Handbuch Diskurs und Raum: Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung [2., unveränderte Auflage 2012] 9783839411551

Mit dem Übergang zu relationalen Raumbegriffen und mit dem »Spatial Turn« haben diskurstheoretische Ansätze in der Human

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 Diskursforschung in der Humangeographie: Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen
A Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie
2 Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie
3 Gouvernementalität in der humangeographischen Diskursforschung
4 Performativität
5 Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanalyse
6 Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe
7 Diskurstheoretisch orientierte Analyse von Bildern
B Diskurstheorie und Raum
8 Raumangebote bei Foucault
9 Der Raumbegriff bei Laclau – auf dem Weg zu einem politischen Konzept von Räumen
10 Impulse der geographischen Raumtheorie für eine raum- und maßstabskritische Diskursforschung
C Methoden und empirische Praxis der Diskursforschung in der Humangeographie
11 Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora
12 Raumbezogenes Argumentieren: Theorie, Analysemethode, Anwendungsbeispiele
13 Die Aussagenanalyse als Mikromethode der Diskursforschung
14 Kodierende Verfahren in der Diskursforschung
15 Diskursivität von Karten – Karten im Diskurs
Autorinnen und Autoren
Index
Recommend Papers

Handbuch Diskurs und Raum: Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung [2., unveränderte Auflage 2012]
 9783839411551

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Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum

2009-08-21 08-51-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9218738176230|(S.

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Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.)

Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung

2009-08-21 08-51-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9218738176230|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Katrin Kurten (www.geo-lektorat.de) Satz: Georg Glasze, Annika Mattissek Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1155-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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I N H AL T

Vorwort

7

1

Diskursforschung in der Humangeographie: Konzeptionelle Grundlagen und empirische Operationalisierungen 11 GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

A

Theorien und Konzepte der Diskursforschung in der Humangeographie

2

Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie ANKE STRÜVER

61

Gouvernementalität in der humangeographischen Diskursforschung HENNING FÜLLER, NADINE MARQUARDT

83

3

107

4

Performativität ANKE STRÜVER, CLAUDIA WUCHERPFENNIG

5

Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanalyse BERND BELINA, IRIS DZUDZEK

129

Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

153

6

7

Diskurstheoretisch orientierte Analyse von Bildern JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

181

B

Diskurstheorie und Raum

8

Raumangebote bei Foucault VERENA SCHREIBER

9

Der Raumbegriff bei Laclau – auf dem Weg zu einem politischen Konzept von Räumen GEORG GLASZE

213

Impulse der geographischen Raumtheorie für eine raum- und maßstabskritische Diskursforschung SYBILLE BAURIEDL

219

10

199

C

Methoden und empirische Praxis der Diskursforschung in der Humangeographie

11

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Textkorpora 233 IRIS DZUDZEK, GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK, HENNING SCHIRMEL

12

Raumbezogenes Argumentieren: Theorie, Analysemethode, Anwendungsbeispiele TILO FELGENHAUER

261

Die Aussagenanalyse als Mikromethode der Diskursforschung ANNIKA MATTISSEK

279

13

14

Kodierende Verfahren in der Diskursforschung GEORG GLASZE, SHADIA HUSSEINI, JÖRG MOSE

293

15

Diskursivität von Karten – Karten im Diskurs JÖRG MOSE, ANKE STRÜVER

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Autorinnen und Autoren

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Index

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Vorw ort

In der Humangeographie fand in den letzten Jahren eine Abkehr von Vorstellungen statt, die Räume als objektiv und quasi-natürlich gegeben voraussetzen – ein Paradigmenwechsel, der im Zuge des spatial turn auch in den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften diskutiert wird. Räume werden dabei als kontingent konzeptionalisiert und der Analysefokus auf die Konstitution von Räumlichkeit verschoben. In diesem Kontext haben u. a. diskurstheoretische Ansätze in der Humangeographie an Bedeutung gewonnen. Das Handbuch „Diskurs und Raum“ hat zum Ziel, die Potenziale und Grenzen unterschiedlicher diskurstheoretischer Zugänge zur Analyse raumbezogener Praktiken und Symbolisierungen auszuleuchten. Dabei werden drei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt: Erstens wird ein Überblick über die Spannbreite theoretischer Ansätze im Kontext der Diskurstheorie und deren jeweilige Kerngedanken gegeben, wobei der Fokus hier im Gegensatz zu den meisten vorliegenden Einführungen auf poststrukturalistischen Konzepten liegt. Zweitens werden methodische Zugänge zur empirischen Umsetzung aufgezeigt. Diese greifen Erfahrungen und Forschungsstrategien aus unterschiedlichen sozial- und sprachwissenschaftlichen Kontexten auf und machen diese für die (raumbezogene) Diskursforschung nutzbar. Drittens werden Wege des konzeptionellen Einbezugs der Kategorie Raum in die Diskursforschung aufgezeigt, die versuchen, die komplexen Zusammenhänge zwischen Materialität, den räumlichen Dimensionen sozialer Praktiken, Sprache und Macht aufzuzeigen. Diese spezifisch geographische Perspektive zieht sich auch durch die einzelnen Theorie- und Methodenkapitel des Buchs, in denen die jeweiligen Inhalte an Beispielen aus der humangeographischen Forschung dargestellt und erläutert werden.

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GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

Das Buch richtet sich damit an diskurstheoretisch interessierte Studierende, Forschende und Lehrende aus der Humangeographie sowie den raumorientierten Kultur- und Sozialwissenschaften. Als Handbuch bietet die Publikation einen Überblick über Theorien und Methoden der Diskursforschung, führt allerdings auch in einigen Punkten die Fachdebatte weiter – insbesondere in der Diskussion über das konzeptionelle und empirische Verhältnis von Diskurs und Raum. Das Handbuch „Diskurs und Raum“ ist aus mehreren Jahren der intensiven Zusammenarbeit und des Austauschs zwischen den beteiligten Autor_innen hervorgegangen, welche auch den Schreibprozess und die Entstehung der einzelnen Beiträge maßgeblich geprägt haben. Der Band stellt die Erkenntnisse und Debatten, die auf bisher insgesamt neun Workshops diskutiert und erarbeitet wurden, einer breiteren Öffentlichkeit vor. Startpunkt dieser Workshop-Reihe war ein erstes Treffen im Juli 2004 in Wiesbaden, an dem ca. 20 Geograph_innen aus ganz Deutschland teilnahmen. Seit 2004 fanden diese Workshops mindestens jährlich statt (u. a. zum Verhältnis der Diskursforschung zu wissenssoziologischen, systemtheoretischen, marxistischen und hegemonietheoretischen Ansätzen, zum Verhältnis von Visualität und Diskurs sowie zu korpuslinguistisch-lexikometrischen und aussagenanalytischen Verfahren der empirischen Analyse), davon im Sommer jeweils immer im Kultur- und Tagungshaus in Rauenthal, das damit gewissermaßen zur „festen Adresse“ des Netzwerks wurde.1 Seit dem Jahr 2006 wird der wissenschaftliche Austausch innerhalb dieser Gruppe sowie mit externen Expert_innen als „wissenschaftliches Netzwerk“ von der DFG gefördert, der wir an dieser Stelle für ihre Unterstützung des wissenschaftlichen Austauschs sowie der vorliegenden Publikation danken. Diese Förderung hat es auch ermöglicht, dass wir für Layout und Lektorat des Buchs auf die wertvolle und zuverlässige Unterstützung von Kathrin Samstag, Florian Weber und Katrin Kurten (geo-lektorat.de) zurückgreifen konnten. Das vorliegende Buch ist mehr als eine bloße Zusammenstellung von Einzelbeiträgen, die von den jeweiligen Autor_innen separat verfasst wurden. Vielmehr beinhaltete die Erarbeitung der einzelnen Aufsätze deren Vorstellung und Diskussion im Rahmen der Diskursworkshops sowie das Durchlaufen eines internen Review-Verfahrens, in dem die Beiträge von „Tandem-Partner_innen“ begutachtet wurden. Bei diesem (recht aufwendigen) Prozess ist eine Vielzahl von Anregungen, Kritik und Querverbindungen entstanden, die ohne das Netzwerk als Dis1

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Eine Kurzdokumentation der Treffen ist unter http://www.geodiskurs.de zu finden.

VORWORT

kussionszusammenhang nicht möglich gewesen wären – insofern steckt in jedem Beitrag (neben der sicher nicht zu vernachlässigenden Arbeit der einzelnen Autor_innen) auch ein Stück „Rauenthal“. Die in dem Band umgesetzte Struktur aus 15 Kapiteln, die zu drei größeren Teilen zusammengefasst sind, spiegelt die Entstehungsgeschichte des Buchs wieder: Denn die hier präsentierten Erkenntnisse und Diskussionsbeiträge beruhen nicht auf der Entwicklung des „einen großen Konzeptes“ der Diskursforschung durch einen einzelnen Vordenker oder eine Vordenkerin (auch wenn es in den letzten Jahren sicherlich mehr oder weniger einflussreiche Beiträge gab). Vielmehr sind diese quasi als „Graswurzelbewegung“ aus einer Vielzahl von Diplom-, Doktor- und Habilitationsarbeiten hervorgegangen, die gemeinsam zu einer differenzierteren Sichtweise auf Theorien und Methoden der Diskursanalyse und einer Vielzahl von methodologischen und methodischen Entwicklungen beigetragen haben. Entsprechend lassen sich in den behandelten empirischen Beispielen auch inhaltliche Schwerpunkte erkennen, die auf die jeweiligen Interessen der Autor_innen zurückgehen: insbesondere im Bereich der Politischen Geographie, der geographischen Stadtforschung und der Feministischen Geographie. Ebenso beinhalten auch die vorgestellten theoretischen Ansätze eine Schwerpunktsetzung im Bereich Foucault’scher und poststrukturalistischer Hegemonie- und Diskurstheorien. Auch dies erklärt sich aus den Interessenschwerpunkten und konzeptionellen Verortungen der Autor_innen. Als Herausgeberin und Herausgeber möchten wir uns an dieser Stelle herzlich für das Engagement, die Begeisterung und den – trotz vieler Mühen – immer wieder aufblitzenden Spaß aller beteiligten Autor_innen bedanken und hoffen, dass sich dies nicht zuletzt in Lesevergnügen und neuen Erkenntnissen der Leser_innen niederschlägt!

Georg Glasze und Annika Mattissek, Erlangen und Heidelberg im Juli 2009

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Disk urs forsc hung in der Huma nge ogra phie : Konze ptione lle Grundla ge n und empirisc he Operationalisie runge n GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK Wie lässt sich verstehen, dass die Grenzen Europas in verschiedenen sozio-politischen und historischen Kontexten sehr unterschiedlich gezogen werden und dabei die „Identität Europas“ jeweils ganz anders bestimmt wird? Warum kann ein Taifun als „Naturkatastrophe“, als „Strafe Gottes“ und als „Konsequenz des anthropogenen Klimawandels“ bewertet werden? Wie kommt es, dass heutzutage die Outdoor- und Natursportarten boomen und dabei neue Auseinandersetzungen mit Körperlichkeit und „Natur“ gesucht werden? Wie lässt sich erklären, dass heute bestimmte Werturteile und Vorstellungen breite Akzeptanz finden, die vor wenigen Jahren noch fast unsagbar waren? So werden bspw. zur Zeit der Fertigstellung dieses Handbuchs die internationalen Aktivitäten deutscher Banken, die noch vor wenigen Jahren als zwingende und selbstverständliche Grundlage für das Erreichen hoher Renditeziele beschrieben wurden, von verschiedenen Seiten grundsätzlich kritisiert. Ausgangspunkt des Handbuchs „Diskurs und Raum“ ist die These, dass Ansätze der Diskursforschung die Chance bieten, die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen und damit die gesellschaftliche Produktion spezifischer Wahrheiten und spezifischer sozialer und räumlicher Wirklichkeiten sowie die damit verbundenen Machteffekte zu konzeptionalisieren. Damit kann die Diskursforschung der Humangeographie sowie den raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften neue Antworten auf die skizzierten Fragestellungen geben sowie weitere Fragestellungen eröffnen. Gegenstand der Diskursforschung sind überindividuelle Muster des Denkens, Sprechens, Sich-selbst-Begreifens und Handelns sowie die 11

GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

Prozesse, in denen bestimmte Vorstellungen und Handlungslogiken hergestellt und immer wieder verändert werden. Auch wenn die Analyse sprachlicher Sinngebungsprozesse in vielen empirischen Untersuchungen eine prominente Stellung einnimmt, geht der Terminus „Diskurs“ weit über die rein sprachliche Ebene des Bezeichnens hinaus. „Diskurs“ bezeichnet demnach die Verbindung von symbolischen Praktiken (Sprach- und Zeichengebrauch), materiellen Gegebenheiten und sozialen Institutionen. In den Worten Foucaults: Diskurse sind charakterisiert durch eine spezifische Art und Weise, Verknüpfungen zwischen „Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen“ (Foucault 1973 [1969]: 68). Indem bestimmte Diskurse hegemonial und andere marginalisiert werden, werden bestimmte Wahrheiten und letztlich bestimmte soziale Wirklichkeiten hergestellt. Hierin liegt der Machteffekt von Diskursen. Macht wird damit weder als Ressource oder Eigenschaft einzelner Akteure verstanden noch als abstrakte repressive Kraft, die „von oben“ auf Menschen einwirkt. Vielmehr ist Macht sämtlichen sozialen Beziehungen inhärent, sie wirkt sowohl produktiv als auch repressiv. Die Diskursforschung konzipiert Wahrheiten und soziale Wirklichkeiten als niemals absolut und als niemals endgültig fixiert. In anderen diskursiven Kontexten können andere Diskurse hegemonial sein und damit andere Sichtweisen und Praktiken als „wahr“ oder „richtig“ gelten. Besonders deutlich wird die Relativität diskursiv konstituierter Wirklichkeiten (ihre Kontingenz) in Analysen, die die Veränderungen von Diskursen über die Zeit aufzeigen. Denn oftmals wird erst durch den Wandel deutlich, welche Sichtweisen und Positionen zuvor unterdrückt oder ausgeschlossen waren. Die Veränderungen von geltenden Wahrheiten und sozialen Wirklichkeiten können dabei entweder als radikaler Umbruch oder aber als schleichender Wandel verlaufen, der kaum bemerkt und nur im analytisch reflektierten Rückblick sichtbar wird. Allerdings soll dieser Fokus auf historische Veränderungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch zu einem gegebenen Zeitpunkt diskursive Zuschreibungen selten eindeutig sind. Vielmehr konkurrieren oftmals unterschiedliche Positionen um Vorrang und Anerkennung. Diskurse sind daher stets im Fluss – Bedeutungen werden permanent entlang von Unstimmigkeiten, Brüchen und Konfliktlinien herausgefordert und neu bestimmt. Die Diskursforschung schärft damit auch den Blick für die Zusammenhänge zwischen Räumlichkeit und Macht. Denn wenn man konzeptionell anerkennt, dass zum einen Räume nicht einfach gegeben sind, sondern immer wieder neu konstituiert werden, und zum anderen die 12

