Handbuch Praktiken und Raum: Humangeographie nach dem Practice Turn 9783839446034

How does the Practice Turn change human geographical thinking? Which contribution does human geography make to further d

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German Pages 396 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Praktiken und Raum
Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik
Social Change in a Material World: A Précis
The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte
Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit für die Humangeographie
Praktiken und gesellschaftlicher Wandel
»Turning is the new moving«: The directedness of attention and social practices
Gewohnheiten und Routinen – praxistheoretische Zugänge zu Geographien des Alltags
Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht
Intersektionalität und die Macht der Kategorie
Praktikentheorie und Emotion/Affekt
Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie
Praktiken und Planung
Soziale Praktiken in der Forschungspraxis – empirisch forschen mit Schatzkis site ontology
Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks – Reflexionen über praxeologische Methodologien
Autorinnen und Autoren
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Handbuch Praktiken und Raum: Humangeographie nach dem Practice Turn
 9783839446034

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Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hg.) Handbuch Praktiken und Raum

Sozial- und Kulturgeographie  | Band 28

Susann Schäfer (Dr. rer. nat.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Migration und regionaler Entwicklung, die sie aus einer praktikentheoretischen Perspektive bearbeitet. Jonathan Everts (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Humangeographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit seiner Promotion befasst er sich mit Theorien sozialer Praktiken und hat diese in unterschiedlichen Forschungsfeldern wie Konsumgeographie, Migrationsforschung oder der Mensch-Umwelt-Forschung angewendet.

Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hg.)

Handbuch Praktiken und Raum Humangeographie nach dem Practice Turn

Der Entstehungsprozess sowie die Publikation dieses Handbuchs wurde von der DFG im Rahmen des wissenschaftlichen Netzwerks »Humangeographische Forschungsperspektiven nach dem practice turn in den Sozialwissenschaften« von 2016-2019 gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Katrin Viviane Kurten, Mia Jankowicz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4603-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4603-4 https://doi.org/10.14361/9783839446034 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Praktiken und Raum Jonathan Everts und Susann Schäfer  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7

Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik Klaus Geiselhart, Jan Winkler und Florian Dünckmann  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 21

Social Change in a Material World: A Précis Theodore R. Schatzki  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 77

The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte Benedikt Schmid, Jens Reda, Lars Kraehnke und Raphael Schwegmann  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 93

Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit für die Humangeographie Christiane Stephan und Judith Wiemann  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 137

Praktiken und gesellschaftlicher Wandel Jonathan Everts � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 161

»Turning is the new moving«: The directedness of attention and social practices An Interview with Matthew Hannah  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 185

Gewohnheiten und Routinen – praxistheoretische Zugänge zu Geographien des Alltags Jens Reda und Simon Runkel   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 193

Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht Jonathan Everts, Klaus Geiselhart, Sarah Rominger und Jan Winkler  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 223

Intersektionalität und die Macht der Kategorie Kim Anna Juraschek und Klaus Geiselhart  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 245

Praktikentheorie und Emotion/Affekt Annika Hoppe-Seyler, Christiane Stephan und Matthias Lahr-Kurten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 273

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie Judith Wiemann, Susann Schäfer und Fabian Faller � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 299

Praktiken und Planung Florian Dünckmann, Dominik Haubrich und Simon Runkel � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 317

Soziale Praktiken in der Forschungspraxis – empirisch forschen mit Schatzkis site ontology Christine Wenzl, Cosima Werner, Katharina Molitor, Madlen Hornung, Sarah Rominger und Fabian Faller  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 341

Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks – Reflexionen über praxeologische Methodologien Klaus Geiselhart, Annika Hoppe-Seyler und Cosima Werner � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 361

Autorinnen und Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 391

Praktiken und Raum Jonathan Everts und Susann Schäfer

Wofür braucht es ein Handbuch »Praktiken und Raum«? Vor zehn Jahren erschien die erste Auf lage des Handbuchs »Diskurs und Raum« (Glasze/Mattissek 2009). Das Buch resultierte aus der systematischen Auseinandersetzung eines wissenschaftlichen Netzwerkes mit neuen theoretischen Strömungen in der Humangeographie. Im Vorwort von »Diskurs und Raum« schreiben die Herausgeber*innen, das Buch habe das Ziel, »die Potenziale und Grenzen unterschiedlicher diskurstheoretischer Zugänge zur Analyse raumbezogener Praktiken und Symbolisierungen auszuleuchten« (Glasze/Mattissek 2009: 7). Wir stellen diesem Handbuch nun ein Geschwister zur Seite, das im Prinzip das gleiche Ziel verfolgt, aber mit dem Unterschied, dass es um »praxeologische« bzw. »praxistheoretische« Ansätze geht. Neben der humangeographischen Diskursforschung hat sich in den letzten zehn Jahren eine neue praxeologisch-geographische Forschung entwickelt, die v.a. eine Reaktion auf Impulse aus einem erneuerten praxistheoretischen Forschungsparadigma in der Philosophie und der Soziologie ist. Ähnlich wie bei der Diskursforschung hat die aktuelle Prominenz praxeologischer Zugänge auch eine Reihe disziplininterner Ursachen. Zum einen sind auf Praktiken bezogene Forschungsansätze eine logische Fortsetzung des handlungstheoretischen Paradigmas der Humangeographie (z.B. Werlen 2002). Zum anderen hat die zuvor gelungene Professionalisierung des humangeographischen Blicks auf Diskurse und symbolische Ordnungen den Wunsch entstehen lassen, in ebenso differenzierter Weise auch das Phänomen der sozialen Praktiken erfassen zu können und mithilfe älterer wie neuerer Ansätze für die humangeographische Forschung fruchtbar zu machen (z.B. Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011). Diese Einleitung in das Handbuch »Praktiken und Raum« möchte den Leser*innen v.a. eine Verständnis- und Navigationshilfe für das vorliegende Buch sein. Das Handbuch ist das Ergebnis eines zweijährigen kollektiven Schreibprozesses des Netzwerkes »Humangeographische Forschungsperspektiven nach dem ›Practice Turn‹«1 und ist von Humangeograph*innen für Humangeograph*innen, 1 Der volle Name des Netzwerkes lautet »Humangeographische Forschungsperspektiven nach dem ›Practice Turn‹ in den Sozialwissenschaften«. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat

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aber auch für alle anderen an Praxistheorien interessierte Personen geschrieben. Inhaltlich haben wir auf verschiedenen Schreibwerkstätten in Autor*innenteams versucht, die Themen zu finden, die für die Leser*innen wie für uns den größtmöglichen Erkenntnisgewinn darstellen würden. Es handelt sich also zwangsläufig um eine selektive Auswahl, und wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Stattdessen möchten wir gleichermaßen Ideengeber, Nachschlagewerk und Stütze sein – je nachdem, in welchem Kontext das Buch oder Teile daraus benutzt werden. Als Ideengeber fungiert dieses Buch insofern, als wir die Rezeption der Praxistheorien in der Humangeographie als noch nicht abgeschlossen erleben und auch die Theoriebildung durch aktuelle geographische Beiträge gegenwärtig sehr dynamisch verläuft. Wir zeigen in den verschiedenen Beiträgen des Buches, welche Themen und Ideen diskutiert werden und wo es sich lohnt, genauer hinzusehen und sich eigenständig an der Debatte zu beteiligen. Einige Beiträge fassen deshalb nicht nur bisherige Diskussionen zusammen, sondern entwickeln diese weiter und liefern einen eigenen Beitrag zur Theoriebildung. Das Handbuch ist auch ein Nachschlagewerk, da wir beitragsweise in die unserer Meinung nach wichtigsten praxistheoretischen Themen- und Diskussionsfelder einführen und zentrale Leit- und Entwicklungslinien darstellen. Wir hoffen, somit für Einsteiger wie Fortgeschrittene gleichermaßen eine hilfreiche Lektüre zu bieten. Als Stütze verstehen wir das Buch für all diejenigen, die sich für ein praxeologisches Forschungsdesign bereits entschieden haben und nun in der Forschungspraxis an begriff liche wie methodische Grenzen gelangen. Wir erklären einige konzeptionelle Kniffe und Tricks und haben gleichzeitig in vielen Bereichen die Grenzen praxistheoretischen Arbeitens ausgelotet, sodass praxeologisch Forschende im Buch Unterstützung wie Anregung gleichermaßen finden können. Im folgenden Teil dieser Einleitung werden wir zuerst knapp in die Grundbegriffe des Handbuchs (»Praktiken« und »Raum«) aus einer geographisch-praxeologischen Perspektive einführen. Wir stellen anschließend exemplarisch die Entwicklung des aktuellen praxeologischen Forschungsstrangs innerhalb der Humangeographie dar. Abschließend führen wir überblicksartig in die Beiträge des Handbuches ein.

den hier vorliegenden kollektiven Austausch-, Erkenntnis- und Produktionsprozess großzügig unterstützt.

Praktiken und Raum

Praktiken … Was hat es mit den Praktiken auf sich? Nach Reckwitz geht es aus praxeologischer Perspektive darum, zu erfassen, »dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verf lochtenen Praktiken (im Plural) zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlungen, Praktiken des Selbst etc.« (Reckwitz 2003: 289). Sozial sind Praktiken, weil sie für die Ausführenden sowie für beobachtende Personen (potenziell) verstehbar sind und, zumindest zu einem gewissen Grad, einen kollektiven Wissenshintergrund teilen (ebd.). Der Begriff »Praktiken« selbst ist dabei weder neu noch wird er völlig neu gefasst (er bezeichnet nach wie vor ein zusammenhängendes Set aus Aktivitäten, die als eine sinnvolle Einheit erfahren und verstanden werden können, vgl. Schatzki 2012). Stattdessen und auf bauend auf eine Vielzahl praxisorientierter Theorieansätze werden seit der Jahrtausendwende sehr viel fokussierter Praktiken selbst als zentraler Baustein sozialer Ordnungen und Dynamiken in den Blick genommen. Die zentralen Autor*innen, auf deren Texte auch in diesem Buch vielfach eingegangen wird, sind der US-amerikanische Sozialtheoretiker (und Geograph) Theodore Schatzki, der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz und das britisch-finnische Schreibteam Elizabeth Shove, Mika Pantzar und Matt Watson. Diese Autor*innen bilden den Kern der sogenannten zweiten Generation an Praxistheoretiker*innen. Zur ersten Generation werden u.a. Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Charles Taylor gezählt. Ob diese Abgrenzung so gehalten werden kann bzw. sinnvoll ist, wollen wir an dieser Stelle nicht diskutieren. Allerdings ist es für das weitere Verständnis wichtig, darauf hinzuweisen, dass in den Arbeiten der sogenannten ersten Generation die Frage nach den sozialen Praktiken zwar prominent gestellt wird, diese aber nur ein Erkenntnisinteresse sowie Erklärungshorizont neben vielen anderen ist. In der zweiten Generation hingegen sind es die sozialen Praktiken selbst, von denen aus die soziale Welt erklärt werden soll. In den folgenden Beiträgen werden die jeweiligen praxeologischen Herangehensweisen aus unterschiedlichen Generationen und Richtungen heraus hinreichend erklärt und diskutiert. Wir wollen uns an dieser Stelle daher auf ein paar einleitende Bemerkungen beschränken. Im Buch werden Begriffe wie »praxeologisch«, »praxistheoretisch« und »praktikentheoretisch« verwendet. Je nach Beitrag und dahinterstehendem Schreibkollektiv sind die Begriffe mit mehr oder weniger unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen. Grundsätzlich drückt sich aber in der Schreibweise eine Unterscheidung verschiedener Zugänge aus. Es gibt nicht die eine Praxistheorie, sondern es handelt sich um eine Familie ähnlich gearteter theoretischer Herangehensweisen. Der Begriff »praxistheoretisch« verweist dabei entweder übergreifend auf alle diese Herangehensweisen oder es werden darunter explizit die Arbeiten der ersten Praxistheorie-Generation verstanden.

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»Praktikentheoretisch« wiederum meint sehr spezifisch die Arbeiten der zweiten Generation und insbesondere die von Schatzki, der inzwischen ein sehr umfangreiches Werk einer praxeologischen Ontologie vorgelegt hat. »Praxeologie« ist ein Begriff, der zunächst sehr eng mit den Arbeiten von Bourdieu verbunden war. Inzwischen wird er allerdings von deutschsprachigen Soziolog*innen sehr viel breiter benutzt und teilweise als der eigentliche Überbegriff angesehen (vgl. Schmidt 2012). Wir handhaben die Begriffsunterscheidungen in diesem Buch undogmatisch, sehen aber in der Begriffsvielfalt bereits einen Hinweis darauf, dass praxeologisches Arbeiten in jeglicher Hinsicht ein multiples Unterfangen ist.

… und Raum Was hat nun die Geographie mit sozialen Praktiken zu tun? Vor allem die deutschsprachige Geographie hat eine starke handlungstheoretische Tradition. Dass der Blick auf den Raum alleine nicht genügen kann, wurde bereits emblematisch in den 1950er Jahren von Wolfgang Hartke hervorgehoben. Bekannt ist seine Wortneuschöpfung der »Sozialbrache« (Hartke 1956), mit der er darauf hinweisen wollte, dass es unterschiedliche gesellschaftliche Ursachen für das Brachfallen landwirtschaftlicher Flächen gibt. In dem von ihm untersuchten Fallbeispiel lohnte es sich für viele Landwirte im süddeutschen Raum nicht mehr, den Boden zu bewirtschaften – nicht weil dieser keinen Ertrag brachte, sondern weil sie bessere Verdienstmöglichkeiten in der Industrie und im Dienstleistungssektor fanden. Mit seiner Forschung wies Hartke seine Kolleg*innen aus der Geographie darauf hin, dass man neben einem räumlichen Blick auch ein Verständnis für die Gesellschaft und gesellschaftliche Prozesse benötigt sowie Dinge erfragen muss, die eine reine Raumanalyse nicht zutage fördert. Nach verschiedenen Umwegen wurde international und – seit den 1980er Jahren auch in der deutschsprachigen Geographie – ein konsequenter Theorieimport aus den sozial- und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen betrieben. Dabei waren die soziologischen Arbeiten von Giddens und Bourdieu für viele Geograph*innen zentral. Hier sah man Anknüpfungspunkte für eine sozialtheoretische Unterfütterung der Humangeographie, da beide Autoren mit einem expliziten Raum- und Zeitverständnis für die Humangeographie direkt anschlussfähig waren. Mehr noch, mit Giddens hatte man einen Autor gefunden, der selbst wiederum bedeutende Teile seiner theoretischen Arbeit in der Auseinandersetzung mit den zeitgeographischen Schriften von Torsten Hägerstrand entwickelte. Bourdieu hingegen lieferte einerseits Anknüpfungspunkte für die empirische Sozialgeographie aufgrund seiner ethnographisch orientierten Forschungseinstellung und andererseits aufgrund seiner, wenn auch weitgehend metaphorischen, Konzeptualisierung des sozialen Raums.

Praktiken und Raum

Da beide Autoren aber zugleich Praxistheoretiker waren, ist es naheliegend, dass auch diese Aspekte ihrer Theoriearbeit Eingang in die Geographie fanden. Giddens Verständnis von Praktiken wurde allerdings etwas abgewandelt und zumindest in die deutschsprachige Humangeographie als handlungstheoretische Sozialgeographie eingeführt (Werlen 1988). Der Fokus auf Handlungen und damit auch auf Individuen, individuelle Handlungslogiken und -motive rückte die Geographie aber ein Stückchen weg von der Vorstellung von Praktiken als sozial und materiell eingebettete Bündel von Aktivitäten. Ähnlich verlief es mit der Rezeption von Bourdieu. Vor allem das Habituskonzept wurde ausführlich rezipiert, insbesondere in der Entwicklungsgeographie (Deffner et al. 2014). Damit lag der Schwerpunkt auf verinnerlichten und in den Körper eingeschriebenen Strukturen – und weniger auf den Praktiken selbst. Mit der Rezeption der Texte von Schatzki und Reckwitz begann darauf hin eine zweite Ära der Auseinandersetzung mit Praxistheorien in der Humangeographie. In den Arbeiten von Schatzki ist sehr früh eine Auseinandersetzung mit dem Thema Raum angelegt (Schatzki 1991). Schatzkis philosophische Hauptreferenzen sind die Schriften des späten Wittgenstein und von Heidegger. Die Auseinandersetzung mit Heidegger verschafft Schatzki ein relationales Raumverständnis (Schatzki 2007). Dieses ist weitgehend kompatibel mit den seit den 1990er Jahren gängigen Raumtheorien in der Geographie (Thrift 2003). Schatzki denkt die soziale Welt konsequent als einen Zusammenhang aus sozialen Praktiken und materiellen Entitäten, die er als Menschen, Organismen, Artefakte und Dinge ausdifferenziert (Schatzki 2002). Um zu betonen, dass gesellschaftliche Räumlichkeit überhaupt erst in der Beziehung der Praktiken sowie der Entitäten zueinander entsteht, entwickelt er das Konzept der »materiellen Arrangements«. Für seine geographischen Universitätskollegen an der University of Kentucky war Schatzki ein wichtiger Stichwortgeber, als sie das Konzept der »f lachen Ontologie« (Marston/Jones/Woodward 2005) entwickelten. Diesem Begriff sowie der damit ausgedrückten Kritik am Denken in hierarchischen Skalen hat sich Schatzki (2016) wiederum angeschlossen. Unterscheidungen wie die zwischen einer objektiven Raumzeit und einer subjektiven zeiträumlichen Lebenswelt (Schatzki 2010) ermöglichen weitere Anknüpfungspunkte für die qualitative humangeographische Forschung. In den Arbeiten von Reckwitz ist der Raumbezug weniger explizit und spielt dort keine große Rolle. Auch Reckwitz hebt die Bedeutung von Materialität hervor, arbeitet sich aber sehr viel stärker an den Fragen der Routinisierung vs. Offenheit von Praktiken, sowie des impliziten Wissens und der Kreativität ab (Reckwitz 2002, 2016). Eine wichtige Referenz ist er für viele Geograph*innen, die sich mit Alltagspraktiken auseinandersetzen, da die Diskussion um Routinen und Wiederholbarkeit (vgl. Schäfer 2013) hier gewinnbringend rezipiert werden kann. Ein englischsprachiger Artikel von ihm (Reckwitz 2002) hat einen großen

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Einf luss auf die englischsprachige Rezeption und Weiterentwicklung der Praxistheorien zweiter Generation. Vor allem der von Shove, Pantzar und Watson (2012) entwickelte Ansatz ist in weiten Teilen dem Impuls zu verdanken, den Shove und Pantzar (2005) aus der Lektüre von Reckwitz (2002) erhalten haben. Im Verbund mit dem Geographen Matt Watson haben sie ein sehr dezidiertes wie eigenständiges praxeologisches Verständnis von Raum und Zeit entwickelt. Nach Shove, Pantzar und Watson verbrauchen Praktiken Zeit und Raum, bringen aber beides auch hervor. Mit eigener Akzentsetzung fassen sie das Raum- und Zeitverständnis der neueren Praxistheorien folgendermaßen zusammen: »Arrangements of time and place are structured by past practices and are themselves relevant in structuring future pathways of development and/or diffusion. In this role they act like elements in that they constitute media of aggregation and storage, holding the traces of past practice in place in ways that are relevant for the future, and for the perpetuation of unequal patterns of access.« (Shove/Pantzar/ Watson 2012: 134)

Praxeologische Geographien? Es wäre nicht zutreffend, von einer praxeologischen Geographie als Sub- oder Teildisziplin im eigentlichen Sinne zu sprechen. Vielmehr ist es so, dass in vielen geographischen Teildisziplinen praxeologische Ansätze rezipiert und angewendet werden. Von einer praxeologischen Dominanz kann sicherlich auch nicht gesprochen werden. Doch es haben sich über die letzten zehn Jahre hinweg langsam, aber stetig Geograph*innen unterschiedlichster inhaltlicher Ausrichtung verstärkt mit Praxistheorien der zweiten Generation auseinandergesetzt. Im englischsprachigen Diskurs hat v.a. in der Konsumgeographie, die aber nicht trennscharf von der soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Konsumforschung abzugrenzen ist, seit ungefähr 2005 eine vermehrte Übernahme praxeologischen Vokabulars begonnen. Zentral war hierfür die konsumsoziologische Auseinandersetzung mit Schatzki durch Warde (2005) und mit Reckwitz durch Shove und Pantzar (2005). Für die Konsumgeographie sind erste Übernahmen zunächst eher implizit (Greg­ son/Crewe/Brooks 2002; Jackson et al. 2006), dann aber bald explizit nachzuweisen (z.B. Blake/Melor/Crane 2010; Everts/Jackson 2009; Watson/Shove 2008). Für die deutschsprachige Geographie hat es verschiedene Impulse gegeben. Eine tiefergehende geographische Beschäftigung mit den Arbeiten von Theodore Schatzki wurde beispielsweise von Everts, Lahr-Kurten und Watson (2011) vorgeschlagen. Empirische Arbeiten in Buchlänge kamen dann zunächst v.a. aus dem Umfeld der Sozial- und Kulturgeographie. Matthias Lahr-Kurten (2012) untersuchte anhand der Praktiken von Deutschlehrer*innen und Bildungsexpert*in-

Praktiken und Raum

nen sprachpolitische Praktiken in Frankreich. Gunnar Maus (2015) arbeitete die Praktiken des Erinnerns an den Kalten Krieg heraus, und zwar im Umfeld von institutionalisierten Praktiken (Denkmalschutz), aber auch von Hobbyhistoriker*innen und bezogen auf Freizeitpraktiken wie dem Geocaching. Dominik Haubrich (2015) analysierte die Alltagspraktiken der Mittelschicht in São Paulo vor dem Hintergrund von Sicherheit und Unsicherheit. Weitere Beiträge zur konzeptionellen Debatte folgten. Baumann, Tijé-Dra und Winkler (2015) setzten sich noch einmal dezidiert mit dem Verhältnis zwischen Diskurs- und Praxistheorien auseinander. Von Geiselhart (2015) wurde der Pragmatismus in Beziehung zu neueren Praxistheorien gesetzt. In die geographische Risikoforschung führten Müller-Mahn und Everts einen mit Schatzki argumentierenden Zugang ein (Müller-Mahn/Everts 2013, Müller-Mahn/Everts/ Stephan 2018). Dünckmann und Fladvad (2016) haben begonnen, die Möglichkeiten einer praxistheoretisch orientierten Politischen Geographie auszuloten. Für die Wirtschaftsgeographie hat Faller (2016a, 2016b) die Relevanz praxeologischer Zugänge vor dem Hintergrund der Energiewirtschaft und nachhaltigen Energieerzeugung demonstriert. Die Liste der Autor*innen ist hier nicht erschöpfend, soll aber zeigen, dass praxeologisches Denken und Arbeiten inzwischen in den unterschiedlichsten Teildisziplinen der Geographie Einzug gehalten hat. Dabei kann jedoch von keinem Megatrend gesprochen werden (siehe z.B. den Beitrag zur Wirtschaftsgeographie in diesem Buch). Stattdessen sind es bestimmte Fragestellungen, die Autor*innen aus den Teildisziplinen zu den Praxistheorien führen. Insbesondere handelt es sich um Fragen, wie sich alltägliches Handeln vollzieht, wie das gesellschaftliche Leben sich innerhalb sozialer Praktiken entfaltet und wie sich bestimmte Praktiken (seien diese nun im Umfeld der Arbeit, des Konsums, der Freizeit, des Denkmalschutzes, der Risikobewertung usw. angesiedelt) in Zeit und Raum ausdrücken sowie gleichzeitig raumzeitliche Konstellationen konstituieren. Die in diesem Buch versammelten Beiträge knüpfen genau an diesen geteilten Fragestellungen und Forschungsinteressen an und zeigen, wie innerhalb unterschiedlicher Teildisziplinen, aber auch quer zu diesen, praxeologische Konzepte und Denkweisen jeweils eigene Perspektiven auf die soziale Welt eröffnen.

Die Beiträge des Handbuchs Das Handbuch »Praktiken und Raum« setzt sich neben der Einleitung aus insgesamt 14 Beiträgen zusammen, deren unterschiedliche Schwerpunkte wir im Folgenden kurz vorstellen. Der Beitrag »Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik« von Klaus Geiselhart, Jan Winkler und Florian Dünckmann stellt überblicksartig die Rezeption praxeo-

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logischen Forschens in der deutschsprachigen Humangeographie dar und zielt darauf ab, die allgemeinen »Koordinaten praxeologischen Denkens« zu identifizieren. Damit ist der Beitrag eine umfassende Einführung in das Feld der Praxeologie für Geograph*innen. Im darauf folgenden Beitrag, »Social Change in a Material World: A Précis«, entwickelt Theodore Schatzki neue Thesen dazu, wie gesellschaftlicher Wandel aus einer praktikentheoretischen Perspektive konzeptionalisiert werden kann. Besonders Augenmerk liegt dabei auf miteinander verf lochtene Aktivitäten sowie »materielle« Ereignisse und Prozesse. Anhand von zwei empirischen Beispielen zeigt Schatzki die Dialektik zwischen der Persistenz von Strukturen sowie der Dynamik von Prozessen. Damit setzt er weitere Impulse in der Debatte, wie gesellschaftliche Umbrüche, Diskontinuitäten und Wandel praxeologisch zu greifen sind. Die nächsten beiden Beiträge befassen sich mit den zwei ontologischen Grundkategorien »Raum« und »Zeit«. Der Beitrag »The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte« von Benedikt Schmid, Jens Reda, Lars Kraehnke und Raphael Schwegmann zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, wie die vielfältigen räumlichen Dimensionen sozialer Praktiken konzeptionell gerahmt und analytisch zugänglich gemacht werden können. Dabei beziehen sich die Autoren auf die Konzepte place, network, scale und territory. Der von Christiane Stephan und Judith Wiemann geschriebene Beitrag über »Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit für die Humangeographie« beschäftigt sich mit der Verbindung von Zeit und sozialen Praktiken, um u.a. Fragen nach Entstehung, Stabilität, Dynamik, Veränderung und spezifischen Rhythmen des Sozialen zu adressieren und sie in ihrer Relevanz für geographische Arbeiten zu diskutieren. Die folgenden drei Texte greifen noch einmal die Frage nach sozialem Wandel bzw. dem Wechselverhältnis von Wandel und Stabilität auf und beleuchten diesen aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Beitrag »Praktiken und gesellschaftlicher Wandel« von Jonathan Everts befasst sich mit der Konzeptionalisierung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Er schlägt dabei eine Weiterentwicklung des praxistheoretischen Vokabulars für die Analyse von größeren und umfassenderen gesellschaftlichen Umbrüchen vor. Insbesondere werden dafür die Konzepte der Praktikenketten und der Verteilung von Praktikenelementen in Raum und Zeit entwickelt und vorgestellt. In dem von den Herausgeber*innen mit Matthew Hannah geführten Interview mit dem Titel »Turning is the new moving« geht es um die Kernaspekte von Hannahs neuem Buch »Direction and Socio-spatial Theory« (2019). Im Interview erläutert Hannah, warum das Phänomen der gerichteten Aufmerksamkeit für das Verstehen gesellschaftlicher Fragestellungen relevant ist und welche historischen Veränderungen es in der Aufmerksamkeitsökonomie gegeben hat. In groben Zügen erklärt er auch die Grundlinien seines theoretischen Ansatzes. Jens Reda und Simon Runkel diskutieren in ihrem

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Beitrag »Gewohnheiten und Routinen: praxistheoretische Zugänge zu Geographien des Alltags«, welche Perspektiven praxistheoretische Ansätze für das Feld der Alltags-Geographien bieten. Dabei unterstreichen sie, dass derartige Ansätze in positiver Weise die leiblich-affektive Situiertheit wie auch die raumzeitliche Strukturierung des Alltags hervorheben. Der nächste Abschnitt besteht aus Beiträgen, die sich mit Fragen der Subjektivierung im weitesten Sinne beschäftigen. Der Beitrag »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht« von Jonathan Everts, Klaus Geiselhart, Sarah Rominger und Jan Winkler spürt den praxeologischen Machtkonzepten nach. Dabei werden sowohl länger etablierte Zugänge vorgestellt als auch aktuelle theoretische Auseinandersetzungen aufgegriffen und ausführlich diskutiert. In »Intersektionalität und die Macht der Kategorie« stellen sich Kim Anna Juraschek und Klaus Geiselhart den Fragen und Aushandlungsprozessen um Kategorisierungen und Differenzzuschreibungen. Zum einem erörtern sie, durch welche Praktiken gesellschaftliche Kategorien der Identität geschaffen und aufrecht erhalten werden. Zum anderen gehen sie auf die Frage ein, welchen Beitrag praxeologische Forschung für die Intersektionalitätsforschung zu leisten vermag. Im Beitrag von Annika Hoppe-Seyler, Christiane Stephan und Matthias Lahr-Kurten geht es um »Praktikentheorie und Emotion/ Affekt«. Die Autor*innen zeigen, wie Emotionen bei der Konstitution, Fortführung und Veränderung sozialer Praktiken eine entscheidende Rolle einnehmen. Anschließend widmen sich zwei Beiträge der Frage, wie praxistheoretische Ansätze in weitere geographische Forschungs- und Arbeitsfelder eingebracht werden können. Für wirtschaftsgeographische Fragestellungen diskutieren Judith Wiemann, Susann Schäfer und Fabian Faller den Mehrwert praktikentheoretischen Denkens in dem Beitrag »Praktikentheorien in der Wirtschaftsgeographie«. Dabei fokussieren sie im Besonderen auf die Rolle von Skalen und die Möglichkeit, wirtschaftsgeographische Fragen in einer f lachen Ontologie zu behandeln. In dem folgenden Beitrag beschäftigen sich Florian Dünckmann, Dominik Haubrich und Simon Runkel mit Praktiken und räumlicher Planung. Die Autoren bearbeiten das Thema in dreierlei Hinsicht: Planung aus praxistheoretischer Perspektive, Praktiken als Objekt der Planung und Veränderung von Planungspraktiken. Die letzten beiden Beiträge erörtern, wie praxeologische Zugänge für die empirische Forschung operationalisiert werden können. In dem ersten der beiden Beiträge, »Soziale Praktiken in der Forschungspraxis – empirisch forschen mit Schatzkis site ontology« von Christine Wenzl, Cosima Werner, Katharina Molitor, Madlen Hornung, Sarah Rominger und Fabian Faller diskutieren die Autor*innen, wie Schatzkis theoretisches Vokabular forschungspraktisch umgesetzt werden kann. In dem zweiten Beitrag, »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks – Ref lexionen über praxeologische Methodologien« von Klaus Geiselhart, Annika Hoppe-Seyler und Cosima Werner, geht es um das

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Jonathan Everts und Susann Schäfer

Hinterfragen von Forschungspraktiken im Forschungsprozess. Neben einigen methodologischen Überlegungen werden hier auch Fragen der Positionalität der Forschenden diskutiert.

Danksagung Ein Buchprojekt wie das vorliegende kann nur durch die zahlreiche und tatkräftige Mitarbeit vieler Menschen gelingen. Der DFG gebührt besonderer Dank für die Förderung unseres Netzwerkes, aus dem heraus das Buch entstanden ist. Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei allen unseren Autor*innen, die sich mit viel Kreativität und Mühe darangemacht haben, praxistheoretisches Denken zu ordnen und für das Handbuch aufzubereiten. Weiterhin bedanken wir uns bei Katrin Viviane Kurten für ihr engagiertes Lektorat; gleiches gilt für das Lektorat der beiden englischen Texte durch Mia Jankowicz. Dem transcript Verlag möchten wir für die angenehme Zusammenarbeit danken. Nicht vergessen werden sollen all jene, die Teile des Textes geprüft, kommentiert, korrigiert oder auf andere Weise zum Gelingen des Buches beigetragen haben, darunter u.a. Markus Bös, Martina Fuchs, Anna Growe, Robert Hassink, Sophie Köhler, Luise Menzel, Robert Schmidt und Ferdinand Stenglein.

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Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik Klaus Geiselhart, Jan Winkler und Florian Dünckmann The little girl saw her first troop parade and asked, »What are those?« »Soldiers.« »What are soldiers?« »They are for war. They fight and each tries to kill as many of the other side as he can.« The girl held still and studied. »Do you know … I know something?« »Yes, what is it you know?« »Sometime they’ll give a war and nobody will come.« Carl Sandburg, zitiert nach poemhunter: https://www.poemhunter.com/poem/ excerp-​from-the-people-yes/

Übersicht Dieser Beitrag identifiziert den Mehrwert praxeologischer Ansätze für die Geographie. Er skizziert zentrale Perspektiven und Theorieansätze der praxeologischen Debatte, wie sie sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften etabliert haben. Darüber hinaus diskutiert der Beitrag grundlegende Impulse und Per­ spektiven einer weitergreifenden Philosophie der Praxis und leitet daraus analytische, erkenntnistheoretische sowie wissenschafts- und gesellschaftspolitische Implikationen ab. Anhand einiger Beispiele werden wir zeigen, wie verschiedene Theorien in geographischen Arbeiten aufgegriffen wurden. Zusammenfassend werden wir Möglichkeiten einer praxeologisch inspirierten Neufassung »traditioneller« geographischer Orientierungen wie Empirienähe, Planungsaffinität und Regionalkompetenz diskutieren. Auch zeigt dieser Beitrag, dass sich mit einer praxistheoretischen Perspektive nicht nur die Forderung nach einer kritischen

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gesellschaftspolitischen Haltung erfüllen lässt, sondern dass sich unterschiedliche Auffassungen von Kritik aus verschiedenen praxeologischen Zugängen hinsichtlich des Verhältnisses von Theorie und Praxis ergeben. Dementsprechend bietet dieser Beitrag auch eine Diskussion der Frage, wie verschiedene kritische Theorieansätze ihren Bezug zur Praxis formulieren.

Einleitung: Koordinaten praxeologischen Denkens »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!« Dieser auf ein Gedicht von Carl Sandburg zurückgehende Slogan ist in seiner paradoxen Formulierung geeignet, um in das Feld praxeologischen Denkens einzuführen. Wie kann es denn sein, dass Krieg ist, wenn doch niemand hingeht? Diese Widersprüchlichkeit in der Formulierung etabliert eine Spannung zwischen kategorialem Denken (Begriff »Krieg«) und einem Hinweis auf konkrete Praxis (»hingehen«). Ohne konkreten Praxisbezug bleibt ein Begriff wie »Krieg« unbestimmt und vieldeutig. Mit ihm lassen sich bspw. auch ökonomische Maßnahmen auf internationaler Ebene bezeichnen, die als »Handelskriege« wahrgenommen werden. Auch können Politiker*innen von »Kriegen« und »Kämpfen« sprechen, selbige regelrecht beschwören, wo ein Blick auf Praxis aufzeigen würde, dass (noch) kein Krieg im engeren Sinne herrscht. Für Praxeolog*innen ist deswegen zentral, dass gesellschaftliche Phänomene immer nur in ihren konkreten tatsächlichen Ausführungen existent werden. Krieg ist bzw. existiert nur dann, wenn Individuen auch tatsächlich hingehen. Entsprechend lenken praxeologische Ansätze ihren analytischen Blick auf jenes »Hingehen«, auf das, was konkret passiert, auf die Praxis. Praxeologische Ansätze fragen, was genau im Kontext eines Krieges passiert: Wie wird ein Krieg bspw. erklärt oder vorbereitet, wie wird zum Krieg gerufen, wie wird gekämpft? Praxeologische Ansätze interessieren sich für das, was konkret abläuft, was in Gang gesetzt wird, für das, was sich realisiert. Nun tritt aber gerade im Beispiel »Krieg« eine besondere Spannung auf. Es kann schließlich nicht lediglich darum gehen, Kriegspraktiken möglichst genau zu beschreiben. Wie soll mit der Grausamkeit, dem Leiden, dem Sterben, dem Töten umgegangen werden? Ist der auf Sandburg zurückgehende Slogan nicht in erster Linie ein (friedens-)politischer Aufruf, sich gegen die Praxis der Teilnahme an und der Unterstützung von Kriegshandlungen zu stellen? Inwieweit aber können sich Individuen gegen die Praxis des »In-den-Krieg-ziehen-Müssens« wehren und welche Bedingungen müssen dafür gegeben sein? »Krieg« wird nicht einfach unvermittelt existent. Warum und in welchen Weisen nehmen so viele Individuen an kriegerischen und militärischen Praktiken teil? Was muss geschehen, dass derartige Praktiken als legitim und machbar angesehen werden? Wie ist

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»Krieg-führen« in die weitere gesellschaftliche Praxis eingebettet und mit anderen, auch alltäglichen Praktiken verknüpft? Das »In-den-Krieg-Ziehen« hat eine lange Geschichte und wird durch zahlreiche etablierte Praktiken gestützt, bspw. durch militärische Traditionen mit entsprechenden Würdigungen des Kriegsdienstes, oder durch einen gesetzlich verpf lichtenden Wehrdienst, der mit Sanktionsmechanismen verbunden ist. Grundsätzlich sind das »Zum-Krieg-Hingehen« oder das »Krieg-Führen« also Elemente gesellschaftlicher Praxis, die jeweils vor dem Hintergrund historisch-spezifischer Bedingungen praktiziert werden. Letztlich sind Individuen aber nicht ausnahmslos dazu gezwungen, auch tatsächlich in den Krieg zu ziehen. Begriffe wie »Fahnenf lucht« oder »Desertion« zeugen davon, dass es immer Menschen gab, die die Möglichkeit des »Nicht-Hingehens« für sich in Anspruch nahmen. Praxis und Praktiken sind demnach zwar überindividuell angelegt und konventionalisiert, aber keinesfalls vollständig determiniert. Praxistheoretische Ansätze fragen einerseits danach, wie es dazu kommt, dass gesellschaftliche Strukturen und Prozesse beständig reproduziert werden, auch wenn sie häufig mit offensichtlichen gesellschaftlichen Problemlagen einhergehen (soziale Ungerechtigkeiten, Gewalt und Gegengewalt, Umweltzerstörung usw.). Doch neben diesem Fokus auf Reproduktion betonen Praxeolog*innen auch, dass Gesellschaften einem kontinuierlichen Wandel unterliegen. Dabei wird Wandel in vielen praxeologischen Ansätzen als mehr oder weniger von selbst ablaufende Veränderung im Vollzug der Praktiken gedacht. Die gesellschaftlich relevanten Fragen nach Wandel und Widerstand führen unseres Erachtens aber auch zu Überlegungen von Handlungsfähigkeit oder Handlungsfreiheit, also zu der Frage, welche human agency Individuen zugeschrieben werden kann. Inwieweit können gesellschaftliche Veränderungen auch planvoll herbeigeführt werden, inwieweit ist Gesellschaf t gestaltbar? Auch dies möchten wir in diesem Beitrag praxeologisch diskutieren, weisen aber sogleich darauf hin, dass gerade Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit in den meisten praxeologischen Ansätzen kaum dargestellt sind. Viele Praxistheorien distanzieren sich in ihrer zentralen Kategorie »Praktik« vom Handlungsbegriff und von der Vorstellung sich entscheidender und ref lektierender Individuen. In jedem Fall verweist »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!« besonders eindrucksvoll auf die Notwendigkeit einer kritischen und politischen Dimension im Nachdenken über die Praxis der Gesellschaft. Sind Individuen wirklich so nahtlos in die aktuellen Strukturen eingebunden, dass, wie Theodor W. Adorno es formulierte, kein richtiges Leben im Falschen möglich ist? Werden wir alle unausweichlich mitschuldig an den herrschenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten? Praxeologie, so wollen wir argumentieren, bietet auch Ansatzpunkte für die Formulierung von Gesellschaftskritik und für gesellschaftspolitische Positionierungen.

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Zum Auf bau dieses Beitrags: Zu Beginn möchten wir zusammenfassend auf die aktuelle praxeologische Debatte eingehen, wie sie in den Kultur- und Sozialwissenschaf ten vor allem seit den 2000er Jahren geführt wird. Wir werden die etablierten Motive und Kategorien vorstellen, die sich um die kultur- und sozialwissenschaftliche Ausrufung eines »practice turn« versammeln. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie konkretes körperliches und situiertes menschliches Tun in den Vordergrund stellen. Damit etablieren viele der Ansätze eine analytische Mikroperspektive auf Gesellschaft, die politische und gesellschaftliche Makrophänome wie z.B. soziale Ungleichheit, die Finanzkrise oder Kriegspropaganda vom konkreten Tun her aufschlüsseln kann. Die vorgestellten Ansätze rahmen menschliche Aktivitäten als grundlegend gesellschaftliche und strukturell eingelassene Aktivitäten, die aber immer auch eine konkrete, einzigartige und materielle Dynamik aufweisen können. Anschließend werden wir sehr verschiedene, jeweils auf ihre eigene Art und Weise praxisbezogene Theorienlinien beleuchten. Wir verwenden dabei die Begriffe »Praxeologie« und »praxeologisch« als Klammern für Ansätze, die sich selbst als »Praxistheorien« oder »Theorien sozialer Praktiken« bezeichnen oder aber an zentraler Stelle ihres Denkens praxisbezogene Argumentationen entwickeln. Die vorgestellten Theoretiker*innen entwickeln alle ihr jeweils eigenes Vokabular. Ihre Kategoriensysteme sind untereinander nicht ohne Weiteres kompatibel. Es ist auch keineswegs unser Anspruch, diese Ansätze konsistent in eine Metaperspektive zu integrieren. Wir wollen vielmehr dazu ermutigen, sich bei der eigenen Theoriearbeit oder empirischen Forschung aus diesem Repertoire zu bedienen. Deswegen stellen wir in erster Linie die Potenziale der verschiedenen Perspektiven dar. Gleichzeitig soll in dieser Zusammenschau auch deutlich werden, was bei den jeweiligen Ansätzen aus dem Blick gerät. Wir beginnen dabei mit Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Theodore Schatzki. Sie werden gesondert besprochen, weil gerade diese Autoren für den practice turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften sehr bedeutsam waren und sind. Für Hilmar Schäfer bilden Bourdieu und Giddens »das Zentrum der praxeologischen Debatte« (2016b: 10f.). Danach werden wir den Fokus erweitern und dezidiert heterogene Theoriestränge (Ethnomethodologie, Poststrukturalismus, Akteur-Netzwerk-Theorie, Kritische Theorie und Pragmatismus) besprechen. Diese Theorietraditionen werden auch in der jüngeren kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatte als praxeologisch wichtig dargestellt. Im Zuge unserer Diskussionen werden wir ein Primat der Praxis als eine zen­ trale Perspektivierung praxeologischen Denkens identifizieren. Hierbei ist die Erkenntnis zentral, dass jedes Wissen, jede Erfahrung und jede Theorie der Praxis entstammt und dass jede neue (auch wissenschaftliche) Theoriebildung immer schon selbst gesellschaftliche Praxis ist. Dieses Theorem drückt sich in den vorgestellten Theoriefeldern verschiedentlich aus, wird jedoch vor allem im Marxis-

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mus, in der Kritischen Theorie, in Ansätzen der Science and Technology Studies und im Pragmatismus besonders konsequent gedacht. Wir argumentieren, dass diese Erkenntnis besondere Konsequenzen für wissenschaftliches Arbeiten mit sich bringt, weil sie in eine Diskussion über die gesellschaftspolitische Haltung von Wissenschaft führt. Wir werden die vorgestellten Theoriestränge entsprechend auch darauf hin befragen, inwiefern sie Forschung als Teil der gesellschaftlichen Praxis verstehen und in welchem Maße sie daraus die Notwendigkeit ableiten, die gesellschaftliche Rolle ihrer Arbeit zu ref lektieren und ggf. Konsequenzen daraus zu ziehen. Auf unserem Durchgang durch die praxeologische Ideenlandschaft werden wir zudem exemplarisch beschreiben, wie praxeologische Ansätze in der Geographie bereits zur Re-Formulierung von Fragestellungen beigetragen haben. Darüber hinaus werden wir abschließend anhand ausgewählter praxeologischer Motive exemplarisch diskutieren, wie sich diese für geographisches Arbeiten in Wert setzen lassen. Im Gegensatz bspw. zu soziologischen Betrachtungen setzt sich die geographische Forschung oft in stärkerem Maße sowohl theoretisch als auch in methodischer und forschungspraktischer Hinsicht mit der Lokalisierung und Regionalisierung der eigenen Forschung auseinander. Die praxeologische Sensibilität für Räumlichkeit und Situierung der Forschungsgegenstände begünstigt eine gewisse Nähe der Geographie zum empirischen Feld ebenso wie ihr Interesse an Prozessen der Regional-, Raum- oder Stadtplanung. Auch finden die Dynamiken sozialer Praktiken immer lokalisiert statt und entwickeln entsprechend lokalspezifische Pfadabhängigkeiten. Die praxeologische Erkenntnis, dass Wissen den Praktiken eher implizit ist als dass es expliziert werden könnte, bedeutet, dass man sich eine lokalspezifische Praxis nicht anlesen oder theoretisch erarbeiten kann. Man muss sie sich vielmehr in Erfahrungsprozessen aneignen. Dies spricht für eine praxeologische Vorstellung von Regionalkompetenz im Sinne einer mehr oder weniger intensiven, langfristigen und persönlichen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lokalspezifika des Untersuchungsfeldes. In ihrer Heterogenität liefern die verschiedenen Ansätze also auch fruchtbare Inspirationen, grundlegende Aspekte geographischen Arbeitens zu ref lektieren.

Praxeologische Perspektiven und Kategorien in den jüngeren Kultur- und Sozialwissenschaften In den 2000er Jahren haben Praxeolog*innen der »zweiten Generation« jeweils eigene, vornehmlich soziologische und kulturwissenschaftliche Zusammenstellungen praxistheoretischer Ansätze angefertigt sowie Programme für die empirische Forschung und Theoriebildung entwickelt. Hierzu zählen bspw. Theodore Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny (2001) sowie Elizabeth Sho-

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ve, Mika Pantzar und Matt Watson (2012), in der deutschsprachigen Diskussion u.a. Robert Schmidt (2012), Frank Hillebrandt (2014) und Andreas Reckwitz (2003, 2016). Dabei ist in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an Sammelbänden erschienen (Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001; Alkemeyer/Schürmann/Volbers 2015; Schäfer 2016a; Hui/Schatzki/Shove 2017). Auch die Geographie blieb vom vielfach attestierten practice turn in den Sozialwissenschaften nicht unbeeinf lusst (Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011) und versuchte sich vielfach an einer Re-Perspektivierung geographischer Fragestellungen durch den analytischen Blick auf konkrete Tätigkeiten. Im weiteren Verlauf werden wir noch exemplarisch aufzeigen, inwiefern praxistheoretische Motive auf die Geographie und die dort verfolgten Fragestellungen und empirischen Perspektiven Einf luss hatten. Jörg Volbers (2015) zufolge haben kultur- und sozialwissenschaftliche Formulierungen von Praxistheorien ein zentrales Motiv gemeinsam: einen Anti-Intellektualismus. Er subsumiert darunter, was andere Autoren (Schatzki 1997; Reckwitz 2003) bisweilen auch als eine Abkehr von mentalistischen und textualistischen Erklärungsansätzen darstellen. Die handlungstheoretische Vorstellung, wonach geistige Ideen oder Intentionen denkender Individuen als primäre Triebkräfte des Sozialen anzusehen seien (Mentalismus), stelle ebenso eine Intellektualisierung des sozialen Lebens dar wie auch die Auffassung, das Soziale ergebe sich rein als Effekt symbolisch-zeichenhafter Strukturen und etablierter Wissensformationen wie etwa Diskursen, kulturellen Sinnsystemen oder Ideologien (Textualismus) (Reckwitz 2003: 289). Darüber hinaus lehnen es anti-intellektualistische Perspektiven ab, bei der Erklärung von Gesellschaft einzig auf explizites oder explizierbares Wissen zu fokussieren. Gesellschaft entfalte sich auch in materiell-körperlichen Modi, deren Dynamik nicht allein auf ein System von Bedeutungen zurückzuführen sei. Gleichzeitig wenden sich praxistheoretische Perspektiven gegen funktionalistische Modelle, die beobachtbare Einzelphänomene einzig als Ausdruck einer bestimmten Funktion für das »Ganze« bestimmen (Schäfer 2016b: 10), sowie gegen einen starren Strukturalismus, der – auch jenseits eines Fokus auf Sprache – eine feste Struktur (z.B. ökonomische Verhältnisse) als gesellschaftskonstituierend ansieht. Demgegenüber betonen Praxistheorien, dass konkrete Tätigkeitsvollzüge – Praktiken – in ihrer Materialität den Ausgangspunkt der Analyse bilden sollten. Dem Konzept der Praktik kommt in der praxistheoretischen Diskussion der 2000er Jahre zentrale Bedeutung als heuristische Kategorie zu (Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001; Schäfer 2013, 2016a; Reckwitz 2016). Es fungiert nicht nur als Antwort auf »intellektualistische Erklärungen menschlichen Handelns« (Schatzki 1997: 283), sondern auch als Versuch, die in den Sozialwissenschaften zirkulierende Dualität von Struktur und Handlung zu unterlaufen (Giddens 1997 [1984]). In praxistheoretischen Diskussionszusammenhängen werden gesellschaftliche und soziale Prozesse primär auf mehr oder minder konventionalisier-

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te, körperlich ausgeführte Aktivitätsmuster zurückgeführt. Weder individuelles Handeln noch allein gesellschaftliche (Makro-)Strukturen bestimmen das soziale Geschehen, sondern wiederkehrende Muster des Tätig-Seins, wozu Gewohnheiten, Routinen und Praktiken gehören (vgl. Kapitel »Gewohnheit und Routinen«). Während Begriffe wie »Gewohnheit« und »Routine« sich eher darauf beziehen, dass eine einzelne Person bestimmte Aktivitätsmuster regelmäßig wiederholt und diese dabei mehr oder weniger automatisch un- oder vorbewusst ausführt, verweist der dominierende Praktikenbegrif f dezidiert auf die überindividuelle Ebene. Praktiken sind hierbei als gesellschaf tlich konventionalisierte und angeordnete Zusammenhänge des Tuns und Sagens zu begreifen (Schatzki 2002), welche im kulturellen Repertoire einer (historisch spezifisch konfigurierten) Gesellschaft vorhanden sind und von Individuen aufgegriffen werden (können). Eine Praktik ist also ein überindividuell vorhandenes und verstehbares »Muster« im fortlaufenden Tätig-Sein von Individuen (Reckwitz 2003). In ihrer konkreten Ausführung sind Praktiken jedoch immer auch materielle und körperliche Aktionen, die in einen spezifischen Kontext hineinwirken. In diesem Sinne haben Praktiken zwar überindividuellen und gesellschaftlichen Charakter, existieren aber niemals außerhalb ihrer singulären Ausführungen durch praktizierende und körperliche Individuen. Sie können damit nicht von der Körperlichkeit der sie ausführenden Praktiker*innen und den materiellen Rahmenbedingungen ihrer Ausführung getrennt werden. Praktiken werden zwar von überindividuellen Vorstellungs- und Verstehensleistungen begleitet, basieren aber v.a. auf einem impliziten Körperwissen, einem inkorporierten knowing how. Da Praktiken impliziten Sinnstrukturen, praktischem Wissen oder kultivierten Dispositionen entspringen, lassen sie sich auch nur bedingt sprachlich explizieren (vgl. Bourdieu 1987; Giddens 1997 [1984]). Gesellschaft basiert also auf Praktiken, welche zunächst einmal »nichts anderes als Körperbewegungen« von »kompetenten Körpern« (Reckwitz 2003: 290) darstellen (vgl. auch Reckwitz 2016). Während gerade die »erste Generation« von Praxeolog*innen (v.a. Bourdieu, Giddens) mit solchen und ähnlichen Konzepten vorwiegend die Reproduktion von Gesellschaft zu erklären versuchte, wird in jüngeren praktikentheoretischen Ansätzen verstärkt auch nach Möglichkeiten der Theoretisierung von Wandel und Dynamik gefragt. So wird bspw. eine spannungsvolle Überkreuzung verschiedener Wissensbestände innerhalb einzelner Praktiken als ursächlich für Veränderungen angeführt. Oder aber es wird minimalen Veränderungen in den Aktivitätsmustern nachgespürt, die in jeder erneuten, iterativen Ausführung einer Praktik geschehen (vgl. dazu: Reckwitz 2003; Schäfer 2013; vgl. den Beitrag zu »Praktiken und gesellschaftlicher Wandel« in diesem Buch). Die Theoretisierung von Wandel findet dabei aber ausgehend von einem Praktikenbegriff statt, der tendenziell auf Gefüge von Tätigkeiten (»Nexus«) und damit auf koordinierte, (an-)geordnete und konventionalisierte Aktivitäten fokussiert. Da dies von einer relativen Struktu-

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riertheit gesellschaftlicher Prozesse ausgeht, bleibt die Frage nach Wandel analytisch eine Herausforderung. Auch im praxeologischen Denken kommen Formationen des Wissens in den Blick, doch wird dieses Wissen nicht als »praxisenthoben«, sondern als den Ordnungen von Praktiken eingeschrieben gedacht (Hillebrandt 2014; Reckwitz 2016). Der »Ort« dieses Wissens sind also weder symbolisch-kulturelle Systeme noch einzelne, ref lektierende Akteur*innen. Es ist vielmehr die (An-)Ordnung der sich praktisch vollziehenden, körperlich einverleibten Tätigkeiten der Akteur*innen, in denen sich Wissensordnungen ausdrücken. So entstehen auch Motivlagen, Intentionen oder Handlungsziele von Individuen erst in den Praktiken selbst (Schäfer 2016a, 2016b). Individuen entscheiden sich nicht einfach aus sich selbst heraus für eine Handlungsoption, vielmehr resultiert die Form ihrer Entscheidungsfindung aus ihrer Einbettung in praktische Zusammenhänge. Schäfer verdeutlicht dies am Beispiel der »Ehe«, wenn er schreibt, dass niemand »ohne die bestehende Praxis des Heiratens […] den Wunsch entwickeln [kann], eine Ehe einzugehen« (Schäfer 2016b: 12). Aus dieser Perspektive entsteht der Wunsch zu heiraten nicht aufgrund reif licher Überlegung, vielmehr sind es sozial und kulturell konventionalisierte Verhaltensweisen, also Praktiken, durch die bestimmte Wünsche oder Intentionen überhaupt erst entstehen können. Vor allem geht eine anti-intellektualistische, praxeologische und empirische Untersuchung von Gesellschaft nicht bereits im Vorfeld davon aus, dass die aufgefundenen Objekte schon vorab (endgültig) theoretisch-begrif f lich geklärt sind. Vielmehr zeigt erst der Blick auf Praxis, wie die Objekte zu erklären sind, d.h., wie sie sich in Praktiken darstellen. So wird bspw. nicht davon ausgegangen, dass es den Staat im Sinne eines klar konturierten Gegenstands gibt, dem kontextübergreifend ein festes inneres Prinzip zugrunde läge. Wenn in gesellschaftlichen Kontexten bestimmte Phänomene als Staat wirksam, erfahren, benannt oder wahrgenommen werden, realisiert sich damit also keineswegs immer wieder das gleiche, theoretisch bestimmbare Prinzip des Staates. Auch können nicht alle Praktiken, die zur Reproduktion eines bestimmten Staates beitragen, von einem theoretischen Prinzip abgeleitet werden. Stattdessen wird betont, dass sich Staat erst als ein Ef fekt heterogener Praktiken bzw. Verknüpfungen von Objekten und Praktiken ergibt. Er wird in immer wieder neuen Kontexten spezifisch hervorgebracht (vgl. z.B. Jessop 2007; Allen/Cochrane 2010; Watson 2017). So lässt sich z.B. fragen, wie sich Staat in so heterogenen Praktiken wie einem »Schreiben vom Finanzamt« oder der »automatisierten Videoüberwachung öffentlicher Räume« ausdrückt. Inwiefern wird bspw. im Gespräch zwischen Patient*innen und Ärzt*innen oder beim Elternabend an einer Grundschule ein je spezifisches Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen bedeutsam und wirksam gemacht? Ärzt*innen sind keine Repräsentant*innen des Staates, orientieren sich aber an Anweisungen des Gesundheitsamts (z.B. im Umgang mit Krankheiten). Lehrer*innen wiederum sind

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oft verbeamtete Staatsdiener*innen, die sich an bildungspolitischen Setzungen ausrichten. Gleichzeitig sind sie aber auch Pädagog*innen und verkörpern damit eine spezifische Expertise, die nicht direkt auf die Verwaltung des Staates zielt. Im Kontext all dieser Praktiken kann »Staat« eine spezifische Bedeutung erlangen. Wie die Beziehungen jedoch genau beschaffen sind, muss jeweils empirisch und mit Blick auf Praxis untersucht werden. Ein solcher Anti-Intellektualismus etabliert eine analytische Bewegung, die Gesellschaft vom Tun her zu erklären sucht und nicht, andersherum, das Tun über den Verweis auf Theorien (über Gesellschaft) schon vorab als geklärt bestimmt. Es gilt zu fragen, wie Phänomene im praktischen Tun eine (be-)greif bare Erfahrung werden können. Um später eigene praxeologisch-geographische Motive entwickeln zu können, wollen wir nun erst einmal einige Schritte zurücktreten und uns verschiedenen Ursprüngen und grundlegenden Formulierungen von Praxis als Theorem oder Bezugspunkt von Theorie annähern.

Bourdieu und die Logik der Praxis Pierre Bourdieu entwickelt seine Theorie der Praxis anhand ethnographisch kultursoziologischer Studien in Algerien (1976 [1972]) und Frankreich (1987 [1979]). Darin kritisiert er den »Objektivismus« des damals vorherrschenden anthropologischen Strukturalismus, dem zufolge es möglich sei, aus der Perspektive außenstehender Zuschauer*innen Gesellschaft in ihrer Konstruktionsweise zu erfassen. Gleichzeitig aber schließt er sich auch nicht dem »Subjektivismus« an, dessen Schief lagen er in den damals existierenden Theorien des Handelns erkennt, wonach sich Menschen entweder mechanisch verhalten (Behaviorismus) oder nach Maßgabe rationaler Entscheidungen (Rational Choice) agieren. Demgegenüber ist für Bourdieu grundlegend, dass Individuen in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld aufwachsen und dabei die dort üblichen Verhaltensweisen erlernen. In ihrem späteren Leben reproduzieren sie dann weitgehend unbewusst genau diese Ordnungen, in denen sie sozialisiert wurden. Gleichzeitig kann Gesellschaft damit auch nicht mehr als etwas Homogenes angesehen werden, denn in den verschiedenen, mehr oder weniger abgeschlossenen Lebenszusammenhängen entwickeln sich auch unterschiedliche alltagsweltliche Praktiken. Gesellschaft sollte entsprechend als ein sozialer Raum verstanden werden, in dem sich Lebensstile in Abgrenzung zueinander (Distinktion) herausbilden und beständig reproduzieren. Damit wird die strukturalistische Suche nach der logischen Geschlossenheit eines kulturellen Systems aufgegeben und innergesellschaftliche Widersprüche, wie sie »für eine immer nur im Groben bis zu einem gewissen Punkt schlüssige praktische Logik wesenstypisch sind« (Bourdieu 1987: 25), werden anerkannt.

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Im Bourdieu’schen Vokabular stellt sich dies folgendermaßen dar: Individuen werden in gesellschaftlichen Klassen sozialisiert, innerhalb derer weitgehend homogene Existenzbedingungen gelten, und erwerben so einen entsprechenden Habitus. Diesen beschreibt er als ein lebensstilspezifisches Repertoire an Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata, das eine Position in der sozialen Ordnung bestimmt. Der Habitus ist dabei Vorbedingung sowohl für sinnvolle Praxis als auch für sinnvolles Denken. Der Habitus schafft sich im Weiteren dann ein Milieu, »an das er so weit wie möglich vorangepaßt ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, daß sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten« (Bourdieu 1987: 114). So entstehen Felder. Habitus und Feld bilden damit eine Dualität gegenseitiger Abhängigkeit und Reproduktion. Bourdieu spricht hier von einer »Konzertierung ohne Dirigent«. Praxis sei »der Ort der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen« (ebd.: 98, Herv. i.O.). Derartige Lebensstile, d.h. verschiedene Habitusformen und die jeweils ihnen zugehörigen Felder, hat Bourdieu in akribischen empirischen Studien identifiziert und beschrieben. Mittels qualitativer und quantitativer Methoden der empirischen Sozialforschung arbeitete er die »feinen Unterschiede« (1987 [1979]) heraus, die die Lebensstile so charakteristisch machen. Sein großer Verdienst war es zu zeigen, dass sich gesellschaftliche Ungleichheiten nicht nur durch Klassenzugehörigkeiten oder ökonomische Grenzen ausprägen, sondern sich vor dem Hintergrund der scheinbaren Wahlfreiheit alltäglicher Handlungen entlang vielfältiger Distinktionslinien verkörperlichter Geschmacksurteile aufspannen. Gesellschaft folgt Bourdieu zufolge keiner inhärenten Verfassung, keinem immanenten kulturellen System oder logischem Prinzip, sondern vielmehr einer Logik der Praxis. Lebensstile lassen sich anhand der Verfügbarkeit verschiedener Kapitalsorten unterscheiden, wobei soziales Kapital den Rückhalt in sozialen Beziehungen, ökonomisches Kapital die Verfügbarkeit von Geld- und Vermögenswerten und kulturelles Kapital den Zugang zu Gütern beschreibt, die als gesellschaftlich wertvoll erachtet werden (bspw. Bildungstitel oder Sprachkenntnisse). Gesellschaftliche Praxis lässt sich dann als eine Konkurrenz um diese Kapitalsorten verstehen. Die Kapitalsorten beruhen, so Bourdieu, auf Prinzipien, die sich durch das Gesetz der Notwendigkeit Geltung verschaffen. Sie gehen auf tief verwurzelte geschichtliche Erfahrungen davon zurück, was zum Leben notwendig ist und was ein besseres Leben ermöglicht. Hier wird der ökonomistische Charakter der Bourdieu’schen Perspektive deutlich, die sich anschickt, die »Dichotomie von Ökonomischem und Nichtökonomischem über Bord zu werfen« (Bourdieu 1987: 222). Aus einem über den Habitus inkorporierten Lebensstil erwächst die Möglichkeit, bestimmte Machtbefugnisse auszuagieren, was Bourdieu (ebd.: 205) als sym-

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bolisches Kapital beschreibt und welches »durch entsprechende Verwendung der anderen Kapitalarten geschaffen wird« (ebd.: 223). Dies geschieht bspw., wenn der Erwerb kulturellen Kapitals in Form von Bildungsabschlüssen symbolisch fixiert und somit als Garant für sozialen Status etabliert wird. Anwendungen symbolischen Kapitals sind nur eine Sonderform ökonomischer Praktiken, die allerdings auf »immaterielle und schwer quantifizierbare Gewinne ausgerichtet sind« (Bourdieu 1987: 222) und deren Effekt sich in der verlässlichen Reproduktion und Verschleierung von Machtverhältnissen zeigt. Mit dieser Ausweitung des Herrschafts- und Gewaltbegriffs auf die Ausübung symbolischer Repräsentationstätigkeiten kommt symbolische Gewalt als die wohl perfideste Form von Gewalt in den Fokus der Betrachtung. Diese »beschönigte, d.h. unkenntliche und anerkannte Gewalt« (ebd.: 230) ist den gängigen Wahrnehmungs- und Denkschemata inhärent und wird in alltäglichen Gesten, Verhaltensweisen und Praktiken quasi unbewusst ausgeübt und erlitten (Moebius 2011). Damit wird Bourdieus Theorie der Praxis zu einem dezidiert gesellschaftskritischen Programm. Bourdieu betrachtet die empirische Sozialforschung als ein probates Mittel, um beobachtbare soziale Praktiken zu analysieren. Durch »logische Modelle, die die größtmögliche Zahl von beobachteten Fällen am schlüssigsten und sparsamsten erklären« (Bourdieu 1987: 57), könne die Gesellschaftstheorie objektiviert werden. Dabei müsse man sich aber bewusst sein, »daß diese Modelle falsch und gefährlich werden, sobald man sie als reale Grundlagen dieser Praktiken behandelt« (ebd.: 27). Seine Forschung ist demnach eine bewusste Abstraktion, die sich nicht um ein Verständnis der Akteur*innen bemüht. Seines Erachtens gründet die hermeneutisch-verstehende Tradition »auf pseudowissenschaftlichen Rückübersetzungen der spontanen Theorie des Verstehens als eines ›Sich-an-die-Stelle-Setzens‹« (ebd.: 40). Er hingegen nimmt bewusst einen distanzierten Standpunkt ein. Er versteht die von ihm beschriebene Logik der Praxis als eine wissenschaftliche Objektivierung, die den an der Praxis Teilnehmenden, also den Beforschten, quasi naturgemäß weitgehend verschlossen bleiben muss. Würde es den Einzelnen bewusst, wie elementar der Austausch von Kapitalsorten die Geschicke ihrer sozialen Gruppe lenkt, dann könnten sie nicht mehr so unbedarft an der sozialen Praxis teilnehmen. Auch kann die Erkenntnis der Logik der Praxis den Betroffenen kaum vermittelt werden, denn sie trifft sich nicht mit der Art und Weise, wie die Beforschten selbst ihr Agieren beschreiben würden, und ist letztlich nur vom wissenschaftlichen Standpunkt aus verständlich. Nach Bourdieus Auffassung ist wissenschaftliche Praxis also etwas, das zwar selbst Praxis ist, sich aber bewusst außerhalb der zu analysierenden gesellschaftlichen Praxis positioniert. Eine derartige Sozialkritik erhebe aber, so eine Kritik von Luc Boltanski (2010: 41), unhaltbare Objektivitäts- und Wertfreiheitsansprüche und manifestiere letztlich eine überhebliche Position der Soziolog*innen, die glauben, nur sie allein können »zur Erkenntnis der Strukturen vordringen«.

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Die Stärke der Bourdieu’schen Praxistheorie liegt in der Begründung von Sozialwissenschaft als einem empirisch methodologischen Programm der Sozialkritik. Durch die Erforschung von Habitusformen und den mit ihnen assoziierten Feldern wird deutlich, wie gesellschaftliche Ungleichheiten etabliert und gefestigt werden. Im Vollzug von Praxis werden sie schließlich als Selbstverständlichkeiten angesehen. Sie werden naturalisiert, d.h. sie erscheinen als Ergebnisse einer natürlichen Ordnung. In der Geographie ist dieses analytische Instrumentarium in allen sozialgeographischen Forschungsfeldern mittlerweile ein fester Bestandteil des methodischen Repertoires geworden. Zuletzt wurde dieses rekon­ struktive (die Logik der Praxis herausarbeitende) Potenzial auch gegenüber rein dekonstruktivistischen, diskurstheoretischen und kulturtheoretischen Positionen in Stellung gebracht (Lippuner 2005). In der geographischen Entwicklungsforschung erfuhr Bourdieu aber noch eine besondere Rezeption (Dörf ler/Graefe/Müller-Mahn 2003; Graefe/Hassler 2006; Deffner et al. 2014). Hier hatte die Post-Development-Debatte nicht nur gängige Theorien von Entwicklung, sondern die Sinnhaftigkeit der Entwicklungsidee überhaupt infrage gestellt. In seinen späteren Arbeiten entwickelt Bourdieu – in der Rückschau auf seine empirischen Studien, die zur Formulierung der Theorie der Praxis führten – die Vorstellung einer ref lexiven Anthropologie. »Ich mußte also, wie mir scheint, ohne überhaupt Gefallen daran zu finden, mich ständig über mein Verhältnis zum Gegenstand befragen.« (Bourdieu 1987: 33) Demnach solle sich Wissenschaft mittels eines relationalen Denkens nun jederzeit der eigenen privilegierten Positionalität bewusst sein und die gängigen Dualismen von »entwickelt« vs. »unterentwickelt« oder »globalem Süden« vs. »globalem Norden« durchbrechen. Eine derartige Selbstref lexion der Entwicklungsforschung müsse allerdings konsequenterweise den Begriff »Entwicklung« aufgeben und zu einer »praxeologisch informierten globalen Sozialforschung« (Deffner/Haferburg 2014: 11) werden.

Giddens und die Dualität der Struktur Anthony Giddens (1997 [1984]) nähert sich der Praxis in seinem Hauptwerk »Die Konstitution der Gesellschaft« quasi aus der entgegengesetzten Richtung. Auch er stellt, ähnlich wie Bourdieu, die klassische praxeologische Frage nach der Vereinbarkeit von Subjektivismus und Objektivismus (ebd.: 25ff.): Wie passen einerseits handlungstheoretische Ansätze, die die soziale Welt aus dem Handeln Einzelner heraus verstehen wollen, und andererseits strukturell orientierte Theorien, die die Bedeutung überindividueller sozialer Strukturen in den Mittelpunkt stellen, zusammen? Während Bourdieu eher von den strukturellen Momenten ausgeht, denkt Giddens neu über den Begriff der Handlung nach: »Der menschliche Akteur ist für mich ein ›kompetentes‹ oder ›handlungsmächtiges‹ Subjekt, das sich

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›bewußt‹ und in ›ref lexiver‹ Manier mit seiner materiellen und sozialen Umwelt auseinandersetzt und in diese eingreift.« (Giddens/Kießling 1988: 291) Mit diesem Handlungsbegriff ist Giddens wohl der Praxistheoretiker, der der klassischen Handlungstheorie noch am nächsten steht. Allerdings löst er »Handeln« von der Intentionalität der Subjekte. Handeln gründet demnach nicht in willentlichen Entscheidungen, sondern in weitgehend unbewussten Motivlagen und ist nur in dem Maße relevant, in dem es konkreten Einf luss auf die objektive Welt ausübt. Handeln ist lediglich ein praktisches Einwirkungs- und Veränderungsvermögen bezüglich der Umwelt (Kron 2007; Giddens/Kießling 1988). Handeln ist im Giddens’schen Sinne in hohem Maße von Wiederholung und Routinisierung geprägt und wird nur in den Momenten bewusst ref lektiert und legitimiert, in denen es problematisch wird – sei es, weil es auf Hindernisse stößt oder weil es Dritten gegenüber gerechtfertigt werden muss. Es sind die unerwünschten Handlungsfolgen, also das, was wir unfreiwillig mit unseren Handlungen auslösen, was uns zum Nachdenken bewegt und damit zentral unser Verständnis von der sozialen Welt prägt (Giddens 1997 [1984]: 60). Fragt man Menschen nach dem Sinn ihres Tuns, dann müssen die Gefragten in der Regel erst überlegen, bevor sie eine Antwort geben können, denn in der Regel laufen Handlungen vorbewusst ab. Diese Antwort ist dann aber eine nachträgliche Rationalisierung der Handlungsabläufe, weniger der Ausdruck eines ursprünglichen Plans oder Sinns. Dementsprechend unterscheidet Giddens auch zwischen zwei Formen des Bewusstseins: dem nichtdiskursiven, praktischen Bewusstsein, das dem kontinuierlichen Handlungsstrom zugrunde liegt, und dem diskursiven Bewusstsein, das kritisch-argumentativ ausgerichtet ist und sich die meiste Zeit gewissermaßen im Stand-by-Modus befindet (ebd.: 55ff.). Dem alltäglichen Handeln gehen also keine klaren, auslösenden Intentionen voraus, sondern es stellt vielmehr einen stetigen Handlungsstrom dar, in dem lediglich eine ref lexive Handlungssteuerung möglich ist. Das Konzept der Dualität der Struktur beschreibt nun, wie das Handeln der Individuen in die gesellschaftlichen Bedingungen eingebettet ist. »Struktur darf nicht mit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch.« (Giddens 1997 [1984]: 78) Menschen handeln immer in Strukturen bzw. nach gesellschaftlichen Regeln, die überhaupt erst die Voraussetzung für die Möglichkeit von Handlung bilden (Kron 2007; Hillebrandt 2014). Auf der kollektiven Ebene verschränken sich routinisierte Handlungsabläufe zu einem raumzeitlich strukturierten Gewebe sozialer Interaktionen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: In vielen Ländern des Globalen Südens halten Busse an Orten, die baulich nicht erkennbar, den Beteiligten aber trotzdem als Bushaltestellen bekannt sind. An diesen Orten überschneiden und treffen sich die Handlungen der wartenden Passagiere mit denen der haltenden Busfahrer*innen. Die Infrastruktur der Bushaltestellen geht in diesen Fällen nur aus routinisierten

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Handlungen hervor und wird von diesen erhalten bzw. reproduziert. Handlungen sind dabei wie Teile eines Perpetuum Mobiles, da sie die Bedingungen ihres eigenen wiederholten Vorkommens konstant reproduzieren und regulieren (Wesser 2011: 169), ein Umstand, den Giddens als die »Rekursivität gesellschaftlichen Lebens« bezeichnet (Giddens 1997 [1984]: 37). Auf der einen Seite muss man die in die Praxis eingelassenen Regeln erlernen, quasi die Bushaltestellen kennenlernen. Auf der anderen Seite wäre für viele Menschen ohne Busverkehr kein Reisen möglich. Strukturen stellen also auch Ressourcen zur Verfügung, die die Ausführung von Handlungen erst ermöglichen. Giddens unterscheidet dabei zwischen allokativen Ressourcen, die ein Vermögen beschreiben, über Objekte und materielle Phänomene zu bestimmen, und autoritativen Ressourcen, die die Herrschaft über Personen oder Akteur*innen ermöglichen. Zu den allokativen Ressourcen zählen v.a. ökonomische Mittel, während autoritative Ressourcen bspw. politische Entscheidungsbefugnisse, militärische Stärke oder wissensbasierte Kompetenzen umfassen. Während sich eigentlich alle an die Regeln der Struktur halten müssen, sind die Ressourcen aber ungleich verteilt. Akteur*innen sind deshalb in unterschiedlichem Maße befähigt, innerhalb der Struktur handeln zu können, wobei als Macht eben jenes Vermögen bezeichnet wird, bestimmte Ressourcen, die in verschiedenen Facetten der sozialen Struktur begründet liegen, mobilisieren und damit gleichzeitig auch reproduzieren zu können (Giddens 1997 [1984]: 67). Giddens sieht also das zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften weder in den »Erfahrungen des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesellschaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesellschaftlichen Praktiken« (ebd.: 52). Dabei nimmt er u.a. auch Bezug auf die Raum-Zeit-Geographie Hägerstrands (ebd.: 161ff.). Die Vorstellung, dass die soziale Wirklichkeit sich auf lokaler Ebene in konkreten Situationen vollziehe und sich allein daraus verstehen ließe, ist ihm allerdings zu naiv und begrenzt, denn keine Interaktionssequenz kann nur aus sich selbst heraus verstanden werden. Jede konkrete, lokale Situation erstreckt sich über räumliche und zeitliche Bereiche, die über die unmittelbare körperliche Kopräsenz an einem Ort bzw. in einem Moment hinausreichen. Mit dieser Kritik an der klassischen Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene (ebd.: 195f.) sowie an ihrem expliziten Raumbezug hatte die Strukturationstheorie von Anthony Giddens einen großen Einf luss auf die Humangeographie. In der deutschsprachigen Geographie erfolgte die Rezeption u.a. durch Benno Werlen, der seine »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« (Werlen 1997) auf der Strukturationstheorie auf baute. Die empirische Analyse der Produktion und Reproduktion sozialräumlicher Strukturen bot auch darüber hinaus einen neuen Zugangspunkt zu vielen traditionellen geographischen Forschungsfeldern, wie bspw. der Wirtschaftsgeographie (Bathelt/Glückler 2002), der Bevölkerungsgeographie (Wehrhahn/Sandner Le Gall 2011) oder der

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Politischen Geographie (Reuber 1999). Damit ist die Strukturationstheorie längst im etablierten Kanon der Humangeographie angekommen. Einen gesellschaftspolitischen Standpunkt etabliert Giddens in seinen zeitdiagnostischen Arbeiten zur Ref lexiven Modernisierung in Annäherung an Urich Beck (Schroer 2009). Prozesse wie Individualisierung, Globalisierung und die Entgrenzung der Politik hätten viele unerwünschte Folgen gezeitigt, und ganz im Sinne seines Handlungsbegriffs ginge es nun darum, ref lexiv auf diese unerwünschten Folgen der Modernisierung zu reagieren und ihnen gegenzusteuern. Giddens vertritt eine Kopplung zwischen Empirie und Theorie: »Die Sozialtheorie soll die empirische Forschung anleiten, umgekehrt kann diese aber sicherlich auch die Weiterentwicklung der Theorie inspirieren.« (Giddens/Kießling 1988: 287) Dabei müssten beständig Ereignisse und Momente der Zeitgeschichte, wie etwa der Mauerfall oder der 11. September, in die Theoriebildung einbezogen werden. Die Theorie der Ref lexiven Modernisierung sei deswegen ein »work in progress in Reinkultur. Sie verändert sich mit den Ereignissen und Objekten, die sie analysieren will.« (Schroer 2009: 511) Insofern erscheinen auch die klassischen Begriffe der Soziologie anachronistisch; im Gegenteil sind es die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, die begriff lich erfasst werden müssen. Auch wenn es eher einem wilden Ritt als einer kontrollierten Fahrt ähnele, so sei Gesellschaft durchaus gestaltbar (Kron 2007). Und so sehen sowohl Beck wie auch Giddens ihre Aufgabe darin, »konkrete Vorschläge zur Behebung sozialer Probleme zu unterbreiten und die Nähe zur Politik zu suchen. In beiden Konzeptionen ist Politik die entscheidende Instanz gesellschaftlicher Veränderungen.« (Schroer 2009: 512) In diesem Sinne sah Giddens auch seine Rolle als Berater des britischen Premierministers Tony Blair. Mit seinem Entwurf »Der dritte Weg« (Giddens 1999) nahm er Einf luss auf die Neuorientierung der Sozialdemokratie.

Schatzki und die Ontologie der Praktiken Theodore Schatzki (1997) beginnt seine theoretischen Überlegungen zu Praktiken interessanterweise mit einer Kritik der Entwürfe von Bourdieu und Giddens. Deren Theorien bescheinigt er, sie seien, ganz im Sinne des hier zuvor skizzierten Anti-Intellektualismus, »overintellectualizing accounts of human activity« (ebd.: 283). In den Bourdieu’schen und Giddens’schen Versuchen, Formen eines »praktischen Wissens« zu identifizieren, würden einzelne konkrete Aktionen und Aktivitäten menschlicher Organismen in illegitimer Weise als über-situational und immer wieder auf dieselbe Weise durch übergeordnete Praxislogiken bestimmt angesehen. Schatzki denkt dabei an kleinste Gesten, wie etwa ein simples Winken, welches in den Praktikenmodellen von Bourdieu und Giddens als eine Aktivität erscheinen müsse, ohne die eine bestimmte Praktik des Grüßens nicht stö-

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rungsfrei ablaufen könne – die also deterministisch an eine Praktik gekoppelt ist. Demgegenüber argumentiert Schatzki dafür, alle möglichen Aktivitäten (actions) schlicht als Körperbewegungen anzusehen und alle auch noch so kleingliedrigen Aktionen (und seien es Handbewegungen) als nichtdeterminierte Elemente zu betrachten, deren Bedeutungen nur über eine Analyse ihrer Einsatzweise in ihren konkreten Einsatzkontexten erschlossen werden können. Folglich ist eine Aktivität, wie das Winken mit der Hand, gerade nicht im Vorhinein nur mit ganz bestimmten Praktiken und Praxisfeldern verknüpft, da es, so Schatzki, schlicht kein übergeordnetes Prinzip und auch keine objektivierbare Logik der Praxis gibt, welche diese Verknüpfung determinieren könnten. Aus diesen sehr abstrakten Überlegungen heraus versucht Schatzki nun, menschliche Aktivitäten aller Art in einer analytisch konsistenten Art und Weise erfassbar zu machen. So versteht Schatzki seine Theorie grundlegend als eine reine Ontologie des Sozialen. Sein Anliegen ist die Arbeit an Kategorien, mit denen die kleinsten Bausteine, die der relativen Strukturiertheit aller menschlichen Aktivitäten zugrunde liegen, konsistent beschrieben werden sollen. In diesem Sinne liefert er eine Taxonomie zur Deskription von Praxis, die eine Theoretisierung erklärender Prinzipien, Logiken oder Strukturen der Praxis als Übertheoretisierung ansieht und entsprechend ablehnt. Im Zentrum von Schatzkis theoretischem Kosmos steht der analytische Begriff der sozialen Praktik. Praktiken sind als ein raumzeitlicher und verkörperter Zusammenhang von Aktivitätsformen zu verstehen, der sich durch zwei Dimensionen auszeichnet: Vollzug und Organisation (Schatzki 1996: 89). Vollzug bedeutet, dass Praktiken keine abstrakten Handlungsskripte darstellen, sondern dass sie nur existieren, indem und solange sie ausgeführt werden. Gärtnern ist keine theoretische Handlungsanleitung, sondern immer tatsächliches Tun. Wenn ich ein Buch über die Praxis des Gärtnerns lese, aktualisiere ich die Praktik des Lesens und nicht die des Gärtnerns. Die Organisation einer Praktik wiederum umfasst drei Elemente, welche die doings and sayings, d.h. die einzelnen Aktivitäten, zusammenhalten: Diese sind erstens das praktische Verständnis, das individuelle Körper überhaupt kompetent macht, eine Praktik auszuführen bzw. sie als solche zu erkennen. Zweitens spricht er von Regeln, die die Praktik mehr oder weniger explizit leiten, und drittens lenken teleoaf fektive Strukturen die Ziele und Emotionen, die mit der Ausführung der Praktik verbunden sind. Obwohl ich Gemüse bspw. viel einfacher einkaufen könnte, baue ich es selbst an, weil ich dadurch Naturnähe oder ein Gefühl von Stolz erlebe. Hinzu kommt oftmals ein allgemeines Verständnis, das verschiedenen Praktiken gemein sein kann. So kann sich z.B. das Ideal der Naturverbundenheit in unserer Gesellschaft in so unterschiedlichen Praktiken wie Gärtnern, Wandern oder Jagen ausdrücken. Entscheidend ist, dass diese Komponenten zu den ausgeführten – sozial bedeutsamen – Praktiken gehören und nicht zu einem handelnden Individuum.

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Praktiken sind damit zuallererst ein soziales und weniger ein psychologisches Phänomen, denn sie werden kollektiv geteilt. Die Antwort auf die Frage, was ich gerade tue, bezeichnet in der Regel eine Praktik (»Ich bin bei der Gartenarbeit« oder »Ich lese ein Buch«). Da meine Praktiken von meinen Mitmenschen als solche erkannt, bewertet und ihrerseits in Praktiken beantwortet werden, sind sie das Medium meiner sozialen Koexistenz. Menschen verstehen und missverstehen sich auf der Basis von Praktiken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Verständnis einer Praktik unproblematisch sein muss, denn es gibt viele Auseinandersetzungen hinsichtlich der Frage, inwieweit bestimmte Handlungsakte, Emotionen oder Ziele noch zu einer bestimmten Praktik gehören. Jedes Mitglied eines Kleingartenvereins weiß, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber geben kann, was zur »ordentlichen Praxis« des Gärtnerns gehört und was nicht. Einerseits vollziehen sich Praktiken gewissermaßen auf der Bühne der materiellen Welt, andererseits werden aber materielle Dinge immer erst im Rahmen von spezifischen Praktiken zu dem, was sie sind. Im Rahmen einer Praktik (z.B. Gartenarbeit) erscheint mir ein Ding (z.B. Löwenzahn-Pf lanze) in einer bestimmten Kategorie (z.B. Unkraut) und steht damit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit anderen Dingen (z.B. meiner Hacke oder meiner Nachbarin). Im Kontext einer anderen Praktik (z.B. Botanisieren) kann die gleiche Pf lanze in eine ganz andere Kategorie fallen (z.B. Familie der Compositae) und in anderen Relationen verortet sein (z.B. in ökosystemaren Zusammenhängen). Nach Schatzki werden Dinge der materiellen Welt immer im Kontext einer Praktik in ihren spezifischen Zusammenhang gebracht, den Schatzki als »Arrangement« bezeichnet. In diesem Sinne lässt sich also einerseits sagen, dass Praktiken den Kontext für Arrangements – die jeweilige Konstellation der Dinge – darstellen. Andererseits können sich aber Praktiken immer nur in der materiellen Welt, d.h. im Kontext von Arrangements, vollziehen. Praktiken und Arrangements sind also zwei Seiten des gleichen Phänomens, weswegen Schatzki auch von Praktiken-Arrangement-Bündeln (PAB) spricht (Schatzki 2002). Praktiken sind nun auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden: Meine Gartenarbeit steht in materieller Austauschbeziehung zu den Praktiken der Verkäuferin im Gartencenter. Ebenso steht sie im sequenziellen Zusammenhang mit der Praktik des Händewaschens, die ich nach der Gartenarbeit ausführe. Die soziale Welt lässt sich dementsprechend als ausgedehntes Netz von PABs beschreiben, die auf vielfältige, materielle und nichtmaterielle Weise zusammenhängen. Der Begriff der site beschreibt dabei den spezifischen Kontext zusammenhängender PABs, kann aber nur unzulänglich mit »Ort« oder »Platz« übersetzt werden. Dieser Kontext (site) wird von Phänomenen der gleichen Art gebildet. So findet bspw. ein Seminar an der Universität statt; die Universität ist der Kontext des Seminars und besteht ihrerseits aus ähnlichen Phänomenen wie das Seminar selbst (Lehren, Forschen, Verwalten etc.). In einem site befindet sich ein

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Phänomen damit unter »Seinesgleichen«, und so gestaltet sich das soziale Leben als Nexus vielfältiger Praktiken-Arrangement-Bündel. Jedes PAB hat also seinen spezifischen Platz (site) im Kontext dieses Plenums anderer PABs. In dieser Sichtweise gibt es keine hierarchischen sozialen Maßstabsebenen, die jeweils eigene soziale Mechanismen aufweisen würden: Wenn die Bundeskanzlerin einen Erlass unterschreibt, dann tut sie das genauso unmittelbar und praktisch, wie ich gärtnere. Der entscheidende Unterschied sind die vielfältigen und folgenreichen Verbindungen der Regierungspraktik des Unterschreibens mit anderen Regierungs-, Verwaltungs- und Kontrollpraktiken. Schatzki nennt dies eine f lache Ontologie. In der Geographie prominent wurde diese Auffassung durch den Artikel »Human geography without scale« (Marston/Jones/Woodward 2005), in dem die klassische Skalenontologie der Geographie (lokal – regional – national – global) infrage gestellt wird. Insbesondere für die Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit der sozialen Welt bietet Schatzkis Theorie interessante Anhaltspunkte, da sie der materiellen Seite von Praktiken eine ebenbürtige Rolle neben der performativen Dimension einräumt. Personen, Organismen, hergestellte und natürliche Dinge bilden einen integralen Bestandteil von Praktiken und haben ihre eigene Wirkmächtigkeit. So erfährt die Theorie sozialer Praktiken von Theodore Schatzki in den letzten Jahren zunehmend Beachtung in der Geographie. Es wurden ganz unterschiedliche Phänomene wie etwa die Förderung von Fremdsprachen im französischen Bildungssystem (Lahr-Kurten 2012), die kollektive Erinnerung an den Kalten Krieg (Maus 2015), Sicherheitspraktiken in Brasilien (Haubrich 2015), der Umgang mit invasiven Arten (Everts 2015), die Energiewende (Faller 2016), politische Gerechtigkeitsforderungen (Fladvad 2017) oder städtisches Grün (Kühl 2016) mit diesem theoretischen Ansatz untersucht.

Die Praxis der Erforschung von Alltagswirklichkeiten: Ethnomethodologie und Ethnographie Bisher haben wir zentrale Theoretiker vorgestellt, die sich auch explizit als Praxis- oder Praktikentheoretiker bezeichnen. Im Folgenden wollen wir nun weiteren Inspirationen nachspüren, die zu einem weiterreichenden praxeologischen Verständnis beitragen können. Bourdieu und Giddens sehen in der Wissenschaft keine neutrale Betrachterin mit einer Außenperspektive, sondern ein Feld besonderer Praktiken, das Teil der Gesellschaft ist, die es erforscht. Allerdings unterscheidet sich die beobachtete gesellschaftliche Praxis in der Regel stark von der wissenschaftlichen Praxis, mit deren Hilfe sie untersucht wird, weswegen jede Untersuchung sozialer Interaktionen streng genommen »fremdkulturell« ist. Die Kultur der Wissenschaft trifft auf eine wie auch immer geartete kulturelle Alltagswirklichkeit.

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Systematische Ansätze zur Erforschung von Alltagswirklichkeiten finden sich im Symbolischen Interaktionismus nach Herbert Blumer (1973 [1969]) und in der Ethnomethodologie nach Garfinkel (1973[1961]). Diese Ansätze zielen auf ein mikrosoziologisches Fremdverstehen ab und gehen von einem Wirkungskreislauf aus, wonach sich gesellschaftliche Verfahrensweisen durch Sozialisation über Generationen hinweg reproduzieren. Dennoch verändern sich Handlungs- und Interaktionsweisen immerfort, insbesondere dann, wenn Handlungszusammenhänge problematisch werden, bspw. durch individuelle Erfahrungen oder institutionalisiertes Lernen (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973). Da die Forscher*innen in ihre eigenen professionellen Arbeitszusammenhänge und ihre privaten Lebenswelten eingebunden sind, dürfen ihre Kategorien nicht zur Einordnung der beobachteten Praxis herangezogenen werden, sondern es muss ein lernender Austausch stattfinden. Dies stellt eine Kritik der rationalistischen Methodik dar, die eine strikte Trennung von Forscher*innen und Beforschten fordert und davon ausgeht, man könne sich dem Forschungsobjekt unvoreingenommen – also ohne Vorannahmen, praktische Interessen oder ästhetische Beurteilungen – nähern. Vielmehr ist Erkenntnis immer nur im Vollzug von Praxis möglich, denn sozialer Sinn wird nur in Interaktion hergestellt und reproduziert. Dass dieser allerdings selten explizit gemacht wird, führt im Symbolischen Interaktionismus wie auch in der Ethnomethodologie zu der Frage, wie nahe der Forscher den Beforschten kommen muss, um überhaupt ein Verständnis erreichen zu können (Shalin 1986; Quéré 2011). Ein zentrales Theorem des Symbolischen Interaktionismus ist, zurückgehend auf Georg Herbert Mead, der verallgemeinerte Andere, also der unbewusst antizipierte Interaktionspartner, an den die eigenen Aktivitäten, vom Individuum unbemerkt, angepasst werden. »Das Individuum hat Vorstellungen darüber, wie seine für ihn bedeutsamen Interaktionspartner […] und wie die Gesellschaft insgesamt die entscheidenden sozialen Problemkontexte und ihre möglichen Bewältigungsmechanismen, die in der alltäglichen Lebenspraxis relevant sind, erleben und deuten.« (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973: 17f.) Durch diese Selbstanpassung des Individuums an ein kollektives Alltagswissen (common-sense knowledge of everyday life) (ebd.) wird Vergesellschaftung letztlich überhaupt erst ermöglicht. Eine zentrale Eigenschaft dieses Alltagswissens ist es, dass diejenigen, die implizit ihr Handeln darauf begründen, davon ausgehen, es sei doch allgemein bekannt, obwohl es tatsächlich niemals explizit kommuniziert wird. Die zentrale methodische Frage ist dann, wie dieses implizite (Alltags-)Wissen überhaupt wissenschaftlich erschlossen werden kann, wo es doch keineswegs offen zugänglich ist. »Die konstitutiven Merkmale alltagsweltlicher Beschreibungen ›werden gesehen, bleiben aber unbeachtet‹ (mit anderen Worten: sind handlungsleitend, ohne selbst zu Objekten der Aufmerksamkeit zu werden)«. (Garfinkel 1973 [1961]: 193) Garfinkel weist darauf hin, dass die Befragten sich nur dann äußern

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können, wenn sie entweder schon Zeit hatten, über die zur Debatte stehende Frage nachzudenken, oder aber wenn sie durch krisenhafte Bedingungen der Situation, also dem Individuum widersinnig erscheinende Bedingungen, provoziert werden und intuitiv eine Reaktion zeigen (ebd.: 193). Aus diesem Gedanken heraus entwickelt er die Methode des Krisenexperiments: Dabei werden Menschen absichtlich mit Verletzungen sozialer Normen konfrontiert, um beobachten zu können, wie sich die Beforschten bemühen, die Ereignisse in irgendeiner Weise wieder zu einer Ordnung zu führen. Hierdurch werden die weiteren Bedeutungszusammenhänge dieser sozialen Normen erkennbar, welche sonst nur implizit und kaum beobachtbar sind. Alltagswissen lässt sich demnach nur innerhalb der Praxis erforschen. Mittels der dokumentarischen Methode, bei der die beobachtete »Erscheinung als ›das Dokument von‹, als ›Hinweis auf‹, als etwas, das anstelle und im Namen des vorausgesetzten zugrundeliegenden Musters steht« (ebd.: 199), aufgefasst wird, lässt sich sozialer Sinn bestimmen. Heute wird die dokumentarische Methode in den Sozialwissenschaften vielfach angewendet und weiterentwickelt (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013). In dieser Suche nach überindividuellen Sinnzusammenhängen der Praxis lässt sich das praxeologische Theorem der Abkehr von der Idee des intentionalen Individuums erkennen. Damit grenzt sich die Ethnomethodologie von einer einfühlenden Hermeneutik ab, die sich bemüht, die inneren Prozesse der Individuen zu verstehen. Ähnlich argumentiert Clifford Geertz (1987: 290), wenn er fragt: »[W]as wird aus dem Verstehen, wenn das Einfühlen entfällt?« Auf Basis semiotischer Überlegungen entwirft er eine interpretative Anthropologie, die Kultur und damit auch alle praktischen Hervorbringungen der Menschen als Text begreift. In den 1970er bis 1980er Jahren bewirkte die Writing-Culture-Debatte zudem etwas, worauf oftmals als die Krise der ethnographischen Repräsentation Bezug genommen wird, weil hier zentrale Instrumente ethnographischen Arbeitens, wie etwa die teilnehmende Beobachtung oder die wissenschaftlich objektive Positionalität des Ethnographen, infrage gestellt wurden. Auch wurde deutlich, dass die Überzeugungsleistung, die bestimmte empirische Tatbestände als für eine Kultur bzw. einen Lebenszusammenhang charakteristisch erscheinen lässt, erst durch eine Inszenierung der Forscher*innen erbracht wird (Clifford 1993 [1988]). Diese postkoloniale Kritik an der Ethnographie als Wahrheitsmethode weist erneut auf die Untrennbarkeit von Theorie und Praxis hin und macht deutlich, wie »›Kultur‹-Objekte erfunden und als bedeutungsvoll behandelt werden« (ebd.: 131). Abhilfe könne hier, Dennis Tedlock (1993) zufolge, allenfalls ein diskursives Modell ethnographischer Praxis schaffen. Dabei solle die dialogische Entstehung der Interpretationen der Forscher*innen während der Gespräche mit den Beforschten nachgezeichnet werden. In der Publikation müssten dann polyphon nicht nur die Forscher*innen, sondern auch die Beforschten, die Unterstützer*innen des Forschungsprozesses ebenso wie die Forschungsassistent*innen und Übersetzer*innen zu Wort kom-

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men. In jedem Fall müsse man sich der Synthetisierung von Homogenität verweigern und Ethnographien der Multiplizität entwerfen, wie das in etwa Annemarie Mol (2002) macht. Am Beispiel der Diagnostik von Atherosklerose in Krankenhäusern zeigt sie, dass selbst in der weitgehend standardisierten modernen Medizin keine Eindeutigkeiten existieren. »No object, no body, no disease, is singular.« (Ebd.: 6) Jedes Mal, wenn Ärzt*innen die bestehenden Kategorien der Krankheit auf einzigartige Symptome von Patient*innen anwenden, entsteht die Krankheit auf eine neue, einzigartige Weise (ebd.: 5). An dieser Stelle findet nun ein erstaunlicher Rückschluss zwischen Multiplizität und Praktikentheorien im Sinne einer Vielfalt durch Variation statt. Mol macht deutlich, wie Praktiken als konventionalisierte Aktivitätsmuster die Einzigartigkeiten gesellschaftlicher Praxis beherrschbar machen. Auf der einen Seite müssen Praktiken f lexibel genug sein, um sich an Irritationen und immer wieder neue Überraschungen der Praxis anpassen zu können, auf der anderen Seite müssen sie als etablierte Verfahrensweisen die Reproduzierbarkeit bestimmter Ergebnisse garantieren, die sich historisch als wünschenswert erwiesen haben. Sie müssen zu einem gewissen Grad konventionalisiert sein, um den Beteiligten Handlungssicherheit zu geben, sie müssen die Spannungen zähmen: »Though nothing is sure or certain, […] tensions are tamed.« (Mol 2002: 181) Martin Müller (2012) identifiziert in der deutschsprachigen Humangeographie ein zunehmendes Interesse an ethnographischen Forschungsansätzen. Zahlreiche Geograph*innen wenden sich mit einem ethnographisch inspirierten Blick ihren Forschungsfeldern zu, verwenden ethnographische Methoden bzw. versuchen, sie mit praxeologischen Ansätzen zu verbinden (z.B. Lahr-Kurten 2012; Everts 2015; Maus 2015). Prominent diskutiert wird außerdem die interpretative Ethnographie Clifford Geertzʼ, die Notwenigkeit zur Ref lexion über die eigene Positionalität und die Möglichkeiten der Beobachtung von Praktiken und deren Performativität. Tiefergehend ref lektiert Julia Verne (2012) die Frage des Verhältnisses von Theorie und Empirie, indem sie zeigt, wie sich in ihrem empirischen Beispiel der »multilokalen Mobilität« die Schwächen von akteursbasierten Netzwerktheorien offenbaren. Steht bei den meisten Arbeiten das Verstehen der jeweils untersuchten Lebenswelt im Fokus, lassen sich Ethnographien aber auch als Mediation zwischen gesellschaftlichen Positionen verstehen. So schlägt bspw. Geiselhart (2018b) auf Grundlage eines ethnographischen Vergleichs der Diagnosetechniken moderner und traditioneller Medizin in Afrika ein Konzept zu einem besseren gegenseitigen Verständnis der Heilsysteme vor.

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Die Wandlungen der Struktur: Praxis im Poststrukturalismus Im Folgenden wenden wir uns jenen analytisch-philosophischen Strängen und Theorietraditionen zu, die mit dem Begriff »Poststrukturalismus« bezeichnet werden können. Während die soeben vorgestellten ethnomethodologischen Ansätze ein Verstehen lebensweltlicher Zusammenhänge anstreben sowie aufzuzeigen versuchen, welche Bedeutung Praxis für lebensweltlich eingebettete Individuen hat, fokussieren sich poststrukturalistische Arbeiten in erster Linie auf die Herstellung von Bedeutungen im Diskurs und damit auf Bedeutungsproduktionen, die die site konkreter Lebenswelten überschreiten. Auch in poststrukturalistischer Perspektive geht es weniger darum, die (inneren) Perspektiven von Individuen im Sinne eines Fremdverstehens nachzuvollziehen. Vielmehr wird versucht, die historisch spezifische Gemachtheit, Strukturierung und Dynamik von Wissensordnungen herauszuarbeiten, die sich in diskursiven Praktiken ausdrücken und gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen inhärent sind. Einige poststrukturalistische Motive prägen dabei auch die gegenwärtige sozial- und kulturtheoretische Debatte um Praktiken (z.B. Schäfer 2013; Reckwitz 2016). Reckwitz geht sogar so weit, zu sagen, dass die Forschungsheuristik einer praxeologischen Kulturanalyse »poststrukturalistisch inspiriert« sein kann und soll (2016: 33). Wie in der Bezeichnung dieser Denkrichtung angelegt, treffen sich die Ansätze in dem Bemühen, die Grenzen einer strukturalistischen Denkart zu überwinden, die auf der Linguistik von Ferdinand de Saussure auf baut. Dieser zeigte auf, wie Bedeutungen (von Sprachzeichen) innerhalb eines konsistenten und starren sprachlichen Repräsentationszusammenhangs fixiert werden. So ergibt sich bspw. die Bedeutung des Begriffs »frei« aus den Beziehungen zu Begriffen wie »gefangen« oder »beherrscht«. Demnach basieren kulturelle Symbolsysteme auf festgefügten Strukturen von Bedeutung. Der Poststrukturalismus hingegen betont, dass derartige Repräsentationszusammenhänge keineswegs starr und unveränderlich sind. Es gibt keine feststehenden Bedeutungen, sondern vielmehr eine stete Bewegung in den Beziehungen zwischen all jenen Elementen, die als Zeichen wirken können (Sprachzeichen, aber auch Körperbewegungen, Gesten, Praktiken, Dinge usw.). Aus dieser Bewegung heraus ergeben sich dann Bedeutungen als temporär wirksame Effekte, wobei jedoch zu historischen Zeitpunkten bestimmte Bedeutungen deutlich stabiler werden können als andere und somit hegemoniale Formationen des Wissens und Erkennens bedingen. Diese mit dem Diskursbegrif f bezeichnete Strukturiertheit des Denkens, Sprechens und Tuns muss dann in ihrer historisch-spezifischen Gewordenheit, aber auch in ihrer steten (Neu-)Werdung und potenziellen Wandelbarkeit analysiert werden (Laclau/ Mouffe 2006 [1985]). Poststrukturalistisches Denken betont also die f lexible Reproduktion von Strukturen des Wissens und Erkennens und fasst diese Repro-

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duktion als Ensemble ereignishafter Akte auf, die eine ursprüngliche Struktur aufgreifen und dabei immer wieder transformieren. Gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen werden im Poststrukturalismus als Diskurse gedacht, d.h. als historisch-spezifische Repräsentations- und Wahrheitsregime, die das in einer Gesellschaft »Sag- und Denkbare« vom »Nicht-Sagbaren« und »Nicht-Denkbaren« scheiden. Diskurse erscheinen dabei zwar als primär sprachlich-symbolisch vermittelt, werden aber erst in ihrer Materialisierung und Verkörperung wirksam. Der Poststrukturalismus fokussiert also nicht nur auf Sprache, sondern erkennt, dass Signifikation (Bedeutungsherstellung) in materielle Gesamtkontexte eingebunden ist, innerhalb welcher jeder bedeutungsproduzierende Einsatz von Symbolen überhaupt erst möglich werden kann. Somit wird auf die Implementierungskontexte von Sinnproduktionen fokussiert, zu welchen materielle Strukturen, Orte, Institutionen, körperliche Routinen und Praktiken gehören können (Glasze/Mattissek 2009; Moebius/Reckwitz 2008a, b; Schäfer 2013, 2016a; Reckwitz 2016). Charakteristisch für den Poststrukturalismus ist der kritisch-historische Blick auf die Praxis der Genese diskursiver Ordnungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als natürlich und selbstverständlich erscheinen (Foucault 1993 [1970]). So erklärt bspw. Foucault (1972 [1963]) die moderne Medizin als die Entstehung »des Diskurses der medizinischen Erfahrung einer Epoche« (ebd.: 15), dessen Auftauchen eng mit der Entwicklung neuer Praktiken der Diagnostik, der Obduktion und der Ausbildung von Ärzt*innen in der Institution der Klinik verknüpft ist. Entsprechend beschreibt Judith Butler (1997) die Kategorien »männlich« und »weiblich« als diskursiv-historische Konstrukte, während Edward Saids (2009 [1978]) Analysen des »Orientalismus« ein diskriminierendes Wissenssystem über den »Orient« markieren, das als Instrument von Imperialismus und Kolonialismus diente. Die gesellschaftspolitische Bedeutung poststrukturalistischer Positionen begründet sich demnach in der Sichtbarmachung der Konstruiertheit, Kontingenz und Wandelbarkeit aller kulturellen Ordnungen und (der zugrunde liegenden) Praktiken. Es ist jener skizzierte Bruch des Poststrukturalismus mit der strukturalistischen Annahme fester Bedeutungsgefüge, der als sein praxeologischer Beitrag gelesen werden kann (Reckwitz 2016: 33). So kritisierten poststrukturalistische Ansätze die Vorstellung einer steten Reproduktion diskursiver Formationen aus einer Logik der Praxis heraus. Vielmehr geht es um eine stete Neujustierung der Ordnungen des Wissens, Erkennens und Tuns im Fluss gesellschaftlicher Praxis (z.B. Butler 1997, 1998; Foucault 2005 [1978]). Diskurse werden hier erst in den vielen konkreten und materiellen Ereignissen und Praktiken performativ hervorgebracht und durch ihre Aktualisierung transformiert. Sie reproduzieren sich in Praktiken und schreiben sich in die Körper der Subjekte ein, wobei Individuen im Zuge dieser körperlich verankerten Prozesse in die Lage versetzt werden, in den diskursiv

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konstituierten Feldern zu navigieren. Individuen können sich nur innerhalb von Diskursen überhaupt in der sozialen Welt positionieren und werden dadurch erst zu Subjekten. Diese Subjektivierungsprozesse sind dabei niemals abgeschlossen, sondern bedürfen der stetigen Neuverortung in den sich immer wieder verschiebenden diskursiven Feldern. Wie auch die kultur- und sozialwissenschaftlichen Praktikentheorien denken poststrukturalistische Ansätze die Hervorbringung gesellschaftlicher und kultureller Ordnungen als einen dezidiert materiellen, aber auch bedeutungsschaffenden Prozess (Reckwitz 2016; Moebius/Reckwitz 2008b: 18; Moebius 2008; Schäfer 2013; Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015). Praktiken sind dabei, wie gezeigt, durchaus Gegenstände des Interesses, werden aber spezifisch konzeptionalisiert und vorwiegend als Elemente der Diskurse verstanden. Während Schatzki Praktiken als Verbindungen von Aktionen des Sprechens und Tuns sowie als kleinste Einheiten in der Analyse des Sozialen beschreibt, erscheinen Praktiken im Poststrukturalismus primär als Momente im Diskurs. Sie erlangen ihre Bedeutung über ihre Position in diskursiven Zusammenhängen und weniger z.B. durch Eigenheiten eines impliziten Körperwissens, durch körperliche Routinisierungen oder über ihre soziale Funktion. Praktiken werden auf eine solche Weise als »materiell« gedacht, wie auch sprachliche Zeichen als materiell gedacht werden: als Form. Poststrukturalistische Ansätze interessieren sich für die Möglichkeit von Stabilität angesichts einer konstitutiven Instabilität. Durch Praktiken werden Diskurse in immer neue Kontexte und damit in immer neue Repräsentationsbeziehungen hineingeschrieben, wobei sich die Diskurse (bzw. die durch sie hervorgebrachten Bedeutungen) verändern (müssen). Auch aufgrund einer nie gänzlich zu kontrollierenden Eigendynamik der körperlich-materiellen Dimension jedes Akts der Bedeutungsherstellung findet eine permanente Destabilisierung statt (Butler 1997, 1998; vgl. Reckwitz 2008: 81ff.). Eine poststrukturalistische Praxeologie muss nun genau diese destabilisierenden Effekte sowie die Produktion von neuartigen, unberechenbaren Sinnelementen in den Praktiken selbst (unter-)suchen (Moebius 2008; Moebius/Reckwitz 2008b). Durch welche Praktiken werden Verschiebungen und Brüche bedingt, durch welche Praktiken werden sie relevant und sichtbar (gemacht) und durch welche Praktiken werden Brüche wieder »gekittet«? So führt eine poststrukturalistische Praxeologie in das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Instabilität (Schäfer 2013; Dyk et al. 2014: 360; Winkler/ Tijé-Dra/Baumann 2019, i.E.). Entsprechend dieser Theoreme wird aus poststrukturalistischer Perspektive sozialer Wandel vorwiegend als struktureller Effekt gedacht, der in der Komplexität nicht aufeinander abgestimmter Wissensformationen begründet liegt, die sich in den Praktiken überkreuzen (Reckwitz 2003: 296; Reckwitz 2016; Schäfer 2013, 2016a). Diese auch für die kultur- und sozialwissenschaftliche Rezeption von Praxistheorien charakteristische Theoretisierung baut auf dem poststrukturalistischen

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Postulat einer Überdeterminierung jedes Elements auf: In konkreten Situationen sind immer verschiedene diskursive Wissensformationen aufgreif bar. Einzelne Praktiken können potenziell im Zusammenhang verschiedener vorhandener Diskursstränge artikuliert werden und entsprechend auch viele mögliche Bedeutungen erlangen. Bedeutungen sind also niemals an nur eine einzige materielle Ausdrucksform gebunden, sodass es immer wieder neue Bedeutungseffekte materieller Praktiken in neuen Kontexten geben kann. Dadurch können Praktiken immer auch neue Anschlussfähigkeiten an andere Praktiken erhalten und sich ebenfalls verändern. Welche konkreten Bedeutungen Praktiken in bestimmten Kontexten herstellen, welche Wissensformen dabei reproduziert werden und welche Strukturierungseffekte sich im Fluss von Praxis ergeben, ist nicht determiniert und muss daher empirisch und mit Blick auf Praxis untersucht werden. »Identität« nimmt im poststrukturalistischen Denken einen besonderen Stellenwert ein. Die Bedeutungen, die ein Individuum bezüglich des eigenen Ichs herstellt, bestimmen die Subjektposition, die ein Individuum einnimmt oder einnehmen möchte. Die verschiedenen poststrukturalistischen Analysen von Subjektivierungsprozessen fokussieren im Sinne einer »Analyse von Subjekten im Zeitalter ihrer Dezentrierung« (Reckwitz 2008: 5; vgl. Foucault 2005) nicht auf ein vorgängiges »Handlungssubjekt«, sondern richten den Blick auf die Prozesse, Techniken und Praktiken der Subjektivierung innerhalb gesellschaftlicher Machtund Deutungsgefüge (Alkemeyer/Buschmann 2016). Die »praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen« (Reckwitz 2016: 67) zeigt dann einerseits, wie sich Subjekte gesellschaftlichen Verhältnissen unterwerfen, indem sie hegemoniale Praktiken verinnerlichen und über »Technologien des Selbst« (Burchell 1993) an sich selbst arbeiten, und andererseits, wie Subjektivität im Vollzug von Praxis durch das Auftauchen von Irritationen und widerständigen Lesarten unterlaufen werden kann (vgl. Butler 1997, 1998). Doch bleibt die Ausformulierung eines politischen »Programms« der widerständigen Subvertierung hegemonialer Repräsentationen aus poststrukturalistischer Perspektive schwierig, insofern Subvertierungsakte eher als Ereignisse im Diskurs denn als rationalisierbare Vorgehensweisen gedacht werden. In der Geographie wurde insbesondere der dezidiert kritische Ansatz poststrukturalistischen Denkens populär. Demnach geht es darum zu zeigen, dass die uns umgebenden Ordnungen von Wissen und Praxis keinem »gottgegebenen« Prinzip folgen, sondern immer auch anders sein könnten. Dabei interessieren insbesondere auch die Ausschlussmechanismen, also inwiefern durch bestehende Wissensordnungen und Praktiken mögliche differente Formen verdrängt werden (vgl. Gebhardt/Reuber/Wolkersdorfer 2003). Im Diskursbegriff werden Praktiken als Modi der Diskurs(-re-)produktion verstanden (Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015) und »die Offenlegung der Strukturprinzipien gesellschaftlicher Sinnproduktion« zielt »im Sinne einer ›Öffnung des Diskurses‹« darauf ab, die Debatten

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um zusätzliche Optionen zu erweitern, um dadurch marginalisierte Positionen stärker ins Blickfeld zu rücken (Glasze/Mattissek 2011: 662). Auch wurde die diskursive Konstruktion raumbezogener Repräsentationen, seien es geopolitische Weltbilder, verortete nationale und kulturelle Imaginationen oder »Images« spezifischer Orte untersucht. Dabei konnten vielfach die politisierten Verbindungen zwischen einerseits räumlich kodierten Grenzziehungs- und andererseits Identitätsbildungsprozessen herausgearbeitet werden (z.B. Husseini de Araujo 2011; Glasze 2013; Reuber/Strüver 2009; für eine Übersicht entsprechender Arbeiten siehe: Glasze/Mattissek 2009, 2011). Vielfach konzentrierte sich die poststrukturalistisch informierte Geographie auf die Analyse sprachlich-symbolischer Repräsentationen, was allerdings den Theorien zentraler Autor*innen nicht ganz gerecht wurde (Baumann/Tijé-Dra/ Winkler 2015). Diese Engführung wird jedoch in jüngerer Zeit zunehmend aufgebrochen. Beispielsweise untersuchten poststrukturalistisch inspirierte Geograph*innen die Effekte neuer Sicherheitspraktiken in urbanen Kontexten (Füller/Marquardt 2010). Andere Studien zeigten, wie sich (geopolitische) Diskurse und damit verknüpfte Formen gesellschaftlicher Steuerung als Praktiken-Komplexe denken und ethnographisch untersuchen lassen (Müller 2009; Schurr 2012; Marquardt 2015; Winkler 2017). Martin Müller (2009) illustriert mit ethnographischer Methode, wie geopolitische Diskurse in der Alltagspraxis einer russischen Universität verkörpert werden. Iris Dzudzek (2016) analysiert ethnographisch, wie der global zirkulierende Diskurs um die Förderung »kreativer Städte« in einem lokalen Kontext implementiert, praktiziert und lokalspezifisch transformiert wird. Poststrukturalistische Ansätze und ihre Betrachtung dynamischer Bedeutungsproduktionen als praktische und performative Prozesse weisen im Kontext einer praxeologisch inspirierten, geographischen Analyse darauf hin, dass diskursive Wissensordnungen in Praktiken ihren Ausdruck und ihre Wirksamkeit finden. Dabei schaffen Praktiken überhaupt erst die Bedingungen für die Artikulation bestimmter Identitäten. Bestimmte hegemoniale »Weltbilder« sind den situativ vollzogenen Praktiken inhärent und bewahrheiten sich aus den Praktiken heraus. So lässt sich auch die Frage danach formulieren, »im Kontext welcher Praktiken sich bestimmte symbolische Ordnungen auch brechen und partiell verändern können« (Baumann/Tijé-Dra/Winkler 2015: 235).

