachvollziehbar machen. Hier sind im Aufbruch verwandelter Räume auch Transformationen des Poetischen versinnbildlicht.
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Zu den im Werk Wolfgang Hilbigs anzutreffenden Räumen, die wiederholt ähnliche Szenerien beschreiben, gehört, dass die männliche Hauptgestalt, die immer vaterlos aufgewachsen ist und die von Mutter und den Großeltern familial umgeben ist, ihren Platz des Schreibens gegen andere erstreiten muss. In der engen Wohnung hat dieser Sohn kein eigenes Zimmer. Da er sehr frühzeitig mit dem Schreiben beginnt, auch dies ist ein wiederkehrendes Motiv in den Prosatexten Hilbigs, sitzt er häufig in der Küche des Hauses, an einem Platz, von dem er nicht nur misstrauischen Blicken der übrigen Familienmitglieder ausgesetzt ist, sondern von dem er auch noch häufig vertrieben wird. Eine unfreiwillige Öffentlichkeit, ablehnende Bewertungen und Störungen des Schreibens sind damit Bedingungen der Autorschaft. Nicht genug aber damit, auf seine Weise entfaltet sich in der Küche ein Machtkampf, der den eigenwilligen und vielleicht auch aufsässigen Schreiber zur Ergreifung von Gegenmaßnahmen zwingt. Er bringt durch seine Anwesenheit die Ordnung des Hauses durcheinander, er stört seinerseits die Abläufe und Gewohnheiten. Selbst, wenn er versucht, im äußersten Winkel der Küche auf kleinstem Raum unsichtbar zu werden, ist seine Tätigkeit den anderen rätselhaft und ein Ärgernis. Mit zunehmendem Alter des heranwachsenden Erzählers herrscht in der Küche ein neues Reglement. Es wird geraucht, getrunken, geschwitzt. Wurde normalerweise gekocht und gegessen, so wird nun geschrieben. Hilbig lässt den Leser in akzentuierter Weise wissen: Eine andere Produktion nimmt hier ihren eigenwilligen Lauf. Das Saubere, Gesunde, Reinliche und Nahrhafte, das den Lebensmitteln und seinen Behältnissen anhaften soll, wird von dem Ungesunden, Ekligen, Gefährlichen und Peinlichen überlagert. Das Regiment der Hausfrau, die in den Fiktionen vielfach aufgrund ihrer Berufstätigkeit nicht zu Hause sein kann, wird durch die Anarchie einer sturmfreien Bude verdrängt. Darin muss das Weibliche einem spätpubertären Junggesellenzustand weichen. Das Weibliche und insbesondere das Mütterliche, das sich den Rhythmen der patriarchalisch verfügten Produktion und Konsumtion unterwerfen musste und diese Abläufe nun aktiv gegen die Gefahr, die vom Sohn ausgeht, verteidigt, erscheint in Hilbigs Texten als repressive Macht. Liebe und Zärtlichkeit werden von diesen Söhnen gesucht. Härte, Zucht, Erziehung, Entsagung und Eingliederung in die gesellschaftlichen Zwänge bekommen sie. Der Großvater prügelt, der Tod der Großmutter wird ohne Trauer abgehakt, die abwesende Mutter sorgt in der knappen Zeit, wenn sie da ist,
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für das möglichst reibungslose Funktionieren. Die Rhythmen und Bedürfnisse der Familie wurden weitgehend denen des Staates und der Gesellschaft unterworfen. Schließlich die Einmischungen und Zumutungen des Staates und seiner Vertreter – all das macht, wie man es bspw. in der Alten Abdeckerei lesen kann, den Lebensraum der Hilbigschen Welt aus. Das staunende Begreifen dieser gesellschaftlichen Beziehungen findet erst in der schriftstellerischen Reflexion statt. Die Zweckentfremdung von Räumen, die Verselbständigung und eigenwillige Selbstbehauptung von räumlich-personellen Konstellationen gehören zum Gestaltungsraum Hilbigscher Texte. Der schreibende Erzähler, der das elterliche Heim später verlassen hat, sitzt auch dann wieder in der Küche und ringt mit Gespenstern und Widersachern um seine Texte. Wie in Die Vorgeschichte, einem weiteren Text aus dem Nachlass zu lesen ist, analogisiert der Schriftsteller Wolfgang Hilbig seine Situation mit der seines Vorgängers Franz Kafka. Der Verweis auf die Vorgeschichte eröffnet den Blick nicht nur auf die intertextuelle Vorgängerschaft dieses Autors, es sind dies auch die Räume, die bereits bei Kafka in ihrer Verwandlung wie alte Bekannte wieder zu erkennen sind: Die Stille von gestern hat sich in das Geschrei von morgen schon verwandelt. Der heutige Tag dazwischen fehlt, er war so belanglos wie eine Erklärung. Das Treppenhaus mit den hölzernen Treppen, die ins Endlose steigen, der lichtdurchwirkte Treppenflur, in dem der stille Nachmittag zurückblieb. Der Schluß der Vorgeschichte fehlt, es bleibt unbewiesen, daß du am Ende warst, zu früh stiegst du wieder zurück ... und die Treppen über dir begannen zu reisen, sich in die Höhe zu schrauben, vor deinem Blick nach unten begannen sie sich wirbelnd in die Tiefe zu bohren … es war eine Stimme, sagst du, vielleicht zu leise, der leise Ruf einer Stimme, in der kaum noch Hoffnung war. (Hilbig 2009, 708) Wie sich hier Zeit in alogische Transformationen eines heutemorgestern begibt, wie sich in die Kreisbewegungen fixierter dinglicher Verhältnisse, die sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe streben, Endliches in Endloses verwandelt, so baut Hilbig eine eigenständige Kosmologie auf, die die bisherigen Erklärungen und Beschreibungen Lügen straft. Angesichts der Wandelbarkeit der Dinge, die die bisherigen Gewissheiten in niederschmetternder Weise der Wahrheit entkleiden, sind die inneren Zustände in einen Process überführt worden, der metaphorisch immerhin seinen Bestand gegen die Gleichgültigkeit behaupten konnte. Hilbigs Vorgeschichte von 1984 korrespondiert mit der Welt Franz Kafkas:
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Es muß aber eine winzige Wahrheit dabei gewesen sein, eine Warnung, eine Hintertür, eine unscheinbare Ausflucht aus dem riesigen Raum des Vergessens (...) Es war der berühmte Schlag auf die Schulter, leicht und trocken, von hinten und unverhofft. Und niemand zu sehen, als ich mich umwandte. Der Schlag von einer langen unsichtbaren Hand. Und folgte dem Verhängnis ohne Widerstand. (Hilbig 2009, 708f.)
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Literatur Delius, Mara (2009): Innen, außen. Kafkas imaginierte Räume und die Architektur. In. Frankfurter Allgemeines Zeitung vom 6. Mai 2009, Nr. 104, S. N 4 Endler, Adolf (1992): Hölle / Maelstrom / Abwesenheit. Fragmente über Wolfgang Hilbig. In: Hilbig, Wolfgang (1992): zwischen den paradiesen. Leipzig: Reclam, S. 313-344 Hilbig, Wolfgang (1982) Der Mythos ist irdisch. In: Neue Rundschau, Heft 3 /1982, Frankfurt am Main: Fischer, S. 120-127 Hilbig, Wolfgang 1993: Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main: Fischer Hilbig, Wolfgang 1996: Die Kunde von den Bäumen. Frankfurt am Main: Fischer Hilbig, Wolfgang 2000: Das Provisorium. Frankfurt am Main: Fischer Hilbig, Wolfgang (2008) Werke, Bd. I Gedichte. Frankfurt am Main: Fischer. Hilbig, Wolfgang (2009) Werke, Bd. II Erzählungen und Kurzprosa. Frankfurt am Main: Fischer. Lange-Müller, Katja (2009): Wenn du mich verstehst ohne Brille… Ein Nachwort. In: Hilbig Wolfgang (2009): Werke, Bd. II. Erzählungen und Kurzprosa. Frankfurt am Main: Fischer, 743-760 Lohse, Maren (2008): Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie. Leipzig: Plöttner Opitz, Michael / Hoffmann, Michael (Hg.) (2009): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/ Weimar: Metzler Verlag. Stillmark, Hans-Christian (1999): Im ohnmächtigen Halluzinationsrausch der ‚Entwirklichung‘ – Negative Synästhesie in Wolfgang Hilbigs ‚Beschreibung II‘. In: Sinestesie: percezioni sensoriali multiple nella cultura degli ultimi quarant’anni. Hrsg. von Lia Secci, Anna Fattori, Leonardo Tofi. Perugia: Edizioni Scientifiche Italiane S. 233-246 Stillmark, Hans-Christian (2002): Der Arbeiter – die zentrale Nebengestalt der DDR-Literatur. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Band 52. Rückblicke auf die Literatur der DDR. Hrsg. von Hans-Christian Stillmark. Amsterdam / New York: Rodopi, S. 347-370
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Der Grenzraum als literarische Landschaft: Eine lesende Durchquerung von Raoul Schrotts Die Wüste Lop Nor
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Finis Terrae. Ein Nachlass, Die Fünfte Welt, Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde, Die Wüste Lop Nor, schon ein Blick auf die Romantitel Raoul Schrotts genügt, um den Eindruck zu bekommen, man habe es bei diesem Autor mit einer Vorliebe für Geographie zu tun. Blättert man in den Romanen herum und nimmt vielleicht noch das ein oder andere Gedicht dazu, von denen beinah alle mit Entstehungsort und Datum gekennzeichnet sind (vgl. Skinner 2007, 17-26), verstärkt sich dieser Eindruck unweigerlich. Ortsnamen, wohin man blickt. Dazu passt gut, dass Schrotts Protagonisten häufig Reisende sind; seine Texte sind unweigerlich bestimmt durch die Bewegung im Raum. Sie wechseln beständig den Ort. Doch welchen Stellenwert haben die konkreten Orte in seinen Texten, welche Rolle spielen sie? Handelt es sich bei seinen Romanen um (fiktive) Reisebeschreibungen? Dann wäre der konkrete Ort mit seinen Besonderheiten Mittel- und Zielpunkt dieser Texte. Oder wird der Raum als Handlungsraum konstruiert und ist damit eine funktionale Kategorie des Erzählens? Benötigt Schrott Orte lediglich als Hintergrund für seine Geschichten? Blickt man ein zweites Mal auf die Reihe der genannten Romantitel, so konkretisieren sich die Vorstellungen von den geographischen Räumen Schrotts. Es scheint, als habe der Autor bei der Auswahl eine Vorliebe für das schwer Zugängliche, das Entlegene, das witterungstechnisch Unfreundliche, gar Menschenfeindliche. Die
Der Grenzraum als literarische Landschaft