DISKURSFORSCHUNG IN DER HUMANGEOGRAPHIE

Verfasstheit von Räumen ein wichtiges Element der Herstellung sozialer Wirklichkeit ist, dann ist die Konstitution bestimmter Räume eng verknüpft mit der hegemonialen Durchsetzung bestimmter sozialer Wirklichkeiten. So macht es bspw. einen Unterschied, ob die Welt in erster Linie als politökonomisch differenziert gedacht, beschrieben und damit letztlich produziert wird oder als kulturell differenziert. Denn entlang dieser Distinktionsachsen werden auch geopolitische Konflikte beurteilt und Solidaritäten zu einzelnen Konfliktpartnern hergestellt. Ob etwa ein Einmarschieren US-amerikanischer Truppen in den Irak in erster Linie gemäß dem Slogan „no blood for oil“ (vgl. van Ells 1999) als Konsequenz ökonomischer Interessen repräsentiert wird oder als Folge des „Clash of Civilizations“ (Huntington 1993) führt zu sehr unterschiedlichen Solidaritäten und innen- wie außenpolitischen Reaktionen. Es werden dabei also nicht nur die Konfliktursachen unterschiedlich beschrieben, sondern letztlich werden damit unterschiedliche Konflikte zwischen unterschiedlich zusammengesetzten Konfliktparteien hergestellt. Mit der Konzeptionalisierung aller Wahrheiten und aller sozialer Wirklichkeiten als kontingent, d. h. offen und veränderlich, verbindet sich der kritische bzw. politische Anspruch der Diskursforschung: Ziel ist es, vermeintlich feststehende Wahrheiten und Wirklichkeiten zu hinterfragen und damit zu zeigen, dass auch andere Wahrheiten gedacht und gelebt werden können und andere soziale Wirklichkeiten möglich sind – egal, ob es sich um „wirtschaftliche Notwendigkeiten“ handelt oder um vermeintlich objektive Einteilungen der Welt (bspw. auf einer globalen Ebene die Unterscheidung von „Orient“ und „Okzident“ oder auf einer lokalen Ebene die Festlegung von „Problemquartieren“). Gleichzeitig rücken in einer solchen Perspektive auch die Positionierungen der jeweiligen Diskursforscher_innen selbst ins Blickfeld. Das vorliegende Handbuch richtet sich an zwei Gruppen von Leser_innen: zum einen an Studierende und Wissenschaftler_innen aus der (Human-)Geographie sowie den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich für die Potenziale der Diskursforschung in der raumbezogenen Gesellschaftsforschung interessieren. Diesen Leser_innen möchte das Handbuch einen Überblick über einige der zentralen theoretisch-konzeptionellen Ansätze der Diskursforschung und deren erkenntnistheoretische Unterschiede liefern sowie angemessene Methoden der empirischen Umsetzung vorstellen. Insgesamt zeigt das Handbuch, wie die Hinwendung zu konstruktivistischen Raumkonzepten auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze gefasst werden kann. Zum anderen richtet sich das Handbuch auch an Leser_innen aus der interdisziplinären Diskursforschung. Dieser Gruppe bietet das Buch in Teil B eine Diskussion über die Konzeptionalisierung des Verhältnisses von 13

GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

Diskurs und Raum sowie in den Teilen A und C Hinweise zur Rezeption diskurstheoretischer Ansätze und deren Operationalisierung in der Humangeographie. In diesem Einleitungsbeitrag werden zunächst anhand von vier Beispielen die Potenziale der Diskursforschung für die raumbezogene Gesellschaftsforschung skizziert. Anschließend werden die Kernpunkte derjenigen theoretischen Ansätze erläutert, die das konzeptionelle Fundament der hier vertretenen Perspektiven darstellen und die in unterschiedlicher Betonung und Schwerpunktsetzung in verschiedenen Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung Eingang gefunden haben. Der darauf folgende Abschnitt verortet die in diesem Buch vorgestellten Ansätze im Kontext konzeptioneller Entwicklungen in der Humangeographie in den letzten Jahren, bevor anschließend diskutiert wird, wie eine dezidiert diskurstheoretische Konzeptionalisierung der Kategorie Raum aussehen kann. Abschließend greift der Beitrag eine grundlegende Kritik an diskurstheoretischen Ansätzen auf: Vielfach werden diese als apolitisch und gesellschaftlich irrelevant kritisiert. Diese Ansicht teilen wir nicht: Im letzten Abschnitt führen wir aus, inwieweit die Diskursforschung Chancen bietet, politische Auseinandersetzungen neu zu denken und die gesellschaftskritische Rolle von Wissenschaft neu zu legitimieren.

Potenziale der Diskursforschung für die raumbezogene Gesellschaftsforschung Diskurstheoretische Ansätze haben in einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Disziplinen in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Gleichwohl unterscheiden sich die untersuchten Fragestellungen und Interessenschwerpunkte in den einzelnen Fachkontexten. So lassen sich für die Geographie bzw. für die raumbezogene Gesellschaftsforschung sowohl inhaltliche als auch konzeptionelle Schwerpunkte ausmachen. In einer intensiven Theoriedebatte wurde in der Humangeographie seit den 1980er-Jahren die Vorstellung von objektiv gegebenen Räumen und Raumstrukturen aufgebrochen (zur theoretischen Auseinandersetzung mit der Kategorie „Raum“ in der Humangeographie s. in diesem Kap. unten, Teil B des Handbuchs sowie bspw. Hard 1986; Weichhart 1999; Crang und Thrift 2000; Miggelbrink 2002; Wardenga 2002). Im Zuge des spatial turn erreicht diese Debatte seit einigen Jahren auch die benachbarten Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften (BachmannMedick 2006: 284ff.; Döring und Thielmann 2008). Zunehmend werden Räume und räumliche Strukturen nicht mehr als objektiv gegeben, son14

DISKURSFORSCHUNG IN DER HUMANGEOGRAPHIE

dern als gesellschaftlich konstruiert konzeptionalisiert. Geht man in einer diskurstheoretischen Perspektive davon aus, dass weder gesellschaftliche Strukturen einfach gegeben sind noch die Identitäten intentional handelnder Akteure, dann eröffnet sich die Chance, die gegenseitige Verschränkung der Konstitution von Räumlichkeit und der Konstitution des Sozialen ins Blickfeld zu nehmen.1 Wir wollen mit dem Handbuch zeigen, dass mit einem solchen diskurstheoretisch begründeten Blick auf den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Raum neue Perspektiven für eine ganze Reihe „traditioneller“ Fragestellungen der Humangeographie sowie die raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt eröffnet werden. Wie diese neuen Perspektiven aussehen und welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn sie gegenüber anderen Herangehensweisen bieten, soll exemplarisch anhand vier aktueller Forschungsfelder aufgezeigt werden.

Grenzziehungsprozesse, Territorialisierungen und raumbezogene Identitäten Mit der Abkehr von der Vorstellung gegebener Räume und gegebener Identitäten rücken die diskursiven Prozesse ins Blickfeld, in denen räumliche Grenzen gezogen werden und raumbezogene Identitäten konstituiert werden. Insbesondere eröffnet sie neue Perspektiven darauf, wie räumliche Differenzierungen („hier/dort“) mit sozialen Differenzierungen verknüpft werden und wie dadurch Bereiche des „Eigenen“ und des „Fremden“ abgegrenzt werden. Solche Verräumlichungen haben enorme gesellschaftliche Auswirkungen, da sie die (komplexe und widersprüchliche) soziale Welt in vermeintlich homogene Einheiten einteilen und 1

Zentral ist es dabei aus diskurstheoretischer Perspektive (etwa in Abgrenzung zu handlungstheoretischen Ansätzen und der Strukturationstheorie von Giddens), dass der Analysefokus auf die permanenten Prozesse der Herstellung von Strukturen und Subjekten gelegt wird und mit einer hohen Sensibilität für die Widersprüchlichkeiten, Brüche und damit letztlich dem Scheitern aller Strukturen und Identitäten operiert wird. Macht wird dabei nicht an das ressourcengestützte Handeln von Individuen gebunden, sondern als Effekt der Herstellung gerade bestimmter Strukturen und Subjektivierungen gefasst. Die Kernfrage lautet dann nicht (wie es für handlungsoder strukturationstheoretische Ansätze charakteristisch wäre), welche Ziele bestimmte Akteure mit Rückgriff auf welche gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen (Ressourcen, Normen etc.) durchzusetzen suchen. Die Analyse zielt vielmehr darauf ab zu ermitteln, wie überhaupt Subjekte konstituiert werden, die dann bestimmte Zielvorstellungen entwickeln. Ebenso kann gefragt werden, wie bestimmte Ressourcen Bedeutung bekommen, indem sie in spezifische (und veränderliche) diskursive Zusammenhänge gestellt werden (s. u.). 15

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damit Freund- und Feindbilder etablieren, die auf den unterschiedlichsten Maßstabsebenen handlungsrelevant werden (Miggelbrink 2002; Strüver 2005b; Redepenning 2006; Glasze und Pütz 2007; Glasze 2009). Insbesondere Arbeiten aus dem Bereich der Politischen Geographie haben verdeutlicht, wie sich der wissenschaftliche Blick verändert, wenn etablierte Territorialisierungen der Welt nicht als gegeben, sondern immer als hergestellt und als Gegenstand politischer Aushandlungen angesehen werden. In einer solchen Perspektive kann dann bspw. gefragt werden, welche politischen Entscheidungen mit der Konstitution spezifischer Räume ermöglicht oder verhindert werden. So hat etwa die Frage, nach welchen Kriterien die Grenzen Europas gezogen werden und ob die Türkei in der jeweiligen Konstruktion dazugehört oder nicht, entscheidende Konsequenzen für Fragen der Migration, der wirtschaftlichen Beziehungen und von Integrationsprozessen (Lossau 2002, 2006; Reuber, Strüver und Wolkersdorfer 2005). Ebenso können im Zuge des „Kampfes gegen den Terror“ getroffene Zuschreibungen wie „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaaten“ nicht nur Auswirkungen auf zwischenstaatliche Beziehungen (bis hin zu militärischen Interventionen) haben, sondern die dabei vollzogenen Grenzziehungen haben auch Konsequenzen für die Identifikationen von Individuen, d. h. deren Fremd- und Eigenwahrnehmungen (Reuber und Strüver 2009). Zentral ist an dieser Stelle, dass solche Grenzziehungen und Zuschreibungen nicht wertneutral, sondern durch vielfältige Machtbeziehungen geprägt sind. Diese zeigen sich im Alltag auf zahlreiche Art und Weise – von den unterschiedlichen Überprüfungsprozeduren, die Einwohner_innen verschiedener Länder bei der Einreise über sich ergehen lassen müssen, bis hin zu Diskriminierungen im täglichen Miteinander, die aufgrund von nationaler Zugehörigkeit und darauf basierenden Stereotypen („immer diese Deutschen/Türken/Araber/Amis/…“) entstehen.

Konstitution von Gesellschaft/Umwelt-Beziehungen Aus einer diskurstheoretischen Perspektive lassen sich nicht nur innergesellschaftliche Differenzierungsprozesse, sondern auch Fragestellungen im Bereich der so genannten Gesellschaft/Umwelt- bzw. Mensch/Natur-Beziehungen neu interpretieren, indem die vermeintliche Gegebenheit von „Natur“ bzw. „Umwelt“ aufgebrochen und herausgearbeitet wird, wie jeweils die Grenze zwischen Mensch und Natur bzw. Gesellschaft und Umwelt gezogen wird. Die Frage danach, ob Überschwemmungen, Dürren oder andere klimatische Extremereignisse als „natürlich“ und damit als außerhalb des Einflusses von Menschen stehend oder aber als Ausdruck des anthropogenen Klimawandels inter16

DISKURSFORSCHUNG IN DER HUMANGEOGRAPHIE

pretiert werden, lässt sich danach also nur dann beantworten, wenn herausgearbeitet werden kann, wie „Natur“ in einem bestimmten diskursiven Kontext konstituiert wird (Flitner 1998; Zierhofer 1998, 2007). Eine solche Perspektive kann auch die aktuelle Debatte um den globalen Klimawandel bereichern. Im Gegensatz zu rein naturwissenschaftlichen Ansätzen, bei denen die Frage nach Ursachen und (regional spezifischen) Auswirkungen klimatischer Veränderungen im Vordergrund stehen, kann aus einer diskursorientierten Perspektive gefragt werden, wie diese (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse in unterschiedliche Argumentationslogiken und institutionelle Kontexte Eingang finden. Damit wird es bspw. möglich zu fragen, mit welchen anderen Themen und sozialen Verhältnissen der Klimawandel jeweils in Verbindung gebracht wird (etwa mit ökonomischen Entwicklungen, postkolonialen Unterdrückungsverhältnissen oder der nationalstaatlichen Organisation der internationalen Politik) und welche Praktiken und Handlungsweisen dadurch jeweils ermöglicht und legitimiert bzw. marginalisiert werden (Paterson und Stripple 2007; Pettenger 2007; Smith 2007).