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Von der Rekonstruktion der Praxis der Wissenschaften zu soziomateriellen Vernetzungen: STS und ANT An dieser Stelle wollen wir einen Schritt weiter gehen und uns der praxeologischen Erkenntnis zuwenden, dass auch die Wissenschaft praktische Verfahrensweisen benötigt, um Wissen herzustellen. Wissenschaft ist selbst Praxis. In den 1960er Jahren löste Thomas S. Kuhn (2007 [1962]) mit seinem Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« eine Debatte über wissenschaftlichen Fortschritt aus. Er beschreibt wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn nicht als einen kontinuierlichen Prozess, sondern als einen Vorgang phasenweise auftretender Sprünge: Längere Phasen relativer Stagnation, in welchen hauptsächlich an der Präzisierung bestehenden Wissens gearbeitet werde (Normalwissenschaft), lösen sich mit Phasen des Umbruchs ab, in denen ein neues Paradigma ganz neue Perspektiven auf den Forschungsgegenstand ermöglicht. Die Tatsache aber, dass Kuhn diese Umbrüche »Revolutionen« nennt, deutet bereits den Kern der Debatte an. Die Geschichte der Naturwissenschaften stellt sich damit als Prozess der praktischen Produktion naturwissenschaftlicher Wahrheiten dar, in deren Vollzug nicht nur methodische, sondern auch soziale und gesellschaftliche Aspekte eine Rolle spielen. An solche grundlegenden Überlegungen anknüpfend, etablierten sich seit den 1970er Jahren zusehends die Science & Technology Studies (STS) entlang der Frage, wie in und durch Praktiken – oder auch durch verschiedene, für bestimmte Praxisfelder prägende Verfahrensweisen, Routinen und Mechanismen – wissenschaftliche Erkenntnisse produziert und erfahrbar gemacht werden. Als zentraler Ort der Untersuchung wurde das Labor als die klassische Domäne (natur-)wissenschaftlicher Wissensgenerierung konzipiert, wo sich mit ethnographischen Methoden beobachten ließ, wie wissenschaftliche Erkenntnis und Glaubwürdigkeit unter Bedingungen des Arbeitsumfelds, der verfügbaren Ressourcen, Publikationswege und Verwertungslogiken hergestellt werden (Knorr Cetina 1981, Latour/Woolgar 1986 [1979]). Somit liefern diese Ansätze eine Analyse der Kontextgebundenheit von Wissensproduktion und versuchen, dieser Praxisgebundenheit von Wissen und Erkenntnis auch empirisch nachzuspüren (Hillebrandt 2014). Wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen erscheinen aus dieser Perspektive weniger als rationale Projekte, sondern als pfadabhängige Prozesse, deren Entwicklung in die Praxis eingebettet ist und somit von konventionalisierten Tätigkeitsmustern genauso abhängen muss wie von der Spezifik materieller Artefakte, bspw. wissenschaftlicher Geräte. Im Zusammenhang mit den STS entwickeln u.a. Bruno Latour, Michel Callon und John Law die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (vgl. Latour 2007 [2005]), die sich als eine spezifische »Variante der Praxistheorie« (Hillebrandt 2014: 18; vgl. Schäfer 2013: 251ff.) darstellen lässt. Die ANT beschreibt die Vorstellung von ge-

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sellschaftlicher Praxis als einer fortlaufenden und dynamisch-transformativen »Assoziation« bzw. Vernetzung heterogener menschlicher und nichtmenschlicher Elemente. Auch nichtmenschliche Elemente verursachen mittels ihrer Position innerhalb eines solchen Gef lechts Wirkungen und können somit als Aktanten verstanden werden. Alle Aktanten können eine gewisse Aktionsfähigkeit entwickeln und damit auf die Aktionsfähigkeit anderer Elemente Einf luss nehmen. »Akteur ist, wer von vielen anderen zum Handeln gebracht wird.« (Latour 2007 [2005]: 81) Man denke hierbei bspw. an das Smartphone, welches die Praktiken der Kommunikation auf eine Weise verändert hat, die vorab kaum vorstellbar war. Solchen Verknüpfungsprozessen auch empirisch und mit ethnographischem Interesse nachzuspüren, ist das Ziel ANT-inspirierter Forschung. Dabei werden menschliche Akteur*innen keinesfalls bedeutungslos, doch erfahren v.a. nichtmenschliche Elemente wie Gegenstände, Artefakte und Organismen eine analytische Aufwertung im Hinblick auf deren Bedeutung für gesellschaftliche Konfigurierungsprozesse. Bruno Latour (2008 [1991]) versteht seinen soziologischen Ansatz auch als eine Kritik der disziplinären Grenzen, also als Kritik der Auffassung, es gäbe etwas spezifisch Soziales, das von Politik, Biologie, Ökonomie, Recht, Psychologie, Management, Technologie etc. abgrenzbar sei und den Forschungsgegenstand der Soziologie bestimme. Es ist auch eine Kritik an Forschungsprogrammen, die feststehende Begriff lichkeiten, wie etwa »Klasse«, »Individuum«, »Struktur«, »Mikro-« oder »Makroebene« mit bestimmten Analyseverfahren verbinden und ihr Forschungsfeld schon vorab nach diesen Kategorien zerlegen. Forschung sollte nach Latour davon Abstand nehmen, solch theoretische Kategoriensysteme auf die gesellschaftliche Praxis zu übertragen. Vielmehr gilt es, den Vernetzungen nachzuspüren, die von den an der Praxis beteiligten menschlichen wie nichtmenschlichen Akteur*innen aufgespannt werden. Die potenziell unendliche Vielfalt der Assoziation zwischen den Elementen sollte aber nicht auf eine zu ergründende Tiefenstruktur hin untersucht werden, sondern eher als »Assem­blage« im Sinne einer Kollage heterogener Elemente verstanden werden. Latours Auffassung nach ist soziale Praxis ein beständiges »Sich-neu-Versammeln«, ein beständiges Re-konfigurieren von Kollektiven. Da aber Assoziationen immer nur im Moment ihrer Hervorbringung bestehen, können sie ausschließlich anhand der Spuren, die sie hinterlassen, identifiziert werden. Diese Spuren gilt es aufzuspüren, um aus den Fragmenten – nach dem Motto eines reassembling the social (Latour 2007 [2005]) – soziale Praxis wieder zusammenzusetzen. Für die Geographie ist die ANT in mehrfacher Hinsicht interessant. Latour (2006) selbst diskutierte bspw. Karten als spezifisch kodierte Elemente innerhalb eines ganzen Arrangements an technischen Artefakten und Praktiken. Er zeigt, wie der Einsatz von Landkarten das In-Beziehung-Setzen weit voneinander entfernter Orte und darüber die Kalkulierbarmachung von Gesellschaft ermög-

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licht. Einen Überblick über die humangeographische Rezeption der Akteur-Netzwerk-Theorie liefert Martin Müller (2015). Er zeichnet nach, wie diese Ansätze in der Geographie den Blick auf die Prozesshaftigkeit soziomaterieller Zusammenhänge lenken können. In diesem Sinne beleuchtet auch Stefan Höhne die U-Bahnen in New York City als ein komplexes soziotechnisches System, das als Instanz der Subjektivierung fungiert. Technische und materielle Elemente (z.B. die Drehkreuze, die Passagiere am Ein- und Ausgang der U-Bahnhöfe durchschreiten) bringen in Interaktion mit Individuen spezifische Verhaltensweisen und damit den urbanen Passagier hervor (Höhne 2017: 26). Auch zeigt sich am Beispiel von Schlaglöchern in Straßen, dass darum ganze Netzwerke an neuen Elementen entstehen können: bspw. wenn Straßenhändler in den verursachten Staus ihre Waren den wartenden Autofahrer*innen anbieten (Höhne/Umlauf 2018). Oder folgt man z.B. den Verbindungen, die von der Bezeichnung »traditioneller Heiler« aufgespannt werden, so führt dies in eine vielstimmige Assemblage unterschiedlichster theoretischer Debatten (medizinische Erkenntnis, Rationalität), vielfältiger Lebenswirklichkeiten (Gesundheitsadministrationen, Hinterhofzeremonien) sowie Wahrnehmungs- und Glaubenssysteme (Christentum, Hexerei), wobei sich beim Übergang zwischen diesen Elementen auch jeweils die Bedeutung der Begriffe wandelt (Geiselhart 2018a). In der politischen Geographie wiederum wurden Perspektiven auf Netzwerke und Assemblagen u.a. dafür genutzt, den für dieses Forschungsfeld zentralen Gegenstand des Staates nicht länger als ein festes Gebilde, sondern als Ef fekt heterogener Verknüpfungen von Objekten und Praktiken zu denken (Allen/Cochrane 2010). So wird in solchen Ansätzen danach gefragt, inwiefern – »by making diverse elements hold together as a whole for a while« (Müller 2015: 32) – Makrostrukturen bspw. als Staat wirksam werden können. Aus diesem Blick auf Praxis heraus vertritt gerade Latour die Position, dass empirische Befunde der Theoriebildung sowie der theoretischen Generalisierung vorausgehen sollten. Im Aufwerfen eines solchen Primats der Praxis zeigt sich Latour maßgeblich von der Theoriebildung des Pragmatismus inspiriert (Wilde 2013). Diese Theorielinie wird später noch erörtert, zuvor soll aber eine weitere Denktradition betrachtet werden, die ebenfalls ganz prominent, wenn auch in anderer Art und Weise, ein Primat der Praxis vertritt: die Kritische Theorie. Diese ist für viele politökonomisch orientierte Arbeiten grundlegend, ebenso wie für geographische Denktraditionen wie die Radical Geography oder die Critical Geopolitics.

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Das Primat der Praxis als Grundlage von Gesellschaftskritik: die Kritische Theorie Bereits vor dem sogenannten practice turn setzte sich die Kritische Theorie mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis auseinander. Sie stützt sich dabei auf die Philosophie von Karl Marx, welcher die Auffassung vertritt, dass die ökonomische Praxis die Basis einer Gesellschaft bildet, auf der sich dann der Überbau der Rechtsverhältnisse sowie die Staatsform erheben (Marx 1961 [1859]). Mit dieser Annahme stellte er sich gegen die damals weitverbreitete Überzeugung, eine aus »reif licher Überlegung« hervorgebrachte Staatsform würde das ökonomische Handeln bestimmen. Marx rückte die praktischen gesellschaftlichen Abläufe in den Fokus der Betrachtung, wie bspw. Arbeit und damit verbunden auch die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft. Praxis erhielt für sein Denken in zweierlei Hinsicht Bedeutung: einerseits als Grundlage eines neuen Denkens, der materialistischen Dialektik, andererseits als Grundlage einer neuen Rolle der Philosoph*innen, die nun eine kritische Haltung einnehmen sollten. Nach Marx ist es nicht das Denken, welches dialektisch ist, also in der steten Verhandlung von Widersprüchen (These und Antithese) neue Synthesen entwirft und damit die Entwicklung der gesellschaftlichen Bedingungen vorantreibt. Marx gibt dieser Hegel’schen, idealistischen Dialektik eine entgegengesetzte Stoßrichtung. »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« (1961 [1859]: 9) Widersprüche entstehen ganz materiell und in der Praxis, z.B. wenn gesellschaftliche Regeln ihrer Af firmation, d.h. dem Anspruch, den sie erfüllen sollen (These), nicht gerecht werden und unerwünschte Effekte quasi als Negation (Antithese) dieser Regeln entstehen. Treten derartige negative Effekte immer häufiger auf, dann wird – so Marx – eine neue Qualität des gesellschaftlichen Daseins entstehen, die auch das Potenzial für Veränderungen mit sich bringt. Werden Regeln dann tatsächlich verändert, lässt sich das als Auf hebung begreifen, als Negation der Negation (Synthese), die dann im weiteren Geschehen wiederum erneute Negationen hervorbringen wird. Auf diese ganz praktische Weise entwickeln sich Gesellschaften durch Veränderung ihrer materiellen Grundlagen weiter. Es ist also nicht primär das Denken, das mittels weiterentwickelter Ideen eine »neue Welt« hervorbringt, sondern die Eigendynamik von Praxis, innerhalb welcher das Denken selbst als Praxis, als ein Tun verstanden werden muss. Es ergibt sich, dass »reine Theorie bei Marx nicht mehr vorkommt; Theorie hat stets Handlungscharakter, auch dort, wo sie selbst keine Ref lexion der Praxis enthält, erfüllt sie Funktionen wie Legitimation des Bestehenden, Trost für die Leidenden etc.« (Röttgers 1975: 275). Damit stellt der dialektische Materialismus »ein neues ›Paradigma‹ in der Geschichte der philosophischen Wissenschaft dar, ein ›Bruch‹

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mit der gesamten bisherigen Philosophie und den darin enthaltenen Formen der Dialektik« (Kimmerle 1978: 7). Wandel ist bei Marx ein Effekt materieller Widersprüche und Spannungen im gesellschaftlichen (Da-)Sein. In eine so gedachte materielle Dynamik kann Theorie nun zwar hineinreichen, nicht aber im Sinne einer umfassenden Kontrolle. Dieser Gedanke führt zur zweiten Implikation des Primats der Praxis in marxistischen Ansätzen. Marx folgert, »daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist« (Marx, zitiert nach Röttgers 1975: 261). Möchte Theorie diesem Gedanken Rechnung tragen, dann muss sie selbst zur Praxis, d.h. zur Kritischen Theorie, werden. Sie muss sich offen als Gegner der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen und positionieren. Sie muss auf eine ganz praktische Art und Weise politisch werden, indem sie sich einmischt und versucht, gesellschaftliche Wirkung zu entfalten (Marx/Engels 2015 [1848]). Einen Versuch, diesen Anspruch einzulösen, stellte das von Max Horkheimer und Theodor Adorno gegründete Frankfurter Institut für Sozialforschung dar, das sich anfangs praktischen Fragen der Arbeit sowie der Lebens- und Reproduktionsbedingungen der Arbeiterschaft zuwandte. Dabei wurde auch die Notwendigkeit erkannt, den Marxismus zu erneuern. Vor den Erfahrungen des Anfang des 20. Jahrhunderts auf kommenden Faschismus konnte Marxʼ Postulat, die Praxis würde automatisch einer gerechten Gesellschaftsform (Sozialismus/Kommunismus) zustreben, kaum noch vertreten werden. Mithilfe der Psychoanalyse sollte erklärt werden, warum sich immer wieder unterdrückende Herrschaftsformen stabilisieren können und/oder die Arbeiterschaft Parteien wählt, von denen ausgegangen werden kann, dass sie ihre Interessen kaum vertreten werden. Horkheimer und Adorno (2006 [1944]) entwickelten den dialektischen Materialismus der politischen Ökonomie in ihrer »Dialektik der Auf klärung« zu einer Kritik der instrumentellen Vernunf t weiter. Die Auf klärung habe v.a. eine Zweckrationalität hervorgebracht, die das bloße Funktionieren jenseits aller moralischen Werte zum obersten Ziel erebt. Einst sei die Auf klärung angetreten, um Mythen die Macht zu nehmen. Nun aber sei sie in eine Barbarei des scheinbar Faktischen umgeschlagen, zu einem puren Positivismus verkommen und damit selbst zu einem Mythos geworden. So habe die Auf klärung letztendlich auch den Holocaust ermöglicht. Nun solle Kritik als praktisches Denken, als Korrektiv fungieren und eben diese negativen Effekte zweckrationaler Vernunft eindämmen bzw. verhindern. Kritik kann nach dieser Auffassung aber immer nur Negation des Bestehenden sein, und es ist schließlich Jürgen Habermas, der einen theoretischen Rahmen entwirft, aus dem sich wieder Demokratieoptimismus speisen kann (Honneth/Reemtsma 2009). Er argumentiert, dass es neben der Zweckrationalität auch noch eine kommunikative Vernunf t gibt. In seinem Hauptwerk, der »Theorie des kommunikativen Handelns« (Habermas 1988), geht er den impliziten Regeln

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nach, die jedem Akt der Kommunikation, also jedem Diskurs1, immer schon zugrunde liegen. Aus dieser Betrachtung der kommunikativen Praxis entwickelt er seine Diskursethik. Diese tritt an, die Bedingungen politischer Entscheidungsfindungsprozesse zu ref lektieren. Habermas entwickelt das Ideal des herrschaf tsfreien Diskurses, wonach Entscheidungen auf Basis gleichberechtigter Teilnahme, rationaler Argumente und im gegenseitigen Einvernehmen (Konsens) getroffen werden sollten. Mit seinen Arbeiten zu Fragen der Öffentlichkeit hat Habermas (1990 [1962]) eine ganze Generation von Politiker*innen, Journalist*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen dazu inspiriert, die politische Debattenkultur zu befördern und damit ganz praktisch zur Transformation hin zu einem liberalen Rechtsstaat beizutragen. Auch in der räumlichen Planung haben diese Ideen z.B. bei der Ausgestaltung von inklusiven Beteiligungsverfahren Einf luss gehabt (Selle 1991). Diese Umkehrung der Haltung der Kritischen Theorie hin zu einer konstruktiveren Einf lussnahme auf gesellschaftliche Verhältnisse und Praxis gelang Habermas durch den Einbezug von Einf lüssen aus dem US-amerikanischen Pragmatismus. Dabei bezog er sich insbesondere auf den Interaktionismus George Herbert Meads. Darüber hinaus integrierte er Elemente der Sprechakttheorien John Langshaw Austins und John Searles, die Sprechen als Handeln darstellen und aufzeigen, dass Sprechhandlungen nicht nur inhaltliche Bekundungen sind, sondern auch praktische Resultate hervorbringen. Schließlich kann aber eine sprachphilosophische Verkürzung dieser Ansätze festgestellt werden (Lotter 2012). Es lohnt sich deswegen, nochmals einen genaueren Blick auf den klassischen Pragmatismus zu werfen.

Die Praxis demokratischen Handelns und Empowerment: die Praxisphilosophie des Pragmatismus Als der Pragmatismus Anfang des 20. Jahrhunderts einforderte, Praxis als den Bezugspunkt allen Denkens und aller Wahrheit ernst zu nehmen, war das ebenfalls ein umfassendes soziopolitisches Programm. John Dewey (2001 [1929]) attestierte der Philosophie seiner Zeit sie würde das Denken verabsolutieren, sich in metaphysischen Debatten verlieren und keinen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen herstellen. Deswegen könne sie auch keinen Beitrag zu deren Lösung leisten. Im Chicago des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebte die Mehrzahl der Einwohner, hauptsächlich europäische Einwanderer, unter katastrophalen Bedingungen. 1 Anders als Foucault gebraucht Habermas den Begriff »Diskurs« für den Zusammenhang einer diskursiven Verhandlung.

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Ein wildwüchsiger Kapitalismus und Korruption ließen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse entstehen und begünstigten Kriminalität. Krankheiten grassierten in den unhygienischen Wohnverhältnissen überbelegter Quartiere. Inmitten dieser Bedingungen gründete Jane Addams 1889 das soziokulturelle Zentrum Hull House (Schneiderhan 2011). Das Hull House entwickelte sich zu einer Bildungseinrichtung für die Benachteiligten, an der neben alltäglichen Fertigkeiten wie Nähen und Kochen auch politisches Wissen vermittelt wurde. Es bot ein Lebens- und Arbeitsumfeld, aus dem sich sozialpolitische Aktivitäten, wie etwa die Gründung von Gewerkschaften oder Initiativen gegen Kinderarbeit, entwickelten. 1931 erhielt Addams den Friedensnobelpreis für ihr soziales Engagement, welches sich sowohl aus pragmatistischem Denken speiste, wie auch dieses mitprägte (Whipps/Lake 2017). Als Feministin bezog sie sich auf Deweys Konzept der Erfahrung und arbeitete mit George Herbert Mead an Fragen zu Sozialreformen. Auch der Philosoph und Psychologe William James gehörte zu den Unterstützern des Hull House. Dewey führte hier soziale Studien durch, auf deren Grundlage er schließlich seine Pädagogik mit dem Anliegen, benachteiligten Kindern Bildungschancen zu ermöglichen, entwickelte. Der Pragmatismus wird für die Arbeit am Hull House als grundlegend angesehen. Im Zusammenspiel von Philosophie und sozialer Arbeit entstand hier ein ganz neuer Stil sozialen und politischen Engagements. Die intellektualistischen, bereits etablierten Auffassungen der Eliten darüber, wie soziale Benachteiligung zu verstehen sei, wurden hier am empirischen Beispiel infrage gestellt. Durch Experimentieren mit neuen Erklärungen und Beschreibungen wurden neue politische Positionen entwickelt (Schneiderhan 2011: 613). Ziel war es, die Benachteiligten zu ermächtigen, ihre Ansprüche zu artikulieren und politische Maßnahmen einzufordern. Wenn Dewey also den Vorrang der Praxis vor der Theorie vertritt, dann betont er, dass zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände zunächst auch neue Begriffe der Beschreibung entwickelt werden müssen. Individuen erfahren Orientierung durch ein »System von Überzeugungen, Kenntnissen und Unkenntnissen, von Zustimmung und Ablehnung, von Erwartung und Würdigung von Bedeutungen, die unter dem Einf luß von Brauch und Tradition eingeführt worden sind« (Dewey 1995 [1929]): 215). Individuen meistern ihren Alltag weitgehend dadurch, dass sie intellektuelle Konventionen reproduzieren, und sie werden sich diesem Kontext ihres Handelns in der Regel nicht bewusst, solange dieser nicht irgendwie problematisch wird. Dies ist, wie wir gesehen haben, ein wiederkehrendes Moment praxeologischen Denkens, das letztlich auf pragmatistisches Denken zurückgeht. Dewey konzipiert mit dem Erfahrungsbegriff nun aber auch die Rolle des Individuums. Neben den gesellschaftlichen Prägungen, die dem Individuum eingeschrieben werden, während des In-einer-Gesellschaf t-erfahren-Werdens, geht

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jedes Individuum diesen Weg der Sozialisierung auf eine ganz eigene Weise, was eine Dimension des Erfahrungen-Machens eröffnet. Scheitern nun die erlernten ansozialisierten Vorgehensweisen, dann können Individuen sich auf den Weg begeben, eine (neue) Erfahrung zu machen. Sie können weitgehend konventionalisierte Überzeugungen hinterfragen und so einen individuellen Geist entwickeln. Die Bedingungen derartigen Lernens auszuloten, so Dewey, sollte Aufgabe der Philosophie sein. »Philosophie ist die Theorie der Erziehung in ihrer allgemeinsten Gestalt.« (Dewey 1993 [1916]: 426) Mit seiner Überzeugung, dass Bildung letztlich darauf abzielen müsse, die Menschen zur Demokratie zu befähigen, wurde Dewey (ebd.) in der Pädagogik sehr einf lussreich. Ohne derartiges Lernen, verstanden als eine Ref lexion und Qualifizierung der eigenen Prägungen und Überzeugungen, sei Demokratie unmöglich. In »Die Öffentlichkeit und ihre Probleme« etabliert Dewey (1996 [1927]) die Vorstellung, dass Demokratie niemals abschließend formell etabliert werden kann. Sie müsse vielmehr kontinuierlich hergestellt werden. Demokratie liege demnach nicht in den Institutionen eines Regierungssystems begründet, vielmehr stelle sie ein Ideal dar, das niemals vollständig verwirklicht werden kann. »Als Idee betrachtet, ist die Demokratie nicht eine Alternative zu anderen Prinzipien assoziierten Lebens. Sie ist die Idee des Gemeinschaftslebens selbst.« (Ebd.: 129) Demokratie bedeutet demnach das Streben nach Gemeinschaft, welche sich in der Assoziation von Menschen und gemeinschaftlicher Aktivität verwirklichen kann. Für die Geographie besonders interessant ist die Tatsache, dass nach Dewey Öffentlichkeit nicht an politische Institutionen oder Räume gebunden ist. Demnach ist es auch möglich, überstaatliche und globale Initiativen, wie sie mit der Globalisierung häufig auftreten, als öffentliche oder demokratische Räume zu konzipieren (Götz 2017). Nun sind öffentliche Debatten aber keine rein intellektuellen Veranstaltungen. Wie alle gemeinschaftlichen Aktivitäten sind sie physisch und organisch, moralisch, emotional und intellektuell zugleich (Dewey 1996 [1927]: 151). »Mit Deweys Erfahrungsbegriff lässt sich zeigen, dass argumentative Verständigungsprozesse von einer affektiven Dimension des sozialen Handelns leben, ohne die sie ihre konsensuale oder vertrauensstiftende Kraft nicht entfalten können.« (Selk/Jörke 2012: 277) Am Gemeinschaftsleben nehmen wir als vollständige Körper-Geist-Bürger*innen teil. Die Akteur*innen bringen sich dabei gegenseitig als Subjekte hervor, sie transagieren. Das Konzept der Transaktion geht, im Gegensatz zur Interaktion, nicht davon aus, dass fertige Entitäten in eine Beziehung zueinander treten, sondern dass beide Parteien erst im In-Beziehung-Treten eine Möglichkeit ihres Selbst entwickeln. Demnach schaut der Pragmatismus auf Beziehungen, auf das, was sich zwischen den Akteur*innen etabliert (Saunders 2005). Gemeinschaftsleben ist immer heterogen, und Meinungsverschiedenheiten treten nicht nur entlang großer Differenzierungslinien auf, sondern auch in multiplen Details

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zwischen einer Vielzahl von Individuen, die an der transaktionalen Dynamik der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen (Barnett/Bridge 2013). Dementsprechend überdauert das Gemeinschaftsleben Uneinigkeit besser, wenn es nicht nur Gegnerschaften etabliert, sondern auch versöhnlich ist. Dies steht im Widerspruch zu Theorien radikaler Demokratie, die sich aus poststrukturalistischen Vorstellungen von Differenz speisen, wonach Politik immer agonistisch, wenn nicht gar antagonistisch ist (Laclau/Mouffe 2006 [1985]). Nach Dewey geht es darum, die Praktiken der Verhandlung, Mediation und Entscheidungsfindung zu verbessern. »Das wesentliche Erfordernis besteht […] in der Verbesserung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens. Das ist das Problem der Öffentlichkeit.« (Dewey 1996 [1927]: 173) In dieser Tradition entwickelten sich u.a. demokratische Mikromodelle deliberativer Demokratie, wie z.B. Bürgerjurys, Planungszellen oder National-Issues-Foren (Dryzek 2004; McAffee 2004). Wissenschaftler*innen haben hier keine vom demokratischen Prozess losgelöste Definitionsmacht, sondern werden im Dewey’schen Sinne in konkreten Meinungsbildungsprozessen als Berater*innen in Bezug auf konkrete Problemlagen eingesetzt. Die Aufgabe der Wissenschaftler*innen ist die der Vermittlung. Während sie die verschiedenen Positionen gegenseitig verständlich machen, bleiben sie kritisch, weil sie die in den Beziehungen angelegten Asymmetrien im Blick behalten. Die gesellschaftspolitische Haltung des Pragmatismus ist demnach eine Kritik, verstanden als Mediation. Der Pragmatismus ist eine genuin kritische Denktradition. Für Dewey war die US-amerikanische Gesellschaft nur unzureichend demokratisch (Livingston/ Quish 2018). Der Pragmatismus steht sozialistischen und marxistischen Denktraditionen sehr nahe (Bridge 2014), allein die Stoßrichtung ist eine andere (Hetzel 2008): Der Pragmatismus erforscht weniger die Pathologien von Gesellschaft als vielmehr die Bedingungen, unter denen Emanzipation und Partizipation gelingen können. In diesem Sinne beruft sich Luc Boltanski (2010) in seiner Soziologie der Kritik, die das kritische Potenzial nicht nur der Soziologie, sondern auch gesellschaftlichen Akteur*innen zuspricht, explizit auf den Pragmatismus. Durch die Betonung der Einheit von Theorie und Praxis war der Pragmatismus Ideengeber für verschiedene empirische Traditionen wie etwa die Chicago School of Sociology (Joas 1992: 28ff.) oder die Grounded Theory (Glaser/Strauss 2008 [1967]), ein Forschungsstil, der sich mittels eines Alternierens zwischen Theorierezeption und Datenerhebung um eine möglichst direkte Beziehung zwischen der entstehenden Theorie und der beobachteten Praxis bemüht (vgl. hierzu auch Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks«). Ebenfalls vom Pragmatismus inspiriert, ist die Aktionsforschung (action research), die benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht nur erforscht, sondern sich auch gleichzeitig für deren Emanzipation einsetzt (Lewin 1953 [1946]) und die auch in

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internationalen Kontexten von Ungleichheit Anwendung und Bedeutung erlangte (Moser/Ornauer 1978). In der englischsprachigen Geographie fasst ein Themenheft (Wood/Smith 2008) den Mehrwert des Pragmatismus für die Geographie zusammen. Dabei werden insbesondere Deweys Arbeiten bezüglich demokratietheoretischer Fragestellungen in stadtgeographischen Kontexten hervorgehoben (Bridge 2008). In einem Themenheft der deutschsprachigen Geographie wurden erkenntnistheoretische Auffassungen des Pragmatismus sowie die sich daraus ergebende gesellschaftspolitische Haltung thematisiert (Geiselhart/Steiner 2012). Hier werden Implikationen pragmatistischen Denkens bezüglich des Handlungsbegriffs, der Semiotik und des Erfahrungsbegriffs sowie Fragen von Methodologie und Empirie diskutiert. Darüber hinaus entstanden Beiträge zur Neuformulierung der Mensch-Umwelt-Forschung als eine Geographie der Mitwelt (Steiner 2014), in der das praxeologisch zentrale Theorem der Transaktion, also der gegenseitigen Hervorbringung aller am gesellschaftlichen Prozess beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen, von der Stabilität des Gesellschaftlichen und der sozialen Eingebundenheit des Individuums in gesellschaftliche Strukturen zeugt. Darüber hinaus aber füllt der Pragmatismus mit der Konzeption eines ref lexiven, lernfähigen Individuums eine Lücke, die sich in vielen praxeologischen Ansätzen auftut. Praktiken werden zwar als konventionalisierte Aktivitätsmuster verstanden, doch können die Ausführenden experimentell Einf luss auf sie nehmen und sie im besten Fall sogar situationsgerecht ausgestalten.

Praxeologien zwischen Analyse und Kritik Bevor wir exemplarisch aufzeigen, wie sich Prinzipien praxeologischen Denkens auf geographische Gegenstandsbereiche beziehen lassen, wollen wir die vorgestellten Theorien kurz zusammenfassend diskutieren. Die in den vorangegangenen Abschnitten dargestellten unterschiedlichen Perspektiven lassen sich keineswegs ohne Weiteres kombinieren oder gar in eine übergeordnete kohärente Praxistheorie integrieren. Sie stehen durchaus in einem spannungs- und konf liktvollen Verhältnis zueinander. Wir möchten dazu anregen, auf das hier vorgestellte Repertoire an Theorien zurückzugreifen. Wir haben die Ansätze v.a. in ihren jeweiligen analytischen Stärken vorgestellt. Je nachdem, welche Forschungsfrage oder welche Ziele verfolgt werden, können die geeigneten Ansätze und Vokabularien ausgewählt werden. Indem wir auch erwähnten, was jeweils ausgespart bleibt, geben wir Hinweise, wie die mit dem jeweiligen Blick verbundenen Positionalitäten ref lektiert werden können. Auch haben wir die Ansätze darauf hin untersucht, inwieweit sie selbst ihre gesellschaftspolitische Haltung ref lektieren. Dieser Anspruch speist sich aus dem praxisphilosophischen Primat

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der Praxis, das von den vorgestellten Theorien in unterschiedlicher Weise und Tiefe verfolgt wird. Das heißt: Praxeologische Theorien mobilisieren in unterschiedlichem Maße den anti-intellektualistischen Impetus, die Dichotomie zwischen Theorie und Praxis zu hinterfragen oder gar ganz aufzulösen zu wollen (Volbers 2015). Damit etablieren sie jeweils eigene Positionen im Spannungsfeld zwischen der Analyse und der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse.

Das Primat der Praxis und die Analyse von Gesellschaft Gemeinsam ist den hier vorgestellten Ansätzen, dass sie menschliche Aktivitäten als grundlegend gesellschaftliche und strukturell prä-konfigurierte Aktivitäten verstehen, die in der einzelnen konkreten Ausführung aber durchaus einzigartige Spezifika ausbilden können. So gelingen analytische Mikroperspektiven auf Gesellschaft, die aber politische und gesellschaftliche Makrophänomene nicht aus dem Blick verlieren, sondern diese auf konkretes Tun zurückspiegeln. Hierfür entwerfen die zitierten Theoretiker*innen jeweils eigene praxeologische Vokabularien mit jeweils besonderen analytischen Stärken. Kategorien wie etwa Habitus, Routinen, Ressourcen, Praktiken-Arrangement-Bündel usw. können als Schablonen oder »Brillen« dienen und somit empirische Forschung effektiv anleiten. So stellt sich Bourdieus kritische Perspektive bspw. als ein präzises Instrumentarium zur Analyse der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in der Praxis dar. Schatzkis Sozialontologie oder die Akteur-Netzwerk-Theorie eignen sich dagegen, wenn es z.B. um die Thematisierung von Materialität oder um die Bedeutung von Dingen für die soziale Praxis geht. Das Primat der Praxis führt aber auch zu der Erkenntnis, dass Theorien und theoretische Modelle in empirischen Forschungsarbeiten keine definitorische, sondern eine erkenntnisleitende, heuristische Funktion übernehmen sollten. Die Analysekriterien und Kategorien von Theorien sollten in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Gegenstand auf ihre Angemessenheit hin wiederholt kritisch ref lektiert werden. Diesen Aspekt erfüllen die verschiedenen dargestellten Ansätze in unterschiedlichem Ausmaß. So »benutzt« die breite Bourdieu-Rezeption bspw. – auch in der Geographie – immer wieder Bourdieus vorgefertigte Kategorien. Doch Bourdieu ermutigt durchaus auch, seine Kategorien aus der empirischen Anwendung heraus weiterzuentwickeln. Christoph Haferburg (2007) macht z.B. den Vorschlag, ein »askriptives Kapital« als weitere Dimension des Bourdieu’schen sozialen Raumes einzuführen, welches insbesondere für rassisch/ ethnisch strukturierte Gesellschaften wie z.B. Südafrika eine soziale Positionierung erlaubt. Auch wenn Forscher*innen z.B. das Habituskonzept oder Schatzkis Konzept der Praktiken-Arrangement-Bündel in einer analytisch rigiden Art und Weise nutzen, um damit ihren Forschungsgegenstand fest konturiert zu erklären,

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arbeiten sie dennoch in methodischer Hinsicht »typisch praxeologisch«, wenn sie bspw. ethnographisch menschliche Tätigkeiten beobachten. Nicht immer greifen praxeologische Analysen die Idee, theoretische Kategorien fortlaufend in Auseinandersetzung mit der Empirie zu hinterfragen, auf oder befolgen sie konsequent. Das Primat der Praxis stellt also kein theoretisch ableitbares »Muss« dar, welches Praxeologien generell dominieren sollte – vielmehr gibt es verschiedene und unterschiedlich radikale Varianten, ein solches Primat der Praxis zu denken. Methodisch und analytisch vergleichsweise konsequent ist ein solcher Anspruch sicherlich in den Ansätzen der Erforschung des Alltags, im Speziellen in der Ethnomethodologie sowie in den pragmatistisch inspirierten Forschungs- und Analyseprogrammen wie bspw. der Grounded Theory oder dem Action Research, ausformuliert. Auch die symmetrische Anthropologie Latours und Ansätze aus dem Feld der Akteur-Netzwerk-Theorie erfüllen den Anspruch eines Vorrangs der Praxis, indem sie dazu auffordern, einer sich in der Praxis entfaltenden Konfigurierung von Assoziationen zu folgen. Folgt man den heterogenen Elementen und Assoziationen in neue und unerwartete Praxiskomplexe hinein, so zumindest das methodologische Versprechen, erfahren auch die zur Beschreibung primär aufgegriffenen Kategorien eine produktive Wandlung – oder es müssen ganz neue Kategorien entwickelt werden.

Das Primat der Praxis und die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse Wenn Theoriebildung immer schon Teil der gesellschaftlichen Praxis und selbst eine Praxis ist, dann gibt es keinen neutralen Beobachter*innenstandpunkt, dann ist jeder Analyse schon ein Standpunkt und damit auch schon eine potenzielle Wirkung eingeschrieben. Entsprechend fordern Praxeolog*innen häufig eine Ref lexion der Positionalität von Forschung. So vertritt Bourdieu eine akademisch gesellschaftskritische Position, während Giddens der Wissenschaft eher eine politikberatende Funktion zuschreibt. Im Poststrukturalismus verwirklicht sich Kritik durch den Blick auf die praktischen Prozesse der Universalisierung bestimmter Wahrheiten. Am konsequentesten formulieren sich gesellschaftskritische Ansprüche aber im Marxismus, in der Kritischen Theorie und im Pragmatismus, wenn sich hierbei auch deutliche Unterschiede bezüglich der Stoßrichtung von Kritik zeigen. Verorten die ersten beiden Ansätze Kritik vorwiegend in einer oppositionellen Haltung, in politischem Aktivismus und/oder politischer Agitation, so sieht der Pragmatismus Kritik eher als eine Aufgabe demokratischer Mediation zwischen Mehrheits- und Minderheitenpositionen und die Aufgabe von Theoriebildung in der Befähigung zur Emanzipation (Hetzel 2008; Livingston/ Quish 2018). Praxeologien, so argumentieren wir, bewegen sich also stets in einem Spannungsfeld zwischen Analyse und Kritik, wobei sich mit den vorgestellten Ansät-

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zen verschiedene analytische und gesellschaftspolitische Haltungen begründen lassen. Im Folgenden wollen wir nun noch einige Charakteristika praxeologischen Denkens in exemplarischer Weise auf geographische Themenbereiche beziehen.

Praxeologische Inspirationen für die Geographie Die äußerst heterogenen praxistheoretischen Stränge bieten, so möchten wir argumentieren, fruchtbare Impulse für die geographische Forschung. Wir werden aber von dem Vorhaben Abstand nehmen, die skizzierten Ansätze nun explizit auf die »klassischen« geographischen Kategorien hin abzuklopfen und bspw. nach dem jeweiligen Raumbegriff der einzelnen genannten Autor*innen zu suchen. Die genannten Autor*innen bzw. deren Praxistheorien weisen in der Regel (Ausnahme: Schatzki) auch keinen ausformulierten Raumbegriff auf und es wäre müßig, einen solchen jeweils zu konstruieren. Vielmehr lässt sich bisweilen sogar beobachten, dass eine eher »beiläufige« Thematisierung von Raum in Praxistheorien tendenziell zu reduktionistischen Raumkonzepten führen kann. Bourdieu in etwa liefert eine unserer Ansicht nach verkürzte Perspektive auf die räumliche Dimension, wenn er die Auffassung vertritt, der von ihm konzipierte soziale Raum ließe sich eins zu eins auf den physischen Raum übertragen (Bourdieu 1991). Er unterstellt den verschiedenen Lebensstilen eine generelle Tendenz zur gegenseitigen räumlichen Abgrenzung, die unseres Erachtens in vielen Fällen zutreffend sein mag, so aber nicht vorausgesetzt werden kann. Damit geht Bourdieu einer differenzierten Betrachtung räumlicher Prozesse aus dem Weg. Wir möchten hingegen allgemeiner danach fragen, wie geographische Fragestellungen und Forschungsperspektiven, die ja selbst bereits einen gewissen Raumbezug mitbringen, von praxistheoretischen Ansätzen profitieren können. Im Folgenden wollen wir exemplarisch drei Aspekte beleuchten, die deutlich machen, wie Praxeologien sich für die Geographie gewinnbringend einsetzen lassen. Wir beschreiben erstens den Blick auf das Konkrete, der den Stellenwert empirischer Forschung stärkt. Zweitens gehen wir auf das Interesse an gesellschaftlichem Wandel ein, das auch die Frage nach der Gestaltbarkeit von Gesellschaft aufwirft und damit insbesondere bezüglich des geographischen Interesses an Planungsprozessen inspirieren kann. Und drittens besprechen wir die Suche nach dem Impliziten, welche den Stellenwert expliziten Wissens relativiert und Bedeutungs- und Sinnstiftung als durch Praktiken vermittelt ansieht. Hieraus lässt sich auch ableiten, dass lokalspezifische Besonderheiten nur unzureichend in expliziten Zeugnissen abgebildet sein können, was die persönliche Nähe und den Kontakt von Forscher*innen zu lokalen Prozessen aufwertet sowie der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Regionalkompetenz eine neue Aktualität verleiht.

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Das Konkrete: die Materialität von Praktiken und die Empirie In aktuellen praxeologischen Debatten nimmt der Begriff der Praktik einen besonderen Stellenwert ein. Dabei werden Praktiken im Sinne konventionalisierter Tätigkeitsmuster, v.a. über ihre konkrete wahrnehmbare Äußerlichkeit von strukturellen Bedeutungskonfigurationen oder individuellen Handlungsstrategien, abgegrenzt. Blickt man aber auf die verschiedenen vorgestellten Ansätze, dann zeigt sich, dass für viele Theorien das, was häufig mit dem Stichwort der Materialität von Praktiken gefasst wird, keineswegs von zentraler Bedeutung ist. So bezeugt in Bourdieus Praxistheorie nicht die Materialität an sich, sondern in erster Linie die körperliche Eingeschriebenheit des Habitus den Stellenwert und die Stabilität sozialer Lebensstile und Differenzierungen – wobei der Habitus konventionalisierte Tätigkeiten, sprich Praktiken, hervorbringt. Auch bei Giddens wird Materialität nicht als solche bedeutsam, sondern nur als – in die gesellschaftlichen Strukturierungsprozesse einbezogene – konkrete Ressource. Schatzki hingegen misst der Materialität von Körpern, Artefakten und Dingen in Gestalt des Arrangements eine direkte zentrale Bedeutung zu, insofern dieses Arrangement gleichzeitig sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis von Praxis ist. In den praxeologischen Motiven des Poststrukturalismus hingegen ist ein recht spezifischer Materialitätsbegriff zu identifizieren. Hier ist v.a. das diskursive Ereignis als stattfindender Effekt neuer Bedeutungskonstitutionen zentral. So müsste sich »die Philosophie des Ereignisses in der auf den ersten Blick paradoxen Richtung eines Materialismus des Unkörperlichen bewegen« (Foucault 1993 [1970]: 37). Hier erscheint Materialität lediglich als der Hinweis darauf, dass bestimmte Signifikationsprozesse tatsächlich stattfanden. In den alltagsweltbezogenen und pragmatistischen Perspektiven wiederum wird das Lokale vielfach als Lebenswelt begriffen, wobei angeeigneter und alltäglich gelebter Raum als konstitutiv für gesellschaftliche Praxis angesehen wird. In diesen Ansätzen aber kommt der Materialität, der Körperlichkeit und den Emotionen kein eigenständiger Status als Untersuchungsgegenstand zu – sie erhalten eher indirekt empirische Aufmerksamkeit, indem sie bspw. im Begriff der Erfahrung als Voraussetzungen von Wissen und Erkenntnis mitgedacht werden. Auch im Materialismus der Kritischen Theorie ist Materialität eher eine Negativfolie zur idealistisch-philosophischen Betonung des gestaltenden Geistes denn eine empirisch zugängliche oder theoretisch ausbuchstabierte Kategorie. Im Hinblick auf die vorgestellten Theorien ist demnach zu resümieren, dass der vielfach postulierte empirische Zugang zur Materialität von Praktiken nicht als ein naiver Zugang zu einer irgendwie »anfassbaren«, physikalischen Äußerlichkeit zu verstehen ist. Es geht vielmehr darum, während des empirischen Vorgehens den Bezug praxeologischer Kategorien auf das dem Erkennen vo­r­ ausgehende Konkrete im Blick zu behalten, das konstitutive Außen von Sprache und Signifikation wahrzunehmen oder sich auf das letztlich unauf lösbare Span-

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nungsverhältnis zwischen Repräsentation und Präsenz/Existenz einzulassen (Mersch 2010). »Materialität« fungiert als eine Art Fokus, der die praktische Verankerung der Hervorbringung jeglichen Wissens und jeder Erkenntnis hervorhebt und die Genese theoretischer Kategorien in einen spannungsvollen Dialog mit der Beobachtbarkeit von Praxis bringt. Eingefordert wird somit das stete Hinterfragen der Abbildungs- und Erklärungsfunktion von Repräsentationen, Modellen und sprachlichen Begriffen. Vor diesem Hintergrund bekommt empirische Forschung eine ganz besondere Aktualität. Sie wird zur gegenstandsbezogenen Neuverhandlung etablierter Deutungsmuster, indem sie einen bisher bereits für geklärt angesehenen Forschungsgegenstand im Forschungsprozess neu erschafft (vgl. Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks«). Damit kann Empirie potenziell auch Initial gesellschaftlichen Wandels sein.

Wandel: Iteration, Kombinatorik und die Frage der Gestaltbarkeit von Gesellschaft Ein zweites, aktuelles Motiv praxeologischer Ansätze ist die Frage nach gesellschaftlichem Wandel. In den meisten der vorgestellten Konzeptionen gesellschaftlicher Praxis – wie auch in den gängigen Modellen von Praktiken – werden Individuen als in ihren Tätigkeiten und Motivlagen gesellschaf tlich geprägt angesehen. Praktiken erscheinen dadurch als primär gesellschaftsstabilisierend und reproduzierend. Neuere Debatten führen nun aber gezielt auch in ein Spannungsfeld zwischen Stabilität und Instabilität gesellschaftlicher Verhältnisse (Schäfer 2013). Insbesondere die poststrukturalistischen Motive der Iteration und Re-Kombination erklären eine Veränderlichkeit von Praktiken, die sich durch vielfältige kleine Verschiebungen innerhalb der Praktiken in ihren Wiederholungen und beständigen Neuauf lagen realisiert (Moebius 2008; Reckwitz 2016). Schatzki (2002) identifiziert Strukturelemente des gesellschaftlichen Wandels und mögliche Einf lussfaktoren. Shove, Pantzar und Watson (2012) stellen eine Heuristik zur empirischen Feststellung von Veränderungen in Praktiken vor (Beitrag »Praktiken und gesellschaftlicher Wandel« in diesem Buch). Hierbei erscheinen Praktiken als die Träger des gesellschaftlichen Wandels. Weitgehend ungeklärt bleibt jedoch, welche Konsequenzen das bspw. für Planungsprozesse mit sich bringt, in die sich Individuen alltäglich mit einer empfundenen Selbst-Wirksamkeit einbringen. Grundsätzlicher gefragt: Lässt sich gesellschaftlicher Wandel denn überhaupt durch planvolles, rationales Agieren gestalten? Auch bleibt die Frage offen, inwieweit wir dem Individuum in diesem Spannungsfeld Handlungsfreiheit zuschreiben können, ohne theoretisch inkonsistent zu werden. Einige der vorgestellten Ansätze bieten durchaus Möglichkeiten, »Räume« oder »Domänen« einer eingeschränkten Autonomie zu denken. Dabei lässt sich

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eine gegenüber den Handlungstheorien stark eingeschränkte agency erkennen. Laut Giddens soll Handeln nicht intentional gedacht werden, sondern lediglich als ein praktisches Vermögen Veränderungen zu bewirken (Giddens/Kießling 1988). Allerdings liefert er keine genauere Ref lexion des Handlungsbegriffs (Joas 1992: 205ff.) und es bleibt offen, wie dadurch die von ihm postulierte Möglichkeit einer ref lexiven Handlungssteuerung möglich sein soll. Ähnlich benennt Schatzki (2002) gelegentlich den Einf luss des Individuums oder agency, doch fassen diese Begriffe nicht mehr als den Umstand, dass die Aktivitäten von Individuen tatsächlich irgendwelche Effekte haben. Die Kritische Theorie hingegen sieht an dieser Stelle das Individuum mit den Fähigkeiten ausgestattet, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen, sich von diesen zu distanzieren, sie zu kritisieren und politische Maßnahmen zur Veränderung anzumahnen. Der Pragmatismus attestiert dem Individuum darüber hinaus auch noch die Fähigkeit zur Ref lexion der eigenen gesellschaftlichen Prägungen sowie die Fähigkeit, kreative Erfahrungsund Lernprozesse einzugehen, um alleine oder in einer Gruppe neue Lösungen für Problemstellungen zu entwickeln. Am Beispiel von Planung möchten wir kurz die Relevanz dieser Fragen verdeutlichen. Wenn das Individuum keine oder eine nur sehr eingeschränkte human agency besitzt, dann hat das Auswirkungen auf Planungsprozesse (Beitrag »Praktiken und Planung« in diesem Band). Poststrukturalistisch erscheint Planung als eine fortlaufende Rekombinatorik mehr oder minder vorstrukturierter Vorgehensweisen. Die Antagonismen konventionalisierter Planungs- und Widerstandsmuster zwingen demzufolge zu steten Neuverhandlungen. Planung kann vor diesem Hintergrund am ehesten noch die Aufgabe zugeschrieben bekommen, diese Räume für Neuverhandlungen (von infrage kommenden Lösungsansätzen) möglichst offen zu halten bzw. kritisch jene Praktiken zu identifizieren, über die hegemoniale Schließungen stattfinden. Generell kann Planung praxeologisch betrachtet nicht als rein rationale Unternehmung verstanden werden, in der durch »gute Argumente« auch gute Prozesse hervorgebracht werden können. Die von Planungsprozessen adressierten Individuen und Gruppen sind in konventionalisierte, ggf. auch lokalspezifische Praktiken-Komplexe eingebunden, aus denen sie sich nicht einfach nur aufgrund eines »guten Arguments« ausklinken wollen oder können. Man muss die Praxis von Planung dann nicht nur in ihren politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen betrachten, sondern auch die Strukturierung der Gesellschaft in unterschiedliche Bildungswege, kulturelle Milieus und Lebenswelten bedenken, innerhalb welcher die Erfahrungen der an der Planung Beteiligten oder der von Planung Betroffenen geprägt sein können. In pragmatistischer Sichtweise treffen im Planungsprozess stets auch Individuen aufeinander, die jeweils eigene persönliche Präferenzen und individuelle Wissensbiographien in sich tragen, welche von ganz unterschiedlichen Pfadabhängigkeiten hervorgebracht wurden. Diese Erfahrungshorizonte prägen in einer so

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grundlegenden, v.a. auch emotionalen Art und Weise die partikularen und/oder gruppenbezogenen Überzeugungen, dass sie niemals in ihrer ganzen Tiefe im Planungsprozess diskutiert werden können. Diese Aspekte können nun aber als strukturelle Probleme von Planungsprozessen anerkannt werden. Dann gilt es, entsprechend mehr Zeit, Ressourcen sowie demokratische Beteiligungsinstrumente für Planungsprozesse einzufordern. Planung muss vielfältige Erfahrungshorizonte und die daraus resultierenden Konf liktlinien, dazu lokalspezifische Hierarchien und Entscheidungspraktiken, kennen und moderieren (vermitteln) können. Ein schlichtes Anwenden von theoretisch sinnvoll erscheinenden Entwicklungskonzepten kann allzu leicht scheitern, wenn Planung die grundlegende Einbettung ihres »Gegenstands« in eine historische, machtdurchf lossene, heterogene und konf liktiv-dynamische Praxis nicht erkennt. Planung und Entwicklung sind keine rationalen, geistigen, rein ideenund skriptgesteuerten Angelegenheiten, sondern sollten dezidiert als Praxis bzw. als ein Projekt moderiert werden, das für lokale Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit, für Widerspenstigkeiten in der Umsetzung sowie für die beteiligten Emotionen der Individuen sensibel ist.

Das Implizite: verkörperlichte Bedeutungen und die Frage nach Regionalkompetenz Räumliche Kontextualisierungen und entsprechende Untersuchungen lokaler oder regionaler Zusammenhänge können von einer Inanspruchnahme praxeologischer Kategorien und Perspektiven profitieren. Über praxeologische Ansätze, so unsere These, lassen sich die Fallstricke von Verräumlichungen günstig umgehen. Bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren wurden, insbesondere in der englischsprachigen Geographie, lebendige Auseinandersetzungen um Lokalität geführt und Potenziale sowie Schwierigkeiten sogenannter Locality Studies verhandelt (Massey 1993). Doreen Massey zeigte, wie eine sensible, empirische Studie lokale Zusammenhänge von (situierten) Praktiken, Institutionalisierungen und diversen materiellen Elementen abbilden kann, wie sich globale Dynamiken im Lokalen ausdrücken und wie ferner in der Konfigurierung eines spezifischen Ortes heterogene Verknüpfungen zwischen verschiedenen Orten abgebildet sind. Ebenso verwies sie darauf, dass lokale Entwicklungspfade immer eine eigene Spezifität aufweisen. Grundsätzlich ist aus praxeologischer Perspektive konsequent von einer Konstruktion von Regionen (oder Lokalitäten) durch Praktiken auszugehen, bspw. im Sinne alltäglicher Regionalisierungen (Werlen 1997). So kann auch untersucht werden, wie Regionen gouvernemental hergestellt werden – z.B. lässt sich »Region als ein machttechnisches Instrument innerhalb von Praktiken verstehen« (Miggelbrink 2014: 35). Vor dem Hintergrund eines auf die praktische Hervorbrin-

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gung von Raumbeziehungen abzielenden Verständnisses von Regionen (bzw. Regionalisierungen) erscheint es auch fragwürdig, wenn »Regionalkompetenz« in Studiengängen vermittelt wird, deren Curricula Sprachkompetenzen und interdisziplinäres Wissen über vordefinierte Weltregionen zur Verfügung stellen (zu dieser Kritik: Glasze et al. 2014). Gerade derartige Übertragungen von vorab kodierten Wissensbeständen auf die Praxis sollten nach praxeologischem Verständnis vermieden werden. Der Hinweis, dass räumlich definierte Forschungsgegenstände kaum theoretisch konsistent abgegrenzt werden können, sollte aber nicht zu einer gänzlichen Ablehnung räumlicher Bezüge oder lokalisierter Forschung führen (Verne/Doevenspeck 2014). Dabei sind zwangsläufig Ortsbestimmungen notwendig, also die Verwendung der Eigennamen von Orten, Städten, Staaten oder Regionsbezeichnungen. Doch eine solche Verortung stellt nicht automatisch einen kausalistischen oder raumessentialisierenden Vorgang dar. Die Verortung eines Phänomens postuliert nicht automatisch, dass die genannte Lokalität einen homogenen Raum mit einer bestimmbaren Identität darstellt, welcher das Phänomen notwendigerweise erzeugt hätte und als Erklärungskontext für das Phänomen ausreiche. In diesem Sinne führen auch Raumbegriffe wie »lokal«, »regional«, »national«, und »global« oder die skalaren Begriffe »mikro«, »meso« und »makro« nicht automatisch in eine essentialisierende Skalenontologie (vgl. Marston/Jones/Woodward 2005; siehe auch der Beitrag »The Site of the Spatial« in diesem Band). Man sollte es lediglich vermeiden mit diesen Bezeichnungen vorab festgelegte Heuristiken zu verbinden. Praxeologisch spricht aber nichts dagegen, ein empirisch auftauchendes Phänomen bspw. als »global« zu bezeichnen, wenn man damit eine empirisch feststellbare Qualität der beobachteten Prozesse beschreiben möchte – z.B. die Reichweite einer bestimmten Praxis bzw. eines Praktiken-Komplexes. Eine zentrale Erkenntnis vieler praxeologischer Ansätze besagt, dass Bedeutungsstrukturen der gesellschaftlichen Praxis vorwiegend implizit sind. Expert*innenwissen über ein gewisses gesellschaftliches Phänomen bestimmt sich hingegen zu großen Teilen über die Kenntnis expliziter Theoriedebatten. Regionalkompetenz aber lässt sich nicht auf die gleiche Art und Weise erwerben. Die impliziten lokalspezifischen Besonderheiten im zwischenmenschlichen Umgang oder bezüglich der Verhandlung sensibler Themen können nur im persönlichen Kontakt erfahren werden. Lokales Wissen ist tiefgehend inkorporiert und wird nicht wie Expertenwissen mit Verweisen auf explizite Quellen gerechtfertigt. Lokales Wissen wird nur selten expliziert, vielmehr drückt es sich im kompetenten Bewerkstelligen lokaler Praktiken aus. Darüber hinaus können ortsbezogene Pfadabhängigkeiten lokalspezifische, kollektive Erfahrungen hervorgebracht haben, die sich in Chiffren ausdrücken, die von Außenstehenden kaum verstanden werden. Das klassische Telos der Geographie, die Regionalkompetenz, kann praxeologisch gesehen nicht über ein fest definiertes Wissensspektrum bestimmt

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werden. Regionalkompetenz ist die Gegenfolie zum Intellektualismus eines internationalen Expertentums, welches sich in den großen Erzählungen (Massey 1991), bspw. in der Modernisierunsgtheorie, ausdrückt. Dabei wird kontextunabhängiges Wissen als beste Befähigung zur Lösung lokaler Probleme angesehen. Regionalkompetenz hingegen bezeugt sich in der Kompetenz, vor dem Hintergrund der lokalen Multiplizität, im lokalen Kontext, also in Kopräsenz lokaler Akteur*innen, angemessen Stellung beziehen zu können und in der Fähigkeit sich im lokalen Kontext situativ angemessen zu verhalten. Ein geographisch lokalisierter Blick muss vielfältige aktuelle Prozesse unterschiedlichster Reichweiten wahrnehmen, sich mit unterschiedlichen Raumkonzeptionen auseinandersetzen und auch entsprechende Theoriedebatten kritisch betrachten. Ein regionaler Fokus führt demnach keineswegs zu Theorieferne, sondern schärft eher die theoretische Ref lexion, wenn es gelingt, Expertenwissen und Regionalkompetenz in ein produktives Verhältnis zu bringen.

Fazit Praxeologisch ist von primärem Interesse, was die Menschen tatsächlich tun, und daraus folgt ein Interesse an empirischer Forschung. Dabei müssen Mittel gefunden werden, um nicht lediglich den bereits etablierten Deutungen und Interpretationen der praktischen Vorgänge »aufzusitzen«. Praxeologische Analysen suchen einen Zugang zu den praktischen Zusammenhängen, in denen Bedeutungen, Wissen und Repräsentationen erst entstehen und Sinn hervorbringen. Praxis ist keine reine Angelegenheit von Signifikationen und Repräsentationen oder von (vor-)formulierten Programmatiken, sondern zeigt sich als ein beständiges Prozessieren von Bedeutungen, praktischen Tätigkeiten sowie materiellen, körperlichen und emotionalen Dynamiken. Wir möchten dazu einladen, methodische Zugänge zu derartigen Prozessen der Praxis zu finden, die aus der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Forschungsgegenständen heraus zu justieren sind. Die Situativität von Praxis baut dabei immer auf den aktuell und lokal »gängigen« Praktiken auf und führt diese uno actu weiter in eine modifizierte Zukunft. Praxeologische Analysen können hierbei nachvollziehbar machen, wie in gesellschaftlichen Kontexten partikulare (politische) Perspektiven entstehen, sich verfestigen und/oder sich wieder verändern. Praxis ist dabei immer räumlich verortet und verweist gleichzeitig stets auf weitreichendere Kontexte. Die Pfadabhängigkeiten politischer und sozialer Prozesse weisen immer in zwei Richtungen: Auf der einen Seite deuten sie auf räumlich und zeitlich weiterreichende, überlokale oder historische Einf lüsse und auf der anderen Seite verzweigen sie sich in zahlreiche singuläre Mikrogeschehnisse, die für die Spezifität eines lokalen Entwicklungspfades verantwortlich

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sind. Der Blick auf Praxis ist demnach ein Zugang zu sowohl strukturellen gesellschaftlichen Phänomenen wie auch zu lokalen und immer auch lokalspezifischen Geschehnissen. Die hier vorgestellten Theorien und Konzepte formulieren unterschiedliche Zugänge zu dieser Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen und können der geographischen Forschung eine reichhaltige Inspirationsquelle sein. Sie können damit auch einen Beitrag zu einer der ältesten Fragen der Geographie leisten, nämlich: Wie können über die Erforschung des Lokalen – des Besonderen und Konkreten – Erkenntnisse zu den großmaßstäblichen Fragen der Zeit entstehen, wie etwa globale Ungerechtigkeiten oder Umweltprobleme. Die verschiedenen Ansätze stellen ganz unterschiedliche gesellschaftsanalytische Zugänge bereit, deren jeweilige Stärken in geographischen Arbeiten schon unter Beweis gestellt wurden. Die vorliegende Zusammenschau soll eine Grundlage bieten, um geeignete Theorien für praxeologisches Arbeiten kennenzulernen. Darüber hinaus verbirgt sich im Praxistheorem zumindest implizit die Erkenntnis, dass Theorie und Praxis streng genommen nicht voneinander zu trennen sind (Primat der Praxis). Wenn das Forschen, Theoretisieren und Analysieren selbst gesellschaftliche Praxis ist, welchen Stellenwert, welche Wirkungen oder welchen Einf luss hat dann die wissenschaftliche Arbeit in der Gesellschaft? Tatsächlich haben viele Praxistheoretiker*innen diese Frage diskutiert und eine gesellschaftspolitische Position für ihre Arbeit formuliert. Dieser Beitrag bietet entsprechend auch eine detaillierte Auf bereitung der Frage, wie verschiedene Praxeologien Kritik artikulieren bzw. wie kritische Ansätze ihren jeweiligen Praxisbezug bestimmen. Diese Öffnung der Praxeologie in die Dimension der Kritik schließt eine wichtige Lücke in der aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Rezeption praxeologischer Ansätze. Das Verhältnis zwischen Kritik und Praxis verweist nicht nur auf eine zentrale Frage kritischer Forschung, sondern ist eine genuin praxeologische Frage.

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Social Change in a Material World: A Précis1 Theodore R. Schatzki 1

Social change and its explanation are enduring topics in social theory and research. A remarkable range of ideas has been proposed about them, ref lective of the diversity of social ontologies and of conceptions of social causality that have been and continue to be developed. In the spring of 2019 I published a book on these topics called »Social Change in a Material World«. The present essay is kind of tour of the book’s principal theoretical claims. Because it is a panorama of theo­ ry, the present discussion is relatively abstract. In particular, it does not explore in any appreciable detail the two clusters of empirical phenomena through which the book substantializes its conceptual apparatus: large-scale episodes in the history of bourbon distillation in the state of Kentucky, and the formation and evolution of associations of new and old sorts through contemporary digital media. A description of one such association concludes this essay. But my discussion otherwise contains just brief references to, and descriptions of, aspects of these episodes and associations.

1 This essay is the pendant to the keynote address titled »On Social Change, Materiality, and Abstract Relations« that I delivered at the Annual Congress of German Geography in Tübingen in October 2017. Whereas that talk described basic ideas that I thought would inform or be developed in my new book, the present essay describes basic ideas that actually are developed in this book. The instigation, moreover, for the present essay was an invitation to deliver a Distinguished Keynote at the August 2018 annual meeting of the Academy of Management in Chicago. It is fitting that this talk-essay is appearing in the present book since the present book is the final end-product of the DFG-Netzwerk Praktikentheorien, which was responsible for the invitation to Tübingen. I wish to thank the Netzwerk and its organizers, including Jonathan Everts and Susann Schäfer, for these opportunities. I would also like to thank the Strategizing, Activities, and Practices Interest Group of the AOM and its principals, especially Paul Spree, for the invitation to deliver the talk in Chicago. Thanks also go to Routledge for permission to reuse material in this essay from the new book.

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Events, processes, and change The book’s theses about social change and explanation derive from general ideas about event, process, and change. The starting point is a metaphysical proposition, namely, that change arises from events and processes. This proposition might seem intuitively obvious. Philosophers have identified a range of what they call »categories«. Categories are basic generic types of entity. Examples include substance, relation, structure, event, and process. The existence of entities of the first three of these categories is compatible with the world being static, that is, changeless. Whatever substances, relations, and structures exist can simply continue existing—forever. Events and processes, by contrast, introduce dynamism into the world: things happening or unfolding. A world that contains events and processes cannot be static. Intuitively, consequently, it makes sense that change arises from events and processes. A second claim defended in the book is that the categories of event and process should be distinguished. I cannot here present the background for this claim. I will simply explain that, according to my intuitions, the concept of process connotes something f low-like in character, something continuously unfolding in time. By contrast, the concept of event connotes happening, or coming into existence. To be sure, f low or temporal unfolding, on the one hand, and happening and coming into existence on the other, are not mutually exclusive matters. A f low of electricity, for example, happens, just as the happening of a debate can f low. But the connotations of the two notions pull in different directions—smoothly spread over time versus coming to be—and this pulls apart the sets of entities that instantiate them. Processes are continuous and spread out over time, whereas events can be discontinuous and occur at an instant. Consequently, it makes sense to treat them as distinct categories. Multiple conceptions of process exist in philosophy and social theory. The question arises, consequently: which conception or conceptions of process should one work with? There are three prominent general conceptions of process in contemporary social thought. The first is the notion of a sequence of events. Andrew Abbott (2016: ix), for instance, writes that »[…] the world of the processual approach is a world of events. Individuals and social entities are not the elements of social life, but are patterns and regularities defined on lineages of successive events«. This first conception of process is probably the most pervasive today. A more demanding version of it comes from Nicholas Rescher, who holds that a process »is an […] occurrence that consists of an integrated series of connected developments unfolding in programmatic coordination« (Rescher 2000: 22). Rescher’s conception is more demanding than Abbott’s since it construes a process as a temporal whole whose moments are temporally-extended events that are continuous with one another. Meanwhile, a second general conception of process prominent in

Social Change in a Material World: A Précis

social thought is the pragmatist notion of movement or passage through, in, or by reference to the present, usually the present of experience. There are different views of what comes and goes in the present and thereby constitutes passage: (1) events, (2) experiences (e.g., Mead 1929), and (3) time itself (e.g., Hernes 2014). The third general conception of process is that of an ongoing unfolding. This is Bergson’s conception of durée. The proposition that events and processes should be distinguished counsels against using Abbott’s conception of process, the most prevalent today. This is because this conception does not sufficiently distinguish between the two categories. I do not want, moreover, to work with the pragmatist family of notions. Pragmatist notions of process highlight experience. However, many processes that compose or bear on social life—for example, electricity transmission and bacterial infection—do not transpire in or as experience. Many processes, furthermore, that do transpire in experience, for example, a coffee maker making a cup of coffee, can be conceptualized without reference to experience. Consequently, the focus of pragmatist notions on experience diminishes their usefulness for social analysis. Accordingly, I work in the book with two notions of process: integrated whole nexuses of continuous events (Rescher) and unfolding advances (Bergson). Examples are (1) the distillation of bourbon and (2) human activity, respectively. Let us now turn to the notion of change. The starting point here is the idea that events and processes automatically introduce differences into the world. When it rains, for instance, the falling of the drops constitutes a difference between the states of the world before and during the event. Some thinkers hold that change is difference. If this claim were true, events and processes would automatically yield change(s). Events and processes certainly institute differences. But whether these differences amount to changes depends on what is juxtaposed with what. Consider distillation. Each instance of distilling by a particular distiller differs from all previous ones. The exact timing of what the distiller does on the different occasions might slightly deviate, the proportion of different ingredients in the mash might subtly vary (mash is the fermented mixture of grain, yeast, barley malt, and water that is heated to produce evaporated alcohol), different amounts of mash and cooking temperatures might be achieved, the distillations might occur on different days, begin at different moments, and last for slightly different periods, and so on. In relation to one another, these microdifferences represent changes. At the same time, it might be that nothing really changes from one instance to another of distillation: the same distillation process might occur, the distiller might use the same ingredients and follow the same steps, the results might be the same, and the same distiller might be at work. What’s more, the events and proces­ses that are responsible for all the microdifferences involved are the very events and processes that effect this lack of change, that is, that are responsible for the persistence of the same over time. Indeed, the fact that the microdifferences and the

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persistence of the same have a common origin is grounds for saying that the microdifferences amount, not to changes, but to f luctuation. In order for change to have occurred, significant differences need to have taken place. Possible examples include following a different formula for the mash, using a different wood for fuel that burns at a different temperature, a new master distiller starting work etc. When any of these things take place, a change might have occurred to the process. It might no longer be the same. Of course, even if the distillation process does change, the distillery where it occurs might stay the same. Other differences are needed for the distillery to change, for example, being bought out by a larger outfit, moving to an entirely new production facility, abandoning the production of bourbon for the production of rye, and so on. Hence, change is not difference simpliciter; it is significant difference. And what qualifies as significant difference depends on what is juxtaposed with what. It also rests on the volume and nature of further differences that arise consequent on differences of interest, including those that arise from people’s reactions to these differences; what qualifies as a significant difference also rests on judgments of significance. If the distiller alters the mash formula, or the placement or rotation of barrels in the storage house, and later rejects the resulting whiskey as inferior in quality, nothing has changed. If that formula, or the different placement or rotation, instead produces a great new taste and other distillers notice it and themselves experiment commensurately after the new product hits the market, change has occurred. Significance, in short, is a contextual matter, dependent both on human judgment and on states of as well as occurrences in the world.

Social life and the practice plenum Before social change and its explanation can be explored, one more preliminary must be attended to. This is the nature of social life and social phenomena. No conception of change can rigorously morph into a notion of social change without some understanding of what social phenomena are. Social life is the coexistence, or hanging-together, of human lives. Elsewhere (2002) I have defended the proposition that social life inherently transpires as part of bundles of practices and material arrangements. Such bundles connect to form broader constellations, and the broader constellations themselves connect and make up one overall complex: the practice plenum. This plenum is a plenitude: a sum of particular things that, as such a sum, amounts, not to a bigger thing, but simply to a multiplicity. Just as the bundles and constellations that make up the plenum are nothing but the practices, arrangements and relations that constitute them, the plenum is the entirety of the practices, arrangements, and relations that compose it.

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It follows that social phenomena are aspects of, slices of, or rooted in bundles of practices and arrangements, that is, the plenum of practices. A bourbon distillery, for example, embraces such practices as distilling, public relations, strategic planning, shipping, and facility maintenance that are carried out amid, with, and through arrangements composing the production and storage facilities, the home office, the loading area, and the visitors’ center. The reader might see where this is going. Social changes are, by definition, changes in social phenomena. If, consequently, social phenomena are aspects of, slices of, or rooted in bundles of practices and arrangements, social changes—that is, changes in social phenomena—are, or are rooted in, configurations of changes in such aspects or complexes. Social changes thus embrace configurations, sometimes complex configurations, of such changes. To explicate social changes, then, it is necessary to discuss changes in practice-arrangement bundles and constellations. Doing this, in turn, requires understanding the composition of such bundles and constellations. The key components of bundles and constellations are practices, material arrangements, the relations that link practices and arrangements into bundles, and the relations among bundles that link them into broader constellations. My discussion in the book pays considerable attention to the material dimension of the practice plenum. This is what I will emphasize here. For reference, however, I should state that, on my account (see, e.g., Schatzki 2002), practices are open-ended spatial-temporal arrays of doings and sayings that are governed by largely normative pools of understandings, rules, teleologies, and emotions. These organizing pools are mutable temporal structures that govern human activity by forming sanctioned, public contexts of intelligibility and normativity in which people proceed. By »materiality« I mean, intuitively, the stuff of entities, what fills them out. The kinds of entity I have in mind are diverse, including human bodies, bacteria, rocks, buildings, pencils, software programs, computer processors, air, pools of water, water currents, electrical currents, sunlight, and the atmosphere. This list should make clear that the term »material« as I use it is not restricted to tan­gible objects, though tangible objects are obviously important ingredients in social life. More specifically, »materiality« denotes the physical-chemical composition of things. A material entity, consequently can be defined as any entity with a physical-chemical composition, and the adjective »material« can be used to qualify all properties, events, and processes that pertain to such entities on the basis of their physical-chemical composition. The sum of these entities, materials, properties, events, and processes can then be called »the material world.« I stress that the fact that something—for example, a person, an intelligent animal, or a super-intelligent robot—is a material entity is compatible both with that entity possessing properties other than material ones—for example, intelligence—and with pro-

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cesses other than material ones befalling it, for instance, biological, informational, intelligent, mental, and social processes. Materiality pervades social life by virtue of, and mostly in the form of, arrangements of material entities. Several notes about arrangements. First, the expression »arrangement« does not imply that the material configurations it denotes have been arranged by people. Second, relations among material entities in arrangements help compose social life; examples are relations between different pieces of the production set-up at a distillery or relations between a family’s dogs and cats. But the material entities in arrangements can also bear relations to one another that do not enter social life and might be independent of it. Examples are gravitational attraction between the elements of the production set-up, and the relation of the dogs to squirrels when the dogs are out in the backyard by themselves. As this last example suggests, arrangements can also connect up with wider complexes of material entities that are not, or not always, part of social life; I will return to this idea. Third, as noted, the entities that are part of arrangements need not be relatively discrete, tangible beings. Liquids, including water; gases, including air; and land are all examples—though it is usually delimited chunks of water, air, or land that are components of arrangements, e.g., the section of a stream where a boat landing is located, beach-side currents, fishing grounds, a city’s dirty air, and a parcel of land. Now, material arrangements bear different sorts of relations to practices. To begin with, the material world helps determine how people act. Physical layouts, for instance, channel activities and practices, lest people collide with solid objects. Material things, events, and processes also induce particular activities as well as prefigure what people do. Secondly, the material world is commanded by practices. This is manifested in practices producing and using material entities, as well as setting up and changing arrangements thereof. Material entities, thirdly, localize activities and practices. All interventions in the world are carried out through performances of bodily actions; mental activities, too, are at least partly carried out through such performances. As a result, activities are spatially located at the bodies of the people whose voluntary movings constitute the performances of the actions, thus at the places where these bodily actions are performed. Practices are similarly but multiply located, namely, at all the bodies and material complexes at which their constituent actions are carried out. These locations are likely to be spread out spatially and temporally, thereby giving concrete meaning to the familiar idea of the spatial-temporal extension of practices. The locatedness at bodies of bodily and intentional actions also specifies the spatial trajectory of individual people’s actions, which is an important aspect of their life trajectories (cf. Hägerstrand’s [1975] time-geography). Arrangements also open social life to physical, chemical, and biological events and processes that can invade, pass through, or suffuse social life, thereby insti-

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tuting what Bruno Latour calls »matters of concern«. Examples are infection, pestilence, and contamination; bodily wear and tear; deterioration and decay of, or damage to, foodstuffs, technologies, and built environments; equipment breakdowns; thermodynamic f lows; centrifugal forces as undergone on roller coaster rides or banked high-speed turns; and so on. Light, air, and weather, moreover, are components or states of the material world that suffuse social life, enveloping and permeating bundles and thereby becoming an inescapable social concern. Finally, many of the material connections that link the arrangements of different bundles are also part of social life. Examples are roads, doorways, electricity lines, sewer systems, expanses of concrete, ridge lines, ocean currents, and satellite communications networks. The connections can be artifactual or natural. As noted, social phenomena are aspects of, slices of, or are rooted in, bundles of practices and arrangements. At the same time, social phenomena exist in an ecology that is broader than the practice plenum alone. Two sorts of entities help compose this broader ecology. Firstly, material entities that lie beyond—though they might connect to—the plenum; and secondly, some of what composes the phenomena that make up the material arrangements that belong to bundles. With caveats, moreover, it is useful to characterize entities of these two sorts as natural or artifactual. Both artifacts and things of nature lie beyond the practice plenum. The things of nature involved can be described as »broader« nature. Examples are tubular life in continental rift zones, geological strata beneath the surface of the earth, grizzly bears in the British Columbian wild, earthquakes, and La Niña. The artifacts I have in mind are ones that have decayed or been abandoned or forgotten, and become deteris. Such entities were once part of the practice plenum but have fallen away from it, even though they can lie about or endure for decades or millennia. Examples are sunken ships, forgotten ruins in forests, older cities buried under present-day ones, and remnants of past material infrastructures encased or lying around in present-day built environments. The reason I say that artifacts and things of nature that lie beyond the practice plenum are part of the ecology of social life is that it is always possible for such entities to suddenly bear on social life in some way. Furthermore, the entities that make up the arrangements that are part of the practice plenum have physical-chemical compositions. These compositions can be artifactual, as when people manufacture the materials that go into something, for example, a cell phone. Some of what composes any entity, however, is natural. And the natural phenomena involved can be dubbed »inner« nature. Examples are the physical-chemical compositions of mesas, the basic anatomical structures of humans and other organisms, and chemical bonds among the ingredients of bourbon or among the materials that compose the glass, wires, and liquid crystal display that make up cell phone screens.

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The ecology of social life thus includes broader nature and forsaken or decayed artifacts on the one hand, and inner nature on the other. But it has one more component, namely, life trajectories. Human activities are at once parts of individual lives and components of social practices. As a result, the life trajectory of a person episodically coincides with different practice-arrangement bundles. At the same time, individual life trajectories proceed on the background of bundles, dependent on bundles, and through bundles. It follows that life trajectories and bundles are distinct phenomena. They, together with broader and inner nature, forsaken and decaying artifacts, and the practice plenum, form the ecology of society. Comprehending particular social phenomena always requires grasping the practice-arrangement bundles of which they are aspects or slices. But it often also requires attending to life trajectories that pass through these bundles, and it is at their own peril that investigators (and others) forget forsaken artifacts or entities of broader or inner nature.

Social Dynamics The material needed to discuss social change has now been accumulated. Social phenomena consist of aspects and slices of bundled practices and arrangements. Accordingly, social changes, that is, changes in social phenomena, are configurations of changes in such bundles. As discussed, moreover, changes, generally speaking, arise from events and processes. Social changes, consequently, must arise from events and processes that befall or bear on practice-arrangement bundles. I claim that there are two general sorts of event/process that dynamize bundles and bear responsibility for changes in them: chains of activity, and material (and other) events and processes. A chain of actions is a series of actions, each member of which reacts to the prior action in the chain, or to a change in the world that that prior action brought about. Alternative conceptions of such chains are found in Tarde, Abbott, and Latour, among others. In acting, people usually extend chains of action, even though they are often unaware that this is occurring: they are focused on whatever they react to and usually ignorant of the activities and other events or states of affairs that make up the chains that eventuated in this. In simply going about one’s business over the course of a day, one extends a myriad of action chains, which thereby pass through one’s life. Activity chains also circulate in individual bundles and cross multiple ones. Activity chains have a number of significant features, only some of which I will mention, and only in passing. They contain causality of two sorts: people intervening in and altering the world, and features of the world inducing people to act. As a result, chains of activity amount to causal threads in social life. Chains

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also form loops, or rather, spirals. Spirals are important because they can effectuate feedback and thereby facilitate strong (unintentional) directional changes of kinds today discussed under the rubric »nonlinear dynamics«. Chains, in addition, hang together and form nexuses, thereby becoming responsible for hosts of connected changes in one or more bundles. Chains of action are also informed and shaped by the bundles through which they pass. And each additional activity in a chain inf lects that chain, either considerably, somewhat, or infinitesimally. Finally, there are a number of prominent types or subtypes of chains, including interaction, dialogue, exchange, and governance. Another important type embraces a vast dominion of haphazard and undirected chains. Such chains typically occur when people respond to changes in the world that others have brought about, utterly ignorant of the others involved, even that what they are responding to is an effect of some person’s or persons’ actions. People endlessly react to features of the world that others are responsible for and therewith unwittingly extend action chains; they also unwittingly initiate chains. It is haphazard or circumstantial which lives such chains connect, and participants have no specific knowledge of the other participants and maybe also no ink­ling that their lives are interconnected. Social life is full of such chains. These chains are often trivial and irrelevant to the emerging state of the world; they can, however, under the right circumstances, contribute to significant changes. I also want to mention, though I cannot here develop the idea in the detail it demands, that, although social changes arise from nexuses of activity chains, activities of specific individuals are responsible for social change only under particular conditions. These conditions are twofold: firstly, activities of specific individuals setting significantly different headings for chains of action of which they are components—what they do significantly diverging from existing precedents, regularities, and patterns—and secondly, significant differences in social life resulting. Since whether significant differences result partly depends on how others react to individuals’ activities, whether an individual significantly contributes to change depends on the reactions of others. The extent to which all of this occurs is an empirical question. I should add that material things, events, and processes can be crucial components of and supports for chains of action. Material properties and movements of the human body, for example, are essential to the performance of bodily activities. They thereby underlie the performance of actions and, as a result, the occurrence of chains. Material entities, moreover, mediate chains in multiple ways. Sometimes, as noted, changes in the material world, brought about by activity, are that to which subsequent activities react. An example is students reacting to something the teacher writes on the board. Whenever this occurs, a material object, event, process, or state of affairs helps form a chain of actions. Similarly, material and other events and processes themselves regularly mediate chains by inducing

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people to act: lava f lows, infestations, and equipment breakdowns accomplish this, as do beautiful sunny days, the antics of pets, and signals that pieces of equipment have completed tasks. Material and biological arrangements also often subtend the f low of information through which people learn about actions and states of affairs to which they subsequently react. As some of these examples suggest, the other general sort of cause of social change is material events and processes. The events and processes involved can be captured or manufactured in bundles or impact or intrude into bundles from outside them. As just mentioned, material events and processes such as lava f lows, infestations, and equipment breakdowns can induce activities. Material events and processes can also directly bring about differences—and changes—in material entities, and in arrangements and connections between arrangements of such entities. Think, for instance of how electricity, electronic transmissions, fire, alcohol, decay, f lows of rivers, microbes, wind, and heat effect changes in the material dimension of bundles. Indeed, the existence of the built environment in effect amounts, at least in part, to an effort by humans to capture, transform, create, counteract, link, and utilize material events and processes. By inducing activity and directly effecting material arrangements, material events and processes can lead to social changes. Such events and processes add endless additional causal relations and processes to the causal threads of activity chains. Material spaces, too, make significant differences to social life. Here are some examples from the formation of associations through digital media. The propinquity of their members in material space enables associations that are initially formed over electronic digital media to subsequently incorporate face-to-face interactions among physically co-present people. The introduction of such interactions can palpably change the character of the associations: for instance, it can abet the development of deeper emotional ties, or of a greater capacity to act collectively. Another example is the power of material spaces to underwrite and be incorporated into mass location-based games such as, originally, Dodgeball or, more recently, Pokémon Go. Such spaces underwrite new game practices and the formation of associations of a novel sort that Howard Rheingold (2002) calls »smart mobs«. A final example is material spaces effecting new ways of encountering, relating to, and associating with other people through hand-held displays that use locative software to show the physical locations of people and places. To sum up this discussion of the material dimension of society and its contribution to social change: the relation between material entities and social entities is quite variegated. The notions of substratum and ground are often used to capture how the material world underlies and supports society. At the same time, the material world permeates, forms, suffuses, anchors, and localizes social phenomena, and is encountered, coped with, as well as constructed in them.

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Explaining social change The final topic to be discussed is the explanation of social change. All explanations are causal explanations. This claim is cogent, however, only if the concept of a cause is construed expansively à la Aristotle’s doctrine of the four causes. I am partial, moreover, to Heidegger’s (1977) interpretation of this doctrine: the cause of something is what is responsible for it. On this line of thinking, explanations of social changes describe what is responsible for them, hence the nexuses of activity chains and material events and processes that give rise to them. It follows that all explanations of social changes are historical, though they need not be narrative. Note that although (1) practices are carried on through people’s activities and (2) chains of action are centrally composed of such activities, it does not follow that explanations of changes in bundles—and thus in social phenomena—must include explanations of individual activities. Explanations of activity are part of explanations of social changes only when individual people make noteworthy contributions to social changes. In the book, I analyze and give examples of explanations of both simpler and more complex social phenomena. I want here to emphasize two general points. The first is that the causal nexuses that give rise to social changes are multiply contingent, where by »contingent« I mean happenstance—that is, just happening to occur or to be the case. The prolongation of activity chains is highly contingent. So, too, is how different chains, and how chains on the one hand and material events and processes on the other, connect to form the causal nexuses that are responsible for social changes. The multiple contingency of the causal nexuses that ply social life has various implications, including that it is very hard to draw on generalizations, for instance, laws or mechanisms, to explain change. The second point concerns complexity. Complex social changes, like changes in complex social phenomena (say, a popular revolution or the decline of the world economy consequent on an international trade war), embrace very large numbers of changes in practice-arrangement bundles. As a result, they are brought about by very complicated causal arrays, that is, by multitudes of nexuses of activity chains and material events/processes. This situation raises a familiar issue, namely, of how social research can deal with the complexity of social affairs. As noted, the familiar stratagem of applying generalities is undercut by the multiple contingency of social affairs. The more recent stratagem of constructing simulations runs aground on the inability of models to accommodate the variability of human psyches and practices. Explaining complex social changes is instead a matter of giving overviews of the complex, multiply contingent multitudes of nexuses that give rise to them. An overview conveys the gist and significant, salient, or essential features of a field of entities, for instance, the multitude of interconnected nexuses of chains and ma-

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terial processes that give rise to complex social changes. The idea is Wittgenstein’s, who derived it from Goethe. Wittgenstein (1957: 122) wrote that »[an overview] produces precisely that sort of understanding which consists in ›seeing connections‹ [›den Zusammenhang sehen‹]«. In the social disciplines, overviews produce that sort of understanding which consists in seeing connections among—that is, seeing the overall context (Zusammenhang) formed by—the myriad activities, events, and processes that lead to changes of interest. There is much that should but cannot here be said about overviews. For instance, about the essential role that judgment plays in constructing them; the types of concepts that are useful in providing them; and the roles that narratives, descriptions of individual events, generalizations, graphical techniques, and statistics can play in them. I have been arguing that social changes arise from nexuses of activity chains and material (and other) events and processes. Social theorists, however, have attributed social changes to all sorts of other phenomena. Besides individual behavior, four prominent such phenomena are dependence, coevolution, power, and relations. In the book, I argue that nexuses of chains and material processes account for whatever responsibility such matters are held to bear vis-à-vis social change. Chains and material processes, not these phenomena, are what actually dynamize bundles and lead to change. To illustrate, consider the notion of dependence. One bundle depends on a second one when the world is such that the first can obtain something it needs only from the second. Gaming practices, for instance, require gaming software and appropriate hardware. These are obtained from stores, online distributors, and friends. Gaming bundles, consequently, depend on the practices and bundles that make up stores, online distributors, and friends’ activity (more precisely, they depend on these practices and bundles or others— for example, those of stealing or piracy). However, it is by virtue of materially-mediated chains of action that link the practices of stores, distributors, and friends to gamers and to gaming practices, that the requisite software and hardware can and actually do make their way to gaming. Hence, the dependence of gaming practices on these other practices can only arise from the fact that the sole possible, or better, feasible chains of action through which software and hardware can be obtained, link gaming practices to these others. In fact, the dependence of gaming practices on these other practices is nothing but this situation. Dependence, accordingly, is not itself responsible for anything in social life. To speak of dependence is just to point toward certain facts about nexuses of activity chains and material events/processes. As a result, whatever difference dependence is claimed to make to social life amounts simply to the effects of a bunch of facts about materially-mediated chains of action such as the ones I described. Parallel or similar remarks apply to coevolution, power, and relations.

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To this point, the present essay has been almost entirely abstract. To conclude, therefore, I wish to present an extended example of explaining social changes through the provision of overviews of multitudinous interconnected nexuses of activity chain and material (and other) events and processes. The change to be explained is the coalescence of Swedish indie music fandom in the late 1990s and 2000s. This example is the second of three cases discussed in the book of the formation and evolution of associations through contemporary digital media. The first case is the formation and evolution of the WELL in the 1980s. The WELL is of interest because it began as an innovative online discussion forum and quickly became the first virtual community. The third case is the mercurial rise and fall of the association of players of Pokémon Go, which exploded upon the world of popular-material culture in the summer of 2016. The consolidation of Swedish indie fandom took place during the time of what Lee Rainie and Barry Wellman (2012) call the »triple revolution« in social connectedness. The three revolutions are: (1) the emergence in the early 1990s of the World Wide Web, that is, of interconnected hypertext sites supported by a world-wide network of computer networks (the Internet); (2) the advent in the early 2000s of mass communication through hand-held computers called mobile phones; and (3) the emergence in the late 1990s (in the form of SixDegrees.com) of true social networks, that is, of networks that allow people to choose their connections and networks and that enable personal and mass communication alike. Incidentally, the case of Swedish indie fandom is interesting not just because the fandom coalesced through digital media. If anything, it is of interest even more because the association the fandom formed was neither a community nor a group, these being the two most prevalent conceptions of associations in contemporary social thought. This is also true of the third digitally-mediated association discussed in the book, namely, that composed of players of the stunningly popular massive player locative game Pokémon Go. In the late 1990s, promoters, fans, and creators of Swedish indie music constructed and patronized arrays of websites, discussion boards, and soon thereafter video- and photo-sharing sites etc., through both phones and computers. Fans constructed sites dedicated to particular bands, promoters built sites that covered or sold their commercial interests, and bands set up sites to promote and sell their music. The glut of sites that resulted formed a metamorphosing mosaic with no central organizing instance. This situation differed dramatically from that obtained on the WELL, the first case discussed in the book. The WELL was a single online location with multiple »meeting rooms« where people could go to interact according to their interests and inclinations. Hypertext and the World Wide Web exploded this organizational form firstly by allowing people (including bands, fans, labels, and retailers) to create their own places, and secondly by supporting links among places, thereby creating a connected mosaic of independent places

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across which individuals and groups could range in expression, enjoyment, and pursuit of their desires and interests. Fans did not come together at a single site but were dispersed across them. Nor did they interact much with each other; the only groups they formed centered on shared interests in this or that band. Instead, shifting combinations of fans patronized changing combinations of often multiplying sites, largely on their own. The fact that indie music encompassed multiple genres only further contributed to the fragmentation. As did the fact that different Swedish cities—Stockholm, Gothenburg, Malmö, Umeå—had their own independent music worlds (in Becker’s 2008 sense). Something else that joined fans and helped them eventually coalesce into a fandom was that the practices they carried on through their cell phones and computers were extensions of fan practices that pre-dated the widespread use of these devices. Examples of earlier fan practices include attending concerts, forming fan clubs, reading and collecting magazines, and accumulating paraphernalia, not to mention listening to recordings. When people began increasingly to access websites through computers and cell phones, these practices evolved and were supplemented by additional ones. Tips and shared opinions about songs became shared downloads and links; concert-going was supplemented by the watching of videos; listening to recordings became listening to downloads; and discussions among friends morphed into discussions on bulletin-boards, postings on blogs, or messaging, »liking«, and interaction on social media. A material infrastructure of servers, computers, and phones was decisive in enabling the fandom to form. Prior to the coming together of this infrastructure, musicians and fans were somewhat isolated where they lived. Indie music got little airtime on national media, and the recordings of particular bands were sold in the towns where they were recorded. It was not until the World Wide Web appeared that people could access and listen to music that was being played elsewhere. Because, however, the relevant sites were many, people remained scattered. Islands formed online, centered on particular websites, especially those connected with particular bands; members and representatives of bands, labels, and retailers were enthusiastic participants in such islands. The nexuses of chains, events, and processes that pervaded the practices fans carried on were disassociated and separate. Their practices also did not include much communication. Chains of action linked fans with bands and merchants but not with one another: these chains thereby contributed to the evolution of bundles but not to their convergence or merger. The situation changed when the popularity of blogs led people of all sorts who had been members of islands to begin interacting with one another. Communication chains passing through blogs linked island bundles, and they began to converge and coevolve. This development quickened with the meteoric rise of social networks. Nexuses of activities, events, and processes passing through social net-

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work bundles came to link people and groups who had previously been associated with different sites, thereby further breaking down the islands. The different clusters of fans began to link, shuff le, and merge, and websites of more comprehensive scope were founded. People learned about new sites, new bands, and new music through social networks and sites of broader scope. As in the WELL, social networking also allowed relations to develop between individual fans; a fuller set of communication practices become part of the constellations of bundles that composed the now coalescing fandom. After 2008, the constellation further evolved with the introduction of loca­ tive software, which allowed fans to converge on and meet at material places, including venues where live music was played. This development deepened the interactive dimension of the fandom. But the fandom still did not form a community. Different combinations of people still patronized different combinations of sites, in ways still ref lective of geographical location. Fans might bump into each other more often in particular cities, know of more people elsewhere who were into indie music, and know much more about the overall scene. But fans generally felt no great emotion attachment to this large complex of bundles. They might be emotionally attached to particular songs and bands, but the overall constellation simply supported and was the broader site of their interests and tastes in music. They did not share much in the way of a common identity. In other words, their existence in the fandom constellation did not merge with the remainder of their lives in the way that, for example, the WELL became part of its users’ lives. For this reason, I think that the fandom was some sort of loose voluntary teleological association: a common interest in music oriented the bundles involved and drove fans to take advantage of the new software-based possibilities available. Baym (2007) calls the fandom constellation a case of »networked collectivism«. She thereby plays off Wellman’s (2001) idea of networked individualism: the idea that social structure in the digital age is increasingly a matter of individuals building overlapping personal networks. What Baym means is that the coalescence of Swedish indie fandom involved individuals, not alone, but together, building up networks of sites and fans. What she describes is the gradual coalescence of a large, loose voluntary teleological organization. In sum, Social Change in a Material World analyzes social change through an account of the plenum of practice. This analysis holds that (1) chains of human activity and (2) material events and processes are the chief dynamos driving change: nexuses of activity chains and material occurrences are responsible for social changes. The book thus joins a familiar social theoretical stress on human activity with an uncustomary emphasis on the roles that the material world plays in the determination and explanation of change. The book contends, further, that the contingency of social changes argues against relying on generalities in explaining them and for the construction of explanatory overviews. And although I have not

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developed the idea here, the analysis also explores what types of space are needed in order to understand contemporary social life, disputing the fruitfulness in this context of the concepts of digital or topological space. In propounding these theses, my intention is at once to solidify practice theory’s claim to be a propitious ontology, and to expand its reach through an analysis of the determination and explanation of something that interests many investigators, namely, social change.

References Abbott, Andrew (2016): Processual Sociology, Chicago: University of Chicago Press. Baym, Nancy K. (2007): »The new shape of online community: The example of Swedish independent music fandom«, in: First Monday 12 (8), Available at http://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/rt/printerFriendly/1978/1853 Becker, Howard S. (2008 [1982]): Art Worlds (Updated and expanded edition), Berkeley: University of California Press. Hägerstrand, Torsten (1975): »Space, Time, and Human Conditions«, in: Karlqvist, Anders/Lundqvist, Lars/Snickars, Folke (eds.), In Dynamic Allocation of Urban Space, Lexington, MA: Lexington Books, pp 3-14. Heidegger, Martin (1977): »The Question Concerning Technology«, in: The Question Concerning Technology and Other Essays, Translated by William Lovitt, New York: Harper, pp 3-35. Hernes, Tor (2014): A Process Theory of Organization, Oxford: Oxford University Press. Mead, George H. (1929): »The Nature of the Past«, in: Mead, George H., Essays in Honor of John Dewey, New York: Henry Holt & Co, pp 235-42. Rainie, Lee/Wellman, Barry (2012): Networked. The New Social Operating System, Cambridge, MA: MIT Press. Rescher, Nicholas (2000): Process Philosophy. A Survey of Basic Issue, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press. Rheingold, Howard (2002): Smart Mobs. The Next Social Revolution, New York: Basic. Schatzki, Theodore R. (2002): The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park: Pennsylvania State University Press. Wellman, Barry (2001): »Physical place and cyber-place: The rise of networked Individualism«, in: International Journal for Urban and Regional Research 25: pp 227-52. Wittgenstein, Ludwig (1957): Philosophical Investigations. Third edition. Translated by G.E.M. Anscombe, New York: Macmillan.

The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte Benedikt Schmid, Jens Reda, Lars Kraehnke und Raphael Schwegmann

Zur Relevanz einer praktikentheoretischen Erschließung von Raumkonzepten »Practices are inherently spatial phenomena. […] The social practices that make spaces themselves are and have spaces.« (Schatzki 2015: 1) Aus diesem Zitat Schatzkis wird unmittelbar deutlich, dass soziale Praktiken immer auch eine räumliche Dimension aufweisen. Das Argument schließt dabei implizit an Raumverständnisse von Theoretiker*innen wie Massey (2005) oder Lefebvre (1991 [1974]) an, die Raum als konstitutives Element des Sozialen beschreiben und diesen dabei als Bedingung wie auch als Effekt des Sozialen fassen. Praktiken und Raum stehen somit in einem konstitutiven Wechselverhältnis zueinander (Everts/Lahr-Kurten/ Watson 2011; Schatzki 2003, 2015). Gleichwohl liegen bislang nur wenige systematische Auseinandersetzungen mit den räumlichen Dimensionen sozialer Praktiken vor. Eine eingehendere Beschäftigung mit diesen bietet die Möglichkeit, die Hervorbringung komplexer sozialer Beziehungsgefüge in ihren konkreten materiellen Bedingtheiten zu fassen, ohne dabei den konstruktiven Charakter des Raumes aus den Augen zu verlieren. Aus praktikentheoretischer Perspektive können somit gleichermaßen die Konstitutionsmechanismen wie auch -bedingungen sozialräumlicher Beziehungsgefüge in den Fokus gerückt und auf der Ebene sozialer Praktiken adressiert werden. In diesem Zusammenhang zeigt dieser Beitrag Möglichkeiten auf, wie die vielfältigen räumlichen Dimensionen sozialer Praktiken konzeptionell gerahmt und analytisch zugänglich gemacht werden können. Dabei orientieren wir uns wie Jessop, Brenner und Jones (2008) sowie Belina (2013) an folgenden Raumkonzepten: place, network, scale und territory. Die selektive Auswahl dieser vier Raumkonzepte lässt sich zum einen mit ihrer andauernden Popularität in der sozialwissenschaftlichen Debatte um die räumlichen Dimensionen sozialer Praxis begründen (u.a. Dicken et al. 2001; Paasi 2004; Sheppard 2002). Zum anderen verkörpern sie je eigenlogische Perspektiven auf die Art und Weise, in der Raum

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in sozialer Praxis hervorgebracht wird, und bilden damit wertvolle Anknüpfungspunkte für eine empirisch fundierte praktikentheoretische Sozialforschung. In Rückgriff auf Jessop, Brenner und Jones (2008: 393) lassen sich die unterschiedlichen sozialräumlichen Strukturationsprinzipien, die sich durch die genannten Raumkonzepte ausdrücken, schematisch darstellen. Place operiert vorranging mit und durch Nähe, embeddedness und örtliche Differenzierung. Networks konstituieren sich über Interdependenzen und Konnektivität, während scale auf Hierarchisierungen und vertikale Differenzierungen verweist. Territory manifestiert sich entlang von Grenzziehungen, Parzellierungen, Ein- und Ausschlüssen. Place, network, scale und territory entstehen folglich in und durch je unterschiedliche Dynamiken sozialräumlicher Beziehungsgefüge. Theorien sozialer Praktiken ermöglichen eine Erschließung dieser Dynamiken, ohne einseitig auf strukturierende oder strukturierte Momente der jeweiligen Form der Raumproduktion zu fokussieren, und rücken dabei die performativen und materiellen Aspekte von Raumproduktionen gleichermaßen in das analytische Blickfeld. Beide Aspekte, Materialität und Performanz, stellen grundlegende Abgrenzungsmerkmale praktikentheoretischer Ansätze dar – ersteres insbesondere zum Textualismus und Mentalismus, letzteres zum Strukturalismus (Hillebrandt 2016; Nicolini 2013; Reckwitz 2003). Zusammengenommen als Materialisierung, gewissermaßen als prozesshafte Materialität, geben sie weiteren Aufschluss über den Zusammenhang von Raum, Zeit und Praxis. Praktiken stabilisieren sich durch ihre »materiale Verankerung in den mit inkorporierte[m] Wissen ausgestatteten Körpern, die – in der Dauer ihrer physischen Existenz – praxiskompetent sind, und in den Artefakten, in denen sich – deren Haltbarkeit und Erneuerbarkeit vorausgesetzt – Praktiken über Zeit und Raum hinweg verankern lassen« (Reckwitz 2003: 291). Praktiken finden also nie voraussetzungslos statt, sondern sind durch vorangegangene Praxis bereits in Körper und Artefakte eingeschrieben. Ihre räumliche Verankerung ist dabei auch Ausdruck der Geschichtlichkeit von sozialer Praxis, wie bereits Marx (1972 [1852]: 115) feststellt: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« In diesem Sinne stellt die kritisch-materialistische Theoriebildung auch für eine praktikentheoretische Betrachtung des Zusammenhangs von Raum, Zeit und sozialer Praxis einen wichtigen Bezugspunkt dar. Insbesondere Henri Lefebvre und David Harvey legten in den 1970er Jahren und darüber hinaus wichtige Beiträge vor, um den historischen Materialismus zum historisch-geographischen Materialismus weiterzuentwickeln (vgl. Lefebvre 1991 [1974]; Harvey 1982; siehe auch Wiegand 2016). Lefebvres viel zitiertes Postulat – (sozialer) Raum ist ein (soziales) Produkt (Lefebvre 1991 [1974]: 26) – fasst die Räumlichkeit sozialer Praxis pointiert zusammen. Für Belina (2013: 78) folgt da­raus, dass »wir diese Welt als Produkt sozialer Verhältnisse begreifen [sollten],

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deren Produktion und Aneignung in sozialer Praxis stattfindet, die […] immer auch irgendwie räumliche Praxis ist«. Während ein historisch-materialistischer Ansatz somit wichtige Impulse für die soziale Hervorbringung und Aneignung von Raum liefert, bedürfen diese aus praktikentheoretischer Perspektive in mindestens dreierlei Hinsicht einer weiteren Ref lexion. Erstens müssen Raum und Zeit mittels sozialer Praxis zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zweitens muss der einseitige Fokus historisch-materialistischer Perspektiven auf die Reproduktion sozialer Verhältnisse um die Perspektive auf Verschiebungen und Brüche von Routinen ergänzt werden. Drittens heben praktikentheoretische Ansätze auf eine tiefergehende Konzeption von sozialer Praxis ab. Zu erstens: In Bezug auf Harvey und Lefebvre merkt Schatzki an, dass beide an Konzeptionen von Raum und Zeit als getrennte Phänomene ohne inhärente Verbindung festhielten (Schatzki 2010a: 10). Das Zutreffen dieser stark verallgemeinernden Aussage dahingestellt, betont Schatzki indes, dass Raum und Zeit »inherently related constitutive dimensions of actions« (ebd.: xi) sind. Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Praktiken können also nur analytisch trennbare Kategorien sein. Im Praxisvollzug bedingen sie sich gegenseitig, wie oben anhand des Begriffs »Materialisierung« dargelegt: Praktiken und ihre größeren Zusammenhänge sind immer in ihrer geschichtlichen Gewordenheit zu begreifen, die gleichzeitig nicht ohne räumliche Verankerung in Körpern und Artefakten auskommt. Schatzki spricht hierbei auch von place-path arrays – mit denen er auf die Überschneidung von zeitlichen und räumlichen Momenten von Praktikenzusammenhängen verweist (Schatzki 2010a, 2015). Zu zweitens: Praktikentheorien unterscheiden sich von akteurszentrierten sowie von strukturalistischen Ansätzen darin, dass sie nicht vorab festlegen, aus welchen »Struktureigenschaften oder Handlungsintentionen« (Hillebrandt 2016: 73) soziale Phänomene hervorgehen. Während bei kritisch-materialistischen Ansätzen zwar die soziale Produktion von Raum (und Zeit) prominent Beachtung findet, ist es oft ein strukturalistischer Überschuss, der im Vordergrund steht. Die prozessuale Entfaltung des Sozialen wird somit vorranging als Routine gefasst, z.B. durch Bourdieus Konzept des Habitus, und läuft Gefahr, der sozialen Welt a priori eine Stabilität zu unterstellen (Schäfer 2016). Theorien sozialer Praktiken dagegen enthalten »keine Vorannahmen darüber, ob ein gegebenes Phänomen stabil ist, sondern beleuchte[n] die Dauer, Stabilität und Ausdehnung spezifischer Praktiken, die konkreten Mechanismen, von denen ihre Wiederholung abhängig ist, sowie die möglichen Verschiebungen oder Zusammenbrüche ihrer Wiederholungen« (ebd.: 142). Zu drittens: Um den praktikentheoretischen Bezug zu schärfen, bedarf es damit einer tieferen Konzeption des Verhältnisses von sozialer Praxis und Praktiken. »Praxis ist der körperliche Vollzug sozialer Phänomene. Praktiken sind bestimmbare Formen dieses Vollzugs.« (Hirschauer 2016: 46) Während Praxis für materia-

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listische Theorien oft unbestimmt bleibt und sich auf die Gesamtheit dessen, »was Menschen in und als Teil von Gesellschaft tun« (Belina 2013: 13), bezieht, bemühen sich praktikentheoretische Ansätze, dieses Tun genauer zu fassen. So typisiert bspw. Schatzki Praktiken entlang von vier Dimensionen – practical understandings, rules, teleoaf fective structures und general understandings (u.a. Schatzki 2002: 70ff.; siehe auch Beitrag »Vom Wissen über das Tun« in diesem Band). In dieser Art und Weise differenzieren Theorien sozialer Praktiken die sehr allgemeine Aussage, (soziale) Raum-Zeit ginge aus (sozialer) Praxis hervor, weiter aus und betrachten die Praktiken(-zusammenhänge), durch deren Vollzug Raum, Zeit und Praxis aktualisiert werden. Vor diesem Hintergrund beziehen wir uns im Folgenden v.a. auf die praktikentheoretischen Überlegungen Schatzkis. Dieser stellt fest, dass Raum und Zeit mit und durch Praktiken inhärent verwoben sind (Schatzki 2010a). Sie stellen durch Aktivität konstituierte Dimensionen von Praktiken dar: »[T]he happening of action is the opening – or coming to be – of these dimensions: the opening of timespace.« (Ebd.: xi) Aus der Vielzahl der unterschiedlichen praktikentheoretischen Ansätze erscheint uns Schatzki als geeigneter konzeptioneller Ausgangspunkt, da er in seinen Ausführungen expliziten Bezug auf den Zusammenhang aus Raum, Zeit und Praktiken nimmt. Räumlichkeit sowie auch Zeitlichkeit können somit als rahmende Konzepte verstanden werden, die in verschiedenster Weise in soziale Beziehungen und Phänomene eingebunden sind und in diesen ausgestaltet werden. Dies wird insbesondere durch das Konzept der site deutlich (Schatzki 2002, 2003), auf welches wir im weiteren Verlauf ausführlicher eingehen. Aus Platzgründen beschäftigen wir uns dabei in diesem Beitrag nicht explizit mit Zeitkonzepten, sondern adressieren das site-Konzept in seinen Beziehungen zu den vier angeführten Raumkonzepten. Wenngleich Zeitlichkeit dabei immer mitgedacht werden muss, verweisen wir für eine ausführliche Darstellung von Praktiken und Zeitlichkeit an dieser Stelle auf den entsprechenden Beitrag in diesem Buch (siehe Beitrag »Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit« in diesem Band). Die Struktur des vorliegenden Beitrags erschließt sich aus dem Verhältnis der hier vorgestellten Raumkonzepte zueinander, die in einer aufeinander auf bauenden Weise betrachtet werden sollen. Place erscheint auf Grundlage einer praktikentheoretischen Perspektive dahingehend als elementare Kategorie, als dass sie Praktiken in konkrete raumzeitliche Kontexte einbettet, gewissermaßen »verortet« (Cresswell 2004; Tuan 1974, 1977). Networks stellen Verwebungen von Praktiken unterschiedlicher Akteure dar, die ortsübergreifend angelegt sein können, dennoch aber stets räumliche Ankerpunkte aufweisen (u.a. Grabher 2009). Scales werden vor dem Hintergrund einer f lachen Ontologie durch netzwerkartige und rhizomatische Denkfiguren neu konzeptualisiert (u.a. Marston/Jones/Woodward 2005). Das Konzept territory adressiert v.a. Fragen von gesellschaftlichen Macht-

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relationen sowie damit verbundenen räumlichen Ein- und Ausschlüssen (Elden 2011; Paasi 2003; Taylor 1994). In der Diskussion der Raumkonzepte place, network, scale und territory betonen Jessop, Brenner und Jones (2008: 392f.) nicht nur die grundlegende Bedeutung dieser vier Kategorien für die Betrachtung sozialräumlicher Phänomene, sondern kritisieren zudem die konzeptionelle und methodologische Eindimensionalität, mit der diese häufig adressiert werden. Eine adäquate Auseinandersetzung mit der Komplexität und Dynamik sozialräumlicher Phänomene fordere vielmehr eine Herangehensweise, bei der einzelne Raumkonzepte lediglich als Startpunkt für eine vielschichtigere Analyse sozialräumlicher Beziehungen und ihrer Wechselwirkungen dienen können (ebd.: 394). Eine an die Überlegungen Schatzkis anschließende praktikentheoretische Perspektive auf geographische Raumkonzepte steht hingegen vor der Herausforderung, mit der Priorisierung von site gegenüber anderen räumlichen Konzepten umzugehen (Everts 2016: 51). In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, sich zunächst näher mit dem Konzept der site und dessen Verhältnis zu place, network, scale und territory auseinanderzusetzen, ehe eine praktikentheoretische Erschließung dieser Raumkonzepte erfolgt.

Site-ontologischer Ansatz Eine vertiefte praktikentheoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept der site führt Schatzki v.a. in seinem Werk »The site of the social« (2002). In diesem skizziert er verschiedene Verständnisse des site-Begriffs, die in seinem site-ontologischen Ansatz miteinander verwoben werden. In einer ersten Lesart lässt sich site zunächst als ein Ort begreifen, an dem Dinge existieren oder Aktivitäten vollzogen werden (Schatzki 2002: 64). In dieser Konnotation als Örtlichkeit oder Schauplatz verweist site auf eine konkrete Position von Dingen oder Ereignissen. Diese ist dabei nicht allein räumlich zu verstehen, sondern kann bspw. auch zeitlich gefasst werden. So lässt sich die räumliche Verortung einer Praktik über ihre Position im Raum vornehmen, während sie sich zeitlich in einem bestimmten Moment der Geschichte ereignet. In einer zweiten Lesart hebt Schatzki die Verortung von Dingen oder Ereignissen in einem wie auch immer gearteten Bezugssystem hervor (ebd.). Eine site stellt sich in dieser Perspektive als eine Art Gelände dar, auf dem sich ein konkretes Phänomen jeweils in Bezug zu einem größeren Referenzsystem konstituiert. Entsprechend ist Raum die site, auf welcher sich ein Phänomen als räumlich konstituiert, während Zeit ein Phänomen in zeitlicher Hinsicht hervorbringt (ebd.). In einer Gegenüberstellung beider Lesarten merkt Crosby (2003, o.S.) hierzu an: »The first seems to be an activity’s location, the second the location of the activity.« Weiterführend verwebt Schatzki (2002: 64f.) diese beiden Verständnisse in einer dritten Lesart, nach welcher die site eines Phänomens jener

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Bereich ist, von dem das Phänomen selbst ein Bestandteil ist. In dieser Perspektive findet also eine Kontextualisierung eines Phänomens statt, indem Elemente desselbigen zum konstitutiven Part seines Kontextes werden. Zur Veranschaulichung dieser Idee führt Schatzki (2003: 177) u.a. das Beispiel von Bankgeschäften an. Diese bestehen aus einzelnen Aktivitäten wie der Beantragung von Krediten oder den Gesprächen mit Bankmitarbeiter*innen. Doch weder sind die Geschichte des Bankwesens noch die konkrete Materialität von Bankhäusern die site dieser Bankgeschäfte. Vielmehr ist es die soziale Praktik des Bankings, in deren Kontext sich die einzelnen Aktivitäten an konkreten Orten vollziehen; gleichzeitig sind es jedoch auch diese einzelnen Aktivitäten, die die Praktik des Bankings konstituieren und diese als site hervorbringen. Eine site ist somit nach Schatzkis Verständnis weder allein sinnhafter Kontext noch konkreter Schauplatz eines Phänomens, sondern umfasst beide Dimensionen in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander, die aus einem grundlegend prozessualen Charakter gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgeht. Vor diesem Hintergrund konzeptualisiert Schatzki (2002: 123) das Soziale als Zusammenhang menschlicher Leben, die fortwährend in und durch soziale Praktiken miteinander verwoben werden. Soziale Praktiken als »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89) werden dabei durch Aktions- und Organisationskomponenten strukturiert, die in den Praktiken selbst angelegt sind (Schatzki 2002: 70ff.). Da doings und sayings kleinste Handlungen wie das Greifen eines Stiftes oder das Sprechen eines Satzes beschreiben, führt Schatzki mit Aufgaben und Projekten weitere Aktionskomponenten ein, die komplexere Zusammenhänge von doings und sayings beschreiben und v.a. der analytischen Überschaubarkeit dienen (ebd.: 73). Die Organisation von doings und sayings zu diesen sinnhaften Handlungszusammenhängen, die letztlich eine soziale Praktik konstituieren, erfolgt über vier Organisationskomponenten (ebd.: 77ff.). Zunächst ein (1) praktisches Verständnis (practical under­ standing), das sich auf das Wissen bezieht, wie etwas zu tun oder eine Praktik zu verstehen ist. Know-how ist somit nicht als eine Eigenschaft individueller Personen zu verstehen, sondern als inhärenter Bestandteil einer Praktik. Dazu kommen (2) Regeln (rules) als mehr oder weniger explizite Anleitungen für den erfolgreichen Vollzug einer Praktik. Hierunter können Gesetze als formalisierte Regelwerke fallen, aber auch weniger formalisierte Anleitungen wie Rezepte. Zudem organisieren (3) teleoaffektive Strukturen (teleoaf fective structures) den Zweck einer Praktik sowie dafür angemessene Emotionen und Gefühlslagen. Mit dem (4) grundlegenden Verständnis (general understanding) führt Schatzki eine Dimension ein, die auf praktikenübergreifende Werte und Normvorstellungen abzielt und durch die Praktiken in größere, wiederum durch soziale Praktiken hervorgebrachte Wissensordnungen eingebunden werden, bspw. Religionsgemeinschaf-

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ten oder politische Gruppen. Diese Organisationskomponente wird in jüngeren Veröffentlichungen jedoch nicht mehr berücksichtigt. Soziale Praktiken haben neben diesen Aktions- und Organisationskomponenten immer auch eine materielle Dimension, die Schatzki (2002: 21ff.; 2010b: 129) als relationale Anordnung von natürlichen Dingen, Artefakten, Organismen und Menschen fasst. Diese materiellen Arrangements werden performativ durch Praktiken in einen Zusammenhang gebracht und bilden gleichzeitig ihren Kontext. Praktiken und Arrangements stehen somit in einem konstitutiven Wechselverhältnis, weshalb Schatzki (u.a. 2010b: 129ff.) auch von Praktiken-Arrangement-Bündeln spricht. Eine site beschreibt nun den Ort, an dem Praktiken und Arrangements und damit auch menschliche Leben miteinander verwoben werden (Schatzki 2002: 146ff.). Wie oben bereits deutlich gemacht wurde, ist diese dabei nicht einfach nur sinnhafter Hintergrund für die wechselseitig konstitutiven Beziehungen zwischen Praktiken und Arrangements, sondern wird erst in und durch diese hervorgebracht. Praktiken und Arrangements sind somit inhärenter Bestandteil des jeweiligen sozialen Kontextes, in den sie eingebettet sind. Diese Perspektive lässt sich auch auf Räume übertragen: »Spaces […] are pre­ eminently qualified to be something where, and as part of which, events occur and entities exist.« (Schatzki 2002: 140)1 Dabei sind Räume jedoch nicht per se und zwangsläufig sites, sondern eben nur unter der oben beschriebenen Konstellation, in der sie als Kontexte sozialer Phänomene fungieren, von denen sie selbst ein inhärenter Teil sind. Entsprechend dieses Verständnisses geraten Räume in zweierlei Weise in den Fokus einer site-ontologischen Perspektive. Zunächst stellen sie Konfigurationen physisch-materieller Entitäten dar, die durch den Vollzug von Praktiken hervorgebracht werden und deren Bedeutungen sich aus den in ihnen verankerten Aktivitäten konstituieren. Schatzki (2002: 43) fasst dieses materiell verankerte Beziehungsgefüge von Aktivitäten als activity-place space – in späteren Veröffentlichungen spricht er auch von place-path array (vgl. Schatzki 2010a; 2015) – und beschreibt diesen als »matrix of places and paths were activities are performed« (2002: 43). Ein place ist hierbei der konkrete Ort, an dem eine Aktivität vollzogen wird, während ein path die Verbindung zwischen zwei places beschreibt (ebd.). So ist bspw. ein Beratungsgespräch mit Bankmitarbeiter*innen materiell verankert in einem Büroraum, während die Tür zu diesem Büro die Verbindung zwischen dem Beratungsgespräch und dem Warten auf selbiges darstellt. Der Zusammenhang dieser Aktivitäten in ihren materiellen Verankerungen konstituiert den Raum für eine Praktik des Bankings, in deren Kontext sich die jeweiligen Aktivitäten vollziehen und die materiellen Entitäten ihre Bedeutungen erhalten. 1 Im Kontext dieser Aussage weist Schatzki darauf hin, dass viele site-Ontologien, so auch seine Konzeption, von Heideggers »Sein und Zeit« inspiriert wurden. Für eine ausführliche Diskussion von Heideggers Raumphilosophie vgl. Schatzki (2017).

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Praktiken begründen somit auch Erfahrungsräume, in denen sich Personen sinnhaft orientieren und ein Verständnis von Welt hervorbringen (Schatzki 1996: 111f.). Diese Intelligibilität der sozialen Welt ist dabei wesentlich mit den Organisationskomponenten der jeweiligen Praktiken verbunden und muss immer wieder performativ aktualisiert werden (ebd.). So stellt bspw. die Praktik des Bankings einen sinnhaften Orientierungsrahmen für doings und sayings bereit, die es an der Praktik beteiligten Personen ermöglicht, diese als Teil einer Bankingpraktik zu erkennen und zu vollziehen. Dabei ist im Vollzug auch stets die Möglichkeit des Bedeutungswandels angelegt, z.B. wenn sich die Regelstruktur einer Praktik oder ihre Zielorientierung verändert. Praktiken konstituieren somit einen Erfahrungsraum, in dem sie selbst sinnhaft aktualisiert oder verändert werden. Aus site-ontologischer Perspektive sind soziale Beziehungen und ihre räumlichen Ausprägungen – im Folgenden place, network, scale, territory – somit nicht außerhalb von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements denkbar. Vielmehr muss site als konzeptioneller Ort gefasst werden, an und in dem die vielfältigen sozialräumlichen Beziehungen in Verwebungen konkreter Praktiken und Arrangements produziert und reproduziert werden. Das site-Konzept fungiert somit unserer Ansicht nach als eine Art »Aussichtsplattform«, von der aus es möglich ist, die vielfältigen Räumlichkeiten des Sozialen zu betrachten, und kann so in einen fruchtbaren konzeptionellen Zusammenhang mit anderen Raumkonzepten gebracht werden. Im weiteren Verlauf nehmen wir folglich eine site-ontologische Perspektive ein, um die Raumkonzepte place, scale, network und territory praktikentheoretisch zu erschließen. Die Ausführungen sind dabei als erste Annäherungen und Einstiegspunkte für eine praktikentheoretische Auseinandersetzung mit den verschiedenen sozialräumlichen Beziehungsmustern zu verstehen. Um diese leisten zu können, wird jeweils eine kurze Skizze der humangeographischen Debatten um die Konzepte place, scale, network und territory vorangestellt. Die vier Raumkonzepte werden in ihren Grundzügen umrissen, wodurch die Grundlage für ihre praktikentheoretische Betrachtung gegeben ist.

Raumkonzepte aus site-ontologischer Perspektive Place »Place lies at the center of geography’s interests.« Mit diesem Satz eröffnet Cresswell (2009: 169) seinen Artikel zum place-Begriff in der »International encyclopedia of human geography«. Er verweist damit auf den grundlegenden, den Untersuchungsgegenstand des Faches Geographie maßgeblich bestimmenden Charakter von places: »In a commonsense way geography is about places.« (Ebd.) Hier könnte

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dieser Abschnitt enden, wenn wir ihm ein umgangssprachliches, dem deutschen Ortsbegriff analoges Alltagsverständnis von places zugrunde legen würden. Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Selbstverständlich bestreiten wir nicht, dass place eine der zentralen Denkfiguren der Geographie ist. Ein place-Begriff, der einen zentralen theoretischen Bezugspunkt der Geographie bilden will, muss jedoch über einen bloßen, der Alltagssprache entnommenen Ausdruck zur Bezeichnung eines materiellen Abschnitts der Erdoberf läche hinausgehen. Im Folgenden möchten wir daher zunächst das theoretische Konzept nachzeichnen, mit dem der place-Begriff seit den 1970er Jahren von Vertreter*innen der humanistic geography hinterlegt worden ist. Anschließend werden wir diskutieren, wie der Begriff konzeptionell reformuliert werden muss, um an aktuelle praktikentheoretische Debatten anschlussfähig zu sein.