genannten Titel verweisen allesamt auf Grenzräume. Damit seien Bereiche gemeint, die Übergänge markieren und das (menschliche) Leben herausfordern oder gar in Frage stellen. Grenzräume in diesem Verständnis weisen den Menschen zurück auf seine bloße Existenz, die durch Mangel und extreme Witterungsbedingungen in den Vordergrund tritt. Schrott wählt also Räume eines bestimmten Charakters zu Schauplätzen seiner Romane. Ich möchte einen dieser unfruchtbaren menschenfeindlichen Orte herausgreifen, um dort der Frage nach dem Raum bei Schrott nachzugehen. Unternehmen wir also im Folgenden eine Reise durch Die Wüste Lop Nor. Wenn die Wüste als literarischer Ort aufgerufen wird, schwingt eine Fülle von Konnotationen mit: Von den Abenteuerschauplätzen Karl Mays in Durch die Wüste bis hin zum Verständnis der Wüste als Metapher für die Schrift und das Schreiben bei Derrida (vgl. Derrida 1976, 102ff ). Im einzelnen können diese Konnotationen, kann der metaphorischen Gehalt der Wüste in Moderne und Postmoderne bei Monika Schmitz-Emans nachgelesen werden, die schließlich zusammenfassend konstatiert: Und die Wüste ist immer noch und immer wieder eins: Herausforderung für das Wort. Sie ist Gleichnis dessen, was sich nicht sagen, nicht positiv darstellen läßt, das schlechthin anderen, das bei aller Undarstellbarkeit doch das eigentliche Stimulans literarischer Darstellung ist. (Schmitz-Emans 2000, 149) Dass Schrott sich als habilitierter Literaturwissenschaftler dieser Tradition durchaus bewusst ist, in welche er sich einschreibt, wird deutlich, wenn er selbst auf die Wüste als ersten Ort der Dichtung verweist (vgl. Skinner 2007, 17-26). Wie aber geht er erzählend mit diesem Bewusstsein um? Begeben wir uns ein Stück in die Wüste, bevor wir auf diese Frage zurückkommen. Was geschieht nun in der Wüste Lop Nor? Der Text ist von seinem Selbstverständnis her kein Roman, sondern eine Novelle. Es liegt also nahe zu fragen, welches die unerhörte Begebenheit sei, die im Zentrum der Handlung steht. Gehandelt wird zunächst jedoch nicht viel, stattdessen wird erzählt. Raoul Louper erinnert sich in Kairo im Kreise von Freunden – oder sagen wir neutral: Bekannten – darunter ein ungarischer Professor und dessen Frau, an drei Frauen in seinem Leben. Dieses Erzählen wiederum wird von einem dieser Freunde 1 erzählt und kommentiert. Raoul ist ein 1
Der Erzähler bleibt eine Leerstelle dieser Novelle. Auf Seite 120 heißt es über ihn: „Von mir war kaum die Rede, ich weiß. Ich höre Elfi zu, wie sie erzählt, Elif, die dort im Stuhl sitzt, die Augen groß und glänzend in der Dämmerung. Raoul hat..., sagt sie; aber ich bin nicht Raoul.“
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Reisender und Protagonist der Novelle. Seine Reisen lassen ihn die Wege der drei Frauen kreuzen, um die seine Erinnerungen kreisen. Von jeder besitzt er jeweils ein Souvenir, einen Gegenstand, der als Spur in seinem Leben zurückgeblieben ist. Mit Francesca, seiner ersten Frau, verbindet ihn ein Pinienzapfen, mit Arlette, der zweiten, ein Stein und mit Elif, der dritten im Bunde, ein Cri-Cri. Von diesen drei Gegenständen, die auf der Fensterbank von Raouls Wohnung lagern, nimmt das Erzählen seinen Ausgang und dringt immer wieder in Wüstengegenden vor. Erzählt wird von der Liebe und ihrem Vergehen. Raoul begegnet Francesca und Arlette und trennt sich wieder von ihnen. „Wenn eine Liebe zu Ende ist, wechselt man den Ort“ (Schrott 2000, 53), konstatiert er lakonisch. Bei Elif scheint er schließlich die Liebe gefunden zu haben. Mit ihr bereist er die Wüste Lop Nor, wo Elif die Stille und gegenseitige Abhängigkeit schwer erträgt. Die Schwierigkeiten im Miteinander lassen bereits erahnen, dass auch diese Liebe kein glückliches Ende nimmt: „Raoul hat Elif verlassen. Nicht, weil sie sich nicht mehr lieben, sondern weil sie miteinander nicht leben können.“ (Schrott 2000, 123) Die Wüste Lop Nor ist also eine Liebesgeschichte mit traurigem Ende? Der Ort ein Erinnerungsort, an welchem die Emotionen der Vergangenheit haften und den es zu verlassen gilt, will man diesen Erinnerungen entgehen? Vielleicht. Vielleicht ist Die Wüste Lop Nor aber auch mehr, denn die drei Freunde, die in Kairo zusammensitzen, sprechen und suchen vor allem nach dem Geräusch des Sandes.
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Im Tal von Copiapo roch es nach Nelken. Raoul übernachtete auf der Bank einer Kneipe. An der Theke erzählten sie von einem Hügel namens Bramador – nach dem brunftigen Brüllen eines Stiers. Der Weg hinauf und der Weg herab ist ein und derselbe. Den Auskünften zufolge jedoch entstand der Laut nur, wenn man die Dünen hinaufkletterte, nicht aber beim Hinuntergehen. Das stellte sich als richtig heraus. (Schrott 2000, 56) Nehmen wir einmal an, nicht die Liebe oder ihr Verlust, sondern das Geheimnis der Wüste, das Geräusch des Sandes, sei die unerhörte Begebenheit dieser Novelle. „Algerien, das war El Oued, Touggourt, Ghardaia, El Golea, In Salah und Tomanresset; oder Asphalt bis Quatre Chemins.“ (Schrott 2000, 47) Immer wieder begegnen uns im Text geographische Orte: Dennoch wird über das Aufzählen von Ortsnamen die Erde noch nicht rund. Sie breitet sich vor einem aus wie eine Kartenrolle, die kein Ende nehmen will; das ist bei allen Geschichten so. (Schrott 2000, 89)
Der Grenzraum als literarische Landschaft
Raoul glaubt selbst nicht an die Aussagekraft von (Orts-)Namen.2 Orte scheinen für ihn im Gegenteil sogar beliebig zu sein: „All die Orte und ihre Zeiten. Sie wiederholen sich, ohne daß man sich ihrer Wiederkehr bewusst ist.“ (Schrott 2000, 83) Offenbar geht es weniger um einen konkreten Ort als Reiseziel oder Lebensraum als um den Charakter dieser Orte. „Ein ausgetrocknetes Flussbett oder die Arme eines Deltas, Dürre; ein Busch, irgendein Kiesel, sogar ein Termitenhügel manchmal: dem Wind genügt das.“ (Schrott 2000, 79) So beschreibt der Erzähler die Entstehung der Dünen. Auf das Konkrete kommt es in dieser Beschreibung nicht an: irgendein Kiesel genügt. Diese Beliebigkeit steht in einem (gewollten) Spannungsverhältnis zu den scheinbar so präzisen geographischen Ortsbestimmungen, deren Präzision jedoch bei genauerem Hinsehen immer wieder unterlaufen wird, etwa wenn es darum geht, die Koordinaten der Wüste Lop Nor zu bestimmen – was in der Novelle mehrfach versucht wird. Vieles ist ineinander enthalten, nicht nur in Namen; auch im Norden gibt es Süden und Westen. Die Wüste Badain Jaran befindet sich in der Wüste Gobi, ja; in ihr ist aber auch die Wüste Takla Makan zu finden. Und darin wiederum, irgendwo dort, wenn auch noch nicht genau da und jetzt, liegt die unberührte Mitte der Erde, die Wüste Lop. (Schrott 2000, 94) In dieser Passage erfährt Lop Nor als Grenzraum noch größere semantische Aufladung: Sie ist der Mittelpunkt der Erde und dazu unberührt. Dennoch bleiben ihre genauen geographischen wie auch zeitlichen Koordinaten im Nebel oder vielleicht auch unwichtig: irgendwo dort, wenn auch noch nicht genau da und jetzt.3 Der Lop Wüste kann man sich offenbar nicht über Ortsnamen annähern. Auch die geographischen Bestimmungsmittel durch Längen- oder Breitengrade scheitern an ihrer Festschreibung. Es liegt nah, nun die konkreten Orte zu verlassen und nach einer uneigentlichen Bedeutung zu fragen. Doch auch der symbolische Gehalt 2
Wendy Skinner konstatiert in Bezug auf die Wüstengedichte Schrotts: „Das Benennen der Wüste macht diese also nicht fassbarer, es ermöglicht nur den Anschein einer Herrschaft über die Natur.“ (Skinner 2007, 24)
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Das Zeitliche scheint mit dem Räumlichen in Schrotts Wüstennovelle stets eng verwoben. Der Text eröffnet mit einer Passage über die Sanduhr der japanischen Stadt Nima und schließt mit dem Verweis auf dieselbe. In einem Jahr läuft der Sand, ein Jahr dauert es, bis sich das obere Glas leert. Das ist die einzige zeitliche Gewissheit der gesamten Novelle. Darüber hinaus fehlt jede Art von Zeitangabe, auch das Erzählen bedient sich über weite Strecken dem scheinbar zeitlosen Präsens und erzeugt dadurch eine seltsame Nähe.
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der Wüste scheint nicht entscheidend. Konnotationen der Wüste etwa als Metapher für Zeit und Leben werden von Schrott explizit aufgenommen, zum Beispiel durch die Rahmung des Textes, so dass Interpretationsansätze, die auf solche metaphorischen Beziehungen zielen, in offene Arme und gerade deshalb seltsam ins Leere laufen. Zurück bleibt die Landschaft der Wüste, ihre Leere. Zurück bleiben der Sand und sein Singen. Die Novelle selbst birgt drei Versuche der Annäherung an das Geräusch des Sandes: die wissenschaftliche Beschreibung, den Mythos und die Erfahrung. Wissenschaftliche Sprache, Dichtung und körperliches Empfinden versuchen gleichermaßen das Geheimnis zu ergründen. Török [der ungarische Professor; A.d.V.] entwirft Theorien. Das Phänomen, daß eine Düne singt, meint er, ist am häufigsten auf der vom Wind abgewandten Seite zu beobachten. Und es scheint mit der matten Rundung der Sandkörner zu tun zu haben. (Schrott 2000, 40) (Natur-)Wissenschaftliche Kommentare, meist von Seiten des ungarischen Professors, aber auch geographische Details wie Längen- und Höhenangaben sowie Erzählerkommentare zu Physikalischem, zu Frequenzen von Geräuschen und der Flugbahn des Sandes durchbrechen immer wieder das Erinnern an die drei Frauen Raouls. Wissensdurst motiviert offenbar zahlreiche Forschungsreisen, die im Text ebenfalls erinnert werden. Dennoch scheint der Erzähler den wissenschaftlichen Beschreibungen der Wüste und ihrer Rätsel gegenüber skeptisch. Er verweist stellvertretend auf die Grenzen der mathematischen Berechnung, auf die Beschränktheit der „Königin“ aller Wissenschaft.