Ökonomie und Raum Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Ökonomie und Raum war lange Zeit durch die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und optimalen Lösungen, bspw. für Standortentscheidungen, geprägt. So wurde insbesondere in der Wirtschaftsgeographie eine Reihe von Modellen entwickelt, die zum Ziel hatten, allgemeine Gesetzmäßigkeiten raumrelevanter wirtschaftlicher Handlungen aufzuzeigen (Schätzl 1978; Voppel 1999). Diskurstheoretisch motivierte Ansätze können in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag sowohl zu wissenschaftlichen als auch zu planerischen Debatten leisten, indem sie auch wirtschaftliche Notwendigkeiten und ökonomische Gesetzmäßigkeiten als gesellschaftlich produzierte Diskursstrukturen verstehen. Damit wird es möglich, wirtschaftliche Zusammenhänge – genau wie andere Formen gesellschaftlicher Strukturierung – als sozial hergestellte, kulturell spezifische und damit auch prinzipiell veränderliche und hinterfragbare Konstruktionen zu thematisieren (vgl. Berndt und Boeckler 2005), in anderen Worten: Auch die Gesetze der Wirtschaft oder des Marktes sind politisch in dem Sinne, dass sie auf Entscheidungsprozessen und Hegemonialisierungen beruhen. Aus einer solchen Perspektive können etwa die „Notwendigkeiten“ der Globalisierung oder die Bewertungsmaßstäbe einer „neoliberalen“ Wirtschaftslogik daraufhin hinterfragt werden, welche alternativen Sichtweisen und Entscheidungen sie marginalisieren und welche Machtverhältnisse durch sie 17

GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

konstituiert werden. Die Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge zeigt dabei besonders eindrucksvoll, wie in Diskursen symbolische und materielle Praktiken untrennbar miteinander verzahnt sind: Denn die Frage, wo investiert wird, wie investiert wird und wie dies begründet wird oder wie bspw. in Zeiten wirtschaftlicher „Panik“ Handlungen auf der sprachlichen und materiellen Ebene sich gegenseitig beeinflussen und verstärken, lassen sich gerade nicht aus allgemein und objektiv gültigen Gesetzmäßigkeiten ableiten, sondern eher als das Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse konzeptionalisieren. Gerade in einer Zeit, in der in vielen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa in der Organisation von Universitäten oder in der Stadtentwicklung wirtschaftliche Maßstäbe (noch) relativ unreflektiert absolut gesetzt werden, hat eine solche Sichtweise dabei oftmals auch einen politischen Anspruch. Es geht darum, durch das Aufzeigen der jeweils praktizierten diskursiven Ein- und Ausschlüsse zu verdeutlichen, dass durchaus auch alternative Handlungsweisen möglich sind, die nur im Kontext der hegemonialen Diskurslogik als „irrational“ oder „unvernünftig“ erscheinen mögen (Mattissek 2008).

Steuerung menschlichen Verhaltens im Raum – Herstellung räumlicher Praktiken Die Frage, wie sich Regelmäßigkeiten und Muster raumbezogener Praktiken erklären lassen, ist eine der zentralen Themen der Humangeographie. Die Diskurstheorie bietet hier einen Ansatzpunkt, um unterschiedliche Formen der Steuerung und Regierung (im Sinne von Foucault 2006a [1979], b [1978]) zu untersuchen, die Menschen bei spezifischen raumbezogenen Praktiken anleiten. So kann im Anschluss an Arbeiten Foucaults nach dem Verhältnis von Disziplinierung und Zwang einerseits und nach Formen der Selbststeuerung, die auf Überzeugungen und der Verinnerlichung von Normen und Wertvorstellungen basieren, andererseits gefragt werden (Foucault 1976 [1975], 2006a [1979], b [1978]). Ebenfalls zentral ist – gerade für geographische Arbeiten – das Verhältnis zwischen materiellen Arrangements (bspw. Architektur, Grenzzäune, Absperrungen) und symbolischen Praktiken, die diese materiellen Gegebenheiten mit bestimmten Bedeutungen versehen und somit bestimmte Praktiken und Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. Das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Aspekte der Regierung und Führung von Menschen lässt sich am Beispiel aktueller Veränderungen der Sicherheitspolitiken in der Stadt verdeutlichen (vgl. Glasze, Pütz und Rolfes 2005; Schreiber 2005; Belina 2006; Füller und 18

DISKURSFORSCHUNG IN DER HUMANGEOGRAPHIE

Marquardt 2008). Hier zeigt sich, wie sprachliche Rahmungen, institutionelle Muster, alltägliche Praktiken und materielle Arrangements in einem spezifischen Sicherheitsdiskurs ineinandergreifen. Dieser Sicherheitsdiskurs hat sich in den letzten Jahren innerhalb vieler Städte maßgeblich gewandelt: Die Herstellung von Sicherheit durch den Staat wird in zunehmendem Maße diskursiv nicht mehr nur im Sinne des Schutzes von Bürgern legitimiert, sondern darüber hinaus als zentraler Aspekt eines wettbewerbsorientierten Stadtmarketings verstanden, welches Städte im nationalen und internationalen Wettbewerb mit einem positiven „Image“ zu positionieren sucht. Infolgedessen ändern sich auch diejenigen Praktiken und Handlungen, die von städtischen und staatlichen Instanzen als „sicherheitsrelevant“ betrachtet werden – dazu zählen nun auch Tätigkeiten wie „Herumlungern“ oder „Störungen der öffentlichen Ordnung“ oder das Wegwerfern von Kaugummipapieren auf der Straße (Mattissek 2005). Die diskursanalytische Perspektive ermöglicht vor diesem Hintergrund, die historische und sozio-kulturell kontextspezifische Konstitution von Kategorien wie „kriminell“, „unsicher“, „bedrohlich“ etc. herauszuarbeiten. Sicherheitsdiskurse stellen machtvolle Rahmen gesellschaftlichen Handelns dar, die bestimmte Praktiken ermöglichen und andere einschränken oder verhindern. Eng verzahnt sind dabei sprachliche Legitimationen und Argumentationsmuster mit institutionellen Aspekten wie der Formulierung und Ausübung bestimmter Gesetze (etwa der Ahndung von Verschmutzungen des öffentlichen Raums mit rigorosen Strafen) oder der Regulierung des Zugangs einzelner Personengruppen zu bestimmten Orten (etwa des Zutritts Obdachloser zu Bahnhöfen). Die neuen Sicherheitsdiskurse werden durch architektonische und städtebauliche Arrangements (bspw. durch die Installation von Videokameras oder durch eine bauliche Gestaltung, die für spezifische Gruppen die Aneignung erleichtert bzw. erschwert) gestützt und verfestigt (Beispiele für solche architektonisch-städtebaulichen Arrangements schildert Davis 1990 am Beispiel von Los Angeles). Dieser Ausflug zu einigen Fragestellungen, die gewinnbringend mithilfe diskurstheoretischer Ansätze bearbeitet werden oder bearbeitet werden könnten, stellt natürlich nur eine kleine Auswahl dar. Er macht aber deutlich, dass Arbeiten der Diskursforschung in vielfältigen thematischen Kontexten Perspektiven eröffnen, die bestehende Fragestellungen und Erklärungsmuster ergänzen und bereichern. Insbesondere eröffnet die Diskursforschung einen Blick dafür, dass Handlungen weder allein auf Intentionen und Ziele von Akteuren noch auf vordiskursive gesellschaftliche Makrostrukturen zurückgeführt werden können, sondern dass schon die Frage, was in einem bestimmten Kontext als legitimes Ziel 19

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oder sinnvolle Situationsbewertung gilt, abhängig von den diskursiven Rahmenbedingungen ist. Gesellschaftliche Machtbeziehungen zeigen sich aus Sicht der Diskursforschung also nicht allein in expliziten Verboten oder institutionellen Beschränkungen, sondern auch in den überindividuellen, oft implizit wirkenden Bedeutungsstrukturen, die menschlichem Handeln zugrunde liegen und in deren Wirkung auf und Verknüpfung mit Normen, Alltagspraktiken und materiellen Arrangements. Die vorgestellten Arbeiten und Fragestellungen greifen in unterschiedlichen Akzentuierungen auf eine Reihe theoretischer Überlegungen zurück, die die konzeptionelle Basis diskurstheoretischer Arbeiten bilden. Im folgenden Abschnitt werden diese in ihren Grundzügen dargestellt.

Konzeptionelle Grundlagen der Diskursforschung Die deutschsprachige Humangeographie wie auch die deutschsprachigen Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften allgemein waren (im Unterschied etwa zur französischsprachigen Debatte) auf der konzeptionellen Ebene lange Zeit gekennzeichnet durch die Dichotomie zwischen szientistischen, an das Paradigma des Kritischen Rationalismus angelehnten Ansätzen und interpretativ-verstehenden Zugriffen, welche die Subjektivität unterschiedlicher Weltsichten in den Vordergrund stellten (bspw. hermeneutische und handlungstheoretische Ansätze). Im Zuge des linguistic und cultural turn wurden daneben vermehrt strukturalistische, poststrukturalistische und pragmatische Theorieentwürfe rezipiert, die auf unterschiedliche Arten und Weisen diskursanalytische Ansätze inspiriert haben. Die Grundlagen dieser drei Ansätze sollen im Folgenden kurz erläutert werden.

Strukturalismus Mit dem Begriff Strukturalismus werden Theorien und Methoden bezeichnet, die einzelne Phänomene aus ihrer Stellung in einem Beziehungsgefüge (einer Struktur) zu erklären suchen. Objekte (bspw. Wörter, Akte, materielle Artefakte) tragen demzufolge keine absolute, essenziell gegebene Bedeutung an sich, sondern diese ergibt sich vielmehr erst durch ihre Stellung innerhalb eines relationalen Bezugssystems. Für die Diskurstheorie ist diese Relationalität der Bedeutungsproduktion deswegen zentral, weil damit das Repräsentationsmodell fällt, d. h. die Vorstellung, dass in Sprache eine externe Realität abgebildet werden könne.

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Abbildung 1: Signifikat (Konzept/Bezeichnetes) und Signifikant (Bezeichnendes) im Zeichenbegriff von de Saussure

Quelle: de Saussure 1931 [1916]: 78 Als Begründer des Strukturalismus gilt der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. Dieser prägte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass Sprache ein durch abstrakte Regeln gekennzeichnetes Zeichensystem (langue) ist, welches sich in konkreten Sprechereignissen (parole) ausdrückt und die menschlichen Vorstellungen von und Wahrnehmungen der Welt strukturiert. Grundlegend für die Theorie de Saussures waren insbesondere drei Annahmen: 1. Die Arbitrarität der Zuordnung von Signifikant und Signifikat: Nach de Saussure vereinigt das sprachliche Zeichen das Bezeichnende (den Signifikanten) und das Bezeichnete (das Signifikat, d. h. das Konzept). Dies bedeutet, dass die in unterschiedlichen Sprachen stattfindende Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat allein auf Konventionen beruht. Es hat also keinen „inneren“ Grund, warum die Buchstabenfolge „B-a-u-m“ eine Pflanze mit Verholzung und Blättern bezeichnet und nicht eine Wohnstätte (1931 [1916], s. Abbildung 1). Das Konzept de Saussures lässt sich mit einem Vergleich unterschiedlicher Sprachen veranschaulichen. So zeigt die Tatsache, dass das Konzept „Hund“ (Signifikat) in unterschiedlichen Sprachen mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft ist (z. B. engl. dog, frz. chien, russ. собака), dass die Signifikanten also arbiträr sind. Aber auch die Konzepte gehen nicht dem Sprachsystem voraus. Wäre dies der Fall, dann müssten in allen Sprachen die gleichen Konzepte existieren, die nur mit jeweils anderen Signifikanten verknüpft wären. Übersetzung wäre dann immer einfach und präzise. Viele Konzepte existieren aber nur in bestimmten Sprachen, in anderen jedoch nicht (bspw. gibt es für die Begriffe „Heimat“ und „spießig“ im Deutschen keine Entsprechungen im Englischen). Übersetzung ist daher immer mit Schwierigkeiten verbunden (diese Problematik diskutieren die Arbeiten zum translational turn, für die Hu-

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mangeographie s. Bruns und Zichner 2009; Crane, Lombard und Tenz 2009; Filep 2009; Husseini 2009). 2. Relationalität als Grundlage der Bedeutungskonstitution: de Saussure versteht Sprache als eine „Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen“ (1931 [1916]: 144). Die Ordnung der Signifikanten und die Ordnung der Signifikate decken sich nach de Saussure vollständig. Das System stelle „im Inneren jedes Zeichens“ (ebd.) die Verbindung zwischen Signifikant und Signikat her. Die spezifische Verbindung zwischen der Buchstaben- (bzw. Laut-)folge „B-AU-M“ und der Vorstellung Baum entsteht also in der Abgrenzung von anderen Signifikanten und Signifikaten. Abbildung 2: Herstellung von Bedeutung durch Abgrenzung

Quelle: de Saussure 1931 [1916]: 137 3. Ablehnung einer „objektiven Welt“ außerhalb von Sprache: de Saussure lehnt die Idee fertiger Vorstellungen, welche schon „vor den Worten“ vorhanden sind, ab (1931 [1916]: 97). Denken ist seiner Ansicht nach untrennbar mit Sprache verbunden und ohne sprachlichen Ausdruck nur eine „gestaltlose und unbestimmte Masse“ (ebd.: 133). Das bedeutet, dass durch die beschriebenen strukturellen Charakteristika einer gesellschaftlich etablierten Sprache auch ein Rahmen für die Bedeutungsproduktion geschaffen wird. Insbesondere der letztgenannte Punkt macht deutlich, warum der Strukturalismus die Idee autonomer Subjekte kritisiert und damit auch ausdrücklich eine Gegenposition gegenüber subjektorientierten Ansätzen einnimmt. Denn mit der Vorstellung, dass Bedeutung erst in Sprache konstituiert wird, ist impliziert, dass auch Subjekte ihre vermeintlich individuellen Vorstellungen und Bewertungen der Welt immer nur durch und innerhalb derjenigen gesellschaftlich etablierten (sprachlichen) Struktur entwickeln können, die ihnen für die Symbolisierung der Welt zur Verfügung steht.