Der place-Begriff der humanistic geography Der ursprünglich der Alltagssprache entlehnte place-Begriff, wie durch das einleitende Zitat von Cresswell angedeutet, kann als einer der zentralen theoretischen Bezugspunkte der humanistic geography gelten, welche sich als Reaktion auf und Kritik an der quantitativen Revolution der 1960er Jahre im anglo-amerikanischen Sprachraum formierte. Die Vertreter*innen dieser Schule griffen dabei phänomenologische und existenzphilosophische Denktraditionen auf und folgten dem Ziel, den humanistischen Gedanken der Ganzheitlichkeit des menschlichen Wesens mit all seinen affektiv-emotionalen Selbst-Welt-Beziehungen stärker in der Geographie zu verankern (vgl. Gregory 1978; Ley/Samuels 1978; Seamon/Lundberg 2017). Diesem Grundgedanken folgend, wurde der place-Begriff in den 1970er Jahren von Tuan (1974, 1977) in einer humanistischen Lesart konzeptionell ausgearbeitet, die den Begriff bis heute entscheidend prägt. In der Folge griffen so bedeutende Geograph*innen wie Relph (1976), Buttimer (1980) und Massey (1994) den Begriff auf und entwickelten ihn im Hinblick auf das je individuelle Erkenntnisinteresse weiter. Zwar geriet die Analysekategorie place im Verlauf der 1990er Jahre aufgrund umfangreicher Kritik am Individualismus der humanistic geography zunächst wieder aus dem Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, erlebt derzeit jedoch eine Renaissance, die u.a. darauf zurückgeführt werden kann, dass Cresswell das place-Konzept einer umfassenden Aktualisierung mit ausgeprägten gesellschaftstheoretischen Bezügen unterworfen hat (vgl. Cresswell 1996, 2004, 2009, 2014). Damit verlieh er nicht nur der humanistischen Idee neues Leben, sondern eröffnete darüber hinaus die Möglichkeit, den place-Begriff von seinen individualistischen Wurzeln zu lösen und place als Ergebnis und Bedingung kollektiven Handelns konzeptionell zu fassen. Hiermit schlägt Cresswell, ohne es explizit zu formulieren, einen ersten tragenden Pfeiler ein, auf den

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sich eine Brücke zu einem praktikentheoretisch informierten place-Begriff stützen kann. Entsprechend beziehen wir uns im Folgenden v.a. auf Cresswells Lesart des place-Begriffes und klammern andere Perspektiven wie die Masseys zunächst aus der Diskussion aus. Doch wie kann der place-Begriff nun konkret verstanden werden? Während space in der humanistic geography denjenigen Raum bezeichnet, für den keine emotionale Bindung vorliegt, dem also aus Sicht der untersuchten Personen keinerlei Bedeutungszuschreibungen entgegengebracht werden (Cresswell 2004: 8ff.), bezeichnet place eine räumlich abgegrenzte Einheit innerhalb der Unendlichkeit des ansonsten bedeutungsleeren space, welche sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass sie mit Bedeutung aufgeladen und von Machtrelationen durchzogen ist (Cresswell 2006). Mendoza und Morén-Alegret weisen place-zentrierter Räumlichkeit daher eine Rolle als »key aspect of subjectivization« (2013: 763) im Prozess der Identitätsbildung zu. Wie an anderer Stelle (Kraehnke 2014: 203) ausgeführt wurde, lassen sich daran anschließend aus humanistisch-geographischer Per­ spektive vier Dimensionen place-zentrierter Räumlichkeit bestimmen, in denen emotionsbezogene Mensch-Raum-Kopplungen als Verknüpfung zwischen Menschen und ihren places hergestellt werden. Wenngleich die Dimensionen »Handelnde Kopräsenz«, »Akkumulation von Zeit und Erinnerungen«, »Praktiken der Alltagsgestaltung« sowie »Inklusions- und Exklusionsprozesse« im genannten Beitrag eher einen heuristischen Stellenwert einnehmen, sollen sie im folgenden Abschnitt beschrieben werden, um zu zeigen, dass der place-Begriff immer schon das praktische Handeln der Menschen einbezogen hat, bislang jedoch ohne dabei explizit auf praktikentheoretische Ontologien zurückzugreifen.

Vier Dimensionen place-zentrierter Räumlichkeit Emotionsbezogene Mensch-Raum-Kopplungen entstehen, indem Raum als Teil der Lebenswelt aus Relationen der Objekte zueinander entsteht. Deutschsprachige Debatten fokussierten dabei in der Vergangenheit zumeist noch auf »raumbezogene Identität auf der Ebene sozialer Systeme« (Weichhart 1990: 46ff.), weniger also auf die Ebene von konkreten Praktiken. Demgegenüber nehmen aktuellere Forschungen aus dem anglo-amerikanischen Raum stärker die individuellen und kollektiven Aktivitäten in den Blick, mittels derer place-zentrierte Räumlichkeit hervorgebracht wird (vgl. Friedmann 2010; Lew 2017). Entsprechend ergeben sich für die von Kraehnke (2015) untersuchten hochmobilen Binnenschiffer*innen Näherelationen zu ihrer Umwelt bspw. aus dem »umsichtig ›berechnenden‹ Hantieren und Gebrauchen« (Heidegger 1941: 102, Herv. i.O.). Konkret bedeutet dies, dass der Do-it-yourself-Aspekt des Bordlebens, der tägliche körperliche Umgang mit dem Schiff, für sie eine zentrale Rolle zur Herausbildung emotionaler Bin-

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dungen an diesen Ort darstellt. Erst aus der körperlichen Erfahrung von Raum heraus können sich demnach place-bezogene Zugehörigkeitsgefühle entwickeln, die in der humanistic geography als »sense of place« (Tuan 1977; Foote/Azaryahu 2009) bzw. »Topophilie« (Tuan 1974, 1977) bezeichnet werden. Als Ergebnis personell unterschiedlicher Erfahrungen (vgl. Mendoza/Morén-Alegret 2013: 763) sind individuelle und kollektive place-Konstruktionen daher auf die handelnde Kopräsenz von Mensch(-en) und Ort(-en) als zentrale Vorbedingung der Entwicklung place-zentrierter Räumlichkeit angewiesen. »How long does it take to know a place?« Mit dieser Frage verweist bereits Tuan (1977: 183) auf die Relevanz von Zeit für die Entstehung topophiler Raumbeziehungen. Obwohl Tuan einräumt, dass sich auch aus kurzen Begegnungen intensive Bindungen entwickeln können (ebd.: 198), sind es in der Praxis meist längerfristige Engagements an einem Ort, über die im Zuge langwieriger Prozesse des Kennenlernens Bedeutung vermittelt wird. So lässt sich sowohl am Beispiel von Mitgliedern der Straßenszene, wie obdachlosen Menschen oder Personen aus offenen Drogenszenen, als auch am Beispiel der bereits angeführten Binnenschiffer*innen zeigen, wie Zeit durch Erinnerungen internalisiert wird (vgl. Kraehn­ke 2014, 2015). Ihre individuelle oder kollektive Bedeutung als places schöpfen langfristig angeeignete Orte daher v.a. aus ihrer Funktion als »externalisierte Gedächtnismedien« (Assmann 2009: 21), die es ermöglichen, »ein Gedächtnis auch über Phasen kollektiven Vergessens hinweg beglaubigen und bewahren« (ebd.) zu können. Schaffung und Abruf von Erinnerungen sind demnach als aktive Prozesse zu begreifen, die praktikentheoretisch gefasst werden können. Place ist gelebter Raum. Insofern ist place-zentrierte Räumlichkeit immer auch an lebensweltliche Alltagspraktiken gebunden. Erst indem Raum aktiv genutzt wird, vollzieht sich seine Transformation vom ansonsten bedeutungslosen space zum place (Cresswell 2009: 170). Der Alltagsbezug von Praktiken ist jedoch Gegenstand eines eigenen Beitrags in diesem Band (siehe Beitrag »Gewohnheiten und Routinen« in diesem Band) und soll daher an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. So harmonisch das place-Konzept bis hierhin auch klingen mag, darf eines jedoch nicht vergessen werden: dass sich aus poststrukturalistischer Perspektive »Identitätsbildung auch auf der Ebene raumbezogener Aspekte über das Wechselspiel von Zugehörigkeit und Differenz« (Reuber 2012: 46; grundlegend dazu Said 1978) vollzieht. Auch dies lässt sich an einem Beispiel aus der Straßenszene illustrieren: Es dürfte wenig überraschen, dass sich zwischen den Szenemitgliedern einerseits und den Mitgliedern einer bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft andererseits verhältnismäßig starre Grenzen herausbilden. Diese sind jedoch nicht bis in alle Ewigkeit räumlich fixiert. Vielmehr sind sie das Ergebnis beiderseitiger, oft widerstreitender Praktiken der Raumaneignung. Überraschender mag es auf den ersten Blick erscheinen, dass sich auch innerhalb der Straßenszene verschiedene Teilszenen herausbilden, bspw. im Zusammenhang mit dem Konsum

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verschiedener Drogen. Unterschiedliche Praktiken des Drogenkonsums implizieren demnach also auch innerhalb der Szene raumbezogene Ein- und Ausschlüsse (Kraehnke 2014). Solcherlei Inklusions- und Exklusionsprozesse führen dazu, dass places als Kristallisationspunkte einer Unterscheidung zwischen denjenigen, die dazugehören (»wir«), und denjenigen, für die das nicht gilt (»die anderen«), hervorgebracht werden und als solche wirken (Cresswell 2004: 39). Durch normative Auf ladungen und das damit verbundene Handeln werden Grenzen errichtet, die definieren, was an einem Ort angemessen ist und was nicht, wer sich in-place fühlen darf und wer als out-of-place wahrgenommen wird (vgl. Cresswell 1996).

Umrisse eines praktikentheoretisch anschlussfähigen place-Begriffs In ihrer bewussten Abgrenzung zum Szientismus der 1960er Jahre markiert die humanistic geography eine Art philosophischer Wende in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Geographie, die v.a. durch existenzphilosophische und phänomenologische Denktraditionen geprägt ist (Samuels 1978; Ley/Samuels 1978; Cresswell 2004). Es verwundert daher nicht, dass der place-Begriff in hohem Maße Anleihen an Heideggers Philosophie des »In-der-Welt-Seins« (Heidegger 1941) und an lebensweltlichen Ansätzen der Situiertheit menschlicher Wahrnehmung sowie menschlichen Handelns in (materiellen und sozialen) Kontexten nimmt (Agnew 1987: 2). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vertreter*innen aktueller praktikentheoretischer Ansätze sich auf nahezu identische erkenntnistheoretische Grundlagen beziehen und in der Entwicklung ihrer konzeptionellen Zugänge ebenfalls auf die Existenzphilosophien Nietzsches und Heideggers sowie auf Wittgenstein und die leibphänomenologischen Ansätze Merleau-Pontys zurückgreifen (Schatzki 1996, 2010a; Reckwitz 2003; Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011). Aus erkenntnistheoretischer Perspektive spricht daher nichts dagegen, die praktikentheoretische Anschlussfähigkeit des place-Begriffs über das Konzept der site herzustellen. Im Gegenteil: »While the term site as such is an elusive concept and allows for a broad range of uses, it is easily associated with ›place‹ in its bounded and local senses of the term.« (Everts 2016: 51, Herv. i.O.) Diesem Vorhaben wollen wir uns in unserem letzten Schritt zuwenden. Als grundlegende Perspektive auf den place-Begriff eröffnet uns das site-Konzept dabei die Möglichkeit, place-zentrierte Räumlichkeit in ihrer sozialräumlichen Dynamik zu erfassen und Möglichkeiten der Hervorbringung sozialer Wirklichkeit im Wechselspiel von Mensch und Materialität2 zu diskutieren. Schatzkis originäres site-Konzept liefert für diese Diskussion die ideale Grundlage, da es explizit das Ziel verfolgt, den sozialräumlichen Nexus des menschlichen Zusam2 Ausführlicher zum material turn in den Sozialwissenschaften vgl. Reckwitz (2014).

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menlebens im Gewebe von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements zu begreifen (Schatzki 2002: xi). Places als konkrete Bezugspunkte emotionaler Mensch-Raum-Kopplungen sind dabei einerseits als materielle Arrangements in Praktiken-Arrangement-Bündeln eingewoben. Als Teil eines Theoriegebäudes, das ganz bewusst den Anspruch erhebt, in einem konzeptionellen Sinne die Hervorbringung von Kontexten des menschlichen Zusammenlebens zu analysieren (Everts 2016: 51), müssen sites dementsprechend als diejenigen konzeptionellen Orte gefasst werden, an denen die multiplen Verwebungen von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements kulminieren und Gesellschaft unmittelbar in konkreten places hervorbringen. Aus dieser Perspektive heraus kann gesellschaftliche Räumlichkeit jedoch andererseits auch adressiert werden, indem place-zentrierte Räumlichkeit als von Mensch und Materialität gleichermaßen und wechselseitig konstitutiv hervorgebrachter Bestandteil dieses Gewebes betrachtet wird: Places sind die empirisch erfahrbaren materialisierten Bedeutungen der konkreten Lokalisierung von sites und insofern zugleich hervorgebrachte und hervorbringende Elemente. Site als sinnhafter Wirkungszusammenhang reziproker sozialer Beziehungshervorbringung zwischen Mensch und Materialität bzw. zwischen sozialen Praktiken und den mit ihnen verwobenen sozialräumlichen Arrangements vollzieht damit den sozialen Kontext an, aber v.a. durch und in places. Aus Sicht eines ursprünglich der Sprachwissenschaft entstammenden performativen Verständnisses (Austin 1962; Searle 1974), sowohl von place-zentrierter Räumlichkeit als auch in Bezug auf site-ontologische Ansätze, zielt ein praktikentheoretisch ausgerichteter place-Begriff daher auf den unmittelbaren Vollzug von Realität in konkreten Praktiken ab, über die places in ihrer sozialen Relevanz hergestellt werden. Zugleich wird place performativ wirksam, indem er in konkreten Praktiken realisiert wird (vgl. Schwegmann 2017: 18). Praktiken und place stehen damit in einem reziproken Verhältnis gegenseitiger Konstitution, das sich kontinuierlich reproduziert: kein place ohne Praktik, keine Praktik ohne place. Im Zusammenhang mit den oben angeführten vier Dimensionen place-zentrierter Räumlichkeit können wir somit folgende Aussagen mit explizitem praktikentheoretischem Bezug treffen: Erstens vollzieht sich place-zentrierte Räumlichkeit in den performativen Praktiken der Kopräsenz von Mensch(-en) und Ort(-en), da emotionsbezogene Mensch-Raum-Kopplungen nur aus dem praktischen Umgang mit den verfügbaren (materiellen und sozialen) Arrangements entspringen können. Zweitens werden im Zuge zeit-räumlich situierter Prozesse an konkreten places bestimmte Praktiken der Akkumulation und des Bewahrens von Erinnerungen realisiert, über die individuelle und kollektive Bedeutungszuschreibungen hergestellt werden. Drittens sind die den jeweiligen place herstellenden Praktiken lebensweltlich-alltäglicher Natur, da place als gelebter Raum einer genuin aktiven, oftmals regelmäßigen Aneignung unterliegt, welche die Transformation

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vom bedeutungsleeren space zum bedeutungsvollen place gewährleistet. Viertens wird place-zentrierte Räumlichkeit durch Praktiken der In- und Exklusion vollzogen, da place einerseits in der Differenzbildung hergestellt wird und andererseits Differenzierungen place-zentrierte Räumlichkeit überhaupt erst erfahrbar werden lassen. Anders ausgedrückt: Weil menschliche Welt-Erfahrung oft durch Dualismen und Oppositionen erfolgt, definieren sich raumbezogene Identitäten durch individuelle und kollektive Grenzziehungspraktiken im Gewebe sozialer und materiell-räumlicher Arrangements. Wenngleich die hier genannten Dimensionen place-zentrierter Räumlichkeit nur exemplarischen Charakter haben, so lässt sich an dieser Stelle für die konzeptionelle Debatte dennoch zusammenfassend herausheben: Places als konkrete, empirisch erfahrbare Materialisierungen des site-Konzepts stellen im Zusammenspiel ihrer materiellen Arrangements mit den an ihnen verorteten performativen Praktiken einen genuin ortstheoretischen Zugang zur Genese gesellschaftlicher Wirklichkeit her, die sich, wie am Beispiel der Straßenszene dargestellt, mit dem praktikentheoretischen Analyseinstrument der site untersuchen und mit dem praktikentheoretischen Vokabular beschreiben lassen.

Network Netzwerke verweisen auf die Verbundenheit verschiedener Elemente – wie Individuen, Orte, Artefakte, Organisationen –, die in einer dezentralen und nicht hierarchischen Form zusammenwirken. In geographischer Hinsicht verweisen Netzwerke auf die horizontale Verbundenheit von Entitäten und die sich durch ihre Wechselwirkung aufspannenden Räume. Konnektivität, Interdependenz und transversale bzw. rhizomatische Differenzierung werden von Jessop, Brenner und Jones (2008) als zentrale sozialräumliche Strukturationsprinzipien von Netzwerken angeführt. Der Netzwerkbegriff findet dabei unterschiedlich als Metapher, theoretisches Konzept, Methode oder Verweis auf soziale Praxis Verwendung (Grabher 2009). Grundsätzlich lassen sich vier Netzwerktypen unterscheiden (Bingham 2009: 499). Erstens gibt es infrastrukturelle oder technikbasierte Netzwerke, wozu neben der Wasser- und Energieversorgung auch Entsorgungssysteme, sowie Verkehrsnetze und Kommunikationssysteme gehören. Zweitens beschreiben sie soziale Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen sowie verschiedene Formen von Gemeinschaft, bspw. Nachbarschaften, Arbeitsbeziehungen oder soziale Gruppen. Drittens lassen sich netzwerkbasierte Organisationsmodelle unterscheiden, in denen einige der Eigenschaften aus infrastrukturellen und sozialen Netzwerken zusammenf ließen. Beispiele hierfür reichen von transnationalen Unternehmen bis hin zu sozialen Bewegungen. Viertens haben sich,

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neben der Auffassung von Netzwerken als Summe der Verbindungen zwischen Knotenpunkten, Ansätze verbreitet, die Netzwerke als offene Zusammenhänge heterogener Elemente betrachten, in denen Handlungsfähigkeit aus der multiplen Verschränkung menschlicher und nicht menschlicher Aktanten resultiert (Latour 2005; Murdoch 2006). Diese Akteur-Netzwerke, die auch große Parallelen zum Konzept der Assemblage aufweisen (Müller 2015), sind besonders relevant für praktikentheoretische Perspektiven und nehmen daher in der folgenden Betrachtung eine privilegierte Stellung ein. In der geographischen Forschung findet der Netzwerkbegriff in allen oben genannten Bedeutungen Verwendung, auf die hier aus Platzgründen nur sehr selektiv und punktuell Bezug genommen werden kann. Materielle Netzwerke sind grundlegend für menschliches (Über-)Leben, bleiben als Infrastrukturen jedoch oft unsichtbar (v.a. für diejenigen, für die eine Versorgung stabil gewährleistet wird). Hier setzen bspw. politisch-geographische Betrachtungen an, die Zugang zu, Konf likte um oder die Privatisierung von Infrastrukturen kritisch untersuchen (Höhne/Naumann 2018). Soziale Netzwerke können eng mit physischen Netzwerken verbunden sein, bspw. wenn eine unzureichende öffentliche Versorgung durch Sozialbeziehungen kompensiert wird. Soziale Netzwerke sind jedoch nicht zwangsläufig ortsgebunden, sondern entfalten auch über räumliche Distanz hinweg Relevanz. So betrachtet die Migrationsforschung etwa die Relationen individueller Migrationsbewegungen mittels Netzwerkansätzen (Wehrhahn 2016). Netzwerke finden sich prominent auch in der wirtschaftsgeographischen Forschung wieder (Glückler 2010), nicht zuletzt katalysiert durch Mark Granovetters Begriff der embeddedness (Grabher 2009; Hess 2004). Hierbei nehmen Konzeptionen und Analysen der Verknüpfung kultureller und ökonomischer Momente eine wichtige Stellung ein. Globale, regionale oder informelle Netzwerke finden sich in der Konnektivität von global und world cities, in regionalen Clustern oder in der Bedeutung von face-to-face Kontakten in Finanzzentren – um nur wenige der augenscheinlichsten und meistzitierten Beispiele anzuführen. Über die Konzeption physischer, sozialer und organisationaler Netzwerke hinaus wird die Denkfigur des Netzwerks auch verwendet, um Raum selbst als relational zu begreifen (Leitner 2004; Jones 2009). Am konsequentesten wird diese Konzeption von Akteur-Netzwerk-Ansätzen verfolgt, die Räume als durch Netzwerke gemacht betrachten – »spaces are made (materialized) inside networks« (Murdoch 2006: 78, Herv. i.O.). Netzwerk kann folglich sowohl auf die Konstellation unterschiedlicher Einheiten (wie Elektrizitatswerke, Mobiltelefone, Migrant*innen oder Aktivist*innen) verweisen, die durch verschiedene Verbindungen (z.B. Stromleitungen, elektromagnetische Wellen, Hilfeleistungen, gemeinsame Strategien) miteinander in Beziehung stehen, als auch auf eine Ontologie, die auf (immer im Werden begriffene) Verbindungen multipler Entitäten basiert. Analog zur Produktion von Raum lässt sich auch in Bezug auf Netzwerke sagen: Netzwerke sind

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nicht, Netzwerke werden gemacht. In dieser Aussage finden sich Anhänger*innen des historisch-geographischen Materialismus (Belina 2013) wie auch Verfechter*innen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2005) wieder. Beide Perspektiven folgen jedoch unterschiedlichen Netzwerkbegriffen und bewerten den ontologischen Gehalt der aus Netzwerken emergierenden Räumlichkeiten unterschiedlich (Belina 2014). Diese Unterschiede bereiten eine praktikentheoretische Perspektive auf Netzwerke vor, die mit beiden Theorietraditionen grundlegende Gemeinsamkeiten teilt. Aus der Betrachtungsweise des historisch-geographischen Materialismus sind Netzwerke »zugleich Strukturen und fortdauernde Prozesse, die durch asymmetrische und sich entwickelnde Machtverhältnisse von intentionalen Akteuren und ihren Intermediären konstituiert, transformiert und reproduziert werden« (Dicken et al. 2001, zit.n. Belina 2013: 126). Netzwerke als Produkte sozialer Praxis zu begreifen, heißt die Bedingungen und Prozesse ihrer Hervorbringung zu berücksichtigen sowie die Interessen und Machtverhältnisse, die diesen zugrunde liegen. Ein Beispiel, an dem das Potenzial historisch-geographischer Perspektiven im engeren und relationaler Raumkonzepte in weiteren Sinne augenscheinlich wird, ist das Phänomen des (globalen) Marktes. Der (globale) Markt wird oft als homogene Entität und »Letztelemente« naturalisiert (Berndt/ Boeckler 2009; Ouma 2013; Gibson-Graham 2006) und damit als eine Gegebenheit vorausgesetzt, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Markt als Objekt und nicht als Prozess zu verstehen, macht jedoch die diversen lokal eingebetteten Praktiken unsichtbar, durch die globale Phänomene wie Märkte erst hervorgebracht werden. Aus relationaler Perspektive hingegen »können Märkte […] als prekäre, relationale Effekte heterogener Netzwerke menschlicher und nichtmenschlicher Elemente verstanden werden, die einer fortwährenden Stabilisierungsarbeit bedürfen« (Ouma 2013: 204). Während Netzwerke aus sozialer Praxis hervorgehen, stellen sie aus Sicht des historisch-geographischen Materialismus auch Strukturen dar, die ebendiese Praxis bedingen (Swyngedouw 2012; Belina 2013). Dies bedeutet zum einen, dass sich Netzwerke aus dem dialektischen Zusammenspiel von Prozessen sozialer Praxis und deren Materialisierung konstituieren, und zum anderen, dass Netzwerke gleichzeitig in andere Formen sozial-räumlicher Strukturierung eingebettet sind, bspw. in Territorien (Jessop/Brenner/Jones 2008). Diese wiederum gehen selbst aus der sozialen Praxis hervor, sodass sie unterschiedliche Formen der Räumlichkeit wechselseitig bedingen, stabilisieren oder transformieren. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) teilt diese prozessuale und relationale Perspektive auf soziale Phänomene, unterscheidet sich jedoch in mindestens zwei Punkten grundsätzlich vom historisch-geographischen Materialismus. Erstens stehen aus Sicht der ANT alle Entitäten »on equal ontological footing […] whether it is atoms or governments« (Müller 2015: 30). Alle Aktanten, d.h. alle agierenden

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Entitäten, sind damit zunächst gleichberechtigt bzw. gleich wichtig. Dies bedeutet auch, dass nicht a priori zwischen menschlichen und nicht menschlichen Aktanten unterschieden wird, wobei von der Fähigkeit der ersteren, Intentionen und Interessen zu verfolgen, abgesehen wird. Zweitens gibt es kein Außerhalb des Netzwerks und damit keinen sozialen, kulturellen oder historischen Kontext (ebd.). Entsprechende Faktoren sind nur als Teil des Netzwerks relevant. Die Konsequenzen dieser Ontologie der Akteur-Netzwerke gilt es im Folgenden weiter zu beleuchten, bevor im zweiten Teil des Unterkapitels ein praktikentheoretisch anschlussfähiger Netzwerkbegriff skizziert wird. Die ANT geht auf Arbeiten im Feld der Science and Technology Studies (STS) in den frühen 1980er Jahren zurück, wobei Bruno Latour, Michel Callon und John Law als wichtigste Vordenker gelten (Müller 2015; Murdoch 2006). Seit Ende der 1990er Jahre wird die ANT auch zunehmend in der – zunächst vorwiegend angloamerikanischen – Humangeographie diskutiert (u.a. Bosco 2006; Jóhannesson/Bærenholdt 2009; Murdoch 1998). Mit der ANT hat sich Netzwerk als zen­ trale ontologische Konzeption verbreitet. Akteure und ihr Handlungsvermögen gehen aus netzwerkartigen, »rhizomatischen« (Deleuze/Guattari 1992: 16; siehe auch Kuhn 2005: 63ff.) Verbindungen hervor. Für die ANT werden Akteure, Entitäten und Ressourcen erst durch die Einbindung in Netzwerke konstituiert, wobei »Netzwerk« auf die sich ständig im Wandel befindlichen Konstellationen von menschlichen und nicht menschlichen Aktanten verweist (Latour 2005). Netzwerke sind daher nicht als Dinge oder Objekte fassbar, sondern vielmehr ein »tool to help describe something« (ebd.: 131). Alle Ereignisse werden aus dieser Perspektive als Effekte relationaler Verknüpfungen zwischen Aktanten angesehen. ANT zeigt sich insofern anschlussfähig an praktikentheoretische Konzeptionen, als dass sie den grundsätzlich prozessualen und materiellen Charakter der (sozialen) Welt betont. So sieht Latour (ebd.: 7) das Soziale nicht als »a special domain, a specific realm, or a particular sort of thing, but […] a very peculiar movement of re-association and reassembling«. Hillebrandt weist ähnlich darauf hin, dass »Praxisformationen immer wieder aufs Neue von ereignishaften Praktiken materiell erzeugt werden müssen. Praxisformationen lassen sich folglich nur in actu als Materialisierungen von Praktiken verstehen, die per definitionem Ereignisse sind.« (Hillebrandt 2016: 72, Herv. i.O.) Obwohl Prozessualität und Materialität wichtige Berührungspunkte zwischen ANT und praktikentheoretischen Ansätzen darstellen, gehen die Meinungen über das Verhältnis beider auseinander (Nicolini 2013; Schatzki 2002; Everts/ Lahr-Kurten/Watson 2011). Reckwitz (2003) und Nicolini (2013) bspw. beziehen sich auf Latour als wichtigen Vordenker, während Schatzki (2002) die Gleichstellung menschlicher und nicht menschlicher Entitäten in Bezug auf Handlungsfähigkeit problematisiert und die ANT als Form der Praktikentheorie ausschließt.

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Für Schatzki ähneln die Netzwerke der ANT zwar dem, was er als »Arrangements« bezeichnet, »[a]rrangements, however, are only one of the two principle sorts of phenomena that make up social phenomena. The second is practices, which have no pendent in actor-network theory.« (Schatzki 2010a: 134) Dadurch, so Schatzki weiter, fehle der ANT auch die Möglichkeit zu ergründen, wie genau Materialitäten und soziale Aktivitäten zusammenhängen. Nicolini (2013: 180) hingegen merkt an, dass Schatzkis komplexe theoretische Architektur derart präskriptiv sei, dass sie riskiere, die empirische Untersuchung zu erschweren anstatt anzuleiten, und daher methodisch ein Kontrast zu Latours einfachem Prinzip »follow the actor« darstelle. Nicolini sieht in der Methodologie der ANT eine wertvolle Ergänzung zu den Problemen »left unsolved by Schatzki and many of his colleagues« (ebd.). Praktikentheorien sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie gründen folglich ihre Sozialontologie auf die komplexe Verwobenheit multipler Elemente, verfahren jedoch unterschiedlich in der Konzeption dieser Elemente und sozialer Vollzugsformen. In diesem Sinne steht im Folgenden jene Denkfigur des Netzwerks im Mittelpunkt, durch die sich eine bestimmte Räumlichkeit der Verwobenheit und Interkonnektivität ausdrückt. Diese gilt es aus praktikentheoretischer Perspektive zu ergründen, während ANT-Ansätze wichtige Impulse dazu beisteuern.

Umrisse eines praktikentheoretisch anschlussfähigen network-Begriffs Im vorhergehenden Teil wurde anhand des place-Begriffs skizziert, wie Gesellschaft an konkreten und erfahrbaren Orten hervorgebracht wird. Places wurden als Materialisierungen multipler Verwebungen von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements konzeptualisiert. Wurde dort die Betrachtung auf die konkrete Lokalisierung von sites gerichtet, soll nun die Verwobenheit disperser Elemente in den Mittelpunkt rücken. In anderen Worten: site als (metaphorischer Ort des) Ineinandergreifen(-s) multipler symbolischer und materieller Entitäten (Everts 2016: 52). Mit Blick auf die praktikentheoretische Literatur lässt sich Relationalität als zentrales konzeptionelles Moment herausarbeiten. Nach Schatzki ereignet sich menschliche Koexistenz in einem »gigantic maze of practices and arrangements. In it, relations among practices, among arrangements and between practices and arrangements form arrays that can be thinner or thicker, more compact or spread out, continuing and f leeting, and patterned or scattered.« (Schatzki 2016a: 6) Shove, Pantzar und Watson (2012: 21ff.) evozieren ein ähnliches Bild, indem sie von »links« zwischen materials, meanings und competences sowie »connections between practices« (ebd.: 81ff.) sprechen, um die Konstitution und den Wandel des Sozialen zu beschreiben. Während es bedeutende Unterschiede zwischen einzel-

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nen praxeologischen Strömungen gibt (siehe Beitrag »Vom Wissen über das Tun« in diesem Band), herrscht weitgehende Einigkeit darüber, »[that] practices consist in organised sets of actions, that practices link to form wider complexes and constellations – a nexus – and that this nexus forms the basic domain of study of the social sciences« (Hui/Schatzki/Shove 2017: 1). Greifen wir auf das oben angeführte Beispiel eines globalen Marktes zurück, so stellt sich dieser aus praktikentheoretischer Sicht als gigantisches Ineinanderwirken von Praktiken des Produzierens, Konsumierens, Tauschens, Regelns, Koordinierens, Transportierens etc. und materiellen Arrangements wie bspw. Fabrikgebäuden, Transportschiffen oder Kühlregalen dar. Während so die Zusammenhänge ins Blickfeld rücken, die Praktiken eingehen und von denen sie abhängen, wird gleichzeitig deutlich, dass Phänomene wie der globale Markt erst in und durch die Aktualisierung diverser Praktiken hervorgebracht werden. Aus der Perspektive miteinander vernetzter sites wird deutlich, dass es sich bei Markt um multiple Komplexe und Konstellationen unterschiedlich enger und weitmaschig zusammenhängender Praktiken handelt, die über verschiedene Distanzen miteinander verwoben sind und unterschiedliche Dynamiken entfalten. Der Einfachheit halber könnte man daher höchstens von multiplen Märkten oder besser von Zusammenhängen marktförmiger Praktiken sprechen. Dieser Gedankengang lässt sich am Beispiel wirtschaftlicher Praktiken, die nicht durch marktförmige Logiken verknüpft sind, fortführen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, wie bspw. offene Werkstätten (Schmid 2018) oder Urban-Gardening-Initiativen (Müller 2011), stellen bestehende Marktrelationen infrage und kultivieren alternative Praktiken des Produzierens, Tauschens und Versorgens (Longhurst 2015; Smith/Seyfang 2013). Sie lassen sich ebenso als Zusammenhänge unterschiedlicher Praktiken und materieller Arrangements verstehen, die im Tätigkeitsvollzug konstituiert und verwoben werden und diesen gleichsam ermöglichen. Materielle Elemente wie 3D-Drucker oder Hochbeete, Bedeutungen wie z.B. Erzählungen über globale Umweltzerstörung oder Ausbeutung sowie sozialisierte Körper mit ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Schwächen werden in Praktiken des Informierens, Organisierens, (An-)Bauens, Verschenkens und Diskutierens verwoben, welche in ihrer Verf lechtung wiederum konstitutive Momente von sozialen Phänomenen darstellen. Einzelne Initiativen können dabei sowohl mit ähnlich ausgerichteten Organisationen verf lochten sein und »community coalitions« (Fischer et al. 2017) oder »networked movements« (Celata/Coletti 2018: 2) formen bzw. Teil größerer translokaler Bewegungen sein, wie bspw. das Maker Movement (Davies 2017), als auch mit gewinnorientierten Unternehmen interagieren. Durch einen Blick auf die sites marktförmiger und alternativwirtschaftlicher Praktiken wird die komplexe Bewegung und Herausforderung (globalen) Wirtschaftens sichtbar. Diese Verbindungen und Verf lechtungen ließen sich selbstverständlich auch jenseits des engen, hier angeführten

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Themenkomplexes fortführen – hin zu Praktiken staatlicher Kontrolle, der Gesetzgebung, der Mobilität, des Umweltschutzes und vielen mehr. Netzwerk als transversale, rhizomatische Verbundenheit von Entitäten ist folglich grundlegend für praxeologisches Denken. Wichtig ist hierbei, dass es nicht einfach um die Verbindung von statischen oder stabilen Entitäten geht – von Körpern, Artefakten und Dingen oder gar von Individuen, Organisationen und Institutionen –, sondern darum, wie diese im Praxisvollzug relevant gemacht oder auch erst hervorgebracht und modifiziert werden. Dabei besteht eine wichtige Nähe zur Akteur-Netzwerk-Theorie, die ebenso die transformative und prozessuale Dimension von Netzwerken betont: »The argument made by ANT is that all things are relational or hybrids and if they seem to be solid bits and pieces it is only the effect of work in nets.« (Jóhannesson/Bærenholdt 2009: 17) Netzwerke – insbesondere die Prozesshaftigkeit der Arbeit ihrer Aktualisierung (net-work) – sind tief in die jeweiligen Ontologien von ANT und Praktikentheorien eingeschrieben, wobei die oben genannten grundlegenden Unterschiede beider Theorien nicht außer Acht gelassen werden sollten. In beiden Theorieansätzen nimmt die Denkfigur des Netzwerkes eine zentrale Rolle in der Überwindung von Dualismen ein. Hierzu ist der Begriff der »f lachen Ontologie« (DeLanda 2006; Schatzki 2016b) aufschlussreich. Im Kontext der ANT bedeutet dies, insbesondere die Dichotomien von Kultur und Natur sowie Subjekt und Objekt zu überwinden, indem menschlichen wie nicht menschlichen Entitäten gleichermaßen Handlungsvermögen zugeschrieben wird (Latour 1993, 2005). Natur/Kultur, Subjekt/Objekt als Kategorien weichen der Betrachtung von Assoziationen und Relationen, durch die emergente Phänomene hervorgebracht werden. Auch Praktikentheorien versuchen, eine Reihe von problematischen Dualismen zu überkommen, wie jene zwischen Akteur und Struktur, Sozialität und Materialität, Körper und Geist oder Stabilität und Wandel (Hillebrandt 2016; Nicolini 2013; Reckwitz 2003; Schäfer 2016). Relationalität spielt dabei in der Konzeption von Praktiken als »nexus of doings and sayings« (Schatzki 2012: 14) oder »pattern [that] exists of interdependencies between diverse elements« (Shove/ Pantzar/Watson 2012: 7) eine grundlegende Rolle. Praktiken sind verwoben zu »bundles« und »complexes« (ebd.: 84ff.), »constellations« (Schatzki 2012: 21) und »Praxisformationen« (Hillebrandt 2016: 72) und letztendlich sind alle Aspekte der sozialen Welt Teil des »Plenums« – der Gesamtheit aller Praktiken-Arrangement-Bündel. Letzteren Begriff verwendet Schatzki (2016b: 33), »um zu verdeutlichen, dass die elementaren Bestandteile aller sozialen Phänomene von derselben Art sind. Soziale Phänomene sind durch hochgradige ontologische Gleichheit gekennzeichnet, da jedes soziale Phänomen aus Ausschnitten oder Aspekten des Plenums von Praxis-Arrangement-Bündeln besteht.« Zivilgesellschaftliche Initiativen sind folglich nicht durch eine andere Seinsweise gekennzeichnet als sich global erstreckende Märkte, sondern beide unter-

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scheiden sich vorrangig darin, auf welche Verf lechtungen von Elementen und Praktiken sie verweisen. Dabei können gleiche Elemente in unterschiedliche Praktikenzusammenhänge eingebunden sein – wie bspw. Kommunikationstechnologien, die sowohl die Koordinationsprozesse einer Urban-Gardening-Initiative wie auch internationale Finanztransaktionen begleiten. Gleichermaßen werden Praktiken, Organisationen und Institutionen in diversen Zusammenhängen konstituiert und schreiben sich auf unterschiedliche Weise in diese ein. Reparieren kann gleichzeitig eine Praktik lokaler Reparaturtreffs darstellen und globale Wertschöpfungsketten prägen. Praxisformationen wie Offene Werkstätten können Orte sein, die ebendieses Reparieren ermöglichen und gleichzeitig in Prozesse globaler Städtekonkurrenz um innovative und kreative Standorte eingebunden sind (ob freiwillig oder unfreiwillig). Aus praktikentheoretischer Sicht sind die Relationalität materieller und symbolischer Elemente sowie die rhizomatische Verwobenheit diverser Praktiken konstitutiv für soziale Phänomene. Network als Raumkonzept ist grundlegend für praktikentheoretische Konzeptionen von Räumlichkeit. Die Denkfigur des Networks oder der Vernetztheit informiert grundlegend die durch sich im Praxisvollzug aufspannende Räumlichkeit. Sie erlaubt es, kategoriale Unterschiede zwischen Akteur/Struktur, Körper/Geist, Subjekt/Objekt und anderen zu überwinden. Aus geographischer Betrachtung gilt dies insbesondere für die Dichotomien aus mikro und makro oder lokal und global. Eine f lache Ontologie verweist hier auf die Abkehr von einer geschichteten Realität und damit zu einer Neudefinition von scale, die es im folgenden Teilkapitel näher zu bestimmen gilt.

Scale Scale bezeichnet unterschiedlich die Größe, Ausdehnung, Reichweite oder Ebene von Betrachtungen oder Phänomenen. Es ist daher zunächst wichtig, zwischen verschiedenen Arten und Konzeptionen von scale zu differenzieren. Kartographische scale entspricht dem alltagssprachlichen Verständnis von Maßstab und drückt das Verhältnis von Größen in der Welt und deren Repräsentation – meist in einer Karte – aus. Dem Maßstab liegt dabei eine bestimmte Einheit zugrunde – bspw. entspricht ein Zentimeter auf einer Karte einem Kilometer in der »Realität«. Größe, als erstes Moment von scale, ist auch in Bezug auf Um- oder Abgrenzung von beobachteten Phänomenen bedeutsam. So wie Karten unterschiedlicher Auflösung verschiedene Aspekte sichtbar und andere unsichtbar machen, hängt die Erscheinung beobachteter Phänomene vom gewählten Maßstab ab. Insbesondere in Bezug auf soziale Phänomene führt dies zur zweiten Bedeutung von scale: als Ebenen (Sayre/Di Vittorio 2009). Lokal, regional, national und global verweisen auf unterschiedliche räumliche Betrachtungsebenen, die – insbesondere im Falle

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der nationalen Ebene – eng mit territorialen Raumausschnitten assoziiert sein können. Den verschiedenen Ebenen wird dabei unterschiedlicher ontologischer Gehalt zugeschrieben. Taylor (1982) bspw. verortet Räume der Erfahrung und des Alltags auf der Mikroebene des Urbanen und den Weltmarkt auf der Makroebene des Globalen. Beide vermitteln sich durch die Mesoebene des Nationalstaates, auf der Taylor Räume der Ideologie verortet. Makro-, Meso-, und Mikroebenen werden »in diesem Prozess durch den Einzugsbereich der Arbeitskräfte (lokal), Konkurrenz zwischen Kapitalen (national) sowie das Wertgesetz (global) produziert« (Belina 2013: 99). Verschiedene scales sind dabei als getrennte Sphären konzeptualisiert, wobei die globale Ebene des Weltmarktes als die »ultimate scale, the one that ›really matters‹« (Marston/Jones/Woodward 2005: 417) hervortritt. Ein weniger rigide getrenntes, aber dennoch stark hierarchisches Verständnis von scale drückt sich aus durch die Konzeption als »›vertical ordering‹ of social systems and relations within a hierarchical scaffolding of intertwined territorial units stretching from the global/worldwide, the supranational/triadic and the national downwards to the regional, the metropolitan, the urban, the local and the body« (Brenner 2001: 597). Körper, Haushalte, Nachbarschaften, Gemeinden, Regionen, Staaten, Kontinente und der Erdball sind dann durch grundlegend unterschiedliche Seinsweisen gekennzeichnet und mit jeweils verschiedenen geographischen Eigenschaften wie bspw. »extention, embeddedness, situatedness, immobility, enclosure, dispersion or connectivity« (ebd.) ausgestattet. Entgegen der Ontologisierung skalarer Ebenen stehen Positionen, die scale nicht als existente Struktur – in einem ontologischen Sinne – sehen, sondern als Episteme: »a way of knowing or apprehending« (Jones 1998, zit.n. Marston/Jones/ Woodward 2005: 416). Dabei rückt die soziale Konstruktion von scale in den Mittelpunkt (Marston 2000). Scale wird nicht als »external fact awaiting discovery but a way of framing conceptions of reality« (Delaney/Leitner 1997, zit.n. Marston 2000: 221) betrachtet. Leitner (2004: 237) merkt dazu an, dass zwar analytische Unterschiede zwischen unterschiedlichen sozialräumlichen Begebenheiten gemacht werden könnten, diese jedoch nicht als unabhängig voneinander diskutiert werden sollten. Literatur zur Konstruktion von scale hebt insbesondere die Gefahren hervor, die mit skalaren Hierarchien einhergehen, wie jene der binären Gegenüberstellung von lokal und global. Marston, Jones und Woodward (2005: 421) stellen Begriff lichkeiten, die mit der lokalen Ebene assoziiert werden – »place, difference, concrete, experiental, agency, bordered, static, sectarian, defensive, authentic, nostalgic, culture, embodied, here, transformed, responsible« –, solchen gegenüber, die mit der globalen Ebene assoziiert werden : »space, sameness, abstract, causal, structure, streched, dynamic, cosmopolitan, open, produced, developmental, economy, anonymous, there, penetrating, detached« (ebd.). Besonders augenscheinlich treten diese Gegensätzlichkeiten in Bezug auf die globale Wirtschaft zutage, die unterschiedlich als allumfassend, unüberwindbar oder

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alternativlos dargestellt wird (Gibson-Graham 1996, 2006). Im Gegensatz dazu werden Communities und Graswurzelinitiativen mit dem Lokalen gleichgesetzt (Taylor Aiken 2015), sodass ihnen jegliche Wirkung auf globale »Strukturen« abgesprochen werden. Das Lokale und das Globale nicht als soziale Produkte zu verstehen, führt dazu, dass sie reifiziert und dadurch als Erklärung herangezogen werden, anstatt selbst erklärt werden zu müssen. Beide Positionen – hierarchische Konzeptionen skalarer Ebenen und die Annahme, dass skalare Unterschiede sozial konstruiert sind – finden Annäherungsund Berührungspunkte in der Produktion von scale. Dies drückt sich u.a. im gemeinsamen Rekurs auf Lefebvre aus und hier insbesondere seiner einfachen, aber wirkungsvollen Beobachtung, dass Raum ein soziales Produkt ist (Marston 2000: 221). In diesem Sinne geht scale in beiden Perspektiven aus der sozialen Praxis hervor und hat epistemische und materielle – und somit auch politische – Konsequenzen (ebd.). Politics of scale verweist darauf, dass scale sozial produziert und politisch umkämpft ist (Brenner 2001; Leitner 2004). Allerdings bleibt dabei oft die implizite oder explizite Trennung unterschiedlicher Ebenen intakt, wie bspw. bei Brenner (2001: 600), dessen Auffassung einer politics of scale als »production, reconfiguration or contestation of particular differentiations orderings and hierarchies among geographical scales« wiederum auf vertikale Differenzierungen verweist. Scale jedoch auf dieser Grundlage zu verwerfen, scheint ebenso pro­ blematisch, da »anzuerkennen sei, dass es Hierarchien zwischen Scales gibt, die das Ergebnis vorangegangener Kämpfe und Strategien sind« (Belina 2013: 106). Scale ist zwar ein Produkt sozialer Praxis, schreibt sich jedoch gleichzeitig in Geographien ein und ist somit gleichzeitig ein konstituiertes wie konstituierendes Moment. Soziale Praxis nimmt folglich eine zentrale Stellung ein, die es weiter zu bestimmen gilt. Dazu leisten praktikentheoretische Ansätze einen wichtigen Beitrag.

Umrisse eines praktikentheoretisch anschlussfähigen scale-Begriffs Scale wird unterschiedlich in seiner Konstruktion bzw. Produktion sowie in Hinblick auf seinen ontologischen Gehalt konzeptualisiert. Dieses gilt es im weiteren Verlauf noch ausführlicher zu untersuchen. Hierzu ist es sinnvoll, ein weiteres Verständnis von scale zu betrachten: als Relation (Sayre/Di Vittorio 2009). Im Gegensatz zu der Betrachtung von Größen oder Ebenen geht es dabei um das Verhältnis zwischen Entitäten und deren Bedeutung für soziale Prozesse. Anstatt soziale Phänomene in skalare Ebenen zu zwängen, liegt der Fokus darauf, »how entities are positioned in relation to each other« (ebd.: 21). Relationalität evoziert hierbei nicht hierarchische, dezentrale und rhizomatische Räumlichkeiten, wie sie in Bezug auf networks und andere horizontale Metaphern zu finden sind (siehe

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oben). Im Versuch, die strikten Trennungen unterschiedlicher skalarer Ebenen zu überwinden, haben sich eine Reihe von Geograph*innen daher relationalen und netzwerkinspirierten Denkfiguren zugewendet. So z.B. Leitner in Bezug auf die oben dargestellten politics of scale: »Whereas the spatiality of a politics of scale is associated with vertical relations among nested territorially defined political en­ tities, by contrast, networks span space rather than covering it, transgressing the boundaries that separate and define these political entities.« (Leitner 2004: 237) Marston, Jones und Woodward (2005) schließen an diese Betrachtung Leitners an, weisen jedoch den Versuch zurück, netzwerkartige Konzeptionen sozialräumlicher Prozesse auf hierarchische Ansätze aufzubauen. Stattdessen greifen sie explizit auf Schatzkis Konzept von site zurück, um eine f lache Alternative zu vertikalen Ontologien vorzuschlagen (ebd.: 424ff.). Die Hinwendung zu site erlaubt es ihnen »to account for the presence and affective capacity of relatively stable objects and practices that continously draw each other into relation and resurface in social life« (ebd.: 425). Indem die soziale Welt als Nexus aus Praktiken und Arrangements betrachtet wird, die in ihrer Verwobenheit größere Komplexe oder Konstellationen konstituieren, begreifen Praktikentheorien Unterschiede in der Relevanz oder Reichweite sozialer Phänomene, ohne vertikale Differenzen oder Hierarchien zu ontologisieren. Sie weisen »nicht nur die Existenz von ›Mikro‹ und ›Makro‹ als getrennte Ebenen zurück, sondern bezweifel[n] grundsätzlich die ontologische Bedeutung dieser Differenzierung« (Schatzki 2016b: 32, Herv. i.O). Schatzki spricht von »small« und »large social phenomena« (Schatzki 2012: 21), um die raumzeitliche Ausdehnung von Praktikenzusammenhängen zu fassen. »The difference between, for example, small social phenomena such as individual classes and large social phenomena such as a national educational establishment is the difference between less and more spatially (and temporally) expansive practice-arrangement bundles or aspects thereof.« (Ebd.) Scale liegt dabei keine vertikale Hierarchisierung, sondern eine horizontale Konzeption mehr oder weniger verschränkter, verdichteter und aneinander ausgerichteter Praktiken und Arrangements zugrunde. In ihrer unterschiedlichen Verwobenheit lassen sich größere Zusammenhänge, bspw. der globale Markt für Elektronikprodukte, und kleinere Zusammenhänge, z.B. eine nachbarschaftliche Reparaturinitiative, beschreiben. Beide sozialen Phänomene sind durch eine ontologische Gleichheit – Bündel sozialer Praktiken und Arrangements – gekennzeichnet, unterscheiden sich jedoch in ihrer raumzeitlichen Ausdehnung. Dabei ist zu beachten, dass die Ausdehnung selbst wiederum von der Beobachtungsperspektive abhängig ist. Reparaturinitiativen in der Nachbarschaft können als Teil der globalen Verbreitung von Repaircafés gesehen werden, in deren Kontext sich Millionen von Nutzer*innen über Internetplattformen austauschen. Gleichzeitig ist die Reparatur eines Elektroprodukts, die damit einen Neukauf vermeidet, ein Teil globaler Produktions- und Konsumptionspraktiken, durch die Märkte kons-

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tituiert werden. Scale in diesem Sinne erkennt sowohl die Beobachterabhängigkeit als auch die Materialisierung sozialer Prozesse an – wobei beide Momente kokonstitutiv sind. Als Beobachtungsperspektive ist scale davon abhängig, welche Praktikenzusammenhänge in den Blick genommen werden (zur Methodologie in der Untersuchung von large social phenomena vgl. Everts 2016; Nicolini 2017), als Materialisierung unterliegt sie hingegen raumzeitlichen Differenzen in der Reichund Tragweite sozialer Praktiken und deren Konstellationen. Praktikentheorien erlauben es, scale gleichzeitig als soziale Konstruktion und als Materialisierung sozialer Praxis zu konzeptualisieren.

Territory »›Territory‹ is a term that is often used interchangeably with land or space, but it connotes something more precise. Territory is land or space that has had some­ thing done to it – it has been acted upon.« (Cowen/Gilbert 2008: 16, Herv. i.O.) Ausgehend von diesem Zitat wird zweierlei deutlich: Erstens können Territorien nicht als natürliche Einheiten gefasst werden, die ohne Weiteres in der Welt bestehen, sondern sie müssen als praktisch hervorgebrachte sozialräumliche Beziehungsgefüge verstanden werden. Zweitens weisen Territorien neben diesem performativen Charakter eine materielle Komponente auf, die konstitutiver Bestandteil ihrer praktischen Hervorbringung ist. In dieser Betonung von Performanz und Materialität ist bereits eine konzeptionelle Nähe zu der in der Einleitung skizzierten Perspektive Schatzkis zu erkennen, die den Ausgangspunkt für die folgende praktikentheoretische Betrachtung von territory bildet. Entsprechend der Ausführungen zu place, network und scale wird jedoch auch hier zunächst eine kurze Skizze der humangeographischen Debatte um territory vorangestellt.

Grundzüge der humangeographischen Diskussion um territory Die wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, wer wie warum territorial handelt, wird seit Langem breit und kontrovers geführt. Während biologistische Ansätze territoriales Verhalten als instinktiven (An-)Trieb des Menschen beschreiben (u.a. Ardrey 1967), betonen konstruktivistische Perspektiven den sozio-politischen Charakter von Territorien (u.a. Gottmann 1973; Sack 1986; Soja 1971). Dabei stehen v.a. die machtgeladenen Verbindungen von Territorien und Staaten im Kontext sich wandelnder politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen immer wieder im Mittelpunkt der Betrachtungen (u.a. Sassen 2000; Taylor 1994). Das he-

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gemoniale Beziehungsgefüge Territorium – Staat – Souveränität, von dem Agnew (1994) auch als territorial trap spricht, wird mit dem zunehmenden Einf luss sozialtheoretischer Perspektiven auf die humangeographische Forschung jedoch aufgeweicht und um Fragen sozialräumlicher Territorialisierungen und alltäglicher Grenzziehungen jenseits des Staates erweitert. Exemplarisch können hier Arbeiten angeführt werden, die diese Formen der Verräumlichung gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Kontext von class (u.a. Dikeç 2007; Sidaway 2007), race (u.a. Jackson/Penrose 1993; M’charek/Schramm/Skinner 2014) oder gender (u.a. Little 2002; Spain 1992) thematisieren. Darüber hinaus hat sich im Kontext der Border Studies ein eigenes Forschungsfeld herausgebildet, in dem Grenzen als in Praktiken und Diskursen verankerte Macht- und Strukturierungsmechanismen gefasst und damit als wesentlicher Aspekt gesellschaftlicher (Re-)Territorialisierungsprozesse herausgestellt werden (u.a. Doevenspeck 2011; Newman 2006; Paasi 1998, 2009). In diesem Zusammenhang erhalten auch Perspektiven aus der französischsprachigen Geographie, die territory als symbolisch-materielles Gefüge adressieren und dessen soziokulturelle Konstitutionsmechanismen hervorheben (v.a. Raffestin 1984; 2012), zunehmend Eingang in die internationale Debatte (u.a. Klauser 2012; Murphy 2012; Painter 2010). Jüngere Arbeiten vertiefen zudem die Diskussionen um die Bedeutungen von Performativität, Materialität und Körperlichkeit in der sozialen Hervorbringung von Territorien und Grenzen (u.a. Halvorsen 2015; Ojalammi/Blomley 2015; Smith/Swanson/Gökarıksel 2016). Territorien können somit als sozialräumliche Beziehungsgefüge verstanden werden, die sich fortwährend durch ein Zusammenspiel aus Diskursen, Praktiken und verkörperten Erfahrungen konstituieren und verändern (Antonsich 2011: 424f.).3 Einen wichtigen Beitrag für diese perspektivischen Öffnungen leisteten die Arbeiten von Robert Sack. In »Human territoriality« (1986) verschiebt er den analytischen Fokus auf die Art und Weise, wie Territorien als politische Strategien zur Kontrolle von Dingen, Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen genutzt werden. Mit dieser Hinwendung zur Territorialität als Organisationsprinzip gesellschaftlicher Machtverhältnisse unterstreicht er die politische Dimension territorialen Handelns und hebt zugleich die klassifizierenden und differenzbildenden Aspekte territorialer Formationen hervor. So werden in Territorialisierungen stetig Differenzschemata wie »unser/euer« produziert, die raumbezogene Besitz- und Kontrollansprüche markieren und entlang von Grenzziehungen kom-

3 Diese Perspektive wird im Kontext aktueller Diskussionen um geographies of power als nicht hinreichend kritisiert, um alle Facetten raumbezogener Machtverhältnisse zu analysieren. Entsprechend wird ein topologisches Verständnis von Macht vorgeschlagen, um die topographische Perspektive von Konzepten wie territory oder networks zu erweitern (u.a. Allen 2011, 2016). Eine differenzierte Diskussion eines topologischen Raumverständnisses übersteigt den Rahmen dieses Beitrags. Für eine praktikentheoretische Diskussion hierzu vgl. Fladvad (2017).

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muniziert werden. Über diese Grenzziehungen vollziehen sich wiederum Homogenisierungen nach innen sowie Abgrenzungen nach außen, die gleichermaßen Beziehungsgefüge zwischen Menschen, Gruppen oder Institutionen ermöglichen wie beschränken. Die materielle Verankerung territorialer Formationen in bestimmten Landf lächen oder Objektkonstellationen lässt die Differenzschemata dabei als Effekte von Territorien erscheinen und verkehrt somit die Konstitutionsmechanismen gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sack (ebd.: 33) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Verdinglichung der Macht in Territorien. Kritik an dieser Konzeptualisierung von Territorialität übt v.a. Stuart Elden (2005, 2010), der darin eine unref lektierte Reproduktion des Begriffs territory sieht. Ausgehend von einer genealogischen Perspektive zeigt er auf, wie unser heutiges Verständnis von Territorium als kalkulier- und kontrollierbarer Raum erst aus Ideen eines quantifizierbaren Raumes sowie entsprechenden Entwicklungen von Vermessungstechniken und juridischen Verankerungen von Gebietsherrschaften erwachsen ist. Territorium stellt sich somit als politische Technologie dar, die es in ihrem historischen Kontext zu verstehen gilt (vgl. auch Hannah 2000, 2009). Hierfür bedarf es einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen politisch-ökonomischen, technologischen und juridischen Verhältnisse, aus denen sich Ideen von Territorium konstituieren (Elden 2011). Territorien bestimmen sich somit nicht in erster Linie über Grenzen, sondern über die Art und Weise, wie über Raum gedacht wird (Elden 2005: 15). Gleichwohl Eldens Genealogie soziale, kulturelle und affektive Aspekte in der Konstitution von territory weitgehend unberücksichtigt lässt (Antonsich 2011: 424), so verdeutlicht sie an dieser Stelle zwei Punkte: Erstens stellen Territorien historisch kontingente Konstruktionen dar, die stetig die Art und Weise beeinf lussen, wie Menschen, Gruppen oder Institutionen handeln (Storey 2012: 22). Zweitens folgt hieraus, dass Territorialität im Sinne Sacks als Effekt der Art und Weise zu verstehen ist, wie Territorien gesellschaftlich imaginiert werden (ebd.).

Drei zentrale Dimensionen von territory In einer Synthese der hier dargestellten Positionen erscheint territory als sozialräumliches Beziehungsgefüge, das einerseits den Kontext für eine Vielzahl sozialer Prozesse bildet und andererseits stetig in sozialen Prozessen produziert und reproduziert wird. Dabei lassen sich mit Paasi (2003) und Delaney (2009) drei Dimensionen ausmachen, die für das Konzept territory von zentraler Bedeutung sind: (1) eine materielle, (2) eine funktionale und (3) eine symbolische Dimension. Während unter der materiellen Dimension die körperlichen und dinglichen Aspekte des Territorialen verstanden werden können, verweist die funktionale Dimension auf die relationalen Machtgefüge und Kontrollansprü-

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che, die in territorialen Formationen zum Ausdruck gebracht werden. Diese vermitteln sich letztlich über eine symbolische Dimension, die auf vielfältige soziale Bedeutungssysteme gründet und sich bspw. in Schildern oder Karten materiell manifestiert. Diese symbolischen Aspekte stehen hierbei in engem Zusammenhang mit raumbezogenen sozialen Identitäten, die im Sinne emotionsbezogener Mensch-Raum-Kopplungen ausgebildet werden und im Abschnitt zu place bereits näher beschrieben wurden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Ausbildung territorialer Bedeutungen und Differenzschemata mit der Produktion und Vermittlung von Regeln einhergeht, die als »a special form of proposition« (Delaney 2009: 204) bestimmte Verhaltensweisen für einen Raum normieren und andere ausschließen. In der Ausübung bestimmter Tätigkeiten werden somit auch bestimmte territoriale Formationen stabilisiert oder infrage gestellt (ebd.: 203f.). Die hier angeführten Dimensionen dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Vielmehr muss sich der Blick auf ihre Verf lechtungen richten, entlang derer Territorien stetig performativ hervorgebracht und verändert werden. Eine praktikentheoretische Perspektive, wie wir sie in diesem Beitrag vorschlagen, ermöglicht es nun, die vielschichtigen Territorialisierungsprozesse ontologisch im Konzept der site zusammenzuführen und über die Betrachtung von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements empirisch zugänglich zu machen.

Umrisse eines praktikentheoretisch anschlussfähigen territory-Begriffs Territorien stellen soziale Prozesse dar, in denen Raum, Zeit und soziale Praktiken miteinander verf lochten werden (Delaney 2009: 205; Paasi 2003: 110). In einer an Schatzkis site-Konzept anknüpfenden Perspektive können diese Prozesse nicht außerhalb von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements gedacht werden (Schatzki 2002: xi). Vielmehr muss der stetige Vollzug sozialer Wirklichkeit, in dem auch Territorien als sozialräumliche Beziehungsgefüge hervorgebracht und verändert werden, entlang der Verwebungen von Praktiken und Arrangements gefasst und beschrieben werden. In Anlehnung an Delaney (2009: 198) kann jedoch nicht jede in und durch Praktiken-Arrangement-Bündel hervorgebrachte Räumlichkeit als territory verstanden werden. Vielmehr geht es um diejenigen Räumlichkeiten, in denen die oben dargestellten materiellen, funktionalen und symbolischen Dimensionen miteinander verwoben werden und sich als territoriale Formationen in Praktiken und Arrangements einschreiben. Territorien sind somit auch nicht an distinkten Praktiken oder materiellen Arrangements festzumachen, sondern entstehen in sozialen Kontexten, von denen sie selbst konstitutiver Bestandteil sind. Oder anders formuliert: Praktiken formen Territorien und Territorien formen Praktiken.

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Einer praktikentheoretischen Betrachtung von territory im Anschluss an Schatzkis site-Konzept geht es folglich darum, Formen von Territorialisierungen in den Zusammenhängen menschlicher Leben zu entschlüsseln und zu beschreiben. Im folgenden letzten Abschnitt skizzieren wir exemplarisch einige Einstiegspunkte für ein solches Vorhaben. Territorialisierungen gehen, wie bereits im obigen Abschnitt angeführt, mit der Produktion und Reproduktion von Regeln einher, »for example, through the rituals of asking, granting, or withholding permission to enter or leave; by knocking and waiting; by demanding and presenting papers at the border; or by being picked up and bodily thrown back across the line« (Delaney 2009: 203). Wie Wagner (2015) am Beispiel grenzüberschreitender Kleinhandelsbeziehungen der lokalen Bevölkerung an der östlichen Schengengrenze zeigt, ist die Einhaltung dieser Regeln dabei eng mit Fragen nach der Autorität derjenigen verbunden, die diese Regeln aufgestellt haben bzw. ihre Einhaltung überwachen. Aus praktiken­ theoretischer Perspektive sind diese Regeln in den Praktiken selbst angelegt. Sie bieten den Praktikenträger*innen eine mehr oder weniger explizite Orientierung für den angemessenen Vollzug von Praktiken (Schatzki 2002: 80). Wenngleich Schatzki (2002: 80) seine Überlegungen zu Autoritäten nicht weiter ausführt, so ist im Kontext seines praktikentheoretischen Ansatzes dennoch davon auszugehen, dass diese nicht als natürliche Instanzen verstanden werden dürfen, sondern vielmehr stetig in den kontextuellen Vollzügen sozialer Wirklichkeit hervorgebracht werden. Territorialisierungen sind somit immer mit Machtrelationen verbunden, die sich als Regeln in Praktiken einschreiben, in ihrer Gültigkeit jedoch bei jedem praktischen Vollzug neu verhandelt werden. Eine dezidierte Beschreibung dieser Aushandlungen findet sich bspw. bei Miggelbrink et al. (2017), die am Beispiel der östlichen Schengengrenze aufzeigen, wie Regularien zur Grenzüberschreitung und zum Ablauf von Grenzkontrollen einerseits durch Verwaltungspraktiken hervorgebracht und andererseits situativ in Grenzkontrollpraktiken reproduziert oder verändert werden. Neben dem Aspekt der Regeln spielen auch teleoaffektive Strukturen eine wichtige Rolle in der Hervorbringung von Territorien, denn »territorial rules are fundamentally lived« (Delaney 2009: 204). Teleoaffektive Strukturen können als Verknüpfungen von normativen und hierarchisch geordneten Aufgaben, Projekten und Zielen mit den für eine Praktik angemessenen Emotionen und Gestimmtheiten verstanden werden (Schatzki 2002: 80). In diesen Verknüpfungen sind einerseits teleologische Zweckhaftigkeiten und andererseits affektiv-emotionale Motiviertheiten angelegt, die jedoch je nach Praktik in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommen können (ebd.: 80ff.). So ließen sich Grenzkontrollpraktiken bspw. auf die Zweckrationalität zurückführen, nur Personen mit gültigen und den Einreisebestimmungen entsprechenden Dokumenten in ein Land einreisen zu lassen, um die nationalstaatliche Souveränität über ein Territorium aufrecht-

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zuerhalten. Andersherum kann dieses Ziel auch aus einer stärker emotionalen Motivation heraus verfolgt werden, z.B. dann, wenn Menschen aus »Liebe zu ihrem Land« in den Krieg ziehen. In beiden Fällen werden territoriale Formationen und Differenzschemata im Sinne eines »Wir/Ihr« bzw. »Innen/Außen« in und durch die teleoaffektiven Strukturierungen konkreter Praktiken reproduziert. Wie eingangs beschrieben, lassen sich soziale Praktiken jedoch nie unabhängig von ihrer Umwelt verstehen, sondern weisen immer eine materielle Dimension auf. So konstituieren sich auch Grenzkontrollpraktiken bspw. erst im Zusammenspiel mit den materiellen Entitäten der Grenzkontrolleure, Reisenden, Pässe, Stempel, Hinweis- und Warnschilder, einer Schranke, die nach der Passkontrolle geöffnet wird etc. Gleichzeitig erhalten diese materiellen Entitäten ihren jeweiligen sozialen Sinn erst durch ihre situative Einbindung in Praktiken des Kontrollierens, Stempelns usw., die sich als Grenzkontrollpraktiken zusammenfassen lassen. Soziale Praktiken und materielle Arrangements sind also nicht zufällig miteinander verbunden, sondern sinnhaft miteinander in Praktiken-Arrangement-Bündeln verknüpft. In diesem Zusammenhang benennt Schatzki (2016b: 33) sechs Prinzipien, wie sich Praktiken und Arrangements bündeln: durch Kausalität, Gebrauch, Konstitution, Intentionalität, Präfiguration, und Verständlichkeit. In Bezug auf territory soll hier exemplarisch auf die Prinzipien der Kausalität und Intentionalität eingegangen werden. Kausalität beschreibt die Änderungen von Praktiken, wenn sich dazugehörige Arrangements verändern oder vice versa. So zeigen Miggelbrink et al. (2017: 152) auf, wie sich Grenzkontrollpraktiken im Zuge der Digitalisierung von Pässen sowie technischer Infrastrukturen an Grenzübergängen wandeln. Ampelanlagen, Computer, Bildschirme, digitale Lese- und Scangeräte u.Ä. verändern das materielle Arrangement von Grenzkontrollen und erfordern eine andere Umgangsweise als das analoge Kontrollieren von Pässen oder die manuelle Regulierung des Grenzverkehrs. Intentionalität beschreibt hingegen die Absicht, die Praktiken mit Arrangements verbinden. So lässt sich annehmen, dass das Aushändigen eines Passes an der Grenzkontrolle mit der Absicht der Einreise in einen Staat erfolgt. Durch diese intentionale Verknüpfung von Praktiken und Arrangements werden einerseits die materiellen Entitäten mit ihren spezifischen Bedeutungen im Kontext von Grenzkontrollpraktiken belegt. Andererseits würden die Praktiken der Grenzkontrolle als solche nicht ohne dieses bestimmte materielle Arrangement bestehen. Im situativen Vollzug dieser wechselseitig konstitutiven Verknüpfung werden Grenzziehungen eines nationalstaatlichen Territoriums gleichermaßen akzeptiert sowie reproduziert und eine machtgeladene Differenzbildung im Sinne eines Innen/Außen-Schemas vorgenommen. Konstitutions- sowie Stabilisierungs- und Destabilisierungsprozesse von territory sind praktikentheoretisch also auf der Ebene von Praktiken-Arrange-

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ment-Bündeln zu betrachten. Mithilfe des site-Konzepts können Territorialisierungen dabei sowohl in ihrer konkreten lokal-situativen Hervorbringung als auch in ihrer performativen Wirksamkeit gefasst und beschrieben werden. Bündelungen von Praktiken und Arrangements lassen sich jedoch in Abhängigkeit des zu betrachtenden Phänomens in unterschiedlicher Komplexität und Größenordnung ausmachen (Schatzki 2016b: 33). So verdeutlichen bspw. Luukkonen und Moisio (2016) am Beispiel von EU spatial development policies, wie unterschiedliche Praktiken entlang einer gemeinsam geteilten Zielvorstellung orchestriert werden und damit das Territorium der EU als politisches Objekt konstituieren. In diesem Zusammenhang treten u.a. Fragen nach den Verwebungen von Praktiken-Arrangement-Bündeln sowie ihrer Reichweite in den Mittelpunkt, für die eine praktiken­ theoretische Auseinandersetzung mit den Verf lechtungen von territory, networks und scales interessant scheint. Eine entsprechende Ausführung der komplexen Beziehungsgefüge von place, network, scale und territory untereinander kann an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden. Vielmehr möchten wir uns im letzten Abschnitt dieses Beitrags den Stärken und Schwächen der hier vorgenommenen praktikentheoretischen Perspektivierung dieser Raumkonzepte widmen.

Fazit Ziel dieses Beitrags war die Entwicklung erster Ansatzpunkte für die weitergehende Erschließung von Raumkonzepten aus praktikentheoretischer Perspektive. Aus der Erkenntnis heraus, dass Praktiken und Raum in einem konstitutiven Wechselverhältnis zueinanderstehen, wurde ein Entwurf zur systematischen Auseinandersetzung initiiert, um Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenhangs von Praktiken und räumlichen Kategorien zu beleuchten. Dabei wurde auf die praktikentheoretischen Erwägungen Schatzkis Bezug genommen, da dieser in seinen Ausführungen explizite Verbindungen von Raum, Zeit und Praktiken aufgezeigt. Vor diesen Hintergründen konnten in Anlehnung an Jessop, Brenner und Jones (2008) sowie Belina (2013) die räumlichen Kategorien place, network, scale und territory diskutiert werden, nachdem zunächst das Konzept der site in methodischer Hinsicht als Ausgangspunkt der Überlegungen aufgrund seiner Bezüge zu prozesshafter Materialität und Performanz ausgewählt wurde. In diesem Fazit möchten wir abschließend unsere Ergebnisse zu den vier erwähnten räumlichen Begriff lichkeiten bündeln und Anstöße für weitergehende Betrachtungen liefern. Durch den place-Begriff kann zunächst einmal skizziert werden, wie Gesellschaft an konkreten und erfahrbaren Orten hervorgebracht wird. Ein praktikentheoretisch anschlussfähiger place-Begriff sollte dabei places als konkrete, empirisch erfahrbare Materialisierungen des site-Konzepts begreifen und diese

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im Zusammenspiel mit den jeweiligen materiellen Arrangements und den an ihnen verorteten performativen Praktiken adressieren. Places stellen dadurch einen ortstheoretischen Zugang zur Genese gesellschaftlicher Wirklichkeit her, dem folgende vier Kernannahmen inhärent sind: Erstens vollzieht sich place-zentrierte Räumlichkeit in emotionsbezogenen Mensch-Raum-Verbindungen im praktischen Umgang mit den zuhandenen materiellen und sozialen Arrangements. Zweitens werden zeit-räumliche Praktiken der Akkumulation und der Erinnerung an konkreten places realisiert, über die sowohl kollektive als auch individuelle Bedeutungszuschreibungen produziert werden. Drittens erfolgt über die aktive Aneignung von gelebtem Raum die Transformation von space zu place. Viertens wird place-basierte Raumaneignung durch und in Prozessen der In- und Exklusion im Zuge alltäglicher Differenzbildungen vollzogen. Mit Blick auf die praktikentheoretische Literatur lässt sich die Relationalität materieller und symbolischer Elemente als zentrales konzeptionelles Moment herausarbeiten, sofern die rhizomatische Verwobenheit diverser Praktiken als konstitutiv für soziale Phänomene angesehen wird. Diese Vorüberlegungen brachten uns zum zweiten Raumkonzept, jenem des networks oder der Vernetztheit. Die Denkfigur des networks informiert grundlegend über die sich im Praxisvollzug aufspannende Räumlichkeit und erlaubt es, kategoriale Unterschiede zwischen Akteur/Struktur, Körper/Geist, Subjekt/Objekt u.a. zu überwinden. Aus geographischer Betrachtung gilt dies insbesondere für die binären Kategorien räumlicher Maßstabsebenen wie mikro/makro oder lokal/global. Eine f lache Ontologie verwies hier auf die Abkehr einer geschichteten Realität und damit einer Neudefinition von scale, die es im weiteren Verlauf näher zu bestimmen galt. Dem scale-Begriff, durch den die raumzeitliche Ausdehnung von Praktikenzusammenhängen gefasst werden kann, liegt keine vertikale Hierarchisierung, sondern eine horizontale Konzeption mehr oder weniger verschränkter, verdichteter und aneinander ausgerichteter Praktiken und Arrangements zugrunde. In ihrer unterschiedlichen Verwobenheit lassen sich größere, z.B. globale, und kleinere, etwa lokale, Zusammenhänge beschreiben. Beide sind in ihrer empirisch-thematischen Dimension durch eine ontologische Gleichheit gekennzeichnet, unterscheiden sich jedoch in ihrer raumzeitlichen Ausdehnung. Scale erkennt dabei sowohl die Beobachtungsabhängigkeit als auch die Materialisierung sozialer Prozesse und ihrer Ausdehnung an – wobei beide Momente kokonstitutiv sind: Als Beobachtungsperspektive ist scale davon abhängig, welche Praktikenzusammenhänge in den Blick genommen werden, als Materialisierung unterliegt sie raumzeitlichen Differenzen in der Reich- und Tragweite sozialer Praktiken und deren Konstellationen. Praktikentheorien erlauben es vor diesen Hintergründen, scale gleichzeitig als soziale Konstruktion und als Materialisierung sozialer Praxis zu konzeptualisieren.

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Einer praktikentheoretischen Betrachtung von territory geht es im Anschluss an Schatzki darum, Formen von Territorialisierungen in den Zusammenhängen menschlicher Leben zu entschlüsseln und zu beschreiben. Diese Territorialisierungen gehen mit der alltäglichen Produktion und Reproduktion von Regeln einher, die aus praktikentheoretischer Perspektive in den Praktiken selbst angelegt sind, an Formen und Fragen von Autorität und Macht geknüpft sind und in ihrer Gültigkeit bei jedem praktischen Vollzug neu verhandelt werden müssen. Zugleich wirken Territorialisierungen durch und in der Verquickung von sozialen Praktiken und materiellen Arrangements. Diese sind dabei keinesfalls zufällig miteinander verbunden, sondern sinnhaft miteinander in Praktiken-Arrangement-Bündeln verknüpft. Mithilfe des site-Konzepts können Territorialisierungen dabei sowohl in ihrer konkreten lokal-situativen Hervorbringung als auch in ihrer performativen Wirksamkeit gefasst und beschrieben werden. Diese praktikentheoretische Einordnung der Konzepte place, network, scale und territory unterstreicht nochmals die Vorzüge praktikentheoretischer Ansätze für geographische Fragestellungen. So lassen sich komplexe soziale Beziehungsgefüge und ihre vielfältigen räumlichen Ausprägungen ontologisch auf der Ebene sozialer Praktiken zusammenführen und analytisch zugänglich machen. Schatzkis Konzept der site bietet dabei den Vorteil, dass es gleichermaßen die Konstitutionsmechanismen der vielfältigen Räumlichkeiten des Sozialen beschreibt wie auch selbst Teil ihrer Hervorbringung ist. In diesem Sinne lässt es sich als »Aussichtsplattform« charakterisieren, die den Blick auf die verschiedenen räumlichen Formen sozialer Beziehungsgefüge konzeptionell schärft, dabei jedoch auch selbst Teil des Beobachteten ist. Site steht also nicht über den Dingen, sondern ist der Ort, an dem das Soziale in seinen vielfältigen räumlichen Formen hervorgebracht wird. Dabei vermag es eine solche Perspektive, insbesondere die performativen wie materiellen Dimensionen sozialer Räumlichkeiten hervorzuheben und beschreibbar zu machen. In diesem Zusammenhang stellen die aktuell geführten Debatten um die Rolle von Materialität (u.a. Gherardi 2017; Shove 2017) und Affekt (u.a. Reckwitz 2016; siehe auch Beitrag »Praktikentheorie und Emotion/Affekt« in diesem Band) in praktikentheoretischen Konzeptualisierungen interessante Ansatzpunkte für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den hier dargestellten Formen sozialer Räumlichkeit dar. Darüber hinaus ist durch die praktikentheoretischen Diskussionen der einzelnen Raumkonzepte deutlich geworden, dass diese nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, sondern sich stets Bezüge zu anderen Formen sozialer Räumlichkeit bilden, die es konzeptionell noch zu vertiefen gilt. Damit rücken auch Fragen um Machtrelationen und die politische Dimension sozialer Praktiken in den Vordergrund, die aktuell eingehend diskutiert werden (u.a. Watson 2017; siehe auch Beitrag »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung« in diesem Band).

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Die hier vorgestellten Überlegungen zu einer praktikentheoretischen Erschließung von Raumkonzepten sind somit nicht abschließend, sondern können als ein Ausgangspunkt für eine weitere Exploration praktikentheoretischer Raumforschung verstanden werden. Diese ist dabei nicht auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit den hier diskutierten Konzepten beschränkt. Vielmehr kann die praktikentheoretische Diskussion auch um Raumkonzepte erweitert werden, die in diesem Beitrag unberücksichtigt blieben. So wirft eine Beschäftigung mit territory auch Fragen nach der Konzeptualisierung von boundaries auf, die Agnew, Mitchell und Ó Tuathail (2003) als einen Kernbegriff der Politischen Geographie identifizieren. Zudem führt Elden (2017) jüngst den Begriff des terrain ein, um die Materialität von territory als politische Technologie konzeptionell besser fassen zu können. Die Beziehungsgefüge von Zentrum und Peripherie bieten zudem interessante Anknüpfungspunkte für eine praktikentheoretische Vertiefung von networks wie auch von scale. In der Beschäftigung mit Formen emotionaler Mensch-Raum-Kopplungen scheint vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zudem eine praktikentheoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept »Heimat« (Blickle 2002) lohnenswert. In diesem Sinne laden wir die Leser*innen ein, sich mit eigenen Ideen und Ansätzen an den zukünftigen Diskussionen zu beteiligen.

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Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit für die Humangeographie Christiane Stephan und Judith Wiemann »Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.« George Orwell

Einleitung In diesem Zitat, das George Orwell zugeschrieben wird, spiegelt sich die Vorstellung wider, dass Zeit als Orientierungsrahmen menschlichen Denkens und Handelns dient. Zeit wird als Größe wahrgenommen, nach der soziale Prozesse geordnet oder in manchen Fällen sogar messbar gemacht werden (Shove 2009). Zeit ist in wissenschaftlichen Debatten wie auch im öffentlichen Leben zu einem wichtigen Thema geworden (Shove/Trentmann/Wilk 2009). Dabei ist die Zeitwahrnehmung in modernen und spät- bzw. postmodernen Gesellschaften geprägt von Aussagen wie »Die Zeit rast« oder »Zeit ist Geld«. Erfahrungen von Zeitknappheit, Übereiltheit, Stress und Burnout werden in Medien und Politik öffentlich diskutiert. Neben positiven Darstellungen von Beschleunigung, z.B. in Schilderungen der Geschäftigkeit des Stadtlebens oder der Möglichkeit, verschiedene Aktivitäten wie Zugfahren und Telefonieren gleichzeitig durchzuführen und damit »Zeit zu sparen«, werden überwiegend negative Bilder von einer Konsumgesellschaft gezeichnet, in der alles »zu viel und zu schnell« ist. Soziale Bewegungen versuchen, die Schnelligkeit des sozialen Lebens zu verlangsamen, wie Kampagnen zu slow food, slow fashion oder sogar slow science darlegen (Fletcher 2007; Honoré 2004; Slow food 2018; Stengers 2017). In solchen Veränderungen von Zeitwahrnehmungen spiegeln sich wandelnde Ordnungen des Sozialen wider. Über diese Beobachtung hinaus bieten sozialtheoretische Ansätze relevante Einblicke in die Rolle von Zeit und Zeitlichkeit. So lenken bspw. Theorien sozialer Praktiken den Blick darauf, dass Zeit nicht nur primär der Ordnung sozialer Phänomene dient, sondern dass sie wesentlicher Bestandteil ebendieser sozialen Phänomene ist (Schatzki 2009). So drückt auch

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Christiane Stephan und Judith Wiemann

das Zitat Orwells ein Gefühl der Beschleunigung aus, welches nicht auf einer Veränderung objektiver Zeit beruht und nicht allein auf einer Modifikation des Ordnungssystems Zeit, sondern auf Veränderungen sozialer Dynamiken (siehe dazu auch Rosa 2005). Dieses Phänomen der Beschleunigung wird in der Geographie häufig als ein Kernaspekt der Globalisierung behandelt. David Harvey spricht in diesem Zusammenhang von einer Raum-Zeit-Kompression (1989) als einer technologieinduzierten Komprimierung von Raum und Zeit. So lassen bspw. schnellere Transportmöglichkeiten die Welt im übertragenen Sinne schrumpfen, da eine räumliche Entfernung eine andere, kürzere Zeitlichkeit bekommt. Unter anderem im Bereich der Entwicklungsgeographie findet eine kritische Auseinandersetzung hiermit statt (siehe insbesondere Massey 2005: 4f.). Dabei lässt sich festhalten, dass sich fundamentale Veränderungen in der Wahrnehmung von Raum und Zeit in unseren Gesellschaften ereignen. Diese Veränderungen sind untrennbar verknüpft mit dem Sozialen, d.h. den Interrelationen innerhalb von Gesellschaften, und müssen daher mit einer »sozialen Brille« betrachtet werden, was Anliegen dieses Beitrags ist (für eine tiefere Auseinandersetzung mit Raum und Räumlichkeit im Hinblick auf Theorien sozialer Praktiken siehe Beitrag »The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte« in diesem Handbuch). Konzepte von Zeit haben eine große Bedeutung für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt. Bezüge zur Dimension »Zeit« finden sich folglich auch in Theorien sozialer Praktiken, denen sich dieses Buch widmet, an vielen Stellen sowohl implizit als auch explizit wieder. Vorangegangene Beiträge dieses Handbuchs haben ein Grundverständnis der Theorien sozialer Praktiken dahingehend vermittelt, dass das Soziale – d.h. alle Dynamiken, Phänomene und Prozesse, die menschliche Koexistenz umfassen – durch soziale Praktiken konstituiert ist. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Verbindung von Zeit und sozialen Praktiken, um u.a. Fragen nach Entstehung, Stabilität, Dynamik, Veränderung und spezifischen Rhythmen des Sozialen zu adressieren und sie in ihrer Relevanz für geographische Arbeiten zu diskutieren. Der folgende Abschnitt führt in stark zusammengefasster Weise in die Thematik von Zeit als soziale Konstruktion in Theorien sozialer Praktiken ein. Der nächste Abschnitt thematisiert grundsätzliche Überlegungen zu Zeit in Theorien sozialer Praktiken. Dabei betrachten wir Praktiken im Hinblick auf ihre inhärente Zeit und Zeitlichkeit. Hierzu bedienen wir uns des spezifischen Vokabulars der Praktikentheorie Schatzkis. Daran schließt im folgenden Abschnitt eine Betrachtung der Dynamik einer Praktik im Zeitverlauf an, wobei wir konzeptionelle Überlegungen von Shove, Pantzar und Watson (2012) aufgreifen und diese anhand ausgewählter Beispiele erläutern. Im daran anschließenden Abschnitt argumentieren wir dafür, die Zeitlichkeit sozialer Praktiken konzeptionell in den Dynamiken von Prakti-

Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit

ken-Bündeln zu verorten. Hierbei bedienen wir uns Ansätzen, die von Blue (2017) sowie Blue und Spurling (2017) anhand von Beispielen komplexer Veränderungsprozesse in sozialen Praktiken bearbeitet werden. Abschließend gibt der letzte Abschnitt exemplarischen Einblick in aus unserer Sicht relevante Forschungsbereiche der Humangeographie, die sich aus praktikentheoretischer Perspektive mit Zeitlichkeit beschäftigen sowie zu Forschungsgebieten, in denen in Zukunft ein praktikentheoretischer Blick auf Zeitlichkeit als relevant erachtet wird. Der Beitrag endet im letzten Abschnitt mit zusammenfassenden und abschließenden Gedanken.

Zeit als soziale Konstruktion in Theorien sozialer Praktiken Wie treffen Menschen Aussagen über die Zeit? Zeit ist eine grundlegende Größe in der Physik, mit den Maßeinheiten »Sekunde«, »Minute«, »Stunde« usw. Die Relativitätstheorie Albert Einsteins verbindet die Zeit mit dem Raum zu einer vierdimensionalen »Raumzeit«. Zeit beschreibt dabei die Abfolge von Ereignissen, hat also im Gegensatz zu anderen physikalischen Größen eine eindeutige, unumkehrbare Richtung. In der Philosophie wird Zeit bzw. Zeitlichkeit ebenso wie Raum und Räumlichkeit als eine grundlegende Dimension menschlicher Aktivität und Erfahrung verstanden. Philosophen aller Jahrhunderte – darunter Aristoteles, Augustinus, aber auch Kant – äußern sich zu Zeit und zu ihrer Verbindung mit menschlichem Bewusstsein und Wahrnehmung. So beschreibt bspw. Immanuel Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1878 [1781]) Zeit (sowie Raum) als eine »reine Anschauungsform« und betont, dass Zeitlichkeit erst in der Selbst-Auseinandersetzung des Bewusstseins entsteht. Diesen Aspekt unterstreicht auch Henri Bergson in seinem Werk »Dauer und Gleichzeitigkeit« (2014 [1922]). Dabei setzt er sich aus philosophischer Sicht mit der Relativitätstheorie auseinander und prägt den Begriff der Dauer als erlebte, d.h. dem Bewusstsein immanente, prozessuale Zeit (im Gegensatz zu Zeit als physikalischer Größe). Verschiedene Ansätze von Praxistheorien betonen die Relevanz von Zeit und Zeitlichkeit für soziale Dynamiken. Bei den Praxistheoretikern der ersten Generation finden sich vielseitige Bezüge zu Zeitlichkeit (u.a. Bourdieu 1977, 1990; Giddens 1984, 1995; für eine aktuelle Diskussion zu Zeitlichkeit bei Bourdieu siehe Atkinson 2018), ebenso wie bei Autoren der zweiten Generation (u.a. Schatzki 2002, 2010; Shove/Pantzar/Watson 2012). Das Handeln und damit auch die Performance einer Praktik finden immer an einem spezifischen Ort sowie zu einem bestimmten Punkt in der Zeit statt. In sozialtheoretischen Texten wurden Zeit und Raum lange separat voneinander behandelt (Henkel/Laux/Anicker 2017: 3f.). Die Beziehung zwischen Raum und Zeit wird dabei als kontingent oder zufällig begriffen. Es finden sich jedoch auch Arbeiten, die die soziale Konstruktion von

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Zeit und Raum zusammen untersuchen (z.B. Lefebvre 1991, 2010 [1992]; Giddens 1984; Ingold 1993). Auch die Geographie beschäftigt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit diesen Zusammenhängen, hierzu liegen bspw. Arbeiten von Häger­strand (1970, 1975), Parkes und Thrift (1980), Massey (2005) sowie Harvey (1990) vor. Im Folgenden wird zunächst auf die zeitliche Dimension sozialer Praktiken im Sinne eines chronologischen Zeitbegriffs eingegangen und anschließend ein existenzialistisches Verständnis von Zeitlichkeit für soziale Praktiken näher diskutiert.

»Zeit« und »Zeitlichkeit« einer Praktik In Schatzkis Definition von Praktiken als »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« (1996: 89, eigene Herv.) benennt er den chronologisch-zeitlichen Charakter von Praktiken. Praktiken erstrecken oder entfalten sich über die Zeit, womit sie inhärent zeitliche Phänomene sind. Praktiken haben außerdem nach Shove (2009: 25) Praktiken-Zeit-Profile (practice-time profiles). Das bedeutet, sie haben (1) ihnen eigene Zeitspannen oder -dauern, die für ihre Durchführung angemessen sind (das Pendeln zur Arbeit ist im Idealfall kurz, kann aber eine gewisse Anzahl von Stunden nicht überschreiten, da sonst keine Zeit mehr für die Arbeit an sich bleibt), (2) Zeitpunkte, zu denen ihre Durchführung üblich ist (vor und nach der Arbeit) und (3) zeitliche Abläufe oder Reihenfolgen, nach denen sie in ihrer kompetenten Ausführung strukturiert sind (in das Auto einsteigen, bevor man damit losfährt) (Shove 2009: 25). Zeit ist zudem eine Ressource für Praktiken. Praktiken »verbrauchen« Zeit. Allerdings tun sie dies je nach Praktik in unterschiedlichen Ausmaßen und Sequenzen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Träger einer Praktik nur eine einzige oder eine begrenzte Zahl von Praktiken gleichzeitig ausüben kann (manche Praktiken schließen sich gegenseitig aus, andere sind kombinierbar, z.B. kann man beim Pendeln zur Arbeit Musik hören, aber nicht kochen), so kommen wir zu dem Schluss, dass Praktiken um die Zeit ihrer Träger konkurrieren. Dies eröffnet die Möglichkeit, den »Zeitkonsum« zu untersuchen, also die Frage zu stellen, wie viel Zeit ein*e Praktikenträger*in (oder eine Gruppe von Praktikenträger*innen) auf eine Praktik verwendet. Insbesondere ist dabei von Interesse, wie Praktiken, z.B. Fernsehen oder Video spielen, miteinander um die Zeit ihrer Träger konkurrieren. Die Berücksichtigung der begrenzten Verfügbarkeit von Zeit kann sowohl aus quantitativer als auch qualitativer Perspektive spannende gesellschaftsrelevante Fragen zum Alltag und dessen Wandel über die Zeit beantworten (Shove 2009: 17ff). Der schwedische Geograph Torsten Hägerstrand hat bereits in den späten 1960er Jahren einen wichtigen Beitrag zur Betrachtung von Zeit als Ressource und als beschränkender Faktor menschlichen Handelns formuliert. Seine Arbei-

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ten verfolgen einen Ansatz, der menschliche Aktivitäten in einem Spannungsfeld zwischen räumlichen und zeitlichen Zwängen aufzeigt, wobei er spezifische Diagramme zur Visualisierung dieser »Raum-Zeit-Pfade« entwickelte (1970). Die Relevanz dieses praktisch ausgerichteten Forschungsprogramms für sozialtheoretische Überlegungen in der Geographie wird u.a. von Thrift (2005) hervorgehoben. Dabei bietet Hägerstrand mit der Beschreibung einer »Macht der Präsenz« (»power of ›thereness‹« i. O., Thrift 2005: 337) und physischen Bedingtheit von Handeln eine Gegenposition zu sozialkonstruktivistischen Arbeiten seiner Zeit an. Gleichzeitig eröffnet er den Blick für Machtpositionen in raumzeitlichem Handeln. Er betont dabei, dass zeitliche Ressourcen innerhalb von Gesellschaften ungleich verteilt sind, was zum Ausschluss bestimmter Gruppen von Aktivitäten führt, die allgemein als allen Menschen zugänglich gelten (Hägerstrand 1970: 17). Raum und Zeit sind für Handlungen oder Aktivitäten eine fundamentale Bedingung. Sie können nur an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden. Diese Feststellung zeigt die Relevanz auf, Praktiken auf ihren performativen Charakter hin zu untersuchen. Gleichzeitig können Praktiken auch als Einheiten oder Entitäten verstanden werden, die die Zeit überdauern. Einige Praktiken, wie z.B. Praktiken des Essens, sind sicher so alt wie die Menschheit selbst, haben sich aber über den Lauf der Zeit verändert und angepasst. Sie sind außerdem zeitgleich an verschiedene lokale Kontexte angepasst. Andere Praktiken erweisen sich hingegen als weniger beständig. Praktiken müssen »praktiziert« werden, um als Einheit über die Zeit zu bestehen (Shove/Pantzar/Watson2012: 128ff.). Schatzki entwickelt gegenüber diesem objektiven, chronologischen Zeitbegriff ein existenzialistisches Verständnis von Zeitlichkeit, das für die Ausführung sozialer Praktiken und das Verständnis des Sozialen von hoher Relevanz ist. Dabei zweifelt er die Validität von objektiven Raum- und Zeitkonzeptionen1 nicht an. Er geht vielmehr davon aus, dass soziale Phänomene objektive zeitliche und räumliche Eigenschaften haben, die einen wichtigen Zugang für das Verständnis 1 Objektive Zeit und objektiver Raum sind für Schatzki: »Objective time and space are time and space conceived of as features of reality that persist independently of human activity and under­ standing. Examples are the geometric arrangement of a room and the time it takes for a grape to ripen on the vine. Human activity and understanding can affect or comprehend objective times and spaces (as when humans rearrange a room or plant a vine in a greenhouse), but what they affect or comprehend persists independently of the activity and understanding. That feature of objective reality that is dubbed ›time‹, moreover, is succession: whenever events or instants occur before and after one another, there is succession – and time. Of course, different conceptions exist of this before and after ordering, including, most famously, absolute time, relational time and, on some interpretations, relativistic time.« (Schatzki 2009: 35) Er weist aber auch darauf hin, dass es Konzeptionen von Sukzession gibt, die als subjektive und nicht als objektive Phänomene behandelt werden.

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dieser Phänomene bilden (Schatzki 2009: 36). Komplementär zu diesem Verständnis von Zeit argumentiert Schatzki für ein spezifisches Verständnis von Raumzeitlichkeit sozialer Phänomene, die er als timespace bezeichnet (Schatzki 2009, 2010). Timespace erfasst Zeit und Raum nicht mehr als objektiv, sondern als »inhärent miteinander verbundene und konstitutive Dimensionen [sozialer] Aktivität« (Schatzki 2010: XI). Es ist dabei ein fundamentales Element für Gesellschaft. Was ist nun aber genau timespace? Hierzu muss man zunächst auf Grundüberlegungen, derer Schatzki sich in seiner konzeptionellen Formulierung von timespace bedient, eingehen. Um auch sprachlich den Unterschied zu objektiven Zeit- und Raumkonzeptionen deutlich zu machen, spricht Schatzki dabei von »Räumlichkeit« bzw. »Zeitlichkeit« (im Gegensatz zu Raum bzw. Zeit). Schatzkis Konzeption von Räumlichkeit wird an anderer Stelle dieses Buches (siehe Beitrag »The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte«) ausführlicher diskutiert. An dieser Stelle sei betont, dass er ein aktivitätsorientiertes Verständnis von Räumlichkeit hat. Wichtig für die Auffassung von timespace ist dabei, dass Räumlichkeit einen inhärenten Bestandteil von menschlicher Aktivität darstellt – und damit auch von sozialen Praktiken. Für seinen existenzialistischen Begriff von Zeitlichkeit gilt dabei Ähnliches. Zeitlichkeit ist kein Aufeinanderfolgen oder ein Nacheinander von Ereignissen oder Momenten, sondern vielmehr ein fester »dimensionaler« Bestandteil menschlicher Aktivität. Unter Bezugnahme auf Wittgenstein legt er als eine Vorannahme seiner Konzeption von Zeitlichkeit dar, dass menschliche Aktivität sich durch grundlegende Variabilität auszeichnet (Schatzki 2010: XVI). Die Veränderbarkeit und Nichtfestgelegtheit sozialer Praktiken ist ein Merkmal, das sich als roter Faden durch seine theoretischen Überlegungen in verschiedenen Werken und Beiträgen zieht. Im Unterschied zu Zeit als einem Aufeinanderfolgen von Ereignissen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreibt Schatzki Zeitlichkeit (aus existenzialistischer Perspektive) folgendermaßen: »Existential temporality is […], the past, present and future dimensions of human activity. […] As dimensions of human activity […], past, present and future do not order events or anything else. Rather, they are features of activity. As features of activity, moreover, they are so long as a person acts: the three dimensions of temporality occur simultaneously.« (Schatzki 2009: 37) Die drei Dimensionen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit existieren demnach nicht chronologisch nacheinander, sondern parallel zueinander in Praktiken: Sie sind wesentlicher Bestandteil von Praktiken. Menschliche Aktivität ist diesem Verständnis nach geprägt durch ein Handeln auf ein Ziel hin (dies ist die »Zukunftsdimension« von Aktivität), durch eine Ausrichtung an Zuständen, die

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eine Motivation hervorrufen (dies ist die »Vergangenheitsdimension«), sowie das Handeln selbst (die »Gegenwartsdimension« von Aktivität) (Schatzki 2010: XII). Eine Überführung dieser abstrakten Überlegungen in ein konkretes Beispiel kann nur unter Inkaufnahme vielfältiger Vereinfachungen komplexer Dynamiken des Sozialen erfolgen. Wir wollen dennoch versuchen, noch einmal auf das oben erwähnte Beispiel des Zur-Arbeit-Pendelns zurückgreifen, um die mitei­nander verbundenen Dimensionen von Zeitlichkeit einfach zugänglich zu beschreiben: Pendeln als soziale Praktik zeichnet sich grundlegend dadurch aus, dass es eine an Zielen (Telos) ausgerichtete Zukunftsdimension innehat. Diese beeinf lusst die Ausführung von Aktivität in der Gegenwart, also z B. das Ziel, rechtzeitig für den Arbeitsbeginn am Arbeitsplatz anzukommen. Gleichzeitig beinhaltet diese Praktik eine »Vergangenheitsdimension«, eine spezifische Motivation zu Aktivität in der Gegenwart, welche aus vergangenen Zuständen resultiert. Dies können bspw. bereits erfahrene Probleme mit der Chefin durch zu spätes Erscheinen am Arbeitsplatz sein. Wir lernen aus diesem Verständnis von Zeitlichkeit, dass alle drei Dimensionen in der sozialen Praktik des Pendelns zusammenkommen. Während bereits bei diesem einfachen Beispiel deutlich wird, dass die verschiedenen Dimensionen von Zeitlichkeit vielfältige Querverbindungen zu anderen Zielen, Erfahrungen und Aktivitäten aufweisen, öffnet der Begriff der Zeitlichkeit (und noch viel mehr der um räumliche Dimensionen erweiterte Begriff des timespace) den Blick auf ein komplexes Netz von Dynamiken und zeitlichen wie räumlichen Dimensionen, die Teil sozialer Praktiken sind. Humangeographische Arbeiten, die sich häufig mit schon bei oberf lächlicher Betrachtung komplexen Prozessen beschäftigen, z.B. im Bereich sozial-ökologischer Dynamiken, erhalten bei Bezugnahme auf solche praktikentheoretischen Konzeptualisierungen die Gelegenheit, die Dimensionen Zeitlichkeit und Räumlichkeit präziser zu fassen.

Die Dynamik einer Praktik im Zeitverlauf Ein zentraler Gegenstand theoretischer Debatten im Bereich von Praxistheorien ist das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Veränderung sozialer Praktiken und somit einer Grundvoraussetzung sozialen Wandels. Diesen Zusammenhang formuliert Southerton folgendermaßen (2012: 339): »[T]he tensions and dynamics between the reproduction (stability) of practices and adaptation (innovation) in the performance of practices that generate social change.« Während Southerton (ebd.) die Zeitlichkeit sozialer Praktiken durch die Verwendung der Begriffe »habit« und »routine« erläutert, grenzen sich Autoren wie Knorr Cetina (2001: 196) oder Schatzki (2002) von dem Bild sozialer Praktiken als regelbasierte, festgelegte Routinen (siehe Beitrag »Gewohnheiten und Alltag«) ab und betonen dem-

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gegenüber die Offenheit, Variabilität und Kreativität in der Ausführung sozialer Praktiken sowie in der Dynamik des Sozialen allgemein. Eine Stärke der Theorien sozialer Praktiken besteht in einer Betonung von Nichtfestgelegtheit und Nichtvorhersehbarkeit bezogen auf die genaue Durchführung der Wiederholung von Praktiken. Warde beschreibt Praktiken als »internally differentiated and dynamic« (2005: 131). Auch Postill bringt die Variation sozialer Praktiken in seiner Definition zum Ausdruck: »Practices are the embodied sets of activities that humans perform with varying degrees of regularity, competence and f lair.« (2010: 1) Wichtig für die Zeitdimension ist eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen »Praktiken als Entitäten« (practices-as-entities) und »Praktiken als Durchführungen« (practices-as-performances), wie sie in den praktikentheoretischen Überlegungen von Shove und Pantzar (2007: 154) vorgestellt wird.2 Während Praktiken zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ausgeführt werden (z.B. die Fahrradfahrt zur Arbeit von Frau Meyer am 12. Mai 2019), lässt sich davon die Praktik als Entität, d.h. die regelmäßig durchgeführte Praktik des Fahrradfahrens zur Arbeit, unterscheiden. Letztere Praktiken-Kategorie betont, dass eine Praktik erst durch ihre Wiederholung zu einer solchen wird. Sie macht es aber auch möglich zu erkennen, dass in Praktiken immer Variation inbegriffen ist. Die Praktik des Fahrradfahrens zur Arbeit, selbst wenn jedes Mal dieselbe Strecke gefahren würde, enthält stets kleine, einzigartige Details: z.B. in der zeitlichen Abfolge der Aktivitäten (das Fahrradschloss wird zuerst aufgeschlossen und dann wird der Fahrradhelm aufgesetzt, ein anderes Mal andersherum) oder in der exakten Dauer einzelner Arbeitsschritte (Wartephasen an Ampeln können variieren). Im Laufe von vielen Wiederholungen einer bestimmten Praktik kann sich diese durch diese kleinen Variationen nachhaltig verändern, muss es aber nicht. Gleichzeitig macht erst die sich über die Zeit erstreckende Wiederholung eine Praktik zu einer Praktik im Gegensatz zu einer Einzelhandlung. Hui (2017) hebt dabei hervor, dass die Varianz zwischen Durchführungen eine grundlegende Beschaffenheit oder Eigenschaft von Praktiken ist und diese durch Bedeutung, die wir ihr zuschreiben, konstruiert wird. Eine Möglichkeit, wie man die Beziehung zwischen der Standardisierung einer Praktik und der beständigen Diversität in den Durchführungsmomenten verstehen kann, ist, dass jede Durchführung einer Praktik einzigartig ist. Denn sie wird beeinf lusst durch (1) vorhergegangene Durchführungen und (2) andere mit dieser Praktik in Verbindung stehende Praktiken (Praktiken-Bündel, siehe hierfür weiter Beitrag »Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie« in diesem Band). Jede Durchführung einer Praktik ist wiederum zu einem großen Anteil von der Praktik als Entität bestimmt. Die Durchführung einer Praktik und die Praktik 2 Mit »practices-as-performances« ist hier die Durchführung einer Praktik gemeint, nicht aber »performance« im Sinne der »Perfomance Theory« (z.B. Schechner 2003).

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als Entität stehen in diesem Sinne in einem ständigen Austausch und beeinf lussen sich gegenseitig (Shove/Pantzar/Watson 2012: 38f.), wie in Abbildung 1 vereinfacht skizziert ist. Abbildung 1: Varianz zwischen den Durchführungen einer Praktik

Quelle: Eigene Darstellung

Aus der konzeptionellen Unterscheidung und der Betonung der Variation lassen sich grundlegende Beobachtungen über das Soziale und seine Zeitlichkeit ableiten. Kleine Variationen in ansonsten gleichbleibenden Praktiken gehören zur alltäglichen Dynamik des Sozialen (vgl. in diesem Band Beitrag »Gewohnheiten und Alltag«). Eine Praktik wird nie in der exakt selben Art und Weise zweimal ausgeführt, es finden immer kleine Abwandlungen statt, die jedoch den Fortbestand der Praktik an sich nicht gefährden. Darüber hinaus gibt es aber auch Veränderungen, die zur kompletten Auf lösung von Praktiken oder dem Ersetzen einer sozialen Praktik durch eine andere führen. Diese Veränderungsprozesse beschreiben Shove, Pantzar und Watson in ihrem Werk »The Dynamics of Social Practices« (2012). Ein gutes Beispiel ist hierfür die Praktik des Autofahrens, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Praktik des Kutschenfahrens Schritt für Schritt verdrängte. Heute existiert das Kutschenfahren zwar noch als Praktik, wurde aber fundamental umdefiniert in seiner Bedeutung von einer alltäglichen Transportmöglichkeit hin zu einer mit Freizeit und Luxus assoziierten Aktivität (ebd.: 21ff.). Die Veränderungen von Praktiken im Zeitverlauf erklären Shove, Pantzar und Watson dabei über ihre Verbindungen zu anderen Praktiken. In einer bewussten Vereinfachung entwickeln die Autoren ein Praktikenkonzept, bei dem Praktiken aus drei Elementen bestehen: Material, Kompetenz und Bedeutung (material, competence, meaning). Praktiken sind über diese Elemente mit anderen Praktiken verbunden. So können Praktiken z.B. Elemente mit anderen Praktiken teilen; wenn es zu Veränderungen in einer der Praktiken kommt und das geteilte Element sich dadurch verändert, so führt dies wiederum zu Veränderungen in der anderen Praktik. Als Beispiel kann hier wiederum das Autofahren dienen (siehe Abbildung 2). In seinen Anfängen war Autofahren mit der Bedeutung des Abenteuers verbunden, und die Kompetenz, ein Auto zu reparieren, war ein fester

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Bestandteil des Autofahrens selbst, da die ersten Autos zu technischen Problemen neigten und oft auf freier Strecke stehen blieben. Die Praktik des Autoherstellens veränderte sich aber über die Zeit und machte Autos immer zuverlässiger und sicherer. Dies hatte wiederum Einf luss auf die Praktik des Autofahrens. Insofern wandelte sich die Bedeutung von Abenteuer hin zu einer alltäglichen Erfahrung. Die Kompetenz, ein Auto reparieren zu können, wurde dabei für die Praktik irrelevant (ebd.: 26ff.). Abbildung 2: Praktiken sind über ihre Elemente verbunden

Quelle: Eigene Darstellung, inspiriert von Shove/Pantzar/Watson 2012: 37

Praktiken sind somit über ihre Elemente mit einer Vielzahl anderer Praktiken verbunden. Veränderungen von Praktiken über die Zeit ergeben sich demnach auch über ihre Interrelationen mit anderen Praktiken. Damit zeigen Praktiken zwei grundlegende Veränderungsmechanismen im Zeitverlauf: zum einen ihre innere Dynamik zwischen den Performance-Momenten und Praktiken als Entitäten, zum anderen über ihre Verbindung zu anderen Praktiken.

Zeit und die Dynamik von Praktiken-Bündeln Wenn wir nun davon ausgehen, dass Praktiken in Bündeln oder Komplexen miteinander verbunden sind (siehe hierzu ausführlicher bspw. den Beitrag »Vom Wissen über das Tun« in diesem Buch) und das Soziale aus diesen Bündeln und

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Komplexen besteht, eröffnet sich die Frage, wie Praktiken-Bündel und damit das Soziale sich zeitlich koordinieren. Die zeitliche Koordination und Synchronisation von Gesellschaften ist dabei durchaus beeindruckend. Die Festlegung der Stunden auf 24 pro Tag, die Erfindung der Sechstagewoche mit bspw. dem Sonntag als »Nichtarbeitstag« (oder aber Freitag oder Samstag) sowie das Kalenderjahr sind soziale Konstruktionen, die auf die Koordination und Synchronisation von Praktiken wirken und gleichzeitig durch diese entstehen. Individuelle Zeiteinteilungen von Personen decken sich dabei oft mit kollektiven Zeiteinteilungen (Zerubavel 1981). Dies zeigt sich z.B. in beeindruckender Weise in Hauptverkehrszeiten in großen Städten, wo viele Arbeitnehmer*innen, Schüler*innen und Studierende ihre täglichen Verkehrswege zu fast derselben Zeit antreten. Wie entsteht und koordiniert sich nun aber die sozialzeitliche Ordnung? Es gibt verschiedene Konzepte in den Sozialwissenschaften zur Beantwortung dieser Frage. Eines der hier als relevant erachteten Konzepte wurde von dem französischen Soziologen Henri Lefebvre in seinem Buch »Rhythmanalysis: Space, Time and Everyday Life« (2010 [1992]) entwickelt. Lefebvre ist daran interessiert, wie sich der gesellschaftliche Rhythmus zu regulierter Zeit verdichtet, an seinen Wiederholungen und seinen Veränderungen. Er identifiziert dabei zwei Arten von Rhythmen: zyklische und lineare. Lefebvre zeichnet dabei ein Bild von einem eine Gesellschaft steuernden Rhythmus. Insbesondere die Stadt wird dabei als Beispiel genommen, die ihre Bewohner in ihren zeitlichen Rhythmus presst. Um die Frage nach der sozialzeitlichen Ordnung aus praxistheoretischer Perspektive zu beantworten, greift Shove (2009) auf das (oben beschriebene) Konzept der Praktiken-Zeit-Profile zurück. Die zeitlich chronologische Organisation der Gesellschaft hängt ihr zufolge (ebd.: 27) von der Gesamtsumme der Praktiken-Zeit-Profile in dieser Gesellschaft und der Art und Weise ab, wie diese Profile sich überschneiden. So hat das Zeit-Profil der Praktik des Zur-Arbeit-Pendelns zur z.B. eine zeitliche Relation zum Zeit-Profil der Praktik des Arbeitens und des Schlafengehens. Typischerweise pendelt man zur Arbeit nach dem Aufstehen und vor dem Arbeitsbeginn. Blue (2017) entwickelt eine weitere praxistheoretische Perspektive auf sozialzeitliche Ordnung. Er verknüpft Lefebvres Konzept der rhythmanalysis mit praktikentheoretischem Denken (für eine geographische Aufarbeitung von Lefebvres »Rythmusanalyse«-Konzept siehe Edensor 2010). In seinem Ansatz betont er, dass Rhythmusanalyse einen Zugang zu den vielfältigen und dynamischen Verbindungen zwischen Praktiken ermögliche, ein Unterfangen, das laut ihm bisher von Theorien sozialer Praktiken nicht erfolgreich realisiert werden könne. Praktiken werden hier als offene, räumlich-zeitliche Entitäten in dem Sinne verstanden, dass sich ihre Durchführung über den Raum erstreckt und zeitlich wiederholt. Im Verlauf dieser Wiederholung von Praktiken, in ihrer Wiederkehr, verändern sich diese u.a. durch die Wiederholung und Bewegung anderer Praktiken (Blue 2017: 16). Dies

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lässt erkennen, dass die Komplexität sozialer Praktiken – sowohl ihre Entstehung, ihre Wiederholung, Veränderung oder ihre Auf lösung – nur in der Verbundenheit zwischen Praktiken gedacht werden kann. Praktiken stehen zueinander in bestimmten Arten der Verbindung. Eine Dimension der Verbindung von Praktiken ist Zeitlichkeit. Hierbei betont Blue (ebd.) den Nutzen der Metapher des Rhythmus, der ein hohes Maß an Komplexität und Diversität verschiedener Arten von Beziehungen umfassen kann. Anders als die Beschreibung von Praktiken-Relationen als in Harmonie stehend oder in Konf likt miteinander befindlich, argumentiert er für das Sprachbild des Rhythmus (ebd.: 19). Blue betont vor allem zwei Typen von rhythmischen (temporalen) Beziehungen zwischen Praktiken: Arrhythmie (Rhythmen die asynchron zueinanderstehen, sich sozusagen stören oder negativ beeinf lussen) und Eurhythmie (Rhythmen, die synchron sind und einander ergänzen). Dabei sind beide Zustände nicht konträr, sondern kommen parallel in der sozialen Welt vor und erschaffen das alltägliche Sammelsurium sozialen Lebens. Diese Art der Analyse bringt allerdings auch die Schwierigkeit mit sich, dass sich Praktiken nicht auf einen fixen Rhythmus festlegen lassen, sodass man nicht trennscharf Rhythmus A und Rhythmus B voneinander abgrenzen kann. Vielmehr fällt diese rhythmisch-zeitliche Dimension auf, wenn man sich Praktiken-Bündel vergleichend anschaut. Erst dann tritt die Dynamik von Eurhythmie und Arrhythmie deutlich hervor. Ein Beispiel für Arrhythmie und Eurhythmie findet sich als Randnotiz in einem Forschungsprojekt einer der Autorinnen.3 So wurde in Interviews mit Personalleiter*innen von Produktionsfirmen, die in ländlichen Regionen Mexikos ihre Niederlassungen haben, beklagt, dass ihre Produktionsmitarbeiter*innen zu bestimmten dörf lichen Feiertagen für mehrere Tage einfach nicht zur Arbeit erschienen. Während diese über das Jahr verteilten Festivitäten, oder religiös-zelebrativen Praktiken-Bündel, für den zeitlichen Rhythmus der Praktiken-Bündel landwirtschaftlicher Produktion weniger ein Problem darstellen (Eurhythmie), ergibt sich für das kontinuierlich fertigende, auf Stückzahlen angewiesene Praktiken-Bündel industrieller Produktion ein Problem (Arrhythmie). Eine wichtige Schlussfolgerung, die Blue in seinem Text zieht, ist die, dass »Wiederholung von Aktivität fundamental für die Etablierung von Ordnung im sozialen Leben [ist]« (Blue 2017: 21). Was beim ersten Lesen als triviale Aussage erscheinen mag, gewinnt Bedeutung bei der Berücksichtigung, welch wichtige Rolle Wiederholung bei der Ausübung von Macht und der Konstitution machtvoller 3 Die Autorin, Judith Wiemann, dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FU 424/16-1 und PI 418/5-1) für die Förderung des Projektes »Globale Strategien und lokale Formen der technischen Aus- und Fortbildung in deutschen multinationalen Unternehmen – ein regionaler Vergleich in Emerging Economies« sowie Martina Fuchs, Matthias Pilz und Kristina Wiemann für die Zusammenarbeit in diesem Projekt.

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Positionen in der Gesellschaft hat. Um Macht auszuüben, muss eine soziale Gruppe Einf luss darauf haben, welche sozialen Praktiken wiederholt, welche abgeändert und welche abgeschafft werden, außerdem, welche Praktiken mit welchen anderen Praktiken in Beziehung stehen (und welche Beziehungen überdauern). Die Betonung der Dynamik des Sozialen, der stetigen Veränderung und Offenheit sozialer Praktiken, wird manchmal als Unberechenbarkeit oder Willkürlichkeit missverstanden. Damit wird die Bedeutung der Analyse sozialer Praktiken für die Analyse von Macht und ihrer Konstitution zu Unrecht unterschätzt. Die Dynamik des Sozialen macht es tatsächlich schwer, Macht als Moment in sozialen Prozessen greif bar zu machen. Aber genau hier scheint es ein angemessener Schritt, Praktiken und ihre Verknüpfungen im Hinblick auf ihre Wiederholungen, ihre Rhythmen, die dynamischen Beziehungen zwischen Arrhythmie und Eurhythmie zu betrachten und darauf auf bauend Aussagen über die Ausübung von Macht in sozialen Praktiken zu machen (siehe hierzu auch Beitrag »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung« zu Praktiken und Macht). Blue und Spurling (2017) präsentieren ein Beispiel, anhand dessen sich Veränderungen sozialer Praktiken über einen klar umgrenzten Zeitraum erkennen lassen. Anhand der Analyse von Dynamiken in einem Krankenhaus in Liverpool bearbeiten sie die Fragestellungen, wie sich soziale Praktiken verändern und wa­ rum einige Praktiken gleichbleiben (ebd.: 24). Um zu verstehen, wie sich nicht einzelne Praktiken, sondern Praktiken-Bündel verändern, präsentieren die Autoren einen Ansatz zur Analyse der Interrelationen zwischen Praktiken bzw. der »Interconnections« (ebd.: 25, Herv. i.O.). Dazu bietet sich der Untersuchungsgegenstand des Krankenhauses an, dessen ununterbrochener Betrieb 24 Stunden am Tag und an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Hier können wiederkehrende Abläufe und typische Abfolgen von Aktivitäten innerhalb eines Tages (oder einer Woche, eines Monats, eines Jahres) die zeitlichen Dimensionen sozialer Praktiken eindrücklich sicht- und erfahrbar machen (ebd.). Ausgehend von sichtbaren Veränderungen in der physischen Struktur der Gebäude, zeigen die Autoren auf, dass Veränderungen nur dann zu verstehen sind, wenn die Interrelation zwischen verschiedenen sich verändernden Praktiken in den Fokus rücken. Für das Krankenhaus sind dies bspw.: weitreichende Verbesserungen in den medizinischen Wissenschaften, Rekonfiguration und Ausweitung der Gesundheitsberufe, kulturelle Veränderungen in sozialen Kategorien (Kind/Kindheit, soziale Klasse, Gender und Alter) und logistische Veränderungen in Bezug auf die (zeitliche) Organisation der Arbeit verschiedener Gruppen von Krankenhausangestellten (Blue/Spurling 2017: 27). Die Autoren verwenden den von Shove, Pantzar und Watson (2012) eingeführten Begriff des connective tissue, um eine den Praktiken innewohnende »Fläche« für Interrelation mit anderen Praktiken zu verdeutlichen. Dabei argumentieren sie, dass nicht jeweils individuelle Praktiken eigene zeitliche Charakteristika haben, sondern dass zeitliche Charakteristika sich innerhalb eines größeren Prakti-

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ken-Bündels etablieren und ändern. Hiermit gehen sie über den Ansatz Schatzkis hinaus, der zeitliche Dimensionen in einzelnen Praktiken verortet (2009: 40).