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Es braucht mindestens drei Punkte, um einen Kreis zu bestimmen; das tut man, um den Mittelpunkt zu finden. Doch was, wenn sie wie in der Wirklichkeit auf einer Geraden liegen? Was nützt einem sphärische Geometrie? Die Schwerkräfte einer Düne, die Eigenschaften von Sanden vermag sie nicht zu berechnen. (Schrott 2000, 83) Auch Raoul selbst wird in der Novelle nicht als Wissenschaftler beschrieben. Er ist kein Intellektueller, lehnt Musik ab, weil sie ihm zu viele Töne hat, liest keine Bücher und bedient sich selten komplexer Sätze. Er ist ein Reisender, der zur Finanzierung seiner Reisen immer wieder Gelegenheitsjobs annimmt, mehr weiß man nicht über ihn. Die naturwissenschaftliche Sprache mit ihrer Metaphorik vermag die Wüste nicht zu fassen. Das Ephemere entzieht sich sowohl der geographischen Benennung als auch der naturwissen-
Der Grenzraum als literarische Landschaft
schaftlichen Beschreibung. Raoul, der seine Geschichten auch nur für andere erzählt und für sich selbst etwas anderes als Worte findet (vgl. Schrott 2000, 99), versucht eine Annäherung über das leibliche Er-fahren der Wüste. Stets ist eine körperliche Berührung des Sandes, ein Rutschen oder Anfassen, nötig, um das gesuchte Geräusch auszulösen. Erklingt es schließlich, werden immer wieder Vergleiche gezogen, um es (sprachlich) einzufangen. Vom Joch der Dünen aus sieht man in tiefe Krater, die der Wind bis auf den ausgebleichten Fels freigeweht hatte. Es war eine andere Zeit, die man darin sah. Mit der Hand durch den Sand zu fahren, genügte, um sie zu hören. Der Ton glich dem der tiefsten Saite eines Cellos oder eines Kontrabasses; es blieb nur ein vereinzelter Ton, doch als er nachts im Schlafsack lag, hallte er über eine Viertelstunde nach. (Schrott 2000, 49) Die Vergleiche machen die Schwierigkeit deutlich, das Geräusch zu beschreiben, das Inbegriff der Wüste, das ihr Geheimnis ist. Dieses Ephemere führt die Sprache an ihre Grenzen. Die Vergleiche nähern sich ihm an, umkreisen es. Sie geben dem Geräusch des Sandes eine gewisse Schwere und Tiefe (Wal und Kontrabass, die Gewichtigsten ihrer Klassen). Die Sprache gelangt nicht nur als wissenschaftliche Sprache an ihre Grenzen, sie muss auf Tropen zurückgreifen, auf poetische Instrumente. Rothenbühler hebt neben der Metapher besonders den Vergleich bei Schrott hervor: Die Metapher droht die Differenzerfahrung des Erhabenen vorschnell zu nivellieren, das Simile dagegen lässt sie im vergleichenden „wie“ oder „als ob“ hervortreten. (Rothenbühler 2007, 50) Er geht davon aus, dass für Schrott die Leere und Weite bestimmter Landschaften die Differenzerfahrung des Erhabenen erfahrbar machen. Diese Differenzerfahrung manifestiert sich literarisch im Vergleich. Die Tropen und damit die Dichtung ebnen also den Weg, auf welchem man sich den Grenzbereichen der Sprache annähert. So verwundert es auch nicht, dass der dritte Versuch, das Geheimnis der Wüste zu ergründen, über Dichtung läuft. Sowohl Arlette als auch Elif bitten Raoul um eine Geschichte. Während Arlette einfach die schönste Geschichte hören möchte, „egal ob sie wahr ist“ (Schrott 2000, 26), verlangt Elif eine Geschichte und fordert Raoul sogleich auf „und mach, daß sie wahr wird.“ (Schrott 2000, 73) Auf diese Aufforderungen folgt jeweils ein Erzählung, ein Mythos, von der Entstehung der Wüste Lop (vgl. Schrott 2000, 26-29 und 74-77). Beide Geschichten berichten von unerlaubter und im Leben deshalb unerfüllter Liebe, die erst im Tode ihre Erfüllung findet. Beide
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Geschichten schließen scheinbar mit dem gleichen Satz, variiert werden nur die Artikel: „So waren die beiden für alle Ewigkeit vereint, fügte sich die Sichel des Sees an den Fuß der Düne“, schließt Arlettes Geschichte. In der Geschichte von Elif bleibt der Artikel unbestimmt: „So waren die beiden für alle Ewigkeit vereint, fügte sich die Sichel eines Sees an den Fuß einer Düne.“ Schon zeigt es sich wieder: irgendein Kiesel genügt. Die Mythen scheinen dem Geheimnis der Dünen auf den Grund zu kommen, vielleicht gerade weil sie sich scheinbar von den Dingen abwenden, statt diese genau zu beschreiben. Der ungarische Professor muss in seinem Versuch, den Geheimnissen der Wüste mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung auf den Grund zu kommen, ebenso kapitulieren wie schließlich der Erzähler vor seiner Aufgabe. Ich erzähle diese Geschichte schon lange nicht mehr. Sie ist über die Abende in Kairo, den Tisch mit dem Schachbrettmuster seiner Fliesen längst hinausgewachsen. Török steht auf dem Balkon. Seine Frau lehnt am Türrahmen. Raoul sitzt auf seinem Stuhl im Schatten der Lampe. Es gibt einen Augenblick beim Erzählen, wo sich die Dinge so nahe kommen, daß die Konturen sich aufzulösen beginnen; dann schweigt man besser. (Schrott 2000, 106)
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Das Geräusch des Sandes als ephemeres Ereignis entzieht sich der Beschreibung. Der Grenzraum, der uns hier begegnet, ist vor allem auch ein sprachlicher. Wir befinden uns in Schrotts Novelle an keinem konkreten Ort. Das poetische Sprechen, die Tropen – vor allem das Simile – lassen die Wüste als Landschaft im Sinne Georg Simmels aufscheinen. Während wir nach Simmel Natur als „den endlosen Zusammenhang der Dinge, das ununterbrochene Gebären und Vernichten der Formen, die flutende Einheit des Geschehens, die sich in der Kontinuität der zeitlichen und der räumlichen Existenz ausdrückt“ (Simmel 1957, 141 ) bezeichnen, entsteht Landschaft, indem ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefaßt wird, einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte, der religiös empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege eben dieses Blickfeld umgreift. Der erhebliche Träger dieser Einheit ist wohl das, was man die „Stimmung“ der Landschaft nennt. (Simmel 1957, 148f )
Der Grenzraum als literarische Landschaft
In Die Wüste Lop Nor tritt der geographische Ort hinter die Landschaft und ihre Stimmung zurück. Alexander Ritter stellt in der Einleitung zu seiner Textsammlung Landschaft und Raum in der Erzählkunst fest, dass Landschaft in der bisherigen literaturwissenschaftlichen Forschung vordergründig als Funktionselement der Dichtung betrachtet und damit recht stiefmütterlich behandelt worden sei (vgl. Ritter 1975, 5). Bei Schrott aber begegnen wir einer Landschaft, die nicht in erster Linie Handlungsort oder ein anderes Funktionselement der Dichtung ist, sondern Objekt der Kontemplation oder gar selbst Protagonistin. Das zeigt sich, wenn Ereignisse vom Erzähler explizit als nicht erzählwürdig ausgeklammert werden: Es wäre von einzelnen Begegnungen zu berichten, dann von gebrochenen Federn, die mit nassen Hanfstricken festgezurrt wurden, von Gängen, die sich nicht mehr einlegen ließen, notdürftig reparierten Reifen. Doch all dies sind Dinge, die einem ohnehin in Erinnerung bleiben. (Schrott 2000. 109) In zeitgenössischer Literatur kann zunehmend ein Zurücktreten des geographischen Raumes zugunsten der Landschaft und damit der Stimmung beobachtet werden. Schrotts Landschaften fordern die literaturwissenschaftliche Forschung heraus und führen sie auf die Spur der Stimmung, deren semantische Tradition im 19. Jahrhundert ihren Anfang nimmt. Mit Meyer-Sickendiek gehe ich davon aus, dass das Phänomen als eine unbewusste emotionale Befindlichkeit in der deutschen Frühromantik „entdeckt“ wird und im romantischen Begriff des Schwebens seinen Ausdruck findet. Die Stimmung schreibt sich erstmals im romantischen Kunstmärchen und in den Texten der Schauerromantik ein. Diese literarische Entdekkung der Stimmung bildet gewissermaßen die Voraussetzung für eine Loslösung der Gefühle von der personalen Innerlichkeit und somit für die Entstehung des (literarischen) Gefühlsraums. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert tritt an die Stelle der Intentionalität beziehungsweise Propositionalität des Gefühls die Existentialität der Stimmung. Soviel zu den Glanzzeiten des Stimmungsbegriffs. In der gegenwärtigen ästhetischen Diskussion ist die Stimmung überraschenderweise nahezu vollkommen verschwunden. Ursachen für diese Entwicklung sind nach David Wellberry zum einen die linguistische Wende der Ästhetik, zum anderen die alltagssprachliche Trivialisierung des Begriffs. Vor allem aber scheint die musikalische Metapher, die als Figuration seelischer Zustände dem Stimmungsbegriff immer mitschwinge, ihre Beschreibungskraft eingebüßt zu haben (vgl. Wellbery 2003, 732f ). Diese Entwicklung, die der Stimmungsbegriff in der zweiten Hälfte des 20.
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Jahrhunderts nimmt, steht im Kontrast zu dem, was sich in literarischen Texten momentan einschreibt. Der scheinbar obsolete Stimmungsbegriff gewinnt für die Literaturtheorie dort an Bedeutung, wo der Raum als Gefühlsraum (vgl. Schmitz 1981) in Erscheinung tritt. Wo sich – wie bei Schrott – Grenzräume als literarische Landschaften öffnen, ist die Stimmung relevant für die literaturwissenschaftliche Beschreibung. Jenseits der Wüste Lop Nor bleiben weitere (sprachliche) Grenzräume auszuloten, etwa die Sainte Victoire Handkes, Ransmayers Letzte Welt oder Schrotts Tristan da Cunha. Weisen die Tropen auch hier den Weg durch die Wüste, sind Vergleich und Metapher sprachliche Grenzgänger – oder anders gesagt: wie schweigt die zeitgenössische Literatur über die Dinge, an denen das Sprechen scheitert?