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Semiotik/Allgemeine Zeichentheorie De Saussure hat in seinem Cours de linguistique générale bereits den Anspruch formuliert, dass sein Konzept von Sprache als System von Zeichen die Grundlage lege für eine neue Wissenschaft, die Semeologie. Die Semeologie sei die „Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“ (ebd.: 19). Letztlich ließen sich „symbolische Riten, Höflichkeitsformen, militärische Signale usw.“ genauso wie Sprache als System von Zeichen analysieren. Saussure entwirft also bereits die Übertragung strukturalistischen Denkens auf das Feld nicht-sprachlicher Bedeutungssysteme und damit letztlich des Sozialen insgesamt. Ab den 1950er-Jahren legen bspw. der Anthropologe Claude Lévi-Strauss und der Kulturkritiker Roland Barthes entsprechende Arbeiten vor. So arbeitet Lévi-Strauss Strukturen verwandtschaftlicher Beziehung und gesellschaftlicher Mythen heraus und analysiert diese wie sprachliche Strukturen (Lévi-Strauss 1971 [1958], 1993 [1948]). Roland Barthes greift 1957 den Vorschlag zur Konstitution der Semeologie auf und wendet sich der Analyse eines nichtsprachlichen Bedeutungssystems zu – der Mode (Barthes 1985 [1967]: 2, 7ff.). Anstelle von Semeologie hat sich für die Analyse nicht-sprachlicher Bedeutungssysteme allerdings der Begriff Semiotik etabliert. Aus Sicht der Diskurstheorie ist diese Erweiterung des sprachlichen Strukturmodells der Linguistik auf nicht-sprachliche Bedeutungssysteme deswegen wichtig, weil sie es ermöglicht, auch Alltagspraktiken oder materielle Artefakte in die Analyse einzubeziehen. Neben Ferdinand de Saussure gilt Charles Sanders Peirce (1839– 1914) als einer der Begründer der Semiotik. Peirce geht von einem triadischen Zeichenmodell aus. Dieses umfasst das Bezeichnete (Zeichenobjekt), die Bezeichnungsform (Zeichenträger, Repräsentamen) und die Repräsentation dieses Zeichens im Bewusstsein der kommunizierenden Person (Interpretant) (Eco 1994 [1968]: 76ff.). Das triadische Zeichenmodell wird damit auch zu einer Grundlage der Ansätze des Pragmatismus. Denn mit der Prämisse, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht durch eine vorgegebene Struktur festgelegt wird, sondern spezifisch im Kommunikationsprozess generiert wird, erkennt Peirce an, dass Sinn weder statisch noch absolut ist, sondern durch den Kontext der Kommunikation mitbestimmt wird (Nöth 2000: 64).

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Sprechakttheorie und Pragmatik Der Einbezug des Kommunikationskontextes in die Analyse sprachlicher Formen stellt einen zentralen Bestandteil pragmatischer Ansätze dar. Im Zentrum der Analyse steht das Sprechhandeln von Akteuren, die sich sprachlicher Formen bedienen, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen – griffig auf den Punkt gebracht durch den Titel des grundlegenden Werks von John Austin (1972 [1962]) „How to do things with words?“. Damit führt die Sprachpragmatik einen zentralen Unterschied in die Untersuchung sprachlicher Formen ein: die Differenz zwischen der strukturellen Komponente linguistischer Ausdrücke („Semantik“) und dem tatsächlichen Gebrauch von Sprache in unterschiedlichen Kontexten („Pragmatik“) (Searle 1969; Austin 1972 [1962]; Grice 1975). Im Zentrum pragmatischer Untersuchungen steht die Frage, welche Aussagen, Sätze oder sprachlichen Formen in einem bestimmten Kontext gewählt wurden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Sprechakttheorie und die Sprachpragmatik befassen sich also – im Gegensatz zu strukturellen Ansätzen – nicht mit den allgemeinen, kontextunabhängigen Regeln und Strukturen, in die sprachliches Handeln eingebettet ist, sondern mit der kontextabhängigen Verwendung von Sprache (Wittgenstein 1953). Demzufolge kann bspw. der gleiche Satz in unterschiedlichen Kontexten ganz verschiedene Bedeutungen annehmen. Jedoch ist die Frage, welche Bedeutungen er annimmt, nicht beliebig, sondern lässt sich bis zu einem gewissen Grad aus allgemeinen Kommunikationsregeln bestimmen.2 Gerade im Kontext raumbezogener Kommunikation lassen sich dabei oftmals explizite und implizite Bedeutungsgehalte von Aussagen unterscheiden. So liegt bspw. einer Vielzahl von Aussagen ein räumliches Containerdenken zugrunde, welches selbstverständlich davon ausgeht, dass die Welt in distinkte, homogene Raumeinheiten eingeteilt werden kann (Schlottmann 2005). Ansätze der Sprachpragmatik sind für diskurstheoretische Ansätze deswegen relevant, weil sie im Gegensatz zu strukturalistischen Konzepten den Blick für die Singularität und Ereignishaftigkeit von (Sprech-) Handlungen und Aussagen öffnen und deutlich machen, dass Bedeutun2

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So besagt etwa das Grice’sche Kooperationsprinzip, dass Sender und Empfänger eines Kommunikationsaktes davon ausgehen, vom jeweils anderen verstanden zu werden, bzw. von diesem eine sinnvolle Information zu erhalten (Grice 1975). Das Konzept der Präsupposition geht davon aus, dass in einer Aussage oft eine ganze Reihe von Vorannahmen enthalten sind, die als gegeben vorausgesetzt werden (Langedoen und Savin 1971). So transportiert bspw. die Aussage „Ich lebe im schönen Ostdeutschland“ explizit: Ostdeutschland ist schön, und implizit: es gibt einen begrenzten Raum Ostdeutschland (Schlottmann 2005).

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gen nicht objektiv bestimmt werden können, sondern sich aus der spezifischen Verbindung von Text und Kontext ergeben. Entsprechend definiert Foucault in der „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) auch die Aussage, die durch ihre Spezifizität und Einzigartigkeit gekennzeichnet ist, als kleinste Einheit des Diskurses und untersucht auf dieser Basis die Verbindung einzelner Aussagen in diskursiven Formationen. In dieser Fokussierung auf diskursive Formationen und damit auf überindividuelle Regeln und Muster liegt der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Pragmatik und Diskurstheorie. Während Ansätze der Sprechakttheorie ihren Fokus auf singuläre Handlungen und die Rolle einzelner „Sprecher“ legen, zielen Diskursanalysen auf die überindividuellen Regeln der Herstellung sozialer Wirklichkeit.

Kritik des Repräsentationsmodells im Poststrukturalismus Poststrukturalistische Ansätze gehen wie strukturalistische Ansätze davon aus, dass Bedeutung ein Effekt von Differenzierung ist. Im Gegensatz zum Strukturalismus betonen die poststrukturalistischen Arbeiten jedoch, dass je nach Kontext unterschiedliche Differenzierungen und damit immer wieder neue Bedeutungen möglich sind. Die Suche des Strukturalismus nach objektiven Gesetzen einer gegebenen Realität, die dann in Sprache (und in anderen Zeichensystemen) wiedergegeben wird, lehnen poststrukturalistische Theorien (ähnlich wie auch pragmatische Ansätze) ab. Allerdings begründen sie diese Ablehnung einer „absoluten“ Bedeutung von sprachlichen Formen nicht mit der Idee individueller Vorstellungen handelnder Individuen (wie der Pragmatismus), sondern argumentieren, dass Zeichen niemals eine feste Bedeutung haben, sondern sich auch auf der Bedeutungsebene allein durch immer wieder neue und andere relationale Verweise konstituieren (Derrida 1972 [1967], 1974 [1967]; Lacan 1973 [1966]). Die strukturalistische Vorstellung, dass jeder Signifikant im Zusammenspiel mit den differierenden Signifikanten eine eindeutig zu bestimmende Bedeutung habe, scheitert demnach, weil es kein Zentrum der Struktur gibt, d. h. keinen feststehenden Signifikanten der Bedeutung endgültig fixiert, sondern nur ein ewiges Spiel von Verweisen (Derrida 1974 [1967]). Man kann diese Überlegung anhand der Funktion eines Wörterbuchs veranschaulichen: Jeder Eintrag wird mit mehreren Verweisen auf andere Einträge erläutert und diese wieder mit Verweisen auf andere Einträge, und so setzt sich dies unendlich fort. Zudem sind die Differenzierungen und Relationierungen nicht zeitlos. Während strukturalistische Arbeiten einseitig davon ausgehen, dass die Wiederholung eines Zeichens dessen Bedeutung konsolidiert, weist insbesondere 25

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Derrida darauf hin, dass Wiederholung immer auch mit einer Bedeutungsverschiebung verbunden ist (Derrida 1974 [1967]; Zima 1994; Münker und Roesler 2000). D. h. ein Signifikant differiert nicht – wie vom Strukturalismus angenommen – von einem feststehenden Set von Signifikanten, sondern immer wieder von anderen Signifikanten. In einem solchen offenen Verweisungszusammenhang wandeln sich Bedeutungen permanent. So ist auch zu erklären, dass ein und dasselbe Wort (lexem) in verschiedenen Kontexten immer wieder unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Die Wortfolge „elfter September“ hat heutzutage bspw. andere Bedeutungen als noch in den 1990er-Jahren. Und die Bedeutung des Wortes „Hund“ ändert sich je nachdem, ob im Kontext von Tieren in einem Hundesportverein oder bspw. von Autohändlern die Rede ist – ohne dass aber dann jeweils genau eine Bedeutung feststehen würde. Damit wird insbesondere die Vorstellung aufgegeben, dass Sprache ein Repräsentationsmodell sei, d. h. dass durch sprachliche Zeichen die Vermittlung von Inhalten stattfinden würde, die der Sprache vorgängig und von ihr unabhängig wären. Diese Ablehnung des Repräsentationsmodells von Sprache und die Anerkennung der Mehrdeutigkeit sprachlicher Formen werden trotz aller konzeptioneller Unterschiede innerhalb diskurstheoretischer Arbeiten (s. u.) von einer Vielzahl diskurstheoretischer Ansätze geteilt. Entsprechend lassen sich einige Annahmen festhalten, die sowohl für den Poststrukturalismus wie auch für die meisten Diskurstheorien grundlegend sind: • Sprache wird als zentrales Medium gesellschaftlicher Bedeutungskonstitution anerkannt. Damit ist eine Kritik an der Vorstellung einer außerhalb der Repräsentation bestehenden Wirklichkeit verbunden. Entsprechend wird auch die Produktion von Sinn und Wahrheit auf sprachliche Regeln und Strukturprinzipien zurückgeführt. • Mit diesem Rekurs auf Sprache als grundlegendes Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit geht die Kritik des Subjektverständnisses der Aufklärung und der westlichen Moderne einher, die die Autonomie, Rationalität und Vernunft von Subjekten (und damit auf die rationale Rekonstruktion des Handelns von Akteuren) postuliert hatten (Foucault 1971 [1966], 1973 [1969]; Lacan 1973 [1966]; Žižek 1991; vgl. auch Exkurs „Tod des Subjekts“). • Die Vorstellungen zur sprachlichen Bedeutungskonstitution lassen sich prinzipiell auch auf nicht-sprachliche Zusammenhänge, etwa Bilder, Karten, Filme, Architekturen oder Alltagspraktiken, übertragen. So haben z. B. Arbeiten aus der Genderforschung deutlich gemacht, dass auch die Wahrnehmung und Konstituierung von Körper-

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lichkeit nicht natürlich gegeben ist, sondern in gesellschaftlichen Diskursen geprägt wird (Butler 1997 [1993], 2004). Diese Strukturprinzipien werden (in Abgrenzung zum Strukturalismus) als offen und prinzipiell unabschließbar verstanden. Das bedeutet, dass sprachliche Ausdrücke in aller Regel an so viele unterschiedliche diskursive Zusammenhänge Anschluss bieten, dass ihre Bedeutung „überdeterminiert“ ist, d. h. nicht eindeutig bestimmt werden kann, sondern unterschiedliche Interpretationen zulässt und zudem historisch wandelbar ist. Der Strukturbegriff wird dabei also historisiert und dezentriert, d. h. es wird sowohl die historische Wandelbarkeit von Strukturen betont als auch die Abhängigkeit der jeweiligen Wahrnehmung von der eingenommenen Betrachter_innenposition. Dies zeigt sich bspw. in Ansätzen des Postkolonialismus und des Feminismus (Bhabha 1994; Hall 1994, 1999 [1989]; Spivak 1996). Diese haben darauf hingewiesen, dass viele der vermeintlich „objektiv wahren“ Formen der Geschichtsschreibung und der Kategorisierungen sozialer Wirklichkeit nur eine spezifische Perspektive, nämlich eine eurozentristische bzw. androzentristische Weltsicht, bieten. Daneben existieren aber eine ganze Reihe anderer Wirklichkeitsentwürfe, die durch hegemoniale Machtstrukturen unterdrückt und ausgeschlossen werden. Aus den vorangegangenen Überlegungen leitet sich eine Kritik von Universalismus, Objektivitätsglauben und Essentialismen ab. Die Idee einheitlicher Prinzipien, auf die die Strukturierung gesellschaftlicher Wirklichkeit zurückgeführt wird (wie bspw. „rationale Subjekte“, „ökonomische oder räumliche Strukturen“, „historisch-teleologische Entwicklungen“), wird als machtgeladene soziale Konstruktion interpretiert, die mit spezifischen Trennungen, Ein- und Ausschlüssen, Marginalisierungen und Essentialisierungen einhergeht. Diese konzeptionelle Ausrichtung mündet in vielen Fällen in das politische Projekt einer „Öffnung des Diskurses“ (vgl. Laclau und Mouffe 1985; Foucault und Martin 1988 [1982]; Mouffe 1999 [1996], 2007 [2005]). Es geht darum zu verdeutlichen, dass viele der als natürlich und unumstößlich repräsentierten Kategorien und Konzepte hergestellt und machtgeladen sind, damit immer kontingent und veränderlich. Die Offenlegung der Strukturprinzipien gesellschaftlicher Sinnproduktion zielt in vielen Fällen also darauf ab, die Diskussion um zusätzliche Optionen zu erweitern, marginalisierte Positionen stärker ins Zentrum zu rücken und vermeintlich „natürliche“ Objektivierungen zu hinterfragen und aufzubrechen.