Humangeographische Ansätze und weiterer Forschungsbedarf zu Zeit und Zeitlichkeit in der praktikentheoretischen Perspektive Die Relevanz der in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze, Zeit und Zeitlichkeit aus praktikentheoretischer Perspektive zu erschließen, zeigt sich letztlich darin, inwieweit sie für empirische Forschung nützlich erscheinen. Wie nun aber können diese Überlegungen zum zeitlichen Rhythmus der Praktiken-Bündel und damit des Sozialen mit den räumlichen Dimensionen sozialer Prozesse verbunden werden, die in humangeographischen Arbeiten diskutiert werden? Zwei grundlegende Zusammenhänge von Raum/Räumlichkeit und Praktiken, die an anderer Stelle in diesem Sammelband ausführlicher behandelt werden (siehe Beitrag »The Site of the Spatial – eine praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte«), machen die Verbindung zwischen Zeit/Zeitlichkeit und Raum/Räumlichkeit einerseits und Praktiken andererseits deutlich. Praktiken als Durchführung (practices-as-performances, nach Shove 2009, siehe Abschnitt »Die Dynamik einer Praktik im Zeitverlauf«) verfügen in ihren Durchführungsmomenten nicht nur über einen fixen Zeitpunkt, an dem sie stattfinden, sondern auch über einen Ort, an dem dies geschieht. Damit haben die Durchführungen in gewisser Weise eine raumzeitliche Referenz. Gleichzeitig stellen Praktiken in einem konstruktivistischen und relationalen Sinne Räumlichkeit und Zeitlichkeit her. Ausgehend von diesen zwei Beobachtungen, geben wir im Folgenden Beispiele von – aus unserer Sicht – empirisch relevanten Phänomenen, die sich für eine praktikentheoretische Auseinandersetzung in der Humangeographie mit Fokus auf Zeit und Zeitlichkeit anbieten. Wir gehen dabei zum einen rudimentär auf ausgewählte Studien ein, die wir für den Zusammenhang zwischen sozialen Praktiken und Zeit als besonders relevant erachten. Zum anderen behandeln wir die Beschreibung von drei Beispielen aus eigenen aktuellen Forschungsprojekten. Dabei ist die Auswahl dieser Themenbereiche und Forschungsprojekte als exemplarischer und damit höchst selektiver Einblick in humangeographische Auseinandersetzungen mit Praktiken und Zeit zu verstehen. Hiermit wird nicht der Anspruch verfolgt, einen repräsentativen Überblick über relevante Forschungsbereiche zu geben, sondern durch ausgewählte Beispiele das Interesse der Leser*innen dieses Kapitels an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit Praktiken und Zeit in der Humangeographie zu wecken.

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Veränderungen im Verhältnis einer Gesellschaft zu Zeit und der Relevanz von Zeit für die Strukturierung des Sozialen Während in diesem Themenbereich bereits eine Reihe von Arbeiten vorliegen, sehen wir es als lohnenswert und relevant an, die politische Dimension der Deutungsmacht über Zeit in aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken hervorzuheben und aus humangeographischer Perspektive zu bearbeiten. Jüngere Arbeiten zu Praktiken des Risiko- und Katastrophenmanagements zeigen exemplarisch einen Politik- und Gesellschaftsbereich auf, in dem zeitliche Logiken eine wichtige Rolle für die Gestaltung und Veränderung sozialer Praktiken spielen. Anderson (2010) analysiert dabei Praktiken der Berechnung, Imagination und Performanz, die Ungewissheiten über zukünftige Entwicklungen in messbare Risiken übersetzen. Seine Arbeit setzt einen konzeptionellen Impuls für eine Reihe weiterer Publikationen zu Praktiken der Antizipation. Neisser und Runkel (2017) untersuchen verräumlichende Praktiken in Simulationstechnologien und Maßnahmen des Gefahrenmanagements. Darüber hinaus beschäftigen sich auch neuere humangeographische Arbeiten zu riskscapes mit den räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Risikopraktiken (Müller-Mahn/Everts/Stephan 2018). Ein anderes Beispiel für ein Forschungsfeld, in dem Zeit als wesentliche Dimension sozialer Praktiken untersucht wird, ist der Bereich der Arbeit. Atkinson (2013) liefert bspw. einen an Bourdieus Überlegungen zu Zeit und Praxis anlehnenden konzeptionellen und empirischen Beitrag zur Untersuchung der Dominanz zeitlicher Strukturierungen in neoliberalen Beschäftigungspolitiken.

Zeitlichkeit in sozial-ökologischen Transformationsprozessen und in sich verändernden Zeitorientierungen Zeitlichkeit und Räumlichkeit spielen an verschiedensten Punkten der Abstimmung zwischen Praktiken-Bündeln eine Rolle. Im Rahmen der Forschungen des DFG-Sonderforschungsbereichs »Future Rural Africa«4 werden Fragen zur zukünftigen Entwicklung ländlicher Räume in Afrika formuliert. Geplante und in Umsetzung befindliche infrastrukturelle Großprojekte in ländlichen Regionen Ostafrikas dienen als Fallbeispiele zur Analyse großf lächiger und langzeitlicher sozial-ökologischer Transformationsprozesse, in deren Plänen sich spezifische Visionen von Zukunft manifestieren. 4 Die Autorin, Christiane Stephan, ist assoziiertes Mitglied des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs TRR 228 – »Future Rural Africa« und dankt der DFG für die Förderung sowie dem Leiter des SFB und des Teilprojekts C03 – »Green Futures«, Prof. Dr. Müller-Mahn, für den Austausch zu sozial-ökologischen Transformationsprozessen und Zeitlichkeit.

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Aus praktikentheoretischer Perspektive lassen sich mehrere relevante Untersuchungsansätze in Bezug auf die zeitlichen Dimensionen von Transformationsprozessen formulieren. Hier sollen zwei wesentliche Ansätze exemplarisch skizziert werden: (1) Einerseits lassen sich Prozesse der zeitlichen Veränderung von Praktiken analysieren. Um kurz-, mittel- und langfristige Veränderungen sozialer Praktiken des Zugangs und der Nutzung von Land in den Fallbeispielregionen Ostafrikas verstehen zu können, ist es relevant, spezifische Praktiken nicht isoliert zu betrachten, sondern diese in Anlehnung an Shove, Pantzar und Watson (2012), Schatzki (2016) oder Blue und Spurling (2017) als Teil von größeren Praktiken-Bündeln zu verstehen, die sich in Veränderung befinden. Um Veränderungen in Praktiken der Landnutzung adäquat zu untersuchen, müssen gleichzeitig eine Reihe anderer Praktiken betrachtet werden. Dies sind Veränderungen (oder ein Gleichbleiben) von bspw. Praktiken des Landerwerbs für ausländische Investoren und Akteure des internationalen Finanzsektors, des Zugangs zu Finanzmitteln für mittelständische Unternehmen, der Mechanisierung der Landwirtschaft, der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, von Wertschöpfungsketten des globalen Agrarsektors, des Erwerbs und der Vermehrung von Saatgut usw. Zeitlichkeit als eine Dimension des connective tissue zwischen diesen verschiedenen Praktiken zu analysieren, verspricht relevante Mechanismen der Koordinierung und damit verbundene soziale Dynamiken der Ausübung von Macht erkennen zu lassen. (2) Andererseits kann man prüfen, welche chronologischen Zeitorientierungen in den aktuell dominanten sozialen Praktiken, die für Landnutzungswandel in Ostafrika relevant sind und handlungsleitend wirken. Über eine Analyse der internen Ordnung ausgewählter sozialer Praktiken (Schatzki 2002) lässt sich aufzeigen, welchen Stellenwert bspw. die Ausrichtung an der Zukunft in diesen Praktiken hat. Dabei sollen in der Analyse insbesondere zwei der von Schatzki beschriebenen vier Mechanismen der internen Ordnung sozialer Praktiken betrachtet werden: einerseits die teleoaf fective structures (ebd.: 81), welche mit einer Ausrichtung an Telos, d.h. an Zielen, Projekten und Aufgaben, den Blick auf eine offene, noch nicht festgelegte Zukunft werfen. Andererseits sind insbesondere general understandings (ebd.: 86) eine relevante Dimension, um zeitliche Orientierungen in Gesellschaften zu analysieren. Diese Grundhaltungen implizieren spezifische Verständnisse von Zeit in einer Gesellschaft und bestimmen u.a. mit, welchen Stellenwert die Ausrichtung auf die Zukunft in sozialen Gruppen hat. Mithilfe einer detaillierten empirischen Analyse könnten relevante Zeitorientierungen, die sozialen Praktiken innewohnen und die sozial-ökologische Transformationsprozesse wesentlich zeitlich und räumlich strukturieren, sichtbar gemacht werden.

Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit

Die Bedeutung von Rhythmen sozialer Praktiken in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen In der empirischen Forschung einer der Autorinnen dieses Beitrags zu Praktiken des alltäglichen Hochwassermanagements in Mexiko5 (Stephan 2019, i.E.) fällt in der Analyse auf, dass Praktiken eine spezifische Zeitlichkeit, einen bestimmten zeitlichen Rhythmus besitzen. Nach der Identifikation und Zusammenführung der empirischen Daten zu einer Vielzahl sozialer Praktiken, die alle zum Konglomerat »Umgang mit Hochwasser« gehören, zeigt sich, dass manche Praktiken bzw. Praktiken-Bündel sich durch Brüche, zeitliche (oder auch räumliche) Passungsprobleme auszeichnen. Andere Praktiken-Bündel weisen ein besonders gutes und passendes Zusammenspiel der Dimensionen von Zeitlichkeit (und/oder Räumlichkeit) auf. Die erste Interpretation der empirischen Daten war, dass bspw. Praktiken-Bündel A des Hochwassermanagements (nennen wir es »Anpassung an Hochwasser durch klassische, staatlich gelenkte Maßnahmen mit Einsatz von externem Wissen und Technologie«) in direktem Konf likt zu Praktiken-Bündel B des Hochwassermanagements (nennen wir es »Anpassung an Hochwasser durch Beobachtung der Natur und Einsatz lokalen Wissens bzw. lokaler Materialien«) steht und sich nur eines der beiden Praktiken-Bündel durchsetzen kann. Bei einer genaueren Analyse hat sich jedoch herausgestellt, dass die Beschreibung »Konf likt oder Gegensätzlichkeit der Praktiken in diesen Praktiken-Bündeln« eine zu starke Vereinfachung der komplexen Interrelation darstellt. Zwischen diesen beiden Praktiken-Bündeln fallen einzelne Komponenten – d.h. einzelne Praktiken – auf, die in unterschiedlichster Beziehung zueinanderstehen. Dabei tritt die besondere Bedeutung der zeitlichen Dimension der Praktiken hervor. Es fällt auf, dass einige Praktiken einen zeitlichen Rhythmus (von Wiederholung und Veränderung) besitzen, der mit anderen Praktiken in eurythmischer Beziehung steht, d.h. es treffen zeitliche Rhythmen aufeinander, die sich unterstützen und »gut zusammenspielen«. Dieselben Praktiken stehen jedoch zu anderen Praktiken bzw. deren Rhythmus in einem arrhythmischen Verhältnis. Auch wenn hier die zeitlichen und räumlichen Dimensionen nur angedeutet werden können, zeigt dieses empirische Beispiel auf, welche Komplexitäten von Interrelationen zwischen Praktiken bestehen können, die für die Analyse sozialer Dynamiken von Relevanz sind.

5 Empirische Forschung im Rahmen des 2017 abgeschlossenen Dissertationsprojekts. Die Autorin, Christiane Stephan, dankt dem DAAD für Förderung der Forschungsreisen in Mexiko in den Jahren 2014 und 2015.

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Räumliche Ausbreitung von Praktiken im Zeitverlauf und im Zusammenhang mit Praktiken-Zeit-Profilen Die Ausbreitung von Praktiken im geographischen Raum hat eine zeitliche Dimension. Insbesondere zwei Aspekte erscheinen hier aus unserer Sicht von Interesse. Zum einen befassen sich verschiedene wissenschaftliche Arbeiten explizit mit der Ausbreitung spezifischer Praktiken an verschiedenen Orten und in einem gewissen zeitlichen Verlauf. Hierzu zählen Auseinandersetzungen mit Praktiken des Konsums, wie bspw. Arbeiten zu Modetrends (Gronow 2009), Körperlichkeit (Adam 1995), Mahlzeiten (Southerton/Díaz-Méndez/Warde 2012) oder Arbeitszeit und Freizeit (Brannen 2005; siehe auch Hochschild 1997). Bei diesen sehen wir das Potenzial für die Erforschung räumlicher und zeitlicher Dynamiken von Praktiken unter expliziter Beschäftigung mit relationalen Raumverständnissen aus humangeographischer Perspektive. Zum anderen kann der Transfer einer Praktik an einen anderen Ort einen Einf luss auf ihr Praktiken-Zeit-Profil haben. Im Rahmen eines DFG-geförderten Forschungsprojekts6 zur Internationalisierung von Trainingspraktiken deutscher multinationaler Unternehmen nach Mexiko, Indien und China hat ein praktiken­ theoretischer Blick neue Perspektiven eröffnet. So zeigt sich, dass der Transfer von Praktiken über eine geographische Distanz in einen anderen Kontext nicht nur maßgeblich von diesem Kontext geprägt wird, sondern auch von der transferierten Praktik selbst. Praktiken unterscheiden sich in ihrer Bedeutung ebenso wie in den für sie benötigten Materialien und Kompetenzen, wie das oben zitierte Modell von Praktiken von Shove, Pantzar und Watson (2012) es definiert. Diese Unterschiede zwischen Praktiken haben sich als wichtige Elemente im Transfer von Praktiken erwiesen. Darüber hinaus hat sich aus der Empirie des Forschungsprojekts aber auch ergeben, dass die Komplexität von Praktiken-Zeit-Profilen ebenfalls eine wichtige Rolle im Transfer von Praktiken spielt. Transferierte Praktiken müssen ihr Zeit-Profil an den Rhythmus der Praktiken an ihrem Transferziel anpassen. Dies gilt auch umgekehrt. Der Kontext am Zielort des Praktikentransfers muss ebenfalls dieses »neue« Zeit-Profil integrieren, nur so kann eine Praktik tatsächlich transferiert werden. Der Kontext und die Praktik selbst erfahren dabei immer eine Veränderung, die Qualität und die Größe dieser Veränderung werden jedoch von der Beschaffenheit der Praktik und des Kontexts sowie ihrer Kompatibilität bestimmt. Konkret haben sich solche Zeit-Profil-Anpassungen einer Praktik im hier geschilderten Forschungsprojekt z.B. im Zusammenhang mit der Länge von dualen Ausbildungsgängen gezeigt. Deutsche multinationale Unternehmen haben seit vielen Jahren duale Ausbildungspraktiken nach 6 Die Autorin, Judith Wiemann, dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FU 424/16-1 und PI 418/5-1). Siehe auch Fußnote 3.

Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit

deutschem Modell mit in ihren weltweiten Betriebsstätten eingeführt (Wiemann et al. 2018). Hierfür finden sich Beispiele aus dem Bereich der Automobilindustrie in allen drei Ländern, die das Forschungsprojekt abdeckt, Mexiko, Indien und China. In diesen Betrieben werden insbesondere Werkzeugmacher*innen und Mechatroniker*innen nach dualen Ausbildungsstandards ausgebildet (Wiemann/ Fuchs 2018). Im Ursprungskontext der dualen Ausbildungspraktik in Deutschland dauern diese Ausbildungen dreieinhalb Jahre. In Mexiko reduziert sich diese Zeit in den untersuchten Betrieben um ein halbes Jahr, was durch die extensiveren Arbeitszeiten dort ermöglicht wird. Die Auszubildenden arbeiten während der Dauer ihrer Ausbildung auch samstags. Dadurch verkürzt sich die Ausbildungsdauer in Jahren bei gleichbleibender Ausbildungszeit in Stunden. Das Praktiken-Zeit-Profil der dualen Ausbildung hat sich hier also in den mexikanischen Arbeitsrhythmus eingepasst.

Ausblick Wie in diesem Beitrag aufgezeigt wurde, sind Zeit und Zeitlichkeit essenzielle Dimensionen sozialer Praktiken. Um sowohl historische Prozesse als auch gegenwärtige und zukunftswirksame Dynamiken kleiner wie auch großer sozialer Phänomene (Schatzki 2016) zu untersuchen, ist der konzeptionelle Blick auf Zeitlichkeit sozialer Praktiken unabdingbar. Während Praxistheorien bereits in den Arbeiten von Bourdieu (1977, 1990) und Giddens (1984) auf die Relevanz von Zeitlichkeit hinweisen, haben jüngere Arbeiten vielversprechende konzeptionelle Ansätze entwickelt, um Zeitlichkeit als Dimension des Sozialen zu verstehen. Dabei leisten diese jüngeren Arbeiten einen wesentlichen Beitrag, um jenseits strukturalistischer Ansätze soziale Praktiken, Praktiken-Bündel und die ihnen inhärente Zeitlichkeit zu analysieren. Gleichzeitig bieten sie Ansätze, um spezifische Rhythmen in der Gesellschaft zu erkennen und zu verstehen, bspw. wie sich verändernde subjektive Zeitempfindungen mit größeren sozialen Dynamiken zusammenhängen. Hier kann die in der Einleitung erwähnte Wahrnehmung einer Beschleunigung in der Gesellschaft als Beispiel dienen. Damit bieten diese Arbeiten humangeographischen Fragestellungen einen wichtigen konzeptionellen Impuls und liefern zugleich Anknüpfungspunkte für methodologische Überlegungen. Wir erkennen weiteres Potenzial in der Fokussierung auf Praktiken und Zeitlichkeit, um klassische Themen der Geographie mit einer neuen, praktikentheoretischen Brille zu untersuchen und damit neue Zusammenhänge zu identifizieren. So können klassische, zeitlich orientierte Begriffe und Konzepte aus geographischen Debatten, wie z.B. Pfadabhängigkeit und evolutionäre Ansätze, mit praktikentheoretischen Überlegungen zu Zeit und Zeitlichkeit kombiniert und weitergedacht werden.

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Die Nützlichkeit praktikentheoretischer Überlegungen zu Zeit und Zeitlichkeit für die humangeographische Forschung, insbesondere auch in Konkurrenz zu anderen theoretischen Zugängen, muss letztlich aber durch den Zugewinn für empirische Forschung erfolgen. Wie sich anhand jüngerer Arbeiten aus dem Bereich der Humangeographie und verwandter Disziplinen zeigt, finden praxeologische Ansätze auf vielseitige Weise Anwendung in gesellschaftsrelevanten Forschungen. Ökonomische, politische und sozial-ökologische Dynamiken sowie aktuelle Transformationsprozesse können aus unserer Sicht mit praxeologischen Ansätzen und den entwickelten Instrumenten zur Analyse von Zeitlichkeit umfassend untersucht werden. Die Berücksichtigung von Komplexität ist dabei eine wesentliche Stärke von Praktikentheorien, die es in der Humangeographie weiter zu nutzen gilt, um zu einem tieferen wissenschaftlichen Verständnis von gesellschaftsrelevanten Dynamiken beizutragen.

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Praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit

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Praktiken und gesellschaftlicher Wandel Jonathan Everts

Einführung Wie jede analytische und gleichermaßen ontologische Perspektive bieten Praxistheorien eine Reihe von Vorteilen, indem sie bestimmte Sachverhalte sichtbar werden lassen. Sie laden dazu ein, produktive Fragen zu stellen, und Dinge in den Fokus zu rücken, die andere Perspektiven vernachlässigen. Umgekehrt hat die Sichtweise der Praxistheorien aber auch ihre blinden Flecken und verdeckt Phänomene, die je nach Problemstellung eine Untersuchung wert sind. Ein notorisch problematischer Bereich ist die praxeologische Erklärung von gesellschaftlichem Wandel. Dass es hier nicht ganz rund läuft, ist den Praxeolog*innen seit einiger Zeit bewusst. Direkt angegangen wird das Problem z.B. von Schatzki (2002) mit einem ganzen Beitrag zu social change (siehe auch Schatzki 2019) oder von Shove, Pantzar und Watson (2012), die explizit im Untertitel ihres Buches ankündigen, »alltägliches Leben und wie es sich verändert« zu untersuchen. Trotz dieser Arbeiten bleiben Phänomene wie Veränderung und gesellschaftlicher Wandel ein weniger leicht zugänglicher Bereich für die praxeologische Sichtweise und bedürfen verhältnismäßig mehr konzeptioneller Vorarbeiten, als für die praxeologische Analyse von Stabilität und Kontinuität notwendig erscheinen. Im Folgenden wird zunächst geklärt, warum gesellschaftlicher Wandel aus praxeologischer Sicht vergleichsweise schwer zu fassen ist. Danach werden die praxeologischen Konzepte von Wandel diskutiert, wie sie v.a. von Schatzki (2002) und von Shove, Pantzar und Watson (2012) in die Debatte eingebracht wurden. Anschließend erfolgt eine neue Darstellung von gesellschaftlichem Wandel aus praxeologischer Perspektive, welche die zuvor vorgestellten Sichtweisen ergänzt, aber auch in einigen Punkten wesentlich weiterführt und eine explizite Verbindung von Praxeologie und Gesellschaftskritik ermöglicht. Dieser Text leistet damit einen eigenen Beitrag für die Analyse von größeren und umfassenderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Insbesondere werden dafür die Konzepte der Praktikenketten und der Verteilung von Praktikenelementen in Raum und Zeit entwickelt und vorgestellt.

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Das Problem mit der Routine Inzwischen hat es sich eingebürgert, Autor*innen wie Schatzki, Reckwitz und Shove als zweite Generation von Theoretikern sozialer Praktiken zu bezeichnen (erste Generation: Bourdieu, Taylor oder Giddens). Einen besonders wichtigen Beitrag zur Popularisierung von Praktikentheorien wurde durch zwei sehr programmatische Artikel von Reckwitz (2002, 2003) geleistet. Relativ knapp und mit schlüssigen Begriffen wurden hier die »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« in Englisch und Deutsch für eine breite Leserschaft angeboten. Mit fast zwei Jahrzehnten Abstand lässt sich feststellen, dass das von Reckwitz vorgeschlagene »praxistheoretische Vokabular« (Reckwitz 2016: 14) auf fruchtbaren Boden gefallen ist (s.u.) und selbst wiederum eine wichtige Grundlage für praxistheoretische Weiterentwicklungen war und ist (beginnend mit Warde 2005 und Shove/Pantzar 2005). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass – bei aller differenzierten Ausgewogenheit – hinsichtlich der Darstellung der theoretischen Grundbegriffe durch Reckwitz, nicht alle Konzepte gleichermaßen breit rezipiert wurden. Während manche Begriffe kaum weitere Verwendung gefunden haben, sind andere Konzepte Kristallisationspunkte für theoretische Weiterentwicklungen und empirische Forschung geworden. Vergleichsweise viel Resonanz hat insbesondere das Konzept der Routine bzw. der Routinisiertheit erzeugt. Reckwitz (2003: 294) selbst schreibt: »In der Praxistheorie erscheint die soziale Welt der Praktiken im Spannungsfeld zweier grundsätzlicher Strukturmerkmale: der Routinisiertheit einerseits, der Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten andererseits. Anders formuliert, bewegt sich die Praxis zwischen einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs. Diese beiden Aspekte […] markieren keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten der ›Logik der Praxis‹.« Demnach bestehen Praktiken aus Teilen, die mehr oder weniger routinisiert sind und mehr oder weniger sich verändern oder veränderbar sind. Interessanterweise wurde aber in der Folge von anderen Autor*innen sehr viel stärker die Routinisiertheit als die Offenheit von Praktiken in den empirischen Fokus gerückt. Mitverantwortlich dafür ist die sehr oft wörtlich zitierte Definition von Praktiken aus der englischsprachigen Version von Reckwitz’ Einführung in das praxistheoretische Vokabular. Er definiert hier: »A ›practice‹ (Praktik) is a routinized type of behaviour which consists of several elements, interconnected to one other: forms of bodily activities, forms of mental activities, ›things‹ and their use, a background knowledge in the form of under­

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standing, know-how, states of emotion and motivational knowledge.« (Reckwitz 2002: 249) Im Vergleich zu seiner vorsichtigeren Formulierung im Deutschen nimmt Reckwitz hier mit dem Begriff routinized type of behaviour eine sehr klare Setzung vor, die von vielen Autor*innen aufgegriffen wurde. Praktiken wurden fortan gerne als (Alltags-)Routinen operationalisiert. Die praxistheoretische Brille scheint damit vorrangig geeignet zu sein, Beständigkeit, wiederkehrende Muster und bestenfalls schleichenden Wandel zu erklären. Besonders deutlich zeigt sich dies in der praxeologischen Konsumforschung, die einen zentralen Anteil an der weiten Verbreitung der Praxistheorien der zweiten Generation hat (beginnend mit Warde 2005) und anhand derer im Folgenden der Mehrwert eines Fokus auf Routinen kurz erläutert wird. Routinen sind für die sozialwissenschaftliche Konsumforschung aus mindestens zwei Gründen ein attraktiver Ansatzpunkt. Erstens hilft das Konzept der Routine, die Konsumforschung von der individualistisch ausgerichteten Per­ spektive auf Konsum zu lösen, die Konsumhandlungen als freie und unabhängige Entscheidungen von einzelnen Konsumenten konzeptionalisiert. Diese einseitige, oftmals mit dem Konzept des homo oeconomicus verbundene Vorstellung (Schröder 2003) hat in Vergangenheit und Gegenwart zu einem völlig unrealistischen Bild von der Handlungsfähigkeit von Konsument*innen beigetragen und die Fehlwahrnehmung verbreitet, dass Konsumentscheidungen losgelöst von sozialen und materiellen Kontexten getroffen werden und Konsument*innen die alleinige Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen können (kritisch dazu z.B. Halkier 2001; Meah 2014; Shove 2010; Warde 2017: 205ff). Das Konzept der Routine setzt hier einen deutlichen Kontrapunkt. Versteht man Konsum im Wesentlichen als routinisierte Konsumpraktiken, so wird damit deutlich gemacht, dass die Logik individueller Handlungen nicht losgelöst von größeren Praktikenkomplexen verstanden werden kann und dass diese Handlungen in den jeweiligen Alltag eingebettet sind sowie im Verhältnis zu sozialen Verpf lichtungen und materiellen Möglichkeiten stehen (Jackson 2009; Miller 1998, 2001; Warde 2017). Darüber hinaus sind zeitliche Ressourcen so weit begrenzt, dass viele wiederkehrende Konsumpraktiken (wie z.B. der Einkauf von Lebensmitteln) routinisiert werden und damit einer ständigen zeitintensiven Ref lexion entzogen werden können (South­ erton 2012; Wahlen 2011). Aus dieser Perspektive heraus lässt sich sehr viel besser erklären, warum bestimmte Lebensmittelprodukte (wie z.B. Convenience Food) ungeachtet ihrer nachteiligen Eigenschaften für Gesundheit und Umwelt trotzdem oder sogar in zunehmendem Maße konsumiert werden (Jackson et al. 2018). Zweitens sind Routinen für die Konsumforschung interessant, weil gerade diejenigen Konsumpraktiken mit besonders problematischen Folgen für Umwelt und Gesellschaft oftmals auch diejenigen sind, die am wenigsten ref lektiert wer-

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den, am alltäglichsten sind und damit auch den höchsten Grad an Routinisierung aufweisen – z.B. der Verbrauch von Strom oder anderen Energiequellen, die Benutzung von Wasser, der Verbrauch von Materialien aller Arten (Røpke 2009; vgl. Hess et al. 2018; Sahakian/Wilhite 2014; Spaargaren 2011). Insgesamt kann die Konsumforschung so einen zentralen Beitrag dazu leisten, zu verstehen, warum die meisten Menschen heutzutage sehr wohl wissen, dass größere Nachhaltigkeit dringend notwendig ist, aber selbst kaum Möglichkeiten sehen, ihre eigenen Verhaltensweisen entsprechend zu ändern (z.B. Connolly/Prothero 2008). Trotz all dieser Vorteile führt aus einer konzeptionellen Perspektive der Forschungsfokus auf Routinen und Persistenz, auch außerhalb der Konsumforschung, zu einer mit der Zeit verringerten Kompetenz der Praxeologie, Wandel und Veränderung ebenso präzise und umfassend wie Stabilität erklären zu können. Um dem entgegenzuwirken, argumentiert Schäfer (2013: 388): »Die Sozialtheorie muss […] grundsätzlich das Paradox der Wiederholung berücksichtigen, in graduellen Differenzen denken und soziale Stabilität als temporäre Hervorbringungen einer zugrunde liegenden Differenz im Inneren der Wiederholung begreifen. Aus diesem Grund erscheint der Routinebegriff wenig geeignet, den Kern des praxeologischen Handlungsverständnisses zu erfassen, da er neben dem Aspekt der Nicht-Bewusstheit auch ein statisches Verständnis von Reproduktion transportiert und die Wiederholung der Praxis einem Denken der Identität unterordnet.« Daher geht Schäfer davon aus, dass »jede Form von Stabilität auch eine Transformation« beinhaltet. Er plädiert dafür, die Diskussion auf konzeptioneller Ebene von »der Routine zur Wiederholung« zu verschieben, »um Tendenzen innerhalb der Praxistheorie, den Fokus auf die statische Reproduktion des Sozialen zu legen, entgegenzuwirken« (Schäfer 2013: 388). Den Mehrwert des Konzepts der Wiederholung sieht Schäfer in seiner stärkeren Betonung des aktiven Wiederhervorbringens einer bereits in der Vergangenheit ausgeführten Praktik oder einer wiederhergestellten Verbindung von Praktiken, Körpern und Materialien. Da die Wiederholung aktiv gemacht werden muss, ist diese auch grundsätzlich von Veränderungen geprägt, da eine exakte Reproduktion meist nicht möglich ist (vgl. dazu auch die Unterscheidung von Shove, Pantzar und Watson zwischen prac­t iceas-entity und practice-as-performance, Shove/Pantzar/Watson 2012). Stattdessen sind je nach Kontext kleinere oder größere Abweichungen beobachtbar bzw. kreative Anpassungen oder Umdeutungen notwendig. In Schäfers Worten: »Mit dem Begriff der Wiederholung wird das prekäre Verhältnis von Reproduktion und Transformation im Inneren der Stabilität des Sozialen hervorgehoben […]. Dabei erfasst die Praxistheorie das Phänomen der Wiederholung in drei verschie-

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denen, miteinander verbundenen Dimensionen und begreift Praktiken als sich wiederholende, als wiederholte und als wiederholbare Formationen.« (Schäfer 2013: 387, Herv. i.O.) Aus der Perspektive der sich wiederholenden Formationen erscheinen für Schäfer »Praktiken als kulturell verfügbares und zirkulierendes Repertoire, an das sich Subjekte anschließen, auf das sie sich zitierend berufen können« (ebd.). Wiederholte Formationen sind dann, analytisch gesehen, die tatsächlichen und beobachtbaren »körperlich aus- und aufgeführte[n] Handlungen« (ebd.). Wiederholbar sind Praktiken schließlich (Schäfer verweist hier auf Derridas Iterabilitätskonzept), wenn sie von einem Kontext in einen anderen Kontext überführt werden. Trotz dieser differenzierteren Betrachtung von Stabilität, Instabiltät, Wiederholung und Wandel liegt aber auch bei Schäfer ein deutlicher Fokus auf der Frage, wie soziale Praktiken letztendlich über Raum und Zeit hinweg kontinuiert oder konstant gehalten werden. Starke Veränderungen, völlige Neuerfindungen oder große historische Brüche werden nicht berücksichtigt. Schatzki (2017) kritisiert Reckwitz offen und direkt für seine unvorsichtige englische Formulierung, die zu dem starken Fokus auf Stabilität und Regelhaftigkeit innerhalb der Praxeologie beigetragen habe. Er betont, dass Praktiken in gleichem Maße dazu geeignet seien, Variationen und Unregelmäßigkeiten zuzulassen sowie Routinisierung und Regelmäßigkeit zu ermöglichen. Reckwitz (2012, 2016) selbst hat sich später ausführlich mit dem Phänomen der Kreativität auseinandergesetzt, was zumindest thematisch eine Abkehr von den Routinen beinhaltet und schließlich auch zu seiner großangelegten Theorie des gesellschaftlichen Wandels geführt hat. In »Die Gesellschaft der Singularitäten« diskutiert Reckwitz (2017), wie sich moderne Gesellschaften vom Prinzip der massentauglichen Gleichheit in allen Gesellschaftsbereichen (Konsum, Arbeit, Freizeit etc.) ausdifferenziert haben zu einer moralischen Überhöhung der Einzigartigkeit oder des Besonderen (der Singularität), die nun ein bestimmender Faktor für die Teilhabe an allen sozialen Praktiken ist. Allerdings stellt Reckwitz den Wandel zwar fest und analysiert historische Unterschiede (vorher/nachher), bietet aber weniger ein konzeptionelles Instrumentarium an, mit dem der Wandel als solcher untersucht werden könnte. Ganz grundsätzlich aber ist die praxeologische Überbetonung von Routinen bereits in den einf lussreichen Arbeiten von Giddens und Bourdieu angelegt (nach heutiger Lesart sind es Praxeologen der ersten Generation) und wurde letztendlich in dem von Reckwitz angebotenem Vokabular nur weiter tradiert. Giddens hebt hervor, dass der Begriff der Routinisierung »ein grundlegender Begriff« seiner Strukturationstheorie sei (Giddens 1997 [1984]). Er definiert:

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»Routinen (alles, was gewohnheitsmäßig getan wird) sind ein Grundelement des alltäglichen sozialen Handelns. […] Der Wiederholungscharakter von Handlungen, die in gleicher Weise Tag für Tag vollzogen werden, ist die materiale Grundlage für das […] rekursive Wesen des gesellschaftlichen Lebens […].« (Ebd.: 36f.) Durch diese Setzung verschiebt Giddens den analytischen Fokus von den großen Strukturen und den außergewöhnlichen, aber wirkmächtigen Handlungen auf die vielen kleinen Situationen und Momente des Alltagslebens, die dafür sorgen, dass wir immer wieder erneut davon ausgehen, dass der nächste Tag sich nicht allzu sehr vom vorherigen unterscheiden wird (vgl. Thrift 2003: 102f.). Zwar wurde schon kurz nach Erscheinen des Buches »Konstitution der Gesellschaft« (Giddens 1997 [1984]) kritisch angemerkt, dass sein Fokus auf Routinen und das praktische Bewusstsein die historisch großen gesellschaftlichen Veränderungen nur unzureichend erklären kann (Storper 1985). Aber zumindest innerhalb der praxeologischen Forschung ist das Giddens’sche Erbe mit einer bevorzugten Behandlung von Routinen und Alltag nach wie vor präsent (zum Thema Alltag und Praxeologie siehe auch den Beitrag »Gewohnheiten und Routinen«). Ähnlich wie bei Giddens sind auch nach Bourdieu die dauerhaften gesellschaftlichen Strukturen erklärungsbedürftiger als der Wandel. Das zeigt sich z.B. in seinen Arbeiten über die fortwährenden sozialen Ungleichheiten zwischen den gesellschaftlichen Klassen (Bourdieu 1982) oder über die dauerhaften Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen (Bourdieu 2012). Mit den Konzepten von Habitus und Disposition analysiert und erklärt Bourdieu die Dauerhaftigkeit gesellschaftlicher Strukturen. Durch eine »Dressur der Körper« würden Verhaltensformen und Einstellungen in die Körper eingeschrieben, es finde eine »Somatisierung des Herrschaftsverhältnisses« statt (Bourdieu 2012: 99). Ab der frühesten Kindheit würden Verhaltens- und Deutungsmuster eingeübt und antrainiert, bis diese sich einem ref lexiven Zugriff weitgehend entziehen und ab da dauerhaft das Verhalten, die Werteinstellung, aber auch Wünsche oder Hoffnungen bestimmen. Aus diesem Grund fällt es den Menschen schwer, sich von einmal antrainierten Verhaltensmustern zu befreien, und ihre gesellschaftliche Herkunft bleibt so immer ein Teil von ihnen. Damit lassen sich Probleme wie unsicheres Verhalten oder Ausgrenzung erklären, die bei einem Wechsel des gesellschaftlichen Milieus (z.B. vom Arbeiter- in das Akademikermilieu) entstehen können (siehe z.B. Eribon 2017). Bourdieus Betrachtung bezieht sich auf das soziale Phänomen der Herausbildung und Perpetuierung sozialer Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Für Bourdieu weniger von Interesse sind Veränderungen innerhalb sozialer Praktiken. Auch technische oder sonstige Innovationen sind für ihn nicht weiter von Belang. Ähnlich wie Giddens hat auch Bourdieu sein bevorzugtes Interesse am Beständigen und Fortdauernden in die zweite Generation der Praxistheorien weitervererbt. Verloren gegangen ist aber gleichzeitig Bourdieus

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Interesse an größeren gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere an sozialen Ungleichheiten. Praxeolog*innen der zweiten Generation nehmen diese gar nicht oder zumindest nicht explizit in den Blick. (Daraus ergibt sich als eine weitere Problematik eine gewisse Blindheit gegenüber gesellschaftlichen Abgrenzungsphänomenen, die hier aber nicht weiter diskutiert werden kann; siehe dazu aber die Beiträge »Intersektionalität« und »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung« in diesem Buch.) Aus der bisherigen Diskussion heraus lässt sich die konzeptionelle Schwerfälligkeit der Praxeologie, (größeren) gesellschaftlichen Wandel fassen zu können, zumindest teilweise erklären. Anders ausgedrückt: Praxeolog*innen können Wandel vielleicht weniger umfassend darstellen, weil sie so erfolgreich darin sind, Kontinuität, Wiederholung und Gleichförmigkeit zu erklären. Gleichzeitig wäre es irreführend zu behaupten, dass das Problem des gesellschaftlichen Wandels nicht prominent in der zweiten Generation der Praxeolog*innen aufgegriffen worden sei. Wie im nächsten Abschnitt dargestellt, wird insbesondere in den Arbeiten von Schatzki und von Shove, Pantzar und Watson gesellschaftlicher Wandel intensiv diskutiert.

Wandel aus praxeologischer Perspektive Dem Thema des gesellschaftlichen Wandels hat Schatzki (2002) in »The Site of the Social« ein eigenes Kapitel gewidmet. Zunächst stellt er, seiner eigenen Terminologie folgend, klar, dass alles gesellschaftliche Leben (im Englischen social life) im Zusammenhang von Praktiken und (materiellen) Arrangements stattfindet. Gesellschaftlicher Wandel besteht dann aus »Metamorphosen«1 innerhalb dieser Zusammenhänge und ihrer Bestandteile (Schatzki 2002: XVI). Dabei gibt es keine limitierende Vorherbestimmtheit von Aktivitäten oder Wandel, sondern Präfigurationen – ein Phänomen, das bestimmte Handlungsabläufe erleichtert oder erschwert (ebd.: XXII). In beinahe handlungstheoretischer Manier stellt Schatzki weiter fest, dass Wandel durch Handeln (agency) entsteht (ebd.: 235). Allerdings ist diese Handlungsfähigkeit nicht auf Menschen beschränkt. Schatzki spricht von einem »constant f low of human and nonhuman doings« (ebd.: 237), womit er trotz seiner Vorbehalte gegenüber der symmetrischen Anthropologie einer der Grundannahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Menschen, nichtmenschilche Wesen und Dinge haben Handlungsfähigkeit) zustimmt. Schatzki unterscheidet nun zwischen den Tätigkeiten, die Praktiken und Praktiken-Arrangement-Bündel konstant halten, und solchen, die diese verän1 Im Folgenden sind alle Zitate aus Schatzki (2002) und aus Shove, Pantzar und Watson (2012) von mir (J.E.) aus dem Englischen übersetzt.

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dern. Eine Praktik wird konstant gehalten, wenn menschliche Aktivität eine vorhandene Praktik ausführt und bestehende Elemente einer Praktik im Handeln ihren Ausdruck finden (ebd.: 240). Veränderungen wiederum ergeben sich entweder auf der Ebene, auf der Praktiken organisiert sind (also Veränderungen der Elemente Verstehen, Regeln und teleoaffektive Strukturen) oder auf der Ebene des Tuns und Sagens selbst. Letzteres nennt Schatzki recomposition, ersteres reorganization von Praktiken. Er stellt fest, dass die Reorganisation und Rekomposition von Praktiken häufig ein stufenweiser und im Kleinen ablaufender Prozess ist. Praktiken werden als Ganzes stabil gehalten, indem sie an sich verändernde Umstände angepasst werden oder diese selbst neu hervorbringen. Wandel und Kontinuität treten so gleichzeitig auf und tragen dazu bei, dass eine Praktik »weiterlebt« (ebd.: 244; zur Analogie von Praktiken mit Lebewesen s.u.). Teile von Praktiken oder von Praktiken-Arrangement-Bündeln können sich aber auch verselbstständigen und Kondensationspunkt für ein neues Bündel sein oder mit anderen Teilen ein neues Bündel bilden (ebd.: 249). Schatzki unterscheidet insgesamt vierzehn Phänomene und Mechanismen von gesellschaftlichem Wandel. Einige davon beschreiben, welche Formen Wandel annehmen kann: Ansteckung, Kontinuität im Wandel, Hybridisierung, Gabelung, Fragmentierung, Aneignung, Zusammenhalt, Konf likt oder Neubildung (ebd.: 252). Zusätzlich können Ereignisse Wandel hervorbringen, da sie die Situationen verändern, innerhalb derer Praktiken ausgeführt werden und Reaktionen hervorbringen. Kommunikationsmittel (im materiellen und immateriellen Sinne) und der damit verbundene Informationsf luss können ebenfalls Treiber und Vehikel für Wandel sein. Schließlich nennt er noch das politische Handeln (politics) als eine Sonderform von Praktiken. Politik ist für Schatzki das »kollektive intentionale Management« (ebd.: 251) von Praktiken-Arrangement-Bündeln oder deren Bestandteilen. Konkret definiert Schatzki Politik als Praktiken, »für die sich Menschen zusammentun, um gemeinsam ihre eigenen und die Angelegenheiten anderer zu beaufsichtigen und zu steuern« (ebd.: 252). Damit ist Politik in hohem Maße an den Phänomenen »Kontinuität« und »Wandel« beteiligt. Zuletzt nimmt Schatzki noch zwei weitere Kategorien von Wandel in seine Taxonomie auf. Erstens können durch Organismen und Dinge Ereignisse und Prozesse entstehen, die zu bestimmten Handlungen auffordern, eine Reaktion verlangen bzw. in irgendeiner Form bestehende Praktiken-Arrangement-Bündel verändern (als Beispiele nennt er die Ausbreitung von Ratten in einer Siedlung oder die klimatischen Prozesse in der Atmosphäre) (ebd.: 252). Zweitens kann das kreative Denken und Handeln von Individuen (auch im Kollektiv) entscheidend zu Veränderungen beitragen oder diese überhaupt erst hervorbringen. Allgemein scheint Schatzkis Taxonomie des gesellschaftlichen Wandels nicht durch eine erkennbar übergeordnete Systematik angeleitet zu sein. Explizit weist er aber darauf hin, dass Stabilität und Wandel bzw. Kontinuität und Diskonti-

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nuität aus praxeologischer Perspektive nicht als Dualismen betrachtet werden dürfen. Es sei eben nicht die Frage, ob etwas stabil ist oder sich verändert, sondern wie klein oder groß die Veränderungen im Verlauf der Zeit sind (ebd.: 254). Alles ist fortwährend in Veränderung, und während manche Elemente von Praktiken-Arrangement-Bündeln (zunächst) stabil bleiben, verändern sich andere, nur um dann wieder weitere Veränderungen mit sich zu bringen, die auch die anderen Elemente betreffen und so weiter. Veränderung wird so zu einer relativen Kategorie, die sich immer an einem zeitlichen Vorher/Nachher bemisst. Damit liegt die Feststellung von Veränderungen allein im Auge des Betrachters (ebd.: 255). Als Impuls für die Forschung schlägt Schatzki vor, dass man nach den kleinen und oftmals unmerklichen Anfängen von gesellschaftlichem Wandel suchen sollte (vgl. die Idee genealogischer Forschung schon bei Nietzsche 1887 und popularisiert durch Foucault 1976). Weniger theoretisch umfassend, aber für die empirische Forschung pragmatischer, haben Elizabeth Shove und Mika Pantzar, später auch mit Matt Watson, das Thema des gesellschaftlichen Wandels praxeologisch bearbeitet (Shove/ Pantzar 2005, Shove/Pantzar/Watson 2012). Shove, Pantzar und Watson (2012) betonen, dass das Verstehen von gesellschaftlichem Wandel ihr eigentliches Ansinnen sei. Sie möchten sich mit dem Verhältnis zwischen dem Neuen (novelty) und dem Gleichbleibenden (persistence) befassen und die »Prozesse von Transformation und Stabilität« innerhalb sozialer Praktiken und zwischen diesen Praktiken untersuchen (ebd. 2012: 1). Für diese Aufgabe mobilisieren Shove, Pantzar und Watson eine ganze Reihe neuer Metaphern, die bisher noch nicht oder nicht so explizit in der Praxeologie Anwendung gefunden hatten und die dabei helfen sollen, gesellschaftlichen Wandel konzeptionell fassbar zu machen. Das daraus abgeleitete Forschungsprogramm lässt sich anhand der zentralen Fragestellungen des Buches nachzeichnen (Shove/Pantzar/Watson 2012: 14): »1. Wie tauchen Praktiken auf, wie leben sie, wie sterben sie? 2. Welches sind die Elemente, aus denen Praktiken gemacht sind? 3. Wie rekrutieren Praktiken die Praktikausführenden? 4. Wie formieren sich Praktikenbündel und -komplexe, wie werden diese verstetigt, wie verschwinden sie wieder? 5. Wie werden Elemente, Praktiken und Verbindungen zwischen diesen generiert, erneuert und reproduziert?« In diesen Kernfragen des Buches tritt der metaphorische Charakter im Denken der Autor*innen deutlich zutage. Soziale Praktiken werden zu heuristischen Zwecken als eigenständige Wesen konzipiert. Man könnte Shove, Pantzar und Watson einen Praxeozentrismus vorwerfen, da sie Praktiken mit aktiven Lebewesen gleichsetzen: Praktiken »leben«, »sterben«, »rekrutieren«. Auf der anderen

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Seite erscheinen Praktiken als ein physikalisches Phänomen, bestehend aus »Elementen«, die Verbindungen eingehen, welche aber auch wieder aufgelöst werden können. Wenn auch nicht explizit so benannt, Shove, Pantzar und Watson suggerieren, dass die Elemente als »Atome« einer Praktik oder eines Bündels verstanden werden können (vgl. Reckwitz 2003: 290, der Praktiken als »kleinste Einheit des Sozialen« versteht). Die Veränderungsdynamik von Praktiken folgt damit, analog zu den Naturgesetzen, verschiedenen Anwendungen von Kraft. Zusätzlich werden Praktiken aber auch mit Artefakten gleichgesetzt. Sie sind Produkte, die erfunden, erneuert und reproduziert werden, in Gebrauch genommen, wieder ausgemustert und vergessen werden. Diese dreifache Metaphorisierung sozialer Praktiken gibt eine Menge kreativer Impulse für die Forschung, birgt aber im gleichen Maße auch das Risiko, dass Metaphern und heuristische Begriffe als reale Objekte missverstanden werden (vgl. Galvin/Sunikka-Blank 2016). Im Folgenden wird daher versucht, gesellschaftlichen Wandel aus der Shove’schen Perspektive darzustellen, aber die metaphorischen Vergleiche mit Vorsicht zu nutzen. Grundsätzlich gehen Shove, Pantzar und Watson davon aus, dass Praktiken erst durch die Verbindung von drei Elementen entstehen: Materialien, Kompetenzen und Bedeutungen. Konkret meinen sie damit (1) materielle Dinge, (2) Fähigkeiten und (3) symbolische Bedeutungen, Ideen und Hoffnungen (Shove/Pantzar/ Watson 2012: 14). Diese drei Elemente werden von ihnen graphisch dargestellt als Kreise, die über Linien zu einem Dreieck verbunden sind (erinnert an die Darstellung eines Moleküls und unterstreicht damit die physikalische Metaphorik). Damit eine Praktik anfängt zu existieren, müssen Materialien, Kompetenzen und Bedeutungen erst einmal zusammengebracht werden. Als Beispiel nehmen die Autor*innen das Autofahren (ebd. 2012: 26ff.; vgl. Beitrag »Zeit und Praktiken« in diesem Buch). Für die Praktik Autofahren braucht man ein Auto (Material), die Fähigkeiten (ein Auto fahren zu können) und die damit verbundenen Bedeutungen (Mobilität, Statussymbol usw.). Nun können sich die einzelnen Elemente im Laufe der Zeit verändern. Am sichtbarsten ist dieses im Material selbst: Autos wurden sowohl in der Form und Technik als auch im verbauten Material sehr stark weiterentwickelt. Aber gleichzeitig haben sich auch die anderen Elemente gewandelt. Musste in den ersten Jahrzehnten der Automobilität der Fahrer zwingend auch über technisches Wissen verfügen und ein Auto reparieren können, so war dies mit dem Ausbau der Infrastruktur und der technologischen Weiterentwicklung des Autos zunehmend weniger notwendig. Heute hingegen sind Kenntnisse im Umgang mit elektronischen Steuerungen und Software wichtig, um ein Auto kompetent bedienen zu können. In der Bedeutung hat sich das Automobil von einem Luxusgut für Abenteuerlustige über ein Massenprodukt hin zu einem ausdifferenzierten Konsumobjekt mit vielfältigsten symbolischen Bedeutungen und praktischen Anwendungsmöglichkeiten gewandelt. Die Geschichte der Automobilität lässt sich aus der Perspektive von Shove, Pantzar und Watson nach-

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zeichnen, indem man zunächst die Zusammensetzung der einzelnen Elemente beschreibt und dann diesen Elementen und ihren Transformationen über die Zeit folgt. Diese Sichtweise gibt dem empirisch Forschenden ein überschaubares und sehr effizientes Werkzeug für die Untersuchung von Wandel in die Hand. Auch die Zeit vor und nach der Existenz einer Praktik berücksichtigen Shove, Pantzar und Watson. Sie sprechen von »Proto-Praktiken«, wenn alle Elemente bereits existieren, aber noch nicht zu einer Praktik zusammengesetzt wurden, und von »Ex-Praktiken«, wenn die Elemente einer Praktik noch existieren, aber die Verbindung nicht mehr gegeben ist. Bereits in einer früheren Publikation hatten Shove und Pantzar (2005) herausgearbeitet, wie sich gesellschaftlicher Wandel auf der Grundlage ihrer Perspektive nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich beschreiben lässt. Dabei kommen sie am Beispiel Nordic Walking zu der Erkenntnis, dass es nicht die Praktik als solche ist, die sich ausbreitet oder von einem Ort zu einem anderen gebracht wird, sondern dass es die einzelnen Elemente einer Praktik sind, die »reisen« können und dann an anderer Stelle wieder zusammengesetzt werden. Dabei entstehen nach Shove und Pantzar automatisch Veränderungen, da das Wiederherstellen der Verbindungen zwischen den Elementen je nach lokalem Kontext geänderte bzw. mehr oder weniger modifizierte Praktiken hervorbringt (vgl. oben Schäfers Konzept der »Wiederholung«). Im Hinblick auf ihr empirisches Beispiel versuchen sie damit zu erklären, warum die Praktik des Nordic Walking in Finnland eine andere Bedeutung hat als andernorts und sich darüber hinaus in einigen Ländern schnell etablieren konnte (z.B. in Deutschland), in anderen wie in Großbritannien aber nicht, wo Wanderstöcken für Bergtouren der Vorzug vor Nordic-Walking-Materialien gegeben wird. Shove, Pantzar und Watson vermitteln in ihren Arbeiten das Bild von mobilen Dingen und Ideen sowie von weniger mobilen Menschen, die als »Träger« von Praktiken (diese Terminologie übernehmen sie von Reckwitz 2002) vor Ort für bestimmte Praktiken gewonnen (»rekrutiert«) werden. Damit droht die räumliche Mobilität von Menschen – sei diese kurzfristig (z.B. beruf liche Reisen, Tourismus) oder dauerhaft (z.B. Migration) – als ein Kernaspekt von gesellschaftlichem Wandel aus dem Blick zu geraten. Die Arbeiten von Maller und Strengers stellen eine wichtige Ergänzung der Perspektive von Shove, Pantzar und Watson dar, da diese explizit Migration in Verbindung mit reisenden Praktikenelementen untersuchen. Als konzeptionelle Erweiterung führen Maller und Strengers (Maller/ Strengers 2013) den Begriff des »Praktikengedächtnisses« oder der »Praktiken­ erinnerung« ein (practice memory). Als Analogie nutzen sie das Konzept des Muskelgedächtnisses aus der biologischen Forschung. Die Autorinnen definieren erinnerte Praktiken als vergangene Ausführungen von Praktiken, die in den Ausführenden inkorporiert sind und zu einem späteren Zeitpunkt wieder, wenn auch modifiziert oder erneuert, ausgeführt werden können (Maller/Strengers

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2013: 244; vgl. auch hier die Ähnlichkeit zu Schäfers »wiederholten« und »wiederholbaren« Praktiken, Schäfer 2013). Der Grundgedanke ist ähnlich wie bei Bourdieus Konzept des Habitus: über die häufige Ausübung bestimmter Aktivitäten werden Tätigkeitsmuster und damit auch die Praktiken als Ganzes in den Körper eingeschrieben. Dadurch wird eine Wiederholung von Praktiken erleichtert. Einmal ausgeführte Praktiken können so auch nach längerer Zeit wieder leichter aufgegriffen werden, da die Erinnerungsspuren, ähnlich wie beim Konzept des Muskelgedächtnisses, dauerhaft in den Trägern der Praktiken verbleiben. Entgegen Bourdieu sind die Individuen in dieser Konzeption aber nicht so stark determiniert durch einmal inkorporierte Verhaltensweisen und Deutungsmuster. Vielmehr ist es eine Eigenschaft von Praktiken, dass sie besser oder schlechter erinnert werden und in manchen Kontexten teilweise oder vollständig wieder zur Ausführung gelangen können. Konkret untersuchen Maller und Strengers (2013) am Beispiel von Migrant*innen in Australien, inwieweit sich bestimmte Praktiken, die mit einem über- oder unterdurchschnittlichen Verbrauch von Wasser und Strom einhergehen, über die Migration hinweg konstant gehalten oder verändert haben. Analysiert werden u.a. die Praktiken des Gärtnerns und des Geschirreinigens. Anhand ihrer Beispiele stellen Maller und Strengers fest, dass es drei spezifische Prozesse gibt, wenn Praktiken mit ihren Trägern reisen: (1) Mitnahme (carriage), (2) Integration und Desintegration, (3) Weitergabe (transferal). Der Shove’schen Darstellung von Praktiken als ein Dreieck aus den Elementen von Materialien, Kompetenzen und Bedeutungen folgend zeigen Maller und Strengers, wie diese drei Prozesse praxeologisch verstanden werden können. Bei der »Mitnahme einer Praktik« gelingt es tatsächlich, die Praktik weitgehend »intakt« (ebd.: 246) an anderer Stelle und zu späterem Zeitpunkt auszuführen. Beispiele sind Personen, die nach wie vor das Geschirr wie in ihrer alten Heimat mit der Hand abwaschen, obwohl sie eine Geschirrspülmaschine besitzen. Es können aber auch nur einzelne Elemente einer Praktik mitgenommen und mit anderen Praktiken neu kombiniert werden. Dabei löst sich die bisherige Praktik und die Verbindung zwischen ihren bisherigen Elementen auf (Desintegration). Einzelne Teile von Praktiken können dann wieder in den neuen Kontext integriert werden. Damit lassen sich bspw. Praktiken erklären, die sich aufgrund unterschiedlicher materieller Infrastrukturen nicht überall gleichermaßen ausüben lassen und bei denen fortbestehende (mitgebrachte) Sinnzuschreibungen auf den Gebrauch neuer Gegenstände angewendet werden. Als Beispiel wird hier die Überzeugung (Bedeutung) von »Nichts-verkommen-Lassen« (not wasting) angeführt, die viele der interviewten Migrant*innen aus ihrem Leben vor der Migration mitgenommen haben und nun für den Gebrauch von neuen Gegenständen und in anderen Kontexten aktivieren. Die Weitergabe von Praktiken ist schließlich der nächste Schritt, in dem Praktiken z.B. über eine Generation hinaus an die Kinder weitergereicht werden.

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Auch Maller und Strengers nutzen eine Reihe von praxeozentrischen Metaphern, indem sie von Praktiken sprechen, die »schlafend« (dormant) sind oder »wiedererweckt« (resurrected) werden können. Gleichzeitig sind auch die physikalischen Metaphern wieder präsent, die Praktikenelemente »desintegrieren« und neu »integrieren« lassen. Hier müsste der exzessive Gebrauch von Metaphern auf nicht intendierte Nebenfolgen hin genauer beleuchtet werden. Insgesamt aber liefern Maller und Strengers einen griffigen Beitrag zur Erklärung von sozialem Wandel über Raum und Zeit. Allerdings bleiben die Veränderungsbeschreibungen auf einzelne individuelle Praktikenstränge beschränkt. Praktiken für sich genommen wirken daher wie relativ unbedeutende Fäden in einem gigantischen, sich stetig transformierenden »Gef lecht von Praktiken-Arrangement-Bündeln« (Schatzki 2010: 130), das sich in seiner Größe der empirischen Analyse weitgehend entzieht. Mit Schatzki (2016) ließe sich darauf verweisen, dass größere gesellschaftliche Veränderungen letztendlich nichts anderes sind als eine größere Aneinanderreihung von Handlungsketten (chains of actions) bzw. dass Veränderungen erst in der umfassenden Betrachtung möglichst vieler dieser Ketten sichtbar zutage treten. Dennoch bleibt auch hier das Problem bestehen, dass eine eingehende empirische Analyse in dem gleichen Maße unwahrscheinlicher wird, in dem die betrachteten Handlungsketten an Komplexität zunehmen. Schatzki, Shove, Pantzar und Watson sowie Maller und Strengers liefern Bausteine zum Verständnis zeitlich und räumlich viel größerer und weiter ausgreifender Wandlungsprozesse, können aber das Ausmaß historischen Wandels nur ausschnittsweise erfassen. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, die bisherigen Praxeologisierungen von gesellschaftlichem Wandel noch weiter voranzutreiben, um große gesellschaftliche Transformationsprozesse – auch aus einer gesellschaftskritischen Perspektive heraus – noch konkreter analysieren zu können.

Gesellschaftlicher Wandel durch die Verteilung von Praktiken in Raum und Zeit Gesellschaften befinden sich in einem dauerhaften Wandlungsprozess, innerhalb dessen Stabilitäten stärker oder weniger stark für längere oder kürzere Zeiträume ausgeprägt sein können. Beschreiben lässt sich dieser fortwährende Wandlungsprozess anhand der Verbindungen von Praktikenelementen und den nachfolgenden Veränderungen dieser Elemente. Ihre Verbreitung in Raum und Zeit kann betrachtet werden als ein Mitnehmen und erneutes Zusammensetzen von Elementen sowie als eine (Re-)Aktivierung von Praktiken, z.B. aus einem »Praktikengedächtnis« heraus oder durch die Weitergabe an eine nächste Generation. Für einzelne Praktiken und Praktiken-Arrangement-Bündel lassen sich diese Veränderungen anhand der drei Elemente Materialien, Kompetenzen und Be-

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deutungen nachzeichnen. Welchen Beitrag kann diese Sichtweise für die Analyse von größeren und umfassenderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen leisten? Welches gesellschaftskritische Potenzial liegt in dieser Perspektive? Der bisherige gesellschaftskritische Beitrag praxeologischer Forschung liegt im Wesentlichen in der Diskussion von Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch. Nach Shove und Spurling (Spurling et al. 2013: 1) ist die zentrale Aufgabe herauszufinden, wie es die Menschheit geschafft hat, ihren Alltag innerhalb weniger Jahrzehnte so ressourcenintensiv werden zu lassen. Ihnen zufolge sind soziale Praktiken dafür ein geeigneter Ansatz, da der Ressourcenverbrauch im Wesentlichen auf Veränderungen im normalen, gelebten Alltag zurückzuführen ist und auf der Ebene von Praktiken am direktesten beobachtet und nachgewiesen werden kann. Will man den Umgang mit Ressourcen verändern, dann muss folglich auch auf dieser alltäglichen Ebene angesetzt werden. Ähnlich argumentieren Ernährungsgeograph*innen, wenn sie über praxeologische Forschung versuchen, wenig nachhaltige oder ungesunde Ernährungsweisen aus den alltäglich mitei­ nander zu koordinierenden Praktiken heraus zu erklären (Jackson et al. 2018). Trotz aller Relevanz sind diese gesellschaftskritischen Ansätze überwiegend sektoral 2 ausgeprägt und liefern derzeit noch keinen Hebel, um größere gesamtgesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und einer weitreichenderen Analyse zugänglich zu machen. Im Folgenden wird daher auf der Basis der vorhandenen Konzepte und Begriff lichkeiten ein Vorschlag für eine umfassende und gesellschaftskritische praxeologische Perspektive auf gesellschaftlichen Wandel erarbeitet. Mein Kernargument lautet, dass es ein wesentliches Charakteristikum unserer Zeit3 ist, dass Praktiken zunehmend stärker in Raum und Zeit ausgreifen. Diese These steht in einem paradoxen Verhältnis zu der Feststellung, dass sich das Alltagsleben zunehmend beschleunigt (Rosa 2005), für einzelne Tätigkeiten immer weniger Zeit benötigt wird (und weniger Zeit bleibt) und gleichzeitig durch die digitalen Möglichkeiten immer weniger räumliche Mobilität notwendig ist (Hannah 2019). Um die These einer immer stärkeren Raum- und Zeitnahme von Praktiken zu erläutern, muss zunächst noch einmal auf das Grundverständnis von sozialen Praktiken eingegangen werden. Bei sozialen Praktiken handelt es sich (so weit sind sich die meisten Praxeolog*innen einig) um ein aufeinander bezogenes Bündel an Tätigkeiten, die in sich eine Handlungssequenz mit einer eigenen Logik bilden und für die Ausführenden sowie für Außenstehende potenziell verstehbar 2 Daran ändert auch der Fokus auf nexus thinking wenig, mit dem die Nachhaltigkeitsthematik durch eine Verschränkung der Aspekte Wasser, Essen und Energie weiter ausgebaut wird (z.B. Foden et al. 2018). 3 Gemeint ist der als Gegenwart erfahrene raumzeitliche Ausschnitt, der für den Autor im Wesentlichen gekennzeichnet ist durch ungeklärte ökologische und soziale Fragen.

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sind. Praktiken sind dabei aber nicht an eine einzelne Person gebunden. Erstens kann jedes Individuum Träger einer bestimmten Praktik werden. Zweitens sind an einer Praktik oft mehrere Personen beteiligt. Nun kommt der praxeologisch angelegte, aber noch kaum weiter ausgearbeitete dritte Aspekt: Praktiken können grundsätzlich zerteilt werden in kleinere Einheiten, die dann z.B. von jeweils unterschiedlichen Personen ausgeführt werden (oder nur von einer Person, aber zeitlich neu verteilt; s.u.). Die Zerteilbarkeit von Praktiken ist aus meiner Perspektive eine der wichtigsten menschlichen Basisinnovationen und ein wesentlicher (und bisher m.E. nach zu wenig beachteter) Faktor für die geschichtliche Entwicklung der Menschheit. Für das bessere Verständnis ist hier ein Beispiel angebracht. Nehmen wir die Praktik, eine Nachricht zu übermitteln bzw. sich jemand anderem mitzuteilen, z.B. um einen Geburtstagsgruß zu übergeben (vgl. Abb. 1). In grauer Vorzeit war das Überbringen eines Geburtstagsgrußes nur persönlich möglich. Die Praktik des sich Mitteilens war also vollständig an eine Person und den Körper gebunden, der diese Praktik ausübt. Allerdings ist es möglich, jemand anderes zu schicken, der die Grüße überbringt. Die Praktik kann in zwei Teile zerteilt und auf zwei Personen aufgeteilt werden: der eine grüßt und der andere überbringt die Grüße. Die Erfindung von Schrift und später von Briefpapier und Tinte ermöglichte es, die Praktik des Überbringens eines Grußes immer weiter zu zerlegen sowie aufzuteilen und sie noch mehr in Raum und Zeit zu verteilen. Die Kompetenzen zum Lesen und Schreiben müssen erlernt und trainiert, Rohstoffe müssen zu Papier und Tinte verarbeitet, Infrastrukturen (z.B. Postämter, Postkutschen und Brief kästen) eingerichtet und aufrechterhalten werden. Der Einzelne sitzt nun in seinem Zimmer, schreibt auf eine Karte einen Gruß und ist damit nur noch sehr kurz an der eigentlichen Praktik des Grüßeüberbringens beteiligt. Das Praktiken-Arrangement-Bündel ist aber um diese Praktik herum gewachsen – und zwar in Raum und Zeit. Um einen Brief schreiben und senden zu können, müssen vorher sehr viele Dinge geschehen (das Lernen von Lesen und Schreiben, die Herstellung von Papier usw.). Auch nachträglich kann die Praktik weiter in Raum und Zeit ausgreifen, z.B. wenn der Brief liegengelassen und zu einem späteren Zeitpunkt (noch einmal) gelesen wird. Somit kann die Praktik sich weiter in der Zeit erstrecken als ein persönliches Nachrichtenüberbringen. Gleichermaßen dehnt sich die Praktik in den Raum hinein aus, da Rohstoffe abgebaut oder geerntet und verfrachtet werden müssen, Infrastrukturen geschaffen und genutzt werden, Distanzen überbrückt werden usw. Dabei ist es nicht relevant, ob der Empfänger des Briefes gegenüber oder weit weg wohnt. Wichtig ist, dass der Anteil, den Einzelne an einer Praktik haben, variabel ist, aber in der Tendenz kleiner wird, während die Praktik selbst wächst und zusehends mehr Raum und Zeit in Anspruch nimmt.

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Abbildung 1: Zerlegung und Verteilung einer Praktik in Raum und Zeit am Beispiel der Praktik des Grüßeüberbringens

Quelle: Jonathan Everts (Entwurf), Luise Menzel (Grafik)

Drehen wir noch einmal an der Uhr, dann befinden wir uns in einer Zeit in der Geburtstagsgrüße elektronisch verschickt werden, z.B. per E-Mail oder einem Dienst für den Nachrichtensofortversand. Der Anteil des Grüßenden an der Praktik ist hier im Vergleich zum Briefeschreiben noch einmal kürzer geworden. Papier und Tinte werden nicht mehr benötigt, der Gang zum Brief kasten entfällt. Wenige getippte Buchstaben und eine kleine Auswahl von Bildzeichen genügen. Damit diese Praktik in dieser Form aber möglich ist, sind wiederum zahlreiche Tätigkeiten in Raum und Zeit vorher und nachher notwendig. Neben der Fähigkeit, ein Mobiltelefon oder einen Computer zu bedienen, gehören dazu Erfindung, Entwicklung und Bau der Hardware sowie die Entwicklung der Software, der Abbau und Transport von Rohstoffen sowie deren Umwandlung und die Produktion der genutzten Geräte. Es braucht außerdem Glasfaserkabel, Sendemasten, Satelliten usw. Eine erschöpfende Liste der raum- und zeitgreifenden Aspekte

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für einen Geburtstagsgruß wird historisch betrachtet immer länger. Im gleichen Maße wird auch der Raum- und Zeitverbrauch dieser Praktik immer größer. Nun könnte man mithilfe der zuvor dargestellten Methode von Shove, Pantzar und Watson (2012) die Praktik in ihre drei Elemente (Materialien, Kompetenzen, Bedeutungen) unterteilen und den Wandel dieser Elemente genauer untersuchen sowie vielleicht sogar Schatzkis Anregung aufnehmen und nach den zarten Anfängen dieser inzwischen in Raum und Zeit ausufernden Praktik forschen. An dieser Stelle ist mir allerdings ein anderer Aspekt wichtiger. Das Besondere ist nicht, dass wir den Wandel und das Größerwerden von einzelnen Praktiken praxeologisch denken und fassen können, sondern dass generell im historischen Verlauf über längere Sicht Praktiken zeitlich und räumlich sich zunehmend entgrenzen und wachsen. Ursächlich dafür, so meine Argumentation, ist die Basisinnovation des Zerlegens von Praktiken. Seinen plastischen Ausdruck findet dieses Zerlegen in der Erfindung des Fließbands (oder vielmehr in der Rationalisierung, Spezialisierung und Beschleunigung der Arbeitsabläufe seit F.W. Taylors [1911] Verwissenschaftlichung der Betriebsführung; König 2000: 38ff.). Hier wird die bereits zuvor bekannte Arbeitsteilung ausgeweitet und perfektioniert. Vor allem aber werden nun Praktiken nicht mehr arbeitsteilig an einzelne Personen oder Gruppen delegiert, wie z.B. in bürgerlichen Haushalten lange üblich (bestimmte Praktiken wie Kochen, Kindererziehung, Fahren usw. wurden zu entsprechenden Berufsbildern: Köchin, Gouvernante, Chauffeur), sondern in immer kleinere Tätigkeitsbereiche unterteilt, die mithilfe von Geräten und Technologien von immer mehr (im Hinblick auf ihre Kompetenz) austauschbaren Personen ausgeübt werden können. Die Fließbandlogik beschränkt sich aber nicht nur auf die Produktion von Gegenständen, sondern sie hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts alle gesellschaftlichen Bereiche und ihre jeweiligen Praktiken erfasst. Die vielfach festgestellte Beschleunigungserfahrung (von Thompson 1967 bis Rosa 2012) resultiert dann daraus, dass sich der eigene Anteil an allen jeweiligen Praktiken zunehmend vermindert hat.4 Dadurch wird es zwar möglich, im Tagesverlauf an immer mehr Praktiken teilzunehmen, letztendlich wird aber nur ein immer kleinerer Teil davon tatsächlich aktiv erlebt. Damit erklärt sich das paradoxe Lebensgefühl, trotz immer mehr Tätigkeiten eigentlich immer weniger »echte« Erfahrungen5 zu machen oder umfassend an der Gesellschaft teilzuhaben (vgl. hierzu

4 Hieran ließe sich noch die Diskussion anschließen, inwiefern die bereits von Marx festgestellte Entfremdungserfahrung von dem Produkt der eigenen Arbeit inzwischen nicht alle Lebensbereiche erfasst hat, so dass wir auch in Tätigkeitsfeldern jenseits der Güterproduktion entfremdet sind, da wir nur noch an knappen Ausschnitten der jeweiligen Praktiken beteiligt sind, die wir meinen auszuüben. 5 Im Sinne der Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Zum Erfahrungsbegriff, v.a. aus pragmatistischer Perspektive, siehe in diesem Buch auch »Praktikentheorie und Emotion/Affekt«.

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Hannah 2019: für einzelne Subjekte schrumpft der Anteil, den die Mobilität im Tagesverlauf beansprucht, bei gleichzeitiger Verkürzung der Intervalle zwischen einer und der nächsten Aktivität; Hannah bringt dieses Paradox der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie auf die Formel »turning is the new moving«; Hannah 2019: 172 und in diesem Buch, S. 185). Bildlich darstellen lässt sich das immer weitere Zerteilen bei gleichzeitigem Ausgreifen von Praktiken in Raum und Zeit anhand von aneinandergereihten Teilstücken von Praktiken (siehe Abb. 1). Wie mit der Praktik des Grüßeüberbringens gezeigt, wird mit jedem Wandel der Praktikenelemente die Kette der notwendigen Praktikenteilstücke immer länger. So zeigt auch die Abbildung das immer weitere Zerteilen einer Praktik und ihr damit einhergehendes immer weiteres Ausgreifen in Raum und Zeit. Bei dieser Betrachtungsweise des Ausgreifens von Praktiken in Raum und Zeit sollte aber der Eindruck eines historischen Determinismus à la Hegel oder Marx vermieden werden. Natürlich sind Transformationsprozesse grundsätzlich ergebnisoffen und basieren rein auf dem, was tatsächlich passiert (vgl. Schatzki 2002: 222: »Concrete goings on and nothing else determine what happens in history«, Herv. i.O.). In Bezug auf die Verlängerung von Praktikenketten ist es durchaus vorstellbar, dass einzelne Ketten durch die Veränderung von Praktikenelementen nicht länger, sondern kürzer werden. Der generelle Trend seit der Industrialisierung scheint aber eher einer der Verlängerung und nicht der Verkürzung zu sein.6 Zur Verdeutlichung der letzten These möchte ich noch das klassische praxeologische Beispiel des Kochens anführen, um daran anschließend einige kurze Überlegungen zu alternativen sozialen Praktiken anzustellen. Die heutige Praktik des Kochens unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von ihren historischen Formen. Insbesondere die Nutzung von vorproduzierten Bestandteilen einer Mahlzeit oder von bereits verzehrfertigen Gerichten hat den Prozess des Kochens aus einer raumzeitlichen Perspektive grundlegend verändert. Bis zur Erfindung von Konservendosen und später Tief kühlkost und Ähnlichem musste ein großer Bestandteil der jeweiligen Mahlzeiten zu großen Teilen frisch besorgt werden, z.B. aus dem eigenen Garten, vom Markt, von fahrenden oder von stationären Händlern. Zwar waren manche Produkte bereits gemahlen, gebacken, geräuchert oder eingelegt, ein großer Bestandteil der anschließenden Mahlzeit waren aber frische Zutaten, die noch vollständig zubereitet werden mussten. Die raumzeitliche Ausdifferenzierung der Praktik des Kochens gewinnt mit der Erfindung verschiedener neuer Konservierungstechniken ab dem 19. Jahrhundert deutlich an Dynamik. Heutzutage ist Kochen – oder genauer: die Zubereitung einer Mahlzeit – eine raumzeitlich distribuierte Praktik, die bei der industriellen Zerkleine6 Letztendlich ist dies aber eine Frage, die nur über weitere empirische Forschung erschöpfend geklärt werden kann.

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rung und Vorgarung von Lebensmitteln sowie dem Beifügen von Zusatzstoffen beginnt, um dann über verschiedene Techniken des Kühlens und Erhitzens sowie des Einpackens und Transportierens ihren Weg in die jeweilige Küche zu finden. Der Anteil an der Praktik des Kochens wird für den, der die Mahlzeit letztendlich fertig für den Verzehr vorbereitet, relativ gesehen, immer kürzer. Tatsächlich reduziert sich so auch die notwendige Zeit für die Zubereitung eines Gerichtes im jeweiligen Haushalt, was zu der irrigen Annahme führt, dass heutzutage weniger Zeit für das Kochen aufgewendet werden müsse. Das mag aus einer rein auf das Individuum beschränkten Perspektive heraus stimmen, gesellschaftlich gesehen hat sich die Praktik des Kochens zeitlich wie räumlich aber enorm ausgedehnt. Aus dieser Betrachtung heraus wird nun auch ersichtlich, worin eines der Nachhaltigkeitsprobleme der Gegenwart liegt. Zwar ist es durchaus denkbar, dass die Verlängerung der Praktikenketten nicht zwangsläufig mit geringerer Nachhaltigkeit (sowohl im Hinblick auf materielle Ressourcen als auch auf Arbeitskraft) einhergehen muss. De facto scheint es aber oft der Fall zu sein: Je länger die Kette wird, desto weiter greift die Praktik in Raum und Zeit aus, desto aufwendiger und ressourcenintensiver wird sie. Interessant wäre es nun zu beobachten, wie verschiedene Initiativen von Individuen und Gruppen versuchen, diese Dynamik umzukehren. Beispielsweise gibt es im Bereich der Ernährung inzwischen zahlreiche Initiativen, die sich darum bemühen, die Produktion, Distribution und den Verbrauch von Lebensmitteln für Umwelt und Gesellschaft neu zu gestalten. Analysiert man nun diese Initiativen aus der Perspektive der in Raum und Zeit ausgreifenden Praktikenketten, so werden zwei Dinge deutlich. Erstens bemühen sich die Initiativen, einzelne oder alle der drei Praktikenelemente zu verändern (indem sie z.B. Haltbarkeitsdaten hinterfragen und weggeworfene Lebensmittel »retten« oder den marktwirtschaftlichen Mechanismus von Nachfrage, Wettbewerb und Preis mithilfe solidarischer Produktionsmodelle aushebeln). Zweitens versuchen sie, die Praktikenketten wieder kürzer werden zu lassen (z.B. indem Produkten mit geringerem technologischem Einsatz oder kürzeren Transportwegen der Vorzug gegeben wird). Drittens wird versucht, Teilstücke der Praktiken aus der Zeit zurückzuholen und wieder als größere Handlungseinheit erfahrbar zu machen (z.B. indem Einzelne durch Anbau, Ernte und Weiterverarbeitung wieder einen größeren eigenen Anteil an der Praktik der Lebensmittelproduktion übernehmen). Die Initiativen unterscheiden sich vor allem darin, welche Praktikenelemente verändert werden und an welchen Punkten innerhalb der Praktikenketten sie ansetzen, um diese wieder kürzer werden zu lassen bzw. aus Raum und Zeit zurückzuholen. Vergleichende Forschung könnte die unterschiedlichen Ansatzpunkte herausarbeiten und eventuell auch Erfolge und Misserfolge versuchen zu erklären. Grundsätzlich wäre es notwendig, in einem nächsten Schritt zu überprüfen, inwieweit sich mit dem Konzept der in Raum und Zeit distribuierten

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Praktikenketten größere gesellschaftliche Transformationen analysieren lassen und welche gesellschaftspolitischen Implikationen sich daraus ergeben.

Fazit Im vorliegenden Beitrag wurde dargestellt, wie gesellschaftlicher Wandel praxeologisch gefasst werden kann. Dabei wurde zunächst der Begriff der Routine (Reckwitz 2002) diskutiert, der wichtige Impulse für die empirische Forschung gesetzt hat. Allerdings hat dadurch auch die Erklärung von Stabilität und Wiederholung in der Praxeologie einen stärkeren Raum eingenommen als die Erklärung von Wandel und Veränderung. Von den Autor*innen der sogenannten zweiten Generation haben vor allem Schatzki (2002) sowie Shove, Pantzar und Watson (2012) sich ausführlich der Thematik des gesellschaftlichen Wandels gewidmet. Schatzki betont, dass es nicht darauf ankomme, ob eine Praktik stabil bleibt oder sich verändert, sondern dass innerhalb von Kontinuität ein ständiger Wandel stattfinde und analysiert werden müsse, welches Ausmaß Veränderungen innerhalb der jeweiligen Untersuchungszeiträume annehmen. Shove, Pantzar und Watson (2012) zeigen, dass Praktiken über Zeit und Raum hinweg einigermaßen stabil sein können, obwohl die Elemente, aus denen sie bestehen (Materialien, Kompetenzen, Bedeutungen), einem historischen Wandel unterliegen. Sie diskutieren außerdem, wie Praktiken durch die Verbindung von Praktikenelementen entstehen und wie sich diese wieder auf lösen können. Maller und Strengers (2013) erweitern diese Perspektive, indem sie zu der Veränderung über die Zeit auch die Ausbreitung und Veränderung von Praktiken im Raum konzeptionell fassen – mit dem Begriff des Praktikengedächtnisses und mit der Mitnahme, Desintegration und Integration sowie der Weitergabe von Praktiken oder Praktikenelementen. Daran anschließend wurde in diesem Beitrag ein neuer, weiterführender Ansatz entwickelt, der vor allem dazu dienen soll, größere gesellschaftliche Transformationsprozesse analytisch in den Blick zu nehmen. Der Grundgedanke ist, dass Praktiken prinzipiell zerteilt werden können und die einzelnen Praktikenteile nicht nur an verschiedene Menschen abgegeben, sondern zusätzlich noch in Raum und Zeit verteilt werden. Diese »Basisinnovation« führt dazu, dass Praktiken immer weiter zerlegt werden und damit auch immer weiter in Raum und Zeit ausgreifen. Es wird vermutet, dass dieses Wachsen der Praktiken in Raum und Zeit mitverantwortlich ist für zunehmende ökologische und gesellschaftliche Probleme seit der Industrialisierung. Bisher noch nicht berücksichtigt ist, welche Rolle die Interdependenzen zwischen Praktiken-Arrangement-Bündeln im Hinblick auf große gesellschaftliche Transformationsprozesse spielen. Prinzipiell ist es denkbar, dass über den Verlauf der Zeit die Bündel nicht nur raum- und zeitgreifender geworden, sondern auch die Interdepen-

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denzen – vielleicht aufgrund der raumzeitlichen Ausdehnung – stärker geworden sind. Genauso gut könnte es aber auch sein, dass zunehmende Interdependenzen zwischen den Bündeln erst ihr jeweiliges Wachsen ermöglicht haben. Damit wäre neben den bereits genannten eine weitere zukünftige Aufgabe für die Erforschung gesellschaftlichen Wandels aus praxeologischer Perspektive identifiziert.

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»Turning is the new moving«: The directedness of attention and social practices An Interview with Matthew Hannah Although the body represents an important feature for the analysis of social life, few conceptual advances have been made with regard to the directedness of the body and spatial implications of social practices. In his new book Direction and Socio-spatial Theory, Matthew Hannah (2019) argues for a sensibility for embodied processes of turning, and for phenomena of direction more generally. The author holds the Chair in Cultural Geography at the University of Bayreuth, Germany. His research has addressed relations between constructions of space, power and state knowledge, as well as various aspects of social theory and historical geography. To understand how the directedness of social practices link to the theme of the present book, the editors Susann Schäfer and Jonathan Everts have conducted an interview with the author. What was the key motivation for writing your new book Direction and Socio-spatial Theory? The phenomenon of attention (not precisely the same as the German Aufmerksamkeit) was an important original concern. I had long been nagged by a sense that the often-exclusive directedness of our attention is a much more important factor in explaining social processes (and academic debates) than is commonly assumed (see Hannah 1999). Wherever what I call in the book our »critical-creative engagement« is pointed, we—and our texts—automatically and necessarily leave a whole host of issues temporarily un-addressed »behind our backs«, and therefore treat them as stable. Whatever our intellectual beliefs or commitments, we can (and must) act and communicate as though much of the world is stable, even if we know that any particular aspect of it could be dissolved by critical questioning. Thus our actions are never merely expressions of principle but something more complicated. A culture of debate that ignores this circumstance is impoverished and unnecessarily divisive, in my view. Oliver Marchart has tried to capture the simultaneous insupportability of any foundational claims and our inability not to rely on some foundational assumptions with the term »post-foundational« (Marchart 2007). I would suggest a more

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spatial imagery, borrowing from David Wills (2008) to suggest something like »dorsal foundationalism«. In any event, one original motivation for the book was a dissatisfaction with the unacknowledged role of attentional selectivity in academic debates. The second set of motivations for writing the book had more to do with changes in institutional governance at the universities where I have worked over the course of my career. The arrival of neoliberal New Public Management techniques has done much harm to higher education. As a student of Foucault, it was of course glaringly obvious to me that much of this new management was composed of thinly disguised techniques of control, encouraging relations of competition and mutual mistrust, rather than trust and cooperation, between colleagues. But the neoliberalization of the university didn’t merely illustrate or confirm my Foucauldian analyses. It also sharpened my conviction that the kinds of power relation Foucault identified presuppose as a substratum the finite, embodied ability we have of engaging with the various matters we could in principle engage with. I was intrigued to learn that a fast-growing literature on political economies of attention was making a similar point. But after getting my head deeply into that work, I realized that attention is not only important in its own right but is a fundamental determinant of our practices more generally. This insight is what led to my explicit engagement with practice theory. Why would you take up the phenomenon of attention as a geographer? Attention in the sense of selective, embodied focus upon some theme—whether in terms of cognition, vision and other senses, affect or emotion—is inherently directed and spatial. Thus for me the question is rather the opposite: Why have geographers had so little to say about attention for so long? Issues relating to another set of fundamentally geographical concepts, namely distance, separation and proximity, have by contrast been hugely inf luential. Among other things, the book seeks to indicate some of the phenomena that have gone unnoticed due to this basic limitation in geographic thought. If you should express the statements of your new book in a few core statements, what would these be? For me, the most satisfactory summary of the book is contained in the nine points I list on pages 2 and 3 of the introduction. But just before that there is an even briefer summary of three main claims: »First, the fact that embodied human beings are fundamentally limited and finite in our powers of active, directed engagement with the world is more important in

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explaining social processes than previously assumed. Second, in reducing the significance of physical distance as an organizing principle of social practice, recent changes in the dynamics of capitalism have correspondingly increased the importance for practice of directional change or turning, especially in the Global North. Thus, there is at least the potential for a clash or a contradiction between intensifying demands upon our directed engagement and our finite embodied capabilities. Third, the style of thought shaping socio-spatial theory has long been focused upon phenomena of distance, separation and proximity, paying scant attention to the inherent directedness of practice. Therefore, if socio-spatial theory is to adapt to its changing context, it will have to reconsider and supplement distance-based accounts of the world with theorizations of direction across a range of traditional thematics.« (Hannah 2019: 1-2) The slogan »turning is the new moving« is obviously highly over-simplified, but I believe there is something to it. The idea is this: while infrastructural and technological advances have rendered many in the Global North more mobile, and have progressively de-coupled our activities from their earlier associations with particular places, this very de-coupling makes turning from one thing to another (wherever we happen to be) an increasingly important structuring process in social practices. Think of working with tablets on a train, or using smartphones while driving. The question of where to turn, in order to do what, is an increasingly central question, because we face it in more and more of the places and spaces we move through in everyday life. This directional question of turning is different to that of our mobility, though the two are clearly also related. That said, the slogan »turning is the new moving« is intended more as a provocation in the service of my main goal in the book, namely to cultivate a sensibility for directional issues. I call this my main goal because I know many of the more concrete claims made in the book are not comprehensively and conclusively demonstrated. The ambition is thus more modest: to demonstrate the plausibility of seeing matters through directional lenses. A final, more implicit Kernaussage relates to my use of graphic images to help cultivate a sensibility for direction. I am well aware that these diagrams can be deconstructed, exposed as simplistic etc. However, I think critical social scientists need to rethink our rejection of geometrical representations, and more generally, our rejection of mathematical methods and forms of representation. In this sense I do think the work of Hägerstrand, Pred and later practitioners of time-geography such as Mei-Po Kwan deserves to be taken seriously and developed further as a useful shorthand way of representing embodied spatialities.

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What dif ferent modes of the directedness of practices have you identified? These can be found in summary form in Chapter 3, where the directed character of practice is described as a »triple directionality«: • the purposive, if f lexible directionality toward specific ends inherent in teleoaf fective structures; • the closely-related spatial directionality laying down paths through activity-place-spaces compatible with teleoaf fective structure; and • the »thematic« directionality of attention on the part of human participants. (Hannah 2019: 76) These forms of directionality interact with and inf luence each in other in the course of practices in complex ways. One of the key claims in the book is that the third form, the directedness of our attention, is often an important determinant of the other two forms, and more generally, of whether we shift between different practices or remain with a given practice. The passages immediately following the list cited above elaborate on these intertwined processes of attention and practice. What do the insights of the book mean for empirical research in human geography? I can’t yet say. The book wasn’t written to address a problem in empirical research, but rather to point to a theoretical gap and to begin to address it. In the larger division of labor characteristic of any modern scholarly discipline, it was conceived from the very beginning as a conceptual or theoretical contribution. I myself might do some empirical work related to it, or perhaps others will, but exactly who takes it up isn’t particularly important. Its empirical usefulness will eventually be established by whether anyone puts it to use in concrete studies, and whether such studies in turn generate further interest. That said, I think it would be possible to develop empirical research that can begin to document some aspects of the directedness of practice. There have been some studies already that address geographical aspects of attention, for example Heiko Schmid’s work on »economies of fascination« in urban design (Schmid 2007), or James Ash’s studies of video games (Ash 2012, 2015). The ideas in my book might contribute to the development of research at an intermediate scale between that of Stadtbilder and that of a largely immobilized, seated individual playing a video game. For example, through the combination of filming, eye-tracking and real-time, auto-ethnographic microphone recordings, we might be able to learn more about the complex dynamical interplay of the three modes of direction of practices as they are carried out by people moving through spaces of intermediate scale, such as buildings or public spaces. Studies of the way urban (or other)

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spaces are experienced in an embodied way would be enriched by seeking to capture these kinds of phenomena. Culturally specific spatial dimensions of social interaction (tellingly known in English as »proxemics«, which only refers to distance and proximity) could be rendered more specific and sensitive by studying directional dimensions of interaction as well. Goffman’s work does this in a certain sense, but he starts from the premise that actors are basically in control of the distribution of front and back regions. Giddens takes over his schema as well. My interest is more in the way the inevitability of back regions—quite apart from our orchestration of who has access to them—contributes to the reproduction or transformation of social orderings. Put differently, however good we are as embodied actors at managing what is socially visible or invisible about our practices, we cannot avoid the fact that our practices themselves always involve a vast backside, or as I call it in the book, »social dark matter«. Social dark matter is composed of everything we are not doing, everything we are neither routinely nor explicitly engaged with at the moment. Much social theory either tends to ignore this realm, or, as with Giddens, to recuperate it for the dignity of the human agent by arguing that all of it was at one time or another produced by competent human action. For me, by contrast, the fact that this dorsal realm is the result of earlier actions by other agents is utterly irrelevant to their inert non-involvement in a given practice in the hereand-now. This aspect of directed practice is at the root of what I call »reproduction by neglect«. The basic idea is that we reproduce social structures not just through our active (but non-transformative) engagement with the rules and resources they provide but also—and more fundamentally—simply by being turned away from them, by not engaging with them or ref lecting upon them. We can still, of course, transform or reform social structures through our focused practices, but a directional sensibility makes it clear that there can be no purely transformative practice. This perspective runs against the grain of Giddens’ attempt to vindicate agency—and perhaps against the grain of recent accounts of performativity. But it does so in an entirely different way, to, say, Bourdieu’s notion of habitus, or a conventionally structuralist argument. In effect, I am suggesting that there is a directional structure at the very heart of agency that requires us to rethink what agency can mean. Even if the argument presented in the book does not prove empirically very fruitful in a direct sense, it could still remain indirectly valuable as an element in the background understandings of the world that critical social scientists bring to their work. Specifically, I think it has the potential to provoke discussions on how to understand recent changes in the trajectory of 21st century global capitalism (this is basically the argument of Chapter 7). I mention in the book the intri­guing parallels between the increasingly intense »occupation« of our finite »directed time« and the phenomenon of land-grabbing. I do believe the integrity

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and »felt autonomy« of our practices are increasingly threatened by techniques of attention-capture, and I basically agree with Bernard Stiegler that the possibility of passing on cultural inheritances between generations is under threat (Stiegler 2010). Thus the book is intended in part as an enrichment of historical-geographical materialist worldviews. What questions remain af ter having written the book? More than I could probably list. The book has many, many loose ends, both in the arguments that support its main claims and in the issues raised but never pursued very far. In the first category, for example, a lot more could be said about the concepts of time and temporality I deploy. There is also a large hole in my account of directional ethics in the last chapter having to do with the phenomenon of enforced idleness, which is a not-uncommon experience associated with unemployment and poverty (Jeffrey 2010). How does enforced idleness relate to the dynamics of excessive demands on our directed engagement highlighted in the book? In retrospect, I recognize my lack of discussion of this issue as one of the many marks of the privileged character of my own experience as a factor shaping the argument. A vast area of open questions has to do with postcolonial, anti-racist and other emancipatory discourses of critical cultural theory, which I have generally left aside in favor of some more traditional themes of socio-spatial theory. I do note in a couple of passages that the entire dynamical interplay of directed attention and directed practice is clearly relevant to analyses of unmarked categories such as whiteness and heterosexual masculinity, but I don’t follow up at all on these ideas. Another very interesting set of themes has to do with the connections between Western and Eastern (especially Buddhist) studies of attention and its role in practices. Here, too, there is a great deal left to be said. I am in no position to tackle these themes at the moment, but they are certainly possible directions of future work. Additionally, although I give some indications of how »occupation« is articu­ lated with other, more familiar forms of power relation (discipline, biopower, governmentality, patriarchy, hegemony, etc), much more could be done to figure out exactly how these articulations work. This would also begin to address a final issue not adequately developed in the book. The argument follows the traditional social-theoretic pattern of asking about relations between individual human actors and their social contexts. This is in part because I want to defend what I call, following Schatzki, a »cautious« or »residual« humanism (Schatzki 2002: 111, 116), and to treat embodied human beings as the starting point for understanding socio-spatial issues even after waves of post- and anti-humanism have washed through critical thought (Simonsen 2013). But the question of how to move beyond

»Turning is the new moving«

the individual level and address collective phenomena and processes of attention and practice is only sketched toward the end of the book, in the speculative diagrams about collective direction and in the (likewise quite speculative) discussion of ethical and political issues in the final chapter. Collective and structural questions deserve much more development.

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Gewohnheiten und Routinen – praxistheoretische Zugänge zu Geographien des Alltags1 Jens Reda und Simon Runkel »Everyday life is the most self-evident, yet most puzzling of ideas.« Felski 1999: 15 Eine Handvoll Menschen steht wartend an einer Bushaltestelle, einige unterhalten sich, andere schauen mit leerem Blick die vierspurige Straße entlang. Eine Frau erreicht die Bushaltestelle in trottendem Schritt. Sie schaut auf ihre Armbanduhr und zieht mit der anderen Hand Kopf hörer aus der Jackentasche, die sie an ihr Smartphone anschließt. Sie steckt die Kopf hörer in die Ohren, tippt kurz auf dem Gerät und lässt dieses danach schnell in die Tasche verschwinden, aus der sie kurz zuvor die Kopf hörer zog. Ein Vater versucht, sein Kind zu beruhigen, das partout nicht sitzen bleiben will im Kinderwagen. Wenige Momente später biegt der Bus um die Häuserecke. Von der anderen Straßenseite eilen zwei Personen herbei, die von der pünktlichen Ankunft des Busses überrascht sind. Der Bus hält in der vorgesehenen Haltebucht, einige Menschen steigen durch die hintere Bustür aus, an der der Vater bereits mit dem Kinderwagen steht und darauf wartet, einsteigen zu können. Die anderen Wartenden reihen sich wie an einer Perlenschnur gezogen vor der Fahrertür auf und steigen nacheinander in den Bus ein, als der Fahrer die Tür öffnet. Schweigend und das Ticket jeweils kurz vor das Gesicht des Fahrers haltend, steigen die Personen ein, nur wenige ringen sich ein »Guten Morgen« ab, das der Fahrer mit einem kurzen Nicken erwidert. Mit dem letzten einsteigenden Fahrgast schließt der Fahrer die Türen. Im allerletzten Moment drängt sich noch jemand durch die sich schließende hintere Tür ins Businnere. Der Bus fährt ab, die Haltestelle füllt sich langsam mit anderen Personen, die auf eine andere Linie warten. Einerseits eine gewöhnliche Szene, wie sie tagtäglich an vielen Orten zu beobachten ist, und der wir als Beteiligte wahrscheinlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken würden. Andererseits sind es jedoch genau diese alltäglichen 1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - DU 415/6-1

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Momente, die vielschichtige Bedeutungshorizonte eröffnen. Wie entsteht die Gewöhnlichkeit dieser Szene? Worin besteht die Stabilität oder auch Fragilität alltäglicher Szenen, d.h. mit anderen Worten: Was passiert, wenn der Bus nicht kommt? In Anlehnung an Back (2015) lässt sich kurzum fragen: Wo, wenn nicht im Alltag, scheinen die Mechanismen und Dynamiken des sozialen Lebens so trivial und werfen gleichzeitig so vielfältige Fragen auf? Das Verhältnis von Geographie und Alltag gestaltet sich in diesem Zusammenhang so eindeutig wie komplex. Der Begriff »Alltag« entzieht sich einer allgemein gültigen und a priori formulierten Bestimmung; er konstituiert sich vielmehr aus den jeweiligen theoretischen Perspektivierungen heraus (Elias 1978; Lippuner 2005). Entsprechend lässt sich eine Vielzahl konzeptioneller und empirischer Auseinandersetzungen mit der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion alltäglicher Räume sowie damit verbundene Erfahrungen und Praktiken unter dem Dach Geographien des Alltags versammeln (vgl. Horton/Kraftl 2014; Göttlich 2015). Im Dickicht der theoretischen Vielfalt werden dabei die materiellen, leiblichen und symbolischen Dimensionen des alltäglichen Lebens in unterschiedlicher Weise adressiert. Gleichwohl eine Beschäftigung mit diesen Dimensionen keine ausschließlich geographische Angelegenheit ist,2 so sind es doch die Betonung ihrer räumlichen Produktivität sowie die konkrete Verortung des alltäglichen Lebens, die eine geographische Perspektive auf Alltag auszeichnen (Sullivan 2017). In diesem Zusammenhang scheinen insbesondere Theorien sozialer Praktiken fruchtbare Zugänge zu Geographien des Alltags zu bieten, da sie komplexe soziale Phänomene in konkreten Situationen verorten und die Rolle des körperlichen Tuns in seiner materiellen Umwelt für die Konstitution sozialer Wirklichkeit hervorheben (Schatzki 2005). Dabei schlagen sie eine Brücke zwischen individualtheoretischen und strukturorientierten Ansätzen, die die theoretische Debatte um Alltag lange Zeit dominierten (van Tienoven/Glorieux/Minnen 2017). Bei einem ersten Blick auf bisherige Arbeiten, die sich aus geographischer Perspektive mit Praktiken des alltäglichen Lebens beschäftigen (u.a. Everts/Jackson 2009; Middleton 2011; Steigemann 2017), fallen zunächst zwei Dinge auf: Erstens stehen Praktiken und Alltag in einem konstitutiven Verhältnis, und zweitens nehmen Räume eine zentrale Rolle in diesem Verhältnis ein. Everts und Jackson (2009) explizieren dies in ihrer Analyse alltäglicher Einkaufspraktiken, in der sie Praktiken als »visible feature of everyday life« (ebd.: 922) beschreiben, die sich durch ihren wiederholten Vollzug in konkrete Räume einschreiben und damit gleichermaßen ihre Alltäglichkeit hervorbringen. Über dieses grundlegende Verhältnis hinaus bleibt allerdings vielfach unklar, wie Alltag praxistheoretisch kon2 Für einen Überblick über die Fülle von alltagsbezogenen Arbeiten in der Philosophie, Soziologie, Anthropologie und verwandten Disziplinen vgl. Bennett und Watson (2002) sowie Jacobsen (2009).

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zeptualisiert und an welches Verständnis von Alltag dabei angeschlossen wird. Ähnlich wie Reuter und Lengersdorf (2016: 366) es für die praxistheoretische Forschung in der Soziologie formulieren, scheint Alltag als Begriff auch in der geographischen Beschäftigung mit sozialen Praktiken eine Selbstverständlichkeit zu besitzen. Eine dezidiert praxistheoretische Perspektivierung von Alltag kann jedoch als Ausgangspunkt dienen, den Blick auf die Situiertheit und die Materialität sowie die Stabilität und den Wandel sozialer Ordnungen zu schärfen. In diesem Sinne fokussiert der vorliegende Beitrag praxistheoretische Zugänge zu Alltag nach dem practice turn und zeigt auf, welche Erkenntnismöglichkeiten und Herausforderungen sich hieraus für Geographien des Alltags ergeben. Hierfür wird im ersten Schritt ein Überblick über die vielfältigen Alltagsbezüge in der humangeographischen Forschung gegeben. Daran anschließend werden aktuelle praxistheoretische Zugänge zu Alltag vorgestellt. Im Vordergrund stehen dabei Routinen und Gewohnheiten, welche verschiedene Facetten des alltäglichen Lebens stabilisieren wie destabilisieren und konzeptionelle Anknüpfungspunkte für eine praxistheoretische Adressierung von Alltag bieten. Abschließend werden die zentralen Aspekte nochmals zusammenfassend dargestellt und weiterführende Fragestellungen für eine an Theorien sozialer Praktiken orientierte Geographie des Alltags aufgeworfen.

Alltag in der humangeographischen Forschung »Der Alltagsbezug ist in der Geographie in gewissem Sinne so alt wie die Geographie« (Hard 1985: 17). Mit dieser Aussage verweist Hard zunächst auf eine fehlende kritische Distanz der »klassischen« Geographie zu den alltagsweltlichen Beschreibungen, die sie hervorbrachte. Ausgehend von der Prämisse, dass die alltagsweltlichen Beschreibungen der beobachtenden Geograph*innen gleichermaßen die Sichtweise der Beobachteten auf die Welt abbilden, bestand schlicht keine Notwendigkeit, zurückzutreten und sich kritisch mit Alltag auseinanderzusetzen (ebd.: 17f.). Gleichzeitig hatte dies zur Konsequenz, dass die alltagsweltlichen Beschreibungen von bestürzender Banalität gekennzeichnet waren. Mit dem steigenden Einf luss sozial- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung auf die humangeographische Forschung wurden Ref lektionen über die Konstruktionskraft alltagsbezogener Perspektiven jedoch zu einem zentralen Thema. So ist es aus sozialkonstruktivistischer Sicht nicht mehr haltbar, Alltag als einen gegebenen Lebensbereich zu verstehen und zu beschreiben, vielmehr konstituiert sich dieser erst in seiner wissenschaftlichen Betrachtung und ist damit in seinen Konturen auch immer abhängig von der eingenommenen theoretischen Perspektive (Lippuner 2005: 26ff.). Im Folgenden wird daher ein Überblick über die vielfältigen Alltagsbezüge in der humangeographischen Forschung gegeben. Dieser erhebt nicht

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den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll vielmehr eine Kontextualisierung der in diesem Beitrag behandelten praktikentheoretischen Sichtweise auf Alltag im Feld der Geographien des Alltags ermöglichen. Dabei wird deutlich, dass die geographische Beschäftigung mit Alltag einerseits von einer Dichotomie subjekt- und strukturbezogener Perspektiven und andererseits von der Diskussion um mehr-als-repräsentationale Ansätze geprägt ist. Ebenfalls zeigt sich, dass Alltag dabei entweder als lebensweltlicher Gegenstandsbereich oder, in neueren Ansätzen, als analytische Figur unter Verzicht auf eine abschließende definitorische Fixierung gefasst wird. Die jeweiligen Differenzmarkierungen, die in den theoretischen Zugängen zu Alltag festzustellen sind, bilden dabei weniger einen Widerspruch als vielmehr einen konstruktiven Einstiegspunkt für eine praxistheoretische Diskussion von Alltag. Erste Ref lexionen einer alltagsbezogenen Forschungsperspektive lassen sich im Kontext der Wahrnehmungsgeographie der 1960er Jahre ausmachen, wenngleich Alltag selbst nicht Gegenstand des Forschungsinteresses war (Hard 1985: 21f.). Vielmehr zielten wahrnehmungsgeographische Arbeiten auf die Erklärung subjektiven, raumwirksamen Handelns und zogen hierfür die Alltagswelten von Menschen als Erklärungsvariable heran (ebd.). Neben der Aktionsraumforschung der Münchner Schule der Sozialgeographie (Maier et al. 1977) nahmen v.a. zeitund mikrogeographische Arbeiten die raumzeitlichen Muster alltäglichen Handelns in den Blick und betonten die den menschlichen Aktionsraum beschränkenden Faktoren (u.a. Hägerstrand 1970; Klingbeil 1979; vgl. Kramer 2012). Solche Ansätze wurden u.a. für ihr naturalistisches Verständnis von Raum und Zeit (Gregory 1985) sowie ihre fehlende Sensibilität gegenüber den verkörperten Erfahrungen des alltäglichen Lebens kritisiert (Rose 1993). Im Gegenzug stellten phänomenologische Ansätze im Anschluss an Theoretiker wie Husserl, Heidegger, Schütz oder Merleau-Ponty die alltagsweltlichen Erfahrungen von Subjekten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und hoben dabei die Rolle des Raumes als konstituierendes Element einer intersubjektiven Erfahrungswelt hervor (u.a. Buttimer 1976; Seamon 1979). Die Vielfalt der Ansätze der humanistic geography wurde in der deutschsprachigen Humangeographie allerdings zunächst nur wenig rezipiert (vgl. Runkel 2017); in jüngerer Zeit werden aber wieder verstärkt leibphänomenologische Perspektiven auf das Erleben von Räumen diskutiert (u.a. Hasse 2005, 2017a, 2017b; Runkel 2014; Dörf ler/Rothfuß 2017, 2018). Das phänomenologische Konzept der Alltagswelt, das Schütz (1932) als einen Wirklichkeitsbereich fraglos hingenommener Sinnzusammenhänge und Deutungsmuster versteht, wurde weiterführend in handlungstheoretischen Ansätzen aufgegriffen. So forderte Wirth (1981) eine stärkere Fokussierung habitualisierten Alltagshandelns in der deutschsprachigen Sozialgeographie. Im Sinne einer ethnomethodologischen Forschungsperspektive schlug er vor, die alltagsweltlichen Regelsysteme menschlichen Handelns im Raum herauszuarbeiten. Als prominen-

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tester Vertreter einer handlungstheoretischen Geographie ist für den deutschsprachigen Raum jedoch Benno Werlen anzuführen. In seiner »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« (1995, 1997, 2007) legt er den Fokus auf die Art und Weise, wie Menschen durch ihre alltäglichen Praktiken fortwährend soziale Konstruktionen einer räumlich verfassten Welt hervorbringen. Dieses alltägliche »Geographie-Machen« vollzieht sich dabei auf der Grundlage verkörperter Erfahrungen, die Subjekte im praktischen Umgang mit ihrer physisch-materiellen Umwelt machen (Werlen 1997: 237f.). In diesem Zusammenhang ist das Alltägliche »nicht das […], was die Menschen jeden Tag tun« (Werlen 1999: 262), sondern wird phänomenologisch als »Wirklichkeitsbereich [fundiert], der in ›natürlicher Einstellung‹ erfahren wird und in dem in ›natürlicher Einstellung‹ gehandelt wird« (ebd.: 263). Kritik an diesen individualtheoretischen Perspektiven auf Alltag kommt v.a. vonseiten der gesellschaftskritischen Geographie, die die Strukturierung und Rhythmisierung alltäglicher Praktiken und Erfahrungen im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse diskutiert. So verweist bereits Pred (1981) im Anschluss an zeitgeographische Ansätze auf die Wirkungszusammenhänge individuellen Handelns und gesellschaftlicher Strukturen, die entlang der raumzeitlichen Pfade des alltäglichen Lebens zu analysieren seien. Auch für Katz (2004: X) sind machtgeladene gesellschaftliche Strukturierungen »as much the f leshy, messy, and indeterminate stuff of everyday life as it is a set of structured practices that unfold in dialectical relation to production«. Alltag präsentiert sich hier somit als gesellschaftlich strukturiertes Feld, das in den gelebten Erfahrungen von Subjekten und der Ausübung raumzeitlich verf lochtener Praktiken produziert und reproduziert wird. Maßgeblich für diese Perspektive sind die Überlegungen Lefebvres (2014 [1947, 1961, 1981]), der Alltag weniger als einen konkreten Lebensbereich, sondern mehr als eine Meta-Sphäre des Seins versteht, die sich in allen Praktiken des Lebens entfalten kann (ebd.: 119). Diese wird im Kontext der Moderne zum Gegenstand seiner Kritik, da sich hier die kapitalistischen Mantren der Produktion und des Konsums zum alltäglichen Normalzustand erheben und damit das alltägliche Leben als »organized passivity« (Lefebvre 1987: 10) erscheinen lassen: »This means, in leisure activities, the passivity of the spectator faced with images and landscapes; in the workplace, it means passivity when faced with decisions in which the worker takes no part; in private life, it means the imposition of consumption, since the available choices are directed and the needs of the consumer created by advertising and market studies« (ebd.). Für Lefebvre wird in dieser Passivität der kreative Charakter des alltäglichen Lebens verschleiert. Wenngleich sich Alltag durch seine repetitive Form auszeichne, so könne er sich doch niemals identisch wiederholen (Lefebvre 2014 [1947, 1961,

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1981]: 341ff.). Im repetitiven Charakter des alltäglichen Lebens seien somit immer schon Möglichkeiten der Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse angelegt (u.a. ebd.: 420ff.). Eine Konkretisierung dieses repetitiven Charakters des Alltagslebens verfolgte Lefebvre mit dem Konzept der Rhythmusanalyse (2004 [1992]), welches erst posthum veröffentlicht wurde, seither jedoch Eingang in geographische Diskussionen findet (vgl. Edensor 2010). In der deutschsprachigen Geographie ist es v.a. Vogelpohl (2012), die Lefebvres Überlegungen zu Alltag und Rhythmen zusammenführt und für eine Analyse konf likthafter Stadtentwicklungsprozesse fruchtbar macht. In ähnlicher Weise wie Lefebvre sieht de Certeau (1988 [1974]) die Basis einer kritischen Gesellschaftstheorie im Verhältnis einer herrschenden Ordnung und alltäglichen sozialen Praktiken begründet. Dabei betont er die subversiven Potenziale der zahlreichen Praktiken des Alltagslebens, durch die Subjekte ihre immer auch räumlich verfasste Lebenswelt unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen konstituieren. Wie Rothfuß (2012) in seiner Auseinandersetzung mit Stigmatisierungen und Widerständigkeiten in brasilianischen Favelas anschaulich herausarbeitet, adressiert de Certeau somit »das latente Spannungsverhältnis zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen in den alltäglichen sozialen Praktiken« (ebd.: 66). Im Zuge des cultural turn verschiebt sich das Augenmerk humangeographischer Forschung entsprechend stärker auf das Geschehen im Alltag: »Der Alltag bildet gewissermaßen das Feld, auf dem die kulturellen Praktiken stattfinden, die aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht mit unterschiedlichsten Fragestellungen und Methoden untersucht werden.« (Lippuner 2005: 26) So rücken Holloway und Hubbard (2001) unter Bezugnahme auf Lefebvre und de Certeau das Spannungsfeld von Banalem und Außergewöhnlichem in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, welches sich in den alltäglichen Beziehungen von Menschen und ihrer Umwelt aufspannt. Damit einher geht eine analytische Aufwertung der scheinbar trivialen Dinge und Tätigkeiten im alltäglichen Miteinander, denen dahingehend ein entscheidender Einf luss auf die Art und Weise zugesprochen wird, wie Menschen die Welt imaginieren und sich in ihr bewegen. An diese Perspektive anknüpfend, nimmt Laurier (2003) die komplexen Wissensordnungen in den Blick, die beim Fahren eines PKW praktiziert werden und sich wie selbstverständlich in unser alltägliches Leben eingeschrieben haben. Im Themenheft »Geographies of home« (Blunt/Varley 2004) widmen sich gleich mehrere Beiträge alltäglichen Praktiken im Haushalt und zeigen, wie dabei spezifische Deutungsmuster von Familie und gender produziert und reproduziert werden. Die Konstitutionsprozesse geschlechtlicher Ungleichheitsverhältnisse in alltäglichen Praktiken und Räumen werden jedoch auch über den häuslichen Kontext hinaus diskutiert (u.a. Dyck 2005; Law 1999). Machtsensible Perspektiven aufgreifend, adressieren Dickinson et al. (2009) das alltägliche Leben zudem als Arena machtgeladener Aus-

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handlungsprozesse von citizenship und heben dabei die skalenübergreifenden Beziehungsmuster zwischen Individuen und staatlichen Institutionen hervor. In den bisherigen Darstellungen werden verschiedene theoretische Zugänge zu Alltag und seinen Geographien deutlich, die jeweils unterschiedliche Alltagsverständnisse transportieren. Mit Elias (1978) kann in diesem Zusammenhang herausgestellt werden, dass die schillernde Vielfalt der Alltagsbestimmungen v.a. dann fragwürdig wird, wenn man die jeweiligen Gegenbegriffe hinzunimmt. Entsprechend kommt er zu einer Aufstellung, welche die Widersprüchlichkeit definitorischer Bestimmungen aufdeckt und damit nochmals den Konstruktionscharakter von Alltag auf der Basis theoretischer Perspektivierungen unterstreicht (vgl. Abb. 1). Deutlich wird dadurch, dass eine allgemein gültige Definition von Alltag kaum möglich scheint. Abbildung 1: Typen zeitgenössischer Alltagsbegrif fe mit den implizierten Gegenbegrif fen

Quelle: Eigene Darstellung nach Elias 1978: 26; leicht verändert

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In ähnlicher Weise formulieren auch Arbeiten aus den Reihen einer more than representational geography (Lorimer 2005) Kritik an Geographien des Alltags. So bemängelt Thrift (2004) die Art und Weise, wie bestimmte Praktiken als authentisch-alltäglich aufgefasst werden und andere nicht, während Philo (2000) Ansätzen der new cultural geography eine theoretische Beliebigkeit vorwirft, die mit der Fokussierung auf Alltag als konkreten materiellen Lebensbereich kaschiert werden solle. Im Sinne einer mehr-als-repräsentationalen Geographie müsse es jedoch vielmehr darum gehen, das alltägliche Leben aus sich heraus in seinen performativen, verkörperten und affektiven Facetten zu verstehen (u.a. Harrison 2000; Nash 2000; Thrift 2007). »Employing a Deluezian-inspired [sic] account of the virtual and the actual to mundane and banal spatialities, for example, can bring into sharp relief how the everyday is formed in and through a series of events that are always potentially otherwise.« (Binnie et al. 2007: 517) In diesem Zusammenhang wird das Alltägliche vermehrt als affektive Kraft gefasst, die sich an der Schnittstelle von Subjekten, Objekten und ihren räumlichen Kontexten konstituiert (Holloway/Hones 2007) und in Praktiken ausdrückt (Dewsbury/Bissel 2015; Duff 2010). Dabei warnt Lippuner vor der »Tendenz der Verdinglichung des Alltags als die ›konkrete Realität‹ alltäglicher Praxis« (2005: 63) durch mehr-als-repräsentationale Geographien in ihrer Abgrenzung zu repräsentationalen Ansätzen. Weitere Kritiken aufgreifend, schlagen Schurr und Strüver (2016) daher eine perspektivische Öffnung mehr-als-repräsentationaler Geographien gegenüber Körper-Leib-Differenzierungen und praxis- bzw. performativitätstheoretischen Ansätzen vor. Entsprechend erweitert sich der Diskussionsrahmen bezüglich Geographien des Alltags um das Beziehungsgefüge menschlicher und nicht menschlicher Entitäten und bezieht dabei die »emotionalen und affektiven Dimensionen des Gewöhnlichen und Alltäglichen ebenso mit ein wie die Ebene des Diskursiven und machtgeladener Strukturen und Repräsentationen« (ebd.: 94). In einer Zusammenschau der hier dargestellten humangeographischen Auseinandersetzungen mit Alltag wird deutlich, dass dieser weder auf ein Muster routinierter und repetitiver Handlungszusammenhänge reduziert noch als rein affektive Kraft oder individuelle Sphäre des Erlebens verstanden werden kann. Vielmehr konstituiert sich Alltag in einer perspektivischen Vielfalt, die seinen diffusen wie konstruktivistischen Charakter nochmals unterstreicht. Gleichwohl sich die Unschärfe des Alltagsbegriffes nicht auf lösen lässt, so kann, in nochmaliger Anlehnung an Elias (1978: 26), dennoch auf die verbindenden Momente seiner theoretischen Perspektivierungen hingewiesen werden. Praktiken lassen sich in diesem Zusammenhang als ein Schlüsselelement des alltäglichen Lebens verstehen (Horton/Kraftl 2014: 183; Sheringham 2006: 360), das im Kontext von Geographien des Alltags in verschiedener Weise adressiert wird (vgl. vorheriger Abschnitt). In Anlehnung an Pink (2012: 15f.) sind dabei zwei Verwendungsweisen

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des Praktikenbegriffs zentral. Zum einen wird der Begriff »Praktiken« als eine bloße Beschreibung der Art und Weise benutzt, wie Menschen Dinge tun, ohne dass damit ein spezifisches praxistheoretisches Konzept in Verbindung zu bringen ist. Zum anderen verweist der Praktikenbegriff auf ein komplexes sozialtheoretisches Feld, in dem Praktiken die zentrale analytische Kategorie darstellen (vgl. Beitrag »Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik« in diesem Band). Wie der folgende Abschnitt zeigt, bietet letztere Verwendungsweise die Möglichkeit, die Situiertheit und die Materialität sowie die Stabilität und den Wandel des alltäglichen Lebens in den Fokus zu stellen.

Praxistheoretische Zugänge zu Alltag Alltag stellt einen zentralen Begriff im Kontext praxistheoretischer Forschungen dar, der ob seiner Omnipräsenz und seines scheinbar selbsterklärenden Charakters innerhalb dieser Denkschule kaum näher beleuchtet wurde (Reuter/Lengersdorf 2016: 366). Darüber hinaus scheint die konzeptionelle Nichtbeachtung von Alltag in Teilen auch in den theoretischen Positionen begründet, aus denen praxistheoretische Ansätze die soziale Wirklichkeit betrachten. Soziale Praktiken, verstanden als »embodied, materially mediated arrays of human activity centrally organized around shared practical understanding« (Schatzki 2005: 11), bilden nach dieser Perspektive die kleinste Einheit des Sozialen (Reckwitz 2003: 290). Sie bestehen nur so lange, wie sie praktisch vollzogen und dabei immer wieder mit Sinn versehen werden. Durch die Routinisierung von Tätigkeiten werden die in Praktiken angelegten Wissensordnungen reproduziert und eine stabile Sozialwelt ausgebildet. Gleichzeitig ist im praktischen Vollzug auch stets eine interpretative Unbestimmtheit angelegt, d.h. es besteht immer auch die Möglichkeit, dass sich Praktiken verändern (ebd.: 294ff.). Entsprechend dieses Verständnisses »kommt der Sozialwelt die basale Eigenschaft der Routinisiertheit zu« (ebd.: 294), und eine vertiefte Auseinandersetzung mit Alltag scheint auf den ersten Blick obsolet. Somit wird dieser zumeist auch als Bündel von Lebensbereichen (Shove/Pantzar/ Watson 2012: 12) oder -domänen (Warde 2013: 21) gefasst, in welchen sich die zu analysierenden Praktiken vollziehen, und nicht als dezidiert analytische Perspektive auf das gesamte Feld sozialer Praktiken (vgl. Reuter/Lengersdorf 2016: 372). Auf den zweiten Blick mag es jedoch genau diese analytische Alltagsperspektive sein, die fruchtbare Impulse für praxistheoretische Debatten um die Situiertheit und Materialität sowie die Stabilität und den Wandel sozialer Wirklichkeit liefern kann (ebd.). Erste Schritte in diese Richtung finden sich in soziologischen Auseinandersetzungen mit alltäglichen Praktiken, die bisher vornehmlich im Feld der Con-

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sumption Studies geführt werden (Ehn/Löfgren 2009; Shove 2012; Southerton 2013; van Tienoven/Glorieux/Minnen 2017). In diesen Arbeiten werden die Begriffe der Gewohnheit und der Routine als wesentliche Kategorien des alltäglichen Lebens diskutiert und praxistheoretisch adressiert; Fragen nach ihrer räumlichen Dimension bleiben jedoch weitestgehend unberücksichtigt. Dabei weist Southerton (2013) darauf hin, dass eine strikte Trennung von Gewohnheiten und Routinen nicht unproblematisch ist. Vielmehr stellen beide auf konzeptioneller Ebene distinkte Formen alltäglicher Praktiken dar, die in wechselseitiger Beziehung zueinanderstehen (ebd.: 341). Er stellt heraus, dass eine zentrale Unterscheidung der Begriffe darin liegt, dass Routinen oft als vertraute sequenzierte Handlungsfolgen begriffen werden, die mit einer relativen Erwartbarkeit eintreten und – bspw. als organisationale Routinen – institutionalisiert erscheinen. Gewohnheiten hingegen verweisen stärker auf Einstellungen, Dispositionen oder gar der Ref lexivität entzogene Vorlieben (ebd.: 340). Im Zuge der hier geführten Diskussion um Praktiken und Alltag scheint es aus geographischer Perspektive zunächst sinnvoll, diese Argumentationslinien aufzunehmen und um ihre räumlichen Facetten zu ergänzen. Im Folgenden werden wir daher einige praxistheoretische Überlegungen zu Gewohnheiten und Routinen als Kategorien des alltäglichen Lebens skizzieren und diese in den Kontext einer an Theorien sozialer Praktiken orientierten Geographie des Alltags setzen.