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Literatur Derrida, Jaques (1976): Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Meyer-Sickendiek, Burkhard (2005): Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg: Königshausen und Neumann. Ritter, Alexander (1975): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Rosenbühler, Daniel (2007): Schrotts Dialog mit den Naturwissenschaften. In: Text und Kritik, Nr. 176, Heft 10/2007, 43-52. Schmitz, Hermann (1981): System der Philosophie, Bd. 2: Der Gefühlsraum (1969), Bonn: Bouvier Schmitz-Emans, Monika (2000): „Die Wüste als poetologisches Gleichnis: Beispiele, Aspekte, Ausblicke“. In: Uwe Lindemann und Monika Schmitz-Emans [Hg.]: Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherung an einen interkulturellen Topos. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 127-151. Schrott, Raoul (2000): Die Wüste Lop Nor. München, Wien: Carl Hanser Verlag. Simmel, Georg (1957): „Das Schöne und die Kunst. Philosophie der Landschaft“. In: Michael Landmann (Hg): Georg Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart: K.F. Koehler Verlag, S. 141-152. Skinner, Wendy (2007): „Zwischen ‚parenthesen des sandes‘“. In: Text und Kritik, Nr. 176, Heft 10, 2007, S. 17-26. Wellbery, David E. (2003): ‚Stimmung‘. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5, Stuttgart: Metzler Verlag, S. 703-733.
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Affekte der Straße in zeitgenössischen autobiographischen Texten und dystopischen Romanen
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Die Straße erzwingt Bewegung, innerlich und äußerlich, physisch und psychisch. Wer eine Straße betritt, muss sich in ihren Fluss begeben und jede Störung vermeiden. Ein Verweilen auf der Straße ist beinahe unmöglich, es behindert den Fluss des wie auch immer gearteten Straßenverkehrs und muss deswegen Ausnahmesituation und zeitlich begrenzt bleiben. Eine Straße zu betreten, bedeutet aber nicht nur Zwang. Schließlich verlässt man mit dem Schritt aus einem Gebäude heraus den umbauten Raum und betritt einen Raum ohne Mauern und ohne Bedachung. Das ist befreiend. Straße bedeutet demnach Zwang und Befreiung. Der emotionale Spielraum Straße ist heterogen, nicht eindeutig festgelegt, sondern komplex. Affektiv wird mit der Straße häufig Unsicherheit oder sogar Angst in Zusammenhang gesetzt. Diese Wahrnehmung ist genreübergreifend, geschlechterunspezifisch und international. Eine Straße zu betreten ist gefährlich. Politische Bedingungen verstärken oder vermindern diesen Zustand. Unter dem Begriff des „spatial turn“ sind seit den 1990er Jahren neue Wahrnehmungen des Raumes besprochen worden. Vor allem in den Sozial- und Kulturwissenschaften setzt man sich für eine komplexe Beschreibung von „Raum“ ein. Auch der jüngst proklamierte „topographical turn“ (Sigrid Weigel) der Kulturwissenschaften beruht auf der Annahme, dass Raum nicht einfach gegeben ist, sondern produziert wird. Kaum ein anderer Raum steht so sehr
Affekte der Straße
für Dynamik, Veränderung, Prägung und subjektive Wahrnehmung von Räumlichkeiten wie die Straße. „Erinnerung bedarf immer eines Anstoßes; nach Heiner Müller geht Erinnerungsarbeit immer von Schocks aus.“ (Assmann 1999, 18) Der Straßenraum bietet enormes Potential, Schocks zu erleben und zu speichern. Entsprechend arbeitet die Straße als Erinnerungsraum durchaus eindrücklich und nachhaltend. Der Straßenraum bindet und konserviert Erinnerung, gemäß Ciceros Ausspruch „Groß ist die Kraft, die Orten inne wohnt“. Wer sich der bequemen wie suggestiven Wendung des „Gedächtnisses der Orte“ bedient, lässt laut Aleida Assmann offen, ob es sich dabei um einen genitivus obiectivus, ein Gedächtnis an die Orte, oder einen genitivus subiectivus handelt, ein Gedächtnis, „das in den Orten selbst lokalisiert ist“ (Assmann 1999, 298). Der genitivus subiectivus ist der mythische Ort, an dem die Bilder, die affektive Einprägung von Wissen geordnet wird. Wenngleich laut Assmann Orte kein immanentes Gedächtnis besitzen, sind sie Plattform für die Konstruktion des kulturellen Erinnerungsraumes und langjährige Träger derselben. Topoi sowie Texte sind in Symbolsystemen verankert. Dass Räume das Gedächtnis anregen und dazu beitragen, Erinnerungen effizient wieder freizugeben, ist durch verschiedene neuropsychologische Tests und Untersuchungen bereits belegt. Straßen können mit Emotionen aufgeladen sein und verweisen auf vergangene Affekte. Die Kombination des Straßenraumes und der Erinnerung kann diese Affekte erneut auslösen.
„Seine Straße vergisst man nie …“ Straßenansichten in Meine Straße, herausgegeben von Henning Sußebach (2009) „Man vergisst vieles aus seiner Kindheit – seine Straße jedoch, diese Kindheitskulisse, vergisst man nie“, heißt es im Vorwort des Bandes Meine Straße (Sußebach 2009, 4). Henning Sußebach hat dafür zwanzig Redakteure und Mitarbeiter der Wochenzeitung Die Zeit gebeten, Erinnerungen an ihre Kindheitsstraße niederzuschreiben. Dabei sind sehr persönliche Zeitzeugnisse entstanden. Die entstandenen Episoden lesen sich als Streifzug durch die Generationen. Die Erinnerungen, die Kindheit, das Erwachsenwerden und der damit in Zusammenhang stehende Rollenwechsel, aber auch Politik, der Umgang mit dem geteilten Deutschland und den beiden Systemen sind die aufgegriffenen Themen. Ein Großteil der Texte beschreibt den Wohlstand der sechziger und siebziger Jahre in Westdeutsch-
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land. Sorglosigkeit und wirtschaftliches Wachstum garantierten Entspannung auf den Straßen. Sehr deutlich wird, dass sich auf der Straße zeigt, wie es um die Gesellschaft steht. Die Wahrnehmung des Kindes und die Reflexion über diese Wahrnehmung als Erwachsener zeigt, wie sich die Gesellschaft verändert. Die kindliche Perspektive ist ein literarisches Mittel, den Grad der Authentizität zu erhöhen. Vermindert wird sie durch die Wiedergabe der kindlichen Eindrücke als Erwachsene, d.h. aus der Erinnerung heraus. Auffällig ist aber, dass beinahe alle Autoren die nahe Umgebung um das elterliche Haus oder die elterliche Wohnung als sehr vertraut und prägend empfinden. Selbst wenn sie als Erwachsene die Straßenräume betreten, sind sie ihnen noch sehr vertraut. Stellenweise sind die Erinnerungen so stark, dass sie den gegenwärtigen Zustand der Straße überlagern. In zehn von zwanzig Beiträgen fällt eine Formulierung wie „Meine Straße“ oder „unsere Straße“. Henning Sußebach selbst schreibt: „Die Erinnerung an meine Straße ist voller Geräusche.“ Stephan Lebert eröffnet seinen Text mit dem Satz: „Bei der Rückkehr in meine alte Straße sind mir zwei Menschen begegnet“ (Lebert 2009, 63), in Christof Siemes Text ist zu lesen „So was Aufregendes habe ich in meiner Straße nicht erlebt“ (Siemes 2009, 123). Es geht meist um positive Beschreibungen der Kindheit und der Straße, wenn die Autoren Formulierungen dieser Art verwenden. Sind die Erinnerungen negativ oder sogar traumatisch, beispielsweise durch den Zweiten Weltkrieg geprägt, werden die Räume nicht auf diese Weise „vereinnahmt“, sondern durch die namentliche Nennung und durch den bestimmten Artikel auf Abstand gehalten. Sußebachs Eindruck ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Sie [die Straße] ist der erste Laufsteg für das eigene Ego, hier wird man Anführer oder Außenseiter. Hier wird Heimat definiert. (Sußebach 2009, 5)
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„Das Schloss nebenan – Kronprinzenstraße 10 in Potsdam“ von Haug von Kuenheim Mehrere Texte des Bandes haben einen direkten Bezug zum Zweiten Weltkrieg. Haug von Kuenheim erlebte seine Kindheit und Jugend in dieser Zeit. Seine Eltern sind aus Ostpreußen, genauer aus Königsberg, aus der Juditter Allee, „nach Potsdam, Residenzstadt der preußischen Könige“, in die Kronprinzenstraße 10 gezogen, noch nicht geflohen. Für den Jungen ist der schmerzliche Kontrast zwischen Stadt und Land gravierend. War ihm die Heimat Weite, Freiheit, Frieden und Unbeschwertheit, wird in der Stadt all dies ins Gegenteil verkehrt.
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Wenn ich versuche, jene Jahre Gegenwart werden zu lassen, so drängen sich Bilder von der Weite Ostpreußens auf, von den Äckern, Wäldern und Seen, vom Leben auf dem Hof der Großeltern in Bergenthal, wo wir, so scheint es mir mehr Zeit verbrachten als in der Enge der Straße in Potsdam. (von Kuenheim 2009, 270) Die Kronprinzenstraße ist Sinnbild für den Verlust seiner Heimat, der Weite und Freiheit, die das Landleben ihm geboten hatte. Die Glücksmomente und seine eigentliche Kindheit erlebte der Autor in Ostpreußen. „Die Erinnerung an die Kronprinzenstraße verflog mit den Jahren“, schreibt er (von Kuenheim 2009, 270). Er wählte dennoch die Potsdamer Straße für seinen Beitrag aus. Das liegt an der Erinnerung an einzelne Personen, „die aus der Vergangenheit auftauchen“, wie z.B. der „Kaufmann Leue an der Ecke, der freundliche Hausmeister Babylon“ (von Kuenheim 2009, 270). Mehr noch liegt es an den traumatischen Kriegserfahrungen. Permanente Bedrohung, Todesangst, Verlustangst, Notzustände, Krieg. Sichtbar, greifbar und fühlbar wird er nirgends so deutlich wie auf der Straße. Die Kronprinzenstraße bestimmt den Bewegungsraum des Heranwachsenden, schränkt ihn räumlich ein. Für ihn ist sie der Ort des Krieges und steht für das Ende seiner Kindheit. Die Stadt kann ihm im doppelten Sinne keine Heimat werden. In Potsdam erlebte Haug von Kuenheim, wie die umliegenden Straßen und Gebäude zerstört wurden, sieht er seinen ersten Toten, den Einzug der Sowjets und auch das Ende des Krieges. Erstaunlicherweise blieben der Park und die darin stehenden Schlösser von den Bombenangriffen verschont, ebenso die Kronprinzenstraße. Nur wenige Wochen nach Kriegsende verlässt die Familie Potsdam. Kuenheim spricht weder von „meine“ oder „unsere Straße“. Er hofft sogar: „Vielleicht entschwindet sie ja einmal völlig aus der Erinnerung. Und dann bleibt nur noch Sanssouci.“ Eigentlich will er nicht die Straße vergessen, sondern die traumatischen Kriegsjahre. Schön wie das Schloss Sanssouci hätte die Jugend sein sollen, stattdessen bestimmten Krieg, Tod und Zerstörung den damaligen Alltag, alles eng verbunden mit der Kronprinzenstraße, die heute Feuerbachstraße heißt und eine der schönsten Straßen Potsdams ist, nicht nur weil sie direkt in den Park der berühmten Schlösser führt. Haug von Kuenheim kann diese Schönheit nicht mehr nachvollziehen, sie ist zu sehr genitivus subiectivus, der Krieg lässt sich nicht mehr davon lösen.