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Exkurs: „Tod des Subjekts“/ Das Subjekt in der Perspektive des Poststrukturalismus Ein herausstechendes Merkmal und häufig herangezogenes Abgrenzungskriterium diskurstheoretischer Ansätze gegenüber handlungsund akteurszentrierten Perspektiven ist die Kritik an der Idee eines autonom und intentional handelnden Subjekts. Diese Kritik kulminiert in dem vielfach zitierten Schlusssatz aus Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ (Foucault 1971 [1966]: 462), in dem er schreibt: „der Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Mit diesem so genannten „Tod des Subjekts“ wird aber keineswegs das Thema Subjektivität „abgehakt“. Vielmehr ergeben sich in der Perspektive des Poststrukturalimus eine ganze Reihe neuer konzeptioneller Fragestellungen, die sich mit der diskursiven Konstitution von Subjekten sowie von Subjektivität und Identität beschäftigen. Denn die Konzeptionalisierung von Subjekten und Akteuren als nicht vordiskursiv gegeben bedeutet aus Sicht der Diskurstheorie nicht, dass Subjekte und Akteure unwichtig wären oder als Forschungsgegenstände uninteressant. Vielmehr rücken gerade die Konstitutionsprinzipien, Machtstrukturen und Identifikationsprozesse, in denen Subjektivität und Identität als diskursive Effekte entstehen, in den Mittelpunkt des Interesses. Für die Beantwortung der Frage, wie Subjekte im Diskurs konstituiert werden, existieren eine Reihe von Ansätzen, die sich in Bezug auf ihre konzeptionelle Verortung und ihre Fokussierung unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen die Annahme, dass die Identität von Individuen nicht auf einen „echten“ Wesenskern zurückgeführt werden kann. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Identität von Individuen erst in Diskursen konstituiert wird. So stellen bspw. EuropaDiskurse eine Subjektposition „Europäer“ her, rassistische Diskurse konstituieren Subjektpositionen wie „Weiß“ und „Schwarz“. Diese Identitäten sind dabei nicht zu verwechseln mit stabilen und „ganzen“, stimmigen sozialen Rollen. In poststrukturalistischer Perspektive bleiben die Identitäten von Individuen vielmehr letztlich immer hybrid, widersprüchlich und brüchig. Jenseits dieser gemeinsamen Basisannahmen lassen sich einige Ansätze unterscheiden, die das „Phänomen Subjekt“ auf unterschiedliche Art und Weise konzeptionalisieren und die teilweise in einzelnen Kapiteln dieses Buchs aufgegriffen werden. • Einflussreich für eine ganze Reihe diskurstheoretischer Ansätze (Foucault 1971 [1966]; Laclau und Mouffe 1985; Butler 1990), wenn auch selbst nicht direkt der Diskursforschung zuzurechnen, sind die Ansätze des in der marxistischen Tradition argumentierenden Louis Althusser. Dieser prägte die Begriffe der Interpellation und der Überdeterminierung. Interpellation bezeichnet den Akt der Anrufung des Subjekts durch ideologische Staatsapparate. DERDE Der marxistische Philosoph entwarf damit auf der Basis eines ökonomischen Materialismus eine Alternative zur Idee des autonomen Subjekts. Nach Althusser werden Individuen durch die Ideologie „angerufen“, d. h. in bestimmte Subjektpositionen plat28

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ziert. Institutionen wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie konstruieren die Überzeugung, dass die Individuen autonom seien, indem sie definieren und „lehren“, was ein Arbeiter, eine Fabrikbesitzerin, ein Schüler, eine Polizistin etc. ist (Althusser 1977 [1970]: 140). Diese Anrufung sei ideologisch, da sie die wahren sozialen Beziehungen verdecke, welche durch die Ökonomie bestimmt seien. Neben dem Konzept der Anrufung greift Althusser den Begriff der Überdeterminierung des Psychoanalytikers Siegmund Freud auf. Althusser bezeichnet mit Überdeterminierung den Umstand, dass soziale Effekte, insbesondere die Identitäten von Subjekten, nicht auf eine einfache Ursache oder Quelle zurückzuführen sind oder eine eindeutige Bedeutung haben, sondern durch mehrere (und möglicherweise widersprüchliche) Referenzsysteme geprägt sind (Althusser 1977 [1970]).3 Der Gedanke, dass Identität durch die Einbindung in unterschiedliche Referenzsysteme entsteht, die sich gegenseitig überschneiden, widersprechen und infrage stellen, wird auch von vielen Vertreter_innen des Postkolonialismus betont (vgl. Bhabha 1994; Hall 1994, 1999 [1989]; Spivak 1996; einen Überblick über die Ansätze des Postkolonialismus bieten Castro Varela und Dhawan 2005). Diese postulieren, dass Subjekte und Identitäten nie stabil und eindeutig bestimmt seien, sondern dass durch die Verortung in unterschiedlichen diskursiven Verweissystemen Phänomene der Fragmentierung und der Hybridisierung entstehen. Diese Arbeiten verdeutlichen auch, dass Abgrenzungsprozesse, also die Unterscheidung von einem als „anders“ definierten Außen, grundlegend für die Konstitution von Identität sind. Dabei sind diese Grenzziehungen durch ungleiche Machtverhältnisse geprägt, die eine Seite (die des „Eigenen“) als besser erscheinen lassen als die andere Seite (die des „Außen“, von dem sich abgegrenzt wird; dazu bspw. die Arbeit von Said zur Konstitution des „Orients“ 1978). Das Konzept der (Geschlechts-)Identität als kulturelle Performanz von Butler (1990, 2004, vgl. Kap. 4) verdeutlicht, dass Identität nicht qua Geburt gegeben ist, sondern stets ein gesellschaftliches Konstrukt darstellt, welches durch Machtbeziehungen geprägt ist. Butler betont, dass die diskursiv konstituierten Subjektpositionen nicht unabhängig von gesellschaftlicher Praxis bestehen – d. h. Vorstellungen darüber, was eine Frau oder einen Mann (bzw. analog andere Identitäten) ausmacht, müssen immer wieder aufs Neue in Handlungen und Sprechakten bestätigt und hervorgebracht werden und können in solchen performativen Akten auch verändert werden. Die im Anschluss an Foucaults Konzept der Gouvernementalität etablierten governmentality studies interessieren sich weniger für

Insbesondere Laclau und Mouffe haben Althusser allerdings vorgeworfen, dass sein Konzept der Überdeterminierung inkompatibel sei mit seinem Festhalten an dem marxistischen Konzept, nach dem „in letzter Instanz“ das Ökonomische die anderen Bereiche der Gesellschaft determiniere (Althusser 1977 [1970]: 130ff.; Laclau und Mouffe 1985: 98). 29

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die strukturell bestimmten Positionen, die Subjekte im Diskurs einnehmen, als vielmehr für die diskursiven Mechanismen, durch die Individuen zu bestimmten Handlungen angeleitet werden (Foucault 1988, 2006a [1979], b [1978]; Rose 1992, 1999; Lemke 1997; Krasmann 2003; Bröckling 2007). Einen Schlüsselbegriff stellen in diesem Zusammenhang die „Technologien des Selbst“ dar, d. h. die Verfahren, Denkschemata und Begründungsmuster, die Individuen anwenden, um sich selbst in einer bestimmten Art und Weise (bspw. als beruflich/privat erfolgreich/angesehen) zu erfahren. Der Fokus dieses Ansatzes liegt also weniger auf der Frage, welche Position Individuen im Diskurs einnehmen, als mehr auf der Frage, wie sich konkrete Praktiken des Alltagshandelns erklären lassen und welche Denkmuster und Techniken diesen zugrunde liegen (vgl. Kap. 3). Der Schwerpunkt der Arbeiten von Laclau und Mouffe (1985), insbesondere von Laclau (1996, 2005), liegt bei der Beantwortung der Frage, wie kollektive Identitätsbildungsprozesse erklärt werden können. Grundlegend für die Theorie ist die Annahme, dass Kollektive nicht auf der Basis eines gemeinsamen Wesenskerns entstehen, sondern sich vielmehr in diskursiven Abgrenzungsprozessen als Gemeinschaft konstituieren. Diese Abgrenzung erfolgt innerhalb des Diskurses durch die Ausbildung so genannter antagonistischer Grenzen. Konstitutiv für Kollektive ist also nicht etwas, das sie gemeinsam haben, sondern etwas, von dem sie sich gemeinsam distanzieren (vgl. Kap. 6).

Obwohl bzw. gerade weil diskurstheoretische Ansätze nicht von essenziell gegebenen Subjekten und Akteuren ausgehen, stehen die Konstitutionsprozesse von Identität und Subjektivität im Zentrum des Interesses dieser Ansätze. Identität und Subjektivität werden als diskursive Effekte verstanden, die durch die jeweiligen Diskursstrukturen geprägt und durch Abgrenzungsprozesse gekennzeichnet sind. Aus Sicht der Diskurstheorie wird damit die Frage zentral, wie Identitäten und Subjektivität im Diskurs entstehen und durch welche Zuschreibungsprozesse und Machtbeziehungen diese geprägt sind.

An s ä t z e d e r s o z i a lw i s s e n s c h a f t l i c h e n Diskursforschung Vor dem Hintergrund der oben dargestellten konzeptionellen Prämissen beschäftigt sich Diskursforschung also allgemein mit dem Zusammenhang zwischen sprachlichen und zunehmend auch nicht-sprachlichen Zeichensystemen, Bedeutungen und Machtverhältnissen. Im Zentrum der Analysen steht die Frage, wie die bestehenden Verweissysteme, Kategorien, Objekte und Bewertungen der sozialen Welt hergestellt werden, welchen Regeln sie genügen, wie diese Regeln durch performative Wiederholungen und Praktiken aktualisiert oder verändert werden. Darüber hinaus können Diskursanalysen aufzeigen, wie sich die diskursive

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DISKURSFORSCHUNG IN DER HUMANGEOGRAPHIE

Sinn-, Wahrheits- und Bedeutungskonstitution mit institutionellen Arrangements verschränkt und in Alltagspraktiken zeigt. Vor dem Hintergrund dieser übergeordneten Fragestellungen lassen sich innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung verschiedene Untersuchungsperspektiven unterscheiden. Diese akzentuieren unterschiedliche Aspekte der diskursiven Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit bzw. argumentieren vor dem Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Annahmen. Vereinfacht lassen sich drei Schwerpunktsetzungen unterscheiden: strukturalistische Ansätze, die wissenssoziologisch orientierte Diskursforschung und poststrukturalistische Perspektiven (Keller 2004, Lees 2004, Mattissek und Reuber 2004; Angermüller 2005). Alle drei Ansätze bieten unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten für die Humangeographie. Ihre Prämissen und Schwerpunkte der Analyse werden im Folgenden kurz vorgestellt.

Strukturalistische Diskursforschung Zur strukturalistisch orientierten Diskursforschung sind zunächst die Arbeiten der critical discourse analysis zu zählen (Fairclough 2002, 2005; van Dijk 2002; Fairclough und Wodak 2003; vgl. auch Kap. 5), die in einer aufklärerischen Perspektive herausarbeiten wollen, wie Texte durch eine dahinterliegende Ideologie geprägt sind und damit die Hegemonie im Sinne der Meinungsführerschaft sozial dominanter Gruppen widerspiegeln und reproduzieren. Diese Arbeiten stehen in der Tradition marxistischer Ideologiekritik. Letztlich gehen diese Ansätze von prädiskursiv vorhandenen Sozialstrukturen aus, die sich im Diskurs niederschlagen und die es zu hinterfragen, zu „denaturalisieren“ gilt: „denaturalization involves showing how social structures determine properties of discourse, and how discourse in turn determines social structures“ (Fairclough 1995: 27). Die critical discourse analysis unterscheidet also zwischen einer Ebene der Ideologien und der Diskurse sowie einer Ebene der (wirklichen) sozialen Strukturen und Praxen. Sie werden daher teilweise dafür kritisiert, dass das Ergebnis letztlich vor der Analyse feststehe: Der Diskurs werde konzeptionalisiert als durch die sozioökonomischen Strukturen determiniert (so bspw. Phillips und Jørgensen 2002: 6ff.). Letztlich würden diese Ansätze davon ausgehen, dass die Wissenschaft im Gegensatz zum Rest der Menschheit in der Lage sei, hinter den „Vorhang“ der Ideologien zu schauen und dort die „wirklichen“ Strukturen und Praxen zu beobachten (kritisch dazu bspw. Laclau 1996: 202). Daneben lassen sich Ansätze identifizieren, welche zwar nicht von vordiskursiv bestehenden Sozialstrukturen ausgehen, aber das Fou31

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cault’sche Diskurskonzept ebenfalls für eine insgesamt eher strukturalistisch orientierte Gesellschaftsanalyse nutzen. In einer solchen Perspektive liegt der Schwerpunkt von Untersuchungen in erster Linie darauf herauszuarbeiten, wie Praktiken, Sichtweisen und Entscheidungen durch übergeordnete diskursive Strukturen bestimmt werden. Ziel ist es also, Gemeinsamkeiten und Kohärenzen zwischen einzelnen, zunächst unverbundenen diskursiven Ereignissen und Aussagen herzustellen und diese zu einem Gesamtbild zusammenzufügen (Diaz-Bone 2002; Bublitz 2003).

Wissenssoziologische Diskursforschung Die wissenssoziologisch-interpretative Diskursforschung versucht, den Foucault’schen Diskursbegriff in die Wissenssoziologie im Anschluss an Berger und Luckmann einzuführen. Ziel ist es, das intersubjektiv geteilte Wissen in gesamtgesellschaftlich relevanten Debatten zu rekonstruieren (Hajer 1995; Schneider 1999; Schwab-Trapp 2001; Viehöver 2003; Keller 2005). Die wissenssoziologische Diskursforschung, wie sie im deutschsprachigen Kontext prominent durch Reiner Keller vertreten wird, fasst Diskurs als Struktur, welche die symbolische Praxis von Akteuren anleitet, von diesen allerdings auch beeinflusst wird und strategisch eingesetzt werden kann. In dieser Praxis wird der Diskurs reproduziert und transformiert. Die wissenssoziologische Diskursforschung baut damit auch auf der Strukturationstheorie von Giddens sowie auf Überlegungen von Bourdieu zur Strukturierung der Gesellschaft auf. Insgesamt ist dieser Ansatz bemüht, die Diskursforschung an etablierte Ansätze innerhalb des interpretativen Paradigmas in den Sozialwissenschaften anzuschließen. Angermüller wirft der wissenssoziologischinterpretativen Diskursforschung allerdings vor, dass sie Inkonsistenzen zwischen Theorie und Forschungspraxis produziere, indem sie zwar einerseits auf poststrukturalistischen Ansätzen aufbaue, aber andererseits an Ideen eines prädiskursiven intentionalen Subjekts festhalte und in der Forschungspraxis den interpretierenden Wissenschaftler nicht hinterfrage (Angermüller 2005).