Gewohnheiten Gewohnheiten lassen sich umgangssprachlich als selbstverständlich gewordene Handlungsweisen oder Einstellungen verstehen, die oft automatisiert oder unbewusst ablaufen. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen um Alltag wird diese Form menschlicher Aktivitäten, die das verkörperte Wissen und das präref lexive Erfahren betont, häufig als Kern des alltäglichen Lebens gesehen (Felski 1999). Wenngleich an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung der gesamten theoretischen Debatte verzichtet werden muss, so lassen sich doch zwei wesentliche philosophische Strömungen identifizieren, die für eine praxistheoretische Konzeptualisierung von Gewohnheiten relevant erscheinen. Während Gewohnheiten im Anschluss an Denker wie Descartes und Kant als mechanische Wiederholungen des immer Gleichen gefasst werden, die in Opposition zu kritischem Denken und Möglichkeiten des Wandels stehen, heben Ansätze in der Denktradition von Bergson oder Ravaisson die Schöpfungskraft von Gewohnheiten hervor (Malabou 2008: VII). Aus dieser Perspektive, die im Kern poststrukturalistischen Denkens steht, liegt in der stetigen Wiederholung die produktive Kraft der Differenz begründet, die das beständige Werden des Seins betont. Es wird also davon ausgegangen, dass Strukturen nur existieren können, eben weil

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sie sich permanent wiederholen.3 Ausgehend von diesen beiden Positionen, erscheinen Gewohnheiten als ein Phänomen, das sich zwischen Stasis und Wandel bewegt (Pedwell 2017: 9f.). Wie Schäfers (2012) Diskussion der Konzeptualisierungen von Gewohnheiten bei Dewey und Bourdieu eindrücklich zeigt, wird dieses Spannungsfeld auch in praxistheoretischen Ansätzen aufgegriffen. Wenngleich Dewey und Bourdieu entsprechend ihrer theoretischen Grundausrichtungen eigene Schwerpunkte in der Betrachtung von Gewohnheiten setzen, so wird dennoch deutlich, dass das situative Vollziehen einerseits sowie die Ausbildung stabiler Denk- und Handlungsschemata andererseits zentrale Aspekte in der Auseinandersetzung mit Gewohnheiten darstellen. Reckwitz (2003: 294) beschreibt diese gar als Grundprinzip von Praxistheorien. Diesem Grundprinzip folgend, konstatiert Middleton (2011: 2866): »habit needs to be situated in the context of social practices […]«. Mit dieser Aussage schließt Middleton an die Konzeptualisierungen von Shove an, die sich bisher am weitreichendsten mit dem Verhältnis von sozialen Praktiken und Gewohnheiten auseinandergesetzt hat. Sie versteht Gewohnheiten als »practices that are recurrently and relatively consistently reproduced« (Shove 2012: 101). In Abgrenzung zu Routinen, die stärker auf die Stabilität und Regelmäßigkeit von Praktikenzusammenhängen abzielen (vgl. nächster Abschnitt), rücken somit das Timing und die Vollzugsfrequenz von einzelnen Praktiken in das Zentrum der Betrachtung (ebd.: 103). Das bedeutet jedoch nicht, dass Routinen und Gewohnheiten strikt voneinander zu trennen sind. Vielmehr können Gewohnheiten aus Routinen hervorgehen und in diese eingebettet sein (Middleton 2011: 2867). Darüber hinaus stellen auch nicht alle Praktiken Gewohnheiten dar (Shove 2012: 103f.), womit die Frage aufgeworfen wird, wie Gewohnheiten im Kontext von sozialen Praktiken entstehen. Für Shove liegt die Antwort auf diese Frage in den Organisationsstrukturen der jeweiligen Praktiken begründet (ebd.: 104). Wie sie an anderer Stelle ausführlich darstellt (vgl. Shove/Pantzar/Watson 2012), konstituieren sich Praktiken aus den Beziehungen der drei Elemente competence, materiality und meaning. Während competence als praktisches Wissen gefasst wird, das eine Person anleitet, wie eine bestimmte Praktik sinnvoll und angemessen auszuführen ist, umfasst materi­ality die Elemente der dinglichen Welt, bspw. Objekte, Technologien oder auch den menschlichen Körper. Des Weiteren beschreibt meaning die Bedeutungsdimension von Praktiken, die eng mit Emotionen, Ideen und Vorstellungen verf lochten ist. Die Beziehungen zwischen diesen Elementen sind jedoch nicht einfach gegeben, sondern werden immer erst mit der Ausübung der jeweiligen Praktiken her3 Diese Denkbewegung wurde insbesondere von Derrida poststrukturalistisch ausgearbeitet und mit dem Begriff der Iterabilität belegt. An diese Begrifflichkeit schließen auch praxistheoretische Ansätze vielfach an (vgl. Moebius 2013).

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vorgebracht. Werden Gewohnheiten vor diesem Hintergrund nun als wiederholt vollzogene und beständige Praktiken verstanden, so hängt ihre Entstehung eng mit der Reproduktion eines stabilen Beziehungsgefüges aus competence, materiality und meaning zusammen (Shove 2012: 105). Dabei hebt Shove den Aspekt der Beständigkeit hervor, der sich für die Charakterisierung von Gewohnheiten als entscheidend erweist: »[H]abitually enacted practices are ones in which constituent elements of meaning, materiality and competence are themselves stable. For one reason or an­ other there is no competitive drive for ›improved‹ performance, and little or no scope for building competence in ways that transform the contours of the practice […].« (Ebd.) Gewohnheiten erscheinen somit als beständige Konstellationen der Praktiken konstituierenden Elemente. Ihre erhöhte Vollzugsfrequenz schreibt sich dabei als sinnhaft in die Bedeutungsstruktur der Praktiken ein (ebd.: 105f.). In dieser auf den beständigen Vollzug und die Stabilität von Praktiken ausgerichteten Perspektive bleibt ein zentraler Aspekt von Gewohnheiten jedoch weitestgehend unberücksichtigt. »Habit describes not simply an action but an attitude« (Felski 1999: 26). Diese Einstellung wird häufig als Präref lexivität oder »Autopilot« beschrieben und hebt die leibliche Erfahrungsdimension des alltäglichen Lebens hervor wie sie insbesondere in phänomenologischen Ansätzen thematisiert wird (ebd.: 26ff.; Dörf ler/Rothfuß 2018). Praxistheoretische Ansätze, die die Körper- und Artefaktbindung des sozialen Tuns grundsätzlich betonen, schenken dem leiblich-sinnlichen Erfahren bisher hingegen wenig Beachtung (Prinz 2016: 181). Für sie stehen soziale Praktiken als sinnhafte und materiell vermittelte Handlungszusammenhänge im Fokus, die von kompetenten Körpern vollzogen werden (Reckwitz 2003: 290). Dabei werden Individuen vielfach als bloße Praktikenträger*innen respektive »body/minds« (Reckwitz 2002: 256) gefasst. (Leib-)Phänomenologisch wird hingegen zumeist die Intentionalität im Wahrnehmen betont (Wiesing 2015: 124ff.). Dies steht im Widerspruch zu praxistheoretischen Perspektiven, die kein intentionales Bewusstsein annehmen. Entsprechend verwundert es nicht, dass Shove (2012) auf den Punkt der Präref lexivität nur insofern eingeht, als dass sie dieser keine größere Bedeutung für die Frage beimisst, ob Praktiken gewohnheitsmäßig reproduziert werden oder nicht. Vielmehr begründe sich die Unterscheidung von präref lexivem und bewusstem Handeln individualtheoretisch und löse sich in einer praktikentheoretischen Perspektive auf (ebd.: 108f.). An dieser Stelle kritisiert Schatzki (2017: 34f.) praxistheoretische Ansätze dafür, die körperliche Dimension menschlicher Aktivitäten zu betonen, ohne eingehender zu erläutern, was dies genau bedeutet. Impulse für eine praxistheoretische

Gewohnheiten und Routinen

Vertiefung von Körperlichkeit scheint Merleau-Pontys Konzeption des Leibes zu liefern, die aktuell vermehrt diskutiert wird (u.a. Bedorf 2017; Prinz 2017). Für Merleau-Ponty (1966 [1945]) stellt sich der Leib als präref lexiv vermittelnde Instanz zwischen Subjekt und Objekt dar. So konstituiert sich ein Subjekt und sein Verständnis der es umgebenden Welt im Prozess der Wahrnehmung, den Merleau-Ponty als grundlegend körperliche Praxis beschreibt. Diese Praxis ist dabei »von bestimmten Aktivitäten und den durch sie hervorgerufenen Interessen beeinf lusst« (Crossley 2017: 319). Zur Verdeutlichung führt Merleau-Ponty (1976 [1942]: 193f.) das Beispiel eines Fußballspiels an. Fußballspieler*innen nehmen das Spielfeld im Kontext des Spielens wahr; es stellt für sie nicht einfach nur eine rechtwinklige Rasenf läche dar, sondern ist Ort von Zweikämpfen, Torchancen etc. Ihr Agieren auf dem Feld ist jedoch nicht primär Ausdruck eines ref lexiven Bewusstseins, sondern ergibt sich aus dem präref lexiven körperlichen Umgang mit diesen bedeutungsvollen Situationen. Menschliches Verhalten ist mit Merleau-Ponty also immer als eine gerichtete Beziehung zur Welt zu verstehen, die sich im körperlichen Umgang mit dieser konstituiert. Wie in seinen Darstellungen zum Begriff der Gewohnheit deutlich wird (Merleau-Ponty 1966 [1945]: 172ff. u. 182ff.), beruhen die körperlichen Umgangsformen auch nicht auf angeborenen Instinkten o.Ä., sondern sind als eingeübte Verhaltensmuster zu verstehen, die es erlauben, dass wir uns in vorgefundenen Situationen zurechtfinden und diese angemessen bewältigen. Die Einübung von Verhaltensmustern kann dabei als Prozess einer nachahmenden Einleibung (ebd.: 218ff.) oder body ballet (Seamon 1979: 54f.) beschrieben werden. So wird das körperliche Verhalten anderer durch ein leiblich erfahrendes Subjekt wahrgenommen und entsprechend der »Struktur der von der Gebärde entworfenen Welt« (Merleau-Ponty 1966 [1945]: 220) sinnhaft einverleibt. In sich ähnelnden Situationen können die leiblich eingeübten Verhaltensmuster dann entsprechend abgerufen und realisiert werden. Der menschliche Körper stellt somit eine implizite Struktur für unser Alltagshandeln bereit (Crossley 2017: 320f.). Gleichzeitig werden in diesem Handeln soziale Strukturen reproduziert, die aus den sich wiederholenden Mustern menschlicher Interaktion hervorgehen (ebd.: 322). Nach diesem Verständnis verkörperten Verhaltens, das ebenso soziale Strukturen hervorbringt wie es aus diesen hervorgeht, ist eine Nähe zu praxistheoretischen Ansätzen erkennbar. So hebt Schatzki (2017) in seiner Diskussion konzeptioneller Schnittstellen zwischen Phänomenologien und Theorien sozialer Praktiken, bei der er an die leibphänomenologischen Überlegungen Merleau-Pontys anschließt, folgende Aspekte hervor: Menschliche Aktivitäten lassen sich erstens als körperliche, raumzeitlich gerichtete Tätigkeiten verstehen, die wesentlich durch ein implizites praktisches Verständnis geprägt sind und in einer bedeutungsvollen materiellen Umwelt vollzogen werden (ebd. 2017: 31). Und zweitens kann das sinnliche Erfahren der Welt ebenfalls als eine solche Tätigkeit gefasst werden (ebd.). Werden menschliche Tätigkeiten nun als grundlegende Bestand-

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teile von sozialen Praktiken konzeptualisiert (u.a. Schatzki 2005: 11), rückt der Leib als körperlich vollziehende und sinnlich erfahrende Instanz der sozialen Welt in das Blickfeld praxistheoretischer Perspektiven. Dabei ist er nicht mehr an ein intentionales Subjekt gekoppelt, sondern wird im Kontext einer in und durch soziale Praktiken konstituierten Wirklichkeit relevant. So verwickeln sich Individuen in der nachahmenden Einübung bzw. -leibung körperlicher Verhaltensweisen in soziale Beziehungsgefüge (vgl. Runkel 2018) und beteiligen sich damit an der Reproduktion sozialer Praktiken sowie einer durch diese hervorgebrachten sozialen Welt. Der körperliche Umgang mit einer bedeutungsvollen Umgebung findet somit auch stets im Kontext sozialer Praktiken statt, die die sinnliche Wahrnehmung von und den sinnhaften Umgang mit dieser Umgebung strukturieren. Rückbezogen auf ein praxistheoretisches Interesse an der Alltäglichkeit des sozialen Lebens bedeutet dies, dass sich Gewohnheiten zwar weiterhin als beständige Konstellationen der Praktiken konstituierenden Elemente verstehen lassen, diese sich jedoch über eine materiell bedeutungsvolle Umwelt vermitteln sowie als leibliche Erfahrungen in die Praktikenträger*innen einschreiben. Der Körper ist somit nicht mehr nur kompetente Vollzugsinstanz sozialer Praktiken, sondern erscheint vielmehr zentral für die Konstitution alltäglicher Praktiken. Gewohnheiten stellen sich somit als leibliche Stabilisierungen des alltäglichen Lebens dar, das im Kontext sozialer Praktiken vollzogen und erfahren wird. Diese in und durch Praktiken hervorgebrachten leiblichen Stabilisierungen weisen dabei immer auch einen räumlichen Charakter auf, der zuweilen wenig Beachtung in der Diskussion um Alltag und Praktiken findet. Wenngleich Felski (1999: 22) darauf hinweist, dass Alltag keine spezifischen räumlichen Grenzen besitzt, so werden in sich wiederholenden Aneignungen konkreter Orte dennoch Formen alltäglicher Räumlichkeit produziert und reproduziert. Diese kann dabei einerseits an konkrete materielle Orte gekoppelt sein und andererseits durch den Vollzug alltäglicher Praktiken hervorgebracht werden.4 So stellt die Haltestelle in

4 An dieser Stelle wird eine Nähe zum Begriff der place ballets bei Seamon (1979: 55f.) deutlich. Dieser konzeptualisiert place ballets als konkreten Orten eigene Sets an Verhaltensmustern, die sich aus einer raumzeitlichen Synchronisierung individueller körperlicher Verhaltensweisen ergeben und darüber die subjektive Raumerfahrung prägen. Bestimmte Orte wie Cafés, Supermärkte oder auch Bushaltestellen erhalten dabei in der sich wiederholenden Ausübung bestimmter Verhaltensweisen eine gewisse Vertrautheit; im wiederholten Zusammentreffen individueller körperlicher Verhaltensmuster an einem konkreten Ort wird somit eine Alltäglichkeit hervorgebracht, die sich in den Raum einschreibt und dessen subjektive Wahrnehmung prägt. Eine vertiefte praktikentheoretische Auseinandersetzung mit Seamons Ansatz scheint ein lohnenswertes Projekt, um die emotionale Bindung an und praktische Hervorbringung von alltäglichen Räumen zu vertiefen. Gleichzeitig wird hieran die enge Verflechtung leiblicher und raumzeitlicher Dimensionen alltäglicher Praktiken deutlich, die im vorliegenden Beitrag mit den Konzepten von Gewohnheit und Routine angesprochen werden.

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der eingangs skizzierten Szene für die wartenden Personen nicht einfach einen bedeutungslosen Ort an einer vierspurigen Straße dar, sondern sie erfahren diese als »Transitzone« – eine Zwischenstation auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen –, in der bestimmte Praktiken als alltäglich gelten und andere nicht. Für gewöhnlich werden im materiellen Setting der Haltestelle Praktiken des Wartens vollzogen, wohingegen uns das Gärtnern an diesem Ort als ungewöhnlich erscheinen würde. Die Haltestelle kann in dieser Hinsicht als Affordanz für bestimmte Praktiken verstanden werden (vgl. Schmidt 2012). Die Alltäglichkeit der Praktiken wird jedoch nicht nur über die bedeutungsvolle Umwelt »Haltestelle« hervorgebracht, sondern auch leiblich stabilisiert. Dies zeigen bspw. der automatisierte Griff zum Kopf hörer und das Abspielen der Musik über das Smartphone – Tätigkeiten, die keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr bedürfen, sich vielmehr in den Leib der Wartenden eingeschrieben haben und »automatisiert« im Kontext der Praktik des Wartens reproduziert werden. Die Praktik des Wartens bildet dabei einerseits den sinnhaften Kontext, in dem diese Gewohnheiten situativ vollzogen werden, andererseits wird über den leiblichen Vollzug dieser Gewohnheiten die Praktik des Wartens reproduziert. Eine praktikentheoretische Auseinandersetzung mit Gewohnheiten verschiebt den Analysefokus weg von handelnden Individuen oder sozialen Strukturen hin zu situativ und leiblich vollzogenen sozialen Praktiken, die alltägliche Räumlichkeit selbst hervorbringen. Der alltägliche Charakter des Raumes drückt sich dabei in der beständigen Konstellation der Praktiken konstituierenden Elemente aus, die sich materiell vermittelt sowie als leibliche Erfahrung in die Praktikenträger*innen einschreibt. Die Tätigkeiten einzelner Personen werden dabei nicht völlig aus der Analyse verbannt, jedoch stets im Kontext sozialer Praktiken beleuchtet, von denen sie ein integraler Bestandteil sind. Entsprechend können Gewohnheiten als zentraler Aspekt alltäglicher Praktiken gefasst werden, die wiederum die Ausbildung und Aufrechterhaltung von Gewohnheiten strukturieren. Die Ausbildung und Aufrechterhaltung von Gewohnheiten ist jedoch auch stets mit der Frage verbunden, wie Praktiken in größere Praktikengefüge eingebettet sind und welche Wirkungszusammenhänge sich daraus ergeben (van Tienoven/ Glorieux/Minnen 2017: 6). So ist auch das morgendliche Warten an der Haltestelle raumzeitlich strukturiert durch Praktiken des Frühstückens, des Busfahrens oder des Arbeitens, die an der Haltestelle miteinander verf lochten werden und diese als leiblich erfahrbare »Transitzone« konstituieren. Entsprechend ist eine praxistheoretische Konzeptualisierung von Gewohnheiten nicht ohne eine Beschäftigung mit Routinen denkbar.

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Routinen Im Alltag gehen wir unserer Wege. Diese Wegerfahrungen als Routinen zeigen an, wie verschiedene Praktiken räumlich geordnet und zeitlich eingefasst sind (Shove 2012: 103). Der Ausdruck »Routine« ist dem französischen Wort für »Route« entlehnt: Routinen sind metaphorisch gesprochen also Pfade (vgl. Seamon 1979: 55ff.), die bereits vielfach eingeschlagen wurden und somit eine Verlässlichkeit produzieren, aufgrund derer Praktiken nicht erneut hinterfragt werden. Insbesondere innerhalb der Organisations- und Wirtschaf tssoziologie wurde versucht, der Unbestimmtheit des Routinebegrif fs deutlichere Konturen zu geben. In der reichhaltigen Literatur zum Verhältnis von Routinen und Regeln lassen sich nach Reynaud (2005) entlang zweier Achsen grundlegende Verständnisse isolieren. Erstens unterscheiden sich die Begrif fsverständnisse dahingehend, ob es sich bei Routinen um geistlose (»mindless«) oder sinnstiftende Tätigkeiten handelt. Dabei werden Routinen v.a. von in einer behavioristischen Tradition stehenden Ansätzen als Muster von Verhalten, Handlungen und Interaktionen gefasst (ebd.: 854), die unhinterfragt und »mindless« (ebd.) wiederholt werden. Diese Sichtweise steht einem Verständnis von Routinen als Kapazität zum Lernen entgegen, das zur Diskussion stellt, inwieweit Routinen bloße nicht ref lektierte Wiederholungen von Handlungen darstellen. Kontrastiert wird dies mit einem Verständnis von Routinen als sinnstif tende Wiederholungen mit Verweis auf den Wandel, der Routinen inhärent ist, sowie die Handlungsmacht von Subjekten (ebd.: 855). Unter diesem Gesichtspunkt stellen Routinen vielmehr ein Repertoire an möglichen Handlungen dar. Zweitens kann mit Reynaud zwischen Verständnissen von Routinen in ihrer Anwendung auf individuelle oder kollektive Formen des Sozialen unterschieden werden. Zumeist wird dabei betont, wie Routinen gleichsam auf individueller und kollektiver Ebene miteinander verwoben sind. Eine praxistheoretische Perspektive ermöglicht ein Verständnis dieser Verwobenheit, wie weiter unten noch gezeigt werden kann. Aus praxistheoretischer Sicht werden Routinen weder als mechanische Wiederholungen von Verhaltensmustern noch als Konglomerate intentionaler Einzelhandlungen verstanden. Reckwitz betont in seinem Lob des »routinisierten Strom[s] der Reproduktion typisierter Praktiken« (2003: 294) die Wiederholung des »einmal vermittelte[n] und inkorporierte[n] praktische[n] Wissen[s]« (ebd.), um sich gegenüber einem intentionalen Handlungsbegriff abzugrenzen. Sinn entsteht erst im praktischen Vollzug. Dies bedeutet aber nicht, dass Routinen automatisierte Verhaltensweisen sind, die sich immer gleich mechanisch wiederholen. Die von Reynaud (2005) identifizierte Spannung lässt sich aber in gewisser Analogie auch aus einer praxistheoretischen Perspektive konturieren. So identifizieren Ehn und Löfgren (2009) ein Kontinuum zwischen eher mechanischen,

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ref lexartigen Routinen einerseits und einer traditionell-symbolischen Ritualisierung andererseits. Alltägliche Rituale wie das morgendliche Begrüßen der Fahrgäste durch den Busfahrer können zu bedeutungsentleerten Ref lexen werden, ebenso wie triviale, vertraute Routinen in plötzlich beunruhigender Weise mit symbolischer Bedeutung aufgeladen werden können, z.B. wenn der Bus zur Überraschung der Fahrgäste pünktlich kommt. In der Organisationsforschung wird sich insbesondere für die stabilisierende Kraft, die von Routinen ausgeht, interessiert (Feldman/Orlikowski 2011). So formulierte bereits Luhman (1994) in seinem Erstwerk ein »Lob der Routine«. Er argumentierte, dass Organisationen aufgrund von Routinen die Kapazität besitzen, trotz veränderlicher Bedingungen zu erwartende Leistungen zu stabilisieren. Die machtvolle Durchsetzung von Routinen zeigt sich in der Bedeutung, die der Standardisierung routinierter Abläufe (z.B. des Busfahrplans) zugewiesen wird. Die Routinisiertheit von Praktiken produziert Verlässlichkeit, und der Alltag eröffnet sich als Entlastungsraum (vgl. Bausinger 1991: 13). Praxistheoretisch ist kein strenges kausalistisches Verständnis von routinierter Wiederholung haltbar. Auch Reckwitz (2003: 294) stellt der Routinisiertheit von Praktiken – d.h. ihrer stabilisierenden Kraft – ihre Unberechenbarkeit und Offenheit gegenüber bzw. will er diese beiden Aspekte in der Logik der Praxis verschmolzen verstanden wissen. An dieser Stelle drängt sich ein erneuter Verweis auf die Iterabilität sozialer Phänomene auf. Ein früher Denker dieses Konzepts war Gabriel Tarde (Moebius 2009), an dessen Soziologie der Nachahmung auch praxistheheoretisch angeschlossen wird (vgl. Schatzki 2016a). Jeder Wiederholung, so Tarde (2009 [1890]: 31), wohnt auch eine unbestimmte Neuerung inne. Tarde geht davon aus, dass alles Soziale aus Nachahmungshandlungen besteht. Er denkt das Soziale weder aus einer makrostrukturellen Perspektive heraus noch interessiert ihn die individualtheoretische Frage nach der Intentionalität des Handelns (Borch/ Stäheli 2009: 10). Sein Interesse gilt der Ereignishaftigkeit des Sozialen; Gesellschaft besteht aus Nachahmung, und Nachgeahmtes dif fundiert in zahlreichen Praktiken, denen stets eine Veränderung inhärent ist. Die Gegenstände der Nachahmung sind dabei materiell oder immateriell und reichen von Ideen über Routinen bis hin zu Absichten. Allerdings geht es Tarde weniger um das Nachgeahmte an sich, sondern vielmehr um deren Bezug auf die Kräfte, die den Nachahmungsprozess vorantreiben: nämlich Begehren und Überzeugung (vgl. ebd.). So ergeben sich bspw. soziale Innovationen durch kreative, spontane Kreuzungen von Nachahmungsströmen, während Routinen tendenziell eher zur Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Tarde (2009 [1890]: 97) schreibt:

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»Genauso wie ein Mensch nur vermöge seiner mannigfaltigen und koordinierten muskulären Erinnerungen schaut, zuhört, geht, steht, schreibt, Flöte spielt und, was mehr ist, erfindet und sich ausdenkt, genauso kann die Gesellschaft nicht ohne einen Vorrat an Routine, an Nachäffungen und einen unergründlichen Herdentrieb, der sich über die Generationen vergrößert, leben, fortschreiten und sich verändern.« Nachahmungen lassen sich praxistheoretisch als unhinterfragte, repetitive Handlungsketten (chains of action) verstehen (Schatzki 2016a), die eine Praktik oder mehrere Praktiken als Routine(-n) konstituieren. Als Routinen können somit einerseits solche Praktiken(-gefüge) verstanden werden, die zur »relative[n] Strukturiertheit, Verstehbarkeit und ›Geordnetheit‹ der Sozialwelt« (Reckwitz 2003: 294) beitragen. Andererseits ist aber gleichermaßen jeder Praktik eine Veränderung inhärent, »die den in der Praxis situierten Akteur dazu zwingt (und es ihm ermöglicht), ebenso ›skillfully‹ wie im Routinemodus mit ihnen umzugehen« (ebd.). In dieser Hinsicht wird also deutlich, dass aus praxistheoretischer Perspektive Routinen in ihrer stabilisierenden und destabilisierenden Implikation erörtert werden müssen. Damit wird verständlich, warum die »Alltäglichkeit« von Routinen in der Polarität von befreiend einerseits und von beschränkend bzw. einengend andererseits erfahren werden kann (Ehn/Löfgren 2009: 100).5 Highmore (2004: 311) stellt fest, dass sich gerade hierin die Ambiguität von Alltag zeigt. Wenn in klassischen Alltagsverständnissen alltägliche Handlungen mit Routinen gleichgesetzt werden, dann werden damit unweigerlich die »dramas of adjustments« (Berlant 2011: 69) übersehen. Schatzki (2016b) behandelt solche »adjustments« als gewöhnlichen Teil der conditio humana: »Things never go right, others’ actions are indeterminate and unpredictable, nature is full of surprises and one’s knowledge of the world incomplete and faulty, and whenever people coexist lines of action invariably collide.« (Ebd.: 32) Folgt man diesem Gedanken, dann lässt sich für eine praxistheoretische Untersuchung von Geographien des Alltags festhalten, dass die raumzeitliche Strukturierung des Alltags durch Routinen die Spannung von Stabilisierung und Destabilisierung in den Blick nehmen muss. Dabei bleibt aber noch die Frage offen, inwieweit die Routiniertheit und Offenheit von Praktiken(-gefügen) bzw. die stabilisierende und destabilisierende Kraft von Routinen in raumzeitlicher Hinsicht Alltag strukturiert. Reckwitz (2003: 295) argumentiert, dass die Zeitlichkeit des Vollzugs einer Praktik im Moment der Zukunftsungewissheit und des Potenzials der Sinnverschiebung enthal5 Anschlussfähig sind an genau dieser Stelle eben auch Fragen nach Machtverhältnissen, die in der raumzeitlichen Strukturierung von Routinen im Alltag als produktive Kraft wirksam werden. Zur praxistheoretischen Adressierung von Macht vgl. Beitrag »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht« in diesem Band.

Gewohnheiten und Routinen

ten ist. Ersteres Moment bedeutet v.a. ein »Nicht-Wissen […], inwiefern ein weiteres Handeln im Rahmen der Praktik gelingen wird und die Praktik fortzusetzen ist« (ebd.). Zwar geben Routinen mittels Synchronisierung und Sequenzierung Sicherheit und Erwartbarkeit in zeitlicher Hinsicht, aber vor Überraschungen (Simandan 2018) sind auch alltägliche Routinen nicht gefeit. Jede Praktik enthält das Potenzial sprunghafter Verschiebungen. Neben der zeitlichen Strukturierung zeigt sich ferner eine räumliche Strukturierung in Routinen, was Reckwitz (2003: 294) mit der Kontextualität von Praktiken anspricht. Routinen bieten, mit Heidegger (2006: 103) gesprochen, eine »gegendhafte Orientierung« an. Dabei erfordert Orientierung kein aktives Subjekt, sondern es handelt sich dabei um ein passives Orientiert-Sein in vertrauten Gegenden, in denen sich vermittels routinierter Praktiken bereits eingerichtet wurde. Neben dieser praxistheoretischen Einordnung von Routinen als Spannungsfeld von stabilisierter Erwartbarkeit und abweichender Kreativität zeigt Reynaud (2005) zudem auf, dass in der Literatur das Verhältnis der Anwendung des Routinenbegriffs auf individuelle und kollektive soziale Phänomene diskutiert wird. In ähnlicher Wiese identifizieren auch Ehn und Löfgren (2009) eine Polarität zwischen kollektiven und personalen Routinen. In der Absage der Theorien sozialer Praktiken an ein intentionales Subjekt rücken v.a. komplexe Kollektivitäten und Kontexte in den Vordergrund. Damit wird es möglich, klassische Begriffsverständnisse von Routinen, die diesen eine formalisierbare Struktur im Sinne von explizit gemachten Regeln unterstellen, als westliches, eurozentrisches Projekt der Moderne zu entlarven (vgl. Highmore 2004: 307f.). Stattdessen betonen praxistheoretische Zugänge zu Routinen deren prozessualen Charakter, der sowohl ref lektierte als auch unref lektierte Elemente umfasst. Reckwitz (2003: 295) betrachtet gekoppelte Komplexe von Praktiken unter zwei Aspekten: »als ›soziale Felder‹, in denen Praktiken ›der Sache nach‹ zusammenhängen und aufeinander abgestimmt sind – etwa in einer Institution, einer Organisation oder in sog. ›Funktionssystemen‹ – und als ›Lebensformen‹, in denen Praktiken etwa in einer kulturellen Klasse, einem Milieu oder einer kulturellen Bewegung so miteinander zusammenhängen, dass sie die gesamte Lebens- und Alltagszeit der beteiligten Subjekte strukturieren.« (Ebd.) Auch diese Kopplungen können mit Verweis auf Nachahmungen als Routinen konstituierende Handlungsketten verstanden werden. Als Alltag kann somit die in Routinen aufgespannte raumzeitliche Strukturierung der Praktiken bezeichnet werden, die aufgrund der Nachahmungsketten »aufeinander abgestimmt oder gegeneinander abgegrenzt sind« (ebd.). So zeigen sich im Busfahren kollektive Praktiken, die alltägliche Öffentlichkeit möglich machen. Eine kollektive Routine stellt bspw. das Busfahren in der Stadt dar. Das heißt aber nicht, dass

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das Busfahren für den Einzelnen eine Routine ist – ebenso wie es Gewohnheiten gibt, die gesellschaftlich als ungewöhnlich gelten. Dennoch sind Routinen durch Nachahmungsketten »interaktiv«. Allerdings bietet die kollektive Routine als raumzeitliche Strukturierung die Möglichkeit zur personalen Entfaltung, wie z.B. in der Praktik des Musikhörens, um die Notwendigkeit des Small Talks mit anderen Fahrgästen im Bus zu hemmen (aus alltagsweltlicher Perspektive vgl. DeNora 2000). Gerade hier zeigt sich somit auch eine fruchtbare, zumindest analytisch erfassbare Spannung zwischen der leiblich-affektiven Situiertheit von Gewohnheiten und der raumzeitlichen Strukturierung von Routinen im Alltag (vgl. Becker 2004: 647). Festzuhalten ist nun, dass benannte Polaritäten auf den transformativen Charakter von Routinen hinweisen, d.h. sie werfen die Frage auf, wie diese Alltäglichkeit stabilisieren und destabilisieren. Eine praxistheoretische Perspektive auf Alltag kann selbigen folglich nicht als universelle Kategorie jenseits der Kontingenz »aller nur möglichen menschlichen Gesellschaften« (Elias 1978: 29) adressieren, geschweige denn Routinen mit Alltagspraktiken gleichsetzen. Stattdessen können im Sinne einer experimentellen Ethnographie – z.B. als Krisenexperiment (Garfinkel 1967) – Routinen als Ausgangspunkt genommen werden, um die Krisenhaftigkeit von Geographien des Alltags in den Blick zu bekommen. Während Gewohnheiten also auf eine affektiv-leibliche Situiertheit von Alltäglichkeit verweisen, so steht diesen – in wechselseitiger Abhängigkeit – eine raumzeitliche Strukturierung durch Routinen im Alltag gegenüber. Eine Erforschung der Geographien des Alltags kann hier ansetzen und diese wechselseitigen Bezüge untersuchen, ebenso wie die Betrachtung der Ereignishaftigkeit von (sozialen) Krisen Aufschluss über den prozessualen Charakter der Produktion von alltäglichen Geographien geben kann.

Fazit Eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit Alltag vermag es, den analytischen Blick auf die leiblich-affektive Situiertheit wie auch die raumzeitliche Strukturierung sozialer Praktiken zu richten und somit deren alltägliche Facetten hervorzuheben. Dabei strebt sie jedoch weder an, Alltag vollumfassend zu bestimmen, noch alltägliche Phänomene abschließend zu erklären. Vielmehr wurde gezeigt, dass eine dezidiert praxistheoretische Perspektivierung von Alltag als Ausgangspunkt dienen kann, um praxistheoretische Fragestellungen zur Situiertheit und Materialität sowie zu Stabilität und Wandel sozialer Praktiken zu vertiefen. So ermöglicht die Fokussierung auf Gewohnheiten und Routinen eine differenzierte Analyse alltäglicher Stabilisierungen und Destabilisierungen von sozialen Beziehungsgefügen, die in und durch Praktiken hervorgebracht werden.

Gewohnheiten und Routinen

Gewohnheiten lassen sich in diesem Zusammenhang als beständige Konstellationen Praktiken konstituierender Elemente verstehen, deren alltäglicher Charakter sich über eine materiell bedeutungsvolle Umwelt vermittelt und sich als leibliche Erfahrung in die Praktikenträger*innen einschreibt. Gewohnheiten sind also nicht mit Praktiken gleichzusetzen, sondern vollziehen sich in Praktiken, die das sinnliche Erfahren der materiellen Welt sowie den sinnhaften Umgang mit dieser strukturieren. Damit unterstreichen sie einerseits die situative und materielle Verankerung von Praktiken und heben andererseits die Bedeutung leiblicher Erfahrung für die Konstitution alltäglicher Praktiken hervor. Während Gewohnheiten somit die leiblich-materiellen Dimensionen alltäglicher Praktiken adressieren, betonen Routinen ihre raumzeitliche Einbettung in größere Praktikengefüge. Alltägliche Praktiken lassen sich dabei im Spannungsfeld von Routiniertheit und Unberechenbarkeit erfassen. So rufen zeitliche Sequenzierungen und räumliche Orientierungen erwartbare Abfolgen von Praktiken hervor, die wiederum durch ihren situativen Vollzug stabilisierend auf ein Praktikengefüge wirken können. Andersherum können situative Anpassungen jedoch auch zu einer Störung erwartbarer Handlungsverläufe führen und somit die Alltäglichkeit eines Praktikengefüges zerrütten. Eine an Theorien sozialer Praktiken orientierte Geographie des Alltags inte­ ressiert sich nun insbesondere für alltägliche (raumbezogene) Bedeutungsproduktionen, deren materielle und gelebte Alltäglichkeiten durch leibliche Erfahrungen und raumzeitliche Strukturierungen von Praktiken hervorgebracht und stabilisiert, aber auch verändert werden. Dabei ermöglicht es eine praxistheoretische Perspektive, die räumliche Produktivität des alltäglichen Lebens entlang konkreter Situationen und Verortungen in den Blick zu nehmen, ohne darüber hinausreichende Verf lechtungen aus den Augen zu verlieren. Dadurch kann sie u.a. wichtige Impulse für aktuelle sozialgeographische Fragestellungen liefern und bspw. geographische Arbeiten zu Krisenphänomenen (vgl. Runkel/Everts 2017) um eine Analyse alltäglicher Krisenproduktionen und -anpassungen bereichern. Denn wenn – z.B. im Zuge von Einsparungen in peripherialisierten Räumen – der Bus eines Tages nicht mehr kommt, dann zeigt sich Alltag nicht mehr als der bornierte Raum der Selbstverständlichkeiten, sondern als machtvolles Spannungsfeld gesellschaftlicher Umwälzungen (vgl. Bausinger 1991). Gleichzeitig erscheint Alltag aber auch als ein Hort der Kreativität, was sich v.a. in Momenten kleiner Krisen im Spannungsfeld von Gewohnheit, Routine und Improvisation ergibt. Niemals steigt man in denselben Bus.6 Anknüpfend an die hier geführte Diskussion um Gewohnheiten und Routinen als konzeptionelle Zugänge zu Alltag, drängen sich weiterführende Fragestellun6 Eine interessante dichte Beschreibung des Busverkehrs (in St. Lucia), die diesen Aphorismus sehr deutlich macht, findet sich in Sahr (1997: 157ff.).

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gen im Feld der Theorien sozialer Praktiken auf. So gilt es zum einen auf theoretisch-konzeptioneller Ebene, das Verhältnis von Praxistheorien und Phänomenologien (vgl. u.a. Bedorf/Gerlek 2017 sowie, Praktiken und Macht [vgl. hierzu Beitrag »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht« in diesem Band]) weiter auszuleuchten und für die Analyse von Gewohnheiten und Routinen fruchtbar zu machen. Hieran schließt sich die Frage nach den wechselseitigen Verknüpfungen situativer leiblicher Erfahrungen und raumzeitlicher Wirkungszusammenhänge von Praktiken an, die in diesem Beitrag nicht näher beleuchtet wurde. Zum anderen bringen praxistheoretische Zugänge zu Geographien des Alltags methodologische und methodische Herausforderungen mit sich, deren Umgangsweisen weiterführend zu diskutieren und zu erproben sind. Wie kann die Komplexität des alltäglichen Lebens methodisch abgebildet und ref lektiert werden? Wie lassen sich das Gewöhnliche, die »infra-gewöhnliche […] Einfachheit« (Hasse 2017b: 173) und das Unhinterfragte in den Blick nehmen? Wie können leiblich situierte Erfahrungen und raumzeitliche Strukturierungen gebührend erfasst und beschrieben werden? Diese Fragen stellen sich nicht nur für an Theorien sozialer Praktiken orientierte Geographien des Alltags. Sollen jedoch praxistheoretische Zugänge und daraufhin abgestimmte Methoden angewendet werden, müssen sie speziell für diese betrachtet und ref lektiert werden. Ethnographisch ausgerichtete Operationalisierungen praxistheoretischer Ansätze (vgl. hierzu Beiträge zu Methoden und Methodologien in diesem Band) scheinen diesbezüglich vielerlei Anknüpfungspunkte zu bieten, ermöglichen sie doch die Fokussierung sozialer Praktiken und ihrer Einbettung in gelebte Erfahrungswelten (Müller 2012: 179). Dabei ist jedoch stets der spezifische Konstruktionscharakter des Alltags zu berücksichtigen, der mit dessen theoretischer Perspektivierung einhergeht. Theorien sozialer Praktiken haben diesbezüglich den Charme, dass sie eine zirkuläre Ref lexion zwischen konzeptionellem Rahmen und empirischer Analyse als wesentliche Vorgehensweise für sich identifiziert haben (Schmidt 2012: 31f.). Entsprechend stellen sie das theoretische wie methodologische Instrumentarium für eine differenzierte Beschäftigung mit Geographien des Alltags bereit.

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Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht Jonathan Everts, Klaus Geiselhart, Sarah Rominger und Jan Winkler

Einleitung Kaum ein Begriff wird in den Sozialwissenschaften so kontrovers diskutiert wie der Begriff der Macht (Clegg/Haugaard 2009; Imbusch 2012; Jaeggi/Celikates 2017; Krause/Rölli 2008). Der Vorstellung von Macht als restriktive, verbietende oder einschränkende Kraft steht die Idee von Macht als produktives, ermächtigendes oder verstärkendes Phänomen gegenüber. Mit dem Begriff der Macht kann die Verfügungsgewalt über Individuen oder Dinge gemeint sein, aber auch die Fähigkeit, etwas zu tun. Mal wird Macht mit Zwang und Herrschaft, mal mit Konsens und Vergemeinschaftung assoziiert. Macht wird von den einen als Objekt, Ressource oder Attribut verstanden, von anderen wird Macht als ein Effekt von Praktiken oder gesellschaftlichen Strukturen gedacht. Während einige Autor*innen Macht letztlich überall, bspw. im Vollzug einer jeden Tätigkeit oder in der allgemeinen Struktur gesellschaftlicher Praxis, erkennen, versuchen andere, den Machtbegriff für besondere Steuerungsmechanismen oder Abhängigkeitsverhältnisse zu reservieren. In diesem Beitrag legen wir dar, welche machttheoretischen Positionen Praxistheoretiker*innen vertreten, welche Rolle machtanalytische Ansätze im praxeologischen Denken einnehmen und welche Implikationen dieses Denken für praxeologisch-geographisches Arbeiten haben kann. Im Folgenden diskutieren wir zunächst allgemeine Bedeutungsdimensionen des Begriffs der Macht. Da­ran anschließend zeigen wir, wie Macht praxeologisch als Praktiken der Einf lussnahme oder des Regierens sowie als dominante Projekte konzeptualisiert werden kann. Wir schließen den Beitrag mit weiterführenden Überlegungen zum Thema Gewalt, Herrschaft und Verantwortung.

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Jonathan Everts, Klaus Geiselhart, Sarah Rominger und Jan Winkler

Facetten des Machtbegriffs Macht ist ein abstrakter Begriff, unter dem viele unterschiedliche Phänomene verstanden werden können. Einesteils erscheint Macht als ein Sammelbegriff für all jene Phänomene, in denen Abhängigkeiten (mit oder ohne Gewalt) hergestellt werden. Andernteils wird Macht als ein eigenes Phänomen unter vielen anderen Formen von Herrschaft oder Regierung theoretisch verortet. Im Folgenden geben wir als Einführung einen knappen Abriss über einige Definitionen von Macht, um zunächst die Breite der möglichen Zugänge aufzuzeigen und daran anschließend die Besonderheiten der praxeologischen Ansätze deutlich werden zu lassen. »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« (Weber 1980 [1922]: 28) Max Webers klassische Definition beschreibt Macht als ein Vermögen von einzelnen Personen oder Gruppen, Herrschaft und Zwang ausüben zu können, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Sie steht im Kontrast zur Vorstellung von Macht als Resultat von materiellen Ressourcen und gelungener Überzeugungsarbeit, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels bereits in »Die deutsche Ideologie« beschreiben: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht« (Marx/Engels 1990 [1845-6]: 46, Herv. i.O.). Für Marx und Engels wird Macht von bestimmten Personengruppen nicht nur aufgrund materieller Überlegenheit errungen. Damit eine Gruppe eine Machtposition etablieren und erhalten könne, müsse es ihr auch gelingen, ihre Ansichten durchzusetzen. »Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideal ausdrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen« (ebd.: 47). Erst wenn die Denkmuster dieser Gruppe in der Breite der Gesellschaft als allgemeingültig akzeptiert sind, kann diese Personengruppe zur »herrschenden Klasse« werden. Im Laufe der Zeit haben nun Autor*innen versucht, die dem Machtbegriff inhärenten Spannungen zwischen Befähigung und Zwang, zwischen Repression und produktiver Kraft, aber auch zwischen autoritativer Herrschaft und demokratischer Legitimation auszudifferenzieren. Im Folgenden stellen wir eine Auswahl umfassenderer Definitionen dar, die nach unserem Ermessen den Facettenreichtum des Machtbegriffs besonders berücksichtigen. Weitere Definitionen anderer Autor*innen sind hier meistens bereits mitgedacht oder lassen sich oftmals innerhalb der aufgeführten Definitionen verorten. Es gibt auch Gemeinsamkeiten über den Facettenreichtum hinweg, auf die wir weiter unten hinweisen

Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung

werden. Zunächst stellen wir aber die Auswahl der unterschiedlichen Machtkonzepte dar. Steven Lukes (2005) unterscheidet drei Dimensionen der Macht. Die erste Dimension der Macht sind die offenen und sichtbaren Handlungen von Personen in Machtpositionen (vgl. Dahl 1961). Die zweite Dimension sind »Nichtentscheidungen« (non-decisions), in dem durch eher verborgenes Handeln dafür gesorgt wird, dass bestimmte Dinge gar nicht erst zur Diskussion stehen (vgl. Bachrach/Baratz 1963). Der dritte Machttyp ist, Marx und Engels folgend, gekennzeichnet durch die Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins, durch das Menschen sich Überzeugungen anschließen, obwohl diese ihren eigenen Interessen gegenüberstehen (Lukes 2005). Heinrich Popitz (1992: 24ff) benennt vier Grundformen von Macht: (1) Aktionsmacht, die aus der Verletzungskraft und Verletzungsoffenheit des menschlichen Wesens resultiert (Menschen können andere verletzen und können verletzt werden), (2) instrumentelle Macht, die durch ein »Geben- und-Nehmen-Können« und die »Verfügung über Belohnungen und Strafen« gekennzeichnet ist, (3) autoritative Macht, die auf der »Anerkennung der Überlegenheit anderer« sowie dem »Streben, von diesen Maßgebenden selbst anerkannt zu werden« basiert und (4) »datensetzende Macht«, die sich aus der Benutzung oder Produktion von Technologien und Artefakten ergibt. Diese Eingriffe in die (Um-)Welt sind als Machtphänomen zu verstehen, da sie die Rahmenbedingungen für einen selbst und andere verändern und bestimmte Handlungen so erschweren oder überhaupt erst ermöglichen. Nach Galbraith (1987) gibt es drei Formen der Machtausübung: (1) repressiv, durch Auferlegung oder Androhung unangenehmer Konsequenzen im Falle der Nichtfolgeleistung, (2) kompensatorisch, indem Anreize für Gehorsam geschaffen werden, und (3) durch Konditionierung, also durch »eine Änderung des Bewusstseins, der Überzeugung und des Glaubens« (ebd.: 18). Letztere wird mithilfe von z.B. Praktiken der Bildung, Ausbildung, Medien oder Propaganda hergestellt. Als sehr einf lussreich in den Kultur- und Sozialwissenschaften hat sich Foucaults produktiver Machtbegrif f erwiesen. In seinen Arbeiten zu Gouvernementalität denkt Foucault Machtausübung im Rahmen eines weiten Begriffs von Regierung und damit sehr allgemein als jedwede Beeinf lussung und (Vor-)Strukturierung gesellschaftlicher Praxis. In seiner »Analytik der Macht« (Foucault 2005) stellt er das Regieren als eine Verschränkung von Momenten der Ermöglichung und der Verunmöglichung von Optionen des Sichverhaltens dar (Lemke 2006: 478). Machtausübung (als Regierung) ergibt sich aus den Verschränkungen zwischen gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen, damit verknüpften Formen der Verhaltensbeeinf lussung, den Mechanismen des Geführtwerdens und der Selbstführung. So stellt Macht bei Foucault eine Steuerung, aber gleichzeitig immer auch eine Ermächtigung zum Tätigwerden dar. Foucault denkt Macht

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außerdem relational: Die Möglichkeiten der Machtausübung ergeben sich aus dynamischen Konfigurierungen sich aufeinander beziehender Individuen und Gruppen. Im Bestreben, unterschiedliche Konzepte von Macht zusammenzuführen, resümiert Han (2005: 112, Herv. i.O.) wiederum: »Notwendig ist […] ein Erklärungsmodell, das sowohl die ›Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke‹ als auch die ›Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation‹ als unterschiedliche Formen der Macht erscheinen ließe.« Allen diesen Versuchen, Macht zu denken, ist gemeinsam, dass sie unterscheiden zwischen einer direkten Ausübung von Macht via autoritativer Einf lussnahme oder qua Amt und einer eher indirekten oder auch verdeckten Form der Machtausübung über die Strukturierung von Wissen, Praktiken oder Infrastrukturen bzw. im Sinne der strukturierenden Effekte von Wahrheitsregimen. Dabei können je nach Sichtweise Phänomene wie Herrschaft, Gewalt, Zwang oder Konsens mal ein Charakteristikum oder Aspekt von Macht sein, mal außerhalb von ihr liegen oder ihr sogar diametral gegenübergestellt sein. Letztendlich hängt ein produktiver Umgang mit dem Konzept der Macht von der jeweiligen Fragestellung ab, was sich auch für praxistheoretische Herangehensweisen (siehe nächster Abschnitt) zeigen lässt.

Praxeologische Herangehensweisen an das Thema Macht Pierre Bourdieu, einer der wichtigsten Vertreter der Praxistheorien der sogenannten ersten Generation, entfaltet seine Überlegungen zum Thema Macht mithilfe seines Konzepts der symbolischen Macht (synonym auch als symbolische Gewalt/Herrschaft/Kraft bezeichnet). Konkret untersucht Bourdieu (2012) die fortdauernde gesellschaftliche Dominanz des Männlichen, leitet daraus aber eine allgemeine Theorie von »sanfter, häufig unsichtbarer Gewalt« (ebd.: 66) ab. Er macht seit der Kindheit an antrainierte und tief in die Körper eingelassene Denkund Verhaltensmuster für die Stabilität sozialer Strukturen und Ungleichheiten verantwortlich. Für ihn ist »das Prinzip der herrschenden Sicht nicht einfach eine geistige Vorstellung, ein Phantasiegebilde […], eine ›Ideologie‹ […], sondern ein System dauerhaft in die Dinge und in die Körper eingeprägter Strukturen« (ebd.: 76). Bourdieus Betonung des Körpers als der Ort, in den die Machtstrukturen eingeschrieben werden, zeigt eine gewisse Nähe zu den Arbeiten von Foucault. Bourdieu hält Strukturen der symbolischen Gewalt für so subtil (»sanfte Gewalt«), dass sie im Alltag kaum auffallen. Erst durch die sozialwissenschaftliche Analyse können diese wieder sichtbar gemacht und der Kritik zugeführt werden. In der Vorstellung, dass es eher die gelebten Verhältnisse als rationalen Überlegungen

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sind, die die Überzeugungen der Menschen prägen, weist Bourdieus Machtverständnis Parallelen zu marxistischen Machttheorien auf (z.B. Lukes 2005). Seine praxistheoretische Gesellschaftstheorie bedient sich aber vollkommen anderer Analysekategorien. Letztendlich versucht Bourdieu zu erklären, wie sich Machtstrukturen über lange Zeit und historische Brüche hinweg kontinuieren können, und bietet als Ansatzpunkt den im Habitus konditionierten Körper an, welcher in einem ebenfalls vorstrukturierten sozialen Feld eine entsprechende Passung herzustellen versucht. Auch Anthony Giddens, ein weiterer zentraler Vertreter der Praxistheorie, ist daran interessiert, langlebige gesellschaftliche Strukturen zu erklären. Er tut dies vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Grundannahmen, lehnt aber gleichzeitig die Vorstellung eines freien und ungebundenen Willens ab. Das zentrale Theorem seiner Strukturationstheorie ist die Dualität der Struktur, wonach diese sowohl Handeln reglementiert als auch Handeln ermöglicht. »Struktur darf nicht mit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch« (Giddens 1997: 78). Entsprechend kann nur handeln, im Sinne von Einf luss erlangen, wer von der Struktur dazu in die Lage versetzt wird, denn »›anders zu handeln‹, bedeutet, fähig zu sein, in die Welt einzugreifen bzw. einen solchen Eingriff zu unterlassen mit der Folge, einen spezifischen Prozeß oder Zustand zu beeinf lussen« (ebd.: 65). Dieser Einf luss muss also von der Struktur ermöglicht sein. Handeln zu können, hängt von der Verfügbarkeit von Ressourcen ab. Giddens unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Ressourcen. Allokative Ressourcen sind Objekte (z.B. Vermögen, Besitz, Geld), die eine handelnde Person im eigenen Interesse einsetzen kann. Autoritative Ressourcen entstehen durch gesellschaftliche Positionen, die es ermöglichen, über andere (z.B. qua Position als Präsident, Richter, Lehrer) zu bestimmen. Macht als solches ist, laut Giddens, aber keine Ressource: »Ressourcen sind Medien, durch die Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird« (ebd.: 67). Macht stellt vielmehr die Fähigkeit dar, Ressourcen einzusetzen. Sie ist strukturimmanent, da bestimmte Formen einf lussreichen (= machtvollen) Handelns in der Struktur institutionalisiert sind. Gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen werden von der Ressourcenverteilung, also der Befähigung zu handeln, bestimmt. Machtausübung, d.h. Ressourceneinsatz, reproduziert dann wiederum die Herrschaftsstrukturen. Anders als Bourdieu, Foucault oder marxistische Ansätze legt Giddens den Schwerpunkt weniger stark auf die in den Körper eingeschriebenen Strukturen oder auf diskursive Verhaltensbeeinf lussung. Dennoch geht die von ihm gedachte Struktur den Wahrnehmungsweisen der Individuen insofern voraus, als dass sie unbewusste Motive- und Interessenlagen produziert. Intentionen sind demnach nicht im individualistischen Sinne als rationale willentliche Entscheidun-

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gen anzusehen. Parallelen lassen sich zu einigen der Grundformen der Macht von Popitz oder zu den Möglichkeiten der Machtausübung nach Galbraith ziehen. Im Vergleich zu Foucault wird Macht bei Giddens weniger relational gedacht, sondern als ein Phänomen, das Individuen oder Gruppen kraft der verfügbaren Ressourcen unabhängig von anderen erst einmal hervorbringen können, auch wenn Mächtige und »Unterworfene« im Sinne einer Dialektik der Herrschaft (Giddens 1997: 67) immer aneinander gekoppelt sind. Neuere praxistheoretische Arbeiten wie die von Schatzki oder Reckwitz pf legen ein eher distanziertes Verhältnis zum Thema Macht. Ein Grund dafür, zumindest bei Schatzki, könnte die Annahme einer f lachen Ontologie (siehe Beitrag »The Site of the Spatial«, Marston/Jones/Woodward 2005) sein. Diese steht in einer theoretischen Spannung zur Formulierung vertikaler Abhängigkeitsverhältnisse und hierarchischer Strukturen. Schatzki (2016: 6) schreibt: »[…] practices and arrangements connect and form an overall nexus that has come, geohistorically, to cover much of the earth’s surface. This nexus is a plenum in the sense of a finite plentitude that has no dimensions above its elements.« Unter dieser Prämisse gehören auch Machtverhältnisse zu sozialen Phänomenen, die Schatzki als »Ausschnitte oder Aspekte eines riesigen, sich ständig transformierenden Netzes von Praktiken und Arrangements« beschreibt (Schatzki 2010: 130, zit.n. Lahr-Kurten 2018: 323). Praktikentheoretische Ansätze, die im Sinne dieser f lachen Ontologie das Soziale in einer Verkettung von ontologisch »auf der gleichen Ebene stehenden« Praktiken erkennen, weisen daher die Vorstellung zurück, dass bestimmte Praktiken oder Praktiken-Arrangements in besonderem Ausmaße andere Praktiken bestimmen würden (vgl. Schatzki 2015; Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001). Allerdings nennt Schatzki Politik als einen besonderen Praxisbereich, der für das kollektive und intentionale Management von Praktiken und deren Zusammenhänge zuständig ist (Schatzki 2002: 251). Trotzdem werden auch politische Praktiken nicht hierarchisch gedacht, da Zusammenhänge und Abhängigkeiten in der sozialen Welt nach Schatzki durch chains of actions sowie materielle Ereignisse und Prozesse hergestellt werden (Schatzki in diesem Buch, S. 77). Aus dieser Perspektive heraus können einzelne Akteure unabhängig von ihrer Position durch ihre Aktivitäten immer Einf luss auf das größere Ganze nehmen, da jede Aktivität Bestandteil einer oder mehrerer Ketten ist und diese damit reproduziert oder transformiert (Schatzki 2015). Eine gewisse Ähnlichkeit zu Popitzʼ Konzept der datensetzenden Macht lässt sich hierbei erkennen, da jede Aktivität die Bedingungen und den Kontext für nachfolgende Handlungen mitproduziert. Zudem hat eine gewisse Akzentverschiebung der praxeologischen Debatten ein Spannungsverhältnis zu machtanalytischen Fragen etabliert. Frühere Praxistheoretiker waren noch direkter von Theoremen beeinf lusst, die elementar die Dichotomie von Theorie und Praxis aufzulösen versuchten und einen »Anti-Intellektualismus« (Volbers 2015: 197) vertraten, der betonte, dass Denken niemals als

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wertneutral oder als objektiv verstanden werden sollte, weil »theoretisches Operieren – also das, was verallgemeinerbar ist als ›Denken‹ – selbst eine Wirkmacht der Praxis ist« (ebd.: 197). Aus diesem Gedanken heraus ergeben sich schließlich die gesellschaftspolitischen Positionierungen der früheren Praxistheoretiker*innen, und auch heute lassen sich zahlreiche Impulse für kritisches wissenschaftliches Arbeiten daraus ableiten (vgl. Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen«). In der aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Rezeption wird der »Anti-Intellektualismus« von Praxistheorien (Reckwitz 2003; vgl. Schäfer 2016) häufig darin gesehen, dass vor allem konkrete materielle und sich situiert vollziehende Tätigkeitsmuster zu untersuchen seien und dabei die Reproduktion wie auch der Wandel sozialer Ordnungen aus diesen Tätigkeiten heraus begriffen werden sollten. Neuere Ansätze der Praxistheorien fragen also nach den Machtphänomenen innerhalb der Praktiken und nicht nach Strukturen oder Phänomenen, die »hinter den Praktiken« liegen, seien es nun mentale Strukturen, Diskurse, Symbolsysteme oder Ideologien. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive lässt sich ebenfalls die aktuelle Zurückhaltung mancher Praxistheoretiker*innen gegenüber dem Thema Macht erklären. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass der britisch-finnische Strang (Shove/Pantzar/Watson 2012) in der praxistheoretischen Forschung durchaus daran interessiert ist, Machtphänomene konkreter zu fassen, wie wir in den nächsten zwei Abschnitten darstellen werden.

Dominante Projekte und Praktiken Einen möglichen Weg für eine aktuelle praxeologische Machttheorie skizzieren Shove, Pantzar und Watson (2012). Sie setzen an die Stelle der machtausübenden oder in Machtverhältnisse verstrickten Subjekte sogenannte dominant projects und das Verhältnis von Praktiken zueinander: »[…] lives revolve around a handful of ›dominant projects‹, these being inter-linked practices […]. Dominant projects are inf luential on several fronts at once. In concentrating priorities and energies they focus time and attention in some directions and not others.« (Shove/Pantzar/Watson 2012: 78f.) Das Konzept der dominant projects holen sich Shove, Pantzar und Watson von Pred (1981). Pred baut auf Hägerstrands Time-Geography (1970) auf und hat dabei wie Giddens das Ziel, die Dialektik von Individuen und Struktur zu erklären. Er konzeptualisiert das Soziale als das Produkt menschlicher Aktivitäten, die sich in individuellen sowie institutionellen Praktiken widerspiegeln. Er differenziert zwischen individuellen Pfaden (paths), mit denen er den individuellen Lebenswandel sowie die begrenzten raumzeitlichen Ressourcen beschreibt, sowie institutionellen Projekten (projects), die sich durch einen konkreten Aufgabenkatalog und eine Zielorientierung auszeichnen. Das Soziale wird dabei durch die raum-

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zeitliche Intersektion von individuellen paths und institutionellen projects konstituiert. In diesem Zuge führt Pred dominant projects ein, die sich dadurch definieren, dass sie die begrenzten Zeitressourcen der Subjekte in Anspruch nehmen, weil diese nicht umhinkommen, sich in sie einzubringen (z.B. Arbeiten). Diese raumzeitlichen Gebundenheiten (place and time constraints) in dominanten Projekten implizieren somit das Unterlassen anderer, weniger dominanter Praktiken. Abhängigkeits- und/oder Konf liktbeziehungen zu anderen Menschen können dadurch entstehen, dass nicht alle gleichermaßen die Möglichkeit haben, institutionelle dominante Projekte definieren und gegen andere Praktiken durchsetzen zu können. Dominante Projekte beeinf lussen nach Pred die »external-internal«- sowie die »life path-daily path«-Dialektik der Individuen. Shove, Pantzar und Watson (2012: 79) schreiben hierzu: »By these means, individuals’ lives are woven into the reproduction of dominant societal institutions.« Somit werden soziale Phänomene wie soziale Klassen und Macht oder auch soziale Gruppen wie »die Familie« durch die Reproduktion von dominanten Projekten (z.B. »eine Familie gründen«) konstituiert. Indem Pred Praktiken relational betrachtet und durch Dominanz vertikal gliedert, kann die Reproduktion von sozialen Phänomenen wie Ungleichheit oder Machtgefällen beschrieben werden. Während er kein spezielles Machtkonzept ausformuliert, definiert er Dominanz als constraining-force, also die Macht, andere von etwas abzuhalten. Dabei wird zudem die Dialektik zwischen Praktik und Struktur durch raumzeitliche spezielle Intersektionen von individuellen paths und institutionellen projects erklärt, die gesellschaftlichen Wandel durch das Einführen, Verändern oder Verdrängen institutioneller dominanter Projekte hervorrufen. Wichtig ist hierbei, dass Dominanz nicht nur »beherrschen« im Sinne von beeinf lussen oder steuern meint, sondern auch eine machtvolle Präsenz, sodass anderes gar nicht erst zur Entfaltung kommt. Folgt man nun konsequent den genannten Überlegungen, dann wird ersichtlich, dass eine praxeologische Machtanalyse nicht zwangsläufig nach dem Verhältnis von Personen, Gruppen oder Institutionen zueinander oder dem Vermögen, sich durchzusetzen, fragen muss, sondern auch nur nach dem materiellen und raumzeitlichen Verhältnis der Praktiken oder Praktikenbündel zueinander fragen kann. Die Frage würde dann lauten: Welche Praktiken dominieren (im weitesten Sinne) andere Praktiken? Die Antwort aus Perspektive der dominant projects wäre, dass diejenigen Praktiken(-bündel) dominieren, die es schaffen, die größten verfügbaren Ressourcen an Raum und Zeit einzunehmen oder diese gleich selbst hervorzubringen. Als Beispiel verweisen Shove, Pantzar und Watson (2012: 135) auf die Automobilität als ein aktuell dominierendes Projekt (gemeint sind die Verschiebungen der dominanten Praktiken in der Alltagsmobilität in den letzten 200 Jahren von Zufußgehen über das Fahrradfahren bis hin zum Autofahren und den jeweils damit verbundenen Ansprüchen an Zeit und Raum).

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Die Zeit- und Räumlichkeiten von Praktiken können auch noch weitreichender in den Blick genommen werden. Southerton (2012) hat bspw. die verschiedenen Zeitlichkeiten von Praktiken herausgearbeitet: Er unterscheidet zwischen (1) Zeit als Ressource, (2) den zeitlichen Ansprüchen von Praktiken sowie (3) den persönlichen und kollektiven Rhythmen. Praktiken brauchen bestimmte Zeiträume, die bei allen technologischen Veränderungen und Beschleunigungen nicht beliebig verkürzt werden können. Die Übernahme einer bestimmten Praktik kann dafür sorgen, dass andere Praktiken zur Seite gedrängt, verschoben oder ganz aufgegeben werden (z.B. digitales vs. analoges Fotografieren, siehe Shove/ Pantzar 2016). So gesehen, können Praktiken in einem »Wettbewerb« um die Ressource Zeit stehen. Analog zu Southerton haben Jackson et al. (2018) ein Konzept der Räumlichkeit von Praktiken formuliert. Praktiken brauchen Raum, und an jede Praktik sind bestimmte Raumansprüche gekoppelt, weshalb sich Praktiken auch gegenseitig verdrängen oder ausschließen können. Gleichzeitig produzieren Praktiken Raum und Zeit auf eine spezifische Art und Weise, sodass andere Praktiken überhaupt erst möglich werden (vgl. Shove/Pantzar/Watson 2012). Praktiken stehen also um raumzeitliche Ressourcen im Wettbewerb, stellen aber gleichzeitig z Konfigurationen dar, die Raum und Zeit produzieren. Dabei können sowohl Dominanzen im Verhältnis der Praktiken untereinander auftreten als auch auf der Ebene ganzer Konfigurationen. Wenn das Netz aus Rhythmen und Parallelitäten eng gewoben ist, dann kann dies zum Ausschluss anderer möglicher Konfigurationen führen.

Praktiken des Regierens und der Einflussnahme Weiterführend und sehr viel ausführlicher als noch bei Shove, Pantzar und Watson (2012) angedeutet, diskutiert Matt Watson (Watson 2017) in seinem Text »Placing power in practice theory« Möglichkeiten, aus einer praxistheoretischen Perspektive heraus Fragen nach Macht und Machtverhältnissen zu adressieren. Nach Watson lässt sich das Nachdenken über Macht in den Sozialtheorien grob in zwei Bereiche gliedern, die er als power as object und power as effect beschreibt. Dabei zeigt Watson, dass beide Artikulationsformen von Macht und Machtverhältnissen in den praxistheoretischen Ansätzen und Debatten verschiedentlich Anwendung fanden – und sich zudem auch überkreuzen können. Wenn Macht als Objekt behandelt wird, dann ist darunter generell eine Kapazität einer Person, Institution oder eines sozialen Akteurs zu verstehen (Watson 2017: 171f.). Dabei kann Macht einerseits als eine Ressource gesehen werden, die Individuen oder Gruppen besitzen, anhäufen oder über die sie verfügen können (vgl. Giddens 1984, s.o.). Doch das Modell von »Macht als Objekt« erschöpft sich nicht in einer solchen Perspektive. Vielmehr zeigt Watson, wie das Theorem »Macht als Objekt« in jenen Momenten

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Ausdruck findet, in denen Macht als »capacity to act with effect« (Watson 2017: 171) in die Analyse einf ließt. Für Watson ist es dieses Machtverständnis – Macht als Aktionsfähigkeit –, das sich in praxistheoretischen Ansätzen als recht dominant erwiesen hat. An dieser Stelle mag es verwundern, dass Watson eine solche Perspektive dem Theorem von »Macht als Objekt« zuschreibt. Dies wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass praxistheoretische Ansätze aufzeigen, wie jene Fähigkeiten des Agierens, die Individuen oder kollektive soziale Akteure haben, nur innerhalb gesellschaftlicher Praxis im Kontext relationaler Verkettungen von Praktiken hervorgebracht werden. Ein Individuum erhält eine bestimmte Aktionskapazität erst dadurch, dass es an bestimmten, gesellschaftlich eingebetteten und (vor-)geformten Praktiken teilhat und dadurch (immer auch situativ) in spezifische Relationen zu anderen Praktiken und Praktiker*innen gebracht wird. Macht als Aktionskapazität ergibt sich im Vollzug von Praktiken: »To engage in a practice is to exercise a power […]. Or rather, what is called the active exercise of a power may equally be called the enactment of a practice.« (Barnes 2001: 28) Praxistheorien analysieren die menschlichen Aktivitäten als Praktiken, wobei Akteur*innen, die Teil solcher Praktiken werden, immer auch machtvoll agieren. In diesem Sinne erscheinen die capacities to act selbst als Effekte der relativen Ordnung von Praxis, sodass Macht – hier als Kapazität gedacht – ebenso als ein Effekt adressiert werden könnte. Watson jedoch schreibt solche Konzeptualisierungen dennoch der »Macht als Objekt«-Perspektive zu, da ein Fokus auf Aktionskapazitäten selbige immer als Fähigkeiten bestimmter Akteure (Individuen oder Gruppen) artikuliert. So hätten Praxistheorien in etwa aufzeigen können, wie die sich vollziehende Reproduktion gesellschaftlicher Ordnungen mit ungleichen Verteilungen der Fähigkeiten von Individuen oder Gruppen einhergeht, zu agieren und etwas bewirken zu können. Macht wird dabei – vielfach eher implizit – von den verkörperten und positionierten Fähigkeiten her bestimmt. Demgegenüber, so Watson (2017), durchzieht die Sozialtheorien ein weiteres Modell der Macht, welches Macht konsequent von ihrem Effekt her bestimmen will und nicht von positionier- und verortbaren Kapazitäten. Diese Perspektive hat v.a. im Anschluss an die Machtanalysen Foucaults (s.o.) an Bedeutung gewonnen. Für Watson entspricht gerade ein solches Verständnis von Macht der praxeologischen Ontologie. Viele Praxistheorien würden ein solches Machtverständnis zumindest implizit aufweisen. In diesem Sinne stellt Watson fest, dass Arbeiten fehlen, die dezidiert versuchen, die Beeinf lussung der Tätigkeiten von Individuen als Effekt ganz bestimmter Praktiken – oder deren Verkettungen – zu beschreiben und damit praxeologisch aufzubereiten. Es fehle an Arbeiten, die (a) jene Praktiken identifizieren, die in ihrem Vollzug andere Praktiken und Aktivitäten beeinf lussen, und die (b) die Mechanismen einer solchen Beeinf lussung als Effekte von Praktiken nachverfolgen. An dieser Stelle wendet sich Watson den Arbeiten

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Foucaults zu Gouvernementalität und Regierung zu. Der weite Regierungsbegriff Foucaults, in welchem das Regieren allgemein als Vorstrukturierung und Beeinf lussung möglicher Aktivitäten von Individuen erscheint, sei eine Möglichkeit, um Macht praxistheoretisch weiter zu fassen als bisher (Watson 2017: 174f.). Watson (2017) kritisiert die in manchen praxeologischen Diskussionen zirkulierende Vorstellung, dass jede Form der Ausführung einer Praktik (die mit Kapazitäten des Agierens einhergeht) eine Ausübung von Macht ist (Barnes 2001: 28; vgl. Schatzki 2015), als eine zu unspezifische und zu allgemeine Rahmung von Macht(-ausübung). Er argumentiert, dass die Spezifika solcher Praktiken erfasst werden müssen, die in besonderem Maße die Aktivitäten anderer steuern: »[…] practice theory should be able to account for means of executing power which involve shaping or directing the action of ›others‹.« (Ebd.: 173) Für Watson müssten die Spezifika von »Praktiken des Regierens« – von Praktiken also, die mehr oder minder direkt auf die Führung anderer gerichtet sind – gerade deshalb untersucht werden, um dem spezifischen Wirken augenscheinlich »mächtiger« Akteure, wie bspw. staatlicher Agenturen oder multinationaler Konzerne, nachgehen zu können: »to account for the ways in which some practices and practitioners are able to deliberately affect the conduct of practices and practitioners else­where« (ebd.: 173). Es könne dabei aber nicht »nur« darum gehen, den »systematic inequities in capacities to act« (ebd.: 179) nachzuspüren, sondern es müsse gezeigt werden, wie es möglich wird »to act in ways which shape others’ capacities to act« (ebd.). Es geht also um folgende Fragen: • Welche spezifischen Praktiken sind es, die in ihrem Vollzug die Tätigkeiten anderer beeinf lussen? • Wie können solche Beeinf lussungsimpulse praxistheoretisch beschrieben werden, d.h. in welcher Kette von Aktivitäten (vgl. Schatzki in diesem Buch) können sie Ausdruck und Wirksamkeit erlangen? • Welche Praktiker*innen und kollektiven sozialen Akteure sind an solchen Praktiken beteiligt? Insgesamt entwirft Watson den Versuch, Foucaults Analysen des Regierens mit einer Perspektive auf Praktiken zu verbinden. Die bisherigen Arbeiten der governmentality studies haben, so Watson, tendenziell eher auf Rationalitäten, Technologien und Apparate des Regierens fokussiert und damit eine Makroperspektive auf die institutionalisierten Logiken der Machtausübung bevorzugt. Demgegenüber würde unklar bleiben, auf welchen Praktiken und Verkettungen von (auch alltäglichen) Praktiken die Technologien des Regierens und deren konkrete Effekte eigentlich beruhen (müssen). Watson möchte aufzeigen, inwiefern das Regieren – gedacht als Strukturierung und Beeinf lussung eines mehr oder minder offenen Feldes möglicher Aktivitäten – auf Praktiken basiert. Diese Praktiken,

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»while made of the same stuff as other practices, have distinctive characteristics not least resulting from the ways in which they are aligned over time« (Watson 2017: 180). Das Herausarbeiten der Spezifik von Regierungspraktiken würde die Praktikenanalyse mit Fragen nach Macht verbinden und gleichzeitig eine f lache Ontologie bewahren. »Appreciating the ability of some practices to orchestrate and align others makes it possible to account for the appearance of institutional hierarchy and scale, and for differential capacities to act, while retaining a f lat ontology.« (Ebd.: 177) Eine der interessantesten Fragen, die Watson in Anlehnung an Foucault, Latour und die governmentality studies formulieren kann, ist dann jene nach den spezifischen Praktiken, durch die sich bestimmte Institutionen, Organisationen oder Gruppen als »Stützpunkte« von Regierungstechnologien (Foucault 2004 [1978-79]: 176) und als »Zentren der Kalkulation« (Latour 1987; Rose/Miller 1992) profilieren und damit in ihrer gesellschaftlich machtvollen Position fortbestehen können. Gleichzeitig betont Watson die Aufgabe, die besondere Gestalt und Einbettung jener Praktiken herauszuarbeiten, über die die Aktivitäten von Individuen gesteuert werden, und aufzuzeigen, über welche Verkettungen von Aktivitäten die Beeinf lussung des Verhaltens anderer wirksam werden kann. Parallel zu Watsons Ausführungen entstanden in der Geographie ähnliche Überlegungen, wenn auch teilweise mit etwas anderer Schwerpunktsetzung. Der Diskussion um »große soziale Phänomene« (Schatzki 2016) folgend, stellt sich auch Everts (2016) die Frage, wie Formen der Regierung und Einf lussnahme auf Distanz praxeologisch konzeptualisiert werden können (vgl. die Debatte um governing at a distance, z.B. Rose/Miller 1992). Grundsätzlich wird Macht hier als eine ungleiche Relation zwischen Menschen und zwischen Orten verstanden, die durch Praktiken hergestellt und reproduziert wird. Dabei unterscheidet Everts drei Phasen der Herstellung dieser Relation. Am Beginn steht das »Engagement«. Dabei handelt es sich um Praktiken, deren Ziel es ist, anderes (seien es Praktiken, Menschen oder Orte) in den Blick zu nehmen, z.B. durch das Sammeln von Informationen. Als nächstes folgt die »Interferenz«, das Eingreifen in andere Praktiken und Orte, die im Fokus der jeweiligen Machtpraktiken sind. Damit können alle möglichen Aktivitäten verbunden sein, die andere Praktiken, Menschen oder Orte beeinf lussen, verändern oder neu ausrichten. Schließlich folgt letztens die Kontinuierung des durch die Interferenz erzeugten Wandels. Erst wenn es gelingt, die Einf lussnahme zu verstetigen, kann, so Everts, von einer gelungenen Machtausübung gesprochen werden. Als Beispiel führt er die Praktiken der Weltgesundheitsorganisation im Umgang mit ansteckenden Krankheiten an. Kurzfristige Einmischungen in das Alltagsgeschehen, z.B. durch die Ausweisung von Quarantänebereichen, führen lediglich zu einem vorrübergehenden Bruch mit den bisherigen Routinen. Erst durch die Etablierung dauerhafter Meldestrukturen, Hygienestandards und den ständigen Einsatz von an das Steuerungszen­

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trum rückgebundenen Expert*innen vor Ort kann eine nachhaltige Veränderung erzeugt werden. Einen Schritt weiter hinsichtlich der Positionen, von denen aus Macht ausgeübt werden kann, gehen Dünckmann und Fladvad (2016). Zunächst unterscheiden sie, in der Argumentation symmetrisch zu Giddens’ Stukturationstheorie, zwischen einer konstituierten und konstituierenden Macht im Hinblick auf Regeln. Gemeint ist damit, dass das Handeln durch eine Vielzahl von Regeln angeleitet wird, diese Regeln aber gleichzeitig durch das Handeln reproduziert, hinterfragt, gebrochen oder neu aufgestellt werden. Letzteres sind für Dünckmann und Fladvad die eigentlichen politischen Praktiken, da sie, Hannah Arendt folgend, echtes Handeln darstellen und keine Reproduktion des Status quo sind. In Abkehr von Arendt betonen die Autoren, dass das Brechen und Neuaufstellen von Regeln nicht nur auf der großen Bühne der Staats- oder Weltpolitik stattfindet. Am Beispiel von Souveränität zeigen sie, dass es zahlreiche Mikropolitiken gibt, in der völlig unterschiedliche Akteure und Akteursgruppen (z.B. Individuen, Haushalte, Regionen, soziale Gruppen) ihre Souveränität durchsetzen oder es zumindest versuchen. Mit Souveränität ist hier das Vermögen gemeint, die gesetzten Regeln außer Kraft zu setzen (z.B. durch die Ausrufung eines Ausnahmezustands). Anhand der Auseinandersetzungen um Ernährungssouveränität stellen Dünckmann und Fladvad dar, wie mithilfe einer Vielzahl von Praktiken versucht wird, Ernährung und Lebensmittelproduktion als eine Ausnahme von anderen marktlogisch organisierten Wirtschaftssektoren zu konstituieren. Dünckmann und Fladvad verschieben so die abstrakte Diskussion um Macht hin zu einer detailreichen Analyse von alltäglich-politischen Praktiken, die im Ganzen oder in Teilen darauf ausgerichtet sind, die bestehenden Regeln der Praktiken zu brechen, neu zu ordnen oder ganz neu aufzustellen. Ein weiterer – nicht explizit praxistheoretischer – geographischer Beitrag kommt von John Allen (2016). Viele seiner ontologischen Grundprämissen sind kompatibel mit praxistheoretischen Ansätzen und entsprechend in der Lage, diese zu ergänzen. Im Hinblick auf Macht ist Allens Beitrag aus praxeologisch-geographischer Perspektive interessant, weil er Machtpraktiken topologisch fasst und als ein Heranholen oder Auf-Distanz-Halten von Menschen, Praktiken oder Materialitäten konzeptualisiert. So kann z.B. der Reiseweg von bestimmten Personen in den Fokus der Machtzentralen geraten, wobei durch verschiedenste Praktiken (spontane Kontrollen, Straßensperren, Gebührensystem, Einschränkung von Reiserechten etc.) das Agieren eben jener Zentralen spürbar werden kann. Allen argumentiert, dass, als Effekt bestimmter Praktiken, Personen und Orte auf eine »Armlänge« herangeholt werden und so die Anwesenheit von Machtrelationen fühlbar gemacht wird (im Englischen: to make a presence felt). Auch wenn Allen vorrangig versucht, einen relationalen Ansatz für die Untersuchung von Machtverhältnissen zu etablieren, so ist seine Rhetorik von einem Sprechen über Zentren

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und Orte geprägt, in deren Reichweite Elemente (Individuen, Gruppen, Dinge) gebracht werden (in reach) oder durch die Elemente auf Distanz gehalten werden (out of reach). Daraus ergibt sich empirisch, dass materielle Arrangements (im Sinne von Konzentrationen) genauso der Ausgangspunkt für machtanalytische Untersuchungen sein können wie die tatsächlichen Machtpraktiken, auf die Allen jedoch explizit als Ansatzpunkt verweist. Sehr ähnlich wie Watson (2017) konstatiert auch Allen mit Bezug auf soziale Gruppen, Institutionen und Verwaltungen (authorities): »how they practise power matters more than any inscribed capabilities.« (Allen 2016: 39) Über die soeben vorgestellten Ansätze hinaus fokussierten in der Geographie in den letzten Jahren noch einige weitere Arbeiten auf Praktiken des Regierens und nahmen dabei praxistheoretisch informiert auch Mikrokontexte situierter Interaktionen und alltäglicher Tätigkeiten in den Blick (teilweise auch in Rekurs auf die Arbeiten von Schatzki). An dieser Stelle sei bspw. auf die Arbeiten von Winkler (2017), Bohle (2018) und Linnemann (2018) verwiesen, die eine Foucault’sche Machtanalytik verschiedentlich mit Perspektiven auf Praktiken und Materialitäten vermengen.

Gewalt, Herrschaft und Verantwortung Den zuvor ref lektierten Ansätzen ist gemeinsam, dass Individuen lediglich als Funktionsträger*innen von Praktiken erscheinen. Wenn Menschen aber nur Ausführende von Praktiken sind, ohne dass sie selbst Einf luss auf die von ihnen ausgeführten Praktiken haben, wenn ihnen, wie das viele Praxistheorien und poststrukturalistische Ansätze in der Regel tun, eine ref lektierte, autonome Intentionalität abgesprochen wird, dann kann einzelnen Personen oder von Individuen geführten Institutionen streng genommen auch keine Verantwortung für ihr Tun zugesprochen werden (Geiselhart/Häberer 2019). Am eindrücklichsten lässt sich diese Frage in Zusammenhang mit der Mittäterschaft in Unrechtsregimen diskutieren, die ihre Herrschaft zum großen Teil auf Gewalt auf bauen. Diesbezüglich lassen sich zwei konträre Positionen zum Verhältnis von Macht und Gewalt identifizieren. Wolfgang Sofsky analysiert, wie sich in Konzentrationslagern des NS-Regimes eine spezifische Art der Macht entwickelte, »jene absolute Macht, die alle historischen Erfahrungen von despotischer Willkür oder diktatorischer Gewalt sprengt: die systematische Tötung durch Gewalt, Elend, Hunger und Arbeit, die geschäftsmäßig betriebene Vernichtung des Menschen« (Sofsky 1990: 51). Absolute Macht enthebt sich vom Zwang gesellschaftlicher Legitimierung durch ihre Begründung in Terror. »Terror braucht sich nicht zu rechtfertigen. Seine Basis ist die Angst, die er fortwährend selbst erzeugt.« (Ebd.: 526f.)

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Hannah Arendt (1970) vertritt im Gegenzug die Auffassung, dass Gewalt nur dort ausgeübt werde, wo ein Machtdefizit herrscht. Gewalt entwickelt eine selbstbezügliche Eigendynamik. Der dem gewalttätigen Handeln innewohnende Zufalls- und Willkürcharakter ließe den ursprünglich intendierten Nutzen einer gewaltvollen Handlung schnell aus dem Blick geraten. Gewalt sei in dem Sinne instrumentell, als dass sie Mittel zur Umsetzung (Waffen, Kampftechniken etc.) bedürfe, während Macht hingegen sich auf eine Unterstützer*innenbasis beziehe, ohne die kein politisches System regieren könnte. »Ohne das Vertrauen der Massen hätte weder Hitler noch Stalin Führer bleiben können« (Arendt 2009 [1955]: 774). Gewalt stelle sich demnach eher als ein Ausdruck von Ohnmacht dar. Politisch ausschlaggebend aber sei, »daß Machtverlust sehr viel eher als Ohnmacht zur Gewalt verführt, als könne diese die verlorene Macht ersetzen« (ebd.: 55). In solchen Fällen seien dann in der Regel die Verluste für die Machthaber sehr hoch, denn sie bezahlen mit einem Verlust der Zustimmung an ihrer Basis. So seien Macht und Gewalt Gegensätze, denn »wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden« (ebd.: 57). Dabei sind sie ungleiche Gegner, denn Macht kann Gewalt erzeugen, hingegen »Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen« (ebd.: 57). Nur wenige Autor*innen folgen Arendts vollständiger Trennung von Macht und Gewalt. Gewalt oder Gewaltandrohung ist ein mögliches Mittel bei der Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen. Auf diese Weise können sich auch offensichtliche Unrechtsregime die Mitwirkung vieler Menschen sichern. Elias Canetti (2015/2016 [1960]) beschreibt in »Masse und Macht«, wie das zum Teil auf massenpsychologische Phänomene zurückgeführt werden kann. Es gibt aber auch konkrete Einzelpersonen, die die Gewalt im Sinne von Erniedrigungen, Folter und Tötungen anordnen oder ausführen. Dies muss nicht zwangsläufig auf die individuelle Bösartigkeit der Individuen zurückzuführen sein. Von Arendt (2006 [1963]) wurde in diesem Zusammenhang die These von der Banalität des Bösen eingeführt, die sie aus Beobachtungen des Gerichtsprozesses gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann entwickelt (kritisch dazu siehe Mommsen 2007). Arendt beschreibt Eichmann als psychisch normalen Karrieristen, der dem NS-Regime gesetzestreu ergeben war und Befehle befolgte. Er sei kein Monster oder in besonderem Maße böse gewesen, vielmehr war er, und das sei die Banalität, nicht fähig gewesen, eigenständig zu denken. Er versteckte sich hinter klischeehaften Phrasen und der Amtssprache. Die vielfach erhobene Kritik, Arendt sei damit der Verteidigungsstrategie Eichmanns aufgesessen, schmälert aber nur bedingt den Erkenntnisgehalt ihrer These, denn ihre »Darlegungen über die psychologische Wirkung der von totalitären Systemen betriebenen terroristischen Manipulation, der moralischen Abstumpfung und der Rolle von Pseudorechtfertigungen des Verbrechens bieten einen unentbehrlichen Schlüssel, um den Tatbestand zu begreifen, daß viele Deutsche, darunter Inhaber von hohen Positionen inner-

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halb des NS-Regimes, subjektiv glaubwürdig bezeugten, von der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums nichts gewußt zu haben« (Mommsen 2007: 15). Ähnliches wie Arendt beobachtet Philip Zimbardo (2007) als psychologischer Sachverständiger in einem Gerichtsverfahren gegen Sergeant Ivan »Chip« Frederick, der der Ausübung von Folterungen im Militärgefängnis Abu Ghraib angeklagt war. Zimbardo hatte zuvor schon Gewaltphänomene unter Bedingungen von Gefangenschaft im umstrittenen Stanford Prison Experiment beobachtet. Dabei waren Menschen zufällig in Wärter und Gefangene eingeteilt worden. Das Experiment musste nach wenigen Tagen vorzeitig abgebrochen werden, weil die Gewalt zwischen Wärtern und Gefangenen eskalierte. Auf Grundlage dieser Erfahrungen stellt Zimbardo (2007) in seinem Buch »The Lucifer Effect« die Frage, »how good people turn evil«. Er kommt zu dem Schluss, dass »a full understanding of the dynamics of human behavior requires that we recognize the extent and limits of personal power, situational power, and systemic power« (Zimbardo 2007: x). Möchte man unerwünschtes Verhalten von Einzelpersonen oder Gruppen ändern oder verhindern, dann erfordert das Zimbardo zufolge dreierlei Per­ spektiven. Erstens, die Macht einer Person ergibt sich aus den persönlichen Stärken, Tugenden und Schwachstellen, die sie in eine bestimmte Situation hineinbringt. Darüber hinaus muss zweitens der Komplex der Macht der Situation untersucht werden. In gegebenen Verhaltenssituationen sind situative Kräfte wirksam, welche verändert oder vermieden werden können. Dies kann einen größeren Einf luss auf die Reduzierung unerwünschten individuellen Verhaltens haben als Maßnahmen, die an die persönliche Verantwortung der Menschen appellieren. Drittens verbirgt sich die Macht des Systems in der Regel hinter einem Vorhang der Verschleierung. Werden systemimmanente Vorschriften und Regulierungen nicht vollständig verstanden, dann erweisen sich auch angestrebte Verhaltensänderungen sowie Veränderungen der Situation als illusorisch. Zimbardo bedauert es, dass das Gericht im Fall Ivan Fredericks keinerlei strafmildernde Gründe gelten ließ und die Verantwortung höherer Stellen nicht anerkannte. »I bring charges against a quartet of senior military officers and then extend the argument for command complicity to the civilian command structure within the Bush administration.« (Ebd.: xiii) Ein Beispiel dafür, wie Systeme im Falle ihres Versagens die Verantwortung gerne ganz auf das Individuum abwälzen. Zweifelsohne sei Frederick als Mitläufer der Banalität des Bösen unterlegen. Zimbardo wird aber nicht müde zu betonen, dass der Versuch, die situativen und systemischen Beiträge zum Verhalten einer Person zu verstehen, die Person nicht von ihrer Verantwortung für unmoralische, illegale oder böse Taten entbindet, und es gäbe auch immer Menschen, die sich widersetzten. Die Kultivierung moralischen Tuns geschehe ebenso alltäglich und unbeachtet wie das langsame Abgleiten einzelner Individuen in die Ausübung von Gewalt. Wie die einen über

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eine Serie kleiner Ereignisse unmoralischen Handelns langsam den Kontakt zu ihren eigenen Moralvorstellungen verlieren und sich in ein Gemenge von Unehrlichkeiten und Selbsttäuschungen verstricken, so geschehe es auch ganz alltäglich, unbeachtet im Kleinen, dass Menschen ihre moralische Integrität stärken. Auf diese Weise entwickeln sie ihre Fähigkeiten, moralisch heikle Situationen zu erkennen und sich nicht von situativen Kräften hinreißen zu lassen. Zimbardo setzt der Banalität des Bösen eine banalitiy of heroism entgegen und spricht dabei auf Menschen an, die im Falle des Eintretens einer inhumanen Situation fähig sind, angemessen zu reagieren. Er beteuert, dass in allen von ihm betrachteten Fällen »there were always a few, a minority, who stood firm« (Zimbardo 2007: 446). Geiselhart und Häberer (2019) beschreiben einen pragmatistischen Subjektbegriff, mit dem derartige Prozesse beschreibbar werden. In sozialen Begegnungen findet demnach eine gegenseitige situative Hervorbringung von Subjektpositionen und Subjektivitäten statt. Auf diese Subjektwerdungen haben Individuen kaum direkten Einf luss, denn sie vollziehen sich entsprechend ihrer vorgängig ausgebildeten Dispositionen. Mit Geist ausgestattet, zu analysierendem Denken befähigt, können Individuen aber über ihre Subjektwerdungen ref lektieren. Geiselhart und Häberer identifizieren persönliche Verantwortung darin, die eigene Persönlichkeit zu ref lektieren und auch Einf luss auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu nehmen. Die Persönlichkeit eines Menschen bestimmt nicht nur, ob jemand mehr oder weniger geneigt ist, situativen Kräften zu unterliegen, sondern auch, in welchem Maße diese Person nach Macht strebt und welche Voraussetzungen sie hat, Macht auszuüben. Für Max Weber (1980 [1922]: 140ff.) erzeugt eine charismatische Persönlichkeit ganz natürlich Autorität und sieht entsprechend Charisma als Machtressource an. John K. Galbraith (1987: 61) hingegen hält den Einf luss der Persönlichkeit zur Erlangung von Macht für tendenziell überschätzt, denn in der Regel würden für Personen in machtvollen Positionen he­ rausragende Persönlichkeiten synthetisiert, um deren Macht zu rechtfertigen und zu stärken. Auch sei das, was als Führerqualität wirke, in Wirklichkeit häufig nur ein »der Masse nach dem Munde reden«. Persönlichkeit kann also zu Macht befähigen, allgemeiner aber bestimmt sie, so Geiselhart und Häberer (2019), wie eine Person ihre Stellung oder gesellschaftliche Position wahrnimmt und ausgestaltet. In diesem Zusammenhang bilden sich auch Mitläuferschaft und/oder Widerständigkeit aus. Praxeologisch gesehen, bedeutet Verantwortung die Aufforderung, sich in seinem eigenen gesellschaftlichen Kontext zu erkennen, denn dieser wird dem Individuum ja, einem praxeologischen Grundtheorem zufolge, in der Regel nicht ohne weiteres bewusst, solange er z.B. nicht problematisch wird. Geiselhart und Häberer erklären, wie sich in der sozialen Praxis Beziehungen entwickeln, die durch ihre Pfadabhängigkeiten gewisse Haltungen etablieren, und welche dann bei zukünftigem Vorhaben nicht einfach außer Acht gelassen werden können. In diesem Sinne kultiviert

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sich das gesellschaftliche Leben orts- und kontextspezifisch und manifestiert sich in spezifischen Praktiken-Arrangement-Bündeln.

Fazit In der Zusammenschau wird deutlich, dass Praxistheorien in Vergangenheit und Gegenwart eigene wertvolle Beiträge zur Frage der Macht leisten. Allerdings bestehen konzeptionelle Ideen bisher eher vereinzelt und warten noch darauf, in einen weiterführenden Dialog gebracht zu werden. Der Facettenreichtum des Machtbegriffs in der Praxeologie steht dabei der eingangs beschriebenen Begriffsvielfalt aber in keinster Weise nach. Verglichen mit anderen Systematisierungen, die bspw. Dimensionen der Macht (Lukes), Grundformen der Macht (Popitz) oder Formen der Machtausübung (Galbraith) differenzieren, leisten Praxistheorien einen eigenen Beitrag. Mit Watson (2017) hat eine systematische Auseinandersetzung mit den Foucault’schen Gouvernementalitätsstudien begonnen. Ein weiterer Ansatz ist, Macht als dominante Projekte zu denken (Shove/Pantzar/ Watson 2012). Schließlich wird von Geiselhart und Häberer (2019) die zentrale Frage nach der Verantwortung aufgeworfen. Vor dem Hintergrund der auch in den Praxistheorien betriebenen Dezentrierung der Subjekte ist diese oftmals kaum noch zu beantworten. Um aber gleichzeitig dem vorsichtigen Humanismus der Praxistheorien gerecht zu werden, muss es auch möglich sein, machtvolle Subjekte und personengebundene Verantwortlichkeiten praxeologisch denken zu können. Allgemein haben Machtphänomene einen festen Platz im praxeologischen Forschungsprogramm. Gleichzeitig ist die Theoriebildung hier noch nicht abgeschlossen und es bleibt interessant zu sehen, wie zukünftige praxeologische Studien unterschiedliche Machtphänomene explizit und systematisch erschließen werden.

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Intersektionalität und die Macht der Kategorie Kim Anna Juraschek und Klaus Geiselhart »We believe that sexual politics under patriarchy is as pervasive in Black women’s lives as are the politics of class and race. We also often find it difficult to separate race from class from sex oppression because in our lives they are most often experienced simultaneously.« Combahee River Collective 1981 [1977]: 213

Einleitung: Distinktionsversuche einer jungen Frau mit Migrationshintergrund und eines älteren, weißen Mannes Das 1977 erstmals veröffentlichte Manifest »A Black Feminist Statement« der Aktivist*innengruppe Combahee River Collective stellt dar, wie die Verschränkung mehrfacher Benachteiligungen – auf Grundlage rassistischer, sexistischer und kapitalistischer Machtverhältnisse – für schwarze Frauen zu besonderen Belastungen führt. Die schwarzen Frauen fühlten sich in ihren besonderen Anliegen weder von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung noch von der Frauenbewegung angemessen vertreten. Erstere sei weitgehend männlich dominiert gewesen, und weiße Frauenrechtler*innen seien sich kaum des Rassismus in den eigenen Reihen und ihrer Privilegien bewusst. Weil ihnen die Erfahrungen fehlten, denen schwarze Frauen tagtäglich ausgesetzt sind, könnten sie schwarze Lebenswelten schlichtweg nicht verstehen. So argumentierten die Aktivist*innen für die Notwendigkeit eines schwarzen Feminismus. Das Manifest spiegelt Kontroversen wider, die bis heute fortwährend in Verbindung mit identitätspolitischem Aktivismus geführt werden. In ihrem Kampf um Anerkennung ihrer besonderen Position als schwarze Frauen wurde den Aktivist*innen vorgeworfen, die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu schwächen und zu spalten. Diese Kritik wurde vor allem vonseiten schwarzer Männer geäußert, die die begründete Sorge hatten, einige ihrer Privilegien zu verlieren: »They realize that they might not only lose valuable and hard-working allies in their struggles but that they might also be forced to change their habitually sexist ways of inter-

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acting with and oppressing Black women.« (Combahee River Collective 1981 [1977]: 216) Ebenso ernteten die Aktivist*innen den Vorwurf, den Feminismus insgesamt zu schwächen. Heute, einige Jahrzehnte später, versammeln sich unter dem Label »Intersek­ tionalität« starke Aktivist*innen, die sich über die Grenzen der klassischen Identitätskategorien von race/class/gender hinaus für die Rechte und die Sichtbarkeit mehrfach marginalisierter Gruppen einsetzen. Trotz vielfältiger Kritik am Bild der intersection, also der Straßenkreuzung, an der sich verschiedene Benachteiligungen treffen, bündeln und/oder überschneiden, fungiert Intersektionalität heute als eine eingängige begriff liche Klammer für identitätspolitische Forderungen nach Anerkennung und Gleichberechtigung. Den politischen Aktivismus begleitend, intensivieren sich die Bemühungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, die von den Aktivist*innen beschriebenen Prozesse der Benachteiligung auch theoretisch zu fassen und für ihr jeweiliges Arbeitsgebiet, z.B. Gender Studies, Medienwissenschaften oder Erziehungswissenschaften, fruchtbar zu machen. Hierbei wurde bspw. verhandelt, in welcher Weise die Kategorien der Benachteiligung zusammenspielen, ob sich ihre Effekte addieren oder anderweitig verschränken. Heute wird in der Regel davon ausgegangen, dass die »Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können« (Winker/Degele 2009: 10). Eine häufig diskutierte Frage ist zudem, welche Kategorien imstande sind, Ungleichheit zu erzeugen. Die klassische Trias race/class/gender wird zunehmend um weitere Differenzkategorien ergänzt, wie u.a. um Religion und Behinderung. Darüber hi­naus gibt es zahlreiche Vorschläge, weitere Aspekte, die die Grundlage alltäglicher sozialer Differenzierungspraktiken darstellen, in die Betrachtungen einzubeziehen. Außerdem werden häufig Fragen insbesondere der empirischen Erforschung von Ungleichheitskategorien und der Herstellung von Ungleichheiten diskutiert. Dabei kommen vermehrt auch praxeologische Perspektiven zur Erklärung und Analyse zum Einsatz (Winker/Degele 2009). Sowohl die Debatte um das Konzept des doing gender (West/Zimmerman 1987), das die alltägliche Herstellung von Geschlechtlichkeit beschreibt, als auch das dazu komplementäre Konzept des undoing gender (Hirschauer 2001) basieren auf unterschiedlichen Einschätzungen darüber, ob in konkreten Situationen Geschlechterunterschiede auch zwangsläufig immer stereotyp reproduziert werden. So populär Intersektionalität auch ist, die Bewertungen könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Für die Gender Studies ist unbestritten, dass eindimensionale Erklärungen für Ungleichheiten heute nicht mehr zeitgemäß sind. »So ist das Konzept der Intersektionalität auf dem besten Weg, zu einem neuen Paradigma in den Gender und Queer Studies zu avancieren.« (Winker/Degele 2009: 10) Allerdings wird der Hinweis auf die Gefahr, dass linke Bewegungen zersplittern, immer wieder aktualisiert. Diesen Vorwurf erheben linke Intellektuelle wie Sla-

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voj Žižek (DfK 2018) oder Volker Weiß (2017). Die Linke, so der Vorwurf, würde sich in identitätspolitischen Grabenkämpfen verlieren und die großen Fragen vergessen, deren Thematisierung sie dadurch den politisch Rechten überließe. Noch entschiedenere Worte findet Thomas Edlinger (2015), wenn er von intersektional aufgerüsteter Hyperkritik spricht. Heute sei es weit verbreitet, sich selbst als benachteiligt und als von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt anzusehen. Diese Empfindung von Kränkung werde häufig zum Anlass genommen, sich ins Recht zu setzen und sich über andere zu erheben. Diese Hyperkritik dringe heute wie selbstverständlich in alle Bereiche des alltäglichen Lebens ein, wo sie sich in empörten Beschuldigungsrhetoriken ausdrücke und einen performativen intellektuellen Dauerstress bewirke. Lässt sich diese Kritik aber als Besitzstandswahrung reaktionärer alter, weißer Männer abtun? In der taz-Kolumne »Dumme weiße Männer« (Sander 2016) wird den zwei Autoren (Martenstein 2013; Weber 2016), die den Gender Studies vorwerfen, tatsächlich feststellbare biologische Effekte der Genderkonstruktion zu vernachlässigen, zynisch jegliche Kompetenz abgesprochen. Der Vorwurf, hier wolle sich jemand seine Privilegien sichern, wird unausgesprochen, aber unmissverständlich erhoben. Tatsächlich würde sich dieser Verdacht aufdrängen, gäbe es nicht auch Kritik vonseiten einiger linker Minderheitenvertreter*innen an einer zu eng geführten Gender- und Intersektionalitätsforschung u.a. aus dem Umfeld von Kanak Attak (Arslanoğlu 2010, Perinelli 2015). Auch Queerleute wehren sich gegen neuere queer­aktivistische und -theoretische Tendenzen, die den Begriff »queer« zum identitätspolitischen Kampf begriff machen und ihm dadurch den Aufforderungscharakter zur Akzeptanz für das Anderssein nehmen. Im Sammelband »Beißref lexe« zeigen sie an vielen konkreten Beispielen, wie sich Kritik »in autoritärem Gehabe, Sprechverboten oder Vorgaben erschöpft, wie man sich zu kleiden oder zu lieben habe« (laLove 2017: 37). Dagegen verwehrt sich wiederum die in dem zitierten Band viel kritisierte Aktivistin Hengameh Yaghoobifarah. Sie wirft den Autoren vor, ihr das Recht abzusprechen, sich angemessen gegen ihr entgegengebrachte Gewalt zu wehren, man behaupte einfach, »das sei keine Gewalt. Man soll also die Klappe halten, denn es könnte ja noch schlimmer sein. Wann es dann schlimm genug ist, bleibt die Frage.« (Hengameh Yaghoobifarah in: Noll 2017) Das Thema Intersektionalität eröffnet ein weites, hoch streitbares Feld unterschiedlicher Positionen, dem wir uns annähern möchten, indem wir einleitend die Entstehung des Intersektionalitätstheorems und die heutige Theorielandschaft darstellen. Dabei werden wir einen besonderen Fokus auf praxeologische Ansätze legen. Anschließend wenden wir uns den interpersonalen Dynamiken aktueller Identitätspolitiken mittels einer dialektischen Herangehensweise zu. Wir erheben den Perspektivwechsel, dessen Chancen und Möglichkeiten wir diskutieren werden, zum Prinzip, um so den verschiedensten Argumenten und Befindlichkeiten Anerkennung entgegenbringen zu können. In diesem Sinne und frei nach

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Gil Deleuze und Félix Guattari haben wir diesen Beitrag »zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge. Wir haben alles verwendet, was uns begegnet ist. […] Nicht, um dabei an einen Punkt zu kommen, an dem man nicht mehr Ich sagt, sondern dahin, wo es belanglos wird, ob man Ich sagt oder nicht. Wir sind nicht mehr wir selbst. Jeder wird das Seine erkennen.« (Deleuze/Guattari 1997: 12) Entsprechend werden wir im Folgenden viele Stimmen zu Wort kommen lassen, um so das Gefüge der Intersektionalität zu kartieren. Ich-sagend werden wir dann argumentativ einige Unterscheidungen einziehen und die Frage der situativen Angemessenheit von Kritik diskutieren.

Intersektionalität im Überblick Herkunft und Entwicklung der Intersektionalität Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert die Abolitionistin und Frauenrechtlerin Sojourner Truth die besondere Verf lechtung rassistischer und sexistischer Diskriminierungsformen, mit der sich aus der Sklaverei befreite schwarze Frauen konfrontiert sahen (hooks 1981; Smiet 2015: 10). Truth wies auf die Heterogenität von (Unterdrückungs-)Erfahrungen hin und dekonstruierte das vorherrschende Bild der schwachen, physisch den Männern unterlegenen Frau: »Look at me. Look at my arm! I have plowed and planted and gathered into barns, and no man could head me. And ain’t I a woman?« (hooks 1981: 159f.) Diese Kritik an einer homogenisierenden Konstruktion von Weiblichkeit wurde im 20. Jahrhundert schließlich u.a. vom Combahee River Collective (1981 [1977]) und bell hooks1 (1981) wieder aufgenommen und neu verhandelt. Das seit 1974 politisch aktive, schwarze und feministische Combahee River Collective entwickelte erste theoretische Ansätze, in denen Inhalte aus Frauenbewegung und Bürgerrechtsbewegung zusammengebracht wurden (Lutz 2001: 217). Als Literaturwissenschaftlerin greift bell hooks in »Ain’t I a Woman« nicht nur Truths berühmtes Zitat auf, sondern legt erneut verschärft den Fokus auf die Verwobenheit rassistischer und sexistischer Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen, innerhalb derer sexistische Aspekte in der Regel in den Hintergrund rücken. »Racist, sexist socialization had conditioned us, to devalue our femaleness and to regard race as the only relevant label of identification.« (hooks 1981: 1) Parallel dazu wurde Kritik an weißen Feminist*innen geäußert, sie würden geschlechtsspezifische Diskriminierungserfahrungen ohne Beachtung der eigenen Klassenzugehörigkeit und Hautfarbe 1 Die feministische und antirassistische Literaturwissenschaftlerin Gloria Watkins wählte den indigenen Namen ihrer Großmutter Bell Hooks zu ihrem Pseudonym, das sie in Kleinschreibung publiziert.

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zur Norm erklären. So würden weiße Feminist*innen, bspw. mit dem Konzept der global sisterhood, den politisch wirksamen Diskurs einseitig dominieren und die rassistisch-sexistische Diskriminierung u.a. schwarzer Frauen fortschreiben (Combahee River Collective 1981 [1977]: 218; hooks 1981: 8f. u. 161; King 1988: 57; Brah/Phoenix 2004: 76). Zunehmend wurde nun auch versucht, die Verf lechtungen der Analysedimensionen der klassischen Differenzkategorien Rasse/Ethnizität, Geschlecht und Klasse wissenschaftlich sinnvoll zu konzeptualisieren. Wichtige Arbeiten sind z.B. Deborah K. Kings (1988) Konzept der multiple jeopardies (Mehrfachgefährdungen) oder Patricia Hill Collins (1990) interlocking systems of oppression und matrix of domination. Während King insbesondere multiple Formen der Unterdrückung im Leben schwarzer Frauen in ihrer Verwobenheit betrachtet,2 betont Collins die Notwendigkeit, sich gegenüber sämtlichen Formen der Diskriminierung zu öffnen. Collins verwirft die additive Quantifizierung und Kategorisierung von Unterdrückungsmerkmalen sowie die daraus resultierenden Dichotomien zwischen Schwarz – Weiß, benachteiligt – privilegiert. Diese würden die Gefahr bergen, in Rangfolgen zu münden, wer nun mehr und wer weniger benachteiligt ist. Wir werden noch darauf eingehen, dass dies tatsächlich heute vielfach passiert. Ebenfalls zu dieser Zeit entwarf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) in »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics« ihren Intersektionalitätsansatz. Sie gründete ihn auf der Metapher der Straßenkreuzung (engl. intersection). Ihr Konzept wurde bald prominent in den schwarzen und lesbischen Frauenrechtsbewegungen der USA verhandelt (Davis 2008: 20; Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010: 13). Ihr Theoriegerüst basiert auf der Beobachtung, dass innerhalb US-amerikanischer Rechtsprechung race und gender als sich gegenseitig ausschließende Erfahrungs- und Analysekategorien behandelt werden (Crenshaw 1989: 139). Die Metapher der Straßenkreuzung soll die Verwobenheit von Ungleichheitsstrukturen – am prominentesten der Kategorien race, class, gender – versinnbildlichen, die wie auf einer Straßenkreuzung aufeinandertreffen, sich überlagern oder überkreuzen: »Discrimination, like traffic through an intersection, may f low in one direction, and it may f low in another.« (Ebd.: 149) Hierbei ist essenziell zu analysieren, welche Machtstrukturen auf welchen Diskriminierungsformen auf bauen und auf welche Weise die unterschiedlichen Diskriminierungsformen zusammenwirken. So hat bspw. ein Rassismus, der mit sexistischen Anspielungen arbeitet, eine ganz eigene Qualität und kann nicht mit der Formel Rassismus + Sexismus abgebildet werden (Walgenbach 2011: 2 »The modifier ›multiple‹ refers not only to several, simultaneous oppressions but to the multiplicative relationships among them as well. In other words, the equivalent formulation is racism multiplied by sexism multiplied by classism.« (King 1988: 47)

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116f.). Crenshaw war disziplinär an die Rechtswissenschaften angebunden. In ihrem politisch-aktivistischen Kontext fokussierte sie sich auf die US-amerikanische Rechtsprechung mit besonderem Augenmerk auf den strukturellen Rassismus in Gerichtsprozessen und den Verankerungen von Rassismen im Recht (Chebout 2012: o.S.). Sie war Mitbegründerin der akademisch-aktivistischen Bewegung Critical Race Theory (CRT). Durch ihr Werk erhielt sie internationale Aufmerksamkeit und ihr Intersektionalitätsbegriff setzte sich schließlich auf breiter Basis durch.

Intersektionalität und Identitätskategorien Heute hat sich in der feministischen Diskussion zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass der Intersektionalitätsansatz über die klassische Trias race (Ethnizität), class (Herkunft), gender (Sexualität) hinausgeht und je nach Untersuchungsebene (Gesellschaftsstrukturen, Identitätskonstruktionen oder symbolische Repräsentationen) um weitere Analysekategorien zu ergänzen wäre (Degele/Winker 2008: 195; Knapp 2008: 146ff.). Relativ unbestritten sind derzeit Behinderung und Religion als zusätzliche Ungleichheitsdimensionen, aber es werden auch weitere, ganz unterschiedliche Einf lüsse wie Alter, Besitz oder auch Attraktivität als intersektionale Analysedimensionen diskutiert (Lutz/Wenning 2001; Degele/Winker 2007). In »The Complexity of Intersectionality« unterscheidet McCall (2005) drei Forschungslinien entlang ihres analytischen Zugangs zu Differenzkategorien: interkategoriale, intrakategoriale und antikategoriale Ansätze. Während interkategoriale Ansätze über mehrere ausdifferenzierte Kategoriesysteme versuchen, die Komplexität sozialstruktureller Ungleichheitsverhältnisse zu fassen, beschränken sich intrakategoriale Ansätze auf die Untersuchung einer Differenzkategorie, innerhalb derer soziale Identitäten intersektional konstituiert werden. In einer dritten Kategorie, den antikategorialen Ansätzen, bringt McCall dekonstruktivistische, poststrukturalistische und intersektionale Forschungsansätze zusammen, die einer Fassung sozialer Wirklichkeiten mittels übergeordneter kategorialer Zuordnungen kritisch gegenüberstehen und stattdessen soziale Prozesse in den Vordergrund stellen. Konkreter kritisieren antikategoriale Ansätze den Fokus auf die über Differenzkategorien produzierten Identitätskonstruktionen (vgl. Aulenbacher/Riegraf 2012: 6). An dieser Stelle kommen auch die im Folgenden beschriebenen praxeologischen Ansätze ins Spiel. Diese lassen sich – McCalls Systematisierung folgend – den antikategorialen Ansätzen zuordnen, denn hierbei stehen in der Regel weniger abstrakte Kategoriesysteme als vielmehr der empirische Blick auf tatsächlich ausgeführte Praktiken im Vordergrund. McCall betont aber auch, dass Intersektionalitätsstudien nicht zwingend nur einem der von ihr

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vorgeschlagenen Ansätze zuzuordnen sein müssen, sondern vielmehr ein Zusammenspiel mehrerer Perspektiven beinhalten können.

Intersektionalitätsforschung und Praxeologie In aktuelleren Intersektionalitätsdebatten findet tendenziell eher eine Abkehr von der Straßenkreuzungsmetapher Crenshaws statt. Wesentlich umfassender wird nun versucht, die gesellschaftlichen (Ungleichheits-)Verhältnisse, individuellen Unterdrückungserfahrungen und ihre Perpetuierung innerhalb sozialer (Alltags-) Praktiken in den Fokus zu nehmen. Hierbei werden explizit praxeologische Impulse für die Intersektionalitätsdebatten fruchtbar gemacht. Entsprechend versteht man »Intersektionalität als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an soziale Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen« (Winker/Degele 2009: 15). Mittels qualitativer Ansätze wird untersucht, wie sich die Wirkung gesellschaftlicher Strukturen im alltäglichen Handeln niederschlägt und wie im Zuge dessen soziale Differenzen konstruiert und reproduziert werden (Degele/Winker 2009: 64; Kubisch 2012: 104). Der intersektionale Mehrebenen-Ansatz von Nina Degele und Gabriele Winker basiert auf den praxeologischen Überlegungen Pierre Bourdieus, die Trennung von Theorie und Empirie zu überwinden. »Nicht alles ist klassifizierbar, theoretische Kategorien sind nicht unbedingt Kategorien der Empirie«, weswegen empirische Analysen mit einem Fokus auf soziale Praxen beginnen sollten (Degele/Winker 2009: 64). Soziale Praxen seien hierbei »das auf Körper und Wissen basierte Tun von Handelnden – das auch Sprechen einschließt« (ebd.: 66). Degele und Winker beziehen sich auf die von Loïc Wacquant beschriebenen Praktiken der Unterscheidung, um die Differenzierungskategorien, entlang derer Menschen ihren Alltag und ihre Identität konstruieren, operationalisieren zu können. Demnach sind drei Analyseebenen zu unterscheiden, die miteinander in wechselseitiger Verbindung stehen und die der Analyse von Ungleichheiten sowie Diskriminierungen dienen sollen: die Struktur-, die Identitäts- und die Repräsentationsebene. Die Strukturebene lässt sich praxeologisch mit Anthony Giddens (1997) Theorem verknüpfen, wonach Handlungen von Individuen sowohl Strukturen hervorbringen als auch durch Strukturen hervorgebracht werden. Die Analyse der Identitätsebene, auf der durch konkrete Handlungen Identitäten hergestellt werden, gibt entsprechend Auskunft darüber, wie die Strukturebene reproduziert wird. Die Repräsentationsebene hingegen fokussiert auf symbolische Repräsentationen, die wiederum performativ mit den Identitätskonstruktionen der Individuen verwoben sind und auf Strukturebene soziale Strukturen hervorbringen können (z.B. in Werbekampagnen).