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„Zwischen den Blöcken – Ulica Kosciuszki 40 in Torun“ von Adam Soboczynski In Torun ist Adam Soboczynski aufgewachsen; seiner Beschreibung nach in einem typischen, so genannten Neubauviertel. In der Altstadt mochte früher niemand wohnen, meine Eltern auch nicht (…) Das Arbeiterglück lag in unserer Ulica Kosciuszki. (…) Unser Haus gehörte dazu, vier Stockwerke mit identischen Wohnungen: drei Zimmer, so klein, dass kein Schrank umkippen konnte, eine Küche, Bad, insgesamt achtundvierzig Quadratmeter. Von den Fenstern aus blickte man auf den nächsten, baugleichen Block, dazwischen lag ein karger, asphaltierter Platz mit Spielgerüsten für den sozialistischen Nachwuchs. (Soboczynski 2009, 212)
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Wenn Soboczynski von „meiner Straße“ spricht, meint er den Platz zwischen mehreren Blöcken, auf dem er als Junge Fahrrad fuhr und mit der sechzehnjährigen Grazyna auf der Bank saß. Grazyna brachte ihm hier das Laufen bei, denn das „Laufen auf meiner Straße fiel mir noch als Sechsjähriger schwer. Mein linkes Bein war zu kurz geraten.“ (Soboczynski 2009, 213) Im Unterschied zu den Straßenbeschreibungen anderer Texte ist hier eine Einsamkeit auffällig, die sich aus dem Wohnstadtcharakter der Blöcke ergibt. Es gibt kein Zentrum, keinen Wohlstand, kein gemeinsames Leben der Generationen außerhalb der eigenen vier Wände. Viele der anderen Autoren erinnern sich an Originale der Stadt, an Kaufleute, Nachbarn, die ein wachsames Auge auf die Kinder hatten. Den einzigen Kontakt, den Soboczynski zu den Menschen außerhalb der Familie hatte, war das sechzehnjährige Mädchen. Ein nicht zu erstaunlicher Kontrast zwischen der scheinbaren und offensichtlichen Einsamkeit und dem alltäglichen Leben inmitten Hunderter von Menschen, die in den Blöcken um den Platz wohnten. Untereinander blieben sie anonym. Für den zurück gekehrten Erwachsenen steigert sich diese Anonymität noch einmal, als er den Namen Grazynas auf den Klingelschildern vergeblich sucht, da dort nur noch Zahlen stehen und keine Namen mehr. Er wiederholt seine stärkste Erinnerung, setzt sich nach fünfundzwanzig Jahren wieder mit Grazyna auf die Bank. Der Unterschied zwischen der Sechzehnjährigen und der nun dreifachen Mutter erscheint ihm so unüberwindbar, dass er den Eindruck hat, mit einer beliebigen siebenunddreißigjährigen Mutter dort sitzen zu können. Die Anonymität schwebt über ihrem Wiedersehen. Soboczynski konnte und kann hier keine Heimat finden.
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„Beruhigte Zone – Herrenstraße in Wangen“ von Christian Schüle „Ich komme aus der Gasse“ (Schüle 2009, 133). „Ich komme aus der Fußgängerzone“ (Schüle 2009, 134). „Ich komme aus dem Wohlstand“ (Schüle 2009, 136). Westdeutschland während der 1970er und 1980er Jahre. Ausgereifter Wohlstand, eine behütete Kindheit. Der dritte hier vorgestellte Text ist beispielhaft für die Ausrichtung einer Mehrzahl der im Sammelband Meine Straße publizierten Texte. Christian Schüle ist im Luftkurort Wangen, nahe dem Bodensee aufgewachsen, in einer verkehrsberuhigten, autolosen Fußgängerzone. In der Fußgängerzone zu sein war unbedrohlich, weil es allen gut ging und der soziale Friede sozialer Kontrolle unterlag; weil außerdem die Herrenstraße für Autoverkehr gesperrt war. (Schüle 2009, 135) Aus Berlin in seine Heimatstadt zurück gekehrt, findet Schüle noch die altbekannten Läden vor, der heutige Straßenverlauf ist identisch mit dem seiner Kindheit und kann wahrscheinlich bis ins Mittelalter zurück verfolgt werden. Bis heute sind die Gassen mit Kopfsteinpflaster ausgelegt. Er setzt sich auf einen Brunnenrand, auf dem er schon als Kind gesessen hat, mit dem er Erinnerungen aus seiner Jugend verbindet, wird von dem Vater eines ehemaligen Klassenkameraden angesprochen, fühlt sich heimisch, geborgen, weit weg von dem „depressiven deutschen Großstadtbürger“. Schüle vermittelt einen klaren Eindruck von seinen Kindheitsjahren. Die Gassen sind seine Heimat, dort ist er aufgewachsen und mit ihnen ist er verwurzelt. Auch wenn er an manchem Kritik übt, so werden die Straßenzüge seiner Kindheit doch als positive Erinnerung zu seinem Leben gehören. Die Erinnerung an das hellrote Fahrrad, mit dem er über das Kopfsteinpflaster gerast ist, behütet, beobachtet von den nächsten Nachbarn. Das ist genau das, wofür ein gesundes Stadtzentrum stehen sollte, was es den Anwohnern, den Bürgern bieten müsste: die unaufdringliche Möglichkeit, sich zu treffen, ob zufällig oder gewollt, sich auszutauschen, zu flanieren, zu verweilen. Hier ist die Straße gesund, hier ist die Stadt gesund, hier kann Bewährtes weiter wachsen.1 Schüle kannte als Kind keine Wünsche, die offen blieben, „weil alle bereits erfüllt waren.“ (…) „Wo wir auch hin kamen, der Markt war schon da, und es gab immer ein begehrenswertes Produkt, das 1
Vgl. Raum für Fußgänger – Straße und Stadtgestalt,1979; Adam/ Renner 1994; Schwibbe 2002.
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einem die Eltern kaufen konnten.“ (Schüle 2009, 136) Man könnte ungehindertes Glück schlussfolgern, aber Schüle stellt Verstörung fest: Unsere Sehnsuchtslosigkeit war verstörend; wir wurden ja von niemandem aufgefordert, uns nach Besserem zu sehnen oder etwas für die Gesellschaft Relevantes zu leisten (…); wir wuchsen auf in dem Glauben, wir müssten das Vorhandene nur verwalten. (Schüle, 2009, 136) In dem eigentlich angestrebten Idealzustand der Straßen und der Gesellschaft findet Schüle Anlass zu Kritik: Die offene Gesellschaft (die meiner Straße also) war so offen, dass man sich in ihr verirren konnte, so demokratisch, das man kein Gespür für Demokratie ausbildete, so pluralisiert, dass man vor lauter Selbstfindungsmöglichkeiten erschöpft war. (Schüle 2009, 137)
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Aber das Wangen, wie Schüle es als Kind erlebte, gibt es nicht mehr. Das feine „Paradies christlich-demokratischer Glückseligkeit“ (Schüle 2009 139) löst sich auf. Schüle macht das Ende exemplarisch am Verschwinden einer Person fest. Peppi Nussbaumer, das Original der Fußgängerzone, der Besitzer eines Schreibwarengeschäfts, ist weg. Mit ihm ist die Innenstadt Wangens verschwunden. Das Zentrum der Kleinstadt hat sich dem allgemeinen Trend der Discounter und Ketten angeschlossen, die laut Schüle „in Deutschland die Städte entseelt“ haben. (Schüle 2009, 138) Die drei ausgewählten Texte veranschaulichen unterschiedliche Verhältnisse der Bewohner zu ihren Straßen. Prägend für die Einschätzungen sind drei politisch differente Systeme, die das Leben der Familien und das Leben auf den Straßen deutlich determinieren: deutscher Faschismus, polnischer Sozialismus und Westdeutschlands Kapitalismus in wirtschaftlich besten Zeiten. In allen drei Essays wird deutlich, wie entscheidend politische Verhältnisse Kinder prägen. Auf der Straße lernen sie, wie sie sich im System verhalten müssen, passen sich an oder aber entfalten sich frei. Hier werden die Grundsteine für Erinnerungen gelegt und von hier gehen Impulse aus, die diese Erinnerungen wieder abgerufen. Das Bild der einen bestimmten Straße löst ganz bestimmte, mit ihr verbundene Erinnerungen aus, ganz gleich wie lange die Ereignisse vergangen sind, der Straßenraum löst die affektiven Momente erneut aus, man erinnert sich. Dabei hat jeder Autor positive und negative Erinnerungen an „seine Straße“. Entscheidend ist das Verhältnis zwischen diesen. Das führt unter anderem zur totalen Ablehnung, zu einer
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nüchternen Analyse oder zur verklärten Beschönigung: zur Definition der persönlichen Heimat.
Verschwinden die alten Straßen, entstehen die neuen Utopien José Saramago, Sibylle Berg und Cormac McCarthy haben in ihren Romanen Dystopien geschaffen, die vom Niedergang der Menschheit erzählen, die Apokalypse heraufbeschwören. Saramago initiiert den Untergang mithilfe der weißen Blindheit, Sybille Berg nutzt Bürgerkriege und Krankheiten als Auslöser und bei Cormac McCarthy ist bereits alles zerstört, nur die Straßen führen noch durch Amerika. In allen drei Texten ist die Straße wichtiger, sogar exklusiver Topos.