Poststrukturalistische Diskursforschung Poststrukturalistische bzw. zeichen- und differenztheoretisch orientierte Ansätze gehen – entsprechend der theoretischen Verortung – weder von gesellschaftlichen Verhältnissen noch von handelnden Subjekten als Ursprung diskursiver Strukturen aus. Vielmehr betrachten sie beides als diskursiv konstituiert und nehmen damit keinen außerdiskursiven 32

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„Grund“ der Gesellschaft an – wie ihn bspw. marxistische Theorien in der ökonomischen Basis verorten. Auf ähnliche Weise gelten auch individuelle und kollektive Identitäten nicht als Ursprung, sondern als Ergebnis diskursiver Prozesse, deren Konstitution aber niemals vollständig, homogen und in sich geschlossen sein kann, sondern immer durch Brüche, Fragmentierungen und erneute Schließungsversuche gekennzeichnet ist (Laclau und Mouffe 1985; Marchart 2002; Sarasin 2003; Angermüller 2007). Der Fokus der Analysen liegt dann nicht auf der Frage, wer oder was diskursive Strukturen hervorbringt, sondern umgekehrt darauf zu erfassen, wie sowohl soziale, ökonomische und politische Strukturen als auch Identitäten, Intentionen und Handlungsrationalitäten diskursiv hergestellt werden. Insgesamt zielt eine poststrukturalistische Perspektive in deutlich geringerem Maß als die beiden erstgenannten Ansätze darauf ab, eine in sich geschlossene und homogene Erzählung zu generieren. Stattdessen rücken gerade die Brüche und Widersprüche in den Blick, durch die gesellschaftliche Wirklichkeiten geprägt sind, und die Konflikte, die sich entlang dieser Bruchlinien entfalten.

Konsequenzen für die empirische Forschung Obwohl die heuristische Trennung der skizzierten Untersuchungsperspektiven für eine konzeptionelle Zuschärfung von Forschungsfragen sicherlich sinnvoll ist, lassen sich diese in der praktischen Anwendung nicht immer scharf trennen. So hat Diaz-Bone (2006) darauf hingewiesen, dass insbesondere strukturalistische und poststrukturalistische Aspekte des Diskurses in der empirischen Analyse kaum zu separieren sind: Denn um Brüche finden zu können, muss man zunächst Strukturen beschreiben, zwischen denen diese Brüche anzutreffen sind. Entsprechend verorten sich auch eine Vielzahl von Autor_innen in ihren Arbeiten quer zu den genannten Ansätzen und berücksichtigen sowohl strukturalistische als auch poststrukturalistische Aspekte. Die empirische Operationalisierung strukturalistischer und poststrukturalistischer Diskurstheorien steht dabei vor der Schwierigkeit, dass dabei weder unmittelbar auf die Verfahren der verstehenden, qualitativen Sozialforschung noch auf szientistische Ansätze zurückgegriffen werden kann, die auf die Rekonstruktion einer „objektiven Wirklichkeit“ abzielen. Vielmehr müssen Verfahren und Herangehensweisen entwickelt werden, die es erlauben, sowohl der strukturellen Dimension von Diskursen als auch deren Brüchigkeit, Veränderlichkeit und Widersprüchlichkeit auf der methodischen Ebene Rechnung zu tragen (Vorschläge zur Operationalisierung bieten bspw. Mattissek 2005, 2007, 2008; Non33

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hoff 2006; Angermüller 2007; Glasze 2007b, 2009 sowie die Kapitel im Teil C des Handbuchs). Einen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bildet die Darstellung unterschiedlicher theoretischer und methodischer Herangehensweisen, die versuchen, die anti-essenzialistischen Theoriegrundlagen der poststrukturalistischen bzw. zeichen- und differenztheoretischen Ansätze einzulösen.

R e z e p t i o n d i s k u r s t h e o r e t i s c h e r An s ä t z e i n d e r deutschsprachigen Humangeographie (unter Mitarbeit von PAUL REUBER, ROBERT PÜTZ & HANS GEBHARDT) Diskursanalytische Ansätze als Teil der „Neuen Kulturgeographie“ Diskursanalytische Ansätze sind mittlerweile ein akzeptiertes Verfahren des konzeptionellen und empirischen Arbeitens in der Humangeographie. Sie teilen bei aller internen methodischen und theoretischen Differenzierung die Auffassung, dass soziale Wirklichkeit durch Zeichensysteme wie Sprache konstituiert wird und – was insbesondere für die Geographie von Bedeutung ist – dass durch und in Sprache sowie weiteren Zeichensystemen auch Räume hergestellt werden. Solchermaßen sind diskursanalytisch inspirierte geographische Arbeiten heute Teil eines größeren Forschungskontextes, der vielfach etwas pauschal und semantisch unscharf mit dem Begriff der „Neuen Kulturgeographie“ etikettiert wird. Dabei handelt es sich nicht um eine neue inhaltliche Ausrichtung der Humangeographie mit einem Forschungsschwerpunkt im Bereich der Kultur. Vielmehr definiert sich die Neue Kulturgeographie „in erster Linie über ihre spezifische Art des wissenschaftlichen Blicks, d. h. über eine ähnliche Auffassung der theoretischen Herangehensweise und des Forschens. So gesehen kann man sagen: Neue Kulturgeographie ist zuallererst eine (Forschungs-)Perspektive“ (Gebhardt, Mattissek, Reuber und Wolkersdorfer 2007: 14), die „nicht-essenzialistisch und erkenntnistheoretisch ‚nicht-fundamentalistisch‘ ist; die Welt konstruktivistisch und relational liest und somit der Annahme sozialer Praxis vorgängiger Letztelemente wie Individuen, Staaten, Märkte, Kulturen, Handlungen oder Strukturen eine Absage erteilt“ (Berndt und Pütz 2007: 13). Die geographische Diskursforschung markiert im Rahmen des breiter aufgestellten Spektrums theoretisch-konzeptioneller Herangehensweisen der Neuen Kulturgeographie einen Kristallisationspunkt. Nach einer ersten Experimentierphase und durchaus kontroversen Bewertun34

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gen der Rolle und Bedeutung von Diskursanalysen für die Geographie erfolgt seit einigen Jahren eine zunehmende Klärung und Positionierung der Diskursforschung innerhalb des breiteren konzeptionellen und methodischen Spektrums der Humangeographie. Es ist klar geworden, dass eine humangeographische Diskursforschung traditionelle Raumkonzepte und die mit ihnen verbundenen empirischen Ansätze und Methoden um zusätzliche Segmente der raumbezogenen Forschung erweitert und dabei vielfach auch Bereiche erschließt, die sich mit den klassischen Perspektiven und Methoden nicht bearbeiten lassen, gleichwohl aber von hoher praktischer und politischer Bedeutung für die Gesellschaft sind (s. u.). Darüber hinaus wurde deutlich, dass eine diskursanalytische Perspektive neben der Bearbeitung fachinhaltlicher Fragestellungen auch für eine wissenschaftshistorische und wissenschaftssoziologische Beobachterperspektive innerhalb der Humangeographie einen Angelpunkt der kritischen Reflexion darstellen kann, mit der man die Rolle und Aufgabe der Geographie in Hochschule und Schule ebenso herausarbeiten kann wie die Prägekraft spezifischer Raumkonzepte in Politik und Medien.

Konzeptionelle Wurzeln und Entwicklung der Diskursforschung in der deutschsprachigen Humangeographie Der Beginn einer breiteren Rezeption und Verarbeitung diskursanalytischer Ansätze kann für die angloamerikanische Humangeographie etwa auf einen Zeitraum Ende der 1980er- bis Anfang der 1990er-Jahre datiert werden. Dort waren für die Rezeption der Diskursforschung v. a. drei Impulse richtungweisend: Erstens wird mit der Rezeption von Arbeiten der cultural studies, der postcolonial studies und der feminist studies der so genannte linguistic turn für die Humangeographie erschlossen. Auf der Basis von sprachphilosophischen Arbeiten sowie den Schriften des Poststrukturalismus setzt sich im Rahmen des cultural turn die Erkenntnis durch, dass Sprache nicht einfach als Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit gedacht werden kann, sondern dass in Sprache und weiteren, ähnlich funktionierenden Zeichensystemen soziale Wirklichkeit erst hergestellt wird. Damit werden zweitens – auch raumbezogene – Identitäten nicht mehr länger einfach als gegeben akzeptiert, sondern als sozial hergestellte Kategorien hinterfragt – für die Geographie nahmen dabei Debatten innerhalb der feministischen Geographie eine Vorreiterrolle ein (s. bspw. Institute of British Geographers Women and Geography Study Group 1997). Und drittens führt die Auseinandersetzung mit der Orientalismus-Debatte und den 35

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Arbeiten der postcolonial studies dazu, dass die Positionalität wissenschaftlichen Arbeitens in deutlich höherem Maße berücksichtigt wird als früher (s. bspw. Gregory 1994).4 Ab Mitte der 1990er-Jahre erfolgte die Rezeption und Übernahme entsprechender Ansätze in der deutschsprachigen Humangeographie. Hier wurden diskursanalytisch inspirierte Ansätze zunächst ebenfalls bei Forschungsfragen im Kontext der feministischen Geographie und später der Politischen Geographie aufgegriffen. Kristallisationspunkt der Entwicklungen war dabei der sich seinerzeit bildende Arbeitskreis Feministische Geographie, der das Wechselspiel von „sex“ und „gender“ und dabei insbesondere die Rolle von Raum und Orten sowie von Materialität und Körperlichkeit bei der Konstitution von Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen mithilfe von diskurstheoretisch informierten Ansätzen untersuchte (Bühler, Meyer, Reichert und Scheller 1993; Bauriedl, Fleischmann, Strüver und Wucherpfennig 2000; Kutschinske und Meier 2000; Strüver 2003, 2005a, 2007; Wucherpfennig, Strüver und Bauriedl 2003; Fleischmann und Meyer-Hanschen 2005). In den neuen Ansätzen zur Politischen Geographie, die sich etwa seit Mitte der 1990er-Jahre im deutschsprachigen Raum zu entwickeln begannen, erfolgte der theoretische Input diskursanalytischer Ansätze zunächst durch die Adaption der Schule der „Critical Geopolitics“ (Ó Tuathail 1996), die sich Anfang der 1990er-Jahre im angloamerikanischen Kontext herausgebildet hatte (Oßenbrügge und Sandner 1994; Wolkersdorfer 2001; Lossau 2002; Redepenning 2002; Reuber und Wolkersdorfer 2003). Auch wenn sich diese Forschungsperspektive mit der Verknüpfung handlungs- und diskurstheoretischer sowie ideologiekritischer Ansätze durch eine Reihe von konzeptionellen Inkompatibilitäten und Inkonsistenzen auszeichnete (vgl. die entsprechende Kritik in Redepenning 2006; Müller und Reuber 2008), wurde mit den „Critical Geopolitics“ die Wende von einer am Konzept des Realraums orientierten Forschung hin zu einer Analyse geopolitischer Repräsentationen eingeleitet und damit die konzeptionellen Grundlagen für eine gerade auch im deutschsprachigen Raum notwendige konzeptionelle Neubestimmung der Politischen Geographie gelegt. Mittlerweile ist die Diskursforschung in der Humangeographie thematisch in vielen Bereichen etabliert und hat sich gleichzeitig in ihrer 4

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Paradoxerweise wurden die im deutsch- und englischsprachigen Bereich als Poststrukturalisten bezeichneten französischen Denker wie insbesondere Foucault in der französischsprachigen Geographie lange Zeit trotz einiger sehr früher und persönlicher Kontakte (s. bspw. das Interview der Zeitschrift Hérodote mit Foucault 1976 (Hérodote 1976)) kaum rezipiert (zu den Gründen s. Fall 2005).

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theoretisch-konzeptionellen Verankerung wie methodischen Umsetzung stark ausdifferenziert. Als ein wesentlicher Diskussionsknoten fungierte dabei das von 2006 bis 2009 durch die DFG geförderte Wissenschaftsnetzwerk „Diskursforschung in der Humangeographie“ (s. Vorwort). Dieses führte eine Vielzahl an Diskursforschung interessierter Humangeograph_innen zusammen und trieb die Auseinandersetzung mit Diskurstheorien und Wegen zu deren angemessener Operationalisierung voran – der vorliegende Sammelband ist Ergebnis dieser Debatten.