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Degele und Winker sehen ihren Ansatz offen dafür, dass auf der Repräsentations- und Identitätsebene Differenzkategorien von Individuen hervorgebracht werden, die auf der Strukturebene noch nicht sichtbar sind. Methodisch muss man dazu bei den Repräsentationen und Identitäten im Feld sozialer Praktiken ansetzen und sie zum Ausgangspunkt der Analyse machen. Die Betrachtung der Praktiken der Unterscheidung wird systematisch um die Untersuchung von symbolischen Repräsentationen und Sozialstrukturen erweitert. Methodisch geschieht das über die Erhebung von Verbaldaten (Interviews), die Schritt für Schritt auf die drei Analyseebenen projiziert werden. Die Gesamtheit aller Interviews wird auf ähnliche Identitätskonstruktionen untersucht, auf möglicherweise bestehende Herrschaftsverhältnisse analysiert und um Strukturdaten ergänzt. So soll ein differenziertes Bild über Ungleichheitsverhältnisse auf Mikro- (Identitätsbildung), Meso- (Institution und Organisation) und Makroebene erarbeitet werden, das es erlaubt, neu entstandene Differenzkategorien zu erkennen. Sonja Kubisch (2012: 102) kritisiert diesen Mehrebenen-Ansatz. Sie wirft Winker und Degele vor, sie fänden »keinen Zugang zur Handlungspraxis, sondern ihre Interpretation verbleibt auf der Ebene des ›theoretischen Welt-Erkennens‹«. Kubisch bemängelt auch, dass innerhalb einer Untersuchung über den Mehrebenen-Ansatz nur auf explizit Gesagtes Bezug genommen werden kann. Soziale Differenz ließe sich so lediglich über verbalisiertes Selbsterkennen der befragten Subjekte oder mittels der Interpretation der forschenden Person begreifen. Die drei Analyseebenen, die bei Degele und Winker Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verbinden sollen, bleiben, so Kubisch, dennoch getrennt. Da dieser Ansatz »soziale Differenz im Wesentlichen als Frage der Konstruktion sozialer Identität begreift und auf der Ebene des immanenten Sinngehalts verbleibt, bleibt ihm der Zugang zur Handlungspraxis verschlossen, wird er letztlich Bourdieus Anliegen einer Überwindung der Dichotomie von Handlung und Struktur nicht gerecht« (Kubisch 2012: 102f.). Kubisch (2012: 101) entwirft einen eigenen intersektionalen Analyseansatz der »habituellen Konstruktion sozialer Differenz«, dem ebenfalls die Habitustheorie nach Bourdieu zugrunde liegt. Sie löst die Dichotomien zwischen Mikro- und Makroebene, Struktur- und Handlungsebene auf, indem sie mit Bourdieus Habituskonzept auf eine strukturierende und eine strukturierte Struktur verweist. Mit Bourdieu argumentierend, dass ähnliche Existenzbedingungen zu aufeinander abgestimmten Praktiken führen, setzt Kubischs Praxisbegriff die Art und Weise der Ausführung einer Praxis ins Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die handlungsleitende Funktion sozialer Praktiken und das handlungspraktische Wissen bilden demnach zwei Seiten einer Medaille. Methodisch setzt Kubisch auf Gruppendiskussionen. Die Befragten sollen, basierend auf grundlegenden Orientierungen, soziale Differenz entlang von Struktur- und Differenzkategorien (race, class, gender, Alter, Generation) rekonstruieren. Indem der Fokus auf die Hervor-

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bringung von Differenzen in der gesellschaftlichen Praxis gelenkt wird, wird vermieden, dass die von den Befragten verbalisierten Differenzkategorien als strukturell festgeschrieben erscheinen. Die Berichte der Befragten werden dahingehend analysiert, wie die gesellschaftliche Praxis aus handlungsleitenden, habituellen Orientierungen der Beteiligten hervorgeht.

Die Praxis der Identitätspolitiken Wie eingangs beschrieben, waren es ursprünglich schwarze Frauen in den USA, die darauf hinwiesen, dass es keine einheitliche Erfahrung des Frauseins gibt, und die eine Repräsentation ihrer Anliegen durch weiße Frauenrechtler*innen infrage stellten. Intersektionalität war demnach niemals nur ein analysierender Ansatz, sondern in erster Linie ein Medium der politischen Einf lussnahme. Als Mittel der Emanzipation ging es darum, Gleichstellung einzufordern im Sinne einer Ergebnisgleichheit (z.B. Lohngerechtigkeit, rechtliche Gleichstellung der Geschlechter). Heute kehrt sich die Stoßrichtung um: Es sind nicht mehr die Intellektuellen, die die Agenden der Aktivist*innen auf einer theoretischen Ebene ref lektieren, sondern die Theorien wirken zurück in die Aktivist*innenkreise hi­ nein, wodurch sich ganz neue Fragen und Herausforderungen ergeben.

Von politischen Vertretungsansprüchen zur Analyse struktureller Benachteiligungen Die Theoretisierung von Identitätspolitiken trifft naturgemäß auf ein zentrales Problem. In aktivistischen Zusammenhängen ist es eher erwünscht, dass Kategorien in dem Sinne offen sind, dass sich möglichst viele Menschen durch sie abgebildet sehen. Dies lässt sich am Beispiel der Kategorie race verdeutlichen. Sie gilt deswegen als unübersetzbar, weil sie sich ursprünglich auf einen bestimmten historischen Kontext bezog, den Rassismus in den USA. Über die Sklaverei hi­ naus hatte sich eine spezifische Arbeitsteilung zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung etabliert, in der die schwarze Bevölkerung mindere, schlecht bezahlte Arbeiten ausführte. Über derartige Diskriminierungserfahrungen verfügten aber auch viele anderweitig Marginalisierte, die sich entsprechend ebenfalls angesprochen fühlten. So formierten sich in den USA der 1970er Jahren auch die Third World Women oder die People Of Color (PoC), was eine Dynamisierung der Black-Power-Bewegung und der Frauenbewegung bewirkte (Perinelli 2015). Bei der Übersetzung ins Akademische führt eine derartige Heterogenität des Vertretungsanspruchs aber zu Problemen, denn hier werden in der Regel präzise Definitionen verlangt. So ist es naheliegend, dass schnell akademische Uneinigkeit darüber herrschte, was die verschiedenen Differenzkategorien bedeuten und

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welche überhaupt zu betrachten seien. So sei keineswegs mehr klar: »[B]ezieht sich ›race‹ auf Ethnizität, auf Hautfarbe bzw. auf in der Öffentlichkeit sichtbare Differenzen? Oder auf Migrationserfahrungen, Nationalität und staatsbürgerliche Rechte? Geht es um rassistische Diskriminierungspraktiken – und wenn ja: wie eng oder weit wird dann ›Rassismus‹ definiert?« (Mayer 2018: 12) Dieses Problem ergibt sich auch durch die Übertragung der Intersektionalitätsdebatte auf Europa und in den universitären Kontext. Kommt es hierbei zu terminologischen Unstimmigkeiten, dann stellt sich die Frage, wie sich diese zurück in die politische Praxis spiegeln.

Von der Analyse struktureller Benachteiligungen zurück zu politischen Vertretungsansprüchen Stefanie Mayer (2018) erkennt eine Unversöhnlichkeit verschiedener Begriffe von Intersektionalität, die zumindest den weißen Feminismus eher gespalten denn geeint hat. Der Historiker – und zugleich Mitglied bei Kanak Attak – Massimo Perinelli (2015, o.S.) beklagt ebenfalls, dass die derzeit im antirassistischen und feministischen Aktivismus stark gemachten Theoreme vor allem aus »akademischen Debatten um Postkolonialismus, Intersektionalismus und Gender-Studies stammen und sich vor allem auf Texte aus dem US-Kontext beziehen«. Dabei treten Identitätsfragen in den Vordergrund, während Kontextfaktoren kaum ref lektiert werden. In Analogie zur US-amerikanischen Arbeitsteilung zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung seien es in Deutschland die Gastarbeiter*innen, die minderbezahlte und unterprivilegierte Arbeiten ausführen. Deren langjähriger Kampf um Emanzipation wurde auch vom bürgerlichen Feminismus in der BRD kaum wahrgenommen. Ohne Bezug auf diesen ökonomischen Kontext aber könne die Frage, wer als herrschende Klasse angesehen werden sollte, relativ willkürlich beantwortet werden.

Identitätspolitische Markierungs- und Bekenntnispraktiken Im Namen von Critical Whiteness (dt.: Kritisches Weißsein) formieren sich derzeit kontroverse Identitäts- und Markierungspolitiken. Ebenfalls im USA-Kontext entwickelt, mahnt dieses Konzept in Anlehnung an die Intersektionalitätsdebatten zur Ref lexion der oftmals unbeachteten Privilegierung der Rolle weißer Sprecher*innen. Im Juli 2012 fand in Köln das NoBorderCamp statt, eine Veranstaltung eines europäischen antirassistischen Netzwerkes. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung hatte die Gruppe Reclaim Society das Recht eingefordert, Redebeiträge zu stoppen, sollten die Mitglieder dieser Gruppe, zumeist PoC (People of Color), diese als diskriminierend oder rassistisch erleben. Die Gruppe berief sich dabei auf Konzepte der Critical Whiteness. Die Situation eskalierte schließlich, als

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Aktivist*innen der Gruppe die Ausstellung »Tatort Stadion II – Fußball und Diskriminierung« des Bündnisses aktiver Fußballfans sprengte. Die Aktivist*innen erhoben den Vorwurf, die Ausstellung sei zu weiten Teilen eine Reproduktion rassistischer und sexistischer Stereotypen. Die Gruppe forderte, die Ausstellungsmacher*innen sollten die Ausstellung zurückziehen und eine entschuldigende Stellungnahme abgeben. Das führte zum Eklat und damit keineswegs dazu, dass die Vorwürfe der Gruppe ernsthaft geprüft wurden, sondern vielmehr zu einer Debatte darum, ob weiße Aktivist*innen, also Menschen ohne eigene Diskriminierungserfahrungen, überhaupt zu einem antirassistischen Kampf berechtigt seien. Die Vehemenz der Kontroverse ließ schließlich prinzipielle Zweifel darüber auf kommen, ob eine Verständigung über die politischen Differenzen hinweg überhaupt noch möglich sei (ak 2013; vgl. auch die Selbstdarstellung der Gruppe Reclaim Society 2012). Perinelli (2015) betont nun, dass das Konzept der Critical Whiteness heute vorrangig von jungen, akademisch ausgebildeten PoC in Stellung gebracht wird, welche rein anhand der Färbung der Haut identifizieren, wer als »weiß« zu gelten hat. Dabei würden auch Gastarbeiter*innen und deren Nachkommen als »weiß« markiert, obwohl die Protagonist*innen dieses Ansatzes kaum eine den Gastarbeiter*innen ähnlich marginalisierte Position einnehmen. An dieser Stelle trifft dann auch das bekannte postkoloniale Argument Gayatry Spivaks (2008 [1988]), dass hier eben nicht die Subalternen sprechen, sondern eine Zwischenklasse, die selbst gewisse Privilegien gegenüber denen hat, die zu vertreten sie vorgibt. Versuche, als »privilegiert« markierte Sprecherpositionen zu reglementieren, sind kein Einzelfall und führen nicht selten zur Bestrebung Sprechverbote durchzusetzen (Perinelli 2015; Nassehi 2015: 187ff.; Edlinger 2015: 95ff.). In der Praxis feministischer Internetdebatten zeigt sich gelegentlich die Tendenz, Leidenserfahrungen zu vergleichen, sodass sich eine Politik repräsentativer Sprecherpositionen entwickelt, wonach jeweils nur die Person reden darf, die am meisten persönlich betroffen ist. Andrea Smith (2013: 294) beschreibt, dass auch in universitären Kontexten Bekenntnispraktiken stattfinden, die zu einem regelrechten Wettstreit darüber führen können, wer nun mehr unterdrückt sei: »consequently, people aspired to be oppressed«. Problematisch ist das insbesondere für diejenigen, die nicht durch sichtbare Kriterien als Unterdrückte erkennbar sind. Muss man erst Rechenschaft ablegen, um ein Mitspracherecht zu erhalten, dann erfordert das je nach zugrunde liegender Erfahrung mehr oder weniger persönliche Bekenntnisse, die für manche Personen sehr belastend sein können. Auch diejenigen haben das Nachsehen, die sich nicht in eine starre Identitätskategorie einordnen lassen möchten, oder Personen, die widerstreitende Identitätsmerkmale auf sich vereinen. Bari Weiss (2017) kritisiert, dass die Bewertung von Identitätskategorien oft entlang einer »Opfer/Täter« Dichotomie geschehe, wobei die Opferrolle glorifiziert werde. Dabei etabliere Intersektionalität in der Praxis nicht selten

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eine Art Kastensystem, in dem das Ansehen einer Identitätskategorie davon abhängt, wie viel Leid Menschen dieser Kategorie in der Geschichte erfahren haben. Derartige Praktiken berufen sich häufig auf dekonstruktivistische, poststrukturalistische und queere Ansätze und finden auch im universitären Kontext statt. Ayşe K. Arslanoğlu (2010) beschreibt dies für die Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo ein popularisierter Poststrukturalismus gelehrt werde. In Seminaren und auf studentischen Plenen werde ein öffentliches Selbstschämen und Beschämen praktiziert. Als »weiß« markierte Personen würden dazu angehalten, öffentlich ihre Privilegien zu ref lektieren, ihre Schuld zu bekennen und Abbitte zu leisten. Diese Ereignisse erhalten eine besondere Brisanz vor allem dann, wenn die markierten Personen, die sich diesem Prozedere verweigern, in ihren Communitys geächtet oder sogar von ihrem sozialen Umfeld ausgeschlossen werden (Perinelli 2015; laLove 2017). Verständlich werden die hinter derartigen Ereignissen stehenden Emotionalitäten im Bericht Aretha Schwarzbach-Apithys, die sehr eindrücklich ausführt, wie ein »gestandener Historiker« den kritischen Kommentar einer schwarzen Studentin bezüglich der Verwendung des Wortes »Neger« mit einem saloppen Kommentar und »einem männlich-süßen Lächeln« wegwischt (2009: 250) und welches Unwissen und welche Naivität ihr »als oft einzige Schwarze Studentin« vonseiten der Dozierenden in Seminaren entgegengebracht wurde (ebd.: 247). Sie macht deutlich, dass bei vielen Dozierenden selbst in Seminaren zu Interkulturalität ein Mindestmaß an Grundwissen in Postcolonional und Cultural Studies fehlt. Das wäre keineswegs tragisch, würden die Dozierenden das ergänzende Wissen, welches von PoC in das Seminar eingebracht wird, als wertvollen Beitrag schätzen. Tatsächlich aber sei genau das nicht der Fall. Hinweise auf die fehlende Per­spektive nicht westlicher Theoretiker*innen würden eher mit einem akademischen Habitus begegnet, den sie als »weiß« markiert. Dies sei eine Haltung Dozierender, »sich als neutral, als objektiv, universell und international wahrzunehmen« (ebd.: 257). Als weiße Dozent*innen sind wir ebenfalls der Meinung, dass derartige Vorfälle Diskriminierungen darstellen und keinesfalls zu rechtfertigen sind. Auch wir beobachten, dass es vielen Kolleg*innen schwer fällt, von dem besagten Habitus zurückzutreten. Diese Haltung ist aber nur insofern »weiß«, als dass sie auf die Sozialisation in unserem modernen »weißen« Bildungssystem zurückgeführt werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass weiße Dozierende dieser Haltung nicht auch kritisch gegenüberstehen. Der beschriebene Habitus ist aber sicherlich nicht »weiß« insofern, als dass PoCs in diesem System oft ebenfalls jene Haltung einnehmen und dieser Habitus von den Autor*innen auch schon an afrikanischen Universitäten beobachtet wurde.

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Die Repräsentationsfalle Warum aber führen Praktiken der Selbstpositionierung und der gegenseitigen Markierung zu Lagerkämpfen – und nicht zu beidseitiger Anerkennung? »Im Gegensatz zu den 1990er und den frühen 2000er Jahren gelingt es mittlerweile nicht mehr, unter der Perspektive von Antirassismus eine umfassende Gesellschaftskritik zu formulieren oder auch nur einen Großteil der bewegungspolitischen Linken zu versammeln.« (Perinelli 2015: o.S.) Anstatt sich den strukturellen gesamtgesellschaftlichen Benachteiligungen zuzuwenden, verlieren sich die Emanzipationsbestrebungen in identitätspolitischen Grabenkämpfen. Was aber läuft hier schief? Lädt Intersektionalität in einem ersten Schritt, einer queer­ theoretischen Dekonstruktion, nicht zu einer differenzierteren Debatte ein? Wird dabei nicht explizit »die Vielfalt, das Uneindeutige, das Ambigue, das Mehrfachzugehörige und Grenzüberschreitende von Geschlechtern und Sexualitäten betont«? (Tuider 2013: 84) Muss man sich, um Unterdrückung sichtbar zu machen, nicht auf die Leidenserfahrungen marginaliserter Menschen besinnen? Und ist empfundenes Leid nicht generell das Initial jeder Kritik? Das Problem entsteht also am Übergang von der Dekonstruktion zum politischen Vertretungsanspruch. Ist Intersektionalität in einem ersten Schritt bestrebt, die Unbezeichenbarkeit existierender Lebensformen im Zwischenraum der Differenzen hervorzuheben, macht sie sich in einem zweiten Schritt automatisch neuer Grenzziehungen schuldig, da sie nicht umhinkommt, das Unbezeichenbare nicht nur zu bezeichnen, sondern dieses darüber hinaus auch noch auf eine einfach verständliche Formel zu bringen. Es ist ein strategischer Essenzialismus vonnöten, der mit einer Normierung auf eine Identität einhergeht, die nicht immer allen Betroffenen gefällt. Popularisierte Formen poststrukturalistischen Denkens stellen oft die gegenhegemonialen, identitätspolitischen Aspekte des Foucault’schen oder Butler’schen Denkens in den Vordergrund. So würden, wie Arslanoğlu (2010) und Perinelli (2015) betonen, gerade innerhalb der universitären Gender Studies vehement Markierungspolitiken geführt und von dort aus in aktivistische Kreise getragen. Im politischen Anspruch auf Vertretung werden Identitätskategorien leicht zu »vollen Identitäten« in dem Sinne, als dass die politischen Vertreter*innen den alleinigen Anspruch auf korrekte Definition dieser Kategorie erheben (Maani 2015). Sie vertreten dann den Anspruch, sagen zu können, was die alltäglichen Lebenswirklichkeiten der Menschen dieser Kategorie wirklich ausmacht, worunter sie strukturell leiden und welche Rechte ihnen eigentlich zukommen sollten. Nur durch einen derartigen Übergriff auf die Kon­ struktion der privaten Subjektivität lassen sich Diskriminierungserfahrungen als strukturelle Problematiken politisch adressieren. Dies entspricht dem altbekannten genderpolitischen Theorem, dass das Private evident politisch sei.

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Es scheint nun aber, als hielten einige queere Aktivist*innen auch den Umkehrschluss für gültig, wenn sie versuchen, den Alltag ihrer Communitys zu re­ glementieren: »Dieser Alltag soll durch und durch progressiv sein: Promisk, keine Zweierbeziehung, kein Interesse an beruf lichem Erfolg, keine modische Kleidung, kein Begehren gegenüber normativ schönen Menschen, keine Eifersucht und dergleichen mehr.« (laLove 2017: 30) Es geht darum, die persönlich erlebten Kränkungen in Zukunft auszuschalten. Das eigene Empfinden von Kränkung wird zum Maßstab erhoben, wodurch es aber nicht automatisch gesamtgesellschaftlichen Emanzipationscharakter bekommt. Was als persönliches Leid erlebt wird, muss begründet und nachvollziehbar als Ausdruck einer gesellschaftlichen, strukturellen Benachteiligung beschrieben werden, um politische Repräsentation zu legitimieren. Wird dieser Schritt ausgelassen, dann wird das Differenzprinzip – als Moment der Emanzipation – verabsolutiert und fetischisiert und die Kritik wird selbst repressiv. Der Diskurs des othering, also die diskursive Herstellung von Andersartigkeit, fällt »in ebenjene identitätsterroristische Repräsentationsfalle zurück, aus der sich eine emanzipative, transgressive Identitätspolitik so mühsam zu befreien versuchte« (Edlinger 2015: 119). Zwar ist auch dieser Versuch, das private Leben von Menschen bestimmen zu wollen, hochpolitisch. Er ist aber keineswegs emanzipatorisch.

Und noch mehr Praxis – die situative Angemessenheit von Kritik Die besondere Stärke der Intersektionalitätsansätze ist es, deutlich zu machen, wie strukturelle Benachteiligungen in alltägliche Handlungsvollzüge eingeschrieben sind. Die Reaktion der Reclaim Society auf die Ausstellung der Fussballfans fand aber keineswegs in einer unref lektierten alltäglichen Situation statt. Hatten sich die Fussballfans nicht selbst auf den Weg begeben, rassistische Ressentiments in der Gesellschaft zu überwinden? Selbstverständlich müssen auch sie, trotz ihres »guten« Ansinnens, offen bleiben für Kritik. Aber tatsächlich wurde eben nicht darüber gesprochen, was sie an der Ausstellung hätten besser machen können. Im Gedächtnisprotokoll der Aktivist*innen wird der Gebrauch des Wortes »Fremdenfeindlichkeit« als Euphemismus benannt, ansonsten ist die Kritik wenig konkret: »Die Ausstellung besteht fast ausschliesslich aus der Re_Produktion rassistischer Fremdbezeichnungen, rassistischer Stereotypen, rassistischer und sexistischer Karikaturen, faschistischer Parolen und ist dadurch extrem gewaltvoll.« (Reclaim Society 2012: o.S.) Man kann den Mitgliedern der Reclaim Society natürlich nicht absprechen, die Veranstaltung als rassistisch empfunden zu haben. Allerdings kann man auch dem Bündnis aktiver Fussballfans nicht absprechen, sich nach ihrem zu diesem Zeitpunkt besten Verständnis gegen Rassismus eingesetzt zu haben. Sehr wahrscheinlich hat sich in diesem Moment auch, von den Fußballfans un-

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bemerkt, tatsächlich ein unterschwelliger Rassismus Bahn gebrochen. Von diesem Standpunkt aus wird die Empörung der Reclaim Society nachvollziehbar. Trotzdem aber erscheint uns ihr Vorgehen unangemessen – warum?

Personen und Beziehungen Wir wollen versuchen, diese Ambivalenz in einem konträren positiven Beispiel weiter aufzuschlüsseln. Viele PoC-Aktivist*innen empfinden die Frage: »Woher kommst du?« als rassistisch. Viele PoC sind in zweiter Generation in Deutschland aufgewachsen und fühlen sich durch diese Frage auf ihre Hautfarbe hingewiesen. Sicherlich haben PoC auch schon erlebt, dass diese Frage eindeutig mit dem Subtext »Warum bist du hier?« ausgesprochen wurde. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine weit verbreitete Gewohnheit diese Frage zu stellen. Auch ein älterer weißer Mann wird mindestens einmal in jeder Bekanntschaft mit dieser Frage konfrontiert. Offensichtlich wird nicht selten die Herkunft als Kernstück der Identität aufgefasst. Das heißt nun natürlich nicht, dass derartige Gewohnheiten sich nicht verändern sollen. Es sollte aber ebenfalls zur Debatte stehen, dass diese Frage auch aus aufrichtigem Interesse am anderen gestellt werden kann. Was geschieht nun aber, wenn dem Fragenden auf diese Erkundigung hin mit dem Vorwurf des Rassismus begegnet wird? Im schlimmsten Falle könnten die Ressentiments eher wachsen denn verschwinden. Sollen sich Praktiken verändern, dann bedarf es nicht nur der Bewusstwerdung einer Problematik, sondern auch einer Alternative. In dieser Angelegenheit einer Praktik, die vielleicht sogar besser als die alte in ein Gespräch über das Leben des anderen führt. Die Schriftstellerin Taiye Selasi (2015) schlägt vor: »Don’t ask where I’m from, ask where I’m a local«. Sie fordert jeden dazu auf, sich selbst darauf hin zu befragen, mit welchen Orten man sich verbunden fühlt. Sie erklärt, dass Identität auf Erfahrung beruht, nicht etwa auf abstrakten Konzepten wie etwa »Nation«, und dass man Erfahrungen in geographischem Sinne nur mit Orten haben kann. Um zu ergründen, was uns mit einem Ort verbindet, schlägt sie drei »Rs« vor: rituals (Rituale), relations (Beziehungen) und restrictions (Einschränkungen). Man solle überlegen, in welchem Kontext man die Dinge auf ähnliche Weise wie alle anderen tut, wo die Menschen leben, mit denen man gerne zusammen ist, und welche Einschränkungen einen daran hindern, an dem Ort zu leben, an dem man vielleicht gerne leben würde. Letzteres verweist schließlich auf mögliche Migrationsursachen. Für sie selbst ergebe sich daraus eine multilokale Identität, die sie auch gerne darlege, weil diese, anders als ihr Geburtsort, tatsächlich etwas über sie aussage. Der Unterschied zum Verhalten der Reclaim Society liegt offensichtlich darin, dass Selasi im Fragenden ein persönliches Gegenüber sieht, mit dem sie im Moment des Fragens in eine Austauschbeziehung tritt. Im Gegensatz zur identitäts-

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politischen Auffassung, dass das Gegenüber als ein*e Vertreter*in einer Identitätskategorie anzusehen ist, wird dem Gegenüber im zweiten Fall der Status einer Person zugeschrieben. Beurteilt man einen anderen Menschen ohne Ansehen seiner Person, rein auf Basis stereotyper Identitätskategorien, dann tappt man in ein »tief verankertes westliches Vorurteil, insofern es abstraktem Denken unabhängig vom Kontext einen höheren moralischen Wert zuschreibt, als einer konkreten und genauen Wahrnehmung von Situationen und Individuen« (Lotter 2012: 344). Jemanden als Person anzuerkennen bedeutet, in eine Beziehung zu treten. Der Begriff der Person bezeichnet demnach im Grunde die Frage nach den Selbstbeziehungen und den Beziehungen zu anderen, welche selbst in kulturell codierten Zusammenhängen nicht immer einheitlich gelebt werden. Vielmehr verbergen sich hinter durch Differenzen kulturell codierten Diskriminierungszusammenhängen in der Regel Effekte historisch etablierter Beziehungsmuster. Menschen werden meist nicht wegen bestimmter Eigenschaften diskriminiert, sondern weil historisch eine bestimmte Gruppe ein Interesse daran hatte, eine andere Gruppe als minderwertig zu klassifizieren. So war bspw. die Sklaverei nicht etwa das Ergebnis von Rassismus, sondern in materialistischem Sinne ein Mittel, Vorteile zu erlangen. »Rassistische Ausschlüsse rekurrieren also auf politische und soziale Ressourcen, die unterschiedlich verteilt werden können.« (Tsianos/Karakayali 2014: 35) Im antiken Athen hielt man Sklav*innen ökonomisch für unverzichtbar, ihnen konnten aber nicht zwingend phänotypische Merkmalsunterschiede zugeschrieben werden. Um dennoch Sklaverei zu rechtfertigen, wurde den Sklav*innen aus den unterschiedlichsten Gründen der Status einer gleichberechtigten Person abgesprochen (Lotter 2012: 271). Ebenso bedurfte der atlantische Sklav*innenhandel mit Menschen schwarzer Hautfarbe der Legitimation, und so folgte »die ›Erfindung der weißen Rasse‹ der gewaltvollen Durchsetzung einer rassistischen Segregation der Arbeitskräfte« (Tsianos/Karakayali 2014: 35). Die Rassendifferenz zwischen »schwarz« und »weiß« kann maßgeblich als Effekt der kolonialen Warenproduktion angesehen werden (Hall 2004 [1997]: 122ff.). Entscheidend ist dabei, dass bestimmten Individuen der Status als Person, also die Anerkennung in einer Gemeinschaft gleichberechtigter Individuen, abgesprochen wird. So fragwürdig einige Auffassungen des christlich-konservativen Philosophen Robert Spaemann (1996: 256) auch sind, in dieser Hinsicht macht er eindrücklich klar: »[D]ie Anerkennung als Person kann nicht erst die Reaktion auf das Vorliegen spezifisch personaler Eigenschaften sein, weil diese Eigenschaften überhaupt erst auftreten, wo ein [Individuum3] diejenige Zuwendung erfährt, die wir Personen entgegenbringen.« 3 Im Original steht hier »Kind«, weil Spaemann die Frage am Beispiel des Verhaltens der Eltern gegenüber einem Kind erklärt. Würden diese es nicht von Geburt an mit der Würde als Person behandeln, könnte das Kind die Bedingungen entsprechenden Verhaltens niemals erfahren.

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Gendertheorien und poststrukturalistisches Denken hingegen betonen vor allem die Begriffe des Subjekts und der Identität. Spivaks (2008 [1988]) prominente postkoloniale Kritik erklärt wie dieses Denken in seiner Dekonstruktion des selbstbestimmten souveränen Subjekts der Auf klärung ironischerweise die Subjekte erst erschafft. So entsteht überhaupt erst ein »koloniales Subjekt« als eine bestimmte Klasse von Menschen. Dadurch, dass Individuen sich im poststrukturalistischen Sinne selbstgeführt in strukturell vorgegebene Subjektpositionen hineinsubjektivieren, können sie aber auch lediglich in einer Vertretung dieser strukturellen Kategorien wahrgenommen werden: als »Frau«, als »Schwarze«, als »PoC« etc. Dieser Subjektbegriff ist aber blind für interpersonale Prozesse und Dynamiken, innerhalb derer Subjektpositionen sich annähern, wie das etwa der Fall ist, wenn Menschen sich gegenseitig kennenlernen und gegenseitig vonei­ nander lernen. Nachdem das erkenntnistheoretische Subjekt der Auf klärung zu Recht in die Kritik geriet, bedarf es hierzu eines praxeologischen Subjektbegriffs, der einerseits die durch die Sozialisierung entstandenen Habitualisierungen anerkennt, es andererseits aber auch erlaubt, persönliche Lernprozesse und Weiterentwicklungen zu denken. Erkennt man das Individuum als fähig an, über seine strukturellen Prägungen zu ref lektieren, dann wird es in der empirischen Forschung unausweichlich, Menschen in konkreten Situationszusammenhängen nicht nur als Subjekte, sondern als Personen wahr zu nehmen (Geiselhart/Häberer 2019).

Doing and undoing Identity Die gängigen Identitätskategorien bezeichnen evidente Ungleichheitsbeziehungen. Sie tun dies mit dem zweischneidigen Charakter der Differenz, in dem sie sich einerseits als Chance zur Formierung von Bedeutung, Sprache und Kultur zeigen und andererseits als »Quelle von Gefahr, von negativen Gefühlen, Spaltung, Feindseligkeiten und Aggressionen gegenüber dem ›Anderen‹« (Hall 2004 [1997]: 122). Das zentrale Argument der Gender Studies ist, dass die binäre Unterscheidung zwischen Mann und Frau in dem Sinne vorgängig ist, als dass sie allem sozialen Handeln zugrunde liegt. Das Doing-Gender-Theorem benennt demnach die Tatsache, dass wir durch die Naturalisierung bestimmter Bilder von Geschlecht diese Geschlechter unablässig in all unseren Handlungen reproduzieren. Die Problematik liegt darin, dass dabei ein Ungleichgewicht vorliegt. »Frauen sind gezwungen, fast immer ein Geschlecht zu sein, für Männer ist dies eine fremde Erfahrung, die nachzuvollziehen schwer fällt – so wie Weißen, sich als Ebenso werden auch hier ankommende Migrant*innen dasjenige Verhalten für deutschlandtypisch ansehen, mit dem man ihnen initial begegnet – und sie werden sich nicht vorstellen, dass »die Deutschen« im Grunde ganz anders sind.

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Angehörige einer ›Rasse‹ zu begreifen.« (Hirschauer 2001: 212) Stefan Hirschauers praxeologische Perspektive erkennt dabei aber eine lose Kopplung von Praxis und Struktur, in der die strukturellen Ungleichheiten nicht immer auch tatsächlich reproduziert werden. Dass die Geschlechterdifferenz omnipräsent sei, bedeute nicht, dass sie auch in jeder Situation aktualisiert werde. Entsprechend verteidigt er das Leitbild der Geschlechterneutralität, das in professionellen, öffentlichen und beruf lichen Zusammenhängen ein Verhalten einfordert, welches den Geschlechterunterschied unbedeutend werden lässt. Judith Butler (2006 [1997]) hingegen ist bezüglich der Möglichkeit geschlechterneutralen Verhaltens eher skeptisch. Sie ist der Meinung, dass sich Praktiken der Geschlechterreproduktion nicht planvoll verändern lassen. Selbst in scheinbar ref lektierten Sprechakten kann ein Individuum nur bedingt wissen, was es sagt. Seine Subjektposition ist ihm körperlich eingeschrieben und definiert damit »die Grenzen des sagbaren Diskurses als die Grenzen, innerhalb deren ein Subjekt leben kann« (ebd.: 222). Butler zufolge gilt es aber, den performativen Effekt der Iteration zu nutzen, also die Tatsche, dass sich Praktiken niemals in genau gleicher Art und Weise wiederholen lassen. Es werden subversiv Verschiebungen im Diskurs bewirkt, »wenn man sich gerade die Begriffe aneignet, von denen man verletzt wurde, um ihnen ihre degradierende Bedeutung zu nehmen […], wenn man sich im Zeichen des ›Schwulseins‹ zusammenschließt oder die Kategorien ›schwarz‹ oder ›Frau‹ neu bewertet« (Butler 2006 [1997]: 247). Butler zufolge kann die Antwort auf Ungleichheiten demnach nur ein politischer Aktivismus sein, der langfristig eine Verschiebung der Subjektkonstitutionen anvisiert. Nun ist Aktivismus aber nicht kontextunabhängig in jeder Situation angemessen. Wir wollen dies an einer Erfahrung verdeutlichen, die wir wiederholt in Südafrika auf Exkursionen mit Studierenden erlebt haben. Schon am Flughafen wird man mit den Nachwirkungen der Apartheid konfrontiert. Es sind ausnahmslos schwarze Männer, die ihre Dienste als Gepäckträger anbieten. Studierenden ist die Inanspruchnahme dieser Dienste oft unangenehm und in der Regel weisen sie die Angebote ab. In einer Ref lexionsrunde drücken sie dieses Missfallen auch bereitwillig aus. Es scheint ihnen, als würden sie Teil einer Ungerechtigkeit werden, wenn sie sich von diesen Männern bedienen ließen. Für diejenigen, die diese Dienstleistung anbieten, ist dies aber ihre Erwerbsarbeit, mittels derer sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Es macht für sie einen konkreten materiellen Unterschied, ob man ihre Dienste in Anspruch nimmt oder nicht. Wie also verhält man sich in dieser Situation am besten, wenn man einerseits die sozialen Unterschiede als zutiefst beschämend erlebt, aber auch das Bewusstsein hat, dass man diese in dieser Situation weder verändern noch thematisieren kann? Es wäre in dem genannten Kontext unangemessen, würde man aktivistisch einem Gepäckträger darlegen, dass man die sozialen Ungleichheiten nicht akzeptiert und man seine Dienste deswegen aus moralischen Gründen nicht in An-

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spruch nehmen kann. Diese Haltung wäre ihm gegenüber entwürdigend, denn sie würde ihm seine Benachteiligung vorführen. Die eigene Privilegierung würde in der möglichen Entscheidungsautonomie, die Dienste entweder annehmen oder ablehnen zu können, zur Schau gestellt, während dies gleichzeitig als ein Akt höherer Moral dargestellt werden würde. Thematisiert man die Gründe der eigenen Ablehnungshaltung hingegen nicht, dann ist es naheliegend, dass man als geizig angesehen wird, da man doch gerade als Tourist*in einen interkontinentalen Flug zurückgelegt hat. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die Ablehnung als Rassismus ausgelegt wird, denn das empfundene Unbehagen mit der Situation hat sicherlich nicht dazu geführt, dass man offen und freundlich reagiert hat. Wie aber könnte in solchen Fällen eine undoing-Strategie aussehen? Es müsste gelingen, wie oben beschrieben, von der Betrachtung der Subjektpositionen zu einer Wahrnehmung der Personen zu wechseln. Die unseres Erachtens einzige mögliche Lösung in diesem konkreten Fall läge vielleicht darin, die Differenz zu akzeptieren, die Dienste in Anspruch zu nehmen und in der direkten Interaktion dem sozialen Gegenüber ein respektvolles Verhalten entgegenzubringen.

Chancen und Möglichkeiten, die Perspektive zu wechseln Eine menschliche Begegnung über Identitätskategorien hinweg wird aber von der intersektionalen Logik fast systematisch ausgeschlossen. Ein zentrales Argument ist, dass die Mitglieder einer überlegenen Klasse die Lebenswirklichkeiten einer unterlegenen Klasse nicht angemessen vertreten können, weil sie bestimmte relevante Erfahrungen nicht gemacht haben. Entsprechend formuliert Michel Foucault: »Der Sache der proletarischen Revolution erweisen [die Intellektuellen] einen wirklichen Dienst, wenn sie genau da kämpfen, wo die Unterjochung an ihnen ausgeübt wird.« (Foucault/Deleuze 2002 [1972]: 393 [Anmerk. d. Verf.]) Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass man fremdes Erleben niemals angemessen wird repräsentieren können. Jeder könne und solle deswegen am besten für sich selbst eintreten. Insbesondere im Umfeld der Critical-Whiteness-Aktionen wird diese Haltung häufig vertreten. Mit gutem Recht wehrt man sich gegen die gönnerhafte Geste einfühlenden Verstehens, die behauptet, nachempfinden zu können, was die Leiden der Unterdrückten für diese bedeuteten. Wieder ist es Spivaks (2008 [1988]) prominente Kritik, die sich gegen diese Auffassung in Stellung bringen lässt, denn ihrer Meinung nach sind die Subalternen derart heterogen, dass sie allein von sich aus nicht zu einer Stimme finden. Es ginge nicht darum, diese zu repräsentieren im Sinne eines Abbildens, sondern diese zu re-präsentieren, im Sinne einer politischen Vertretung. Demnach liegt es in der Verantwortung der Intellektuellen, diesen Menschen eine Stimme zu geben und insbesondere die Effekte internationaler und globaler ökonomischer Zusammenhänge aufzuzeigen.

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Es bedarf eines Versuchs die betroffenen Lebenswelten zu ermessen. Es ist unmöglich, die tatsächlichen Erfahrungen anderer Menschen nachzuempfinden, aber es kann eine Vorstellung von der Qualität dieser Erfahrung erreicht werden. Dies ist möglich, weil es im Leben eines jeden Menschen schlechte Erfahrungen gibt, die dem Ermessen des Leides anderer dienen können. Vermittelt durch Empathie, kann ein Eindruck von der emotionalen Qualität entstehen, die diese Erlebnisse im Erzählenden hinterlassen haben. Es ist auch gar nicht erstrebenswert, dass dieser Perspektivwechsel vollständig werde, denn Forschende müssen, um re-präsentieren zu können, sie selbst bleiben. Letztlich sollen sie ihre Einblicke nutzen, um zwischen den Beforschten und etablierten wissenschaftlichen Positionen zu vermitteln. Tatsächlich werden während des Forschungsprozesses nicht selten derartige Ansprüche an die Forschenden herangetragen und diese gefragt, wie sie denken, helfen zu können, oder sie werden dazu aufgefordert, ihren Einf luss zum Wohle der Beforschten einzusetzen. Die Frage nach Möglichkeit eines Perspektivwechsels ist für die Geographie von besonderer Relevanz, denn die hier vorgestellten Debatten werden fast ausschließlich aus Disziplinen in die Geographie getragen, die sich Praktiken der Repräsentation und postkoloniale Effekte vorwiegend über historische Texte, Medienrepräsentationen oder literarische Texte erschließen. Wendet man sich postkolonialen Effekten aber empirisch ethnographisch zu, dann muss man sich nicht nur auf die gegebenen Voraussetzungen von Ungleichheit einlassen, man muss sogar produktiv auf ihnen auf bauen. Nur auf Basis einer respektvollen Beziehung zu Vertreter*innen subalterner Gruppierungen können auch »die postkolonialen Intellektuellen lernen, dass ihr Privileg ein Verlust ist, den sie erleiden« (Spivak 2008 [1988]: 56). Erst wenn man dem Unbekannten begegnet, kann man erkennen, wie man durch die eigene Perspektive vom Erkennen anderer Perspektiven abgeschnitten war. Die von Spivak geforderte Verantwortung der Intellektuellen verlangt es, den Menschen anderer Lebenswirklichkeiten zuzuhören und anschießend auch für diese zu sprechen. Dabei müssen diese Lebenszusammenhänge nicht auf Orte des globalen Südens beschränkt bleiben, sondern können auch milieu- oder ortsspezifische Lebenswelten hierzulande bezeichnen. Kritische Intellektuelle werden entsprechend »zum Boten, zum Verbindungsoffizier, der die Stimmen, die in provinziellen Zungen sprechen, einander verständlich macht und auf diese Weise die Bedeutungen, die ihnen eigen sind, sowohl erweitert wie auch berichtigt« (Dewey 1995 [1929]: 383). Wie Spivak (2008 [1988]: 52) sagte: »[D]ie Lösung der Intellektuellen besteht nicht darin, sich der Repräsentation zu enthalten.«

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Fazit Intersektionale Ungleichheiten verweisen auf strukturelle Diskriminierungen, die durch Mehrfachzuschreibungen von Identitätskategorien wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität u.a. entstehen. Intersektionalität war in erster Linie ein politisches Programm. Der Prozess der intersektionalen Gewahrwerdung hat in den 1970er Jahren in den USA zu einer Stärkung und Dynamisierung des Feminismus und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung geführt. Heute entwickeln Intersektionalitätsansätze auch analytische Stärken und bilden eine heterogene, nicht immer widerspruchsfreie Forschungslandschaft konkurrierender Ansätze (siehe hierzu Bührmann 2009; Lenz 2010; Emmerich/Hormel 2013). Sie erforschen soziale Dynamiken, die durch das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen zustande kommen. Ihre grundlegenden Erkenntnisse werden heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen unter den Stichworten diversity, gender und Gleichstellung thematisiert. Die kritische Weißseinsforschung offenbart dabei eine Hegemonie des Weißseins und das Missverhältnis, durch das gender oftmals als Metakategorie allen anderen Differenzen überordnet wird. In historischer Perspektive zeigt sie eine rassisierende Theoriebildung auf oder weist auf eta­blierte Muster unref lektierten Verhaltens hin, durch die dieses Machtverhältnis reproduziert wird. Damit haben die intersektionale Kritik, die kritische Weißseinsforschung und der damit verbundene politische Aktivismus ihre Berechtigung im Kampf dafür, dass ihre Erkenntnisse über strukturelle Diskriminierungspraktiken in administrativen Fragen berücksichtigt werden, in Mediendarstellungen ref lektiert und in Curricula von Schulen und Universitäten einf ließen. Nur auf diese Weise können langfristig die Reproduktion diskriminierender und marginalisierender Praktiken nicht eben nur aufgedeckt, sondern grundlegend kulturelle Repräsentationsregime verändert werden. Auf der interpersonalen Ebene aber müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden. Hier zeigt sich, dass es auch für eine kritische Wahrheit keine ubiquitäre Gültigkeit geben darf. Kein Individuum entspricht hundertprozentig einer Identitätskategorie, und Personen haben sich in unterschiedlichem Maße mit Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsfragen auseinandergesetzt. Letztlich geht es darum, mehrheitlich habitualisierte Verhaltensweisen zu verändern, was nicht weniger als einen kulturellen Wandel erfordert. Dieser ist nur langfristig zu erreichen, und die pure Kritik im Sinne einer Konfrontation ist auf der interpersonalen Ebene leider eher geeignet, Ressentiments zu verstärken als sie abzubauen. Wandel muss in gegenseitiger Annäherung anvisiert werden. Dies soll nicht als ein Programm der Harmonie gelesen werden, sondern eher als ein Hinweis darauf, dass dort, wo die Grenzen der Angemessenheit überschritten werden, berechtigterweise Auseinandersetzungen entstehen, die selbstverständlich auch geführt

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werden müssen. Oft ist ein gewisses Maß an Aufruhr auch zwingend notwendig, damit kritischen Themen überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwird. Praxeologisch lassen sich dabei drei Übergangssäume identifizieren, die unseres Erachtens die situative Angemessenheit von Kritik markieren. Erstens sollte ein Bewusstsein gewahrt werden, dass Kritik sich an Personen richtet und Beziehungen etabliert. Eine Grenze wird immer dann überschritten, wenn die Anerkennung des Gegenübers als Person infrage gestellt wird. Für die Verletzung der Würde einer Person ist aber nicht allein die empfundene Kränkung dieser Person maßgeblich, sie manifestiert sich vor allem dann, wenn dieses subjektive Empfinden nicht wahrgenommen und respektiert wird. Eine Kritik, die die eigenen Kränkungen zum Maßstab erhebt und gar nicht mehr danach fragt, ob sie noch das Erleben anderer Betroffener abbildet, ist ebenso unsolidarisch wie eine Kritik, der es egal ist, ob andere Betroffene ihren Aktivismus noch als der gemeinsamen Sache zuträglich ansehen. Derartige Kritik verkommt zu einer Posse, der es nur um Ausdruck der eigenen Befindlichkeit geht. Sie verkennt, dass die Beseitigung von Missständen immer nur eine gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten sein kann. Zweitens sollte berücksichtigt werden, dass Ungleichheit nicht zwangsläufig mit einem allgegenwärtigen Erleben von Ungerechtigkeit einhergeht. Differenzen lassen sich als relevante Schemata nicht nur aufrufen, sondern auch, wie es das undoing-gender-Theorem vorschlägt, partiell ausblenden. Menschen können produktiv auf den herrschenden Verhältnissen auf bauen und ihre persönlichen Lösungen können Vorbildcharakter entwickeln. Derartige best-practice-Beispiele sollten von der Kritik ebenso wie vom politischen Aktivismus auch als ein Schlüssel zu gesellschaftlichem Wandel wahrgenommen werden. Drittens sollten Perspektivwechsel und die damit einhergehende Übernahme von Verantwortung nicht generell abgelehnt werden. In diesem Zusammenhang ist Spivaks (2008 [1988]) Kritik an einem poststrukturalistischen Denken zentral, das aus der theoretischen Unmöglichkeit abbildender Repräsentationen eine Ethik der Selbstfürsorge ableitet, wonach jeder nur für sich selbst sprechen sollte. Zwar ist es ein schmaler Grat zwischen einer postkolonialen Geste der gönnerhaften Umarmung der Unterdrückten und einer angemessenen Fürsprache für benachteiligte Menschen, aber diese Schwierigkeit sollte nicht vom Versuch der Fürsprache abhalten. Kritik, die sich allein auf die Macht der Kategorie verlässt und sich nicht bemüht, die Heterogenität und Ambiguität der Lebenswelten derjenigen zu erfahren, in deren Namen sie spricht, die zu vertreten sie sich anschickt, läuft damit Gefahr, diejenigen, die sie vertritt, zu kolonialisieren. Sie tritt in genau die Repräsentationsfalle, aus der sie sich selbst zu befreien sucht. Und jetzt …? Am Ende des Schreibprozesses teilt sich nun das »wir« unseres Autorensubjekts wieder und wir danken den vielen Stimmen, die durch uns hindurch geschrieben haben. Nach den vielen Perspektivwechseln tut es auch wieder gut, »ich« zu sagen. Und so sage ich, Kim, dass ich gerne für kurze Zeit ein älte-

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rer, weißer Mann war, und ich, Klaus, sage, dass ich gerne eine junge Frau mit Migrationshintergrund war. Wir fühlen uns privilegiert, dass wir diesen Beitrag schreiben durften, und im Sinne Spivaks haben wir während des Schreibprozesses unsere einstige Privilegierung in dem Maße als Verlust erlebt, in dem wir uns auf andere Perspektiven eingelassen haben.

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Praktikentheorie und Emotion/Affekt Annika Hoppe-Seyler, Christiane Stephan und Matthias Lahr-Kurten

Einleitung Praxistheoretische Perspektiven bieten Ansätze zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit emotionalen und affektiven Aspekten sozialer Phänomene. Umgekehrt zeigt sich, dass die Beschäftigung mit Dynamiken des Sozialen durch die Berücksichtigung emotionaler und affektiver Anteile von Aktivität auf konzeptioneller sowie empirischer Ebene profitiert. Im Rahmen einer humangeographischen Auseinandersetzung mit sozialen Praktiken/Praxis (und Räumlichkeit) darf ein vertiefter Blick auf Aspekte von Emotion und Affekt daher nicht fehlen. Dieser Beitrag zeigt auf, dass Emotionen bei der Konstitution, Fortführung und Veränderung sozialer Praktiken eine entscheidende Rolle einnehmen. Ausgehend von Schatzkis Praktikentheorie, nähern wir uns emotionalen Aspekten sozialräumlicher Aktivität zunächst auf einer konzeptionellen Ebene. Seinem Ansatz folgend, betrachten wir teleoaffektive Strukturen in Praktiken und Praktiken-Arrangement-Bündeln. Dabei weisen wir auf Leerstellen hin, an denen sich die Notwendigkeit zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Aspekt des Emotionalen zeigt. An diese Überlegungen schließt ein kurzer Überblick über konzeptionelle Auseinandersetzungen mit Praktiken und Emotionen/Affekt in der Humangeographie an. Exemplarisch zeigen wir vier Bereiche auf, in denen ein praxistheoretischer Blick auf Affekt/Emotionen als gewinnbringend für die Humangeographie erscheint. Anhand eines Beispiels empirischer Forschung einer der Autor*innen wird die Bedeutung emotionaler Aspekte in Praktiken des ehrenamtlichen Engagements in der Flüchtlingsarbeit diskutiert. Daraus leitet sich die Relevanz der Einführung des Konzepts der Erfahrung aus Deweys Perspektive des Pragmatismus ab. Auf bauend auf einem empirischen Beispiel starker Emotionen – hier beschreiben wir soziale Praktiken des Legens einer Magensonde bei Neugeborenen – verbinden wir nachfolgend den praktikentheoretischen Blick auf Emotion und Affekt bei Schatzki mit der pragmatistischen Perspektive auf Emotion und Erfahrung bei Dewey. Dieser Beitrag wirft abschließend einen kurzen Blick auf

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methodologische und methodische Implikationen einer praxistheoretischen Auseinandersetzung mit Emotion und Affekt in der Humangeographie.

Emotionen in der Praktikentheorie Theodore Schatzkis Theodore Schatzki identifiziert und beschreibt als einen Teil seiner Praktiken­ theorie und sozialontologischen Konzeption vier zentrale Mechanismen, durch die doings and sayings miteinander verbunden und so geordnet werden, dass sie eindeutig zu ein und derselben Praktik gehören (Schatzki 2002: 77; Everts/Wagner 2012: 175). Diese Mechanismen sind (1) practical understandings, dies sind all jene Fähigkeiten, die zur Ausführung der Aktivitäten einer Praktik erforderlich sind, (2) rules, dies sind »explizite Formulierungen, Prinzipien, Regeln und Anweisungen, die Menschen anordnen oder dabei orientieren bestimmte Aktivitäten durchzuführen« wobei diese Regeln fester Bestandteil des sozialen Lebens sind (Schatzki 2002: 79f.), (3) teleoaf fective structures, dabei handelt es sich um Ziele, Projekte und Aufgaben, die verbunden mit Emotionen und Stimmungen innerhalb sozialer Praktiken vorgeben, welche doings und sayings ausgeführt werden sollen. Dabei sind laut Schatzki (ebd.: 80) Ziele und damit verbundene Emotionen normativ geprägt, also mit Werten und Konventionen verbunden (bei Schatzki umschrieben als sozial geformtes »Sollen« und »Annehmbarkeit/Akzeptanz«). Schließlich beschreibt Schatzki (4) general understandings als übergreifende Strukturen und Grundhaltungen, auf die bei der Abstimmung und Verbindung verschiedener sozialer Praktiken zurückgegriffen wird. Als Beispiel nennt Schatzki religiöse Überzeugungen sowie Grundverständnisse von Gemeinschaft (ebd.: 86). Bei einer genauen Lektüre der Ausführungen Schatzkis zu jedem einzelnen dieser Mechanismen wird deutlich, dass die Begriffe auf einem spezifischen theoretischen Fundament basieren, mit dem Schatzki sich von anderen (Praktiken-)Theoretikern abgrenzt und sehr umfassende Mechanismen des Sozialen beschreibt. So setzt Schatzki bspw. den Begriff »practical understandings« in Beziehung mit Konzepten wie »Habitus« (Bourdieu 1990) und »practical consciousness« (Giddens 1984), und macht deutlich, dass seinem Verständnis nach »practical understandings« nicht zu einer Bestimmung spezifischer Handlungen dient und keine Umschreibung von »Know-How« ist, sondern auf abstrakterer Ebene die umfassende Fähigkeit darstellt, soziale Praktiken kontextspezifisch durchzuführen, spezifische Praktiken als solche zu erkennen und zu wissen, wie auf diese je nach Kontext zu reagieren ist (Schatzki 2002: 77f.). Die benannten Mechanismen weisen vielseitige Wechselwirkungen untereinander auf. Sie können daher kaum isoliert betrachtet werden, sondern müssen parallel beleuchtet werden, um die auf verschiedensten Ebenen verwobenen Dynamiken sozialer Praktiken zu verstehen.

Praktikentheorie und Emotion/Affekt

Um einen Einblick in Erklärungsansätze emotionaler Aspekte in der Praktikentheorie Schatzkis zu gewinnen, soll im folgenden Abschnitt aus konzeptionell-analytischem Interesse dennoch ein Mechanismus zeitweise isoliert betrachtet werden: teleoaffektive Strukturen. Schatzki beschreibt teleoaffektive Strukturen als »normativ aufgeladene und hierarchisch geordnete Ziele, Projekte und Aufgaben, die in variierendem Maße verbunden sind mit normativ aufgeladenen Emotionen sowie Stimmungen« (2003: 192, eigene Übersetzung). Emotionen werden in diesem Theorieentwurf somit als Teil einer breiteren Kategorie verstanden, die sich aus Anteilen von »Telos« und Anteilen von »Affekt« zusammensetzt. Sowohl die Ziele und Emotionen als auch die normativen Anteile daran sind laut Schatzki (2002: 81) nicht in Personen angelegt, sondern in den Praktiken selbst und sie werden nicht (notwendigerweise) bewusst von den einzelnen Personen, die Praktiken ausführen, wahrgenommen. Wie diese teleoaffektiven Strukturen konzeptionell aufgebaut sind und wie der Zusammenhang zwischen den Anteilen »Telos« und »Affekt« sich in empirisch beobachtbaren Prozessen erkennen lässt, soll im Folgenden anhand eines von Schatzki verwendeten empirischen Beispiel aufgezeigt werden. Anhand der sozialen Praktiken der Medizinkräuterproduktion, die im 19. Jahrhundert durch die soziale Gruppe der »Shaker« im US-Bundesstaat New York präsent waren, beschreibt Schatzki (2002: 77ff.) die oben erwähnten vier Ordnungsmechanismen von sozialen Praktiken. An dieser Stelle soll nur vertieft auf die teleoaffektiven Strukturen eingegangen werden. Schatzki (2002: 81) beschreibt die Ziele, die Teil der sozialen Praktiken der Kräuterproduktion sind als bspw. »Profit machen, Profit maximieren, die Nachfrage bedienen, die Maschinen funktionsfähig halten, […]«. Um diese Ziele zu erreichen, waren eine Reihe von Projekten oder Aufgaben notwendig bzw. angemessen, wie z.B. das Lagern und Trocknen von und Experimentieren mit Kräutern (ebd.). Die Emotionen oder Stimmungen, die Teil dieser sozialen Praktiken sein sollten, waren bei den Shaker weniger stark festgelegt als die »teleologischen Strukturen«. Emotionen sollten generell Frömmigkeit und Beherrschtheit widerspiegeln, wobei nicht normativ vorgegeben war, dass man emotionale Dynamiken, die bspw. mit Langeweile oder Trägheit verbunden waren, unterdrücken musste. Eine emotionale Grunddynamik war jedoch eine kollektiv wahrgenommene Angst bei Produktionsverzögerungen und Zufriedenheit bei gutem wirtschaftlichen Zustand (Schatzki 2002: 82). Diese Grunddynamik ist in den Ausführungen des Beispiels eng verbunden mit dem Mechanismus der general understandings, die bei den Mitgliedern der Shaker durch einen religiösen Glauben an ein himmlisches Königreich und insbesondere daran geprägt war, die Welt durch Bearbeitung der Erde retten zu können (ebd: 29). An anderer Stelle beschreibt Schatzki (2003) teleoaffektive Strukturen anhand eines Beispiels aus der Finanzwelt. Bei den Praktiken des »Beantragens und Erteilens eines Bankdarlehens« beschreibt er teleoaffektive Strukturen als

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»a range of task-project combinations that are enjoinedly or acceptably carried out for the sake of such prescribed or acceptable ends as making profit, earning interest, gaining access to capital, and securing promotion« (Schatzki 2003: 192). Damit benennt er »vorgegebene und akzeptable Ziele« als strukturierende Elemente für soziale Praktiken. Während in den Beispielen, die Schatzki verwendet, eine Betonung der Ziele/ Projekte/Aufgaben, d.h. der teleologischen Strukturen, die soziale Praktiken ordnen, erfolgt, wird die Ebene der »Emotionen« kaum explizit herausgearbeitet. Es scheint in den Beispielen, dass Emotionen lediglich als »Anhängsel« von teleologischen Ordnungs- und Priorisierungsprozessen erwähnt werden. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit den komplexen Prozessen, in denen Emotionen die Ausprägung sozialer Praktiken beeinf lussen und deren Dynamiken verändern, lässt sich in den angeführten Werken Schatzkis (2001, 2002, 2003) nur am Rande finden. Der Autor argumentiert, dass sich Praktiken hinsichtlich der Stärke ihrer Auf ladung mit affektiver Struktur unterscheiden und kontrastiert Praktiken des Kochens in westlichen Kulturen, welche laut ihm starke teleologische, aber schwache affektive Struktur aufweisen, mit Praktiken der Kindererziehung in westlichen Kulturen, welche eine deutlich stärkere affektive Struktur aufweisen (Schatzki 2002: 80). Das Ausbleiben einer genaueren Ausführung zu diesem Beispiel durch den Autor erlaubt es jedoch nicht, den Vergleich der beiden Praktiken zu durchdringen oder den genaueren Auf bau dieser »affektiven Strukturen« analytisch nachzuvollziehen. Darüber hinaus scheint ein Verständnis von Emotionen als rein in Praktiken verortet den alltäglichen Erfahrungen von Menschen insofern zu widersprechen, als dass kein Deutungsangebot für ein stark unterschiedliches emotionales Durchleben ein und derselben Praktik (siehe Beispiel des Magensonde-Legens in Abschnitt 5) gegeben wird. Doch scheint uns gerade das Wechselspiel zwischen der in den Praktiken angelegten, normativ aufgeladenen und damit überindividuellen Ebene teleoaffektiver Strukturen und der jeweils situativ konkreten emotionalen Erfahrung wesentlich, um auf der einen Seite bestimmte Pfadabhängigkeiten nachvollziehen zu können, auf der anderen Seite aber auch die zum Teil sehr spontane Verschiebung oder den Bruch mit bis dato unproblematischen Praktiken verständlich zu machen. Auf der abstrakteren Analyseebene sozialer Praktiken, der sich Schatzkis Theorie verschreibt, ist eine detailliertere Ausführung von »Emotion« bzw. »affektiven Strukturen« nicht zwingend erforderlich. Findet jedoch eine detailliertere konzeptionelle oder dezidiert empirische Auseinandersetzung mit sozialen Praktiken und deren Dynamiken statt, so argumentieren wir, dass die Kategorie der teleoaffektiven Strukturen weiterer konzeptioneller Anknüpfungspunkte für den Bereich »Affekt/Emotionen« bedarf. Die Relevanz einer Formulierung konzeptioneller Ansätze zur Untersuchung emotio-

Praktikentheorie und Emotion/Affekt

naler Anteile sozialer Praktiken soll exemplarisch anhand der folgenden ausgewählten Fragestellungen aufgezeigt werden: • Welche Rolle spielen Emotionen in alltäglichen sozialen Praktiken, bspw. beim Fahrradfahren auf dem Weg zur Arbeit? • Wie kann der Blick auf die emotionale Dimension von Erfahrungen, prozessiert mit und durch bestimmte Tätigkeiten, die daraus resultierenden Beziehungen und die darauf auf bauenden Praktiken nachvollziehbar machen? • Wie unterscheiden sich komplexe Praktiken-Arrangement-Bündel, z.B. um die Praktik des Legens einer Magensonde herum, je nachdem welche Emotionen für die ausführende Person mit der Praktik verbunden sind? Bei all diesen Fragen zeigt sich, dass bei einer Betrachtung sozialer Praktiken die Isolation der Kategorie »Emotionen« von anderen beeinf lussenden Aspekten wie Zielen, Fragen, ob und wie soziale Praktiken durchzuführen sind, sowohl empirisch als auch konzeptionell herausfordernd ist. Wir sind jedoch zugleich der Überzeugung, dass bei der Auseinandersetzung mit Theorien sozialer Praktiken ein direkter konzeptioneller Zugang zu Emotionen notwendig und vielversprechend ist: Auf der einen Seite sollen emotionale Anteile in Praktiken identifiziert werden können, um ihre Rolle in den Dynamiken des Sozialen empirisch zugänglich zu machen. Auf der anderen Seite soll eine generelle Emotionsgefärbtheit des Sozialen konstatiert werden und diese über Praxistheorien konzeptionell greifbar gemacht werden. An diesem Punkt wird es als lohnenswert erachtet, auf humangeographische Auseinandersetzungen mit Emotionen und Affekt in Form eines kurzen Überblicks zurückzugreifen um wesentliche Diskussionslinien und konzeptionelle Überlegungen für unsere weiteren Überlegungen mitzunehmen.

Praktikentheorien und Emotionen/Affekt in der Humangeographie Eine Auseinandersetzung mit Emotionen und Affekt findet in der Geographie vermehrt seit dem vor allem in britischen Zeitschriftenbeiträgen konstatierten emotional turn (Bondi/Davidson/Smith 2005; Wood/Smith 2007; Sharp 2009) der 2000er Jahre statt. Als weichenstellende Veröffentlichung wird dabei zumeist der Editorial-Artikel »Emotional Geographies« von Kay Anderson und Susan J. Smith (2001) benannt, der Emotionen als integralen Bestandteil politischer Prozesse für Arbeiten der Humangeographie einführt (Pile 2010: 6). Ausgehend von einer dynamischen Diskussion in der angloamerikanischen Humangeographie, haben sich unterschiedliche konzeptuelle Blickrichtungen herausgebildet, wobei meist zwischen »Emotional Geographies« und »Geographies of Affect« unterschieden wird. Emotional Geographies, die ihre Basis in humanistischen und feministi-

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schen Ansätzen haben (Bondi 2005), wollen eine Unterscheidung zwischen Emotion und Affekt vermeiden und suchen laut Bondi/Davidson und Smith (2005: 3) einen spezifischen, nicht objektivierenden Zugang zu Emotionen als »f luxes or currents, in-between people and places rather than ›things‹ or ›objects‹ to be studied or measured«. Demgegenüber betonen andere Autor*innen die Notwendigkeit, Affekt als eine autonome, präpersonale Kraft zu erkennen (Thrift 2004, 2008), die zeitlich vor der Entstehung von Emotionen existiert und wirkt (Massumi 1995; Seigworth/Gregg 2010). Eine wichtige Rolle in der Entstehung und Weiterentwicklung sowohl Emotionaler als auch von Affekt-Geographien spielen feministische Ansätze. Bondi misst dabei solchen Perspektiven große Bedeutung zu, die sich dezidiert einer Dekonstruktion von Gegensatzpaaren wie »Verstand/ Körper, rational/emotional und das Selbst/das Andere« (2005: 437) widmen und bspw. aufzeigen, dass Emotionen auch eine Rolle in den als rational und maskulin beschriebenen Bereichen des Sozialen spielen (ebd.: 436). Unterschiedliche konzeptionelle und auch empirische Zugänge zu Emotion und Affekt zeigen auf, dass es ein Spannungsfeld zwischen bewussten und nicht bewussten Anteilen sozialer Prozesse gibt. Massumi (2002: 29) beschreibt Affekte als nicht bewusste Prozesse, die zeitlich vor bewusstem Denken und Handeln liegen und diese mit bedingen. Demgegenüber vermittelt Bondi (2005: 435), bezugnehmend auf Merleau-Ponty (1945), ein Verständnis von Emotion als Prozess, der durch körperliche Bewusstheit entsteht. Zugleich werden häufig kognitive und nicht kognitive Prozesse unterschieden, wobei erstere zumeist im Verstand sozialer Akteure verortet werden und letztere mit körperlichen Prozessen und Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Hierbei wird deutlich, dass eine scharfe Trennlinie in der Konzeptualisierung von Körper und Verstand die Komplexität sozialer Prozesse nicht ausreichend berücksichtigen würde. Sowohl in den Ansätzen der Emotional Geographies als auch in denen der Geographies of Affect wird eine gemeinsame Betrachtung von body und mind postuliert (Longhurst 2001; Bondi/Davidson 2011). Als weiteren wichtigen Punkt betont Dawney – in Anlehnung an Spinoza – das soziale und prozesshafte Wesen von Körpern (sowie Räumen): »The concept of affect […] undoes bodies and spaces as individualised entities and shows them to emerge as durational, relational processes through which intensities course.« (2011: 601, Herv. i.O.) Eine weitere kontrovers diskutierte Frage in Emotionalen Geographien und Affekt-Geographien ist die Frage nach der Rolle menschlicher und nicht menschlicher Akteure. Auf der einen Seite betonen posthumanistische Ansätze affizierende Wirkungen nicht menschlicher gleichwie menschlicher Entitäten (Lulka 2004; Curti 2008). Feministische und humanistische Ansätze heben zumeist die übergeordnete Stellung menschlicher Akteure hervor (Bondi 2005; Simonsen 2007). Jüngere Ansätze betonen demgegenüber, dass mithilfe des Konzepts sogenannter »affektiver Atmosphären« ein Auf brechen der Konzepte fixierter Personen, Orte

Praktikentheorie und Emotion/Affekt

und Dinge möglich ist (Anderson 2009). Anderson (ebd.: 78) beschreibt Atmosphären als kollektive Affekte und als »Erfahrungen, die vor und zeitgleich mit der Formierung von Subjektivität« erfolgen. Darüber hinaus skizziert er Atmosphären als etwas, das übergreifend menschliche und nicht menschliche Materialitäten verbindet und das außerhalb einer Unterscheidungen zwischen Objekt und Subjekt liegt. Auf Basis kollektiver Affekte können ihm zufolge subjektive Zustände und dazugehörige Emotionen entstehen (ebd.). Seit der zweiten Dekade der 2000er Jahre wird die Thematik von Emotion und Affekt zunehmend auch in der deutschsprachigen Geographie aufgegriffen (Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011; Everts/Wagner 2012; Schurr 2014; Schurr/ Strüver 2016). Dabei ist festzustellen, dass diese Auseinandersetzungen vermehrt in Arbeiten stattfinden, die praxeologische Ansätze nutzen. Everts, Lahr-Kurten und Watson (2011: 327) zeigen auf, dass Emotion und Affekt in ihrer Ausübung bzw. Performativität als Teil von Praktiken verstanden werden können. Dies ermöglicht es, orientierende und strukturierende Wirkungen von Emotion und Affekt in sozialen Prozessen zu erkennen. In einem einleitenden Aufsatz zu der mit »Practising emotions« betitelten Spezialausgabe von »Emotion, Space and Soci­ety« führen Everts und Wagner (2012) Praktikentheorien explizit in den Diskurs zu emotionalen Geographien ein. Die Autor*innen legen dar, dass Theorien sozialer Praktiken – einhergehend mit »nicht repräsentationalen Ansätzen« in der Geographie – wichtige Beiträge zu einer Analyse emotionaler Aspekte liefern können. Auf der Ebene empirischer Forschung bestätigt sich, dass Emotionen als über Körper hinausreichende Prozesse verstanden werden sollten, die jedoch in Praktiken greif bar gemacht werden können (ebd.: 174). Indem die Autor*innen auf Schatzkis Praktikentheorie zurückgreifen, betonen sie, dass Emotionen im Sinne eines doing emotions aufgefasst werden können; damit liegt das Verständnis jenseits eines passiven Aufnehmens von außen einwirkender Emotionen (»Emotionen haben«), sondern gibt sozialen Prozessen von doings und sayings eine aktive Rolle in der dynamischen Entstehung und Genese von Emotionen (»Emotionen machen«). Monique Scheer diskutiert Handlungen, die mit emotionalen Erfahrungen verbunden sind oder auf die Erzeugung von Emotionen abzielen, unter dem Begriff der »Emotionspraktiken« (Scheer 2016: 29). Sie beschreibt, dass Emotionspraktiken immer in Praxiskomplexen auftreten und sowohl mit »anderen körperlichen und diskursiven Praktiken« (ebd.: 24; Scheer 2012: 193) als auch mit materiellen Artefakten verbunden sind. Sie spricht sich für eine Überwindung der Trennung von Affekt und Emotionen aus, indem sie sich der Ausführungen Bourdieus bedient, der Emotionen als Akte des Selbst definiert und doch gleichzeitig dem Körper eine insidious complicity, eine nicht bewusste und nicht willentlich gesteuerte »hinterlistige Komplizenschaft« mit den Vorgaben sozialer Strukturen attestiert (Bourdieu 2001: 39, zit.n. Scheer 2012: 207). Auch Scheer konstatiert

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einen performativen Ansatz im Sinne eines doing emotions, demzufolge »innere« Erfahrungen von Emotion nicht von deren »äußerer« Repräsentation in Worten, Gesten und Handlungen zu unterscheiden sind (Scheer 2016: 16). Carolin Schurr (2014: 149) legt ihren Fokus insbesondere auf affektive und nicht repräsentationale Ansätze, die Kultur nicht einseitig als strukturierendes und Bedeutung gebendes Element von Wirklichkeit verstehen. Die Autorin konstatiert, dass zunehmend nicht mehr Texte und deren Bedeutungen als Repräsentanten gesellschaftlicher Wirklichkeit untersucht werden, sondern komplexe Konglomerate von Praktiken und Performances (ebd.: 150). Auf bauend auf derartigen Beobachtungen, fordern Schurr und Strüver (2016) daher, affektive/emotionale und nicht repräsentationale Ansätze zu erweitern, und führen dazu den Begriff »wider-than-representation­ al« ein. Dieser soll verdeutlichen, dass die Komplexität performativer Praktiken nur durch eine Integration politischer und machtsensibler Perspektiven erfasst werden kann. Ausgangspunkt der Analyse sollten demnach die alltäglichen Praktiken – auch oder insbesondere in ihrer emotionalen Dimension – und machtgeladenen Relationen zwischen den beteiligten Entitäten (z.B. menschlichen Körpern und nicht menschlichen Artefakten) sein (ebd.: 89). Ebenso wie in den zuvor erwähnten angelsächsischen Beiträgen zeigt sich auch in den Arbeiten der deutschsprachigen Geographie, dass Begriff lichkeiten wie Emotion, Gefühl und Affekt1 konzeptionell und empirisch nicht klar getrennt werden können und dass Fragen z.B. nach der Bewusstheit und Unbewusstheit unterschiedlicher »Emotionspraktiken« nicht abschließend geklärt sind. In Anlehnung an Bondi und Davidson (2011) vertreten die Autor*innen dieses Beitrags den Standpunkt, dass eine abschließende Klärung dieser komplexen Fragen zur sozialen Welt durch eindeutig abgegrenzte Kategorien oder starre Konzepte weder möglich noch zielführend ist. In diesem Beitrag werden die verschiedenen epistemologischen Blickrichtungen und Ansätze sowohl der Emotional Geographies als auch der Geographies of Affect berücksichtigt, ohne im Detail auf konzeptionelle Abgrenzungen oder (Un-)Vereinbarkeiten einzugehen. In einzelnen Fällen findet eine Unterscheidung statt, um dem Leser die Möglichkeit eines vertieften Eigenstudiums aufzuzeigen. Im Kern soll jedoch darüber hinausgehend dargelegt werden, welchen Mehrwert ein praxistheoretischer Blick auf geographische Arbeiten mit und zu Emotion und Affekt bietet. 1 Ganz allgemein lässt sich am ehesten von folgenden Unterscheidungen ausgehen: Als Affekt wird häufig die Fähigkeit eines Körpers verstanden, sich von anderen Körpern oder äußeren Einflüssen affizieren zu lassen bzw. andere zu affizieren. In diesem Zusammenhang wird oft ein eher passives Affiziert-Werden impliziert. Der Begriff »Gefühl« (engl. feeling) kann dann die somatische Wahrnehmung des Affekts beschreiben, also die körperlich wahrnehmbare Reaktion auf das Affiziert-Werden. Emotionen stellen in dieser Konzeptualisierung die gesellschaftliche Rahmung dar, sie sind als kulturelle und sozial reproduzierte Interpretationen des durch den Affekt ausgelösten Gefühls zu verstehen. (Vgl. Anderson 2006: 735ff.)

Praktikentheorie und Emotion/Affekt

Die diversen Beiträge zu Emotional Geographies und Geographies of Affect der vergangenen Jahrzehnte haben sowohl den Nutzen kontroverser akademischer Debatten als auch ihre Grenzen aufgezeigt. Dabei stellt sich die Frage, welche neuen Zugänge zu Emotionen und Affekt sich durch eine praxeologische Sichtweise eröffnen. Hier sollen insbesondere vier Punkte festgehalten werden, die das Anwenden eines praxistheoretischen Blicks auf Affekt/Emotionen als gewinnbringend für die Humangeographie erscheinen lassen. Während die ersten drei Punkte vor allem aus der Auseinandersetzung mit den oben erwähnten Diskussionen und Autor*innen resultieren, wird der vierte Punkt in der Verknüpfung von praxistheoretischen mit pragmatistischen Perspektiven in einem späteren Teil dieses Beitrags näher erläutert: 1. Mit der Betonung des Sozialen in der Vorbereitung, Entstehung, Entwicklung und praktischen Ausführung von Emotionen/Af fekt als Teil alltäglicher doings und sayings kann es praxistheoretischen Perspektiven gelingen, was Bondi und Davidson (2005: 596) fordern: eine Erforschung emotionaler Schnittmengen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und Orten. Wir möchten dem auch Schnittmengen von menschlichen und nicht menschlichen Entitäten hinzufügen. 2. Praxistheorien ermöglichen einen spezifischen Blick auf den dynamischen Charakter des Sozialen allgemein, vermittelt über die Identifikation alltäglicher Praktiken. Die Spannung zwischen sozialen Mechanismen, die Praktiken orientieren und ordnen (wie bspw. rules oder teleoaf fective structures), auf der einen Seite und die gleichzeitig charakteristische Nicht-Festgelegtheit und Unvorhersehbarkeit sozialer Praktiken auf der anderen Seite lassen sich auf das Verständnis von Emotionen/Affekt übertragen. Emotionen müssen demnach nicht als »Emotionen haben« verstanden werden, sondern als »Emotionen machen«, d.h. als inhärenter Teil sozialer Praktiken, der Zielgerichtetheit und Bedeutsamkeit/Wirksamkeit (Teleoaffektivität) beinhaltet. 3. Emotionen/Affekt spielen nicht nur in solchen Praktiken eine Rolle, die auf den ersten Blick emotionsgeladen sind. Jenseits von Praktiken, die mit Wutausbrüchen, Freudenschreien, Hysterie oder Wehklagen einhergehen, zeigen empirische Arbeiten, dass Emotion/Affekt ebenso in alltäglichen Praktiken angelegt und dort wirksam ist. Vielmehr kann eine praxeologische Perspektive darauf hinweisen, dass Emotion/Affekt zuweilen stiller, aber inhärenter Bestandteil auch politischer Praktiken (z.B. Entscheidungsprozesse, meinungsbildende Kampagnen etc.) ist. Hierbei zeigt sich insbesondere die Verknüpfung zwischen Emotions-/Affektdimensionen sozialer Praktiken und der Wirksamkeit von Macht in Praktiken als interessantes Forschungsfeld. 4. Emotionen/Affekt als Teil sozialer Praktiken zeigt die Relevanz auf, Zeitlichkeit in sozialen Dynamiken vertieft zu betrachten. Während in der Konzep-

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tion von Teleoaffektivität eine Ausrichtung auf ein Ziel (Telos) konstatiert wird, das in der Zukunft liegt und Aktivität in der Gegenwart prägt, erkennen die Autor*innen ebenso auch Bezüge zur Vergangenheit. Erinnerungen und Erfahrungen, die sich bspw. in sozialen Praktiken des Erinnerns an den Holocaust oder in der Erfahrung, die ein Mensch während eines längeren Krankenhausaufenthalts gemacht hat, widerspiegeln, prägen über vielseitige Dimensionen – u.a. emotionale Dimensionen – Praktiken in der Gegenwart. Ausgehend von den diskutierten Perspektiven zu Emotion/Affekt und praxeologischen Ansätzen sollen im folgenden Teil des Beitrags anhand eigener empirischer Arbeiten Möglichkeiten für praxistheoretische Auseinandersetzungen von Emotion/Affekt in der Humangeographie herausgearbeitet werden. Dabei orientieren wir uns einerseits an den vier aufgezeigten Chancen praxeologischer Blickwinkel. Darüber hinaus soll die weiter oben formulierte Notwendigkeit, den Begriff der teleoaffektiven Strukturen für eine Betrachtung emotionaler/affektbezogener Anteile sozialer Praktiken zu schärfen, aufgegriffen werden. Diesem Ziel nähern wir uns über die Beschäftigung mit dem pragmatistischen Ansatz John Deweys und einer Verbindung seines Begriffs der Erfahrung mit Ansätzen der »Emotional Geographies« und »Geographies of Affect«.

Emotionale Aspekte von Praktiken in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit Die Relevanz des Emotionalen für soziales Zusammenleben wird – wie in der Übersicht des vorhergegangenen Abschnitts deutlich wurde – zunehmend in sozialwissenschaftlichen und geographischen Arbeiten thematisiert und mithilfe unterschiedlicher theoretischer Rahmungen beschrieben und interpretiert. Dezidiert praxistheoretische Ansätze stehen dabei bisher eher nicht im Fokus der Diskussion (Ausnahmen sind Scheer 2012, 2016; Sutter 2017; Everts/Lahr-Kurten/ Watson 2011; Everts/Wagner 2012; Schurr 2014; Schurr/Strüver 2016). Dabei scheint es vielversprechend, sich die emotionale Dimension von Praktiken und deren Rolle für gesellschaftliche Phänomene aus einer Perspektive anzunähern, die sowohl den intersubjektiven, beziehungsbildenden Charakter als auch die sich aus dieser Prozesshaftigkeit entwickelnden (oft individuell differenzierbaren) Pfadabhängigkeiten beschreibbar machen kann. Eine Heranführung an die relevanten Begriff lichkeiten kann im Sinne einer Grounded-Theory-Methodologie (vgl. Glaser/ Strauss 1967) aus den beobachteten Phänomenen selbst entwickelt werden. Dies soll im Folgenden anhand eines Beispiels aus der empirischen Arbeit einer der Autor*innen geschehen, welches einem aktuell viel diskutierten Themenfeld zu-

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zuordnen ist: der Debatte um den Zuzug gef lüchteter Menschen und deren Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes. Nicht selten wird den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern eine wesentliche Rolle zugesprochen (Karakayali/Kleist 2015, 2016; Hamann et al. 2016; Liebenberg/ Röbke/Thümmler 2016; Speth/Becker 2016; Ahrens 2015, 2017; BMFSFJ 2017) und deren Engagement von politischer Seite unterstützt (Stichwort »Anerkennungskultur«), aber auch zunehmend wissenschaftlich begleitet und untersucht (Karakayali/Kleist 2015, 2016; Sutter 2017; Fleischmann/Steinhilper 2017; Karakayali 2017). Insbesondere aktuellere Arbeiten, die zunehmend von Ehrenamtlichen selbst herausgegeben werden (vgl. Hermann 2018; Sutter 2017), nennen emotionale Aspekte wie Überforderung, Frust und Resignation, um die inzwischen wieder deutlich rückläufigen Zahlen ehrenamtlicher Helfer zu erklären. Es scheint daher interessant, einen Blick auf die Praxisfelder ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe sowie die dort relevanten emotionalen Prozesse und deren Auswirkung auf die weitere Entwicklung des Ehrenamts zu richten. Das Hauptbetätigungsfeld ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer ist in den meisten Fällen der direkte Kontakt mit gef lüchteten Menschen. Auf die Frage, wie sie ihre Beziehung zu den von ihr betreuten Flüchtlingen beschreiben würde, antwortete eine befragte Ehrenamtliche folgendermaßen: »Also das war für mich ’ne Freundschaft, die ich dann wieder zurückgeholt habe auf’s Ehrenamt.« Sie erläutert diesen emotionalen Prozess mit einer Erfahrung von Enttäuschung: »[…] [D]ie sind mittlerweile ausgezogen, und ich dachte so für mich, na ja, die werden mich bestimmt mal einladen auf’n Kaffee, und jetzt wohnen sie da schon zwei Monate und es kam nix, wo ich mir dann denke, ok, war halt dann doch, also, war halt zumindest keine langfristige Freundschaft. Hätt’ ich mir vielleicht anders gewünscht […].« (Ehrenamtliche, eigenes Interview 14.03.2017) Hier wird deutlich, dass die emotionale Dimension der ehrenamtlichen Praktiken den Ausschlag für die Bewertung der sozialen Beziehung gibt. Das Gefühl, freundschaftlich mit einer von ihr betreuten Familie verbunden zu sein, wird von der Ehrenamtlichen mit der Erwartung konkreter Praktiken (Einladung in die neue Wohnung, regelmäßiger Kontakt) verknüpft. Diese Praktiken können hinsichtlich ihrer teleoaffektiven Struktur insofern als normativ aufgeladen verstanden werden, als dass die Vorstellung davon, was als Indikator für eine »richtige« Freundschaft gelten kann, immer auch eine überindividuelle, diskursive Komponente enthält, also eine sozial geteilte Erwartungshaltung, die eine gemeinsame Idee von einer freundschaftlichen Beziehung widerspiegelt. Als im geschilderten Fall diese Erwartungen nicht erfüllt wurden und Enttäuschung und vielleicht auch Ärger zunahmen, erfolgte eine Ref lektion der Beziehung und eine auf den aktuellen Emotionen basierende Neubewertung. Jetzt ist der Kontakt mit den Gef lüchteten wieder »rein« ehrenamtlich, im Gegensatz zu Kontakten mit anderen Familien, die zu privaten Beziehungen werden können, wie die Ehren-

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amtliche berichtet: »[…] [E]s gibt auch andere, wo ich wirklich privat hingehe, Geburtstag, auch schon Geburtstag zu mir, wo man mal ’nen Ausf lug zusammen macht, das is’ privat. Also das geht über’s Ehrenamt ganz stark hinaus. Und das machen einige. Also einige, die von Anfang an dabei sind und quasi sich so an eine Familie ihr Herz gegeben, ja das is’ dann, da is’ der Übergang f ließend geworden.« (Eigenes Interview 14.03.2017) Es wird deutlich, dass das praktische Tun allein noch keine Aussage über die Bewertung von zwischenmenschlichen Beziehungen liefern kann. Einen Ausf lug mit Gef lüchteten machen viele der begleiteten und befragten Ehrenamtlichen auf einer Ebene, die sie selbst als nicht privat und noch nicht freundschaftlich beschreiben. Ausschlaggebend ist also die situative, im einzigartigen Zusammenspiel aller Beteiligten entstehende emotionale Beziehung, die vor allem in ihrer Prozesshaftigkeit, in der Betrachtung des Verlaufs von konkreten Erfahrungen, verständlich wird. Um diese empirische Beobachtung (die sowohl in mehreren Interviews zum Ausdruck kam als auch bei der eigenen Teilnahme – im Sinne einer action research – an ehrenamtlichen Tätigkeiten gemacht wurde) konzeptionell rahmen und beschreiben zu können, werden weitere Begriff lichkeiten benötigt, die über die Bezeichnung der teleoaffektive Struktur hinausgehen und insbesondere die Pfadabhängigkeit von Erfahrungen sowie die durch emotionale Irritationen ausgelösten Ref lexionsmöglichkeiten mit aufnehmen. Diese Begrifflichkeiten meinen wir aus der pragmatistischen Praxisphilosophie John Deweys entnehmen zu können, die im folgenden Kapitel vorgestellt wird.

Das Konzept der Erfahrung Um die Relevanz des Emotionalen in Deweys pragmatistischer Praxisphilosophie nachvollziehen zu können, muss diese zunächst hinsichtlich ihrer Grundannahmen skizziert werden. John Dewey, ein US-amerikanischer Philosoph des frühen 20. Jahrhunderts, verfolgte mit seinem Pragmatismus das Ziel, die Philosophie wieder stärker auf Praktiken und menschliche Erfahrungen zu lenken. Erfahrungen verstand er dabei als emotional aufgeladenen, experimentellen und kreativen Prozess der Erkundung und Aneignung von Welt (Dewey 1927 [1985]; Cutchin 2008; Morgan 2014). Besonders wichtig ist die Betonung der Mehrdimensionalität des zentralen Begriffs der Erfahrung: Erfahrungen sind stets Element des sozialen, materiellen, geographischen, politischen und historischen Kontextes (sprich: der jeweiligen Situation), werden aber durch die an den Erfahrungen beteiligten Organismen (bspw. Menschen, Tiere, Pf lanzen) verarbeitet und somit als persönliches, eigenes Durchleben empfunden. Durch gemeinsame Praktiken verbinden Erfahrungen die Einzelnen mit ihren Gemeinschaften (McCormack 2010). »Associated or joint activity is a condition of the creation of a community.

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But association itself is physical and organic, while communal life is moral, that is emotionally, intellectually, consciously sustained.« (Dewey 1927 [1985]: 151) Damit sind Erfahrungen nie als etwas rein Individuelles (als reines Eine-Erfahrung-Machen), sondern immer auch als ein soziales, nur in Gemeinschaft und mit der UmWelt mögliches Erfahren-Werden zu verstehen. Drei Aspekte spielen eine Rolle im Prozess des Erfahrung-Machens und Erfahren-Werdens: Erfahrungen werden (1) »praktisch und physisch« gemacht, (2) emotional durchlebt und (3) intellektuell ref lektiert und anhand des vorhandenen, sozial geteilten Wissens bewertet (McCormack 2010; Cutchin 2008). Diese Perspektive nimmt somit die Verwobenheit von Praktiken, Emotionen und Wissen in den konkreten, situativen Erfahrungen ernst und kann sowohl das sozial gerahmte Erfahren-Werden als auch das individuelle Erfahrung-Machen in den Blick nehmen. Eine Fokussierung auf die emotionale Dimension von Erfahrungen macht deutlich, dass Emotionen entgegen des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht als etwas gedacht werden können, das einem Einzelnen zu eigen ist, was Menschen (oder auch Tiere, denen zum Teil zumindest Emotionen wie Freude, Trauer oder Schmerz zugesprochen werden) irgendwo »in sich drin« haben oder mit sich herumtragen. Eine Sichtweise, die das Subjekt als Träger von Emotionen in den Mittelpunkt stellt und bspw. in Sätzen wie »Ich freu mich«, »Ich fühle mich schlapp« oder »Damit verletzt du meine Gefühle« zum Ausdruck kommt, ist aus pragmatistischer Perspektive unzureichend. Deweys Verständnis von Emotionen spiegelt sich vielmehr in Beschreibungen davon wider, dass man »von den Gefühlen regelrecht überrollt wurde« oder »die Angst über einen kam«. Dies soll darauf verweisen, dass Emotionen zwar von komplexen und aktiven Lebewesen erfahren werden, der Einzelne als Träger der Emotionen diese also durchaus individuell durchlebt. Dennoch dürfen sie nicht als etwas den jeweils Betroffenen in einem inkorporierten, physischen Sinne Eigenes verstanden werden. Dewey schreibt dazu: »The qualities [feelings] were never in the organism; they were always qualities of interactions involving both non-organic things and organisms.« (Dewey 1995: 249) Erst durch Sprache und Kommunikation werden diese Qualitäten von Interaktionen, sprich die Emotionen, zu Zeichen objektiver Unterschiede, können Sinn geben, berichten und prophezeien. »With language they [sensitivities, feelings, qualities] are clearly differentiated and identified. They are then ›objectified‹.« (Ebd.: 249, Herv. i.O.) Für die Betrachtung konkreter, empirischer Situationen bedeutet diese Sichtweise, dass die beteiligten Menschen, Tiere, Pf lanzen, Dinge, Konzepte oder Normen nicht in einem linearen Verlauf neutral in einer Situation zusammenkommen, in dieser miteinander interagieren und unverändert daraus hervortreten. Vielmehr bringen sich alle Beteiligten in einem »ungeordneten«, situativ immer wieder neu zu verhandelnden Kontext ständig gegenseitig hervor, sind quasi zirkulär in beständiger Aushandlung aufeinander bezogen und lösen sich abschlie-

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ßend mit dieser situativen Erfahrung im »Gepäck« voneinander. Dieser beständige Aushandlungsprozess im individuellen, emotionalen Durchleben bestimmter Erfahrungen kann zum einen verständlich machen, warum es zu bestimmten Pfadabhängigkeiten in Bezug auf die Ausführung von Praktiken kommt, zum anderen, warum das in jeder Praktik angelegte Veränderungspotenzial in einigen Fällen nicht nur durch leichte, mit dem spezifischen Kontext erklärbare Verschiebungen sichtbar wird, sondern auch die vollständige Aufgabe von Praktiken zu beobachten ist. Dies soll an einem alltagsnahen Beispiel, der allmorgendlichen Fahrradfahrt zur Arbeit, verdeutlicht werden. Die pragmatistische Sichtweise betont, dass alle an einer Situation beteiligten Organismen oder Entitäten nicht schon im Vorhinein feststehen und unveränderbar sind, sondern sich erst in der Situation selbst gegenseitig in einer der möglichen Ausprägungen fixieren. Sprich: Das Fahrrad wird erst im Moment des Auf-ihm-Fahrens zum gerade sinnvoll eingesetzten Fortbewegungsmittel, das den Weg von der Wohnung zur Arbeit überbrückt. Davor und danach könnte es auch als aus verschiedenen Teilen zusammengesetztes Kunstobjekt oder als Müllstück verstanden werden. Hat es einen Platten, kann es nicht der Praktik des »Arbeitswegs-Bewältigens« dienen, und der beteiligte Mensch wird von einem »Radfahrer« (bei erfolgreichem Vollzug der Praktik des Fahrradfahrens) evtl. zu einem »Autofahrer« oder »Fußgänger«, dadurch gleichzeitig zu einem »Zu-spätKommer«, »Faulpelz« oder wie auch immer die entsprechende Praktik und deren Träger dann bewertet wird. Die Praktik des Fahrradfahrens (siehe auch Spinney 2006, 2009) kann somit je nach spezifischer Situation sehr unterschiedliche emotionale Dimensionen aufweisen: Kommt man wegen des kaputten Rades zu spät, wird man sich vielleicht ärgern, weil die damit verbundene Erfahrung negativ durchlebt wird. Funktioniert das Rad jedoch wie gewünscht, scheint die Sonne und weht nur ein leichter Wind, macht das Radfahren Spaß, man fühlt sich trotz gewisser Anstrengung nicht zu erschöpft, ist vielleicht sogar ein bisschen stolz auf sich. Bei Sturm und Regen, wenn schon nach fünf Minuten die Füße nass und die Hände kalt sind und man sich auch noch beeilen muss, weil ein wichtiger Termin ansteht und gleichzeitig alle anderen mit den Autos fahren und so im dichten Stadtverkehr kaum ein Fortkommen möglich ist, wird die emotionale Komponente deutlich negativer zum Ausdruck kommen. Dies soll nicht auf eine geodeterministische Denkstruktur verweisen, sondern anhand sehr weniger, plakativer Beispiele verdeutlichen, wie viele unterschiedliche Entitäten in einer Situation zusammenkommen und die emotionale Dimension dieser mitgestalten. Vor diesem Hintergrund müsste man vielmehr von einem Situationsdeterminismus sprechen, der durch die (v.a. menschliche) Fähigkeit zur Ref lexion jedoch nicht nur rückblickend, sondern auch bezüglich zukünftiger Situationen verarbeitet und unter Umständen durchbrochen werden kann. Selbst wenn die Fahrt bei schlechtem Wetter, bei Stress

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oder mit einem teilweise kaputten Fahrrad zu überwiegend negativen Emotionen führen kann, muss dies noch keine so große Irritation bedeuten, dass die Praktik als Ganze infrage gestellt und verändert wird. Diese Perspektive kann unseres Ermessens eine sinnvolle Ergänzung zu praxeologisch inspirierten Arbeiten in der Geographie darstellen. Der Fokus auf die situativ erlebten Transaktionen macht eine detaillierte Betrachtung aller beteiligter Entitäten (Menschen, belebte und nicht belebte Umwelt, Regeln, Diskurse etc.) in einem konkreten Raum und zu einem konkreten Zeitpunkt möglich. Im Zusammenspiel von praktischem Tun und emotionalem Durchleben findet ein beständiges Bewerten und Ref lektieren der jeweiligen Erfahrung statt, welche entweder zu einer Fortführung und Verstetigung entsprechender Praktiken oder aber zu einer Veränderung und Neuausrichtung derselben führen können. So wurde bspw. in dem oben angeführten Interview mit der ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin deutlich, dass die konkreten Praktiken der Hilfe – das Treffen und Sprechen mit den Gef lüchteten, gemeinsame Aktivitäten, Behördengänge oder auch gemeinsames Essen, das intensive Suchen nach einer passenden Wohnung – von Emotionen der zunehmenden Anteilnahme2, Verbundenheit und Fürsorge dazu führten, dass diese Beziehung als Freundschaft bewertet wurde. An dieser Stelle wird das überindividuelle Erfahren-Werden deutlich, welches diese Kombination aus Praktiken des Sich-Kümmerns und Zeit-miteinander-Verbringens sowie emotionaler Nähe als »Freundschaft« interpretiert. Mit »Freundschaft« werden jedoch kulturell geprägte Erwartungshaltungen verknüpft, die in dem geschilderten Fall nicht erfüllt wurden: Eine für die Aufrechterhaltung von Freundschaft relevante Praxis, nämlich das mehr oder weniger regelmäßige Kontakt-Halten, das unter anderem auch eine Einladung in die private Wohnung beinhaltet, wurde nicht ausgeführt, was bei der Ehrenamtlichen zu Irritation und negativen Emotionen führte und schließlich eine Umbenennung der Erfahrung zu »nur Ehrenamt« zur Folge hatte. Die durch konkrete Praktiken in konkreten 2 Anteilnahme nicht nur, aber in vielen Fällen auch hervorgerufen durch die jeweiligen Räume, in denen sich Flüchtlingshelfer bewegen und in denen die Geflüchteten untergebracht sind. Diese Unterbringungen waren insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 häufig kleine Containerzimmer oder riesige Massenunterkünfte ohne jegliche Privatsphäre. Deren Einfluss auf die in ihnen gemachten Erfahrungen wurde sowohl von den Flüchtlingen selbst als auch von den Ehrenamtlichen, oft sogar von hauptamtlichen oder städtischen Vertretern, als überwiegend negativ (»unzumutbar«, »unmenschlich« oder »schrecklich« tauchen als Beschreibung für die Lebensbedingungen der Geflüchteten in vielen Interviews auf) bewertet. Emotionale Reaktionen auf diese negativen Raum-Erfahrungen waren aufseiten der Ehrenamtlichen bspw. ein allgemeiner Ärger, ein Gefühl von Scham für die eigene Landesregierung oder ein noch größeres Mitleid, welche allesamt nicht selten zu einem verstärkten Engagement führten, an diesen Zuständen etwas zu ändern. Die erfolgreiche Beschaffung eines passenden Wohnraumes, gerade in einer von Wohnungsnot stark betroffenen Stadt, wurde daher oft von einem Triumphgefühl begleitet und entsprechend kommuniziert.

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Situationen hervorgerufenen emotionalen Erfahrungen müssen folglich immer auch in ihrer zeitlichen Dimension betrachtet werden, um deren Wirkmächtigkeit nachvollziehen zu können.

Die Praktik des Magensonde-Legens und deren emotionale Dimension Um den Mehrwert einer praxeologischen Sichtweise auf Emotionen zu verdeutlichen, die über die Beschreibung der teleoaffektiven Strukturen von Praktiken hinaus auch die zeitliche Komponente in Form von Erfahrungen der durch und in Praktiken herausgebildeten Subjekte betont, wird im Folgenden als ausführlicheres Beispiel die Praktik des Magensonde3-Legens bei einem Kleinkind dargestellt. Die Autor*innen wählen dieses Exempel, da sich hieran emotionale Anteile an und in Praktiken deutlich beschreiben lassen. An diesem nicht alltäglichen Beispiel zeigt sich daher in besonderem Maße die Relevanz, konzeptionelle und empirische Ansätze für eine geographische Auseinandersetzung mit Emotion weiterzuentwickeln. Die Ausgangssituation der hier zu beschreibenden Praktik ist die, dass das Kind zum beschriebenen Zeitpunkt auf eine Nahrungszufuhr per transnasaler Magensonde angewiesen ist und über diese vor Kurzem mit Flüssignahrung gefüttert wurde. Nach einer gewissen Zeit spuckt das Kind einen Teil der Nahrung aus, wobei auch die Magensonde mit erbrochen wird und durch den Mund he­ rausschaut. Das Kind weint. Nun muss die Magensonde gezogen werden, wobei das Kind meist noch stärker weint. Es wird getröstet und gesäubert, wie auch die Unterlage oder die nähere Umgebung unter Umständen sauber gemacht werden müssen. Gleich im Anschluss wird das Setting für das erneute Legen einer transnasalen Magensonde vorbereitet. Diese Vorbereitung besteht im Heraussuchen, ggf. Zuschneiden (die richtige Länge der Magensonde bemisst sich an der Strecke zwischen Ohr–Nasenspitze–Schwertfortsatz bei Säuglingen/Neugeborenen bzw. Nasenspitze–Bauchnabel bei Kindern [siehe: http://Pf legeWiki.de]) und Bereitlegen der neuen Magensonde, dem Zurechtschneiden von Pf lastern (meist in Herzform), um die neue Magensonde nach dem Legen an der Wange des Kindes fixieren zu können, dem Bereitlegen einer Einmalspritze und einer Spuckwindel sowie der angemessenen Lagerung des Kindes (bei Kleinkindern mit leicht erhöhtem Kopf).

3 Eine Magensonde, über die einem Kind Flüssigkeit, Nahrung und Medikamente direkt in den Magen verabreicht werden können, ist ein Kunststoffschlauch, der zumeist durch die Nase eingeführt wird (http://PflegeWiki.de).

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Nach Abschluss der Vorbereitungen wird die eigentliche Praktik des Magensonde-Legens durchgeführt. Hierzu wird das Kind zunächst durch Kontaktaufnahme auf das Legen vorbereitet und mit leicht nach vorne gebeugtem Kopf sanft fixiert. Nun wird die Magensonde durch ein Nasenloch eingeführt und bis in den Magen geschoben, wobei der Kehlkopfdeckel (Epiglottis) überwunden werden muss, der den Würgeref lex des Kindes auslöst. Hier muss also mit gewisser Vorsicht vorgegangen werden, da das Kind im Gegensatz zu einem Erwachsenen das Überwinden des Kehlkopfdeckels nicht durch eigenständiges Schlucken unterstützen kann, sondern sich im Zweifelsfall eher dagegen wehrt. Nachdem die Magensonde ganz eingeführt wurde, kann die korrekte Lage mithilfe einer Einmalspritze überprüft werden. Dazu wird versucht, eine kleine Menge Magenf lüssigkeit anzusaugen. Gelingt dies, liegt die Magensonde richtig und wird abschließend mit den zugeschnittenen Herzchenpf lastern an der Wange des Kindes fixiert. Kann keine Magenf lüssigkeit angesaugt werden, muss man die Magensonde noch tiefer schieben oder einen neuen Versuch unternehmen. Nun kann das Kind getröstet und die Fixierung gelöst werden. Die hier ausführlich beschriebenen Tätigkeiten bilden insgesamt die Praktik des Magensonde-Legens eines Kleinkindes. Wir wollen argumentieren, dass es bei diesen (wie auch allen anderen) Praktiken nicht irrelevant ist, durch wen, mit wem und wo die Praktiken ausgeführt werden, und sich die situativen, singulären Ausführungen folglich insbesondere hinsichtlich ihrer emotionalen Dimension differenzieren lassen. So beschreibt eine examinierte Pf legekraft ihre Erfahrungen mit dem Legen einer Magensonde bspw. folgendermaßen: »Mir ist wichtig, dass es für das Kind nicht zu traumatisch wird. Darum nehme ich immer zuerst einmal über die Haut Kontakt auf, erst streiche ich mit der Hand über die Wange und Nase und dann mit der Sonde. So kann ich anzeigen, ah, da kommt jetzt was, damit sich das Kind darauf einstellen kann. Wenn ich die Sonde transnasal leg, dann muss ich erst mal abmessen, wie lang die Sonde sein muss, und schneide sie entsprechend zu. Dann reinige ich die Nase, schau, ob da Popel oder so drin sind, und feuchte die Sonde an. Dann das Legen, da schieb ich die Sonde dann vorsichtig, aber zügig durch die Nase und den Rachenraum runter. Dann muss ich prüfen, ob die Sonde richtig liegt. Und wenn ja, wird sie fixiert. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich war über 30 Jahre Schwester, für mich war das mit eins der emotionalsten Dinge, die ich tun musste. Einfach, weil ich da an dem Kind was machen muss, was ihm einerseits zugute kommt, weil ich es ernähren kann, aber was auch unangenehm ist. Magensonden-Schieben hab ich immer mit großem Respekt gemacht … Andere haben da sicher nicht so Probleme. […] Wir haben das auch untereinander so gemacht, dass wir gegenseitig die Lage der Sonde geprüft haben, einfach um auf Nummer sicher zu gehen, einfach weil man sich auch Sicherheit für sich selber holt. Man muss nicht für irgendwas Verantwortung über-

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nehmen, wo man nicht hundertprozentig sicher sein kann, dass nichts passiert.« (Eigenes Interview, 06.11.2018) An dieser Beschreibung wird die emotionale Auf ladung der Praktik des Magensonde-Legens deutlich. Auf ganz andere Art intensiv wird dieselbe Praktiken jedoch aus der Sicht eines beteiligten Elternteils durchlebt, das seinem eigenen Kind zu Hause die Magensonde legt. Das eigene Kind, ein extremes Frühchen, ist nach langem Krankenhausaufenthalt nach Hause entlassen worden, auch wenn die Ernährung weiterhin über eine Magensonde erfolgen muss. Die Erleichterung ist groß, wieder zu Hause zu sein, auch wenn nur bedingt von einer »vertrauten« Umgebung gesprochen werden: Einerseits ist es das eigene Zuhause, ohne all die akustischen Alarme der Station und mit vorhandener Privatsphäre. Andererseits existiert jedoch nun der Druck, alleine und eigenständig für die ausreichende Ernährung des Babys zu sorgen. Das Kind ist nach wie vor zu klein und zu leicht, sodass die messbare Gewichtszunahme ein wichtiger Indikator für eine weitgehend komplikationsfreie Entwicklung ist. Es muss Nahrung zu sich nehmen, und das geht nur über die Magensonde. Ein »Entwöhnungsversuch«, d.h. der Versuch, die psychische Blockade, irgendetwas in den Mund zu lassen oder gar selbst zu nehmen, war bereits gescheitert. Auf mittelfristige Sicht würde bei unveränderter Situation eine »PEG« gelegt werden müssen, d.h. ein Sondenzugang direkt in den Magen-Darm-Trakt. Seit dem Entwöhnungsversuch hatten die Eltern eine »bessere«, aber zumindest f lüssigere Nahrung bekommen. Dies führte jedoch scheinbar auch dazu, dass das Kind sich während oder nach der Nahrungsgabe häufiger erbrach und die Magensonde mit ausspuckte. Die Eltern hatten sich von der Kinderärztin das Legen der Magensonde zeigen lassen, um unabhängiger von ihr zu sein. Dies »lohnte« sich spätestens nun, da im Schnitt einmal täglich die Magensonde erbrochen wurde und wieder neu gelegt werden musste. Erschwerend kam jedoch hinzu, dass die Eltern nicht nur psychisch, sondern auch körperlich erschöpft waren: Das Baby musste von ihnen so lange getragen werden, bis es eingeschlafen war, da es sich im wachen Zustand im Bett schnell aufregte und sich schließlich erbrach, was die Eltern vermeiden wollten. Daher waren beide abends immer zu Hause, um sich gegenseitig ablösen zu können, wenn der andere beim Tragen nicht mehr konnte. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt auf der Intensivstation waren dieser Zustand der Sorge um die Entwicklung des eigenen Kindes sowie die körperliche Erschöpfung der Hintergrund, vor dem das Legen der Magensonde stattfand, an das sich der Vater folgendermaßen erinnert: »Ich bin noch auf der Arbeit, als der Anruf meiner Frau kommt, dass unser Sohn die Magensonde bereits zu Beginn der Mahlzeit erbrochen hat. Der Kleine hat also einen Bärenhunger und kann ohne Magensonde nichts essen. Das ist dann erst-

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mal Stress pur. Also fahre ich direkt nach Hause, denn das Legen der neuen Magensonde geht ja schließlich nur zu zweit. Während der Fahrt fühle ich Anspannung, Frust und Angst – jedes Erbrechen bringt den Kleinen einer PEG4 gefühlt näher, die wir absolut verhindern wollen, da wir überzeugt sind, dass dieses Ding den Kleinen in seiner Entwicklung deutlich behindern würde. Als ich zu Hause ankomme, begrüßen wir uns kurz mit einem Kuss und gehen direkt an die Arbeit. Jeder weiß, was er zu tun hat: Wir bereiten alle Dinge vor, die wir benötigen, und pucken den Kleinen in ein Tuch. Jetzt muss es schnell gehen, denn er hasst das Pucken und Festgehalten-Werden – er hat keine positiven Assoziationen damit, da er auf der Intensivstation bei vielen Untersuchungen fixiert wurde. Er versucht, sich freizustrampeln, während ich genau das verhindern muss. Meine Frau muss bei all dem eine ruhige Hand behalten, um die Sonde sorgfältig – nicht zu schnell und nicht zu langsam – durch die Nase und den Rachenraum die Speiseröhre entlang in den Magen zu schieben, während ich Arme und Kopf so locker wie möglich und gleichzeitig so fest wie nötig halte. Dann mit der Spritze kontrollieren, ob die Sonde richtig liegt und mit dem Pflaster fixieren. Nachdem wir das Legen geschafft haben, kann ich den ganzen Schwall an Gefühlen wieder zulassen: Die Angst um das Gedeihen des Kindes; Frustration, dass das Baby nicht versteht, dass dies doch nur zu seinem Besten ist; Ohnmacht, keinen anderen Weg zu finden, das Baby zu ernähren; Wut auf die Umstände, die dazu geführt haben mögen, dass unser Sohn das Fläschchen verweigerte; Angst vor einer PEG-Sonde; Erleichterung, es wieder einmal geschafft zu haben; Hoffnung, die Sonde möge dieses Mal länger als einen Tag ›drinnen‹ bleiben; Ungewissheit, wie das alles weitergehen würde und ob unser Baby eines Tages würde selbst essen können; Müdigkeit aufgrund körperlicher und geistiger Erschöpfung durch die Anstrengungen der Vergangenheit und schließlich Verzweiflung wegen der ganzen Situation. Die ganzen Gefühle will ich danach immer loswerden. Hochprozentiger Alkohol, um diese Gefühle aus mir rauszubrennen? Etwas zertrümmern? Sich doch zurückhalten, um meine Frau, die all das ähnlich fühlt, nicht noch mit den eigenen Emotionen zu überrollen? Ich gehe dann oft aus dem Zimmer, schlage entweder mit der Faust auf den Türrahmen des Nachbarzimmers oder pfeffere irgendetwas in eine Ecke und versuche, wieder runterzukommen. Und ahne, das gleiche Spiel wird morgen wieder von vorne losgehen. Vielleicht.« (Persönliche Auskunft, 15.11.18) Anhand des Beispiels wird deutlich, dass das Wer, mit Wem und Wo eine wesentliche Rolle spielt. Relational ist es offensichtlich, dass die ansonsten gleiche Prak4 Die PEG-Sonde ist ein endoskopisch angelegter künstlicher Zugang von außen durch die Bauchdecke in den Magen, der bei langfristiger künstlicher Ernährung eingesetzt wird. PEG steht für »Perkutane Endoskopische Gastrostomie«.

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tik des Magensonde-Legens äußerst unterschiedliche Emotionen mit sich bringt, je nachdem, ob sie von einer Pf legekraft oder von den Eltern durchgeführt wird. Ein Großteil v.a. der elterlichen Emotionen ist der Pfadabhängigkeit, den vielfältigen intensiven Erfahrungen der Eltern zuzuschreiben. Außerdem gibt es räumliche und zeitliche Aspekte, die von Interesse sind: Zunächst das zeitliche »Davor« der Praktik, währenddessen sich im Beispiel der Vater räumlich annähert und die Erinnerung an die bereits in der Vergangenheit ausgeübte Praktik Emotionen freisetzt (Anspannung, Frust, Angst). Anschließend wird die Praktik wie beschrieben durchgeführt. Hierbei wird zur besseren Konzentration auf die Praktik scheinbar versucht, die Emotionen beiseite zu schieben. Das »Danach« der Praktik wird jedoch mit einem emotionalen Ausbruch geschildert, der im Beispiel in Form einer räumlichen Distanzierung geschieht, um die Frau und das Kind nicht mit den eigenen Emotionen zu »überrollen«. Die »Routinisierung« der Praktik, die zeitlich und räumlich eingeübten Tätigkeiten der Praktik des Magensonde-Legens, sind ein Mittel, um die möglicherweise störenden Emotionen zu bändigen. Dies kann als eine Art Coping-Strategie angesehen werden, ähnlich wie ein Profi-Fußballer sich vor dem Elfmeter den Ball angespannt hinlegt, ein festes Repertoire an Automatismen abspult (Schrittzahl, Zupfen an Hose, tiefes Durchatmen etc.), um die Emotionen wie Druck u.ä. zu beherrschen, und dann im Nachgang emotional jubelt oder frustriert aufschreit. Das Wo des Settings ist ebenfalls von Bedeutung, da sich Erinnerungen und Erfahrungen in Räume einschreiben. Alleine das Wiedereintreten in dieses räumliche Setting aktiviert diese Erinnerungen wieder – in unserem Beispiel ist dies auch noch das eigene Zuhause mit all seinen akkumulierten Erinnerungen jenseits des Settings des Magensonde-Legens.

Vorschlag einer praxistheoretischen Analyse Die von Schatzki vorgeschlagene Beschreibung der emotionalen Dimension von Praktiken in Form der teleoaffektiven Strukturen würde in unserem Beispiel folgende Kernpunkte herausgreifen: Die Praktik des Magensonde-Legens ist intern geordnet und abgestimmt durch verschiedene Aspekte. Dazu zählen in dieser Praktik angelegte »Ziele« und »Aufgaben«, die normativ aufgeladen und mit Emotionen oder Stimmungen verbunden sind. Eine Person, die eine Magensonde legt, verfolgt damit das Ziel, einem Kind Nahrung zuzuführen, das auf andere Weise zum gegebenen Zeitpunkt keine Nahrung aufnehmen kann. Zu diesem Ziel gehören weiterreichende Ziele wie bspw. »das Überleben des Kindes sichern« und »die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes unterstützen«. Diese Ziele sind normativ verankert, z.B. sind sie mit dem Schutz des Lebens verbunden, was ein zentraler gesellschaftlicher/menschlicher Wert ist. Das hier gewählte Beispiel

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zeigt deutlich, dass die Ebene des Telos schwer trennbar ist von der Ebene der Emotion. Die Praktiken des Magensonde-Legens und insbesondere das darin enthaltene Ziel, ein Kind zu ernähren und sein Leben zu fördern, sind von Emotionen durchdrungen, sowohl mit Emotionen wie »Angst« (vor dem Verlust dieses Lebens; vor beruf lichem oder persönlichem Versagen) als auch Emotionen wie »Zuneigung und Liebe« für das Kind. Wie aus den beiden oben stehenden Schilderungen hervorgeht, sind mit diesen offensichtlichen Zielen und Emotionen jedoch eine ganze Reihe weiterer Anteile von Emotion verbunden, die sich aus spezifischen Rollen bzw. Subjektwerdungen der jeweils die Magensonde legenden Person ergeben. Hier erweist es sich als essenziell, die singulären Situationen im Hinblick auf das situative Erfahrung-Machen ernst zu nehmen. Während Schatzki generell die Komplexität teleoaffektiver Strukturen betont, finden sich in seinen Beispielen wenige Hinweise darauf, wie diese Komplexität konzeptionell und empirisch erfasst werden kann. Das Konzept der teleoaffektiven Strukturen erweist sich als geeignet, um das überindividuelle Erfahren-Werden und die sozial akzeptierten und geteilten Regelhaftigkeiten der Praktiken insbesondere über die in ihnen angelegte Zielhaftigkeit und die damit verbundenen Emotionen zu beschreiben. An dieser Stelle möchten wir jedoch den Einbezug des Singulären stark machen. Hier helfen Deweys Begriff lichkeiten, um nachvollziehen zu können, wie sich in immer neuen Situationen die beteiligten Akteure gegenseitig auch hinsichtlich ihres emotionalen Durchlebens neu hervorbringen bzw. bestimmte Pfadabhängigkeiten ausbilden. In der Beschreibung des Magensonde-Legens aus Sicht eines betroffenen Vaters wird insbesondere Letzteres nachvollziehbar. Die Gefühle von Frust, Wut und Aggression, die er nach Abschluss der Praxis empfindet und die sowohl einen räumlichen Wechsel (Verlassen des Zimmers) als auch eine körperliche Reaktion (etwas in die Ecke werfen, gegen den Türrahmen schlagen) hervorrufen, sind in der Praktik als solche nicht angelegt und nicht zielführend in Bezug auf den Nutzen des Magensonde-Legens. Sie haben sich aber im Laufe der vielfältigen Ausführungen und aufgrund der spezifischen Beziehung zum Patienten (das eigene, kleine Baby, welches man als Vater eigentlich vor allem Schmerz schützen will und dem man nun selbst solche Dinge antun muss) derart verfestigt und mit der Praktik verf lochten, dass sie bereits vor dem eigentlichen Legen der Magensonde eine Rolle spielen. Sie kommen bspw. in der gehetzten Fahrt nach Hause und in der angespannten Begrüßung zum Ausdruck. Die Erfahrung des Magensonde-Legens besteht für den Vater demnach zum einen aus dem praktischen Tun (dem richtigen Fixieren des Kindes, dem Stützen des Köpfchens, leicht nach vorne geneigt, um bei der Überwindung des Kehlkopfdeckels zu helfen), welches er nach vielen Wiederholungen gut beherrscht. Zum anderen sind mit diesem Tun ganz spezifische, in diesem Fall vor allem negative Emotionen verbunden. Hilf losigkeit, Frust, Angst, Wut sind zu festen Bestandteilen dieses Praktiken-Arrangements-Bündels geworden. Auch

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ein Ref lektieren diese Erfahrung wird deutlich, wenn der Vater erzählt, dass er jetzt (wie sehr oft nach dem endlich erfolgreichen Legen der Sonde) den Raum verlässt, um seine Frau nicht noch zusätzlich mit seinem emotionalen Durchleben zu belasten. Dass die intellektuelle Ref lexion in dem hier vorgestellten Fall dennoch zu keiner Veränderung der Praktik führt, ist mit den situativen Rahmenbedingungen zu erklären. Hätte es eine Alternative gegeben, so wäre diese ergriffen worden, um die als so belastend empfundene Praktik des Magensonde-Legens umgehen zu können. Abgesehen von dieser »situativen Gefangenheit« kann es aber über die Grenzen der Magensonde-Erfahrung hinaus zu Ref lexionen kommen, die andere Situationen und andere Bereiche des Erfahrung-Machens beeinf lussen können. Dies ist eine weitere Form der Pfadabhängigkeit, die ihre Wirkmächtigkeit unseres Erachtens vor allem aus der Erinnerung an die entsprechenden Emotionen bezieht. Vielleicht werden die Eltern, deren Kind es schon von Anfang an so schwer hatte, später deutlich nachsichtiger erziehen – oder aber entsprechend der sogenannten »Helikoptereltern« besonders auf das Kind aufpassen, da sie die Fragilität des kleinen Lebens noch so deutlich vor Augen haben. Eine derart dichte Beschreibung der emotionalen Dimension von Erfahrungen und darüber hinaus der Versuch, die sich daraus ergebenden Pfadabhängigkeiten nachzuzeichnen, weist unseres Erachtens auf bestimmte methodologische Überlegungen und methodische Umsetzungen hin. Diese sollen abschließend kurz angerissen werden, wobei für eine umfassendere Auseinandersetzung mit methodologischen Überlegungen auf den Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks« verwiesen wird. Emotion auf konzeptioneller Ebene als einen wesentlichen Teil sozialer Praktiken zu fassen, ist für sozialwissenschaftliche und humangeographische Forschung von wesentlicher Bedeutung. Daraus ergibt sich zwingend die Frage nach geeigneten methodologischen Ansätzen und methodischen Zugängen zu den emotionalen Anteilen in Praktiken. Während bereits die Operationalisierung von Forschungsfragen, die soziale Praktiken als Gegenstand haben, alles andere als trivial ist, zeigt sich dies umso mehr bei Emotionen, die als Teil sozialer Praktiken sowie auch individueller (psychologischer) Dynamiken verstanden werden können. Hierbei betonen aktuelle Forschungsarbeiten ethnographische Ansätze und legen einen Schwerpunkt auf non-repräsentationale Zugänge zu Emotion und auf die Ref lexivität der forschenden Person (u.a. Pratt 2012; Watson 2012). Eigene ethnographische Forschungen der Autor*innen (u.a. Stephan 2019, i.E.; Hoppe-Seyler 2019, i.E.; Lahr-Kurten 2018) unterstreichen die Relevanz, methodologische Ansätze für die Erfassung emotionaler Erfahrungen von Forscher*innen und Forschungspartner*innen, z.B. während teilnehmender Beobachtungen, (weiter) zu entwickeln. Emotionale Erfahrungen als kontextspezifische, aber geteilte, überindividuelle empirische Daten ernstzunehmen, auf geeignete Weise

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zu dokumentieren und einer Analyse sozialer Praktiken zugänglich zu machen, wird hier als eine noch nicht umfassend erfüllte Aufgabe für humangeographische Forschung festgehalten. Wie dieser Beitrag aufzeigt, birgt genau diese dezidierte und dem/der Forschenden eventuell nahegehende Auseinandersetzung mit Praktiken und (eigenen) Emotionen jedoch ein weitreichendes Potenzial, um soziale Dynamiken zu verstehen.