Vom Schattendasein zum selbstbestimmten Leben – „Ende gut“ von Sybille Berg (2004) „Die Welt liegt in Trümmern, Frau Berg sammelt sie auf “ – war der Slogan der Marketingkampagne für den Roman Ende gut von Sibylle Berg. Kaum eine Rezension verzichtete darauf. Eine Frau um die vierzig ist Heldin des Romans. Sie führt zunächst ein sinnloses, leeres, oberflächliches Leben. Wie automatisch, gleichsam fremdbestimmt erledigt die Protagonistin ihren Alltag. Sie lebt, sie arbeitet, isst, schaut fern, ohne emotional daran teilzunehmen. Aus dieser Lethargie wird sie erst gerissen, als die komplette Basis eines schemenhaften Lebens zerstört wird: ganz Europa lässt Sibylle Berg dafür untergehen. Der Kontinent verbrennt, wird von Krankheiten und Seuchen heimgesucht. Die Protagonistin beginnt nach dem Sinn des Lebens zu suchen und fragt, ob es diesen Sinn überhaupt gibt. Das Thema ist der rote Faden des Romans, wenn auch die Heldin ihre Sinnsuche nicht reflektiert. Daran schließt sich ein weiteres Thema des Romans an: der Verfall der Gesellschaft wegen des maßlosen Desinteresses aller an allem, vor allem an ihren nächsten Mitmenschen. Existiert Mitleid im Alltag überhaupt noch und wann ist der Mensch zum Mitleiden fähig? Ende gut ist ein Road Novel. Der Charakter der Protagonistin formt sich auf Straßen. Straßen werden stellenweise zu ihrer Heimat, zwingen sie aber stets zur Bewegung. Auf den Straßen erlebt sie entscheidende Impulse für ihre charakterliche Veränderung. Die Straße ist daher Antrieb für die Handlung und für die Motivierung der Protagonistin. Europa befindet sich bereits im Kriegszu-
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stand, als sie ihre Wohnung verlässt. Auf der Straße herrscht Chaos, viele Menschen sind unterwegs, die Protagonistin reiht sich ein. Als der Tross stehen bleibt, um einen „Mann aus dem Iran, dem Irak, aus Ägypten, woher auch immer“ tot zu treten, bricht sie zusammen: „Ich möchte nicht mehr. Nichts. (…) Da bin ich also umgefallen. Einfach so, wie man einen Fernseher ausschaltet. Ein leises Geräusch. Am Rande der Straße.“ (Berg 2004, 132f.) Hier auf der Straße befreit sie sich von ihrer bisherigen Emotionslosigkeit, Reglosigkeit, von ihrem Konsumdasein, hier findet ihre Wandlung statt. Die Straße wird treue Begleiterin und wichtiger Aufenthaltsort. Die Fortbewegungsart des Trampens kann auch einen Verweis auf die Beatnik-Generation darstellen. Zumindest zu Jack Kerouacs Protagonisten im Roman On the Road, der zur Leitfigur einer neuen US-amerikanischen Freiheit wurde im Gegensatz zu Bürgerlichkeit, Engstirnigkeit und Regelhaftigkeit. Bergs Protagonistin rebelliert gegen Massen- und Medienkonsum, gegen jede Form der Abstumpfung. Auf der Straße ist sie zum Kontakt mit Menschen gezwungen. Sie handelt plötzlich uneigennützig und verbessert im Umkehrschluss ihr eigenes Leben. Eines Nachts flieht sie in einem gestohlenen Auto mit einem stummen Mann. Nach verschieden Stationen entschließt sich das Paar, nach Finnland zu fahren. Im Unterschied zu ihrem lethargischen Konsumdasein zu Beginn des Romans erlebt die Protagonistin während dieser Fahrszene das Glück und die Entrückung der Welt. Die Auflösung des Lebens in den dromologischen Dimensionen, die nach Paul Virilio Basis für Krieg und Eroberungszüge sind, erlebt die Heldin als Rauschzustand und Befreiung. Die Fahrszene und ihr Glückszustand kündigten bereits das Happy End an. Die dominierenden Affekte, die die Straße im Roman Ende gut auslösen, sind aber dennoch Angst und Bedrohung. Eine emotionale, gedächtnisbezogene Beziehung zur Straße entsteht erst parallel zum Handlungsverlauf, denn zunächst sind die Straßen für die Protagonistin unbekannt und folglich frei von persönlichen Erinnerungen. Sie fungieren nicht als Orte, die Gedächtnis speichern, sind weder genitivus objectivus noch subiectivus. Bei aller Gesellschaftskritik und trotz dominierender Aussichtslosigkeit erreicht die Protagonistin ein Ziel, findet sie eine Heimat auf einer finnischen Insel: Kökar. Die Insel ist äußerst übersichtlich, die Häuser weit von einander entfernt im Dünengras, es gibt weder Zäune noch Mauern, keine Warnung-vor-dem-Hunde-Schilder, kaum Straßen und keine Autos. Wohin sollen die auch fahren, gerade beschleunigt, würden sie sofort im Meer versinken. (Berg 2004, 325)
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Dass die Protagonistin das Haus, in dem sie von nun an leben wird, am liebsten „auf den Schoß nehmen möchte“, ist eine erste gravierende emotionale Veränderung. Gebäude sind nicht mehr „abstoßend“ oder „bedauernswert“, im Gegenteil, sie können dazu beitragen, glücklich zu werden. Dieser Zustand wird weiter idealisiert, denn es gibt „kaum Straßen und keine Autos“. Lediglich Fußgänger benutzen die vorhandenen Wege und das Wohnen hört eben nicht an der Haustür auf. Die Heldin stellt fest: „Die Insel macht mir keine Angst (…) die Insel ist einfach eine Fortsetzung des Hauses“ (Berg 2004, 327). Dafür stehen selbstverständlich auch die nie verschlossenen Haustüren. Ganz gleich, ob jemand im Haus ist oder nicht, die Türen bleiben unverschlossen. Auf Straßen ohne Autoverkehr können sehr viele positive Funktionen der Straße wieder belebt werden. Dass diese Wege als Mittel für die Kriegsführung genutzt werden könnten, ist nun völlig ausgeschlossen. Stattdessen wird die Straße endgültig zum angstfreien Raum, in dem zwischenmenschlicher Kontakt Normalität ist. „Nach zwei Stunden habe ich alles gesehen. Einige Eingeborene treffe ich auf meinem Rundgang, sie hacken in ihren Gärten herum und grüßen freundlich, aber unaufdringlich.“ (Berg 2004, 328) Ökonomisch sind die Inselbewohner abgesichert, sie hatten alle gewinnbringend an der Börse spekuliert und sind nicht mehr gezwungen, gegen Entlohnung arbeiten zu müssen. Auch diese Tatsache bedingt die Rückbildung der Straßen in einfache Wege. Lange Distanzen sind radikal verkürzt, bisherige Eigentumsansprüche im Sinne von „my home is my castle“ werden von einer idealen, fast verklärten offenen Gesellschaftsform abgelöst.
Der körperliche Ausnahmezustand zwingt zur neuen Bewegungsform – „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago (2003) Saramagos Roman beginnt mit einer alltäglichen Verkehrsszene. Eine Ampel schaltet auf rot. Der Rush-Hour-Verkehr gerät ins Stokken. Zum Ärger aller fährt das erste Auto nicht los, hinter ihm beginnt das Hupkonzert. Hektisch, panisch versucht der Fahrer sein Auto zu verlassen. Er sieht nichts mehr, ist spontan erblindet. So beschreibt Saramago den ersten Fall der spontanen, weißen Blindheit. Eine schier ausweglose Situation, der Protagonist ist orientierungslos. Weitere folgen, wie eine Epidemie greift das Erblinden um sich. Der Staat will das Volk schützen, ergreift Zwangsmaßnahmen gegen die Erkrankten, pfercht sie in eine ehemalige Irrenanstalt. Bewacht werden sie vom Militär, erhalten täglich eine Nahrungs-
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ration. Der Ausnahmezustand stellt sich innerhalb dieser Heterotopie recht schnell ein, spitzt sich zu, als die Verpflegung eingestellt wird. Es gibt Kämpfe und Tote unter den Insassen. Saramago demaskiert die anfängliche Menschlichkeit. Ein harmonisches Miteinander ist in Zwangslagen anscheinend unmöglich. Nach wenigen Wochen stehen die Blinden vor der Wahl: entweder selbst zu krepieren, zu töten oder auszubrechen. Sie entscheiden sich für das scheinbar unmögliche Ausbrechen und starten den ersten Versuch, es gibt weitere Tote. Plötzlich aber verschwinden die Soldaten, auch sie sind erblindet. Die ersten Erkrankten könnten die Anstalt verlassen. Man sagt zu einem Blinden, Du bis frei, man öffnet ihm die Tür, die ihn von der Welt trennt, Geh, du bist frei, sagen wir ihm noch einmal, und er geht nicht, da steht er, mitten auf der Straße, er und die anderen, erschrocken, sie wissen nicht, wohin, es gibt keinen Vergleich zwischen dem Leben in einem rationalen Labyrinth, und das ist per definitionem eine Irrenanstalt, und einem Leben, in dem man sich ohne eine führende Hand oder die Leine eines Hundes in eine ihres Verstandes beraubte Stadt hinauswagen soll, wo die Erinnerung zu nichts nutze ist, denn sie wird nur in der Lage sein, Orte zu zeichnen, jedoch nicht die Wege, die dorthin führen. (Saramago 2003, 265)
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Saramago unterscheidet hier den Straßenraum als den Ort der Fortbewegung und Grundlage für die Orientierung, vom festen Ort/ Haus, an das sich der Blinde besser erinnern kann. Für die bloße Orientierung ist mindestens eine kurzfristige Erinnerung, die auf visuellen Eindrücken basiert, Voraussetzung. Eine persönliche oder gar kollektive Erinnerung in Verbindung mit Orten oder Straßen erscheint als Luxus aus vergangenen Zeiten. Der Verlust des Sehsinns bedeutet auch den Verlust der Erinnerungsarbeit. Die Orientierung durch die Historie ist ebenso aufgehoben, wie die reelle, aktuelle Orientierung durch die Stadt. Es ist den Blinden unmöglich, ihre Wohnungen zu finden. In kleinen Gruppen ziehen sie von Haus zu Haus, von einem Ladengeschäft zum nächsten. Immer auf der Suche nach Essbarem und der nächsten Unterkunft. Innerhalb weniger Wochen bricht die Stadt zusammen. In der Gruppe des ersten Blinden ist ein Ärzte-Ehepaar. Die Frau des Arztes blieb erstaunlicherweise von der weißen Blindheit verschont. In Saramagos Roman, Stadt der Sehenden, 2004 erschienen, wird die Frau des Augenarztes übrigens als Regimegegnerin vom Staat verfolgt. Eine ähnliche Sonderrolle hat sie in Stadt der Blinden: sie kann als Einzige sehen, die Gruppe führen und Nahrung organisieren. Sie