Gegenwärtige Diskussion diskursanalytischer Ansätze in der Humangeographie Die gegenwärtigen Diskussionen um die Diskursanalyse in der Humangeographie beziehen sich gleichzeitig auf drei unterschiedliche Achsen des Arbeitens, wovon die Beiträge in diesem Band zeugen: Eine gesellschaftstheoretische Ebene, eine methodische Ebene und eine inhaltliche Ebene. Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene erfolgt eine Feindifferenzierung diskurstheoretischer Ansätze, wobei Humangeograph_innen Beiträge für die interdisziplinäre Diskursforschung leisten, indem sie auf die Rolle und politische Bedeutung „des Raums“ bei der diskursiven Konstitution des Sozialen aufmerksam machen (Glasze, Pütz und Rolfes 2005; Mattissek 2005, 2008; Meyer zu Schwabedissen und Miggelbrink 2005; Schreiber 2005; Strüver 2005a, b; Bauriedl 2007; Glasze 2007a, b). Auf der methodischen Ebene steht – wie auch in anderen Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften – die Operationalisierung der methodisch oft unspezifischen Konzepte der Diskurstheoretiker (insbesondere Foucaults Archäologie und Genealogie) auf der Agenda. Dies führt zu einer Feindifferenzierung der diskursanalytischen Arbeitsweisen. Die Adaption diskursanalytisch orientierter Verfahren in der deutschen Humangeographie erfolgte dabei in mehreren Schritten. • In einer ersten Phase wurde der Begriff des Diskurses aus der anglophonen Theorie-Debatte, bspw. über Autoren wie Soja (1989), Massey (1992; 1994; 1999), Ó Tuathail und Dalby (1998) sowie Hall (1999 [1989]), in die deutschsprachige Geographie hineingetragen. Diese erste Phase der Rezeption war weniger durch die Durchführung von Diskursanalysen (im Sinne einer theoretisch und methodisch klar abgegrenzten empirischen Analyse) gekennzeichnet, sondern mehr durch die (oft etwas unreflektierte) Verwendung des Begriffs „Diskurs“ für Phänomene, die überindividuelle Formen des Denkens und Handelns beschreiben. An diese erste Phase der „Ent37

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deckung“ von Diskursen für die Humangeographie schlossen eine Reihe von Weiterentwicklungen des Konzeptes auf der theoretischen wie auch methodischen Ebene an. Im konzeptionellen Bereich erfolgte in den letzten Jahren eine erhebliche Differenzierung zwischen unterschiedlichen Diskurskonzepten und deren kritische Bewertung im Kontext einzelner Fragestellungen. D. h. es wurde in stärkerem Maße als in der Einführungsphase diskutiert, auf welchen erkenntnistheoretischen Grundpositionen einzelne Diskurstheorien aufbauen, wie sich diese unterscheiden und welche methodologischen Konsequenzen sich aus den jeweiligen Theorien ergeben. Innerhalb der deutschsprachigen Humangeographie spielen dabei insbesondere Arbeiten, die sich relativ eng an Werken Foucaults orientieren, sowie die Rezeption poststrukturalistischer Diskurstheorien (Lacan 1973 [1966]; Laclau und Mouffe 1985) eine große Rolle (vgl. Mattissek 2005, 2007, 2008; Schreiber 2005; Strüver 2005a, b; Glasze 2007a, b; Füller und Marquardt 2008). Parallel zu den konzeptionellen Schärfungen und Weiterentwicklungen erwies sich zunehmend die Frage als drängend, wie sich Diskurstheorien auf der Ebene der empirischen Forschung angemessen operationalisieren lassen. Denn gerade der theoretische Fokus auf poststrukturalistische Konzepte machte es schwierig, Methoden aus der empirischen Sozialforschung zu übernehmen, die entweder von einer objektiven Realität ausgehen (wie der Kritische Rationalismus) oder auf ein nachvollziehendes „Verstehen“ von Subjekten abzielen (wie die Qualitative Sozialforschung). In der Folge wurden eine Reihe von empirischen Strategien und methodischen Verfahren erprobt, die versuchen, den konzeptionellen Prämissen diskurstheoretischer Ansätze gerecht zu werden. Diese reichen von quantitativ arbeitenden Verfahren der Korpusanalyse über die Analyse von Sprechakten, Aussagen und narrativen Mustern bis hin zu allgemeinen methodologischen Strategien, die eher darauf abzielen, spezifisch diskurstheoretische Fragen zu erarbeiten als eigenständig diskursanalytische Methoden zu entwickeln.

Neben den methodischen Differenzierungen, die auch auf unterschiedliche diskurstheoretische Perspektiven verweisen (z. B. stärker angelehnt an Foucault oder Laclau und Mouffe), werden in der geographischen Diskursforschung weitere methodische Herausforderungen diskutiert wie die Möglichkeit der Einbeziehung nicht-sprachlicher Zeichensysteme (bspw. Karten oder Bilder) und die methodischen Probleme der Analyse globaler, sprachraumübergreifender Diskurse. 38

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Diskurstheorie und Raumkonzepte Für die Humangeographie spielt die Debatte darüber, wie das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Raum bzw. die räumlichen Aspekte gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen theoretisch gefasst werden können, traditionell eine zentrale Rolle. Bezogen auf den Zusammenhang zwischen Diskurstheorie und Raumkonzepten stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welches Verständnis von Raum sich aus einer diskurstheoretischen Perspektive ableitet. Es soll also die eingangs formulierte Frage beantwortet werden, wie die Erkenntnisse des spatial turn auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze weitergeführt werden können. Um die Unterschiede zwischen den einzelnen Konzeptionalisierungen von Raum, die in der Fachtradition der Humangeographie eine wichtige Rolle spiel(t)en, sichtbar zu machen und (wenn auch didaktisch verkürzt) die eigene Positionierung im Fachkontext zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein kurzer Überblick über die in der Geographie (und vielfach auch außerhalb) prominenten Raumkonzepte und deren Unterschiede zu einem diskurstheoretischen Konzept von Raum gegeben. Aus einer diskurstheoretisch informierten Perspektive lassen sich dabei die jeweiligen Interpretationen von Raum und Räumlichkeit als Paradigmen interpretieren und damit als spezifische Diskurse, durch die spezifische Abgrenzungsprozesse gegenüber alternativen Theorien konstituiert werden und die jeweils charakteristische Muster wissenschaftlichen Vorgehens hervorbringen bzw. marginalisieren. Die Frage, welches Raumkonzept in wissenschaftlichen Arbeiten herangezogen wird, spiegelt damit auch immer die hegemonialen Machtverhältnisse in einem bestimmten historischen, disziplinären und sprachlichen Fachkontext wider.

Räume als objektiv gegeben Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert gehören Fragen nach der Gliederung der Erdoberfläche in spezifische Räume zu den zentralen Fragen, welche Forschungsobjekte bzw. Perspektiven des Faches konstituieren. Vor dem Hintergrund des in hohem Maße die wissenschaftliche Diskussion prägenden evolutionistischnaturwissenschaftlichen und realistischen Diskurses zielte die traditionelle Geographie bis in die 1960er-Jahre auf die Identifizierung und Beschreibung von Räumen, die als gegebene, wesenhafte Ganzheiten gedacht wurden. Aufgebrochen wird dieses Paradigma im Kontext der quantitativen Revolution mit der Hinwendung zu raumwissenschaftlichen Ansätzen ab den 1950er-Jahren in der englischsprachigen Geogra39

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phie und ab Ende der 1960er-Jahre in der deutschsprachigen Geographie. Die raumwissenschaftliche Geographie will Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Organisation gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen herausarbeiten. Damit werden Räume – zumindest idealtypischerweise – als wissenschaftliche Konstrukte konzeptionalisiert. Seit den 1970er-Jahren weisen vor dem Hintergrund der so genannten humanistischen Wende die Arbeiten aus der Wahrnehmungsgeographie zudem darauf hin, dass verschiedene Individuen und verschiedene Gruppen unterschiedliche Vorstellungen von räumlichen Gegebenheiten haben. Allerdings hält die Wahrnehmungsgeographie dabei an der Gegebenheit eines objektiven Raums fest, der eben nur unterschiedlich wahrgenommen würde. Und raumwissenschaftlich orientierte Arbeiten tendieren vielfach dazu, die Räume zu verdinglichen, die sie selbst auf der Basis der quantitativen Sozialforschung konstruiert haben. Sie reproduzieren damit ebenfalls vielfach die Idee gegebener Räume (Arnreiter und Weichhart 1998; Wardenga 2002, 2006).

Räume als sozial konstruiert Im Kontext der Protestbewegungen der 1960er-Jahre setzt in der englischsprachigen Geographie Ende der 1960er-Jahre eine Auseinandersetzung mit marxistischen Theorieentwürfen ein. Ein zentraler Kritikpunkt der marxistisch informierten radical geography gegenüber dem vorherrschenden raumwissenschaftlichen Paradigma ist der Vorwurf, dass dabei vermeintlich objektiv gegebene Raumstrukturen zur Erklärung von Gesellschaft herangezogen werden, welche in ihrer vermeintlichen Neutralität die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse (gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheitsbeziehungen) verschleiern und damit eine Kritik bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse verhindern (Anderson 1973). Die marxistisch informierte Geographie will diese Perspektive umdrehen und analysieren, welche Rolle Räumlichkeit innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse spielt – d. h. wie sich die Machtstrukturen von Gesellschaft in deren räumlicher Organisation niederschlagen und wie gesellschaftliche Beziehungen in räumlichen Strukturen (re-)produziert werden. Zu einem einflussreichen Bezugspunkt der Diskussion werden die Publikationen des französischen Stadtsoziologen Henri Lefebvre (für die englischsprachige Geographie dabei insbesondere 1986 [1974]), welche darauf zielen, „Raum als soziales Produkt zu verstehen, in dem […] soziale Prozesse und Strukturen konkret werden“, woraus folgt, „dass alle Raumproduktionen umkämpft sind“ (Belina und Michel 2007: 19). Mit der marxistisch informierten radical geography kann sich in der englischsprachigen Hu40

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mangeographie nach 1970 also erstmals auf breiter Front eine Perspektive durchsetzen, welche davon ausgeht, dass Strukturen bzw. Prozesse, welche von der Geographie als „räumlich“ beschrieben und analysiert wurden, immer Ausdruck und Ergebnis sozialer Strukturen bzw. Prozesse sind (Massey 1992). Während die angloamerikanische Auseinandersetzung mit der sozialen Produktion von Raum also lange Zeit durch eine dezidiert gesellschaftskritische Denkhaltung geprägt ist, ist die Auseinandersetzung mit einem objektivistischen Raumverständnis in der deutschsprachigen Humangeographie in weitaus stärkerem Maße durch die Ansätze der Handlungs- und Systemtheorie geprägt. Diese kritisieren seit Mitte der 1980er-Jahre das raumwissenschaftliche Denken in kausalen Raumgesetzen und untersuchen im Gegensatz dazu, wie Räume in alltäglichen Handlungen bzw. in der Kommunikation produziert und reproduziert werden. Für die deutschsprachige Humangeographie ist hier insbesondere der handlungstheoretische Entwurf von Benno Werlen wegweisend. Dieser zielt darauf ab zu untersuchen, wie intentional handelnde Akteure in ihren alltäglichen Handlungen Räume (re-)produzieren (Werlen 1987, 1995, 1997). Raum und räumliche Strukturen sind dabei nach Werlen sowohl Ergebnis menschlichen Handelns als auch Ausgangsbedingungen, wobei sich diese Ausgangsbedingungen nicht nur auf physischmaterielle Gegebenheiten, sondern auch auf sozial-kulturelle und subjektive Komponenten von Handlungskontexten beziehen. Klüter hingegen schließt an die Grundüberlegung der Luhman’schen Systemtheorie an, die nicht Subjekte und nicht Handlungen, sondern Kommunikation als Baustein des Sozialen fasst: Er möchte herausarbeiten, welche Funktion Raum als „Element sozialer Kommunikation“ hat (Klüter 1986, 1987, 1994, 1999). Neuere Arbeiten führen diesen Ansatz auf der Basis einer gründlichen und stringenteren Auseinandersetzung mit dem Theoriegebäude der Luhmann’schen Systemtheorie fort und sprechen von Raumsemantiken als einer bestimmten Form der Beobachtung – einer Semantik, welche die Komplexität sozialer Beziehungen reduziert (Miggelbrink und Redepenning 2004; Pott 2005; Redepenning 2006). Letztlich gehen also sowohl die Ansätze der marxistisch orientierten Geographie, der handlungstheoretisch orientierten Geographie als auch der systemtheoretisch orientierten Geographie davon aus, dass die Konstruktion von Räumen durch gesellschaftliche Praktiken und Strukturen geprägt wird. Räume werden als Ausdruck und Konsequenz gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen gedacht – als sozial konstruiert.

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Räume als diskursiv konstituiert Der Zusammenhang zwischen Räumlichkeit und sozialen Gegebenheiten wird in diskursorientierten Ansätzen insofern radikalisiert, als diese davon ausgehen, dass gesellschaftliche Strukturen oder Akteure niemals feststehen, sondern immer widersprüchlich, instabil und brüchig sind. Raum kann damit nicht als Konsequenz bestimmter sozialer Strukturen und Prozesse gedacht werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Soziales immer wieder neu konstituiert wird. Die Konstitution von Räumen ist dabei immer Teil der Konstitution von Gesellschaft. Grundlegend für diese Perspektive ist die Rezeption poststrukturalistischer Ansätze im Zuge des cultural turn, die ab Anfang der 1990er-Jahre in der englischsprachigen Geographie und ab Ende der 1990er auch in der deutschsprachigen Geographie rezipiert werden. Poststukturalistische Ansätze kritisieren sowohl die Idee feststehender gesellschaftlicher Makrostrukturen als auch die Vorstellung autonomer Subjekte. Bezogen auf das Verhältnis zwischen Räumlichkeit und Sozialem ist hierbei entscheidend, dass auf der sozialstrukturellen Ebene wie auch auf der individuellen Ebene beides eng miteinander verflochten ist. So insistiert insbesondere Massey (Massey 1999, 2005), dass Räume nicht nur als das Ergebnis einer sozialen Produktion zu verstehen sind, sondern die Konstitution von Räumen integraler Bestandteil der Konstitution des Sozialen ist: „…space is now rendered as part (a necessary part) of the generation, the production, of the new. In other words the issue here is not to stress only the production of space but space itself as integral to the production of society“ (Massey 1999: 10; Hervorh. im Orig.).5 Vor diesem Hintergrund werden seit einigen Jahren die konzeptionell-heuristischen Potenziale diskurstheoretischer Ansätze diskutiert. Ein zentrales Argument ist dabei, dass mit der Verknüpfung von sozialen Differenzierungen (wie insbesondere „eigen/fremd“) mit räumlichen Differenzierungen (wie insbesondere „hier/dort“) die sozialen Differenzierungen objektiviert und naturalisiert werden. Die Konstitution spezifischer Räume ist damit ein wichtiges Element der diskursiven Herstellung hegemonialer sozialer Ordnungen. 5

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Einflussreich für dieses Verständnis der gegenseitigen Hervorbringung von Raum/Materialität einerseits und gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits waren insbesondere Arbeiten der Genderforschung, die herausgearbeitet haben, dass die physische Materialität des Körpers und die soziale Konstitution von (Geschlechter-)Identitäten konzeptionell nicht voneinander zu trennen sind (Butler 1997, 2004). Vielmehr bedarf jede soziale Positionierung auch einer physischen Materialisierung, und durch die jeweilige Form der Materialisierung werden soziale Verhältnisse entscheidend mitgeprägt.