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Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie Judith Wiemann, Susann Schäfer und Fabian Faller

Einleitung Dass wirtschaftliche Prozesse ein elementarer Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklungen und damit in soziale Prozesse eingebettet sind, gilt unter dem Begriff der social embeddedness (Glückler 2001) inzwischen in vielen wirtschaftsgeographischen Forschungen allgemein als akzeptiert. Dies findet Ausdruck darin, dass soziale, kulturelle und politische Teilaspekte in wirtschaftsgeographischen Forschungsprojekten berücksichtigt, erhoben und analysiert sowie in Beziehung zu wirtschaftlichen Prozessen im Raum gesetzt werden. Auch die Abkehr vom homo oeconomicus und anderen vereinfachenden Akteurs- und Handlungskonzepten wurden in der Wirtschaftsgeographie durch den Einf luss von Sozialund Kulturwissenschaften geprägt (Bathelt/Glückler 2002, 2003). Damit hat die Wirtschaftsgeographie als Disziplin maßgeblich von den Arbeiten verschiedener Praxistheoretiker*innen (z.B. von Pierre Bourdieu, Anthony Giddens oder Bruno Latour)1 profitiert, indem menschliches Handeln in wirtschaftsbezogenen Fragen realitätsnäher und im Kontext von Gesellschaft und Institutionen verstanden wurde. Praxeologisch inspirierte Forschung findet sich in der Wirtschaftsgeographie in einigen der wichtigsten Interessengebieten der Disziplin. Während Wissensund Innovationsprozesse schon häufiger mit einer expliziten Praxisperspektive untersucht worden sind (Ibert 2007), gelten andere Forschungsfelder der Wirtschaftsgeographie, z.B. die Clusterforschung, aber auch die Forschung der kulturellen Geographien der Ökonomie (Berndt/Boeckler 2009, 2010; Ouma 2012),

1 Es gilt als umstritten, ob Bruno Latour zu den Praxistheoretikern gezählt werden kann. Schatzki ordnet Latours Werk dabei nicht zu den Praxistheorien, sondern zu den »theories of arrangement« (Schatzki 2002: XII). Dabei wird er aber mit seiner Actor-Network-Theory durchaus in der Wirtschaftsgeographie wahrgenommen (siehe weiter unten im Text). Reckwitz (2002: 243) sieht Latours Actor-Network-Theory hingegen als wichtigen Grundbaustein für praxistheoretisches Denken. Daher zählen wir ihn hier zum breiteren Kanon der Praxistheorien dazu.

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als deutlich von praxeologischen Grundgedanken beeinf lusst. Praxistheorien werden außerdem zunehmend als theoretische Erweiterung der relationalen Perspektive und als Gegenpol zu traditionellen raumwirtschaftlichen Erklärungsansätzen berücksichtigt (Jones/Murphy 2011). Eine exemplarische Untersuchung (zur Methodenübersicht und zu den Resultaten siehe Anhang) ergibt allerdings ein wenig kohärentes Bild der Rezeption praxistheoretischer Texte in der Wirtschaftsgeographie. In dem ausgewählten wirtschaftsgeographischen Korpus (14.378 einschlägige Publikationen aus 23 wissenschaftlichen Zeitschriften mit Relevanz für das Forschungsfeld der Wirtschaftsgeographie) werden in 5,2% der Artikel Praxistheoretiker*innen zitiert.2 Zu den am häufigsten zitierten Praxistheoretiker*innen in wirtschaftsgeographischen Artikeln zählen Pierre Bourdieu mit seinem umfassenden Werk zu Habitus und Disposition (z.B. Bourdieu 1984 [1977], 1990), Antony Giddens mit seiner Strukturationstheorie (z.B. Giddens 1979, 1984) sowie Bruno Latour und Michel Callon als Vertreter der Science-and-Technology-Studies (z.B. Latour 2005, 1999 [1987]; Callon/Law/Rip 1998). Insbesondere fällt in diesem, wenn auch rein quantitativen, Einblick in die Rezeption praxistheoretischer Texte auf, dass über 80% der Artikel mit praxistheoretischer Referenz, nur eine einzelne solche Referenz aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass der praxistheoretische Kanon als gemeinsamer Theoriestrang in der Wirtschaftsgeographie nur wenig wahrgenommen wird (sonst wäre eine deutliche Häufung verschiedener Praxistheoretiker*innen in den Zitationslisten der Artikel des Korpus zu erwarten gewesen). Jones (2014) bestätigt dieses Bild im Umgang mit Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie auch aus qualitativer Perspektive. Er arbeitet heraus, dass der Bezug zu Praxistheorien in wirtschaftsgeographischen Arbeiten sehr divers und nicht explizit als Denkschule erkennbar ist (Jones 2014: 606; siehe auch Jones/ Murphy 2010, 2011). Dies mag auch daran liegen, dass die Praxistheorien als wissenschaftlicher Kanon selbst oft kein klares und kohärentes Bild ergeben. Der Kanon der Praxistheorien zeigt eine Vielzahl von theoretischen Strängen, die zwar eine gewisse »Familienähnlichkeit« aufweisen, bei genauerer Betrachtung aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen (Reckwitz 2003). Das lässt sich z.T. darin begründen, dass praxistheoretische Ansätze und Konzepte in den letzten fünf Jahrzehnten oftmals unabhängig voneinander entwickelt wurden, zudem werden sie aktuell noch kontrovers diskutiert. Ein weiterer Grund liegt in der Skepsis praxistheoretischer Ansätze in Bezug auf zu viel Systematisierung (einige raten sogar davon 2 Eine Einschätzung, ob dies eine große oder kleine Zitationsrate ist, müsste durch einen Vergleich zu anderen Theoriesträngen, wie z.B. der Systemtheorie, erfolgen, die uns derzeit nicht vorliegt. Die Präsenz von praxistheoretischen Texten im Korpus und damit im wirtschaftsgeographischen Schreiben kann aber durch dieses Ergebnis durchaus festgehalten werden.

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie

ab), weil diese vom Objekt der Praxistheorie – den Praktiken selbst – ablenken kann (Hillebrandt 2014: 9). Dennoch werden in der praxistheoretisch orientierten Forschung zurzeit immer mehr Stimmen laut, die versuchen, die Gemeinsamkeiten praxistheoretischen Denkens aufzuzeigen und so ein deutlicheres Bild dieses Theoriekanons zu entwickeln (für erste Bemühungen siehe Reckwitz 2002, 2003; neuer z.B. Hillebrandt 2014; Schäfer 2016; Hui/Schatzki/Shove 2017). Wir glauben, dass eine systematische Annäherung an praxistheoretisches Denken für die Wirtschaftsgeographie einen großen Mehrwert bringen kann, insbesondere da praxistheoretisches Arbeiten epistemologische und ontologische Implikationen mit sich bringt, die sich für die unterschiedlichen praxistheoretischen Denkrichtungen in ähnlicher Weise ergeben (Schatzki 2016). Obgleich die wirtschaftsgeographische Forschung durchaus praxeologisches Vokabular aufgreift, werden aktuell diskutierte Theorieentwicklungen auf dem Feld der sozialen Praktiken (v.a. vertreten durch Theodore Schatzki, Elizabeth Shove, Mika Pantzar und Matt Watson, aber auch durch die Wirtschaftsgeographen James Murphy und Andrew Jones) noch nicht systematisch in der Wirtschaftsgeographie aufgegriffen. Wir denken, dass die Konzeption wirtschaftlicher Aktivitäten als soziale Praktiken im Sinne von Schatzki (1996, 2002, 2016) die Verknüpfung individueller Handlungen sowie übergeordneter wirtschaftlicher Prozesse erlaubt und eine neue Sensibilität für die Konstruktion des Raumes und die Konzeption von Skalen ermöglicht. Im Folgenden gehen wir in einem ersten Schritt auf die Gemeinsamkeiten im praxistheoretischen Denken ein, die als Basis für einen systematischeren Umgang mit der Praxistheorie in der Wirtschaftsgeographie dienen können. Danach diskutieren wir im Detail die Vorteile und Schwierigkeiten, die sich aus dem Denken wirtschaftsgeographischer Forschungsfelder in einer »f lachen Ontologie« ergeben (Schatzki 2016). Anschließend stellen wir drei wirtschaftsgeographische Themenfelder vor (Praktiken innerhalb von Unternehmen, Praktiken wirtschaftlicher Beziehung, Entstehung und Auf lösung von Wirtschaftsformen/-praktiken) und zeigen, wie mit einem praxistheoretischen Ansatz neue Erkenntnisse bereits gewonnen werden bzw. in Zukunft gezielt generiert werden können. Im Fazit fassen wir abschließend die wesentlichen Argumente des Beitrags zusammen.

Kernaspekte praxistheoretischen Denkens Reckwitz ordnet Praxistheorien als Teil der Kulturtheorien ein. Kulturtheorien zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie »die soziale Welt […] über sinnhafte Wissensordnungen, über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, durch im weitesten Sinne symbolische Ordnungen« verstehen (Reckwitz 2002: 245f.). Er unterscheidet Praxistheorien von anderen Kulturtheorien dahingehend, dass sie

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das »Soziale« ontologisch in Praktiken verorten und nicht im Mentalen (Kultu­ ralismus), in Zeichenketten, Symbolen und Diskursen (Textualismus) oder in sozialer Interaktion (Intersubjektivismus) (Reckwitz 2002: 244ff.).3 Grundsätzlich lassen sich jene theoretischen Ansätze als Praxistheorien bezeichnen, in denen Praktiken eine zentrale analytische Kategorie bilden und die »damit eine Reihe etablierter philosophischer und soziologischer Dichotomien zu überwinden suchen« (Schäfer 2016: 11), z.B. die Dichotomie zwischen Mikro- und Makroper­ spektive. Praxeologisches Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es Handlungen nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Zusammenhang von miteinander verbundenen Praktiken (Schatzki 2002: 2). Um zu verstehen, was es bedeutet, das Soziale ontologisch in Praktiken zu verorten, brauchen wir zunächst einen klareren Begriff von dem, was wir unter Praktiken verstehen. Für Reckwitz ist eine Praktik ein »routinized type of behav­ ior« (2002: 249). Diese Aussage muss jedoch in Kontext gesetzt werden, da sie die Interpretation von Praktiken als Gewohnheiten eines Einzelnen zulässt und den sich wiederholenden und intersubjektiven, kollektiv hervorgebrachten Charakter von Praktiken nicht deutlich genug hervorhebt. Reckwitz geht davon aus, dass Praktiken Muster darstellen, die durch vielfältige Einzelhandlungen konstruiert und reproduziert werden (ebd.: 250). Auf diese Weise bestehen Praktiken zwischen und über die spezifischen Momente ihrer Inkraftsetzung hinweg (Shove/ Pantzar/Watson 2012: 7). Individuen werden als »Träger« einer Praktik betrachtet. Auf diese Weise werden Verstehen, Know-how oder Bedeutungen nicht als persönliche Attribute von Akteuren verstanden, sondern als konstituierende Elemente (oder Qualitäten) einer Praktik – von denen eine bestimmte Person ein Träger ist. Methodologisch ist zu beachten, dass soziale Praktiken analytisch im Vordergrund stehen, um Regeln, Motivationen oder Interessen zu untersuchen. Dies erfordert für wirtschaftsgeographisches Forschen, das häufig von interessengeleiteten Akteuren ausgeht, einen Perspektivwechsel (Jones/Murphy 2011). Jones und Murphy definieren sozioökonomische Praktiken als: »stabilized, routinized, or improvised social actions that constitute and re-produce economic space, and through and within which diverse actors (eg, entrepreneurs, workers, caregivers, consumers, firms) and communities (eg, industries, places, markets, cultural groups) organize materials, produce, consume, and/or derive meaning from the economic world« (ebd. 2011: 367).

3 Für eine genauere Abgrenzung von Praxistheorien zu anderen Sozialtheorien und insbesondere eine genauere Aufzeigung wie praxistheoretisches Denken entstanden und wo es seine fundamentalen Bausteine hernimmt siehe Beitrag »Vom Wissen über das Tun« in diesem Handbuch.

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie

Mit dieser Definition gelingt es Jones und Murphy, wirtschaftsgeographische Interessengebiete mit praxistheoretischem Denken zu verknüpfen. Der Fokus liegt dabei auf der Produktion und Reproduktion des wirtschaftlichen Raumes sowie auf der Organisation von wirtschaftlichen Prozessen und ihrer Bedeutung. Eine Gemeinsamkeit von Praxistheorien ist die Betonung der materiellen Dimension von Praktiken. Praktiken sind demnach zugleich unmittelbarer Ausdruck und oft auch Ursprung bestimmter materieller Arrangements. Bei Schatzki (2002) sind Arrangements z.B. die materiellen Kontexte für Praktiken und umfassen vier Aspekte: beteiligte Menschen, Organismen (nichtmenschliche Lebewesen), Artefakte und Dinge. Praktiken und Arrangements bedingen sich für Schatzki gegenseitig: »Practices effect, use, give meaning to, and are inseparable from arrangements while arrangements channel, prefigure, facilitate, and are essential to practices.« (Schatzki 2015: 1) Diesen Zusammenhang (Nexus) nennt Schatzki »Praktiken-Arrangement-Bündel«. Empirische Forschung befasst sich dann mit genau diesen Bündeln, was sie auszeichnet, wie sie sich zusammensetzen, wie sie zu anderen Praktiken-Arrangement-Bündeln in Beziehung stehen und wie sie sich im Lauf der Zeit ändern. Durch den starken Einbezug von Materialität können mögliche Analysedimensionen erweitert werden und neue Forschungsfragen entstehen. Diese aktive Bedeutungszuschreibung an Dinge, Materie, Umwelt oder technologische Artefakte ermöglicht der Wirtschaftsgeographie einen aktiven Umgang mit eben jenen Phänomenen, die die räumliche Dimension wirtschaftlicher Entwicklung maßgeblich prägen. Wirtschaftliche Prozesse vor dem Hintergrund dieser neuen Materialitäten und gemeinsamen Praktiken zu fassen, bietet die Chance wechselhafte Zusammenhänge und Beziehungen unternehmerischer Entwicklung in ihrem jeweiligen Kontext neu zu denken. Auch für Fragen ökologisch-nachhaltiger Entwicklung bieten Praxistheorien damit einen soliden theoretischen Anker.

Wirtschaftsgeographie in einer flachen Ontologie denken Ein wichtiger Aspekt für praxistheoretisches Denken und Analysieren wirtschaftsgeographischer Fragestellungen ist der Umgang mit der von Schatzki propagierten »f lachen Ontologie«, d.h. der Abkehr von skalarem Denken und Interpretieren (Schatzki 2016). Hierin liegt eine zentrale Herausforderung für das wirtschaftsgeographische Arbeiten mit praxistheoretischen Ansätzen. Die Beantwortung wirtschaftsgeographischer Fragestellungen wird häufig unterstützt durch Skalierungen, bspw. in territoriale (lokal, regional, national, global) oder in funktionale und relationale Einheiten (Unternehmen, Branche, Sektor, Wirtschaftssystem, Nische, Regime, Megatrend). Im Folgenden werden einige Denk-

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anstöße formuliert, wie mit der Herausforderung der f lachen Ontologie umgegangen werden kann. Zunächst brauchen wir hierfür eine klarere Vorstellung von dem, was Schatzki unter einer f lachen Ontologie4 versteht, die er als gemeinsames Charakteristikum für praxistheoretisches Denken5 herausarbeitet (ebd. 2016: 29f.). Praxistheoretische Ontologien sind f lach in dem Sinne, dass sie Praktiken als das zentrale Element in der Konstitution sozialer Phänomene betrachten und dass sie das Plenum von Praktiken (alle miteinander verbundenen Praktiken) auf einer einzigen Ebene verorten. Schatzki argumentiert, dass die Praktiken-Arrangement-Bündel an verschiedenen Orten existieren, ohne dabei eine ontologische Maßstäblichkeit zu erzeugen. Statt zwischen Mikro- und Makroebenen, die ontologisch getrennt voneinander existieren (wohl aber in Beziehung stehen und aufeinander wirken) zu unterscheiden, geht praxistheoretisches Denken von einem Plenum von Praktiken aus, die sich auf einer einzigen, f lachen ontologischen Ebene erstrecken. Schatzki spricht dabei von kleinen oder großen sozialen Phänomenen, anstelle von Mikro- oder Makroebenen. Soziale Phänomene wie Institutionen, Systeme, Strukturen, die in nicht f lachen Ontologien typischerweise auf der Makroebene angesiedelt werden, sind in einer f lachen Ontologie nur als »Produkte, Elemente oder Aspekte von Praktiken (genauer: Praktiken-Arrangement-Bündeln)« (Schatzki 2016: 34) zu verstehen und zu analysieren. Sie können allerdings einen Einf luss auf multiple Praktiken haben und somit als große soziale Phänomene gesehen werden. Als wie groß oder wie klein diese Phänomene in der Analyse gewertet werden, kommt dabei aber immer auf das jeweils herangezogene Vergleichsuniversum an. Beispiele für große soziale Phänomene sind multinationale Unternehmen oder Regierungen als Formen gesellschaftlicher Ordnung. Schatzki versteht die soziale Welt als komplexe Mischung zusammenhängender Praktiken-Arrangement-Bündel, die sich gegenseitig ermöglichen und behindern, befruchten und entzweien (Fladvad/Dünckmann 2016: 28). So wird auch die wiederholte Ausübung und schleichende Veränderung von Praktiken-Arrangement-Bündeln zum zentralen Mechanismus für Stabilität und Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft. Wirtschaft kann in diesem Sinne als großes soziales Phänomen betrachtet werden. Ein konsequentes praxistheoretisches Denken in Bezug auf wirtschaftsgeographische Fragestellungen bedeutet demnach, dass wirtschaftsgeographi4 Schatzki versteht unter einer Ontologie »Aussagen über die grundlegende Verfasstheit und Struktur, über die Dimensionen oder Elemente eines bestimmten Phänomens oder dazugehörigen Bereichs – oder einfacher: die expliziten oder impliziten Vorstellungen davon.« (2016: 29) 5 Schatzki bescheinigt diese »Flachheit« der Ontologie von Praxistheorien für Schriften folgender Autor*innen: Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Stephen Kemmis, Andreas Reckwitz, Robert Schmidt, Elizabeth Shove (ebd. 2016: 29).

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie

sche Phänomene aus den sie konstituierenden Praktiken heraus analysiert werden müssen. Auch der Widerspruch zwischen einer f lachen Ontologie und wirtschaftsgeographischer Skalierung lässt sich dann bei genauerer Betrachtung auch auflösen. In weiten Teilen der Humangeographie wird die Verwendung von Skalen sehr kritisch hinterfragt (Escobar 2007; Kaiser/Nikiforova 2008; Marston/Jones/ Woodward 2005). Der Skalenbegriff wird hier zumeist aus konstruktivistischer Perspektive betrachtet, wonach Skalen nicht per se existieren, sondern sozial konstruiert werden. Damit stellen sie keine ontologische Kategorie dar (Marston 2016: 220). Wenn man diesen Gedanken aus der f lachen Ontologie der Praxistheorien weiterdenkt, so kann man Skalen als durch Praktiken (ontologische Kategorie) konstruiert begreifen. In der humangeographischen Skalendebatte wird außerdem die hierarchische Anordnung einer »Skalenpyramide«, die z.B. das Lokale unten und das Globale oben ansiedelt, infrage gestellt. Für Brenner (2001) werden Prozesse der Skalenstrukturierung besser verstanden als ein »mosaic of unevenly superimposed and densely interlayered scalar geometries« (ebd.: 606). Auch diese Perspektive auf Skalen lässt sich sehr gut mit praxistheoretischen Konzeptionen verbinden. Globalität wie auch Lokalität werden hier als soziales Phänomen durch das gleiche Element – Praktiken – konstruiert, womit eine Hierarchisierung a priori unlogisch wäre. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Skalenhierarchisierungen als soziale Konstruktionen durchaus existieren (z.B. wenn nationale Dachverbände von Sportvereinen als »über« den lokalen Vereinen stehend angesehen werden). So haben diese Skalenhierarchisierungen (auch wenn sie keine ontologische Kategorie in der Analyse darstellen) als soziale Phänomene durchaus gesellschaftliche und materielle Konsequenzen (Marston 2016: 221). Die praxistheoretische Perspektive verwehrt auch nicht die Verwendung von skalenbezogenen Begriff lichkeiten (z.B. lokal, regional, national oder global). Stattdessen werden Lokalität, Regionalität, Nationalität oder Globalität als (größere oder kleinere) soziale Phänomene begriffen, die ein Aspekt des Plenums von Praktiken sind und durch Praktiken konstruiert werden. Bei einer konsequenten Umsetzung praxistheoretischer Forschung muss aber auf einen sensiblen Umgang mit dem klassischen wirtschaftsgeographischen Vokabular, das sich auf Skalen oder skalare Zusammenhänge bezieht, geachtet werden. Für die wirtschaftsgeographische Forschung bringt das Denken in f lachen Ontologien einen spezifischen Mehrwert. So können Skalen, Institutionen, multinationale Großunternehmen, Wertschöpfungsketten, Cluster, Wissensbasen und andere im Forschungsinteresse der Wirtschaftsgeographie stehende Phänomene gleichermaßen als mehr oder minder große oder kleine soziale Phänomene begriffen werden, die sich in Praktiken manifestieren und durch sie konstruiert

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werden. Da diese sozialen Phänomene durch »hochgradige ontologische Gleichheit gekennzeichnet« sind (Schatzki 2016: 33), lassen sie sich mit einem Blick betrachten, der auf gemeinsame bzw. vergleichbare Praktiken geschärft ist. So können Brücken geschlagen werden zwischen bislang getrennt betrachteten Phänomenen (z.B. Unternehmensentwicklung und globale Wertschöpfungsketten). In dieser Auf hebung der Dichotomie von Struktur und Praxis sehen wir einen wichtigen Impuls der Praxistheorien für die Wirtschaftsgeographie. In der Analyse der Gemeinsamkeiten des doing business und dem damit verbundenen raumzeitlichen Wandel liegt besonderes Potenzial für praxistheoretisches Denken im Forschungsfeld. Wirtschaftliche und regionale Transformationsprozesse können als Wandel von Praktiken und von Praktiken-Arrangement-Bündeln begriffen werden. Der empirische Fokus kann dann auf bestimmte Praktiken gelegt werden, die in Firmen, Regionen und globalen Produktionsnetzwerken konkret untersucht und methodologisch mithilfe eines zooming in and out (Nicolini 2009) verbunden werden können. Diese Perspektive ermöglicht es nicht nur, soziale und damit auch wirtschaftliche Phänomene als Konstellationen verschiedener Praktiken-Arrangement-Bündel zu begreifen, sondern auch als Prozesse, die soziale und wirtschaftliche Praktiken und ihre räumlichen Dimensionen hervorbringen. Außerdem ermöglicht das Denken in f lachen Ontologien vermutete Wirkungen von großen sozialen Phänomenen, wie z.B. territorialen Institutionen, zu hinterfragen und ggf. zu dekonstruieren. So wird aus einem institutionstheoretischen Blickwinkel heraus bspw. erwartet, dass territoriale Institutionen (z.B. das Recht indigener Bevölkerung in Mexiko auf gesundheitliche Versorgung) eine Wirkung auf dies betreffende Praktiken haben (Gesundheitspraktiken indigener Bevölkerung). Wenn sich dies in der sozialen Realität als nicht gegeben erweist (die indigene Bevölkerung in einigen Gegenden Mexikos weiß z.B. gar nichts von ihrem Recht auf Gesundheitsversorgung), muss es – aus institutionstheoretischer Perspektive – als Ausnahme oder als Limitierung der Wirkung der Institution erst erklärt werden. Eine praxistheoretische Perspektive setzt die Existenz der Wirkung einer solchen Institution aber nicht voraus, sondern schaut darauf, wo und wie genau sich die betreffende Institution in Praktiken manifestiert oder auch nicht manifestiert. Nur als Teilaspekt dieser Praktiken kann eine Institution »gemacht« werden.

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie

Methodische Herausforderung: quantitative Methoden in der praxistheoretischen Wirtschaftsgeographie Eine wichtige Herausforderung für empirisches Arbeiten mit praxistheoretischem Fokus ist methodischer Art und bezieht sich auf die Nutzung quantitativer Verfahren, die dem verstehenden Ansatz der praxistheoretischen Forschung entgegenzustehen scheinen. Doch um große soziale Phänomene zu erfassen, können quantitative Methoden eine wichtige Rolle spielen (vgl. hierzu auch Beitrag »Soziale Praktiken in der Forschungspraxis – empirisch forschen mit Schatzkis site ontology« in diesem Buch). Beispielsweise lassen sich Arrangements quantitativ (und ggf. mit Georeferenzierung) untersuchen. Dies gilt z.B. für die Verbreitung von Konsumgütern, aber auch von Fabriken oder Verkehrsinfrastruktur und anderen Elementen, die eine wichtige Rolle in wirtschaftsgeographischen Studien innehaben. Eine weitere Möglichkeit quantitativer Messbarkeit von Praktiken besteht in der Ausgangsvorstellung, dass unterschiedliche Praktiken um die Zeit und Ressourcen der Träger von Praktiken konkurrieren (Shove/Pantzar/Watson 2012: 127ff.). So kann die Zeit, die an verschiedenen Orten für eine oder mehrere Praktiken aufgewendet wird, quantitativ erfasst werden. Für Konsumpraktiken, wie dem Einkaufen von Lebensmitteln, ist dies eine einleuchtende Herangehensweise, aber auch für die Praktiken von Unternehmen können sich neue Perspektiven ergeben. So könnte es sich als relevant herausstellen, wieviel Zeit von Mitarbeitenden in Unternehmen in sourcing- vs. selling-Praktiken stecken. Ein weiteres Beispiel sind Praktiken des Energieverbrauchs, die sich bspw. an Spitzenzeiten des Stromverbrauchs ablesen lassen (Torriti 2017). Um die genauen Zusammenhänge von solchen Praktiken interpretieren zu können, ist eine Ergänzung der quantitativen Methoden durch eine qualitative Herangehensweise oft sinnvoll.

Praxistheorien als Inspirationsquelle für wirtschaftsgeographische Forschung Durch die Herangehensweise der Praxistheorien ist es möglich, wirtschaftsgeographische Phänomene und deren Dynamiken – wie z.B. regionale Transformationsprozesse, Waren- und Wertschöpfungsketten, Unternehmensgründungen und -übernahmen – oder auch Querschnittsthemen wie Innovation und Wissensgenerierung als Praktiken-Arrangement-Bündel zu beschreiben und zu analysieren. Klassische Themen der Wirtschaftsgeographie können durch eine praxeologische Brille eine analytische Neuausrichtung erfahren. Eine Erweiterung

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wirtschaftsgeographischer Konzepte und theoretischer Debatten erscheint aus unserer Sicht insbesondere in drei Bereichen vielversprechend. Erstens (1) können Praktiken innerhalb von Unternehmen (und anderen Organisationen) mit einer klareren Trennschärfe untersucht werden, da Praxistheorien ein fundiertes Konzept des Praktikenbegriffs und des Zusammenspiels von unterschiedlichen Praktiken bieten. Daraus ergibt sich z.B. die Möglichkeit, die trotz zahlreicher Bemühungen laut Radwan und Kinder (2013) immer noch nicht ganz offene Blackbox »Unternehmen« aufzumachen. Unternehmen können als Praktiken-Arrangement-Bündel im schatzkianischen Sinne verstanden werden (Schatzki 2006). So lässt sich das »Tun« von Unternehmen (doing business im doppelten Sinne) praxistheoretisch konzeptionalisieren. Neuere praxistheoretische Ansätze aus den organisationstheoretisch basierten Business und Management Studies begreifen z.B. das »Machen« von Strategien als Praktik(-en) (Nicolini 2013). Beispiele sind interne Wissensmanagementpraktiken oder unterschiedliche Produktionspraktiken (Orlikowski 2002). Ein Konzept, das aus praxistheoretischer Sicht eine substanzielle theoretische Unterfütterung bekommen kann, ist das der organisationalen Routine in der evolutionären Wirtschaftsgeographie (Radwan/Kinder 2013). Aus Sichtweise der evolutionären Wirtschaftsgeographie konkurrieren Unternehmen durch ihre organisationalen Routinen mit anderen Unternehmen am Markt. Denn Routinen koordinieren die Fähigkeiten der Mitarbeitenden als eine Art organisationales Gedächtnis und können einen wichtigen Wettbewerbsvorteil für die Unternehmen bedeuten (Boschma/Frenken 2009: 152ff.). Eine Ausbreitung von besonders effektiven oder innovativen organisationalen Routinen kann dabei zu regionalen oder internationalen Lernprozessen von Unternehmen führen. Durch einen präzisen Praktikenbegriff können Forscher*innen zu einem tieferen Verständnis dieser Thematik gelangen, denn eine praxistheoretische Sicht auf die organisationalen Routinen öffnet den Blick für die Frage, wie diese Routinen neue Träger für sich rekrutieren – anstatt von vornherein von einer strategisch planvollen, durch ein Unternehmen oder andere Akteure angestrebte Diffusion auszugehen. Zweitens (2) können wirtschaftliche Beziehungen als Praktiken begriffen und untersucht werden. Ein solcher analytischer Zugang ermöglicht es, für die Wirtschaftsgeographie wichtige Themenfelder anders zu denken und den Fokus zu erweitern. Damit lassen sich Erkenntnisse über Praktiken gewinnen, die hinter den räumlichen Dynamiken und damit hinter Veränderungen industrieller Organisation stehen und unternehmerische Handlungen legitimieren, kontrollieren und koordinieren sowie die helfen, eine relationale Nähe oder Vertrauen zu erzeugen (Jones/Murphy 2010: 376). So kann z.B. die Entstehung von Märkten praxeologisch untersucht werden. Hierbei ist eine Stärke der Praxistheorien, dass sie die Performativität, bspw. von Marktverhalten, analytisch sichtbar machen (Berndt/Boeckler 2009). Dazu gibt es bereits erste geographische Studien, z.B.

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie

zum Thema der alltäglichen Konstruktion von Märkten (Ouma 2012). Weitere Beispiele sind die Vertriebspraktiken von Unternehmen, die Finanzierungspraktiken sowie Lern- und Innovationsprozesse, die durch Praktiken zwischen verschiedenen Akteuren entstehen. Darüber hinaus gibt es Organisationspraktiken von globalen Produktionsnetzwerken oder Praktiken, die in Clusterungsprozessen eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere Innovation als eine Antriebskraft wirtschaftlich-räumlichen Wandels wird außerhalb der Wirtschaftsgeographie bereits aus praxistheoretischer Sicht analysiert (Shove/Pantzar/Watson 2012: 11). Dieses zentrale Thema in der Disziplin könnte somit ein interessantes Feld zukünftiger Annäherungen sein. Drittens (3) können die Herausbildung und Verbreitung von neuen Praktiken sowie das Verschwinden von Praktiken mit einem praxistheoretischen Zugang konsequent beleuchtet werden. Neue Praktiken wären hier z.B. alternative Wirtschaftsformen wie das islamic banking oder Prozesse in co-working labs. Bei der Untersuchung von alternativen Wirtschaftsformen stehen oft »Governancepraktiken und deren Zusammenhang mit Entwicklungsstrategien, oder auch die Wechselbeziehung von Haushaltsökonomien und Alltagspraktiken mit der weiteren Wirtschaftsentwicklung im Fokus« (Faller 2016: 64). Aber auch in der technischen Innovationsforschung können Praxistheorien einen wichtigen Beitrag leisten. Hier wird technische Innovation als Teil des Arrangements im Praktiken-Arrangement-Bündel analytisch gut fassbar gemacht, während der Gebrauch und die Diffusion der Innovation durch den Praktikenbegriff abgebildet wird.

Forschungsbeispiel: 6 Praktiken innerhalb von Unternehmen – die Internationalisierung von Ausbildungspraktiken Praktiken innerhalb von Unternehmen (teilweise auch »organisationale Routinen« genannt) gelten sowohl in der internationalen Managementliteratur (Fortwengel 2017) als auch in der evolutionären Wirtschaftsgeographie (Boschma/Frenken 2009) als schwer transferierbar, da solch ein Transfer in der Regel eine Anpassung der Praktik an den neuen Kontext verlangt. In einem Forschungsprojekt zur Internationalisierung von Aus- und Fortbildungspraktiken in deutschen multinationalen Unternehmen nach Mexiko, Indien und China ergab sich dabei aus dem empirischen Material (173 qua-

6 Dieses Forschungsbeispiel stammt aus einem laufenden Dissertationsprojekt der Erstautorin Judith Wiemann. Es ist im Zusammenhang mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FU 424/16-1 und PI 418/5-1) geförderten Forschungsprojekt »Globale Strategien und lokale Formen der technischen Aus- und Fortbildung in deutschen multinationalen Unternehmen – ein regionaler Vergleich in Emerging Economies« entstanden. Herzlicher Dank geht an Martina Fuchs, Matthias Pilz und Kristina Wiemann für die gute Zusammenarbeit im Forschungsprojekt.

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Judith Wiemann, Susann Schäfer und Fabian Faller

litative Interviews mit Experten aus Unternehmen und dem Bildungssektor in den drei Ländern sowie aus den Unternehmenszentralen in Deutschland), dass manche Praktiken schwerer zu transferieren sind als andere. Insbesondere duale Ausbildungspraktiken (z.B. zum Werkzeugmacher oder Mechatroniker) erwiesen sich – im Vergleich zu anderen Einarbeitungspraktiken in der Produktion – als schwierig in die drei Emerging Economies zu übertragen (Wiemann/Fuchs 2018; Wiemann et al. 2018). Hierfür gaben existierende institutionstheoretische Ansätze keine schlüssige Erklärung, da diese nicht zwischen verschiedenen Praktiken im Transfer unterscheiden. Ein praxistheoretisch fundierter Zugang bietet jedoch die Möglichkeit, zwischen den verschiedenen Praktiken zu differenzieren. Eine wichtige Erklärung besteht darin, dass duale Praktiken komplexer sind als die anderen transferierten Ausbildungsformen, was die Möglichkeit eines Transfers beeinf lusst. So kann die praxistheoretische Perspektive bestehende institutionstheoretische Ansätze in der Wirtschaftsgeographie sinnvoll erweitern.

Fazit In der Wirtschaftsgeographie zeigt sich durchaus Interesse an praxistheoretischem Denken. Jedoch fehlt bisher eine stärkere Wahrnehmung verschiedener praxistheoretischer Zugänge – als ein zusammengehöriger theoretischer Kanon. Wirtschaftsgeographische Forschungsfelder aus der Perspektive einer f lachen Ontologie zu denken, erscheint zunächst als eine besondere Hürde für die Anknüpfung an klassischen Begriff lichkeiten der Wirtschaftsgeographie (z.B. Institutionen, Struktur, System etc.). Wie wir in diesem Beitrag aufzeigen, ist die Verwendung dieser Begriff lichkeiten auch aus einer praxeologischen Perspektive heraus möglich. Die f lache Ontologie bietet neue Denkanstöße sowie die Möglichkeit, diese Begriff lichkeiten und Konzepte zu hinterfragen und ein klareres Bild ihrer Substanz wie auch ihrer Wirksamkeit zu gewinnen. Praxistheorien bieten eine vielversprechende Analyseperspektive für wirtschaftsgeographische Forschungsfelder. Um diese aber in einer kohärenteren Weise zu nutzen, als dies bisher getan wurde, ist es wichtig, die gemeinsamen ontologischen und epistemologischen Fundamente von Praxistheorien deutlich erkennbar zu machen. Dies schafft einen klareren konzeptionellen Rahmen für praxeologisch orientierte Studien in der Wirtschaftsgeographie und eröffnet die Möglichkeit eines Dialogs zwischen praxistheoretischer Forschung und Wirtschaftsgeographie.

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Judith Wiemann, Susann Schäfer und Fabian Faller

Anhang Praxistheoretiker*innen, zitiert in einem ausgewählten Korpus von wirtschaftsgeographischen Texten Autor*in

Einträge in »Web of Science«Datenbank

Zitationsübereinstimmung mit einem wirtschafts­ geographischen Korpus von 14.378 Veröffentlichungen

Alkemeyer, Thomas

34

0

Blue, Stanley

38

0

37.355

239

12

0

Callon, Michel

3.578

166

Certeau, Michel de

4.507

35

Everts, Jonathan

84

1

Gherardi, Silvia

381

2

9.911

126

45

0

Jones, Andrew

NN7

NN

Knorr Cetina, Karin

977

21

14.348

232

Law, John

NN

NN

Maller, Cecily

447

6

Morley, Janine

11

0

Murphy, James

NN

NN

Nicolini, Davide

593

3

Reckwitz, Andreas

223

3

5

0

Schatzki, Theodore

828

9

Schmidt, Robert

NN

NN

Bourdieu, Pierre Buschmann, Nikolaus

Giddens, Anthony Hui, Allison

Latour, Bruno

Schäfer, Hilmar

7 Für diese Autoren war kein sinnvoller Korpus zu entwickeln, da es in der Datenbank zu viele andere Autoren mit derselben Vor- und Nachnamenkombination gibt.

Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie Autor*in

Einträge in »Web of Science«Datenbank

Zitationsübereinstimmung mit einem wirtschafts­ geographischen Korpus von 14.378 Veröffentlichungen

Shove, Elizabeth

1.309

41

Spurling, Nicola

27

0

Savigny, Eike von

10

0

Ward, Alan

NN

NN

Watson, Matt

288

11

Welch, Daniel

4

0

Summe

895

Doppelungen, Maximalzahl an Publikationen, die zwei oder mehr Publikationen von Praxistheoretiker*innen zitieren

147

Einfachzählung von Publikationen, die Praxistheoretiker*innen zitieren

748

In dem ausgewählten Korpus von 14.378 Publikationen der Wirtschaftsgeographie (der zum einen ausgewählt wurde über eine Liste von wichtigen wirtschaftsgeographischen Zeitschriften mit dem zusätzlichen Suchbegriff nach »econom*«8) zitieren 748 Texte wenigstens einen der in derselben Datenbank vermerkten Text, der von einem der oben in der Liste stehenden ausgewählten Praxistheoretiker*innen verfasst wurde. Maximal 147 Texte zitieren zwei oder mehr Praxistheoretiker*innen. Damit zitiert 5,2% der Texte aus dem wirtschaftsgeographischen Korpus von Praxistheoretiker*innen verfasste Texte, über 80% dieser Texte zitieren aber nur eine einzige praxistheoretische Referenz.

8 Suchbegriff verwendet für die Core Collection der Web-of-Science-Datenbank,: SO=(journal of economic geography) OR (economic geography) OR (progress in human geography) OR (transactions of the institute of british geographers) OR (annals of the association of american geographers) OR (political geography) OR (landscape and urban planning) OR (environment and planning a) OR (environment and planning d*) OR (regional studies) OR (international journal of urban and regional research) OR (professional geographer) OR (geoforum) OR (geographical analysis) OR (area) OR (applied geography) OR (social cultural geography) OR (antipode) OR (geographical journal) OR (world development) OR (geographische zeitschrift) OR (zeitschrift für wirtschaftsgeographie) OR (erde) AND TS=(econom*).

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Praktiken und Planung Florian Dünckmann, Dominik Haubrich und Simon Runkel

Einleitung und Problemstellung Räumliche Planung ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Welt. Der gelebte Raum, Ergebnis alltäglicher Praktiken wie zugleich auch deren Bühne, wird beeinf lusst, geprägt und strukturiert von Planungsprozessen. Diese umfassen die verschiedensten Planungsträger (neben dem Staat auch private Unternehmen und Akteure der Zivilgesellschaft), Maßstabsebenen (von der konkreten architektonischen Objektplanung über die kommunale Bauleitplanung bis hin zur übergreifenden Raumplanung im nationalen oder europäischen Maßstab) und zeitlichen Planungshorizonte (von der Eventplanung über die Katastrophenvorsorge bis hin zur Festlegung von allgemeinen Rahmenbedingungen für die zukünftige räumliche Entwicklung). Aus praxeologischer Perspektive ist dabei die Betrachtung von Planungsprozessen in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen kann die Praxis der Planung für praxeologische Fragestellungen erhellend sein, heben sich doch Planungspraktiken aus dem Plenum aller sozialen Praktiken dadurch hervor, dass sie in ihrem Vollzug andere, meist alltägliche Praktiken nicht nur miteinbeziehen, sondern diese darüber hinaus als explizites Objekt haben, indem sie auf deren Lenkung, Verhinderung, Ermöglichung, Infragestellung oder Legitimierung abzielen. So haben die Praktiken, die mit der planerischen Gestaltung eines öffentlichen Platzes verbunden sind, letztlich zum Ziel, bestimmte Praktiken (Spielen, Spazierengehen, Auf-einer-Parkbank-Verweilen etc.) dort möglich zu machen und andere (z.B. Parken) zu verhindern. Dieses Charakteristikum, dass sie auf die Beeinf lussung anderer Praktiken abzielen, haben Planungspraktiken dabei z.B. mit solchen des Unterrichtens (Röhl 2014) oder mit politischen Praktiken (Dünckmann/Fladvad 2016) gemeinsam. Aus diesem Grund kommt ihnen eine besondere Bedeutung zu, wenn es um die Betrachtung des Netzes sozialer Praktiken geht. Dabei gilt es zu analysieren, auf welche Weise bzw. vermittels welcher Übersetzungsmechanismen sich Planungspraktiken auf alltägliche Praktiken

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beziehen und welche besonderen Ordnungsstrukturen (Regeln, Wissen etc.) sie auszeichnen. Andersherum bietet die praxeologische Perspektive einen aussichtsreichen methodischen, analytischen und theoretischen Zugang zum Verständnis räumlicher Planung. Dabei erweist sich der offene Zugang, Planungen als eine Familie von Praktiken zu begreifen und damit eher über ihre Handlungslogik als über ihre strukturelle Einbettung abzugrenzen, als ein geeigneter Weg, die verschiedensten staatlichen und nicht staatlichen Planungsansätze in gleichberechtigter Weise in den Blick zu nehmen. Die spezifische Betrachtung der sozialen Welt als ein Netz sozialer Praktiken – zugleich Subjekt sowie Objekt der Planung – und deren Nacherzählung vermittels einer genauen Betrachtung konkreter Tätigkeiten sowie materieller Arrangements ermöglicht einen neuen Blick auf die Manifestationen allgemeiner Planungsgrundsätze und -strategien in konkreten orts- wie zeitgebundenen Situationen. Ein solcher Zugang zur räumlichen Planung erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, weil er von der Betrachtung der verschiedenen institutionellen Dimensionen, d.h. von Akteuren, Objekten, Hierarchie- und Maßstabsebenen der Planung zunächst absieht, um den Blick auf das eigentliche »Tun und Sagen« (vgl. Schatzki 1996) von Planer*innen zu lenken. In diesem Sinne ist das Objekt also weniger ein auf bestimmte Art und Weise organisierter Bereich der Gesellschaft – die »Planung« – als vielmehr die konkrete körperliche und Bedeutung tragende bzw. herstellende Praxis – das »Planen«. Ein Beispiel kann diesen Perspektivwechsel verdeutlichen: Die Unterschrift einer Reinigungskraft unter ihrem Stundenzettel lässt sich hinsichtlich ihrer gesamten gesellschaftlichen Verortung kaum mit der Unterschrift eines Staatsoberhaupts unter einem Gesetz vergleichen. Ein Blick auf das tatsächliche Tun und Sagen zeigt allerdings, dass beide aus der gleichen Praktik des Unterschreibens hervorgehen und dass auch die unterschiedlichen institutionellen Kontexte, in denen diese beiden Unterschriften jeweils eingebettet sind, letztlich aus konkreten Praktiken im Regierungsapparat bzw. in der Personalabteilung der Reinigungsfirma bestehen, die in ihrer Durchführung Bezug auf diese Unterschriften nehmen. Die Form und Intensität, mit der die Praktik des Unterschreibens also in ein Netz aus anderen Praktiken eingebettet ist, die damit ermöglicht, ausgelöst, verhindert etc. werden, bestimmt also letzten Endes ihre unterschiedliche Position in der Gesellschaft. Dieses Überspringen von vertrauten institutionellen Kategorien, wie bspw. Hierarchie- und Maßstabsebenen, Akteursrollen, Zielen etc., sollte dabei nicht als Mangel gesehen werden, kann es doch den Blick frei machen für sonst wenig beachtete Zusammenhänge. So zeigt sich erst dadurch die zentrale Bedeutung, die die Praktik des Unterschreibens, d.h. das Schreiben des eigenen Nachnamens in der eigenen, charakteristischen Handschrift, bei der Zuschreibung von Autorenschaft und Verantwortung in modernen Gesellschaften hat, wie sie z.B. in der Vollzugslogik von Bürokratie und Justiz von Bedeutung ist. Ein solcher Zugang

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über das konkrete Tun und Sagen von Planer*innen und Beplanten rückt dabei Dimensionen, wie bspw. die Materialität bzw. Körperlichkeit von Planungspraktiken, in den Vordergrund, die bislang in der planungstheoretischen Literatur, die Planung vor allem als ein System von Institutionen oder Akteuren aufgefasst hat, stark unterrepräsentiert waren. Hierin erweist sich dieser Ansatz als anschlussfähig an die zahlreichen Analysen von Planungskultur (vgl. Fürst 2007 mit einem frühen Überblick; Abram 2011; Knieling/Othengrafen 2014; Lange/Müller 2016; Abram/Weszkalnys 2016; Levin-Keitel/Othengrafen 2016), die sich gleichfalls für den planerischen Alltag in seiner Komplexität, Widerspenstigkeit und Widersprüchlichkeit interessieren (Müller/Lange 2016: 9). Diese Arbeiten sind gekennzeichnet durch einen kulturwissenschaftlichen bzw. ethnologischen Blick auf Planung und durch eine besondere Sensibilität für den konkreten sozialen Kontext, in dem sich Planungspraxis vollzieht. Eine wichtige Grundlage für dieses Forschungsprogramm war das Interesse an der Vielgestaltigkeit von Planungssystemen sowie die Einsicht, dass nicht allein eine Diskrepanz zwischen der abstrakten Auffassung von Planungsabläufen und dem tatsächlichen Planungsalltag besteht, sondern dass sich dieser Planungsalltag darüber hinaus auch als schwer zugänglich für die traditionelle wissenschaftliche Betrachtung erwiesen hat (Fürst 2004). Praxeologische Ansätze bieten dafür ein umfangreiches konzeptionelles und taxonomisches Angebot – von der genauen Betrachtung einzelner Praktiken bis hin zu ihrer Vernetzung in großen gesellschaftlichen Phänomenen (vgl. Everts 2016) –, um die reiche Topologie materieller, intentionaler und diskursiver Beziehungen nachzuzeichnen, in die Planungspraktiken eingebettet sind und die einer institutionen- oder akteursbezogenen Betrachtung entgehen. Im folgenden Verlauf dieses Beitrags soll die Beziehung zwischen Praktiken und Planung unter drei allgemeinen Gesichtspunkten in den Blick genommen werden: In einem ersten Schritt werden – u.a. auch mit Rückgriff auf Literatur zur Planungskultur – die Potenziale identifiziert, die sich aus den Praxistheorien für das Verständnis räumlicher Planung in ihrem konkreten Vollzug ergeben. Anschließend werden Praktiken als Objekt der Planung thematisiert und gefragt, wie bestehende planungstheoretische Konzepte praxistheoretisch übersetzt und damit geschärft bzw. erweitert werden können. In einem dritten Anlauf geht es um die Frage, inwieweit praxistheoretische Einsichten die Planung nicht nur neu analysieren, sondern sie darüber hinaus auch positiv verändern können, d.h. sie effektiver, inklusiver und demokratischer gestalten können. Bevor allerdings diese drei konzeptionellen Zugänge erprobt werden, sollen im folgenden Teil zwei konkrete Situationen aus dem Planungsalltag einer dichten Beschreibung unterzogen werden, um für die darauffolgenden abstrakten Überlegungen als empirische Beschreibungs- und Verdeutlichungsressource zu dienen. Diese zwei Situationen aus der nordchilenischen Stadt Antofagasta zeigen auch, in welch

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unterschiedlichen räumlichen, zeitlichen und institutionellen Kontexten Planungspraktiken eingebettet sind.

Beim Planen Planung verstehen – beispielhafte Planungspraktiken aus Chile CREO Antofagasta Antofagasta, Nordchile – Verladehafen für Salpeter und Kupfer. Es ist ein Donnerstagnachmittag. Die 40-minütige Fahrt führt uns weg vom internationalen Flughafen durch die Wüstenlandschaft, vorbei an Raffinerien, entlang der Küste ankernder Containerschiffe, vorüber an unzähligen Hüttensiedlungen und schließlich in die geschäftig wirkende Innenstadt der 360.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Ich – einer der drei Autoren des Beitrags – begleite meinen deutsch-chilenischen Kollegen der Universität Santiago de Chile auf seinen Feldstudien zu Governance-Prozessen. Wir sind zum Gesprächstermin bei CREO Antofagasta geladen, einer privatwirtschaftlichen Entwicklungsagentur. Unter Beachtung der stadtprägenden Elemente der Nachhaltigkeit, Diversität und der geographischen Lage am Pazifik ist es ihr Ziel, unter Einsatz vielseitiger Methoden audiovisueller und partizipativer Natur einen integrierten Stadtentwicklungsplan der Industrie- und Hafenstadt zu entwickeln. Das CREO-Büro befindet sich in prestigeträchtiger Lage in der Nähe des Hafens, in einem komplett sanierten Kolonialgebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Eingangsbereich empfängt die Gäste ein Büroambiente, wie es uns im neusten Coworking Space in Berlin begegnen könnte: abgezogene Dielenböden, helle Flurbeleuchtung, aufwendig gestaltete Informationsplakate mit Piktogrammen und klar verständliche Informationen zu den Potenzialen der Stadt (so entspreche das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Antofagasta dem Niveau Torontos). Modern gekleidete Mitarbeiter*innen wuseln an uns vorbei. Sie lachen untereinander, grüßen uns freundlich, auf Spanisch wie auf Englisch. Unsere erste Gesprächsstation bei CREO bringt uns zu L., der Leiterin für Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie erzählt von den aktuellen Projekten wie Straßenrevitalisierung, Grün- und Begegnungsf lächen und dem neuen Fahrradwegsystem. Im Vordergrund stehe die Partizipation. Der neuerliche Erfolg sei ein Sendeplatz beim hiesigen Radiosender: »Eine tolle Gelegenheit, den ungehörten Stadtgestalter*innen eine Stimme zu geben.« Das Projekt habe auf der HABITAT-III-Konferenz große Beachtung gefunden: »Stadt machen – mit allen für alle!« So sei es auch leichter, das Budget gegenüber dem privatwirtschaftlichen Investoren-Board zu begründen.

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Unsere nächste Station führt uns zu R., einem der Projektleiter von CREO Antofagasta. In einem Gespräch stellt er uns den aktuellen Projektabschnitt vor. Am Stadtrand wird eine der zahlreichen, von der Wüstenkordillere abfallenden, bereits asphaltierten Versorgungs- und Ausfallstraßen revitalisiert. Teilhabe durch Freiraumgestaltung und Infrastruktur-Bereitstellung. Technisches Vokabular dominiert seine Ausführungen: Klär- und Recyclinganlagen, Ausbau von Bürgersteigen, Straßenrandbegrünung. Stadt-machen als Querschnittsaufgabe von urban design. Und so arbeiten Architekten, Projektleiter und Graphiker bei CREO nicht nur gemeinsam in einem Großraumbüro, wohin wir nun unser Gespräch mit R. verlagern, sondern insbesondere auch auf organisatorischer Augenhöhe miteinander. Wir fragen, ob auch die Hüttensiedlung an der offiziellen Stadtgrenze, die in den letzten Jahren infolge der massiven internationalen Arbeitsmigration entstanden ist, Teil des Masterplans von CREO sei? Er verneint dies deutlich. Der Masterplan von CREO will Stadt machen, und dies beginne bei CREO in der Stadt. Die Hüttensiedlungen seien kein Planungsthema; zumindest keines, mit dem sich das Investoren-Board beschäftigen könne. Es gehe bei CREO um Potenziale und Auf bruch. Als ich mit meinem Kollegen die Agentur verlasse, haben wir keinen Zweifel: In den Büroräumlichkeiten von CREO Antofagasta lässt sich die Stimmung des Machens mit den Händen greifen!

Stadtplanungsamt Antofagasta Herr M. ist Stadtplaner im Stadtplanungsamt Antofagasta. Trotz bevorstehender Mittagspause werden wir an diesem Freitagvormittag noch zum Referatsleiter für Stadtentwicklung vorgelassen. Die Sekretärin begleitet uns durch den Gang des tiefen Großraumbüros mit seinem typischen Charme eines chilenischen Verwaltungsgebäudes: Trennwände, Aktenstapel, Wasserspender, Röhrenbildschirme mit Grußkarten von Bekannten. Das Büro von M. am Ende des Ganges entspricht dem Großraumbüro in klein und konzentrierter Form, denn in der Mitte steht ein mit Gutachten und Berichten übersäter Schreibtisch. M. sitzt tief in seinem Schreibtischstuhl. Als wir den Raum betreten, schaut er nur kurz zwischen den beiden großen Bildschirmen auf und hin zur Tür. Wie viele seiner Mitarbeiter*innen der Abteilung Urbanismo trägt auch M. eine blaue técnico-Weste mit dem markanten Logo der Kommune auf der Brust. Es gebe keine unterschiedlich wichtigen oder einzelnen Planungsthemen. Es gebe nur Planung als Ganzes, und die betreffe alle. Ohne jede Vorstellungsrunde weist er uns die beiden ausgefransten Besucherstühle zu, dreht einen der beiden Bildschirme herum, schiebt Akten, Pläne und Dokumente zur Seite, nimmt die Computermaus und öffnet per Doppelklick eine Präsentation. Es geht um den Sachstandsbericht (diagnóstico), an dem sie seit Monaten unter Hochdruck arbei-

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ten. Die junge Bürgermeisterin habe Planung zur Chefsache gemacht, und M. übersetzt dies in eine Querschnittsaufgabe aller Ressorts: Verkehr, Verwaltung, Gesundheit, Finanzen, Bildung, Umwelt, Klima, Recht. Und deswegen habe M. damit begonnen, die Realitäten aller Ressorts in diesem Sachstandsbericht zu versammeln. M. rauscht durch Themen wie neue Verkehrsachsen, Küstenverschmutzung, Umweltkatastrophen im Zusammenhang mit den Kupferextraktionen der beiden großen Minengesellschaften, Wasserverschmutzung und den zunehmenden Algenbestand, Freiraumgestaltung, Erschließung von Parkanlagen, die Hafenverlagerung, sowie die Konsolidierung und Verkehrserschließung der Hüttensiedlung im Hochrisiko-Siedlungsbereich der Kordilleren. Das diagnóstico sei sehr umfangreich, kommentiert mein Kollege nach dem ersten 30-minütigen Monolog. »Ja – aber das ist die Realität.« Zeit ist in der Kommune ein knappes Gut. Und Expert*innen zu gewinnen, sei auch nicht gerade leicht. Aber das Team in der Abteilung Urbanismo stelle sich zumindest den Herausforderungen. Wir fragen nach der Bedeutung des Masterplans von CREO für die Planung in Antofagasta. M. lächelt. Es sei wertvoll, was sie dort machen. Aber Planen könne nur die Kommune. Auf uns warten noch weitere 55 Folien, die M. jetzt immer schneller durchklickt, während er immer schneller spricht und doziert – viel über Probleme und Herausforderungen, wenig über Potenziale und Chancen. Dann muss M. uns auf den nächsten Termin vertrösten. Am Freitagmittag schließt die Verwaltung zur Mittagszeit und alle Mitarbeiter müssen bis dahin das Gebäude verlassen haben. Wir sollen aber gerne wiederkommen! Das diagnóstico werde demnächst fertiggestellt und dann gehe der Planungsprozess in die nächste Phase. Was die nächste Stufe sei? Mit dem zusammengetragenen Expertenwissen und der Fokussierung auf Themen trete man jetzt an die Bevölkerung heran. Während uns M. zur Tür begleitet, stellt er uns noch den Informatikstudierenden D. vor. Wir erhaschen einen f lüchtigen Blick auf seinen Bildschirm: Programmcodes anstatt PowePoint-Folien und CAD. Ein Algorithmus sei aktuell das Herzstück der Querschnittsaufgabe. Hier habe man eine ganzheitliche Schnittstelle zwischen diagnóstico und dem bevorstehenden Beteiligungsverfahren geschaffen. So könne Planung planbar werden.

Praktiken als analytisches Instrument für Planung Was ist Planung? Darüber existiert ein weiter Reigen an Literatur. Fragen gesetzlicher Normen, Verantwortungs- und Kompetenzbereiche, Akteurslandschaften oder Projektabläufe stehen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung. Die klassische Abhandlung zeichnet das Bild einer Planungskette mit politischen Entscheidungsträger*innen am Anfang, die ein Problem identifizieren, die Planungsrelevanz herausarbeiten, Planung umsetzen und nach erfolgter Bearbei-

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tung das Ergebnis begutachten. Damit stehen Ex-ante-Betrachtungen zukünftiger, vorherzusehender Planungsabläufe Ex-post-Analysen abgeschlossener Planungsprojekte gegenüber. Zentrale Fragen dieser Abhandlungen beziehen sich auf die Zeit, die Ressourcenausstattung und Entwicklungsbedingungen, die Niederschrift und Umsetzung von Planungsprojekten, deren Erfolgsperspektive im Voraus abgeschätzt, gegenwärtig angenommenen und nachträglich bewertet werden. Die anthropologisch informierte Forschung zur Planungskultur bezweifelt den Sinn einer solchen Dreiteilung des Blicks (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft). Geht es beim Planen wirklich immer so geordnet zu? Und lässt sich ein (forschungsbezogenes) Interesse tatsächlich darauf reduzieren, was wir planen bzw. wie wir was geplant haben? Mit Bezug auf die Praxis der Planung weisen etwa Müller und Lange (2016: 9) auf den eingeschränkten Erklärungsgehalt hin, der sich »unter Verweis auf Richtlinien, Sachzwänge und ökonomische Verhältnisse einerseits« und aus dem »hemdsärmelige(n) Credo eines ›So machen wir das halt‹ andererseits« ergibt. Aber genau in dem Moment des tatsächlichen Planens, irgendwo zwischen der Ex-ante-Planungsperspektive (etwa in dokumentarisch-materieller Gestalt eines Planes) und der Ex-post-Perspektive der Fertigstellung (z.B. Projektbericht), passiert das Unerwartete, Irrationale, Kreative und Produktive. Der Politikwissenschaftler Charles E. Lindblom (1959) hat das Verwaltung-Machen einmal treffend als »muddling through« beschrieben. Anstatt von einem geordneten Prozess auszugehen, verlange der Planungsalltag stets ein solches Durchwursteln. »Between plans being drawn […] and large scale regeneration becoming concrete, there are many unpredictable events and relations to be secured. Relations are perhaps the most significant variable and the most magical, being fragile, vulnerable and difficult to describe.« (Abram 2011: 30) Bislang gibt es nur sporadische Versuche, Planung durch die praxeologische Brille zu betrachten und damit eben diesen Fragen nachzugehen, was zwischen dem Akt des Plan-Machens und der Beurteilung der Ergebnisse tatsächlich passiert. Basierend auf praxeologischen Überlegungen, beschäftigt sich z.B. Ale­ xander (2015) mit der Fragestellung »What is planning?«, um dann festzustellen, dass es Planung als eigenständiges Objekt nur in der Wahrnehmung der Planungstheorie, nicht jedoch in der alltäglichen Wahrnehmung der tatsächlichen Planer*innen gibt. Planung an sich existiert nicht, da ihr einerseits das verbindende Objekt fehlt und es andererseits eine endliche Zahl von sehr verschiedenen Planungspraktiken für jeweils sehr unterschiedliche Planungsbereiche gibt. Und diese unterschiedlichen Planungsbereiche unterscheiden sich z.T. radikal im Hinblick auf ihre Instrumente, Objekte, Praktiken und Kontexte. Daraus leitet er die Forderung ab, dass wir fortan keine generellen Aussagen mehr über »Planung« treffen sollten, ohne zu spezifizieren, welchen Planungsbereich wir genau meinen.

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Einen anderen Ansatz verfolgt Luukonen (2017), der Schatzkis Konzept der sozialen Praktiken heranzieht (Schatzki 1996) und daraus die Idee des »site of planning« ableitet. Diese sites sind nicht nur als die physischen Orte (in Zeit und Raum) von Praktik-Arrangement-Bündeln (z.B. den verschiedenen Orten in Brüssel vom Bürogebäude zum feierabendlichen Treffen in der Kneipe) definiert, sondern ebenso als topologische Lage im Netz anderer, damit verbundener Praktiken-Arrangements. So kann Luukonen das generelle Phänomen der Europäisierung konkret durch unterschiedliche Situationen verfolgen und untersuchen, wie es sich in einem Netz von Praktiken-Arrangements konstituiert, die z.B. durch verwobene timespaces, durch geteilte Regeln bzw. Verständnisse oder durch Handlungsketten miteinander verbunden sind. Ideen und Konzepte werden mobil und zirkulieren in diesem und durch dieses Netz von miteinander verbundenen Situationen, welches weder territorial noch hierarchisch strukturiert ist. Durch die Darstellung und Hinterfragung von konkreten Planungspraktiken, wie in den beiden Beispielen aus Chile, sollen die Situationen bzw. die darin manifesten Beziehungen herausgearbeitet und der Blick für das Unvorhergesehene, das Unbestimmte, was beim Planen über Planung gelernt werden kann, geschärft werden. Die Beschreibung der beobachteten und aufgezeichneten doings and sayings und der damit verwobenen materiellen sowie diskursiven Arrangements ist dabei eine problemzentrierte Suchstrategie, die von den Praktiken ausgeht, um die mit der Planung in Verbindung stehenden gesellschaftspolitischen Probleme zu verstehen. Welche Interessen, Machtstrukturen und Logiken kommen in der Planungspraxis zum Ausdruck? Im konkreten Fall von CREO Antofagasta kann die Praxistheorie die Perspektive auf das Planungsobjekt erweitern: Nicht nur das Besprochene und Dargestellte geplanter bzw. umgesetzter Projekte wie die Straßenrevitalisierung rücken in den Fokus. Die praxeologische Brille schärft auch den Blick auf die vielfältigen Beziehungen zu anderen, physisch abwesenden Akteuren, Orten und Diskursen, die im Kontext von Planung realisiert werden. Die Art und Weise, wie sich R. in dem Hochglanzbüro der Planungsagentur bewegt und M. seine umfangreiche Präsentation herunterrattert, ist nicht allein als Indiz für einen bestimmten Planungsstil zu sehen. Letztendlich besteht Planung aus nichts als einer Vielzahl solcher Situationen, in denen Akteure, Orte und Diskurse in ihrer Beziehung zueinander produziert bzw. reproduziert werden. Wann und wie spricht der Planer M. im Großraumbüro über die organisatorische und interdisziplinäre Offenheit seines Planungsbüros? Wie werden seine Planungslogiken des lösungsorientierten urban design von einer international vernetzten Agentur mit der problemzentrierten Stadtentwicklungsarbeit des kommunalen Stadtplanungsamtes an einem konkreten Ort verhandelt bzw. welche spezifischen sites of planning bringt dies hervor? Ohne den wissenschaftlichen Erkenntniswert von strukturorientierten Ansätzen der Planungsforschung schmälern zu wollen (vgl. dazu die Diskussion von

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Klemme/Selle 2009), fehlt ihnen oft die einfache Frage, was im Akt des Planens eigentlich genau passiert. Eine praxeologische Planungsforschung nimmt den Alltag der Planung, bzw. noch profaner das Alltagsgeschäft der Beteiligten der räumlichen Planung, in den Fokus. Dies bedeutet nicht, dass Fragen der politischen Steuerungsfähigkeiten, der wirtschaftlichen Interessen oder der raumordnerischen und architektonischen Vorgaben vernachlässigt werden sollten (Müller/ Lange 2016: 9). Vielmehr steht das Wie der Planung immer in einem engen Zusammenhang mit dessen Inhalt, wenn es z.B. um die Partizipation der Beplanten bzw. das hoheitliche Selbstverständnis der Planenden geht. Insbesondere durch die Betonung der Aspekte der Materialität und Körperlichkeit bietet die Theorie sozialer Praktiken eine mögliche Suchstrategie für eine neue Betrachtung von Planungsvorgängen. Im konkreten Fall der Planungspraktiken in Chile betonen die bedeutsamen und »magischen« Beziehungen (Abram 2011) zwischen dem »Sprechen über Planen« und den »geplotteten, farbenfrohen Plänen« in der Planungsagentur CREO die Narrative einer nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik – einer Politik, die das Positive des Stadt-Machens herauskehrt und die Schattenseite der irregulären Stadtentwicklung ausblendet. Die Büroeinrichtung, die Gestik, die Art des Sprechens: Dies alles vermittelt Auf bruch. Eine vollkommen andere Stadtentwicklungslogik bringt die Beziehung zwischen dem überfüllten Stadtplanungsamt mit seiner rückständigen technischen Ausstattung und dem schnell sprechenden Abteilungsleiter zum Ausdruck. Anstatt bestimmte Elemente zu betonen oder auszublenden, gibt es aus seiner Sicht keine einzelnen oder unterschiedlich wichtigen Planungsthemen. Probleme sind dazu da, eines nach dem anderen von kompetenten Experten abgearbeitet zu werden. Dabei vermittelt die barocke Überfülle von Büro, Schreibtisch und Präsentation gleichzeitig den Eindruck der Betriebsamkeit und der Überforderung – beides argumentative Strategien, um mit konkreter Kritik umgehen zu können: »Wir tun ja schon alles und sind geschäftig, aber wir können eben nicht alles auf einmal machen.« Ein praxeologischer Zugang zur Planung kann auch den Blick für bestimmte Aspekte der realen Praxis schärfen, die aus dem Selbstverständnis von Planer*innen in der Regel ausgeblendet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Planungsprozess weniger gesteuert oder – allgemeiner gesprochen – weniger rational abläuft, als allgemeine Planungsstudien annehmen. Ein Blick auf reale Planungsprozesse zeigt, dass im Planungsprozess viel häufiger ad-hoc-Organisationsprozesse stattfinden, als strukturalistische Positionen vermuten lassen. Die ethnographische Studie von Bär (2000) zum Bau des Potsdamer Platzes in den Jahren 1994 bis 1999 kann exemplarisch für einen solchen praxeologischen Blick auf Planungsprozesse stehen. Anstelle der Betrachtung der formalisierten Zusammenarbeit zwischen einem privatwirtschaftlichen und einem mit öffentlichen Haushalten agierenden Investor fokussiert die Studie auf beobachtbare

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mündliche Absprachen und kurzfristige Zwischenlösungen im Planungsalltag und betont somit das »unverbundene Nebeneinander von bestehenden und lokalen Praktiken« beim täglichen »chaotischen Ordnen« der Baugrube. Im Gegensatz zu dem Ideal des strukturierten Planungsprozesses sieht Bär in den situativen Praktiken des Vermittelns und Repräsentierens eine der entscheidenden Blaupausen für das letztliche Gelingen der Bauausführung. Irrationalitäten, Außerplanmäßigkeiten, das unorthodoxe chaotische Ordnen und die verschiedenen Taktiken des »muddling through« (Lindblom 1959) sind die oft negierten Elemente von Planung, die ein Blick auf das tägliche Tun und Sagen in Planungsarrangements freilegen kann. Wie werden beim Planen Selbstverständlichkeiten und Vorannahmen bzw. ungeschriebene Regeln der Macht und Deutungshoheiten (Knieling/Othengrafen 2014: 2135) ausgehandelt und subsumiert? Die wissenschaftliche Erfassung dieser Komplexität der Planungspraxis ist der Gegenstand der Literatur zur Planungskultur, zu der praxeologische Ansätze in der Zukunft substanziell beitragen können. Elemente, die dabei thematisiert werden könnten, umfassen z.B. die Spannung von improvisierten und routinisierten Praktiken, die Bedeutung von Praktiken des Darstellens (Zeichnen, Texten, Beschreiben) in verschiedenen Planungszusammenhängen, die Rolle von in Praktiken implizit angelegten Regeln, Wissen und Zielen/Emotionen bzw. die Unterscheidung zwischen Vorderbühne vs. Hinterbühne. Eine solche intensive Betrachtung von Planungspraktiken ist jedoch nicht die einzig mögliche praxeologische Herangehensweise an Planung. Eine praxistheoretisch fundierte Betrachtung der Planungsinhalte, d.h. der eigentlichen Objekte von räumlicher Planung, stellt einen weiteren vielversprechenden Ansatz dar.

Praktiken als Gegenstand der Planung Auf welche Objekte bezieht sich räumliche Planung? Einerseits sind es konkrete Orte bzw. Räume, die sowohl in ästhetischer als auch funktionaler Hinsicht beplant werden. So soll CREO’s Stadtentwicklungsplan für Antofagasta den Rahmen für die zukünftige bauliche Entwicklung der Stadt mit ihren Grünf lächen und Fahrradwegen vorgeben. Andererseits sind es aber nicht die Orte und Räume selbst, auf die Planung im Endeffekt abzielt, sondern vielmehr die Menschen, die diese Orte und Räume auf eine bestimmte Weise nutzen, erfahren, durchqueren, meiden etc. sollen. Letzten Endes sind Grünf lächen und Radwege Mittel zur Gewährleistung bzw. Verbesserung des Lebens der Beplanten. So sieht das Handbuch zur räumlichen Planung der ARL (Akademie für Raumforschung und Landesplanung) Unternehmen und individuell handelnde Menschen als die letztendlichen Adressaten von Planung (Ritter/Benz 1998: 43). Dabei ist die Beachtung der unterschiedlichen Raumnutzungs- und Raumerfahrungsansprüche unter-

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schiedlicher Bewohner- und Nutzergruppen ein wichtiges Merkmal räumlicher Planung und wurde vor allem aus individualtheoretischer Perspektive in der Sozialgeographie für Planungszwecke empirisch erschlossen (Tzschaschel, 1986). Bei genauerem Hinsehen treten allerdings individuelle Menschen den Resultaten von räumlicher Planung nicht als selbst-identische, in sich homogene Nutzer gegenüber. Nehmen wir das Beispiel eines öffentlichen Platzes: Ich fahre morgens mit meinem Auto zur Arbeit und darf aufgrund der neu geplanten Verkehrsführung den Platz nicht mehr überqueren. In meiner Mittagspause gehe ich einkaufen, überquere denselben Platz als Fußgänger und freue mich dabei über seine neue Gestaltung und Begrünung. An einem sonnigen Samstagnachmittag halte ich dann die Einsamkeit in meiner Wohnung nicht mehr aus, gehe zum Platz, um für ein paar Stunden unter Leuten zu sein, mich zu unterhalten und ein paar Dosen Bier zu trinken. Dabei versucht die Polizei, uns den Aufenthalt durch Kontrollen und anderen Schikanen möglichst unangenehm zu gestalten, und ich erfahre, dass mittlerweile ein striktes Alkoholverbot für diesen Teil der Innenstadt diskutiert wird. In diesen drei unterschiedlichen Momenten konfrontiert mich der Kontext meiner jeweiligen sozialen Praktik (städtischer Autoverkehr, Einkauf, Trinkerszene) auf jeweils unterschiedliche Weise mit ein und demselben Ort, und ich als Individuum werde dabei in unterschiedlicher Weise von der Planung adressiert. Die Idee, nicht Individuen, sondern soziale Praktiken als Adressaten von Planung zu nehmen, ist bislang nur selten explizit diskutiert worden. Allerdings existieren in der Planungstheorie zahlreiche konzeptionelle Ansätze, die in ein praxeologisches Vokabular übersetzt werden können, weil sie den Grundgedanken teilen, dass in der räumlichen Planung der jeweilige praktische Zugang zu Orten bzw. Räumen entscheidend ist und dass diese Zugänge situationsgebunden und Teile von unterschiedlichen sozialen Praktiken sind. Die Erkundung einiger dieser Nebenpfade soll im Folgenden das theoretische und praktische Potenzial einer an Praktiken orientierten Planungskonzeption aufzeigen. Bereits die sogenannte Münchner Schule (vgl. Ruppert/Schaffer 1969; Maier et al. 1977) stellte einen frühen Ansatz dar, die verschiedenen Bereiche menschlicher Praxis von den Individuen abzulösen und die sogenannten Grunddaseinsfunktionen als Ansatzpunkt geographischer Analysen und räumlicher Planung zu nehmen. Diese »Daseinsäußerungen« (Ruppert/Schaffer 1969: 208) haben jeweils unterschiedliche Raumansprüche, benötigen unterschiedliche Infrastrukturen und formen in ihrer Gesamtheit das komplexe »Gefügebild räumlicher Strukturmuster« (Maier et al. 1977: 18). Dieser Ansatz hatte dabei den universellen Anspruch, die Gesamtheit aller menschlichen Tätigkeiten vollständig und rückstandslos mit einer minimalen Zahl von sieben Grunddaseinsfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Sich-Versorgen, Sich-Bilden, Sich-Erholen, Verkehrsteilnahme, In-Gemeinschaft-Leben) abzubilden. Ein solches aus der Vogelperspektive

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formulierte Kategoriensystem war allerdings zu abstrakt und technokratisch, um die Vielfalt sozialer Praxis fassen zu können. Zudem hatte der Ansatz keinen Blick für gesellschaftspolitische Machtkonstellationen, die menschliche Tätigkeiten durchdringen. Darüber hinaus hatten diese künstlichen Kategorien, die gewissermaßen von außen dem Alltag von Menschen übergestülpt wurden, keinen analytischen Mehrwert bei der Erklärung bzw. dem Verständnis der sozialen Welt. So problematisch sich der Ansatz der Münchner Schule also in seiner theoretischen Konsistenz und Anschlussfähigkeit an die restlichen Sozialwissenschaften he­rausstellte (vgl. Heinritz 1998), so wichtig war das Konzept jedoch für das Selbstverständnis der Angewandten Geographie, die sich in den 1970er Jahren entwickelte und für die die Idee der Grunddaseinsfunktionen eine zentrale Orientierung für die Ausrichtung der verschiedenen Planungsaufgaben bot. Aus einer Kritik an solch erfahrungsfernen Analyse- und Planungsansätzen, wie sie die Münchner Schule verkörperte, entwickelte der Planungstheoretiker Lucius Burckhardt in den 1970er Jahren die sogenannte »Spaziergangswissenschaft« (Burckhardt 2006). Auch sie setzt am Schnittpunkt von Planung und sozialen Praktiken an, schlägt allerdings einen ganz anderen Pfad ein: Ausgangspunkt der Überlegungen ist die klassische Praktik des Spazierengehens. Diese ist verbunden mit einer ganz speziellen Art und Weise, Raum bzw. Landschaft zu erfahren, indem sich eine Vielzahl von Einzeleindrücken, die durch das Gehen zeitlich und räumlich miteinander verbunden werden, zu einem Gesamtbild formt. Ähnlich wie im Fall des tourist gaze, des spezifisch touristischen Blicks, den Urry (1997) detailliert beschrieben hat, bezieht sich die soziale Praktik des Spazierengehens unmittelbar auf den durchmessenen Raum und beinhaltet eine »gelungene« Raumerfahrung als einen wichtigen Teil ihrer teleoaffektiven Struktur. Burckhardt machte es sich zur Aufgabe, die Praktik des Spazierengehens als ein Instrument der kritischen Erfahrung von Stadt- und Landschaftsräumen zu verfeinern und bewusst einzusetzen. Neben der Analyse von Karten oder Statistiken sollten Planer*innen das bewusste Spazierengehen zur Datengewinnung bzw. zur Erfahrung des Raumes erlernen und einsetzen. Zu diesem Zweck organisierte Burckhardt kollektive Spaziergänge, die jeweils unter unterschiedlichen Mottos standen und oft mit neuen Formen der Raumerfahrung experimentierten. Soziale Praktiken können mitunter auch in der Form von politischen Akteuren auftreten, die eine Anerkennung in räumlichen Planungsprozessen und politische Rechte einfordern. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Praktik mit einer starken Identitätsbildung und Distinktion gegenüber anderen Praktiken verbunden ist, was bspw. bei der Praktik des Fahrradfahrens der Fall ist. Fahrradfahren ist nicht nur ein Mittel der Fortbewegung, das eine bestimmte Infrastruktur und damit einen Teil des städtischen Raumes beansprucht; es ist darüber hinaus auch eine Praktik, die stark über die Konkurrenz zu anderen Mobilitätspraktiken bzw. Verkehrsteilnehmern definiert ist. Zum einen werden individuelle Menschen,

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indem sie Fahrrad fahren, von anderen Verkehrsteilnehmenden nicht selten als Repräsentanten der Gruppe aller Fahrradfahrenden gesehen und für deren kollektive Regelübertretungen verantwortlich gemacht. Ebenso ist mit der Praktik des Fahrradfahrens oft das Gefühl verbunden, von den anderen Verkehrsteilnehmenden – rücksichtslosen Autofahrenden und achtlosen Fußgänger*innen – nicht genügend be- und geachtet zu werden. So tragen die Forderungen, der Praktik des Fahrradfahrens in der städtischen Verkehrsplanung mehr Beachtung und Raum zu geben, Züge einer politischen Auseinandersetzung, bei der es eben nicht nur um nachhaltige Mobilität geht, sondern auch um identity politics, soziale Gerechtigkeit, Hegemonie und Gegen-Hegemonie, kurzum um die Bestimmung von cy­cle citizenship (Osborne/Grant-Smith 2017). Wenn Aktionsformen wie Critical Mass unter dem Slogan »Wir sind Verkehr!« eine Lücke in der StVO ausnutzen und mit großen Versammlungen von Kolonne fahrenden Fahrradfahrer*innen den normalerweise von PKW dominierten Straßenraum von Städten erobern, dann tun sie dies als politisches Statement gegen die hegemoniale Position des Autoverkehrs im städtischen Raum und für eine Anerkennung der Rechte von Fahrradfahrerenden. Ein Beispiel, wie praxistheoretische Konzepte direkt in planungstheoretische Überlegungen einf ließen können, bietet der Beitrag von Kühl (2016) zu »Grün im städtischen Alltag«, in dem sie auf der Grundlage empirischer Untersuchungen acht verschiedene »Modi der Raumproduktion« in Bezug auf städtisches Grün identifiziert. Diese ergeben sich aus der räumlichen, zeitlichen, körperlichen, materiellen und emotionalen Bedingtheit von sozialen Praktiken und umfassen jeweils eigene »Spektren der Relevanzsetzung« hinsichtlich städtischen Grüns. So wird städtisches Grün z.B. im »Modus der Zweckerfüllung« vor allem als Teil des städtischen Infrastrukturangebots gesehen und ausschließlich hinsichtlich seines direkten Nutzens für den Menschen beurteilt. Grünräume eröffnen Räume für Praktiken, die Freude bereiten (Joggen, Spazierengehen etc.), und werden dementsprechend als Symbol erfüllender Praktiken verinnerlicht (ebd.: 181). Im »Modus des privilegierten Lebens« wird dagegen die Wahrnehmung eher von einem ästhetischen Blick geleitet und schmuckvollen Details explizite Aufmerksamkeit geschenkt. Diese ästhetischen Qualitäten städtischen Grüns werden dann in sozialer Hinsicht als Mittel zur Distinktion und als Ausdruck des Privilegs interpretiert (ebd.: 195). Diese unterschiedlichen Modi sind keine abstrakten Ideen, sondern werden vielmehr in der Praxis des Umgangs mit städtischem Grün reproduziert. Planung sollte sich an diesen unterschiedlichen alltagsweltlichen Relevanzsetzungen orientieren und einerseits versuchen, diesen Sinnmustern bei der Gestaltung von Orten gerecht zu werden (ebd.: 252). Andererseits kann Planung mit diesem Ansatz aber auch die Zielkonf likte im Auge behalten, die sich möglicherweise aus der lokalen Unvereinbarkeit verschiedener Modi ergeben können.

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Die Beziehung zwischen dem Vorgehen bzw. den Vorgaben räumlicher Planung und alltäglichen Praktiken ist allerdings nicht immer so eindeutig und harmonisch. Planung ist immer wieder mit den kreativen Taktiken der Beplanten konfrontiert, die in Praktiken der subversiven Nutzung geplanter Umwelten ihren Ausdruck finden. Solch widerständiges Uminterpretieren geplanter Orte geschieht z.B. bei den jugendlichen Praktiken des »Abhängens« auf Spielplätzen, in Einkaufszentren, an Tankstellen oder Bushaltestellen, d.h. an durchgeplanten Orten, die allesamt eigentlich für andere Nutzergruppen und andere Praktiken konzipiert wurden. Dabei ist die Eigen- bzw. Widerständigkeit der kreativen Aneignung von Orten durchaus ein integraler Bestandteil der teleoaffektiven Struktur dieser Praktiken. Aus diesem Grund können solche Orte letzten Endes erst in den jeweiligen Praktiken entstehen und lassen sich nicht im Vorfeld für potenzielle Nutzer*innen »von oben« planen. Ähnlich deutlich ist dieser Impuls zur kreativen Umnutzung und Aneignung vorgegebener Planungsumwelten bei Praktiken wie Skaten, Parcours oder Graffiti. Alle Bemühungen der Planung, diese Praktiken anzuerkennen, ihnen einen festen Raum zuzugestehen und damit »einzufangen«, sehen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass dies der internen Logik dieser Praktiken zum Teil widerspricht. Allerdings kann Planung versuchen, räumliche und zeitliche Freiräume für informelle und kreative Praktiken zu schaffen bzw. diese zumindest bestehen zu lassen und damit die Bedeutung all der informellen, alltäglichen Praktiken anzuerkennen, die einen Raum nachhaltig prägen und verändern, ohne selbst Teil von genuinen Planungspraktiken zu sein (Willinger 2014). Praktiken können für die Planung also vielerlei bedeuten. Sie können einen Ansatz für abstrakte, allumfassende Kategorisierungen von Gesellschaften und planerischer Aufgaben bieten. Bestimmte Praktiken können verfeinert und weiterentwickelt werden und dann als privilegierter Zugang zur kritischen Bewertung geplanter Räume dienen. Sie können als politische Akteure auftreten, die politische Forderungen an die Planung stellen und um Anerkennung ringen. Sie können den Hintergrund für unterschiedliche Formen der Raumerfahrung bilden, die ihrerseits von der Planung wie spezielle Nutzungsansprüche behandelt werden können. Oder sie können in ihrer Widerständigkeit das Element der Unplanbarkeit repräsentieren, das die Vorgaben der Planung immer wieder unterläuft und abwandelt. In jedem Fall bieten praxeologische Ansätze eine Vielzahl von neuen Sichtweisen auf die Problematik, wie die alltägliche Praxis der Beplanten von der Planung aufgenommen wird und was es bedeutet, von der Planung »beplant« zu werden.

Praktiken und Planung

Praxistheorie nutzbar machen für Planungspraxis Wenn praxeologische Ansätze einen neuen Blick auf die Manifestationen allgemeiner Planungsgrundsätze und -strategien in konkreten orts- und zeitgebundenen Situationen bieten, so stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, inwiefern eine solche Perspektive für die Planungspraxis nutzbar gemacht werden kann. Nicht nur die Analyse der beplanten Praktiken als Objekt der Planungspraxis rückt damit in das Erkenntnisinteresse, sondern ebenso die Thematik, wie sich Planung als Familie von Praktiken verändern und wandeln kann. Wenn, wie wir oben bereits festgestellt haben, das Unerwartete immerfort die Planungspraxis irritiert, bieten Praxistheorien sich u.a. dahingehend an, »neue« Praktiken des Tuns und Sagens aufzuspüren und weiterzuentwickeln, die dieser Unverfügbarkeit und Widerständigkeit in Planungsarrangements Rechnung tragen. Dies, so unsere These, kann aus praxistheoretischer Perspektive entlang zweier Vektoren gelingen. Erstens kann die Praxistheorie dazu dienen zu verstehen, wie »neue« Planungspraktiken einen Planungsprozess thematisch, sozial und zeitlich öffnen und damit »verunsichern« können. Mit anderen Worten: Planungsprozesse, die durch bspw. Praktiken der (demokratischen) Partizipation offen – d.h. unvorhersehbar – bleiben, kennzeichnet eine grundlegende Ungewissheit in Bezug auf das Erreichen von Planungszielen. Zweitens kann die Praxistheorie sich als dienlich erweisen, Praktiken zu identifizieren, die diese Offenheit und Verunsicherung des Prozesses fördern bzw. einfordern können. So richten sich zahlreiche Praktiken auf die Infragestellung von technokratischen, tendenziell undemokratischen Planungsarrangements, deren Bedeutung für den Prozess von staatszentrierten Planungsverständnissen immer wieder vehement heruntergespielt wird, wie dies z.B. am Projekt Stuttgart 21 deutlich nachzuvollziehen war. Die beginnende Aufmerksamkeit für die »Wirklichkeiten von Planungsbetroffenen« (Pohl 1989) stellte eine Öffnung und Verunsicherung der Planung dar, welche die Tradition der planungsaffinen Sozialgeographie (vgl. Rhode-Jüchtern 1975) – v.a. in der Folge der Münchner Schule der Sozialgeographie – mit ihrem abstrakten und technokratischen Verständnis von Planung irritierte und herausforderte. Mit dem Anspruch, mittels hermeneutisch-interpretativer Verfahren den Sinn, den Planungsbetroffene ihren Wirklichkeiten geben, herauszuarbeiten, führte diese Verschiebung in den Forschungsperspektiven schließlich auch zu einer Irritation der Planungsprozesse selbst. Die seit den 1960ern vorangetriebene sozialwissenschaftliche Partizipationsforschung (z.B. Arnstein 1969) formulierte die Notwendigkeit, Praktiken der Partizipation und Beteiligung von Planungsbetroffenen in den Planungsprozess zu integrieren. Inzwischen sind Partizipationsrechte in Planungsverfahren gesetzlich verankert. Durch Praktiken der Partizipation wie Kooperieren, Mitbestimmen, Selbstorganisieren etc. (vgl.

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ebd.) öffnete sich der Planungsprozess und verunsicherte tradierte Verständnisse von Planung. Insbesondere NIMBY-Effekte zeigten sich in zahlreichen Praktiken der Intervention, die Planung seither grundsätzlich unvorhersehbarer und pro­ blematischer gemacht haben. Um jene Verunsicherungen abzufedern, entstanden wiederum neue machtvolle Praktiken, die sowohl versuchten, die Offenheit des Prozesses zu minimieren, als auch Praktiken der Kritik generell einzuhegen (vgl. Rosol/Dzudzek 2018)1. In der aktuellen Diskussion wird anhand von Fallstudien deutlich, dass für die Planung neue Praktiken des »particitainment« (Selle 2011), des Spielens (»gamification«) (Meier 2018) oder – wie im Beispiel von Antofagasta – des Programmierens in kreativer Weise dem »muddling through« von Planungsprozessen Rechnung tragen sollen. Eine praxistheoretische Perspektive kann hier ansetzen und den Wandel der Praktiken-Arrangements verstehbar machen. Im Gegenzug wird eine Öffnung des Planungsprozesses gezielt durch Praktiken eingefordert, die die (routinierten) Selbstverständlichkeiten verunsichern. Dies zeigt sich in widerständischen Praktiken, die sich als Antwort auf die angesprochenen Praktiken der Einhegung von Kritik entwickelten. Wenn kritische Sozialwissenschaftler*innen die Offenheit von Planungsprozessen betonen und unterstützen, rücken sie vermehrt Praktiken in den Fokus, die auf eine Verunsicherung der auf Konsens ausgerichteten Planung – z.B. in der neoliberalen und postpolitischen Stadt – gerichtet sind (Wagner 2013; Rosol/Dzudzek 2018: 333). In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken dabei politische Forderungen der Anerkennung sowohl materieller als auch politischer Rechte (vgl. in Bezug auf den globalen Süden, Friedman 2003). Die Bedeutung der dabei eingesetzten politischen Praktiken für die Planungsprozesse konkreter zu beleuchten, kann den Blick auf neue Situationen der Beteiligung und Teilhabe eröffnen. Praxistheorie bietet sich hier nicht nur an, um als »Übersetzungs- und Kommunikationsmethodik« (vgl. Haubrich 2019, i.E.) dienlich zu sein, sondern kann auch bewusst und engagiert Praktiken der Emanzipation in Planungsprozessen identifizieren und unterstützen. Genau in dieser Hinsicht erscheint eine praxistheoretische Perspektive auf Planung konzeptionell konsequent, denn mit Reckwitz (2003: 294) lässt sich für Planungspraktiken festhalten, dass sich die Logik der Praxis »auch immer wieder [aus] eine[r] interpretative[n] und methodische[n] Unbestimmtheit, Ungewissheit und Agonalität ergibt, die kontextspezifische Umdeutungen von Praktiken erfordert und eine ›Anwendung‹ erzwingt und ermöglicht, die in ihrer partiellen Innovativität mehr als reine Reproduktion darstellt.« Die praxistheoretische Perspektive auf Planung muss sich also sensibel für die Offenheit der 1 Bookchin (1977: 117) geht sicherlich zu weit, wenn er davon spricht, dass (bürgerliche) Stadtplanung per se »ein Ausdruck des Mißtrauens inbezug [sic!] auf die Spontaneität der herrschenden Sozialbeziehungen« sei. Allerdings wird damit deutlich, warum der klassischen Planung eine Öffnung der Planung durch Partizipation zwangsläufig als Verunsicherung erscheinen muss.

Praktiken und Planung

Praxis zeigen. Planung aus Praktiken heraus zu verstehen, kann dabei auch ein praktisches Wissen ausbauen, das Akteure im Planungsprozess mobilisieren können, um »Antworten auf sämtliche mögliche Eigenschaften des Kontextes, in dem die Praxis vollzogen wird« (ebd.), bereitzuhalten. Ein Beispiel dafür ist das Konzept des »insurgent planning« (Miraftab 2009), welches sich als gegen-hegemoniale Planungspraxis begreift und bewusst traditionelle Trennlinien zwischen formellen und informellen Politikarenen, eingeräumten und selbst geschaffenen Freiräumen bürgerlichen Engagements und unterschiedlichen territorialen bzw. sektoralen Zuständigkeitsbereichen überschreitet und infrage stellt. Durch die Betonung der Situiertheit von Praktiken – also dass Planungspraktiken nicht als professionalisierte, dem Kontext enthobene Praktiken verstanden werden können (Friedman 2011: 168) – öffnen praxistheoretische Zugänge hier eine radikale Möglichkeit, die Verunsicherung von Planungsprozessen als kreatives Moment aufzufassen: Anstatt Planung also als elitäre, ausschließende, hierarchische und bürokratische Familie von Praktiken zu verstehen, wird eine Verschiebung hin zu spontanen, egalitären und sich selbst organisierenden Praktiken propagiert. »Planning does not belong to an elite class or discipline, nor should it be the prerogative of governments; it is not a science or a professional discourse, but rather the active expression of a politics of libertarian egalitarianism.« (Newman 2011: 348). Friedman (2003: 9) argumentiert mit Verweis auf die lange Geschichte radikaler Planungsansätze, dass deren Grundmotiv immer schon von einer Praxisorientierung gekennzeichnet war: »[I]t is precisely that part of planning which is the most closely linked to practices, which is the most passionately and politically engaged, and which deeply matters for the future of our cities and regions.« Eine »Praxeologisierung« der Planung (Schmidt 2012: 28) fordert uns folglich nicht nur auf, einer Entgegensetzung von Planungstheorie und Planungspraxis zuvorzukommen, sondern Planung auch konsequent als einen offenen, zuweilen chaotischen und unvorhersehbaren sozialen Prozess zu verstehen, der schließlich neue inklusive Kontexte ermöglicht.

Fazit Dieser Beitrag sollte die Anknüpfungspunkte aufzeigen, die sich aus einer praxeologischen Perspektive auf die Planungstheorie und -praxis ergeben. Dabei ging es weniger darum, endgültige Einsichten bzw. Ergebnisse zu präsentieren, als vielmehr die umfangreichen Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich aus einer solchen Sichtweise für zukünftige empirische und konzeptionelle Analysen von räumlicher Planung ergeben. Gewiss ist der praxeologische Blick zunächst einmal ungewohnt, fasst er doch die soziale Wirklichkeit der Planung in Begriffe – Praktiken, teleoaffektive Strukturen, sites, Taktiken, materielle Arrangements etc. –, die

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gewissermaßen quer zu den vertrauten Kategorien stehen, in denen wir normalerweise Planung wahrnehmen und denken (Akteure, Hierarchie- und Maßstabsebenen, Planungsziele, Planungsträger etc). Allerdings eröffnet sich gerade damit ein weites Feld nicht nur für eine kontextsensible Analyse von Planungsprozessen, sondern auch für neue Ideen und Ansätze zur Weiterentwicklung bzw. Neuausrichtung von konkreten Planungspraktiken und -abläufen. Die drei Zugänge zur praxeologischen Betrachtung von Planung, die wir in diesem Artikel aufgezeigt haben – Analyse von Planungspraktiken, Praktiken als Gegenstand der Planung, praxistheoretische Weiterentwicklungen von Planung –, können dabei in sehr unterschiedlichem Maße auf bereits bestehende planungstheoretische Traditionen bzw. Vorarbeiten auf bauen: Bei der Analyse von Planungspraktiken gibt es bereits umfangreiche Literatur zur Planungskultur, die als Startpunkt für eine Erweiterung durch praxeologische Überlegungen dienen kann. Es existiert also eine solide konzeptionelle Basis für die konkrete empirische Analyse verschiedener praxeologischer Dimensionen des Planungsalltags. Für die Betrachtung von Praktiken als Gegenstand der Planung gibt es eine solche Basis noch nicht. Stattdessen existiert eine Vielzahl von verschiedenen Ansätzen, die kein einheitliches Bild ergeben und die sich in den seltensten Fällen explizit auf praxeologische Konzepte beziehen. Für eine genauere praxistheoretische Erforschung der Beziehung zwischen planenden und beplanten Praktiken besteht die Herausforderung derzeitig noch darin, diese verschiedenen Zugänge miteinander in Verbindung zu setzen und eine gemeinsame Begriff lichkeit bzw. eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage zu erarbeiten. Zuletzt erscheint die praxeologische Weiterentwicklung von Planungsverfahren und -routinen als eine Pionieraufgabe, bei der in Zukunft noch viel Kreativität und Experimentierfreude notwendig sein wird. Abgesehen von einigen wenigen, dafür aber sehr wertvollen Ansätzen – von der gamification bis hin zur emanzipativen Idee des insurgent planning – existiert noch wenig Material in dieser Hinsicht. Mehr als bei den anderen beiden Forschungsrichtungen ist hier ein learning by doing sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen Planer*innen und Wissenschaftler*innen bei der Erprobung und Bewertung neuer Herangehensweisen gefordert. Daran anknüpfend, wollen wir abschließend noch drei Hoffnungen bzw. He­ rausforderungen ansprechen, die sich daraus unserer Meinung nach für eine praxeologische Planungsforschung ergeben. Erstens hoffen wir, dass Praxistheorien dabei helfen können, eine Brücke zwischen Wissenschaft und Planung zu schlagen und damit den vielfach identifizierten und beklagten »gap« zwischen Planungstheorie und Planungspraxis zu schließen. Durch eine Praxeologisierung der Planung kann jene Kluft genauer vermessen und hoffentlich eine Art »Kontaktfeld« bzw. »shared ground« aufgebaut werden. Solche Ansätze, die einen Anschluss für praxeologisches Denken bieten könnten, finden sich z.B. schon bei Allmendinger (2002), der die Lücke zwischen

Praktiken und Planung

Planungspraxis und Planungstheorie in seiner Typologie von post-positivistischen Ansätzen anspricht, oder bei Healy (2009), der sich auf den (US-amerikanischen) Pragmatismus bezieht. Diese und ähnliche Ansätze können dann dazu beitragen, eine ref lexive Perspektive auf Planung zu entwickeln und zu stärken (Howe/Langdon 2002). Damit wäre es möglich, Passungsprobleme bzw. Missverständnisse zwischen wissenschaftlichen und planerischen Praktiken genauer zu identifizieren und evtl. neue Praktiken zu entwickeln, die diese überwinden könnten. Spätestens seit der Münchner Schule zeichnet die Geographie eine hohe Affinität zu Planungsfragen aus. Die transdisziplinäre Vermittlung zwischen divergierenden Zielen in planungsrelevanten Feldern ist traditionell eine gefragte Kompetenz von Geograph*innen und kann in Zukunft stärker praxistheoretisch fundiert werden. Mit Blick auf die beruf liche Ausbildung bieten praxistheoretische Perspektiven auf Planungsprozesse damit die Möglichkeit, Kompetenzen der Moderation und Mediation in Planungsprozessen stärker in den Vordergrund zu rücken. Zweitens bieten praxistheoretische Perspektiven nach unserem Verständnis die Möglichkeit zur intensiven und strukturierten Ref lexion des Einsatzes von (neuen) Technologien in Planungszusammenhängen. Mehr und mehr nehmen neue Technologien Einf luss auf Planungszusammenhänge und/oder sind verstärkt in Planungspraktiken verwickelt. Dieser Trend ist durchaus nicht neu, denn bereits seit den 1970ern haben Space-Syntax-Ansätze als raumwissenschaftliche Modelle Planungsprozesse stark mitgestaltet (Hillier 1999). Zwar ist die Verlässlichkeit dieser Ansätze nunmehr kritisiert worden (Ratti 2004; Paf ka/ Dovey/DPA Aschwanden 2018), dennoch sind Simulationen (vgl. Neisser/Runkel 2017) oder algorithmische, daten-basierte Ansätze – nicht zuletzt im Kontext von »Smart City«-Visionen (vgl. Bauriedl/Strüver 2018) – wirkmächtige Werkzeuge in Planungsprozessen und Beteiligungsverfahren. Zu untersuchen wäre, wie diese Apparaturen und ihre gesellschaftspolitische Wirkmächtigkeit durch die praxistheoretische Brille intensiver ref lektiert werden könnten. In welchen Planungspraktiken und Situationen werden sie in welcher Weise eingesetzt und welche Funktion erfüllen sie dort? Dabei spielen nicht nur Imaginationen und Antizipationen möglicher Zukünfte (z.B. als »futurecraf t«, Ratti/Claudel 2016) als Gegenstände der Planung eine Rolle, sondern auch die »Zukunftsbearbeitung« (Koch et al. 2016) selbst, die in Planungspraktiken vollzogen wird, stellt sich als ein inte­ ressantes und bisher noch wenig erforschtes empirisches Gebiet für die Sozialgeographie dar. Drittens muss aber auch kritisch diskutiert werden, inwieweit praxistheoretische Perspektiven Gefahr laufen, Planungspraktiken tendenziell zu entpolitisieren. Insbesondere Schatzkis Praxistheorie, die z.T. technokratisch anmutet und sich vor allem auf die Bereitstellung eines deskriptiven Kategoriensystems beschränkt, hat Probleme bei der Behandlung der politischen Dimension. Eine

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Ursache für diese Machtblindheit könnte z.B. der Umstand sein, dass kein klar konturierter Begriff von Gesellschaft vorliegt, wie es bspw. neomarxistische Ansätze betonen. Zu fragen wäre folglich, welche Leerstellen bzw. welche Blickverengungen sich bei einer allzu eingeschränkten Anwendung der Praxistheorie ergeben? Während einige praxeologische Perspektiven, bspw. Bourdieu, dezidiert gesellschaftliche Machtverhältnisse kritisch in den Blick nehmen, müssen in anderen praxistheoretischen Konzeptionen Fragen von Macht erst noch stärker entwickelt werden (siehe Kapitel »Praktiken des Regierens, dominante Projekte, Verantwortung: praxeologische Zugänge zum Thema Macht«). Dies ist v.a. mit Sicht auf Planungsprozesse von herausgehobener Bedeutung, denn in ihnen materialisieren sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse in besonderem Maße und sind dabei höchst folgenreich. Als Praktiken, die sich auf die Veränderung, Stärkung, Unterbindung etc. anderer Praktiken beziehen, haben gerade Planungspraktiken eine besondere Bedeutung für das Verständnis und für die Gestaltung der sozialen Welt. Ein umfassendes praxeologisches Verständnis dieses weiten Feldes ist erst noch im Entstehen und bedarf in Zukunft noch umfangreicher Forschung, Diskussion, Theoriearbeit und Experimentierbereitschaft.

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Soziale Praktiken in der Forschungspraxis – empirisch forschen mit Schatzkis site ontology Christine Wenzl, Cosima Werner, Katharina Molitor, Madlen Hornung, Sarah Rominger und Fabian Faller

Einleitung Im Anschluss an die vorangegangenen Beiträge über die Einbettung Schatzkis site ontology in die zweite Generation von Theorien sozialer Praktiken widmet sich vorliegender Beitrag der Frage, wie Schatzkis Theorie in die empirische Forschungspraxis überführt werden kann. Im Unterschied zu anderen Theorien sozialer Praktiken handelt es sich bei Schatzkis Entwurf nicht um eine Theorie, die aus soziologischer Forschung hervorgegangen ist, sondern um eine philosophische Arbeit, die zur empirischen Forschung eigene epistemologische und methodologische Überlegungen verlangt (zu methodologischen Überlegungen siehe Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks«). Das Ziel dieses Textes ist es somit, anhand gesammelter und strukturierter Erfahrungen aus der humangeographischen Forschungspraxis aufzuzeigen, wie mit Schatzkis Ansatz empirisch umgegangen wird. Damit soll eine hilfreiche Basis für weiterführende Forschungsarbeiten geschaffen werden. Zu diesem Zweck wird der Fokus vorrangig auf empirische Forschungsprojekte aus der Humangeographie – inklusive der Projekte der Autor*innen – gelegt. Dabei wurde der Blick weniger auf die vielfältigen Themen als vielmehr auf die Methoden und ihre Kombinationsmöglichkeiten gerichtet. Für Schatzki sind »social phenomena […] either bundles of practices and ma­ terial arrangements or aspects of such bundles« (Schatzki 2010: 73). Diese »Bündel« aus Praktiken und materiellen Arrangements wirken zusammen in der Konstitution des Sozialen, weshalb der Begriff »Theorie sozialer Praktik« in Schatzkis Fall etwas zu kurz greift. Allerdings ist dieser Begriff so etabliert, dass er gemeinhin beibehalten wird. Seinen ontologischen Standpunkt erarbeitete er über die letzten Jahrzehnte in Auseinandersetzung mit theoretisch und empirisch arbeitenden Wissenschaftler*innen. Eine Theorie sozialer Praktiken versteht Schatzki dabei als Theoretisierung von Praktiken selbst (Schatzki 2001: 3) und nicht als eine

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C. Wenzl, C. Werner, K. Molitor, M. Hornung, S. Rominger und F. Faller

Theorie, die konkrete soziale Phänomene oder individuelles Handeln erklären will. Schatzki bietet eine konzeptionelle Rahmung menschlicher Koexistenz als ein Netzwerk von Menschen in Interaktion miteinander sowie mit der materiellen Umwelt. Dazu gehört die Setzung, dass Praktiken sowohl das Handeln im Vollzug (doings und sayings) als auch dessen Zusammenhänge (Nexus) umfassen. Unter einer Praktik versteht Schatzki dabei einen »temporally unfolding and spatially dis­ persed nexus of doings and sayings« (1996: 89), die durch vier Komponenten organisiert werden: practical understanding, general understanding, teleoaf fecitve stucture sowie rules. Während er unter practical understanding das praktische Verstehen zum Ausführen einer Praktik versteht, ist general understanding für ihn »senses of the worth, value, nature, or place of things, which infuse and are expressed in people’s doings and sayings« (Schatzki 2012: 16). Um die Ziele (ends) und die dazu durchgeführten tasks und projects einer Praktik sowie die gefühlsbezogene Dimension einer Praktik zu fassen, führt Schatzki den Begriff der teleoaf fective structure ein. Die Regeln, die einer Praktik inhärent sind, bezeichnet er in seiner Taxonomie als rules. Die Organisation von Praktiken ist in den Praktiken selbst und nicht in den ausführenden Personen zu verorten (Schatzki 2010: 51) – was methodisch eine Dezentrierung des Subjekts impliziert. Weiterhin bedingt eine derartige Auffassung des Zustandekommens sozialer Phänomene, dass Prozesshaftigkeit, Kontingenz und Materialität zu berücksichtigen sind. Diese Elemente gilt es im Zuge einer empirischen Forschung herauszuarbeiten. In diesem Beitrag widmen wir uns dabei Methoden, die besonders geeignet sind, um den Vollzug von Praktiken zu erfassen. Eine nicht standardisierte Perspektive auf die konkreten Ausprägungen einer Praktik ermöglicht es dabei, sich auch mit geringem Vorwissen dem Forschungsgegenstand im Laufe des Forschungsprozesses anzunähern. Viele dieser vorgestellten Methoden werden in den Sozialwissenschaften breit angewendet und beziehen sich natürlich nicht nur auf Forschung, die speziell mit Schatzki arbeitet, wie Verfahren der qualitativen Beobachtung, Interviews, qualitative Dokumentenanalyse oder visuelle Methoden. Bei der Methodenauswahl stand für uns die jeweilige Möglichkeit der Methode im Vordergrund, die Praktiken im Vollzug zu erfassen, anstatt die jeweils andernorts sehr gut ausgeführten Methoden lehrbuchhaft wiederzugeben (z.B. Flick/Kardorff/Steinke 2000; Mattissek/Pfaffenbach/Reuber 2013). Vielmehr wollen wir spezifische Anregungen zum konkreten Arbeiten mit Schatzki vorstellen. Bevor wir auf einzelne Methoden dezidiert eingehen, stellen wir uns zunächst folgende Frage:

Soziale Praktiken in der Forschungspraxis

Der Suchprozess I: Was erheben wir? Wie bei jeder empirischen Forschung stößt man auch bei praktikentheoretisch inspirierter Arbeit auf die Schwierigkeit, das Forschungsfeld abzugrenzen – in diesem Fall die entsprechenden raumzeitlichen Zusammenhänge von Praktiken und Arrangements. Zudem dürfen sich Forschende nicht von der Illusion leiten lassen, dass practice-arrangement bundles in ihrer Gänze erfasst werden können. Es lassen sich also nur Fragmente einer Praktik und ihre räumlich sowie zeitlich gebundene Variante empirisch erfassen. Die Tatsache, dass es für bestimmte Zusammenhänge einen Begriff gibt, wie z.B. Kochen oder Einkaufen, kann darauf hinweisen, dass es sich dabei um Praktiken handeln kann (Schatzki 2012: 24). Das bedeutet aber keineswegs, dass es sich dabei um eine Praktik im Sinne eines Nexus handeln muss, die bspw. durch konkrete Praktiken des Kochens oder Einkaufens (als doings und sayings) weitergetragen wird. Das Herausarbeiten der Praktik hinsichtlich eines organisierten Nexus ist vielmehr eine Konstruktionsleistung, die empirisch auf den doings und sayings basiert. Nach einer nicht standardisierten Vorgehensweise bietet es sich an, über einzelne, empirisch fassbare doings und sayings auf Praktiken im Sinne eines Nexus zu schließen. Dabei handelt es sich um eine Konstruktionsleistung, die auf den empirisch herausgearbeiteten doings und sayings im Sinne räumlich wie zeitlich gebundener Fragmente eines Nexus basiert. Methodisch übersetzt heißt dies, dass die verorteten Aktivitäten mit anderen, ebenso verorteten Phänomenen verknüpft sind. Dadurch sind Praktiken über Raum und Zeit miteinander verbunden. Dies kann ein Forschungsdesign erfordern, das an mehreren Orten stattfindet (z.B. multi-sited ethnography/research, Marcus 1995) oder die Arbeit mit historischen Dokumenten einbindet. Wie bei jeder empirischen Forschung steht man auch bei der Forschung mit Praktikentheorien vor der Herausforderung, das eigene Forschungsfeld – in diesem Fall die entsprechenden raumzeitlichen Zusammenhänge von Praktiken und Arrangements – abzugrenzen, um es empirisch bearbeiten zu können. Die Frage nach der empirischen Abgrenzung von Praktiken als Nexus ist dabei mit der Frage nach der Abgrenzung des Forschungsfeldes verknüpft, wobei es der forschenden Person obliegt, die getroffenen Setzungen transparent zu machen.

Der Suchprozess II: Wie erheben wir? Schatzkis Praktikentheorie wurde in der deutschsprachigen Humangeographie bisher überwiegend mit offenen Forschungsdesigns und qualitativen Methoden umgesetzt (z.B. Faller 2015; Lahr-Kurten 2012; Maus 2015; Haubrich 2015; Stephan 2019, i. E.). Die Autor*innen versuchen in ihren jeweiligen Arbeiten anhand

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einzelner Methoden oder durch die Verknüpfung verschiedener Methoden, eine dichte Datengrundlage für nachvollziehbare Analysen und deren Interpretation zu schaffen. Auch wenn nicht alle praktikenorientierten Studien verschiedene Methoden kombinieren, geht Nicolini aber so weit zu sagen, dass die komplexe Struktur einer Praktik kaum durch einzelne Methoden oder eine einzige Art und Weise der wissenschaftlichen Darstellung erfasst werden kann (Nicolini 2009: 196). Dieser Methodenvielfalt möchten wir auch in diesem Beitrag gerecht werden, denn schließlich erfolgt die Auswahl der Methoden auch anhand der Forschungsfrage und des methodologischen Verständnisses. Dabei gibt es keine allgemeingültigen Regeln oder einzig zulässige Verfahrensweisen. Allerdings betont Schatzki (2012: 25) den Wert interpretativ-verstehender Methoden: »[T]here is no formal […] method that can get at these matters. There is no alternative to hanging out with, joining in with, talking to and watching, and getting together the people concerned.« Auf die Rolle quantitativer Methoden verweisen wir an späterer Stelle. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf ausgewählte qualitative Methoden: die teilnehmende Beobachtung, qualitative Interviews, die qualitative Dokumentenanalyse und visuelle Methoden. Alle diese Methoden werden im ersten Schritt bezüglich ihrer Erhebungstechniken kurz vorgestellt, bevor wir methodenübergreifend auf Möglichkeiten eingehen, empirische Daten mit einer praktikenorientierten Perspektive zu analysieren. Im zweiten Schritt thematisieren wir eine mögliche Triangulation qualitativer mit quantitativen Methoden in praxeologischen Arbeiten.

Qualitative Beobachtung Wenn sich Praktiken aus dem Nexus von doings und sayings zusammensetzen, richtet sich der Fokus auf die Annahme, dass Gesagtes und Getanes nicht kongruent zueinander sind. Dies zeigt bspw. Hartmann (2011), wenn er von Vertrauenspraktiken spricht. Vertrauen mündlich zu bekunden, entspricht nicht Handlungen, die auf Vertrauen auf bauen oder wo Vertrauen Praktiken erst ermöglicht. Nur die Beobachtung von Praktiken kann Rückschluss auf Vertrauensphänomene geben. Damit wird Vertrauen in Praktiken beobachtbar (ebd.). Schmidt und Volbers (2011) argumentieren, dass das Soziale, welches sich in Praktiken manifestiert, aus Prozessen vornehmlich öffentlich sichtbarer und erfahrbarer Events besteht. Hieraus resultiert folglich das Interesse der Praxeolog*innen, Praktiken an realen Schauplätzen zu beobachten, wo soziale Ordnungen sich in Praktiken vollziehen (Schmidt 2017: 13). Die Methoden der Beobachtungen orientieren sich meist an den Prämissen der Ethnographie, die in den Fokus stellen, was Mitglie-

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der einer Gruppe oder Individuen tun (Spradley 1980). Um eine möglichst nahe Beobachterposition einzunehmen, verwenden Ethnograph*innen wie auch Geograph*innen die Methode der teilnehmenden Beobachtung. In praktikenorientierten Studien geht es darum, Praktiken in ihrer tatsächlichen Ausführung zu erfassen, was nicht unbedingt die aktive Teilnahme erfordert. Bei der qualitativen Beobachtung bildet die beobachtende Person das Forschungsmedium, indem sie sich am Ort des Geschehens auf hält und sowohl Ort als auch Geschehen mit ihren Sinnen erfasst. Die beobachteten Aktivitäten an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit können als Variationen von Praktiken (als Nexus) begriffen werden. Durch die Beobachtung kann die Performativität und nicht-sprachliche Ebene von Praktiken besonders gut erfasst werden. Des Weiteren können so auch Fragmente von Praktiken erfasst werden, die sich kaum artikulieren lassen (vgl. Schmidt 2017). Mit dem methodischen Ansatz des Praxeologisierens richtet Schmidt das Augenmerk auf die situativen Zusammensetzungen, in denen Praktiken vollzogen werden. »Observing actual linguistic, bodily, tacit and pictorial courses of (inter-)action as they happen, plus practitioners’ sense-making as well as understanding, interpreting, articulating and describing such processes is at centre stage.« (Schmidt 2017: 15) Damit die qualitative Beobachtung gelingt, bedarf es einer gerichteten Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente von Praktiken. Dieser Fokus entwickelt sich sowohl aus dem konkreten Forschungsinteresse als auch durch die konzeptionelle Sensibilisierung für geteilte understandings, rules und teleoaf fective structures, die sich wiederum in den Aktivitäten der beobachteten Personen und deren Interpretation bestimmter Arrangements zeigen. Diese stellen zugleich analytische Anhaltspunkte für die weitere Interpretation dar. Für ein besseres Verständnis von practical understanding kann teilnehmende Beobachtung aufschlussreich sein, und zwar in Bezug auf »knowing how to perform an action that helps compose the practice, knowing how to recognize this action, and knowing how to respond to it« (Schatzki 2010: 51). Es ist dabei nicht nur gewinnbringend, zu erfassen, wie, wann, mit wem und wo bestimmte Praktiken ausgeführt werden, sondern im Fall von Konf likten und gescheiterten Aktivitäten auch, wie sie eben nicht ausgeführt werden. Schatzki weist darauf hin, dass die Normativität (»man macht so etwas nicht«) ein zentrales Element der teleoaf fective structure von Praktiken ist (ebd.: 48ff.), die gerade im Fall »misslungener« Aktivitäten oder der »Zweckentfremdung« von materiellen Arrangements im Vergleich zu ihrem gemeinhin zugeschriebenen Sinn gut beobachtet werden kann. Je nach Intensität der Teilnahme (Spittler 2001) ist die beobachtende Person in den entsprechenden Praktiken und materiellen Arrangements involviert. Das Mitmachen und die leibliche Verinnerlichung der doings können dabei einen Schlüssel zum Verstehen der entsprechenden Praktik bilden, denn nicht nur das Beobachten anderer Personen kann Aufschluss über Praktiken geben, sondern

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auch das Wahrnehmen der eigenen Aneignung von Praktiken und ihrer Arrange­ ments – und damit zumindest ansatzweise der Verinnerlichung ihrer organisierenden Elemente (understandings, rules, teleoaf fective structures). Dabei kann teilnehmende Beobachtung auch die Einverleibung von Essen und Trinken, Gerüchen, Temperaturen und Geräuschen beinhalten. Qualitative Beobachtungen sind dabei eigene Interpretationen des Gesehenen und Gehörten (verstanden als eine Variation des entsprechenden Nexus aus doings und sayings). Mithilfe von Beobachtungen und der Versprachlichung von Praktiken in Form von Texten, Memos und Feldnotizen durch die Forschenden wird so Material geschaffen, das mittels passender Interpretationsmethoden ausgewertet werden kann. Beispielsweise nahm Maus (2015) selbst aktiv an Geocaching-Aktivitäten mit Gesprächspartner*innen teil, wobei der Fokus »auf dem körperlichen Erleben als teilnehmend Beobachtender im Feld« lag (ebd.: 111). Beobachtung führt also auch zur Aneignung und Selbsterfahrung der Praktiken und der zugehörigen materiellen Arrangements durch die Forschenden. Es liegt nahe, dass sich Beobachtungen sehr gut eignen, um alltägliche Praktiken an ihren entsprechenden Orten zu erfassen – verstanden als intersubjektiv interpretierte materielle Arrangements. Doch die Methode der Beobachtung erfährt auch ihre Grenzen. So kann weder erfasst werden, was sich außerhalb des beobachteten Raumausschnitts abspielt, noch was zu einem anderen Zeitpunkt als während der Beobachtung geschieht. Forschende können das Augenmerk selbstverständlich nicht auf alle umgebenden Faktoren lenken, sondern müssen in der Forschungssituation selbst eine Auswahl treffen. Um Praktiken zeitlich (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und räumlich f lexibler zu erfassen, sind qualitative Interviews eine geeignete Möglichkeit, um weiterführende Schlüsse zu ziehen.

Qualitative Interviews Da Interviews zu den beliebtesten Methoden empirischer Sozialforschung zählen, gehören sie auch zum Standardrepertoire der genannten Arbeiten, die sich auf praktikentheoretische Ansätze stützen (Faller 2015; Lahr-Kurten 2012; Haubrich 2015; Maus 2015). Eine zentrale epistemologische Überlegung ist dabei, dass Menschen durchaus über ihre Praktiken sprechen können (siehe Hitchings 2012: »People can talk about their practices«). Dabei sind die sayings eines Interviews von den sayings im Vollzug einer Praktik zu trennen. Auch bei Interviews kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie Praktiken vollumfänglich abbilden können. Andererseits kann der Forschende sich auf Informationen über Praktiken oder nur auf bestimmte Aspekte von Praktiken (z.B. die Bedeutungszuschreibungen) fokussieren (vgl. Westerhoff/Robinson 2013 zu narrativen Interviews in Verbindungen mit Praktiken).

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Da klassische Formen des qualitativen Interviews, wie das narrative Interview oder das Leitfadeninterview, in zahlreichen Methodenbüchern, wie bspw. von Lamnek (2010), ausführlich erläutert werden, stellen wir im Folgenden zwei weniger bekannte Interviewmethoden vor: das Interview mit dem/der Doppelgänger*in (Nicolini 2009) und die Go-alongs bzw. walking interviews. Beide Methoden versuchen, eine besonders detaillierte Verbalisierung von Aktivitäten zu erreichen.