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beschreibt, wie die Straßen zu Müllhalden und Kloaken verkommen, kniehoch der Dreck, die Kranken, die noch gehen konnten, haben vor Hunger die Krankenhäuser verlassen und sterben nun einsam auf den Straßen. Selbst der Frau des Arztes fällt es sehr schwer, sich in der Stadt zu orientieren. Sie liest die Straßennamen und zählt die Seitenstraßen, die sie überquert. Für die Blinden stellt sich das Problem der Orientierung als schier unlösbar dar. Niemand da, der sehen kann und um Hilfe gebeten werden könnte, d. h. jede Orientierung geschieht zufällig, das Zurück muss immer bedacht sein, und ein Verirren, Verlieren ist lebensbedrohlich. Die Blinden verlassen sich auf ihren Tast- und Geruchssinn, klammern sich an Hauswände. Öffentliche Gebäude und Banken haben keine Funktion mehr, die Supermärkte und Geschäfte sind geplündert und zerstört, Krankenhäuser sind verlassen. Die Menschen hausen in Wohnungen oder Autos, die sie offensichtlich besser wiederfinden als eine Wohnung. Und dann sind da noch die Straßen. Sie geben noch Hoffnung, ermöglichen die Suche nach Essbarem, wenn sie auch in ihrer ursprünglichen Funktion extrem gestört sind. Die ganze Vielschichtigkeit, Heterogenität der Straße, von denen zu Beginn die Rede war, kann nur noch in sehr geringem Maße wirken. Das Primat des Visuellen ist aufgehoben. Eine Konsequenz ist, dass Orte nicht mehr im gewohnt hohen Maße kulturelle Erinnerungen reaktivieren können. Auf der Straße wird das offensichtlich, denn sie kann visuell nicht einmal mehr Anstoß für das Kurzzeitgedächtnis sein, um Orientierung überhaupt möglich zu machen. Der Blinde verlässt sich auf haptile und auditive Eindrücke. Der Blick nach vorn oder zurück existiert nicht mehr. Die Möglichkeit zur Verortung von Erinnerung ist stark eingeschränkt. Zudem erscheinen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse absurd, wenn das blanke Überleben gesichert werden muss. Die Frau des Arztes führt die Gruppe in ihre Wohnung. Als sie ihre Straße erreichen, ist sie geschockt, da in ihrer Erinnerung wenigstens ihre Straße noch gepflegt und schön war. Aber auch sie ist völlig ruiniert. Die Straßen verkörpern den Anfang und das Ende eines gesellschaftlichen Miteinanders. Sie ermöglichen einen kommunikativen oder ökonomischen Austausch. Ihre Beschaffenheit spricht vom Zustand des gesellschaftlichen Systems. In Stadt der Blinden hat der bekennende Atheist und Kommunist mit dem Verfall der Straßen der Verfall, den Zusammenbruch des Systems versinnbildlicht. Hier kann Saramagos scharfe Kritik am System greifen. Innerhalb kürzester Zeit ist das gewohnte Miteinander und der alltägliche Austausch von Informationen, Waren etc. unmöglich. Für die Tätigkeiten, die die Menschen in Stadt der Blinden unter-
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nehmen, würden einfache Wege ausreichen. Schließlich können sie weder Autos noch Busse oder andere Fahrzeuge benutzen. Aber es sind eben keine einfachen Wege, es sind Zeugen der Zivilisation, die noch standhalten und im scheinbar bevorstehenden Untergang der Menschen zwangsläufig weitere Funktionen übernehmen: Mülldeponie, Friedhof, Massenklosett. Aber die Straßen sind auch Bedrohung. In Stadt der Blinden ist die Gefahr der Übertragung von Krankheiten die größte. Saramago nutzt den Straßenraum nicht als Ort, dem die Erinnerung inne wohnt, sondern auf dem die Apokalypse geschieht. Ähnlich wie in Bergs Roman ist auch hier die Vereinfachung der Funktionen von Straßen mit einem Appell verbunden, sich auf das Eigentliche zu besinnen, die Ansprüche herunterzuschrauben, sich mit kleinen Dingen zufrieden zu geben, das Miteinander zu pflegen, den Mitmenschen zu schätzen, die Verrohung der Gesellschaft aufzuhalten. Berg wie auch Saramago nutzen die Apokalypse und den Straßenraum, um den Wert und die Endlichkeit des Vorhandenen in Szene zu setzen.
Was von der Zivilisation übrig bleibt – „Die Straße“ von Cormac McCarthy (2007)
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Cormac McCarthy zeichnet in seinem Roman Die Straße ein völlig niedergebranntes Amerika. Feuerstürme haben das Land verheert, die Ökonomie zerstört, von der Infrastruktur sind lediglich die Straßen übrig, die sich von den sonstigen Ortschaften als Orte des Lebens unterscheiden. Die Protagonisten des Romans sind Vater und Sohn. Sie ziehen durch das verlassene, zerstörte Land, ihr Ziel ist die Küste im Süden. Der Haupthandlungsort ist die Straße. Die Straße beginnt mit dem Erwachen des Vaters aus einem Albtraum, durch den ihn der Sohn geführt hat. Der Roman endet mit dem Tod des Vaters. Im abgebrannten Wald verlässt ihn der Sohn und kehrt auf die Straße zurück. Wie aus dem Nichts tauchen ein Mann und eine Frau auf, die bereit sind, den Jungen aufzunehmen. Mit ausgestreckten Armen empfängt die völlig fremde Frau den Jungen. Bis zu diesem Augenblick lesen wir, dass die USA – und wohl die ganze Welt – untergegangen sei. Die Straße ist Orientierungshilfe, zeigt wohin Vater und Sohn gehen werden und woher sie kommen, schützt sie vor dem Nichts um sie herum. Verlassen sie die Straße, laufen sie Gefahr, Opfer von Kannibalen zu werden oder an gefährliche Orte zu gelangen, etwa dem Herrenhaus, in dessen Vorratskeller lebendige Menschen gehalten und nach und nach zerstückelt werden. Aber auch auf der Straße sind Vater und Sohn ständig bedroht. Andere Überlebende
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könnten sie überfallen und töten, um sie zu essen. In Szene gesetzt ist Thomas Hobbes „Leviathan“, der mit einem Stück Sozialdarwinismus verbunden ist: Wolf unter Wölfen, fressen und gefressen werden sind die Grundlage der kannibalischen Reduktion von Gesellschaft. Die lex naturalis herrscht wieder. Nichts ist mehr heilig. Der Sohn ist für den Vater der einzige Lebenssinn, ist für ihn das „menschgewordene“ Wort Gottes. Zivilisation ist inexistent, Moral, Anstand, Ehre sind nur noch hohle Begriffe. Was zählt, ist das blanke Überleben und das Zähmen des Hungers. Die Protagonisten heben sich durch ihr gemeinsames Vorankommen von der lex naturalis ab: Für den Vater zählt der Sohn und für den Sohn der Vater. Hinzu kommen starke religiöse Momente, die vor allem den Vater motivieren. So erscheint ihm beispielsweise sein Sohn als das „menschgewordene Wort Gottes“. Auf fast jeder Seite werden der Straßenzustand und der Straßenverlauf erwähnt. Die Straße gibt wenigstens eine geringe Hoffnung, Kraft und die Möglichkeit, es könne sich noch etwas ändern mit ihrem Verlauf. Es gibt keine Fahrzeuge mehr. Das wenige Hab und Gut transportieren die beiden in einem alten Einkaufswagen. Ihr eigentliches Transportmittel ist die Straße. Ohne sie kämen sie noch viel beschwerlicher voran. Jeden Ort, den sie erreichen, wie beispielsweise das Herrenhaus, die Kleinstadt, die Scheune, beschreibt McCarthy ausgehend von der dazugehörigen Straße und umgekehrt. Aber auch auf der Straße liegen immer wieder verkohlte Leichen, die den Feuerstürmen nicht entkommen konnten. „Warum sind sie nicht von der Straße runter?“, „Das konnten sie nicht. Alles hat gebrannt.“ (McCarthy 2007, 170) Auch Vater und Sohn sind am Ende ihrer Kräfte, erschöpft, müde, krank. „Sie schliefen immer mehr. Mehr als einmal erwachten sie auf der Straße liegend, wie Verkehrsopfer. Der Schlaf des Todes.“ (McCarthy 2007, 180) Der Vater motiviert den Sohn immer wieder aufzustehen, weiterzugehen. Vater und Sohn sind auf einer Art Reise, in gewisser Art sind sie auch immer auf der Flucht, ein ständiger Überlebenskampf treibt sie an und weiter. Die Straßen, die sie betreten, sind ihnen neu und unbekannt. Sie verweilen zu kurz an den Orten, als dass sie ihnen vertraut werden könnten. Erinnerungen an die Straßen kann es demnach nicht geben. Ohne einen persönlichen Zusammenhang und Bezug zum Straßenraum, ist die Straße nicht nur physisch leer und zerstört, sondern auch metaphysisch entseelt. Sie ist kein Erinnerungsraum mehr, weder kulturelles noch persönliches Gedächtnis ist mit ihr verbunden. Was bleibt, kann auch unter Marshall McLuhans berühmt gewordener Aussage: „The medium is the message“ auf einen Nenner gebracht werden. Unabhängig von
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dem, was das Medium beinhaltet, wirkt das Medium selbst auf eine Gesellschaft ein. Das Medium par excellence, die Straße, schafft durch ihr bloßes (Noch-)Vorhandensein einen Raum und prägt die übrig gebliebenen Fragmente der ehemals funktionierenden Gesellschaft. Sie schafft einen Raum, der kulturell und sozial relevant ist. Zum Ende hin ermöglicht dieser Raum sogar moralisches Handeln, das völlig unerwartet kommt. Die Moral als Schlüsselargument für eine mögliche Zukunft? McLuhans These, der Technologie fehle die Moral, und die sich daraus ergebende Aufwertung der Tugend finden sich in McCarthys Roman wieder. Als der fremde Mann und die Frau den Jungen aufnehmen, wird die lex naturalis abgelöst. Die Straße schafft Raum für Moral und verweist auf die Vergangenheit, als die Moral noch üblich war. Erinnerungen an diese Zeit hat nur der Vater, und nur in Träumen oder Tagträumen wird eine paradiesische Vergangenheit aufgerufen, ein idyllisches Leben. Es sind nur sehr wenige Episoden und der Vater vermeidet sie absichtlich, verbietet sie sich sogar, da sie ihn selbst zu einer Todessehnsucht führen. In den kurzen Passagen der Erinnerung gibt es keine Straßen. Der Vater erinnert sich an eine Seefahrt, einen Waldspaziergang oder einen Theaterbesuch. So unwirklich wie die dystopische Beschreibung Amerikas dem Leser erscheint, so unwirklich erscheint dem Vater seine Vergangenheit – unsere aktuelle Gegenwart. Der Sohn weiß nicht einmal mehr, was ein Vogel ist. Angstzustände, eine archaische Gesellschaft, die sich in Gute und Böse unterteilt, beherrschen die Überlebenden. Wohin die Straße jedoch führt, bleibt für die Protagonisten trotz der Reste einer Landkarte offen. Es fehlt beinahe jede Hoffnung, lediglich der Sohn übernimmt stellenweise die Funktion eines Heilands. Im Vergleich zu Bergs Ende gut oder Saramgos Stadt der Blinden entwirft McCarthys Roman die konsequenteste Apokalypse.