Interview mit Doppelgänger*innen Das Interview mit Doppelgänger*innen (Nicolini 2009) basiert darauf, dass man hauptsächlich die Interviewpartner*innen erzählen lässt ohne »einzugreifen« – diese sollen sich vorstellen, dass sie in ihrer »Rolle« (z.B. als Einkäufer*innen im Supermarkt) von Doppelgänger*innen vertreten werden. Damit die Doppelgehenden nicht »auff liegen«, müssen die Interviewpartner*innen in ihrem fiktionalen Gespräch mit den Doppelgänger*innen so detailliert wie möglich die Situationen schildern, was wie getan und gesagt werden muss (sayings und doings). Ob die Forschenden strukturierende Kategorien vorgeben oder es als unstrukturierte Konversation planen, ist im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse abzuwägen. Diese Vorgehensweise ist im Besonderen für Schatzkis Theorie der sozialen Praktiken hilfreich, da die Menschen angehalten sind, aus ihrer Perspektive detailliert zu erzählen, was für sie auf welche Weise Sinn ergibt. Gerade das practical understanding wird hierbei fokussiert. Allerdings sind auch rules und teleoaf fective structures im Zuge einer detaillierten Auswertung der Interviews zu identifizieren. Beispielsweise enthalten die Erwartungen der Interviewten, dass die Zuhörenden etwas von den Beschreibungen lernen werden und vermitteln moralische und normative (was ist richtig und angemessen zu tun) Aspekte. So kann sich die forschende Person zu den moralischen und normativen Dimensionen der Praktiken Zugang verschaffen. Nicolini (2009: 204) nennt zusammenfassend drei Aspekte, die dieses Interviews für die Erforschung von Praktiken interessant machen: »[T]he conventionalized moral pillars of the local practice – the local good, so to speak; the repertoire and grammar of accountability that sustains such good; and the main practical concerns through which this good manifests itself in the daily activity.« Dadurch, dass die Interviewpartner*innen in die fiktive Situation versetzt sind, Doppelgänger*innen ganz genaue Instruktionen geben zu müssen, damit diese als Doppelgänger*innen fungieren können, kann es gelingen, mehr über die praktiken­ inhärenten understandings, rules und teleoaf fective structures zu erfahren. »The interview thus makes visible that the ordered production of sayings and doings and the accomplishment of concerted action takes place in the dimension of urgency and care.« (Ebd.: 205) Dabei ist diese Art des Interviews als komplementäre Methode, bspw. zu Beobachtungen, gedacht: »By comparing the results of the

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interview with the observation of the everyday practice and the analysis of other sources I was able to appreciate not only what the instructions contained but also what was left out and deleted.« (Ebd.) Das Interview mit Doppelgänger*innen ist eine Methode, die den Beteiligten besonders prägnant zu erklären und spezifisch auf die organisierenden Elemente einer Praktik ausgerichtet ist.

Go-along/walk-along/walking interview »Klassische« Interviews, die an einem Ort durchgeführt werden, erreichen wortwörtlich ihre Grenzen. Wenn bspw. Personen bestimmte Räume und Orte in ihrer Darstellung erwähnen, so erscheinen diese lediglich vor deren geistigem Auge. In den letzten Jahren wurden u.a. aus diesem Grund neue Methoden entwickelt, die Beobachtungen und Interviews miteinander verschränken. Eine Form ist die go-along Methode (Kusenbach 2003). Wie Maus (2015: 103) schreibt, sind go-alongs Möglichkeiten, »welche die Schwächen unabhängig voneinander durchgeführter teilnehmender Beobachtungen und qualitativer Interviews teilweise kompensieren können. Während teilnehmende Beobachtungen in der Regel nicht auf die subjektiven Erfahrungen und Interpretationen der Forschungssubjekte zum Zeitpunkt der Beobachtung zurückgreifen können, sind Interviews in der Regel an statische, dem eigentlichen Feld entrückte formale Settings gebunden.« Konkret bedeutet es, sich mit den Menschen durch den Raum zu bewegen, (alltägliche) Aktivitäten mitzuerleben und das gleichzeitig Erlebte als Erzählstimulus zu nutzen. Doings als »zentrale Analysefigur« (Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011) können mithilfe von go-alongs beobachtet und im Gespräch mit den Interviewpartner*innen thematisiert werden. Das go-along-Interview bietet also für die humangeographische Forschung die Möglichkeit, wahrnehmungsräumliche Aspekte stärker zu betonen und so »den Raum« als konstitutive Dimension zu untersuchen (ebd.; Kühl 2016). Büscher und Urry (2009) heben zudem hervor, dass mobile Methoden generell zur Erfassung von Performativität von Alltags(-im-) mobilitäten geeignet sind. Ähnlich der go-along-Methode ermöglichen walking interviews ein »Beobachten von ›doings‹ in situ« (Kühl 2016: 138 mit Bezug auf Hitchings 2012), mit deren Hilfe Räume sinnhaft angeeignet werden können. Der »Rundgang« kann etwa für die Teilnehmenden als Anlass zur Erläuterung von typischerweise vollzogenen Praktiken dienen (vgl. Hitchings 2012). Dabei verweist Kühl (2016) darauf, dass sich das Explizit-Machen in der Kommunikation der Alltagspraktiken als schwierig darstellen kann, die Beobachtung des doings unter Umständen allerdings diese Lücke schließen könne. Gleichzeitig hebt sie hervor, dass »Walking Interviews selbst soziale Praktiken [sind], sodass auch die unmittelbar beobach-

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teten Geschehnisse des Walking Interview als ›doings‹ und ›sayings‹ zu begreifen sind.« (Ebd.: 41) Dadurch, dass es sich bei go-alongs bzw. walking interviews um eine reaktive Methodik handelt, können Emotionen, Normen oder Werte im Gespräch thematisiert werden. Als reaktives Verfahren (Forschende können sich entscheiden, ob sie auf das Gesagte sowie auf die visuellen, gezeigten, gesagten und wahrgenommen Raumbezüge eingehen) ist es also auch möglich, die practical intelligibility – also das, was für jemanden Sinn ergibt zu tun – zu thematisieren. Auch der organisatorische Aspekt von Praktiken sowie Veränderungen von Organisation durch Lernprozesse können erfasst werden: »Activity is governed by practical intelligibility, which is itself determined by mental conditions, many of which formed during the processes of learning and being trained and instructed to carry on the practices involved.« (Schatzki 2002: 81) Hier bietet sich auch an, das Interview mit den Doppelgänger*innen in die go-alongs zu integrieren, da Instruktionen oder auch das, was Schatzki »learning and being trained« nennt, im Fokus stehen. Go-alongs und walking interviews bedeuten nicht zwangsweise ein ständiges Unterwegssein. Die Flexibilität und die Situation der Personen so mitzuerleben, wie diese sie im Alltag erfahren und wie sie für sie Sinn ergeben, rücken mit in den Fokus. Die Einverleibung und das empathische Miterleben von Praktiken seitens der forschenden Person bekommen somit Bedeutung. Mit dem Folgen der Praktiken und ihrer Organisation kann auch der Anspruch einer »f lachen Ontologie« praktisch umgesetzt werden (als f lache Ontologie bezeichnet Schatzki (2016) den Gedanken, dass alle Phänomene einer Realitätsebene zugeschrieben sein sollen). Die hier vorgestellte Methode eröffnet den Zugang zu Wahrnehmungsprozessen und verräumlichten Praktiken. Außerdem kann diese Form des Interviewens mit weiteren Dokumentationsmitteln erweitert werden, wie z.B. GPS oder Fotografie (Dirksmeier 2007), sodass das »Was« und »Wo« mit den Wahrnehmungen und Erinnerungen verknüpft wird (Manz 2016). Auch kann dadurch erreicht werden, dass man unmittelbar die (alltäglichen) Handlungen im Raum erlebt, also Handlungen und Arrangements direkt in Orte eingebunden werden. So betont auch die praxeologische Perspektive, dass place durch und in Aktivitäten besteht (Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011). Everts, Lahr-Kurten und Watson fassen zusammen, dass Schatzkis site ontology eine Verbindung verschiedener praxeologischer Ansätze ist, wie z.B. im Sinne von Giddens’ arrangement-Theorien, in Anlehnung an Latours follow the actors oder Deleuze und Guattaris assemblages (ebd.). Durch die praktische Umsetzung von follow the actors im Zuge des go-along können Verbindungen der Praktiken-Arrangements nachgespürt werden. Die Sammlungen von Menschen, Artefakten etc. existieren als fragile, raumzeitlich kreierte Phänomene; als labile Phänomene, die vorübergehend fixiert werden (Schatzki 2002: 84). Mithilfe der go-along-Methode kann untersucht werden, wie die Arrangements des zu untersuchenden Phänomens umgesetzt bzw. geschaffen oder

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verändert werden. Durch die Arrangements können auch die Wirkungsweisen der Praktiken sowie deren Knotenpunkte sichtbar gemacht werden: So vermögen Menschen, die man als Forschende*r begleitet, Zusammenhänge aus ihrer Sicht darzustellen und Abzweigungen auf Wegen zu machen, die für sie Sinn ergeben. Die Verbindungen, die zwischen verschiedenen practice-arrangement bundles geformt werden, können so erst sichtbar gemacht werden, da der Prozess des Schaffens, Zerstörens und Stabilisierens miterlebt werden kann. Die go-along-Methode kann als eine Erweiterung der qualitativen Beobachtung verstanden werden. Zu den genannten Vorteilen zählt sicherlich auch, dass die go-along-Methode gegenüber der teilnehmenden Beobachtung unter Umständen weniger zeitintensiv sein kann und thematische Schwerpunkte gesetzt werden können. Dadurch ist es möglich, diese Methode ressourcensparend in der Forschung einzusetzen. Bisher haben wir Methoden vorgestellt, die Praktiken im Vollzug erfassen und dabei auf die eigene Konstruktion von Daten durch Interaktion mit den beforschten Personen setzen. Doch es gibt auch eine ganze Reihe von Phänomenen, bei denen das kaum möglich ist. Daher wird nachfolgend eine Methode vorgestellt, die einen anderen Zugang zur empirischen Erforschung von Praktiken liefert.

Qualitative Analyse von Dokumenten Dokumente gelten nach wie vor als »the paradigmatic artefacts of modern knowledge practices« (Riles 2006). Die Analyse von schriftlichen Dokumenten (u.a. amtliche Akten, Beiträge in Foren, Protokolle, Urteile, Tagebücher etc.) wurde zunächst in den Geschichtswissenschaften angewandt und entwickelte sich zu einem festen Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Methoden. Für die InWert-Setzung als Praktiken-Methode ist dieses Verfahren weniger verbreitet, da Dokumente als Repräsentationen des Sozialen und somit lediglich indirekt als Quelle für soziale Praktiken dienen. Nichtsdestotrotz bietet diese Methode insbesondere zur Analyse und Erhebung versteckter Praktiken sowie zeitlich zurückliegender Praktiken einen essenziellen empirischen Zugang. Doch wie können durch Dokumente Praktiken mit ihren doings und sayings rekonstruiert und erarbeitet werden? Wie können rules, general understandings, practical understanding und teleoaf fective structures sowie die Arrangements in Dokumenten sichtbar gemacht werden? Grundsätzlich kann eine qualitative Auswertung von practice-arrangement bundles durch einen Fokus auf doings, sayings, rules und teleoaf fective structures vorgenommen werden. (1) Ein Dokument kann bspw. Hinweise auf doings durch eine Rekonstruktion deskriptiver Textstellen liefern. Eine primäre Beobachtung der Praktik ist zwar nicht möglich, aber als Sekundärbeobachtung durchaus sinnvoll (Beispiele sind Rezepthefte, Bedienungsanleitungen, Ratgeber oder Handbücher

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à la »Dies und Das für Dummies«). (2) Sayings werden ebenfalls durch die Primärverfasser auf bereitet, gefiltert und dadurch interpretiert. Eine hermeneutische Analyse von Textpassagen kann diese sayings hervorbringen. (3) Rules der Praktiken können durch inhaltsanalytische Auswertungen von Dokumenten wie Gesetzestexten, Auf lagen, Hygienevorschriften, politische Handlungsempfehlungen und anderen nachgezeichnet werden. Für diese Komponente von Praktiken eignet sich die Dokumentenanalyse besonders gut. (4) Teleoaf fective structures können insbesondere mithilfe der Ansätze der Biographieforschung gut erfasst werden. Diese setzen sich u.a. mit Briefen, Tagebüchern und Erfahrungsberichten ausei­ nander. Dabei kann die Rekonstruktion von Emotionen, Zielen etc. – im Gegensatz zur Analyse von rules oder understandings – durch die hermeneutische Analyse von Texten sichtbar gemacht werden. Bevor eine so gestaltete inhaltsanalytische Auswertung erfolgt, ist es notwendig, die Eigenlogik sowie den Entstehungskontext des analysierten Dokuments kritisch zu betrachten, wobei das Dokumentieren als eine Praktik zu verstehen ist. Die Dokumente werden mit einem bestimmten Zweck, unter bestimmten Regeln sowie in zeitlichen und räumlichen Kontexten verfasst. Somit werden die Dokumente selbst Teil der Analyse von Praktiken und können weiterhin inhaltlich auf Praktiken hin untersucht werden. Daraus ergeben sich u.a. folgende Fragen: Wurde ein Fokus auf bestimmte Praktiken gelegt, während andere nicht thematisiert wurden? Gilt es, Praktiken des Dokumentierens zu berücksichtigen? In welchem Kontext wurde das Dokument verfasst? Welche Praktiken sind damit verbunden (z.B. Archivieren)? Wie wird das Artefakt in weiteren Praktiken verwendet (z.B. zur Erstellung von Gutachten, als Grundlage in Gerichtsverhandlungen)? Zusammenfassend können in Abhängigkeit von der Form der Dokumente verschiedene Organisationskomponenten von practice-arrangement bundles mittels inhaltsanalytischer Auswertungen erarbeitet und sichtbar gemacht werden. Auch lexikometrische Auswertungen sind grundsätzlich denkbar. Solche quantitativen und textauslegenden Heuristiken fokussieren dabei auf grammatikalische, syntaktische und metaphorische Eigenschaften oder auf Kolokationen bestimmter Gedanken, um Aufschlüsse über kognitive Distanzen und Nähen zu gewinnen. Die Grenzen der qualitativen Analyse von Dokumenten liegen in der mangelnden primären Observation von raumzeitlichen Praktiken. Dokumente stellen immer eine durch die Autorenschaft gefilterte Repräsentation des Sozialen dar: die Beschreibungen der Autor*innen sind räumlich und zeitlich limitiert und fragmentiert. So muss im Forschungsprozess die Reliabilität des Dokuments kritisch hinterfragt und die Interpretationen entsprechend kontextualisiert werden. Nicht nur zu Anfang, sondern auch in der Situation selbst stellen sich die Forschenden die Frage, was beobachtet, gefragt oder gelesen werden soll. In Dokumenten können natürlich neben Text auch Bildmaterial sowie Artefakte ausgewertet werden.

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Visuelle Elemente können aber bspw. auch in qualitativen Beobachtungen, Interviews oder go-along zum Einsatz kommen. Oft knüpfen die im Folgenden vorgestellten visuellen Methoden somit an die in diesem Kapitel bereits beschriebenen Methoden zur Erfassung sozialer Praktiken an, können jedoch auch eigenständig einen Beitrag zum praktikenorientierten Forschen leisten.

Visuelle Methoden »Die Geographie ist eine visuelle Wissenschaft« (Dirksmeier 2007: 1) und dementsprechend breit gefächert ist das methodische Angebot von Visualisierungen (Kartographie, Arbeiten mit Skizzen, Fotografie etc.). Dieses Kapitel fokussiert Ideen für das Forschen mit Fotos und Videos. Grundsätzlich ist hierbei zwischen der Analyse von bereits bestehendem Bildmaterial sowie dem Einsatz und Erschaffen von (bewegten) Bildern im Forschungsprozess selbst zu unterscheiden. In letzterem Fall ist wiederum zu trennen, ob das Bildmaterial von Forscher*innen eingesetzt oder »in Auftrag« gegeben wird oder ob sie selbst zu Urheber*innen werden. Eine aktuelle Übersicht über verschiedene und für die Geographie wichtiger Autor*innen im Bereich audio-visueller Methoden siehe Stephan (2019: 115-119). Bei der Nutzung von bestehendem Bildmaterial geht es in erster Linie um die Dekonstruktion des Bildes selbst, ähnlich der Dokumentenanalyse. Wir möchten also den doings der Urheber*innen des Bildes auf die Spur kommen. So müssen wir nach dem Entstehungskontext des Bildes fragen, also von wem es in welchem Kontext und möglicherweise für einen bestimmten Zweck oder Adressaten angefertigt wurde. Aitken und Craine (2005) beschreiben das Arbeiten mit Bildern in ihrem Beitrag »Visual methodologies: what you see is not always what you get« – ein Hinweis darauf, dass das Arbeiten mit Bildern »an sich« zwar möglich, aber in Bezug auf die Analyse von doings und sayings oft nur schwer zugänglich ist. Der Entstehungskontext muss von den Forscher*innen herausgearbeitet werden. Um soziale Praktiken zu erfassen, legen wir hier daher den Fokus auf die Erstellung und Nutzung von visuellem Material im Forschungsprozess selbst – oft kombiniert mit anderen Methoden. Beliebt ist die Kombination mit Interviewverfahren, in denen Bilder sowohl von Forscher*innen genutzt werden, um den Erzählf luss anzuregen, als auch von den Befragten erstellt werden können. Bekannt geworden ist vor allem die ref lexive Fotografie (für eine Übersicht verschiedener kombinierter Fotografie-Interviewverfahren aus der visuellen Soziologie vgl. Dirksmeier 2007: 7), in welcher die Proband*innen zunächst Fotos erstellen, welche im Anschluss entweder selbst direkt von Forscher*innen interpretiert werden oder aber in Interviews verwendet werden, um »bildlich festgehaltene Wahrnehmung des sozialen Feldes textuell-sprachlich zu interpretieren, über Abläufe und Kontexte zusammengehöriger, konkreter Handlungssituationen zu ref lektieren

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und sie gleichzeitig in routinisierte Handlungsabläufe einzuordnen« (Haubrich 2015: 121). Die Eignung von Fotos für die Erforschung von Praktiken wird ebenfalls von Kühl betont, denn die »so erstellten Fotos bilden ein Medium zur Verständigung über das nicht unmittelbar Sag- bzw. Beschreibbare« (2016: 142). Zum einen kann bereits die Motivwahl, d.h. die Praktik des Abbildens an sich, als sinnhafte Praxis verstanden werden (ebd.: 142). Zum anderen hilft die »eingefrorene« Momentaufnahme bei der gemeinsamen anschließenden Ref lexion (und Kontextualisierung f lüchtiger Momente) über ansonsten nur schwer zugängliche doings. Diese »freeze«-Funktion von Fotos können sich Forschende auch selbst zunutze machen, vor allem, wenn sie bei der Erfassung von sozialen Praktiken mit der Methode der qualitativen Beobachtung arbeiten. Denn Situationen, in denen Beobachtungen stattfinden, sind oft unübersichtlich und vielschichtig. Die Forschenden können ihr Augenmerk selbstverständlich nicht auf alle sie umgebenden Faktoren lenken, sondern müssen in der Forschungssituation selbst eine Auswahl treffen. Vor allem um materielle Arrangements nicht aus den Augen zu verlieren und noch einmal mit mehr Abstand die Konzentration auf »Verbindungen von Menschen, Organismen, Artefakten und natürlichen Dingen« (Schatzki 2016: 33) zu richten, sind Fotos hervorragend geeignet. Vom Forschenden selbst erstellte Bilder verschaffen uns also die Möglichkeit und vor allem die Zeit, doings und arrangements im Nachgang zu analysieren. Fotografien können somit als »Gedächtnisstütze« und Ergänzung von Feldnotizen (vgl. Maus 2015: 101) fungieren. Dies ist insofern interessant, da Smartphones heute in vielen Forschungen selbstverständliche Bestandteile sind und die Aufnahme eines Fotos oft weit schneller vonstattengeht als die textliche Beschreibung der Beobachtung. Sollen die Bilder jedoch mehr sein als ein Erinnerungszeichen, ist es wichtig, diese möglichst zeitnah aufzuarbeiten und in dichte Feldbeschreibungen zu überführen, solange die eigene Erinnerung an das Fotografierte noch frisch ist. Eine interessante Erhebung von sichtbaren practice-arrangement bundles ist das Filmen. Durch Videoaufnahmen können im Vergleich zu Fotos neben doings nun auch sayings, eingebettet in ihre Kontexte, zeitgleich erfasst werden. Besonders interessant ist es, Handlungen in ihrem »natürlichen« Kontext filmisch zu erfassen. Handelnde können aber auch gebeten werden, ihr Tun im Vollzug verbal zu beschreiben (dies könnte somit auch mit dem vorgestellten Doppelgänger*innen-Interview kombiniert werden). Gelingt es dem Forschenden, den durchaus kritisch zu ref lektierenden Faktor der Beeinf lussung der Situation durch die Aufnahmepraktik zu minimieren (z.B. durch lange Anwesenheit im Feld oder durch die Auswahl wenig »sensibler« Praktiken), entsteht ein dichter Einblick in practice-arrangement bundles. Wird die Beschreibung des Tuns im Ablauf der Praktik unterbrochen, kann dies auch ein Hinweis darauf sein, dass wir es mit practical understandings zu tun haben, also praktischen Fähigkeiten, die einer Praktik zwar zugrunde liegen, aber gleichzeitig schwer zu verbalisieren sind. Anders als bei der

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reinen Tonaufnahme können diese Fähigkeiten hier besser erfasst und später feiner als beim Foto ref lektiert werden. Auch zur Ref lexion oder als Unterstützung der eigenen limitierten Wahrnehmung im Forschen eignen sich Fotos und Videos – es ist oft erstaunlich, was unserer Aufmerksamkeit beim Erheben entgangen ist. Stephan, die dezidiert visuelle Zugänge zur Analyse sozialer Praktiken wählt (im Kontext von Hochwassermanagement), hält fest: »It is especially the ref lective power set free by visual meth­ ods which is of high value to a research process that involves conceptualisations of space and spatiality, materiality and embodiment« (Stephan 2019: 116).

Kombination mit quantitativer Forschung Bisher haben wir einige qualitative Methoden vorgestellt, die in einem praxeologischen Forschungsdesign ihre jeweils eigenen Stärken haben. Geht man davon aus, dass Praktiken oftmals routinisiert sind (Reckwitz 2003) oder aus Wiederholungen bestehen (Schäfer 2016), dann können auch quantifizierende Ansätze erkenntnisfördernd sein. Praxeologische Forschungen schließen eine Kombination qualitativer Methoden mit quantitativen Methoden nicht aus (siehe dazu auch den Beitrag »Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks«). Maus (2015) benutzte bspw. – neben einer Vielzahl qualitativer Methoden – auch eine quantifizierende, um mehr über seinen Forschungsgegenstand herauszufinden. Dabei geht es aber nicht, wie bei quantitativen Verfahren oft üblich, um das Prinzip der Falsifizierung bestimmter Hypothesen. Vielmehr stehen die Exploration und Beschreibung im Vordergrund. Schatzki (2012: 26) schreibt hierzu, statistische Verfahren seien »ultimately useful only in conjunction with some combination of ethnography, oral history, history, and theory. Their undoubted usefulness provides no good reason, moreover, to play at mathematical modeling or simulations of social affairs. Modeling oversimplifies complex, subtle situations, whereas simulations at their best only provide just-so stories about how the world might have – but did not – come about.« Quantifizierende Analysen könnten demnach Anhaltspunkte für eine weitere, auf verstehende Verfahren ausgerichtete Forschung liefern. Denkbar wäre bspw., darauf zu achten, ob das gemeinsame Auftreten bestimmter Artefakte (Gutachten, Genehmigungen, Gesetze, Gerichtsurteile) auf eine spezielle Praktik räumlicher Planung hindeutet. Ohne qualitativ-verstehende Verfahren »one cannot know what and how to compare, what umbrella categories to use, and the significance of revealed commonalities and differences« (Schatzki 2012: 25). Quantitativ-verglei-

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chende Verfahren sind demnach sinnvoll mit qualitative-verstehenden Verfahren zu kombinieren.

Der Analyse- und Auswertungsprozess: Nach was suchen wir in den Daten? Grundsätzlich hängt die Vorgehensweise bei der Datenauswertung vom Erkenntnisinteresse, vom Forschungsdesign und von den Erhebungsmethoden ab. Wird bspw. ein exploratives Forschungsdesign gewählt, dominiert auch bei der Auswertung Offenheit gegenüber dem Datenmaterial. Wichtig ist es daher, den Analyse- und Auswertungsprozess nachvollziehbar zu machen, wie Forschende von den empirisch erfassten Aktivitäten, also der doings und sayings, und der materiellen Entitäten auf ihren organisierenden Nexus schließen. Dabei gilt der Grundsatz empirischer Sozialforschung, dass Daten nicht objektiv »erhoben«, sondern durch die forschende Person »konstruiert« werden. Haubrich (2015: 123) stellt hierzu fest: »So sorgfältig die bisherige Methodikliteratur den Forschenden auf seiner qualitativen Erkenntnisreise bis hierhin mit nützlichen Reisetipps ausstattet, so dünn wird der methodische Leitfaden jedoch bei der Bewältigung des letzten Schritts, nämlich der Auswertung.« Im Folgenden wollen wir nicht auf einschlägig bekannte Analyse- und Auswertungsverfahren eingehen, sondern vielmehr auf das Praktiken-Spezifische. Zuvorderst stellen wir fest, dass Praktiken im Sinne eines raumzeitlichen Nexus sich nicht einfach beobachten oder erfassen lassen (Maus 2015: 90). Vielmehr ist es die Konstruktionsleistung der Forschenden, die die unterschiedlichsten Daten zusammenführen und analysieren. Dabei gilt es, auf Bedeutungszuschreibungen und Kontexte zu achten, auf die praktikenkonstituierenden Elemente, die zeigen, wie Praktiken organisiert sind (understandings …), wie practice-arrangement bundle angeordnet werden, wie Praktiken und Arrangements in Raum und Zeit zu Bündeln verf lochten werden. Beispielsweise sind doings und saying konkrete Handlungen, etwas, das man sehen kann, was jemand macht, sagt: beim Kartenspielen die Herz 10 oder eine andere Karte legen, etwas zeichnen, aufspringen, gestikulieren, rufen, aber auch etwas unterlassen oder nicht tun. Darüber hinaus ist z.B. die Organisation oder Moderation einer Veranstaltung als ganze practice-arrangement bundles zu verstehen, da über das eigentliche Tun und Sagen hinaus diverse Arrangements benötigt werden. Außerdem sind doings und sayings nicht normativ, also nicht per se »positiv« oder »emotional«. Dabei geht es folglich um eine Beschreibung des Tuns und Sagens, also ganz konkreter Praktiken. Beispielhaft möchten wir die dokumentarische Methode nach Bohnsack (2003; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013) hervorheben, die in ihrer Orientierung an Praktiken für die Auswertung geeignet ist. Sie hat sich auch innerhalb vieler

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methodischer Zugänge etabliert, geht ursprünglich aber auf die Interpretation von Gruppendiskussionen und Gesprächen zurück (siehe auch zu Auswertung mit der dokumentarischen Methode für Bildinterpretation, narrative Interviews, teilnehmende und videogestützte Beobachtung, Videointerpretation, Bohnsack/ Nentwig-Gesemann/Nohl 2013: 18ff). So ist die dokumentarische Methode in ihrer Ausrichtung interessant für Praxeolog*innen, da sie u.a. »zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis« (ebd.: 9) führen möchte. Bohnsack, Nentwig-Gesemann und Nohl (2013: 9) beschreiben weiter: »Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z.T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert. Dennoch wird dabei die empirische Basis des Akteurswissens nicht verlassen. Dies unterscheidet die dokumentarische Methode von objektivistischen Zugängen, die nach Handlungsstrukturen ›hinter dem Rücken der Akteure‹ suchen.« Da sich diese Methode auf die Handlungspraxis fokussiert, zielt sie explizit auf eine Überwindung von Subjektivismus und Objektivismus, »indem der Beobachter einerseits dem Wissen der Akteure als empirischer Ausgangsbasis der Analyse verpflichtet bleibt und deren Relevanzen berücksichtigt, ohne aber andererseits an deren subjektiven Intentionen und Commonsense-​ Theorien gebunden zu bleiben, diesen sozusagen ›aufzusitzen‹. Vielmehr gewinnt der Beobachter einen Zugang zur Handlungspraxis und zu der dieser Praxis zugrundeliegenden (Prozess-)Struktur, die sich der Perspektive der Akteure selbst entzieht.« (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013: 10) Gerade auch eine Triangulation unterschiedlicher methodischer Zugänge kann mithilfe der dokumentarischen Methode angewendet werden (ebd.: 22).

Weiterführende Diskussion Anstelle einiger abschließender Sätze möchten wir hier vielmehr zu einer weiterführenden Diskussion anregen. Als Orientierung für den Einstieg in praxeologisches Forschen lieferte dieser Beitrag verschiedene Ideen, Erfahrungen und Anknüpfungspunkte. Es gibt aber keine Blaupause für die Umsetzung von praxeologischer Forschung. Forschende müssen ihre jeweils eigene praktikentheoretische Forschungspraxis entwickeln. Da es keine ausgewiesene Methode der Praktikentheorie gibt und man den eigenen Methodenkoffer mit vielen Methoden der empirischen Sozialforschung individuell packt, ist es wichtig darauf zu

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achten, wofür die einzelnen Methoden ursprünglich konzipiert waren und sich zu fragen, wie diese praxeologisch übersetzt und kombiniert werden können. Diese Offenheit kann auch dazu führen, vertraute Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen. Eine grundlegende Herausforderung praktikenorientierten empirischen Forschens besteht darin, dass für die Beschreibung alltäglicher doings und sayings oftmals ein adäquates Vokabular fehlt. Insbesondere routinisierte Tätigkeiten und die damit verbundenen practical understandings erfordern ein Vokabular, das Forschende sich erst aneignen müssen. Aus der Forschungspraxis heraus lässt sich feststellen, dass über Praktiken zu reden Forschende wie die Gesprächspartner*innen gleichermaßen fordert. Die Schwierigkeiten über Praktiken zu sprechen, lässt sich durch einen Mix an unterschiedlichen Methoden, bspw. wie den hier im Beitrag dargestellten, bewältigen. Schatzkis Ontologie ist hilfreich, um die erhobenen Daten als practice-arrangement bundles zu beschreiben und zu systematisieren. Die Theorie kann aber nicht schematisch angewandt werden, sondern es bedarf der Offenheit, die die jeweilige Fragestellung benötigt. In dem Suchprozess während des Forschungsvorhabens und während der Datenauswertung kann Schatzkis praktikentheoretische Perspektive Denkprozesse unterstützen, bspw. um die Daten zu Ergebnissen zusammenzuführen. In der Zusammenschau zeigte dieser Beitrag insbesondere vier Aspekte einer praktikenorientierten Methodik: (1) Die Auswahl der Methoden folgt dem Erkenntnisinteresse. (2) Der in der Humangeographie etablierte Methodenkoffer ist geeignet, um praktikentheoretisch zu arbeiten. (3) Weniger etablierte Methoden, bspw. visuelle Methoden, stellen sinnvolle Ergänzungen dar. (4) Eine methodische Triangulation ist hilfreich, um practice-arrangement bundles zu fassen.

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Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks – Reflexionen über praxeologische Methodologien Klaus Geiselhart, Annika Hoppe-Seyler und Cosima Werner

Einleitung Im anglophonen Sprachraum werden die Begriff lichkeiten »Methode« und »Methodologie« oftmals synonym verwendet, und tatsächlich haben sie auch denselben Ursprung im griechischen Wort méthodos. In der Übersetzung bedeutet es »Weg« oder besser »Weg zu etwas hin« (vgl. Beer 2008: 9). Im Forschungskontext ist Methodologie somit sowohl zu verstehen als das Nachdenken über den Weg zu einem wissenschaftlichen Ergebnis als auch als die Lehre von den anwendbaren wissenschaftlichen Methoden. Methodologische Überlegungen versuchen entsprechend, »die Arbeit des Sozialwissenschaf tlers zu beschreiben, einer Kritik zu unterziehen und Vorschläge für eine verbesserte sozialwissenschaf tliche Praxis zu machen« (Opp 2014: 19, Herv. i.O.). Dazu gehört ein Nachdenken über die Leistungen, Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Erhebungsverfahren sowie deren Angemessenheit im Hinblick auf den zu betrachtenden Forschungsgegenstand. Während sich der Terminus »Methodologie« also auf eine Ref lexionsebene bezieht, bezeichnet »Methode« eine konkrete praktische Vorgehensweise, die zur Produktion wissenschaftlicher Ergebnisse Verwendung findet. Methodologie ist somit zwischen dem theoretischen Konstrukt und der methodischen Umsetzung positioniert. Dabei können Methoden als Praktiken verstanden werden, also als konventionalisierte Verfahrensweisen, die auf dem Weg der Beantwortung spezifischer Fragestellungen eingesetzt werden. Damit wird deutlich, dass die analytische Trennung von Theorie und Methodologie bei praxeologischen Ansätzen alles andere als trennscharf ist (vgl. Schäfer 2016a). Theorie und Praxis bilden vielmehr nur eine von vielen Dichotomien, die praxeologisch infrage gestellt werden. Die seit dem practice turn zunehmend auch in der Humangeographie rezipierten praxeologischen Theorien gehen davon aus, dass man die für viele Denkschulen kennzeichnenden Dualismen (z.B. Struktur/Individuum, Subjekt/Objekt) auf lösen kann, wenn man das Soziale als sich in Praktiken verwirklichend denkt

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(z.B. Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001; Schmidt 2012; Schäfer 2013; Reckwitz 2016). Demnach ist weder das selbstwirksame Individuum Gestalter*in des Sozialen, noch können Strukturen als alleinige Determinanten von Gesellschaft angesehen werden. Vielmehr stellen Praktiken die kleinsten Einheiten des Sozialen dar. Individuen nehmen an Praktiken teil, die als überindividuelle konventionalisierte Aktivitätsmuster ausgeführt werden. Somit kann jedwedes beobachtbare Phänomen als Praxis verstanden werden. Dies gilt konsequenterweise auch für das wissenschaftliche Forschen selbst. Inwieweit praxeologische Ansätze aber die Dichotomie Theorie/Praxis versuchen aufzulösen, ist dabei von Autor*in zu Autor*in verschieden (Volbers 2015). Wir können demnach zwei grundlegende Fragen stellen. Erstens: wie lässt sich der Blick auf Praktiken und Praxis operationalisieren? Oder anders ausgedrückt: Wie gestaltet sich Methodik unter dem gezielten Blick auf Praktiken und Praxis? Theoriegeleitete Forschung wird oftmals mit dem Tragen von Brillen verglichen. Die theoretische Brille leitet den Blick und lässt so Dinge in Erscheinung treten, die ohne diese Brille nicht hätten erkannt werden können. Daraus stellt sich die Frage: Was lässt sich mit den verschiedenen praxeologischen Brillen und den damit verbundenen methodischen Umsetzungen erkennen? In diesem Sinne haben praxeologische Denker*innen verschiedene Heuristiken entworfen. Bisher lassen sich zwar kaum einheitliche methodologische Grundannahmen erkennen (Shove 2017), doch wurde mittlerweile aus unterschiedlichen Perspektiven darüber nachgedacht, was eine praxeologische Methodologie bedeuten könnte. Einige dieser Zugänge werden wir in diesem Beitrag thematisieren und daran anschließend die von mehreren Autor*innen geforderte Hinwendung zu ethnographischen Methodologien diskutieren. Zweitens stellt sich die Frage, wie mit der praxistheoretischen Grundannahme umzugehen ist, dass nicht nur empirische Forschung, sondern konsequenterweise auch jegliche wissenschaftliche Theoriebildung als Praxis verstanden werden muss (Volbers 2015). Forscher*innen nehmen keine übergeordnete Beobachterposition ein, sondern sind Teil des praktischen Geschehens, innerhalb dessen sie beobachten und forschen, sie werden automatisch zu einem Teil des zu erforschenden Phänomens. Entsprechend werden wir darstellen, wie verschiedene praxeologische Theoretiker*innen sich mit dieser Positionalität auseinandersetzen und wie sie denken, dass der Standpunkt, den Forscher*innen gegenüber ihren zu untersuchenden Gegenstand einnehmen, ref lektiert werden kann. In oben gewählter Metapher entspricht das einer Ref lexion über die Tönung der Brille, also einer Beschreibung davon, wie die zugrunde gelegte Theorie den Blick prägt. Darüber hinaus destabilisieren Praxeologien aber die »klassische« Trennung zwischen Theorie und Empirie noch weitreichender, indem sie die wechselseitigen Verschränkungen beider Bereiche auf methodologischer Ebene betonen. Das

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Praxistheorem lässt sich noch umfänglicher denken. »Es wird zugleich die Empiriegebundenheit von Theorie und die Theorieabhängigkeit jeder empirischen Beobachtung zum Ausgangspunkt gemacht.« (Schmidt 2012: 31) Demnach erlangt empiriebasierte Theorie erst im Vollzug der Forschungspraxis, innerhalb derer sie auf den Untersuchungsgegenstand einwirkt, ihre endgültig beobachtbare Form. Das bedeutet, dass sich Forschungsgegenstand und Forschende erst im konkreten, situativen Forschungszusammenhang gegenseitig hervorbringen. Übersetzt in die Metapher der Brille heißt das, dass man sich zwar seiner Brille bewusst sein kann, man aber immer schon mit einem eigenen Blick durch diese Brille schaut. Dieser Blick ist sowohl kulturell als auch durch persönliche Erfahrungen geprägt und damit nicht so einfach hintergehbar, als dass er durch willentliche Ref lexion erkannt werden könnte. Vielmehr scheint die Position der Teilnehmer*innen allenfalls in Irritationen auf, die während des Forschungsprozesses entstehen. Erst die konkrete Forschungspraxis bringt also die Chance mit sich, seine eigene Prägung erkennen zu können. Wir werden die Frage der Positionalität also nicht nur dahingehend diskutieren, wie man Brillen absetzt, sondern auch überlegen, wie man den eigenen Blick öffnen kann. Entsprechend werden wir Ansätze vorstellen, die es ermöglichen, diese Ref lexionsebene von Positionalität systematisch zu erreichen. Abschließend werden wir vor dem Hintergrund des Verständnisses von Forschung als Praxis einige praktische Hinweise geben, die einerseits für die Lehre der Methodologie von Bedeutung sind, die aber andererseits auch der Orientierung im Forschungsprozess dienen können.

Praxeologische Brillen: Konzepte der Datengenerierung und -interpretation In diesem Abschnitt werden wir Metaref lexionen der praxis- und praktikentheoretischen Datenproduktion und -interpretation vorstellen. Diese operationalisieren jeweils bestimmte praxeologische Prinzipien für die empirische Forschung. Anwendung in geographischen Arbeiten fand und findet bspw. der von Benno Werlen beschriebene methodologische Individualismus, den wir als erste praxeologische Brille diskutieren wollen. Daran anschließend erfolgt eine Vorstellung von Karin Knorr Cetinas methodologischem Situationalismus, der sich um eine Operationalisierung des Praxistheorems jenseits einer Reduktion auf individuelle Handlungen oder übergeordnete Strukturen bemüht. Schließlich präsentieren wir die auf der Frage nach Veränderungen von Praxis auf bauenden Überlegungen Hilmar Schäfers, die er in seiner transitiven Methodologie präzisiert.

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Methodologischer Individualismus Einen vor allem für die deutschsprachige Geographie relevanten Beitrag lieferte Benno Werlen mit seiner Adaption von Anthony Giddens’ (1988) Theorie der Strukturierung, an die er einen methodologischen Individualismus anschließt. Grundannahme dieses Ansatzes ist, dass in den Handlungen der Akteure soziale Strukturen reproduziert werden, die wiederum Handlungen ermöglichen oder beschränken. Dabei werden die Beforschten als handlungsfähig konzipiert und können nicht nur ihre Ziele und Interessen in die Handlungen einbinden, sondern damit auch die Umstände (die sozialen Strukturen), in denen die individuellen Handlungen stattfinden, verändern. »Soziale Phänomene können ausschließlich unter Bezugnahme auf die Analyse des Verhaltens von Individuen erklärt werden.« (Werlen 1999: 36) Individuen werden also als Experten ihrer Handlungen betrachtet und sind damit auch auskunftsfähig über Deutungen und Wahrnehmungen derselben (Faller 2015: 104). Im Fokus der Analyse stehen folglich immer die einzelnen Akteure, deren Handlungen als auf soziale Phänomene verweisend analysiert und interpretiert werden. Die häufigste Kritik an Werlens Ansatz richtet sich gegen ebendiese Überbetonung der einzelnen Individuen als kompetente Akteure. Zwar werden auch aus praxeologischer Perspektive Praktiken als von Individuen prozessiert gedacht, sie sind als Träger*innen der Praktiken folglich relevanter Teil des Forschungsprozesses. Dies schließt jedoch aus, die beobachteten Phänomene als rationale Handlungsakte Einzelner zu verstehen. Die in der Praxis angelegten Rationalitäten müssen vielmehr als intersubjektiv nachvollziehbare Ausführungen von Praktiken gedacht werden, die unabhängig von den Wünschen und Zielen einzelner Akteure sind. Benno Werlen wird daher vorgeworfen, einzelne Handlungsakte künstlich zu isolieren (Schäfer 2016b: 138) und die Brille des zweckrationalen Handelns von Menschen überzustrapazieren. Trotz der Kritik setzt der methodologische Individualismus ebendiese Brille auf, um überhaupt etwas sehen und analysieren zu können. Nun ist sich Werlen bewusst, dass eine rationale Erklärung für bestimmte Handlungen immer nur eine retrospektive Rationalisierung dieses Handelns sein kann. Der Zusatz methodologisch deutet demnach darauf hin, dass die Idee der Handlungsrationalität nur zum Zwecke der Forschung, also als eine bewusst verkürzende Reduktion von Praxis, eingesetzt wird. Dies führte in eine Debatte, ob andere Theoreme – auf eine ähnliche Weise methodologisch eingesetzt – eine praxeologische Sichtweise nicht besser unterstützen könnten als dies der methodologische Individualismus unseres Ermessens nach leisten kann.

Vom Absetzen theoretischer Brillen und der Öffnung des eigenen Blicks

Methodologischer Situationalismus Eine Auf lösung sowohl der Überbetonung des einzelnen Akteurs als auch der Fokussierung auf kollektive Makrostrukturen, wie sie von Ansätzen des methodologischen Kollektivismus vertreten wurde (vgl. Meran 1979), bieten Knorr Cetina und Cicourel (1981) mit dem methodologischen Situationalismus an. Dieser Ansatz hat zum Ziel, auch weiterhin mikrosoziologische Perspektiven einnehmen zu können, ohne jedoch soziale Ordnungen zu negieren oder das Soziale allein aus dem Individuum heraus zu erklären. Damit wendet sich der methodologische Situationalismus von den normativen Vorstellungen der Strukturierung des Sozialen durch individuelle Akteure ab. »Methodological Situationalism has replaced the model of individual actor as the ultimate unit of social conduct by a conception which incorporates the reciprocity and the situated character of social action.« (Knorr Cetina/Cicourel 1981: 23) Mikrosoziale Situationen müssen immer in Relation zu anderen betrachtet werden. Damit nimmt der methodologische Situationalismus eine überindividuelle, interskalare Perspektive ein, die davon ausgeht, dass makro­soziologische Phänomene in Mikrosoziologien verankert sind. Die Analyse konkreter Situationen kann somit nur unter Einbezug der räumlichen und zeitlichen Verbindungen dieser einen zu anderen Situationen erfolgen (Woermann 2017). Da die zu untersuchenden Praktiken erst im jeweiligen konkreten Vollzug ihre endgültig beobachtbare Form erlangen, ist es sinnvoll, den Fokus der Forschung auf ebenjene konkrete Situationen zu richten, in denen sich die Praktiken realisieren. In der beständigen Variation dieser Situationen werde, so Knorr Cetina, schließlich die Herstellung des Sozialen sichtbar. Dennoch muss sich auch dieser Ansatz die Kritik gefallen lassen, die unmittelbare Beobachtung mikrosoziologischer Phänomene überzubetonen und diesen eine Authentizität zuzusprechen, die eher zu einer Fixierung isolierter Schauplätze als zur komplexen Darstellung eines in einer Gesellschaft stattfindenden Geschehens führe (Schmidt/ Volbers 2011). Darüber hinaus bietet der Ansatz keine Anweisungen zur Identifikation einzelner Situationen in den konkreten Forschungszusammenhängen, sodass unklar bleibt, wie eine Umsetzung des methodologischen Situationalismus gedacht werden kann.

Transitive Methodologie Mit dem Ziel, die Engführung des Situativen zu überwinden, erarbeitet Hilmar Schäfer seine an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) angebundene transitive Methodologie. Am empirischen Beispiel von Weltkulturerbestätten verdeutlicht er, dass die Anerkennung derselben durch die UN-Gremien dann nachvollziehbar wird, wenn die Forschenden dem Fluss von Praktiken und Materialitäten unter Einbezug vor allem der zeitlichen Dimension folgen (Schäfer 2016c).

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Die transitive Methodologie nimmt somit besonders die Verbindungen und Übergänge in den Blick, die zwischen Elementen entstehen und mit denen sie sich gegenseitig beeinf lussen. Zentral ist die Frage danach, welche Praktiken sich über die Zeit verändern und welche Praktiken und/oder materielle Entitäten diese Brüche hervorbringen. Es handelt sich dabei um eine eher poststrukturalistische Perspektive auf die Instabilität von Praktiken. Die Veränderungen von Praktiken geschehen durch Iteration – also durch einen Prozess der mehrfachen Wiederholung. Diese Wiederholungen müssen immer auch hinsichtlich ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension betrachtet werden. Veränderungen von Praxis entstehen dann bspw. dadurch, dass Praktiken körperlich angeeignet oder mit dem Verweis auf frühere Wiederholungen aufgegriffen werden. Von großer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Verknüpfung von Praktiken mit Artefakten und räumlichen Arrangements, die immer als relational und heterogen gedacht werden muss. »Die Praxistheorie verfolgt dabei Verbindungen zu anderen Zeiten, Orten und heterogenen Beteiligten.« (Schäfer 2013: 375) Ziel ist es, das komplexe Netz der miteinander verbundenen Elemente eines Phänomens beschreiben und analysieren zu können, wobei die Heterogenität der einzelnen Elemente hinsichtlich ihrer graduellen Unterschiede berücksichtigt werden muss (Schäfer 2016c). Die transitive Methodologie möchte die Differenzen und f ließenden Übergänge zwischen den Elementen sozialer Phänomene akzeptieren und durch eine detailreiche Beschreibung das vermeintliche Chaos des Sozialen in Form einer Darstellung miteinander verbundener Prozesse aufschlüsseln (Schäfer 2017). Damit orientiert sich dieser Ansatz stark an den Grundgedanken der f lachen Ontologie (Schatzki 2016) und bietet auch interessante Anknüpfungspunkte für eine eher poststrukturalistisch gewendete Praxeologie.

Praxeologische Plädoyers für ethnographische Methodologien Viele Autor*innen, die häufig im Zusammenhang mit Praxis- und Praktiken­ theorien genannt werden, plädieren für eine Hinwendung zu ethnographischen Methoden. So erfordert bspw. Bruno Latours (2007 [2005]) Anspruch, das Soziale wieder neu zusammenzufügen (reassembling the social), eine qualitativ empirische Vorgehensweise. Zahlreiche Anhänger*innen der Akteur-Netzwerk-Theorie verstehen diese in einem ethnographischen Sinne. Auch andere Praxeolog*innen widmen sich dem Methodenspektrum der Ethnographie zu. Pierre Bourdieu beispielsweise hat bezüglich seiner empirischen Forschung eine erstaunliche Wandlung vollzogen. Anfangs betrieb er ethnographische Studien in Algerien, aus denen er seine Theorie der Praxis entwickelte (Bourdieu 1976 [1972]). Auf dieser Basis erarbeitete er ein Programm, das durch die Verknüpfung einer dezidierten Terminologie (Habitus, Feld, Kapitalsorten etc.) mit sozialwissenschaftlichen

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Methoden einen »objektiven« Standpunkt erlaube. Insbesondere auf die Kritik hin, er würde damit eine elitäre Position als Soziologe vertreten, bekannte er sich später wieder zunehmend zur Ethnologie (Bourdieu/Wacquant 1996 [2005]). Im Folgenden werden wir u.a. auch Arbeiten vorstellen, die sich auf diese Aspekte Bourdieus methodologischer Ausrichtung beziehen.

Die methodologische Operationalisierung des Praxistheorems in der Ethnomethodologie Das Praxistheorem – also die Vorstellung, dass eine Rationalisierung unseres Tuns allenfalls retroperspektiv möglich ist, da das praktische Tun dem bewussten Denkprozess vorangeht – ist vielen Ansätzen implizit, aber kaum irgendwo so deutlich beschrieben und konsequent operationalisiert wie in der Ethnomethodologie. Harold Garfinkel (1967) sieht, dass die alltägliche Praxis von den Beteiligten unref lektiert und routiniert ausgeführt wird. Er erkennt darin implizite Bedeutungsstrukturen, die den Beteiligten aber nicht bewusst sind und über die sie auch nicht ohne Weiteres sprechen können. Die Ethnomethodologie möchte nun diese impliziten Bedeutungsstrukturen erfassen. Sie begreift soziale Ordnungen als situierte und wiederkehrende Praktiken, welche sich in lokalen Arrangements beobachten lassen (Schmidt 2017a: 6). Ganz ähnlich, wie es viele Praxeologien anstreben, geht es der Ethnomethodologie nicht darum, Phänomene in sozialwissenschaftliche Kategorien einzuordnen, »sondern herauszuarbeiten, durch welche praktischen Methoden ›etwas‹ zu ›etwas‹ wird« (Bergmann 2000: 55). Damit fokussiert die Ethnomethodologie sich auf die situativen Praktiken und alltagsweltlichen Kontexte, in denen Personen handeln. Bezüglich der methodischen Umsetzung bedient sich Garfinkel ethnographischer Methoden und macht diese für Sozialwissenschaften zugänglich. Darüber hinaus entwickelt er das Krisenexperiment (oder demonstrative Experiment), das in besonderem Maße geeignet ist, implizite Bedeutungsstrukturen des Alltags zum Vorschein zu bringen. Beim Krisenexperiment werden gezielt Situationen entworfen, in denen gewöhnliche, alltägliche Vorgehensweisen nicht funktionieren. Nun werden Proband*innen diesen Situationen ausgesetzt, was bei ihnen eine Verständniskrise erzeugt. In der Folge dieser Irritation sind die Proband*innen daran interessiert, die Ordnung wiederherzustellen. Dazu müssen sie ihre Verhaltensweisen ref lektieren und ihre Deutungen anderen Beteiligten gegenüber explizieren. Damit offenbaren die evozierten Krisen, welche bisher unerkannte Ordnungen und Strukturmerkmale Praktiken und Situationen inhärent sind. Soziale Normen werden sichtbar, die hinsichtlich ihrer Stabilität und Reproduktion analysiert werden können. Es lassen sich Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge erkennen. Die Verbindungen aufeinander bezogener Handlungen von Menschen sowie die Schaffung sozialer Wirklichkeit lassen sich so nachzeichnen (Psathas 1981; Bergmann 2000).

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In diesem Fokus auf die faktisch stattfindende Alltagspraxis begründet sich die dokumentarische Methode, bei der sozialer Sinn bestimmt wird, indem die konkrete beobachtete Erscheinung aufgefasst wird »als ›das Dokument von‹, als ›Hinweis auf‹, als etwas, das anstelle und im Namen des vorausgesetzten zugrundeliegenden Musters steht« (Garfinkel 1973 [1961]: 199). Dementsprechend wurde die dokumentarische Methode in den Sozialwissenschaften vielfach angewendet und weiterentwickelt (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013). Im Beitrag »Soziale Praktiken in der Forschungspraxis« (in diesem Band) setzen die Autor*innen sich damit auseinander, wie die dokumentarische Methode in praktikenorientierten Arbeiten angewendet werden kann. Mittels detailreicher Konversationsanalysen, die auf Transkripten von Tonband- und Videoaufzeichnungen basieren und in möglichst alltagsweltlichen Situationen erhoben werden, soll ein Verständnis von Ordnungsprinzipien – wie bspw. der Kategorien Geschlecht und Klasse – aus ihrer lokalen Situiertheit heraus erarbeitet werden. Gelingt es, die Selbstverständlichkeit der Praktiken in ihrem Vollzug wiederzugeben, dann begreift man, wie sie im jeweiligen Kontext performativ reproduziert werden. In Anlehnung an ethnomethodologische Ansätze haben Vertreter *innen der praxeologischen Theoriebildung z.B. Theoreme wie doing gender (West/Zimmerman 1987), doing class (hooks 2000) oder auch undoing gender (Hirschauer 2001) hervorgebracht. Das Alltägliche wird nicht mehr als selbstverständliche quasinatürliche Ordnung angesehen, sondern als etwas sozial Hergestelltes. Diese Perspektive ermöglicht es, sich Effekten gesellschaftlich relevanter Kategorien bewusst zu werden (Schmidt 2017b).

Praxeologisieren des Blicks und Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip Entsprechend fordert Robert Schmidt (2017a) ein stärkeres Praxeologisieren des empirischen Blicks. Hierzu müssten alle sozialen Praktiken als »öffentlich« angesehen werden. Kernaussage dieses Öffentlichkeitsprinzips ist, dass jedwedes soziale Tun und Sagen sich nur in und mit Gemeinschaft verwirklichen kann, also immer als öffentliche, einen breiten Kreis von Menschen betreffende »Erscheinung« begriffen werden muss (Schmidt/Volbers 2011). Demnach entwickeln sich gesellschaftliche Ereignisse von öffentlichem Interesse als ein Strom verschiedener Akte der Sinnproduktion. »Öffentlichkeit ist […] ein Merkmal aller sozialen Vollzüge, in denen Sinn produziert und prozessiert wird – und ist damit ein Merkmal aller sozialer Praktiken.« (Schmidt 2017b: 171) Die in Praktiken eingebundenen Sinnhaftigkeiten werden nicht als Prozesse im Bewusstsein von Subjekten verstanden, sondern »als äußere, übersubjektive, interaktive, öffentliche und beobachtbare Accountings, Deutungs-, Klassifikations- und Beglaubigungsakte« beschrieben (ebd.: 164). Die These der Öffentlichkeit sozialer Sinnproduktion geht von einem gemeinsam geteilten Raum aus, in dem sich die situierten Praktiken

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und ihre Kontexte gegenseitig konstituieren. Ein solcher Raum kann nur als »prozessualer, relationaler Raum der Praktiken und Beziehungen zwischen verkörperten Teilnehmerinnen, Artefakten, Orten und Umgebungen« (Schmidt/Volbers 2011: 28) gedacht werden. Eine konsequente Beobachtung derart verf lochtener Praktiken muss auch die zeitliche Komponente miteinbeziehen. Nicht nur Gegenwärtiges, auch vergangene Praktiken und Beziehungen, ebenso wie die zukünftige Ausrichtung derselben, müssen mitgedacht werden. Mit einer Praxeologisierung des Blicks ist demnach gemeint, dass – wenn soziale Situationen konsequent als sich vollziehende Praxis begriffen werden – diese auch aus den ihnen immanenten Prozessen der Sinnproduktion heraus verstanden werden müssen. Das bedeutet, dass sich erst aus den jeweiligen Situationen heraus ergibt, was an ihnen thematisch interessant oder problematisch ist, und folglich erst hier deutlich werden kann, was der Forschungsgegenstand ist. Damit lassen sich deutliche Parallelen zur Grounded Theory und der Action Research feststellen. Erstere wollen wir im Folgenden näher vorstellen. Bei der Grounded Theory handelt es sich um einen Forschungsstil, der die eigene Forschung konsequent als soziale Praxis in Auseinandersetzung mit den Beforschten begreift und dem es deswegen primär darum geht, die eigene Brille zuallererst einmal zu erkennen und dadurch vielleicht auch absetzen zu können. Dabei werden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie man sich systematisch über den eigenen bisherigen Verstehenshorizont hinausarbeiten kann.

Grounded Theory als methodologische und methodische Konsequenz der bisherigen Überlegungen Die Grounded Theory wurde erstmals von den US-amerikanischen Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (2005 [1967]) im gemeinsamen Werk »The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research« formuliert (Mey/Mruck 2011; Equite/Hohage 2016). Aufgrund der deutlich unterschiedlichen Weiterentwicklungen sowohl von Glaser (1978), Strauss (1991 [1987]) sowie Strauss/ Corbin (1996 [1990]) als auch von einer als »zweite Generation« bezeichneten Gruppe von Autor*innen wie Kathy Charmaz (2006), Adele E. Clarke (2005) oder Janice Morse (2009) ist inzwischen deutlich geworden, dass aufgrund der vielfältigen Anwendungsbeispiele und Verfahrensvorschläge von Grounded-Theory-Methodologien in der Mehrzahl zu sprechen ist (Mey/Mruck 2011). Das Grundprinzip der Grounded Theory blieb dabei unverändert. Ziel ist »das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstandsbereich gerecht wird und ihn erhellt« (Strauss/ Corbin 1996: 9), wobei »die meisten Hypothesen und Konzepte nicht nur aus den Daten stammen, sondern im Laufe der Forschung systematisch mit Bezug auf

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die Daten ausgearbeitet werden. Theorie zu generieren, ist ein Prozess.« (Glaser/ Strauss 2005 [1967]: 15) Die besondere Anziehungskraft der Grounded Theory (im Weiteren GT) wird von vielen Autor*innen auf ihre programmatische Offenheit zurückgeführt, die Forschung als kreativen Prozess anerkennt und damit die Entwicklung und Entdeckung »neuer« Theorien aus empirischen Daten nicht nur ermöglicht, sondern einfordert. Dabei solle das jeweilige Vorgehen an die konkreten Problemlagen des jeweiligen Forschungskontexts angepasst werden (Mey/Mruck 2011). In diesem Zusammenhang vertritt die GT die Grundprinzipien der Offenheit und des permanenten Vergleichs, welche in ihrer konkreten Umsetzung einen ständigen Wechsel zwischen den verschiedenen Forschungsschritten erforderlich machen: Datengenerierung und Ref lexion (sprich: Analyse und Theoriebildung) müssen von Beginn an und im gesamten Verlauf des Forschungsprozesses beständig aufeinander bezogen werden. Diese sind somit als dynamisch miteinander verbundene, parallel ablaufende Modi des Forschungshandelns zu verstehen (Strübing 2002). Zu Beginn dieses zyklischen Vorgehens steht eine erkenntnisleitende, aber noch vergleichsweise offene Fragestellung, deren Ziel die kontrolliert-ref lektierte Annäherung an ein bestimmtes (evtl. als irritierend wahrgenommenes) Phänomen mittels empirischer Datengenerierung ist. Damit weist die GT große Ähnlichkeiten zu dem von Schmidt (2017a) geforderten Praxeologisieren auf. Idealerweise ergibt sich erst aus dem Feld heraus und unter Einbezug der an den jeweiligen Praktiken beteiligten Personen die eigentliche Fragestellung, welche anschließend durch weiterführende Prozesse der Datengenerierung (sowohl explorativer als auch v.a. im späteren Verlauf validierender Art) bearbeitet wird und schlussendlich zu einer eigenen, ebendiese empirischen Phänomene erklärenden theoretischen Rahmung führt. Für praxeologisch interessierte Wissenschaftler*innen stellt die GT unseres Ermessens nach eine sehr naheliegende und konsequente Herangehensweise an ein Forschungsfeld dar. Durch die von Beginn an starke Konzentration auf das empirisch Beobachtbare, auf das, was on the ground passiert, ist sie als eine Betrachtung der sich im Vollzug befindlichen Praktiken angelegt. Das Interesse an dem, was konkret passiert bzw. was sich tatsächlich in der Praxis realisiert, erfährt mithilfe der GT eine strukturierte Umsetzung. Statt mit vorgefertigten Begriffen, Konzepten oder Kategorien ins Feld zu gehen, werden diese aus dem Feld heraus entwickelt. Nun fordert die GT aber nicht nur eine Offenheit, sondern bietet mit den Konzepten des theoretischen Samplings und der theoretischen Sättigung sowie den schrittweise abstrahierenden Kodiertechniken (offen, dann axial und schließlich selektiv) auch Anleitungen, wie man seinen Blick systematisch öffnen kann. Diese Techniken distanzieren den Forschenden zunehmend von den persönlichen Erlebnissen der Situationen, in denen die Daten generiert wurden. Analysesoftware kann dabei helfen, dieses Prinzip systematisch zu operationa-

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lisieren. Dabei erhalten die Daten ein gewisses Eigenleben und können neu bewertet werden, um sukzessive abstraktere Analysekategorien zu entwickeln. So kann – praxeologisch gedacht – aufgeschlüsselt werden, welche sozialen Phänomene auf welche Weise relevant sind und bestimmte Benennungen erfahren (vgl. dazu auch Beitrag »Vom Wissen über das Tun – praxeologische Ansätze für die Geographie von der Analyse bis zur Kritik« in diesem Band). Zwei Aspekte hinsichtlich der konkreten Umsetzung sollen im Folgenden noch ausführlicher angesprochen werden: Obwohl die GT häufig qualitative Verfahren einsetzt, schließt sie quantitative Erhebungen nicht aus. Diese Verbindung bedarf aber einer näheren Untersuchung, die wir im abschließenden Abschnitt »Forschungsmethoden als Praktiken verstehen« führen werden. In diesem Rahmen werden wir auch Methodensets und Mixed-Method-Ansätze vorstellen. Zuvor wollen wir aber das durch die GT angesprochene Offenheitsprinzip näher untersuchen. Dieses beruht auf der Erkenntnis, dass es eigentlich unmöglich ist, die eigene Lern- und Lesebiographie vollständig ad acta zu legen. In diesem Zusammenhang werden Fragen der Ref lexionsarbeit und Positionsbestimmung in der Forschung wichtig, die gerade in praxeologischen Debatten immer wieder eine Rolle spielen.

Reflexivität und Positionalität Wenn nun die eigene Position und damit auch die jeweils subjektive Sichtweise immer Einf luss auf die Forschungspraxis hat, stellt sich die Frage, wie mit dieser Tatsache, insbesondere auch aus einer GT-Perspektive, umgegangen werden kann. In diesem Zusammenhang sehen sich die Forschenden nicht nur mit methodologischen, sondern auch mit forschungsethischen Aufgaben konfrontiert, die ebenfalls Bestandteil des Erkenntnisprozesses sind. In diesem Kontext wird die Forderung nach einem transparenten und kritischen Umgang mit der eigenen Positionalität gestellt. Der Anspruch, dass die Forschenden über ihre Wahrnehmungen und die Implikationen ihrer Handlungen ref lektieren sollen, hat sich als Gütekriterium qualitativer Sozialforschung fest etabliert (Flick/Kardoff/Steinke 2000: 23). Forschende haben als Gestalter*innen des Forschungsrahmens, als diejenigen, die geeignete Erhebungsmethoden auswählen, als Organisator*innen des Datenmaterials sowie als Auswertende und Darstellende des Materials eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion der Ergebnisse. Jede Phase der Forschung geht mit unzähligen Entscheidungen einher. Durch die Offenlegung der Positionen der Forschenden sollen die asymmetrischen Verhältnisse der Macht zwischen Beforschten und Forschenden kenntlich gemacht werden. Dies soll auch die Produktionsweisen akademischen Wissens verdeutlichen und offenlegen.

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Im Folgenden werden drei Dimensionen der Positionalität herausgearbeitet, die unseres Erachtens im Forschungsprozess eine Rolle spielen. Die erste Dimension ist eine Ref lexion der Voraussetzungen, die Forschende kraft der Professionalitätsansprüche ihres Berufes einnehmen. Hier sind insbesondere die innerhalb sozialwissenschaftlicher Forschungsdisziplinen gültigen und wirkmächtigen Rahmungen zu analysieren. Die zweite Dimension bilden soziale Kategorisierungen, die soziale Differenzen zwischen Forschenden und weiteren am Forschungsprozess Beteiligten markieren. Diese Kategorien werden in der Regel differenzlogisch v.a. von Ansätzen der Intersektionalität ref lektiert. Darüber hinaus gilt es noch zu erkennen, in welche Positionen die forschende Person im Prozess der Interaktion mit den Beforschten gerät. Wir werden dies in einer dritten Dimension als forschungsevozierte Positionalität vorstellen. Während die ersten beiden Positionalitäten auf das Absetzen struktureller Brillen angelegt sind, verweist die dritte auf die Frage, mit welchem Blick man schon vorab durch all diese Brillen geschaut hat.

Die Reflexion der professionsgeprägten Position In der Rückschau auf seine empirischen Arbeiten entwickelte Pierre Bourdieu die Vorstellung einer ref lexiven Anthropologie. Darin äußert er: »Ich mußte also, wie mir scheint, ohne überhaupt Gefallen daran zu finden, mich ständig über mein Verhältnis zum Gegenstand befragen.« (Bourdieu 1987: 33) Die empirische Methodik, für die er maßgeblich bekannt ist, baut er auf einer Vorstellung einer Logik der Praxis auf. Weil er intersubjektiv nachvollziehbare Methoden einsetzt, versteht er diese als wissenschaftliche Objektivierung. Er grenzt diese Perspektive bewusst von alltagsweltlichen Verständnissen ab. Seine sozialwissenschaftliche Methodik ist als »Brille« formuliert, die strukturelle Ungleichheiten sichtbar machen soll, welche normalerweise naturalisiert erscheinen. Im Sinne einer Soziologie der Soziologie äußert er eine professionsgeprägte Positionalität, die eine gesellschaftskritische Rolle für die Soziologie als Beruf bestimmt. Damit bezieht Bourdieu eine exklusiv wissenschaftlich Position ein, die sich explizit von den Sichtweisen der Beforschten distanziert. Einer derartigen Ref lexion der professionsgeprägten Positionalität geht es also nicht darum, individuelle Prägungen der Forschenden und damit eventuell verbundene unbewusste Präferenzen oder Abneigungen für bestimmte von den Beforschten vertretene Positionen und Handlungsweisen zu ref lektieren. Auch geht es nicht darum, persönliche Haltungen und Emotionen, die bei Kontakten zu unterschiedlichen Lebensstilen hervorgerufen werden, zu ref lektieren. Stattdessen geht es um eine Beschreibung der professionellen Rahmungen, bspw. beruf liche oder disziplinlogische Anforderungen, in welche die eigene Arbeit eingebunden ist. Es handelt sich um eine Positionalität, die sich aus der Sozialisation

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in ein spezifisches Arbeitsfeld ergibt – z.B. in der Entwicklungszusammenarbeit, raumplanerischen Tätigkeiten o.Ä. –, die auf der Ebene gesellschaftlicher Organisation und Arbeitsteilung als relevant begründet ist und der auf eine bestimmte, vorausgesetzte Weise ein Wert zugesprochen wird. Bourdieu nennt drei Aspekte dieser Ref lexion: »Ihr Gegenstand ist primär nicht der individuelle Wissenschaftler, sondern das in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewußte; zweitens: Sie ist ein kollektives Unternehmen und nichts, was dem Wissenschaftler individuell aufzubürden wäre; und drittens: Sie will die wissenschaf tstheoretische Absicherung der Soziologie nicht zunichte machen, sondern ausbauen.« (Bourdieu/Wacquant 2013 [1996]: 63, Herv. i.O.) Im Gegensatz dazu würde die Ref lexion einer individuellen Positionalität von der gesellschaftlichen Relevanz des eigentlichen Untersuchungsthemas ablenken und Soziologie als Projekt subjektiv erfahrender Wissenschaftler*innen darstellen. Damit würde, so Roland Lippuner (2005), der Anspruch nach wissenschaftlicher Objektivität zu Grabe getragen werden. Für unsere Überlegungen zu einer praxeologischen Methodologie bleibt bezogen auf Bourdieus ref lexive Anthropologie festzuhalten, dass eine Ref lexion der eigenen strukturellen Eingebundenheit (z.B. in das System der Hochschulwissenschaft) wesentlich ist, um die Ergebnisse von Forschung nachvollziehen und einordnen zu können. Dennoch darf eine sich ernst nehmende Ref lexionsarbeit unseres Erachtens nicht auf der Ebene einer professionsgeprägten Positionalität stehen bleiben, sondern muss weitere Aspekte einbeziehen.

Bestimmung einer differenzlogischen Positionalität Mit dem Auf kommen der Debatten um Intersektionalität und den damit verbundenen Identitätspolitiken werden manifeste soziale Kategorien bezüglich ihrer Starrheit, Wirkmächtigkeit sowie Wandlungsfähigkeit untersucht. Die Kategorien Geschlecht, soziale Herkunft und Ethnie (engl. gender, class und race) werden dabei in ihrer sozialen Differenz erzeugenden Wirkung ref lektiert. Der Terminus der Intersektionalität (Morley 2003; vgl. in diesem Band Beitrag »Intersektionalität und die Macht der Kategorie«) verweist darauf, dass sich die mit diesen Kategorien verbundenen strukturellen Benachteiligungen, etwa bei Mehrfachbetroffenheit, kreuzen (intersect). Sie können sich addieren, überschneiden und/oder exkludieren. Dies wird häufig am Beispiel schwarzer Frauen erklärt, die durch alle drei Identitätskategorien Benachteiligungen erfahren. Mittlerweile wurde diese klassische Trias der Identitätskategorien um weitere Differenzen wie Alter, Religion oder sexuelle Orientierung erweitert und auch praxeologisch ref lektiert (Winker/Degele 2009; Kubisch 2012; Hirschauer 2017). Diese Forschungsprogramme analysieren, inwiefern soziale Differenzierungen in Praktiken verankert sind und somit situativ reproduziert und wirkmächtig werden. Dabei wird zu-

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nehmend auch darauf hingewiesen, dass soziale Attributierungen niemals fixiert sein können, sondern als Prozesse zu betrachten sind. Soziale Differenzierungen können nicht als gesellschaftlich objektive Strukturen verstanden werden, sondern es gilt, sie im jeweiligen Kontext zu verstehen. Methodologische Implikationen erhält die Thematik in der ref lexiven Ethnographie (z.B. Davles 2007), den Post-Colonial Studies (z.B. Denzin/Loncoln/Tuhiwai Smith 2008) und feministischen Studien (z.B. Laliberté/Schurr 2016). Hier werden Anforderungen an die Wissensproduktion formuliert, die insbesondere die Forschenden und ihr Verhältnis zu den Beforschten betreffen. Demnach sollen sich alle Forschenden einer sich-selbst-identifizierenden Ref lexion bezüglich dieser Differenzkategorien unterziehen. Mit der Zugehörigkeit zu privilegierten Gruppen sind strukturelle Vorteile und nicht selten auch bestimmte Sichtweisen verbunden, die, sofern sie unref lektiert bleiben, den gesamten Prozess der Forschung – von der Formulierung der Forschungsfrage über die Datengenerierung und die Auswertung bis hin zur Darstellung der Ergebnisse – prägen können. Dabei werden Differenzkategorien für hegemoniale Wissensproduktionen, Asymmetrien von Macht und Interdependenzen verantwortlich gemacht. Entsprechend gilt es, die wissenschaftliche Deutungshoheit hegemonialer Positionalitäten zu brechen. In praxeologisch-poststrukturalistischem Sinne markieren Differenzen nicht nur nominale Abgrenzungen und Zugehörigkeiten, sondern manifestieren sich in verkörperlichten Haltungen, die nicht nur tiefgreifende Abneigungen und Sympathien bewirken, sondern auch Deutungsschemata unref lektiert aktualisieren. Aufgrund dieser Überlegungen kann grundsätzlich die Fähigkeit der Forschenden infrage gestellt werden, Lebenswelten anderer Menschen überhaupt untersuchen zu können. Es kann das Argument der Unhintergehbarkeit von Erfahrungen erhoben werden, da man manche Erfahrungen eben selbst gemacht haben muss, um sie zu verstehen. Im Sinne poststrukturalistischer Identitätspolitiken kann es keine wissenschaftlich adäquate Repräsentation des anderen geben, weswegen Intellektuelle derartige Versuche gar nicht erst unternehmen sollten (Foucault/ Deleuze 2002 [1972]). Stattdessen sollten sie die Verhältnisse aus ihren eigenen Perspektiven heraus kritisieren. Umgekehrt wurde diese Argumentation prominent von Gayatry Spivak (2008 [1988]) kritisiert. Ihrer Auffassung nach produziere die poststrukturalistische Differenzlogik erst subalterne Subjekte wie etwa das »postkoloniale Subjekt«. Dabei werde verkannt, dass die darunter versammelten Individuen so heterogen sind, dass sie ohne Hilfe keine Stimme finden. Die Lösung der Intellektuellen läge nicht darin, sich wegen der Unmöglichkeit akkurater Beschreibungen (representation) jeglicher politischen Vertretung (re-presentation) der Subalternen zu enthalten. Im Folgenden wollen wir nun aber zeigen, dass keineswegs immer die intersektionalen Differenzen maßgeblich dafür sind, ob in der Praxis der Forschung

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ein Zugang zum empirischen Feld etabliert werden kann oder nicht. Aus eigener Forschungserfahrung in marginalisierten Stadtteilen können wir bestätigen, dass man oft mit der von Spivak formulierten Erwartung der Beforschten konfrontiert wird, man solle sich für sie einsetzten. Bevor wir aber Action Research als eine Forschungslogik vorstellen, die diesen Gedanken programmatisch umsetzt, werden wir noch eine dritte Form von Positionalität beschreiben, die aus dem praxeologischen Gedanken der gegenseitigen Bedingtheit von Theorie und Praxis sowie der gegenseitigen Hervorbringung von Forschenden und Beforschten in forschungsspezifischen Situationen hervorgeht.

Forschungsevozierte Positionalitäten – Forschungserfahrungen als Schlüssel der Reflexion persönlicher und kulturspezifischer Prägungen Bisher nicht bedacht, ist die erkenntnistheoretische Frage, wie Sachverhalte erkannt werden können, die außerhalb der Lebenswirklichkeiten der Forschenden liegen. So begegnete einem der Autor*innen bei seiner Forschung zu HIV-bezogenen Bewältigungsstrategien im südlichen Afrika immer wieder die Phrase »You have to accept yourself«. Für den Forscher, selbst nicht mit HIV infiziert, gab es anfangs keine Notwendigkeit, diese Aussage zu hinterfragen. Es schien nur logisch, dass man die Krankheit akzeptieren muss, um im Umgang mit der Krankheit die richtigen Schritte tun zu können. Erst im Laufe der Forschungsarbeiten entpuppte sich diese Aussage als der Kern psychosozialer Bewältigung. Um dies zu erkennen, war es notwendig, eigene Selbstverständlichkeiten zu überwinden, die nicht von den zuvor beschriebenen Ref lexionen über Positionalität erkannt werden konnten. Wie aber lassen sich die vielfältigen strukturellen Brillen absetzen und wie lässt sich erkennen auf welche ganz grundsätzliche Weise der eigene Blick in Bezug auf den Forschungsgegenstand geprägt ist? Impulse zur Ref lexion eigener persönlicher Prägungen lassen sich unseres Ermessens nur aus dem Erleben der Forschungspraxis selbst entwickeln, wenn in der Unmittelbarkeit von Forschungssituationen Irritation empfunden wird. Im Forschungsprozess wird man mit vielfältigen Zuschreibungen konfrontiert. So wird eine der Autor*innen in ihrem Forschungskontext, in von Afroamerikaner*innen dominierten Armutsquartieren in Chicago und Detroit, aufgrund ihrer weißen Hautfarbe häufig als Polizistin wahrgenommen. Die Beziehung zwischen Afroamerikaner*innen und weißen Polizist*innen ist durchzogen von Misstrauen, welches auf die Forscherin übertragen wird. Weil die ethnographischen Forschungspraktiken in der Perzeption der lokalen Bevölkerung scheinbar aber auch denen von Journalist*innen ähneln, wurde die Forscherin manchmal auch als solche angesehen. Für unser Argument ist es nun wichtig zu sehen, dass derartige Zuschreibungen nicht eindeutig zu bewerten sind. Es ist keine klare Privilegierung als weiße Forscherin auszumachen, vielmehr scheinen in erster

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Linie die Machtbefugnisse der Polizei der Forscherin eine Art Sicherheit zu geben, sich in diesem für sie nicht ungefährlichen Umfeld überhaupt bewegen zu können. Doch kann man sich auch leicht Situationen vorstellen, in denen diese zugeschriebene Rolle als Polizistin wiederum zu einer Gefahr werden könnte. Die Zuschreibung der Journalistin hatte dagegen wahrscheinlich eher eine gewisse Auskunftsbereitschaft zur Folge. Es wird deutlich, dass diese Bezugnahmen situativ stattfinden und viel zu vielfältig, ambigue und ambivalent sind, als dass sie eindeutig erfasst werden könnten. So bekam die Forscherin Kenntnis von einem Gespräch zwischen einem ihr näher bekannten Mann und einer Anwohnerin, die ihr Unbehagen über die Anwesenheit der Forscherin bereits mehrfach indirekt geäußert hatte. Schließlich fragte sie den Mann direkt, wer diese junge, weiße Frau nun eigentlich sei. Er beantwortete ihre Frage, doch die Anwohnerin blieb weiter misstrauisch, was sie mit den Worten »I don’t trust white people!« zum Ausdruck brachte. Daraufhin erwiderte der Mann: »She ain’t white, she is from Germany!«. Von ähnlichen Erfahrungen berichten auch andere anthropologische Forscher*innen (bspw. Venkatesh 2012; Larchet 2017), die über die kritische Diskussion derartiger Zuschreibungen gemeinsam mit den Beforschten gewisse Nähe-Relationen entwickeln konnten. Auch gelang es, die Auswirkungen gängiger Identitätskategorien auf den Forschungsprozess zu evaluieren. Diese Prozesse stellten sich dann rückwirkend als besonders gewinnbringend für die Datengenerierung und -interpretation heraus. Derartige forschungsevozierte Positionalitäten zeigen sich also nur situativ und im Plural. Sie bestimmen oft unbemerkt die Praktiken des Forschens und können nicht durch rein theoretisches Ref lektieren erfasst werden. Sie sind nur im Forschungskontext erfahrbar, erscheinen in Irritation auf, äußern sich in Nähe und Vertrautheit oder in Abneigung und Abwehr. Sie zu erkennen bedarf einer Sensitivität und kritischen Offenheit sich selbst gegenüber. So können die Forscher*innen eine Rolle in ihrem Forschungsfeld etablieren und diese in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten weiterentwickeln. Im Finden der eigenen Rolle als Forscher*innen können bisherige Selbstverständlichkeiten des Denkens wirkungsvoll aufgebrochen werden und die Forschenden erfahren etwas über ihre persönliche Prägung, derer sie sich andernfalls eventuell niemals gewahr geworden wären. In der Regel, so wollen wir hier behaupten, sind es diese Hinweise auf das primär Unerwartete, wodurch Forscher*innen eine Fährte zu Einsichten aufnehmen können, die auch für eine breitere akademische Leserschaft relevant sind. Forschungsevozierte Positionalitäten haben Einf luss auf die Datengenerierung und -interpretation. Trotzdem wird eine Ref lexion derartiger Prozesse im wissenschaftlichen Betrieb nicht verbindlich als notwendig oder zielführend angesehen, vielleicht, weil sie allzu häufig als autobiographische Selbstschau miss-

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verstanden wird. Christine Burckhardt-Seebass (2003: 147) beschreibt, wie ein »Outing« der persönlichen Erlebnisse des Forschungsprozesses, vor allem bei jungen Forschenden, schnell als »jugendliche Emotionalität« abgetan wird. Die Forschenden als erlebendes Ich in die Forschung einzubinden, werde etwa mit Argumenten infrage gestellt wie: Dies bediene nur oberf lächliche Gefühle der Authentizität, löse die Trennung zwischen Privat- und Berufsperson auf und führe nicht selten dazu, dass Forschende allzu umfassend über scheinbar selbstlose, verantwortungsvolle Motive nachdächten. Begreift man die eigenen persönlichen Dispositionen aber als einen relevanten, die Forschung prägenden Einf luss, dann sind diese Ref lexionen unvermeidbar. Sicherlich kann man sich mit einem derartigen »Outing« angreif bar machen, denn es überschreitet empfindlich die klassischerweise distanzierende Ebene wissenschaftlichen Arbeitens. Wir raten deswegen dazu, derartige Ref lexionen nicht autobiographisch auszudehnen, sondern sie immer bezogen auf situative Ereignisse des Forschungsprozesses zu führen. Diese Introspektionen werden im wissenschaftlichen Kontext leider wenig begleitet und müssen meist im Alleingang gemeistert werden. Unserer Meinung nach kann aber nur über sich an den Ereignissen des Forschungsprozesses orientierende Ref lexionen die ursprünglich zur Debatte stehende Frage beantwortet werden. Nämlich die, ob die Forschenden letztlich aus einer überlegenen Position heraus die Beforschten gedanklich ein- und unterordnen, sie quasi erneut »gedanklich kolonialisieren«, oder ob sie – im Gegenteil – ihnen zu neuer, emanzipatorischer Geltung verhelfen.

Zwischenfazit: Positionalität Abschließend lassen sich demnach drei Konzepte zunehmender Ref lexionstiefe unterscheiden: eine professionsgeprägte, eine differenzlogische sowie eine forschungsevozierte Positionalität. Darüber hinaus aber sollte gefragt werden, wie man derartigen Positionalitäten in der Forschung und bei der Präsentation der Ergebnisse gerecht werden kann. Konsequent wäre es, die Asymmetrien zwischen Forschenden und Beforschten nicht zu verleugnen, sondern als Aktiva in den Forschungsprozess einzubinden. Im Folgenden wollen wir vorstellen, wie der Ansatz der Action Research Asymmetrien der Forschung zu minimieren sucht, um Hegemonien der wissenschaftlichen Dateninterpretation aufzubrechen.

Asymmetrien der Forschung und Action Research Es gibt zahlreiche Ref lexionen darüber, welche Asymmetrien eine Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten mit sich bringen und wie sie überwunden werden können. Bruno Latour (2008) schwebt für seine symmetrische Anthropologie

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nicht nur eine gleichberechtigte Stellung natur- und kulturwissenschaftlicher Erklärungen vor, vielmehr privilegiert er die beständig alltagsweltlich stattfindende Verschneidung von Kategorien und deren Bedeutungswandel (Vermittlung) gegenüber der wissenschaftlichen Theoretisierung (Reinigung). Das Ideal einer dialogischen Anthropologie ist eine vollständige Gleichberechtigung im Gespräch. »Bei einer perfekten Symmetrie in jedem Moment des Gesagten ist es schwer vorstellbar, wie sich eine der Parteien als Ethnograph und die Anderen als Andere definieren ließen.« (Tedlock 1993: 275) Generell hat die Writing-Culture-Debatte eine Krise der ethnographischen Repräsentation ausgelöst und die Autorität der klassischen Ethnographien demontiert (Clifford 1993 [1988]). Trotz dieser Aufwertung der Sichtweise der Beforschten stellt das akademische Schreiben eine materiell-semiotische Praxis dar, die imstande ist, die Beziehungen zwischen Forscher*innen und Beforschten, ihrem Arbeitsumfeld und ihrer Leserschaft aus ihrer Warte heraus zu definieren (Cook et al.: 2007 [2005]: 19). Damit steht sie potenziell in Konf likt mit diesen sozialen Beziehungen, denn die Forschende bleibt die federführende organisatorische Kraft und ist gleichzeitig Mittler*in zwischen Beforschten und akademischer Leserschaft. Eine vollständige Symmetrie ist in der Forschung folglich unmöglich. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelt die Action Research den Ansatz, sich gar nicht erst um eine distanzierte Position zu bemühen, sondern die privilegierte Position der Forschung zu nutzen, um sich im Sinne der Interessen der Beforschten für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu engagieren. »[Dies] läßt sich am besten als eine Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Technik kennzeichnen. Sie ist eine Art Tat-Forschung (›action research‹), eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung. Eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringt, genügt nicht.« (Lewin 1953 [1946]: 280) Dieses von Kurt Lewin erstmals im Jahr 1946 in dem Artikel »Action Research and Minority Problems« beschriebene Forschungskonzept hat zum Ziel, einen konkreten Beitrag zur Lösung sozialer Probleme zu leisten. Drängende Probleme sollen aus dem Eigeninteresse oder auch dem Unwohlsein, der Empörung oder dem Ungerechtigkeitsempfinden der beforschten Individuen und Gemeinschaften he­ raus in den Fokus rücken. Der Forschungsgegenstand ergibt sich idealerweise aus den Artikulationen der Beforschten selbst, sprich: Die Probleme der Beforschten rücken in den Mittelpunkt (Halder/Jahnke 2014). Im Idealfall soll eine angemessene Lösung erreicht werden – oder zumindest eine Sichtbarkeit mittels politischer Agenden und entsprechender Forderungen.

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Um jedoch wirklich ein im Sinne der Beforschten sinnvolles soziales Handeln entwickeln zu können, schließt sich an eine erste Erhebungs- und Analyserunde eine Ref lexion des vorangegangenen Prozesses an. Dieser Schritt leitet durch das vorhergegangene Ref lektieren in eine weitere, fokussierte Analyserunde über. Aus wie vielen derartigen Erhebungs-Analyse-Ref lexion-Schleifen eine Aktionsforschung schließlich besteht, hängt idealerweise davon ab, wann die Probleme der Beforschten von ihnen selbst als zielbringend analysiert wahrgenommen werden und geeignete Maßnahmen zur Verbesserung etabliert oder zumindest projektiert sind. Dafür sollten die betroffenen Zielgruppen sowohl in die Planung als auch in die Durchführung des Forschungsprozesses eingebunden werden. Der Prozess der Aktionsforschung betont den gemeinsamen, aktiven Arbeits- und Artikulationsprozess. Bei den wiederkehrenden Ref lexionseinheiten werden die Forschungspraktiken durch die ständige Bezugnahme auf die Interessen der Beforschten zugeschnitten. Es ist also notwendig, dass die Forschenden aktiv Stellung beziehen. Die Relevanz derartiger partizipativer Sozialforschung ist Lewin (1953 [1946]: 295) zufolge eindeutig, denn »in den letzten Jahren haben wir zu erkennen begonnen, daß die sogenannten Minderheitenprobleme in Wirklichkeit Probleme der Mehrheit sind«. Vor diesem Hintergrund könne Forscher*innen, denen es an positiven Veränderungen der Gesellschaft gelegen ist, nicht mehr in der Rolle des außenstehenden, nur scheinbar objektiven Beobachtens verharren. Sie müssen vielmehr in einem offenen und transparenten Forschungsprozess anhand konkreter Probleme mit den Betroffenen gemeinsam an Lösungen arbeiten und diese dann unter Einbezug einer kritischen Ref lexion ihrer eigenen Positionalität öffentlich machen und vertreten. In diesem Sinne haben die Debatten um Action Research z.B. die Methoden des Rapid Rural Appraisal (RRA) und das intensivere Participatory Rural Appraisal (PRA) inspiriert (Chambers 1994). Insbesondere NGOs erfassen damit die Problemlagen lokaler Lebenswelten, um angepasste Hilfsprogramme zu erarbeiten. Action Research stellt somit eine mögliche Konsequenz der Debatten um Positionalität dar, ist aber nicht in allen Forschungskontexten und für alle Forscher*innen gleichermaßen vertretbar. Nicht jede bzw. jeder fühlt sich wohl damit, sowohl sich selbst und das eigene Tun ständig infrage zu stellen als auch aktiv und politisch Stellung zu beziehen. Nicht immer muss der Forschungskontext ein problematischer sein, in dem es darum geht, soziale Ungleichheiten zu artikulieren. Und auch die von außen an Forscher*innen herangetragenen Aufträge und Anforderungen haben oft andere Zielsetzungen, als ein soziales Handeln im Sinne der Beforschten anzustreben. Diese Aspekte haben sicher dazu beigetragen, dass Action Research in den Sozialwissenschaften nach wie vor eine eher geringe Rolle spielt. In unserer Betrachtung stellt sie jedoch gerade für praxeologische Arbeiten einen möglichen konsequenten Forschungsansatz dar.

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Forschungsmethoden als Praktiken verstehen Abschließend möchten wir noch einmal auf die Auswirkungen für die (universitäre) Methodenausbildung eingehen, die sich aus einer konsequenten Anwendung des Praxistheorems und dem Verständnis von Methoden als Praktiken ergeben. Methodenlehre suggeriert häufig die Möglichkeit einer idealtypischen Ausführung empirischer Methoden. Praktiken sind aber keine Partituren, die möglichst werktreu ausgeführt werden müssen, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Methoden, verstanden als Praktiken, werden erst im Vollzug existent und dabei auf eine von vielen Möglichkeiten fixiert. So kann es weder die eine »richtige« Ausführung einer Methode geben, noch ein durch diese Methoden gewonnenes »wahres« Ergebnis. Forschende, Beforschte, Methode, Ergebnis – alles bringt sich gegenseitig situativ hervor und konstituiert sich beständig neu. Die Methodenausbildung läuft leider allzu häufig in Richtung einer »richtigen« Umsetzung oder eines »richtigen« Verständnisses einzelner Methoden. Eine praxeologische Methodenlehre hingegen vermittelt die Fähigkeit, Methoden adäquat an die jeweilige Forschungssituation anpassen zu können.

Die Praxis der Forschung Tatsächlich beginnt eine Forschung zu einem bestimmten Zeitpunkt (t 1) mit einem subjektiven Standpunkt, der sich aus der Positionalität des Forschenden bestimmt (vgl. Abb. 1). Die Forschung endet zu einem mehr oder weniger definierten späteren Zeitpunkt (t 2) ebenfalls wieder mit einem subjektiven Standpunkt, der nun aber maßgeblich von der generellen Forschungsorientierung und den verwendeten Methoden bestimmt wurde. Im Gegensatz zum validierenden Vorgehen, welches dem Ideal der exakten Messbarkeit folgt, orientiert sich ein exploratives Vorgehen am Ideal einer unvoreingenommenen Wahrnehmung und versucht, Sachverhalte möglichst ohne vorgefasste Meinung zu untersuchen. Die Darstellung dieser Ideale als Sonnen in Abbildung 1 versinnbildlicht, dass sie zwar unerreichbar sind, aber zur Orientierungen dienen können. Ebenso wie es unmöglich ist, absolut exakt zu messen, so kann man auch nicht vorurteilsfrei ins Feld gehen. Erst eine Ref lexion der eigenen Erkenntnisziele erlaubt es, die Ansprüche zu formulieren, die der Einsatz von Methoden der empirischen Sozialforschung in einem konkreten Forschungsprojekt erfüllen soll. Forschung gestaltet sich also innerhalb eines praktischen Rahmens. Methodenkompetenz zeigt sich dabei in einem angemessen praktischen, situativen Einsatz von Methoden im Sinne des Erkenntnisinteresses und ermöglicht nicht zuletzt auch ein zielführendes Arbeiten innerhalb der immer auch gegebenen praktischen Beschränkungen von Forschung (personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen).

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Abbildung 1: Mögliche Orientierungen von Forschung innerhalb einer durch Ressourcenverfügbarkeit restriktiv gerahmten Forschungspraxis (die Darstellung der Forschungsorientierungen als Sonnen ref lektieren den Status als unerreichbare Ideale)

Quelle: Klaus Geiselhart (Entwurf), Benedikt Orlowski (Graphik)

Ausschlaggebend für die jeweilige Methodenauswahl ist immer der Forschungskontext, der in der Regel irgendwo zwischen zwei Extremen liegt. In einem Ex­ trem steht die forschende Person in einem Forschungszusammenhang, innerhalb dessen der Untersuchungsgegenstand und die Forschungsfragen klar umrissen sind. Im anderen Extrem befindet sich die forschende Person in einer Situation, in der die Motivation zur Forschung sich aus einem aktuellen gesellschaftlichen Problem speist und in dem anfangs noch gar nicht klar formuliert werden kann, was genau die Fragestellung und der Forschungsgegenstand sein sollen. Im ersten Fall weiß die Person bereits zu Beginn der empirischen Arbeit genau, was sie interessiert, sie hat schon Annahmen und Hypothesen formuliert und versucht nun, diese durch empirische Belege zu bestätigen oder zu widerlegen. Dabei ist es ihr wichtig, dass die Methoden, die sie einsetzt, so valide wie möglich sind, ihr also so verlässlich wie möglich eine Abschätzung über die Relevanz der Annahmen erlauben. Die forschende Person orientiert sich entsprechend validierend. Im zweiten Fall aber muss sie explorativ, also entdeckend, vorgehen1. In diesem 1 Eine teils ähnliche Unterscheidung wird manchmal zwischen deduktivem und induktivem methodischem Vorgehen getroffen. Diese Unterscheidung ist unseres Ermessens nicht sinnvoll, da »deduktiv« und »induktiv« zwei Arten formalisierter Schlussfolgerungsweisen bezeichnen, die sich vor allem durch bestimmte Ansprüche auf Folgerichtigkeit auszeichnen. Gesamte empiri-

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Fall ist sie selbst mit dem Kontext noch wenig vertraut und wendet sich zuallererst Personen, Dokumenten, Artefakten, Materialien oder Orten zu, von denen sie annimmt, dass sie generelle Einblicke in die zu erforschenden Problematiken erlauben. Sie möchte dadurch Zusammenhänge entdecken, die ihr eine bisher unbekannte Sichtweise präsentieren, um womöglich Dinge zu erfahren, die sie ohne ein methodisches Vorgehen vielleicht niemals hätte vermuten können. Reale Forschungsprojekte befinden sich in der Regel irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Meist stehen zu Beginn eines Projekts immer schon einige konkrete Fragen an, während gleichzeitig andere Fragen noch wenig konkret formuliert werden können. Am Beispiel eines zunächst vorwiegend explorativen Forschungsvorhabens wollen wir das Wechselspiel zwischen den beiden Idealen der Datenerhebung verdeutlichen.

Ausrichtung der Methoden am Stand des Forschungsprozesses Zu Beginn steht eine verhältnismäßig offene Forschungsfrage, die noch keine konkreten Vorgaben bezüglich der einzusetzenden Methoden macht. Daher ist es sinnvoll, sich zunächst einen Zugang zum Feld zu verschaffen, geeignete Informant*innen kennenzulernen und mittels loser Gespräche und teilnehmender Beobachtungen einen Eindruck zu gewinnen. Gleichzeitig wird man sich mit Expert*innen treffen, um deren Fachkompetenz abzufragen, ohne dass man selbst schon die notwendige inhaltliche Kompetenz besitzt, um die Expertenaussagen auch bewerten zu können. Hat man erste Problemfelder identifiziert, dann kann man Beteiligten- oder Betroffeneninterviews führen, wodurch man die lebensweltlichen Relevanzen kennenlernt. Diese sehr offenen Methoden sind in der Regel zeitaufwendig. Ist eine grundlegende Orientierung im Forschungsfeld erfolgt und deuten sich schon erste Ergebnisse an, dann ist es sinnvoll, diese zu validieren und sich entsprechend auch den oben genannten Ansprüchen anzunähern. So können bspw. statistische Methoden mit dem Ziel der Validierung ergänzend zu explorativen Methoden sehr effizient eingesetzt werden, um zu prüfen, wie weitverbreitet oder wie relevant ein identifiziertes Problem ist. Es ist auch möglich, die bereits eingesetzten, eher offenen Methoden in Richtung validierende Methoden zu modifizieren. Haben sich z.B. in narrativen Interviews bestimmte wiederkehrende Typen herauskristallisiert, dann spricht nichts dagegen, die Interviews in der Folge auf Aspekte dieser Typologie einzuschränken, beim Sampling zunehmend Willkür auszuschließen und systematisch Befragungen durchzuführen, die eine zur Valdierung geeignete Stichprobengröße ermöglicht. In diesem Sinne können auch Beobachtungen oder visuelle Methoden systematisiert werden. In sche Forschungsprogramme können derartige Ansprüche auf Folgerichtigkeit aber niemals erfüllen.

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der Regel wird die Gruppe der Befragten nach einem Schneeballsystem wachsen. Besitzt man nun aber die thematische Kompetenz, dann lohnt es sich durchaus, die anfangs befragten Experten nochmals aufzusuchen, denn nun kann man sie auch in ihrer spezifischen Rolle als Experte oder Expertin bewerten und ihnen ggf. auch konfrontative Fragen stellen. Es gibt also keine per se explorativen oder validierenden Methoden. Methoden müssen so angepasst werden, dass sie dem jeweiligen Anspruch auf Exploration und/oder Validierung gerecht werden. Zwar wurden statistische Methoden entwickelt, um möglichst exakt zu messen und persönliche Urteile des Forschenden auszuschließen. Bei der konkreten Umsetzung in der Sozialforschung aber zeigt sich oftmals, dass ein »sauberes« methodisches Vorgehen in realen Befragungssituationen von zahlreichen Faktoren behindert wird. Reine Statistik bleibt also in sehr vielen Fällen ein unerreichbares Ideal. Trotzdem kann es zur Validierung einer Auffassung sinnvoll sein, sich am Ideal des genauen Messens zu orientieren. An dieser Stelle sind aber nicht mehr nur die Vorgaben der Statistik relevant, sondern es muss abgewägt werden, welche Ansprüche an Genauigkeit die Untersuchung erfüllen muss, um die konkreten Annahmen ausreichend genau zu validieren. Jede tatsächlich durchgeführte Methode bewegt sich irgendwo zwischen den Gegensätzen des Entdeckens (Explorierens) und des Sich-Versicherns (Validierens). Der Mehrwert der Unterscheidung validierend/explorativ wird besonders in diesem Zwischenraum deutlich. Die schon konkreten Fragen bedürfen einer Validierung im Sinne eines Sich-Versicherns, des Messens der Relevanz eines bekannten Phänomens, während die noch offenen Fragen ein Entdecken erfordern. In der Regel müssen in einer Methodik beide Ansprüche bezüglich verschiedener Teilaspekte des Projekts in unterschiedlichem Maße erfüllt werden. Im Forschungsprozess ist es wichtig, sich wiederholt die Frage zu stellen, welche Überzeugungen man bereits gewonnen hat und wie man diese validieren kann. Gleichzeitig geht es darum, immer wieder offen für die eigenen blinden Flecke zu bleiben und sensibel zu sein für Themenfelder, in denen noch etwas Relevantes exploriert werden könnte. Damit kann die Unterscheidung validierend/explorativ nicht zuletzt dazu beitragen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen effektiv einzusetzen. In der Geographie werden zunehmend Mixed-Method-Ansätze (Kuckartz 2014) diskutiert, also Erhebungsverfahren, die sich im angloamerikanischen Kontext vor allem dadurch profiliert haben, dass sie quantitative und qualitative Methoden verbinden. Dabei geht es aber nicht nur darum, verschiedene Methoden zu mischen, sondern geeignete Forschungsdesigns zu entwerfen.

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Zwischenfazit: Praxeologie, Methodensets und Forschungsdesigns Bei den Debatten um Methodologien begegnet man oftmals populären Missverständnissen, etwa dass quantitative Methoden einem Kritischen Rationalismus und qualitative Methoden dem Konstruktivismus entsprächen (z.B. Döring/Bortz 2016). Aber epistemologische Fragen korrelieren nicht eins zu eins mit methodischen Fragen. Zwar spielen in methodologischen Debatten oft erkenntnistheoretische Überlegungen eine Rolle, bspw. um mögliche Begrenzungen der Aussagekraft gewählter Methoden zu bestimmen, doch werden bei der Überlegung, welche Methoden zur Anwendung kommen sollen, weniger erkenntnistheoretische als vielmehr inhaltliche Fragen relevant. Forschungsdesigns sind natürlich immer von der Weltsicht der forschenden Person geprägt, diese mag auch implizit einige epistemologische Annahmen enthalten, doch viel bedeutsamer sind die Vorstellungen vom Kontext, in dem die eigene Wissenschaft Bedeutung erlangen soll, sowie Annahmen über die Kontexte der Beforschten. Heutzutage werden in der sozialwissenschaftlichen Forschung zunehmend Methodensets und Mixed-Methods-Ansätze eingesetzt. Wie der Name schon sagt, werden dabei verschiedene Methoden in ein Forschungsdesign integriert. »Für seine Protagonisten stellt der Mixed-Methods-Ansatz ein neues zeitgemäßes Methodenverständnis dar, das der Komplexität heutiger Forschungsfragen entspricht« (Kuckartz 2014: 29) und auf pragmatistische Grundlagen zurückgeführt werden kann. Hierbei geht es nicht nur darum, quantitative und qualitative Methoden zu verbinden, sondern auch, verschiedene quantitative und qualitative Verfahren sowohl parallel als auch seriell sinnvoll in ein Methodenset zu inte­ grieren. So können bspw. quantitative Verfahren in Mixed-Methods-Ansätzen ein wirksames Mittel zur partiellen Objektivierung sein. Sie können dazu beitragen, die Willkür und die Effekte der Positionalität der forschenden Person zu reduzieren, die bei den Überlegungen, die zur Entwicklung des Forschungsdesigns führen, und bei den Interpretationen, die letztlich die Daten aussagekräftig machen, eine wichtige Rolle spielen. Versagen es die erhobenen Daten nun aber, die erwarteten Schlüsse zu ziehen, dann erhalten die Forscher*innen so einen validen Hinweis, dass die Annahmen nicht angemessen sind, und vice versa. Ein Verständnis von Methoden als Praktiken erkennt, dass Methodentheorie nur generelle, nicht immer auch widerspruchsfreie Regeln formuliert. Methoden verwirklichen sich aber trotz aller theoretischen Versuche, sie zu konventionalisieren, immer nur in der konkreten Ausführung, und dabei werden nicht selten auch theoretische Vorgaben missachtet. Methoden werden also niemals idealtypisch durchgeführt und Methodenkompetenz bedeutet, trotz dieser Unklarheiten angepasste Erhebungsinstrumente entwerfen zu können. Jedes Vorgehen produziert Unwägbarkeiten, nicht nur, weil es vielleicht an den praktischen Gegebenheiten scheitert, sondern auch, weil Forschende von vornherein subjektive

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Sichtweisen mitbringen und sich niemals völlig von ihren Prägungen und ihrem Vorwissen frei machen können. Man muss sich demnach bewusst sein, dass man am Ende des Weges (t 2) wiederum eine subjektive Position einnimmt, die eben von der gewählten Orientierung und der Zusammenstellung des Methodensets abhängt. Entsprechend gewinnt jede Studie ihre Überzeugungskraft durch eine begründete Darstellung der verwendeten Methoden. Zu welchem Zeitpunkt welche Methoden zum Einsatz kamen, wie sie auf die Bedingungen zugeschnitten wurden und welche Limitierungen auftraten, muss Bestandteil einer transparenten Darstellung des methodischen Vorgehens sein. Die Unterscheidung validierend vs. explorativ stellt dabei eine Handreichung nicht nur zur Anpassung der Methoden an die praktischen Bedingungen der Forschung dar, sondern auch zu einer entsprechenden Ref lexion und Darstellung der Ergebnisse.

Fazit: Zwischen Positionalität und Forschungsverantwortung Es sollte deutlich geworden sein, dass sich im praxeologischen Denken methodologische und theoretische Annahmen auf eine besondere Weise vermischen. Wir haben die Heuristiken verschiedener Denker*innen dargestellt. So ergeben sich aus bestimmten praxeologischen Perspektiven spezifische Forschungszugänge wie der methodologische Individualismus (Werlen), der methodische Situationalismus (Knorr Cetina) oder die transitive Methodologie (Schäfer). Andere Theoretiker*innen öffnen sich genereller einer explorativen Forschungslogik und plädieren verstärkt für ethnographische Vorgehensweisen, eine Praxeologisierung des Blicks (Schmidt) oder zyklischen Verfahren zwischen Datengenerierung und Ref lexion wie etwa in der Grounded Theory, die eine methodologische Öffnung des Blicks anstrebt. Als Kernelement einer praxeologischen Methodologie zeigt sich in diesen Ansätzen die Betrachtung aus der konkreten situativen gesellschaftlichen Praxis heraus. In unterschiedlichem Maße begreifen die Autor*innen die Untrennbarkeit von Theorie und Praxis auch als ein zu ref lektierendes Begründungsdilemma. Wie kann Forschung relevant sein, wenn man sich als Forscher*in niemals einem Forschungsgegenstand wirklich annähern kann, ohne diesen dabei gleichzeitig selbst auch zu konstituieren und/oder zu beeinf lussen? Abschließend lassen sich hierzu zwei Richtlinien identifizieren. Erstens fordert die Einsicht, dass sich Forschende und Forschungsfeld gegenseitig situativ und reziprok hervorbringen, einen Ref lexionsprozess. Gesellschaftlich fixierte soziale Differenzkategorien reichen aber nicht aus, um die eigene Positionalität zu bestimmen. Ebenso genügt auch nicht eine Ref lexion der professionellen Perspektive, die man kraft seines Berufes einnimmt. Darüber hinaus beeinf lussen Positionalitäten, die situativ und f lexibel im Forschungsprozess entstehen, den Verlauf des Forschungsvorhabens.

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Zweitens helfen Programme der Methodenwahl – bspw. in Mixed-Methods-Ansätzen – der Integration verschiedener Methoden in ein dem Forschungsgegenstand angemessenes Forschungsdesign. Methoden konsequent als Praktiken zu begreifen und sie entsprechend der jeweils gegebenen Ansprüche bezüglich Validierung oder Exploration auf den Forschungsgegenstand zuzuschneiden, kann die Integrität und Überzeugungskraft der entstehenden Studie erhöhen. Es bedeutet aber auch, dass eine Diskussion über Methodologie niemals abgeschlossen sein kann, nicht zuletzt, weil die Kompetenz, Methoden angemessen einsetzen zu können, beständig reaktiviert werden muss, da man mit jedem Forschungsprojekt vor neue Herausforderungen gestellt wird. Begreift man Methoden als Praktiken, dann wird man, um den konstruktiven Effekt von Forschung zu betonen, auch eher von Datengenerierung als von Datenerhebung sprechen.

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Schmidt, Robert/Volbers, Jörg (2011): »Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip – Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme«, in: Zeitschrift für Soziologie 40 (1), S. 24-41. Shove, Elizabeth (2017): »Practice Theory methodologies do not exist«, siehe https://practicetheorymethodologies.wordpress.com/2017/02/15/elizabeth-​ shove-practice-theory-methodologies-do-not-exist/ Spivak, Gayatry C. (2008 [1988]): »Can the subaltern speak?«, in: Spivak, Gayatri C./Steyerl, Hito (Hg.) [Übers.: Joskowicz, Alexander], Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, S. 17-117. Strauss, Anselm (1991 [1987]): »Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung«, München, Fink. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet (1996 [1990]): »Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung«, Weinheim: Beltz. Strübing, Jörg (2002): »Just do it? Zum Konzept der Herstellung und Sicherung von Qualität in grounded-theory basierten Forschungsarbeite«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54 (2), S. 318-342. Tedlock, Dennis (1993): »Fragen zur dialogischen Anthropologie«, in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 269-287. Venkatesh, Sudhir (2012): »›Doin’ the hustle‹ – Constructing the ethnographer in the American ghetto«, in: Ethnography 3 (1), S. 91-111. Volbers, Jörg (2015): »Theorie und Praxis im Pragmatismus und in der Praxistheorie«, in: Alkemeyer, Thomas/Schürmann, Volker/Volbers, Jörg (Hg.), Praxis denken, Wiesbaden: Springer VS, S. 193-213. Werlen, Benno (1999): »Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum«, Stuttgart: Franz Steiner. West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987): »Doing Gender«, in: Gender and Society 1 (2), S. 125-151. Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): »Intersektionalität – Zur Analyse sozialer Ungleichheiten«, Bielefeld: transcript. Woermann, Niklas (2017): »Back to the roots! Methodological situationalism and the postmodern for studying tribes, practices, and assemblages«, in: Marketing Theory 17 (2), S. 149-163.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Florian Dünckmann ist Professor für Kulturgeographie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ländlichkeitsdiskurse und Entwicklung ländlicher Räume, Politische Ökologie, Food Studies, Praktikentheorie in der Geographie und Hannah Arendt als geographische Denkerin. Prof. Dr. Jonathan Everts ist Professor für Humangeographie an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Seit seiner Promotion befasst er sich mit Theorien sozialer Praktiken und hat diese in unterschiedlichen Forschungsfeldern wie Konsumgeographie, Migrationsforschung oder der Mensch-Umwelt-Forschung angewendet. Dr. Fabian Faller (Kiel) ist seit Januar 2019 Geschäftsführer des Landesverbands Erneuerbare Energien Schleswig-Holstein. Er erforschte in seiner wirtschaftsgeographischen Dissertation räumliche Praktiken der Energiewende, wobei er Transformation als Wandel von Praktiken konzipierte. Anschließend beschäftigt er sich mit regionalen Übergängen zu »grünen« Volkswirtschaften, wobei erneut Konzepte aus der Umweltökonomiegeographie und Praxistheorien angewendet werden um ein tieferes Verständnis der Entwicklung, Verteilung und Transformation von Praktiken regionaler Transformationen hin zu alternativen grünen Ökonomien zu entwickeln. Dr. Klaus Geiselhart arbeitet am Institut für Geographie der FAU Erlangen-Nürnberg zu Themen der geographischen Entwicklungs- und Gesundheitsforschung sowie der Urban Studies. Methodisch besteht ein besonderes Interesse an ethnographischen Ansätzen, wobei sowohl quantitative als auch qualitative Methoden Anwendung finden. Sein theoretischer Fokus liegt auf Praxistheorien, Theorien sozialer Praktiken, Pragmatismus und Theorien der Kritik. Prof. Dr. Matthew Hannah ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturgeographie an der Universität Bayreuth. Seine Forschungen kreisen um Fragen der räumlichen As-

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pekte sozialer Machtverhältnisse, der politischen Geschichte moderner Volkszählungen sowie um Sozio-räumliche Theorie. Dr. Dominik Haubrich ist Geschäftsführer und Mitgründer der gemeinnützigen Organisation interkular gGmbH, die in Berlin lokale Strategien der Integration von Migrantinnen in den städtischen Raum und Arbeitsmarkt konzipiert und umsetzt. Er studierte an der Universität Kiel, wo er 2014 seine Promotion abschloss. Zwischen 2012 und 2014 arbeitete und forschte er zu öffentlicher Sicherheit und Stadtpolitiken in São Paulo, Madrid und Kiel. An der Schnittstelle von Praxis und Forschung arbeitet er an Innovationsprozessen der Kommunalpolitik und Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Herausforderungen der Governance der Integration. Annika Hoppe-Seyler studierte Geographie und Kultur- und Sozialanthropologie in Münster, La Laguna und Erlangen. Nach dem Masterabschluss in Kulturgeographie begann sie ihre Promotion am Institut für Geographie der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie arbeitet und forscht zu Themen der geographischen Migrations- und Stadtforschung und hier insbesondere zu aktuellen Entwicklungen im zivilgesellschaftlichen Engagement der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe. Madlen Hornung (Universität Bayreuth) kombiniert in ihrer Promotion Theorien sozialer Praktiken mit qualitativen, insbesondere visuellen und partizipativen Methoden. Sie forscht in Äthiopien über Geographien des Ziegenhandels. Kim Anna Juraschek  (Universität Halle-Wittenberg) promoviert zur Bedeutung von  urban food markets  für Themen der Stadtentwicklung in Nordengland und Deutschland. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der qualitativen Erforschung sich wandelnder sozialer Praktiken. Lars Kraehnke studierte die Fächer Geographie, Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft an den Universitäten Kiel, Münster und Cluj-Napoca (Rumänien). Dabei legte er seinen Fokus auf Fragestellungen im Schnittfeld von Praktikentheorien, (neuer) Mobilität und emotionsbezogenen Mensch-Raum-Kopplungen. Nach mehreren Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster geht er mittlerweile einer geregelten Tätigkeit als konzeptioneller Mobilitätsplaner bei der Stadt Münster nach. Dr. Matthias Lahr-Kurten ist unabhängiger Wissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Geographien, Sozial- und Kulturgeographien sowie die deutsch-französischen Beziehungen.

Autorinnen und Autoren

Katharina Molitor (Universität Köln) promoviert zur Rolle von Nahrungsmittelpreisänderungen im Kontext von Ernährungssicherheit und Marktgestaltung kleinbäuerlicher Landwirtschaft in Bangladesch. In ihrem Dissertationsprojekt arbeitet sie mit qualitativen, praktikenorientierten Methoden. Jens Reda ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-geförderten Projekt »Engagement und Alltag. Eine Analyse zivilgesellschaftlicher Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen aus praktikentheoretischer Perspektive« am Geographischen Institut der CAU Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ländliche Entwicklung und zivilgesellschaftliches Engagement. Konzeptionell beschäftigt er sich v.a. mit diskurs- und praxistheoretischen Ansätzen in der Humangeographie. Sarah Rominger (Universität Heidelberg) verfasst Ihre Dissertation zu den Geographien des Menschenhandels. Schwerpunkt der Forschung liegt dabei auf den Macht-Raum-Konstellationen von Zwangsprostitution im Zielland Deutschland, wobei sie Schatzkis Theorie über soziale Praktiken insbesondere mit der Analyse von Dokumenten kombiniert. Prof. Dr. Simon Runkel ist Juniorprofessor für Sozialgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf räumlichen Prozessen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung und der geographischen Risiko- und Sicherheitsforschung. Dr. Susann Schäfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Migration und regionaler Entwicklung, die sie aus einer praktikentheoretischen Perspektive bearbeitet. Prof. Ph.D. Theodore R. Schatzki ist Professor für Geographie und Philosophie an der Universität von Kentucky. Er ist der Autor folgender fünf Bücher: Social Practices (1996), The Site of the Social (2002), Martin Heidegger: Theorist of Space (2007), The Timespace of Human Activity (2010), und Social Change in a Material World (2019). Darüber hinaus hat er auch drei Sammelbände zu Praktikentheorie herausgegeben (The Practice Turn in Contemporary Theory (2001), The Nexus of Practices (2017), und Questions of Practice in Philosophy and Social Theory (2018)). Dr. Benedikt Schmid ist akademischer Mitarbeiter an der Universität Freiburg am Lehrstuhl Geographie des Globalen Wandels. Er hat an der Universität Luxembourg im Bereich der Umweltwirtschaftsgeographie promoviert und ist Geschäftsführer des ARL Arbeitskreises Postwachstumsökonomien.

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Dr. Dr. Raphael Schwegmann beschäftigt sich im Schnittfeld von rematerialisierter Wirtschaftsgeographie und Globalgeschichte mit den ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Dimensionen sozio-technischer Großphänomene (Digitalisierung, Globalisierung, Stadtentwicklung).  Zuletzt bei transcript erschienen: »Nacht-Orte. Eine kulturelle Geographie der Ökonomie« (2016), »Kraft-Horte. Mobile Vergnügungstopographien europäischer Großstadtnächte« (2017) und »Macht-(W)Orte. Kulturelle Geographien des Rechts und der Ökonomie am Beispiel südasiatischer Migrationsgeschichten« (2018). Dr. Christiane Stephan arbeitet seit Februar 2018 in Forschung und Lehre in der AG Geographische Entwicklungsforschung des Geographischen Instituts der Universität Bonn. Im Rahmen ihrer Dissertation hat sie sich mit Sozialen Praktiken des Hochwassermanagements anhand einer Fallstudie in Chiapas, Mexiko auseinandergesetzt und qualitative und insbesondere audio-visuelle Methoden zur Untersuchung sozialer Praktiken angewendet. Die Weiterentwicklung visueller Ansätze und Methoden in der humangeographischen Forschung ist ebenso einer der Schwerpunkte in ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu »Zukunftsvisionen in Ostafrika«. Christine Wenzl (Universität Halle-Wittenberg) promoviert am Beispiel der Betriebskantine über die Anpassung des Essens an den post-fordistischen Erwerbsalltag. Sie nutzt Theodore R. Schatzkis Theorie über soziale Praktiken, um den Dualismus von politisch-ökonomischen Geographien der Nahrungsproduktion einerseits und kulturorientierten Geographien des Konsums andererseits zu überwinden und eine integrative Perspektive auf die sozio-materiellen Zusammenhänge des Essens zu entwerfen. Cosima Werner befasst sich in ihrer Promotion mit der Konstituierung von Conveniences Stores als soziale Räume in marginalisierten Nachbarschaften US-amerikanischer Großstädte. Im Rahmen ihrer Tätigkeit am Graduiertenkolleg »Autorität und Vertrauen in der Amerikanischen Gesellschaft« an der Universität Heidelberg setzt sie sich mit einer praxeologischen und raumtheoretischen Konzeption von Vertrauen auseinander. Weitere wissenschaftliche Schwerpunkte liegen auf qualitativen Zugängen zu sozialen Phänomenen sowie der damit verbundenen Auseinandersetzung mit Positionalitäten im Forschungskontext. Judith Wiemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wirtschafts- und Sozialgeographischen Institut der Universität zu Köln. Sie arbeitet zu Praktikentransfer über geographische Distanz, dabei untersucht sie die Internationalisierung von Aus- und Fortbildungspraktiken in deutschen multinationalen Unternehmen in Mexiko, Indien und China.

Geographie kollektiv orangotango+ (ed.)

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Ian Klinke

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Berlin – Visionen einer zukünftigen Urbanität Über Kunst, Kreativität und alternative Stadtgestaltung 2017, 350 S., kart., Klebebindung, 41 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-3717-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3717-9

Raphael Schwegmann

Macht-(W)Orte Kulturelle Geographien des Rechts und der Ökonomie am Beispiel südasiatischer Migrationsgeschichten 2018, 312 S., kart., Klebebindung, 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4136-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4136-7

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