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Resümee Machtansprüche und Gier, folglich Kriege und der Handel waren ursprüngliche Motivation, einfache Wege zu Straßen auszubauen2. Die kriegerische Eroberung bedurfte zwingend den Ausbau des Straßennetzes. Die Autoren der drei Romane haben diese Entwicklung weiter gedacht und sehen in ihrer Konsequenz die Zerstörung der Welt. Den Apokalypsen stehen in allen drei Romanen utopische Welten gegenüber, in denen es keine Straßen mehr gibt – zumindest nicht solche mit dem regen Verkehr und der Geschwindigkeit 2
Vgl. Virilio 1980; Jaritz 2001.
Affekte der Straße
nutzbar, wie wir es alltäglich erleben und wahrnehmen. Man könnte daraus schlussfolgern, dass ein friedliches, ausgewogenes Zusammenleben keiner Straßen bedarf. Einfache Wege würden genügen. Eine ähnliche Tendenz lässt sich durchaus auch in den autobiografischen Texten finden. Die sechs Texte sollten einen Kontrast veranschaulichen, der sich in der Verwendung und Nutzung des Straßenraumes in autobiografischen Texten und apokalyptischer Literatur auftut. Die Verwendung des Straßenraumes ist auffallend unterschiedlich. Die autobiografischen Texte bauen auf der Vergangenheit auf, ihre Autoren sind mittendrin im Straßenleben. Sie betraten die Straßen ihrer Kindheit, sind durch die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen affektiv stark an diese Orte gebunden. Die Straßen bewahren das Gedächtnis, sind genitivus subiectivus, ein Gedächtnis, „das in den Orten selbst lokalisiert ist“. Sie bestätigen Ciceros Zitat „Groß ist die Kraft, die Orten inne wohnt.“3 Die Protagonisten der Romane nutzen die Straßen anders. Straßen sind vorrangig die Transportmittel der Protagonisten. Von hier aus beobachten sie, wie Gesellschaften zusammenbrechen, Europa und die Welt untergehen. Die Straßen sind letzte Zeugnisse ehemals funktionierender Gesellschaften, die jedoch scheiterten. Berg, Saramago und McCarthy üben harte Kritik an den zeitgenössischen Gesellschaften. Sie appellieren an die Menschlichkeit, fordern Bescheidenheit und Besinnung auf das Paradies, in dem wir noch leben. Von den Straßen aus beobachten sie den Untergang der Zivilisation. Im Falle von Berg und Saramago werden Zukunfts-, d.h. Neuerungs-, evtl. Verbesserungschancen aufgetan. McCarthy prophezeit die Apokalypse deutlicher, den Tod ohne ein Zurück. Am längsten überdauert bei ihm die Straße, ist längstes Zeugnis der Spezies Mensch. Keiner der Protagonisten wird an seine Kindheit erinnert.
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Zitiert nach Assmann, 1999, S. 298f.
Katja Stillmark
Literatur
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Brigitte Adam / Mechthild Renner (1994 ) (Hg.): Frauen und räumliche Planung. Bonn: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses; München: Beck Bachelard, Gaston (2003): Poetik des Raumes. Übersetzt von Kurt Leonhard. Frankfurt/M.: Fischer Berg, Sybille (2004): Ende gut. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch Foucault, Michel (1991): „Andere Räume“. Aus dem Französischen von Walter Seitter. In: Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck / Peter Gente / Heidi Paris / Stefan Richter. Leipzig: Reclam, S. 34-47. Gerhard Jaritz (2001)(Hg): Die Straße – Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften Kublitz-Kramer, Maria (1998): Frauen auf der Straße – Topographien des Begehrens in Erzähltexten von Gegenwartsautorinnen. München: Fink von Kuenheim, Haug (2009): „Das Schloss nebenan – Kronprinzenstraße 10 in Potsdam“. In: Sußebach 2009, S. 265 – 277 Lebert, Stephan (2009): „Der Orts-Versteher – Der Ichoring in Icking.“ In: Sußebach 2009, 59-71 McCarthy, Cormac (2007): Die Straße. Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt McLuhan, Marshall (1998): Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Hg. v. Martin Baltes u.a. Köln: Bollmann Raum für Fußgänger – Straße und Stadtgestalt (1979). Hg. von Institut für Landes- und Stadtentwicklung (ILS) des Landes Nordrhein-Westfalen. Dortmund Saramago, José (2003): Die Stadt der Blinden. Roman. Deutsch von Ray-Güde Mertin. 11. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Schüle, Christian (2009): „Beruhigte Zone – Herrenstraße in Wangen“. In: Sußebach 2009, S. 129 – 142 Gudrun Schwibbe (2002): Wahrgenommen – Die sinnliche Erfahrung einer Stadt. Münster: Waxmann Sennett, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Frankfurt /M.: Fischer
Affekte der Straße
Sennett, Richard (1991): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M.: Fischer Siemes, Christof (2009): „Netzers Nachbarn –Venner Straße 335 in Mönchengladbach“. In. Sußebach 2009, S 114-127 Soboczynski, Adam (2009): „Zwischen den Blöcken – Ulica Kosciuszki 40 in Torun“. In: Sußebach 2009, S. 207-220 Sußebach, Henning (2009) (Hg.): Meine Straße – Erinnerungen aus unserer Kindheit. Frankfurt: Fischer Virilio, Paul (1980): Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Übersetzt von Ronald Vouillé. Berlin: Merve
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Laura Bieger ist Juniorprofessorin für nordamerikanische Kultur am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen gehören: Visualität, Räumlichkeit, Textlichkeit, Theorien ästhetischer Erfahrung, des Imaginären und des Erzählens. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zu Fragen narrativer Verortung (‚belonging‘) in modernen Lebenswelten. Prof. Dr. Angelika Corbineau-Hoffmann ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Leipzig. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören Text- und Kontexttheorie, komparatistische Thematologie sowie Geschichte und Methodologie des Faches. Prof. Dr. Ottmar Ette ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, 2004/5 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2010 am FRIAS in Freiburg i.Br. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literaturund Kulturtheorie sowie der französisch- und spanischsprachigen Literaturen Europas und Außereuropas.
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Dr. Stephan Günzel ist Koordinator des Zentrums für Computerspielforschung (DIGAREC) der Universität Potsdam. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören Kultur-, Medien- und Raumtheorie. www.stephan-guenzel.de Zuzanna Jakubowski, MA, ist Doktorandin der Friedrich Schlegel Graduiertenschule an der Freien Universität Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die Raum- und Emotionsforschung, Realismustheorie und Gender. Derzeit promoviert sie zum zeitgenössischen amerikanischen Familienroman. Susanne Jaschko ist freie Kuratorin. Der Fokus ihrer kuratorischen Praxis liegt auf Medienkunst und Kunst im öffentlichen Raum.
Dr. Brigitte Krüger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Allgemeine Literaturwissenschaft, insbes. mythopoetische Konzepte und Erzähltexttheorien, und die Literaturen zwischen Moderne und Postmoderne. Prof. Dr. Gertrud Lehnert ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören Raum- und Emotionsforschung, Modegeschichte und -theorie sowie Lyrik und Gender. Dr. Uwe Lindemann ist als Studienrat im Hochschuldienst im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Poetik und Ästhetik der europäischen und anglo-amerikanischen Erzählliteratur, poststrukturalistische Kultur-, Medien- und Literaturtheorie sowie das Verhältnis von Literatur und Konsumkultur in der Moderne. Prof. Dr. Dieter Mersch ist Professor für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören Ästhetik, Medienphilosophie, Kunstphilosophie, Bildtheorie und die Phil. des 19. und 20. Jahrhunderts. PD Dr. Burkhard Meyer-Sickendiek ist Heisenberg-Stipendiat und Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin/ Cluster „Languages of emotion“. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Bereiche deutsch-jüdische Moderne, Affektpoetik, Gattungstheorie und Romantik. Aktuell arbeitet Herr Meyer-Sickendiek an einem Buch zum „Lyrischen Gespür“. Prof. Michaela Ott ist Professorin für ästhetische Theorien an der Hochschule für bildende Künste Hamburg.Ihre Forschungsschwerpunkte: ästhetische Theorien, Poststrukturalismus, Filmphilosophie, Raum- und Affekttheorien. Robert Schade, BA, ist Student des Masterstudiengangs Vergleichende Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam
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Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören Beziehungen zwischen Literatur und Visualität, Literatur und Künstlerbuch, sowie Literatur und Wissensdiskursen. Stephanie Siewert, MA, ist Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Potsdam. Schwerpunkte ihrer Forschung bilden Transnationale Studien, die Verpflechtungen von Ethik und Ästhetik in der modernen Literatur und den Bildenden Künsten, sowie Realismuskonzepte in der Literatur des 20. und 21. Jahrhundert. Dr. Hans-Christian Stillmark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Zu seinen Schwerpunkten gehören DDR-Literatur, Dramatik und Theaterwissenschaften. Katja Stillmark, MA, ist Redakteurin beim rbb. Sie studierte an der Universität Potsdam Germanistik, Italianistik und Medienwissenschaften. Dr. Ines Theilen ist momentan Studienreferendarin für das gymnasiale Lehramt in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literarische Grenzgänge (Migrantenliteratur), Metapher und literarische Synästhesie sowie der ästhetische Stimmungsbegriff.
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Prof. Dr. Brunhilde Wehinger lehrt im Bereich Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Kulturwissenschaft an der Universität Potsdam; ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u. a. in der Aufklärungsforschung und im Bereich der deutschfranzösischen Literatur- und Kulturbeziehungen.
Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss 2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4
Stefanie Diekmann, Winfried Gerling (Hg.) Freeze Frames Zum Verhältnis von Fotografie und Film Januar 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1363-6
Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.) Game over!? Perspektiven des Computerspiels 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-790-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Arthur Engelbert Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen Januar 2011, 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1687-3
Martina Hessler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de