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Ein wichtiges Forschungsfeld stellt die Untersuchung der Konstitution von Räumlichkeit in Texten und weiteren Zeichensystemen dar (wie Bildern, Filmen, Karten, aber bspw. auch Landschaftsbildern und architektonischen Ensembles). Die Konzeption und insbesondere auch die forschungspraktische Operationalisierung der Beziehungen zwischen sprachlichen sowie visuellen symbolischen Formen und der physischmateriellen Qualität von Objekten (bspw. eines Grenzzauns oder eines Schneesturms) ist Thema lebhafter Debatten. An Foucault angelehnte Arbeiten differenzieren teilweise zwischen „Diskurs“ (sprachlichsymbolische Ebene) und „Dispositiv“ (Bedeutungsproduktion innerhalb eines umfassenderen Sets an Praktiken, Institutionen, Materialitäten, Texten). Arbeiten, die eher an den diskurstheoretischen Schriften von Laclau und Mouffe orientiert sind, trennen nicht zwischen einer diskursiven und einer außerdiskursiven Sphäre. Vielmehr werden alle Objekte, alle sozialen Phänomene als Objekte eines Diskurses gefasst (vgl. Kap. 6). Insgesamt lässt sich also für ein diskurstheoretisches Verständnis von Raum festhalten, dass erstens das Soziale (bspw. die Identität von Subjekten, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse) als diskursiv hervorgebracht konzeptionalisiert wird, d. h. als immer nur temporär fixiert, als von Widersprüchen durchzogen und sich in den jeweiligen materiellen und räumlichen Erscheinungsformen permanent wandelnd, und dass dabei zweitens die Konstitution von Räumen als ein wichtiger Teil der Konstitution des Sozialen gedacht wird.

Z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n R e l e va n z der Diskursforschung Diskurstheoretisch orientierten Ansätzen wird verschiedentlich vorgeworfen, gesellschaftlich bzw. politisch irrelevant zu sein. Tatsächlich lassen sich Ansätze, welche die Idee einer absoluten Wahrheit, die durch die Wissenschaft aufgedeckt werden könne, als Illusion beurteilen, kaum in ein traditionelles Verständnis der Aufgaben von Wissenschaft integrieren. Wenn diskurstheoretische Ansätze aber weder davon ausgehen, der Gesellschaft (vermeintlich) wahre und richtige Erkenntnisse liefern zu können (wie das bspw. die quantitativ-analytischen Ansätze der spatial science anstreben), noch davon, von einer feststehenden Position aus Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen leisten zu können (wie das die marxistisch orientierte radical geography anstrebt), welche Funktion und Legitimation hat dann eine solche Wissenschaft? Auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze kann soziale Wirklichkeit als kontingent, d. h. prinzipiell veränderbar, konzeptionalisiert wer43

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den. Damit können scheinbar gegebene und als „normal“ akzeptierte Strukturierungsprinzipien der Gesellschaft problematisiert und Handlungsspielräume in scheinbar eindeutigen Situationen aufgezeigt werden. In vielen Fällen beschränkt sich der Anspruch diskurstheoretischer Arbeiten also nicht darauf, gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen und Machtverhältnisse aufzudecken. Vielmehr sollen damit auch die Veränderbarkeit bestimmter Verhältnisse gezeigt werden und damit entscheidende Grundlagen für deren Veränderung geliefert werden. Dies gilt bspw. für Arbeiten der Geschlechterforschung und des Postkolonialismus. Diese haben dazu beigetragen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass soziale Kategorien wie „Geschlecht“ oder „Ethnizität“ und „Nationalität“ nicht objektiv gegeben sind, sondern in performativen Praktiken der Identifikation und Abgrenzung immer wieder aufs Neue konstituiert werden. Diese Ansätze eröffnen damit eine Chance für Veränderungen, indem neue Verhaltensmuster und Identitätskonstruktionen etabliert und durchgesetzt werden können. In einem ähnlichen Sinne zielen auch Arbeiten, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wie der verstärkten Betonung von Sicherheitsaspekten oder der Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche befassen, darauf ab, soziale Verhältnisse in ihrer Konstruiertheit und damit auch in ihrer prinzipiellen Veränderlichkeit (Kontingenz) offen zu legen und damit Grundlagen für deren mögliche Veränderung zu schaffen. So formuliert der Diskurstheoretiker Foucault im Interview: „My role – and that is too emphatic a word – is to show people that they are much freer than they feel, that people accept as truth, as evidence, some themes which have been built up at a certain moment during history, and that this so-called evidence can be criticized and destroyed.“ (Foucault und Martin 1988 [1982])

Die Diskurstheorie bietet zudem eine Grundlage für die Neukonzeption politischer Auseinandersetzungen. Geht man im Sinne diskurstheoretischer Ansätze davon aus, dass Identitäten niemals gegeben und niemals endgültig sind, dann verändert sich in politischen Auseinandersetzungen der Blick auf den Widersacher. Dieser ist dann nicht ein wesenhaft radikal anderer „Feind“, sondern ein legitimer Gegner in einer offenen Auseinandersetzung (Laclau und Mouffe 1985; Laclau 1996). Der Anspruch der Diskursforschung, Kategorien und „Wahrheiten“ zu hinterfragen, die ansonsten oft als gegeben akzeptiert werden, hat auch Konsequenzen für die Positionierung des oder der Forschenden. Denn bereits die Fragen danach, was als gesellschaftliches Problem oder interessantes Thema wahrgenommen wird und warum ein bestimmtes 44

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Thema „sinnvoller- und notwendigerweise“ wissenschaftlich bearbeitet werden soll, sind kontingent und nur aus der Positionierung innerhalb spezifischer diskursiver Kontexte zu verstehen. Dasselbe gilt für die Wahl der theoretischen Perspektive sowie deren empirische Operationalisierung. In diesem Sinne spiegelt auch die in diesem Sammelband vorliegende Auswahl von theoretischen und methodischen Zugängen und die empirischen Beispiele, an denen diese verdeutlich werden, eine spezifische Ausrichtung und Positionierung der Autor_innen innerhalb ihres wissenschaftlichen (diskursiven) Kontextes. Die überwiegende Mehrzahl der hier versammelten Beiträge eint das Anliegen, theoretische Perspektiven und methodische Verfahren, die den Zusammenhang zwischen Wissen, Wahrheit, Machtstrukturen und Alltagspraktiken thematisieren, für die Formulierung und Bearbeitung humangeographischer Forschungsprojekte in Wert zu setzen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt dabei auf der Auslotung der Potenziale und Grenzen strukturalistischer und poststrukturalistischer Konzepte – er hebt sich damit dezidiert von stärker subjektbezogenen Arbeiten ab.

Au f b a u d e s H a n d b u c h s Der erste Teil des Buchs (A) stellt diskurstheoretische Ansätze vor und diskutiert ihre spezifischen Erkenntnispotenziale für die Humangeographie und weitere raumorientierte Kultur- und Sozialwissenschaften. Einen Schwerpunkt der Ausführungen bildet daher vielfach die Frage, welche Möglichkeiten diskurstheoretische Ansätze für die Konzeptionalisierung unterschiedlicher Dimensionen von Räumlichkeit eröffnen. Den Ideen und zentralen Begriffen eines, wenn nicht des Vordenkers diskurstheoretischer Arbeiten ist Kapitel (2) zu den Grundlagen Foucault’scher Diskurstheorie gewidmet. Anke Strüver diskutiert die zentralen Konzepte „Wissen“, „Wahrheit“, „Macht“ und „Subjektivierung“ und verdeutlicht, dass nach Foucault Räume und ihre (veränderbaren) Bedeutungen als Teil und Medium gesellschaftlicher Prozesse und Machtverhältnisse gelesen werden können. In seinen späten Schriften hat sich Foucault intensiv mit den Wechselwirkungen zwischen Formen der Fremd- und der Selbststeuerung von Individuen auseinander gesetzt und mit dem Konzept der Gouvernementalität eine Neukonzeption von Wesen und Wirkungsweisen von Regierung und Macht vorgelegt. Henning Füller und Nadine Marquardt zeigen in Kapitel (3), welche Chancen diese Neukonzeption für Fragestellungen an der Schnittstelle von Gesellschaft, Macht und Raum eröffnet. Unter dem Schlagwort der Performativität wird diskutiert, dass Diskurse nicht einfach auf abstrakte sprachliche Zeichen reduziert werden 45

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können, sondern dass soziale Bedeutungen von (Sprech-)Handlungen immer erst in Aktualisierungen in bestimmten sozialen Kontexten entstehen. Anke Strüver und Claudia Wucherpfennig legen diese Diskussion in Kapitel (4) anhand des Konzepts der (Geschlechts-)Identität als kultureller Performanz von Judith Butler dar und diskutieren die damit verknüpften Forderungen nach einer „Re-Materialisierung“ diskurstheoretischer Ansätze. Eine dezidiert gesellschaftskritisch argumentierende Position innerhalb der Diskursforschung stellen Bernd Belina und Iris Dzudzek in Kapitel (5) vor. Im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit Arbeiten der Ideologiekritik und der Kritischen Diskursanalyse diskutieren sie, inwiefern aus diskurstheoretischer Perspektive bestehende Gesellschaftsund Herrschaftsverhältnisse konzeptionalisiert und kritisiert werden können und inwieweit Diskursanalyse somit zur Gesellschaftsanalyse wird. An die Idee der Kritik aktueller gesellschaftlicher Strukturen und Machtbeziehungen schließt auch das darauf folgende Kapitel (6) von Georg Glasze und Annika Mattissek an, das die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe vorstellt. Diese Theorie verortet sich konsequent in poststrukturalistischen Ansätzen und hat das Ziel, die Kontingenz gesellschaftlicher Macht- und damit auch Raumverhältnisse und deren prinzipielle Veränderlichkeit aufzuzeigen, um so im metaphorischen wie im engeren Sinne Räume für gesellschaftliche Veränderungen zu eröffnen. Die Bedeutung von Bildern für die Konstitution sozialer Wirklichkeiten wird spätestens seit den in Anlehnung an den linguistic turn in den 1990er-Jahren ausgerufenen visual, iconic bzw. pictorial turn(-s) diskutiert. Gerade auch für die Geographie mit ihrer langen Geschichte der Herstellung von und Auseinandersetzung mit Weltbildern erscheint eine diskurstheoretisch orientierte Beschäftigung mit dem Visuellen daher fruchtbar und notwendig. Vor diesem Hintergrund legt das von Judith Miggelbrink und Antje Schlottmann verfasste Kapitel (7) einige Grundlagen für eine diskurstheoretisch orientierte Analyse von Bildern. Ausgehend von der These, dass Bilder (ähnlich wie Texte) gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern konstitutiv an deren Herstellung beteiligt sind, gehen die Autorinnen der Frage nach, welche spezifischen Anforderungen der Einbezug visuellen Materials in empirische Diskursanalysen an Theorien und Methoden stellt. Liegen die Schwerpunkte des ersten Teils des Buchs also in erster Linie darauf, die Grundideen und Konzepte wichtiger Strömungen der Diskurstheorie und deren Implikationen für raumbezogene Fragestellungen zu erläutern, widmet sich der zweite Teil (B) dezidiert der Konzep46

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tionalisierung von Diskurs und Raum. Auf der Basis von Arbeiten diskurstheoretischer Vordenker wie Michel Foucault und Ernesto Laclau werden die Möglichkeiten einer diskurstheoretischen Konzeptionalisierung von Raum in den Sozial- und Kulturwissenschaften diskutiert. Daneben werden potenzielle Impulse der raumtheoretischen Debatte in der Humangeographie für eine Neukonzeption von Räumlichkeit innerhalb der interdisziplinären Diskursforschung aufgezeigt. In Kapitel (8) diskutiert Verena Schreiber unterschiedliche Angebote der Schriften Michel Foucaults für die Bearbeitung raumbezogener Fragestellungen in den Sozialwissenschaften. Als „Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit“ bezeichnet sie hierbei das Interesse Foucaults für die Steuerung von Gesellschaft mittels der Territorialisierung und Zonierung menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Teilhabe. Noch grundsätzlicher ist hingegen ihre zweite Kategorie, die „Topologie“, angelegt. Diese rekurriert auf Raum als Strukturdarstellung von unterschiedlichen Ordnungen der Ein- und Ausschließung und der unterschiedlichen Lagebeziehungen von Aussagen. Ähnlich dem topologischen Denken bei Foucault, widmet sich Ernesto Laclau der Relation zwischen sprachlichen bzw. allgemein symbolischen und materiellen Elementen und fasst dieses mit dem Diskursbegriff im Sinne der Artikulation. Als „Raum“ bezeichnet er dabei eine fixierte und unveränderliche Struktur. Da eine solche fixierte und unveränderliche Struktur aber letztlich unmöglich ist, werden immer wieder neue Räume als Versuche von Fixierung konstituiert. In diesem Sinne wird in dem von Georg Glasze verfassten Kapitel (9) ein politisches Konzept von Raum skizziert, das Räume als kontingent, als in Entscheidungen konstituiert und in diesem Sinne als politisch fasst. In Kapitel (10) kehrt Sybille Bauriedl die Argumentationsweise der beiden vorherigen Kapitel um und zeigt, welche konzeptionellen Impulse die raumtheoretische Diskussion in der Geographie für die interdisziplinäre Diskursforschung bietet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Rezeption poststrukturalistischer und speziell auch diskurstheoretischer Theorieangebote wurden seit den 1980er-Jahren in der Geographie Konzeptionalisierungen von Räumlichkeit entwickelt, die Raum als relationale, machtdurchzogene und prozesshafte Dimension sozialer Interaktionen fassen. Diese Konzeptionalisierungen sind in hohem Maße anschlussfähig an viele Arbeiten der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung und bieten die Chance, das auch in der Diskursforschung verbreitete Verständnis von Raum als gegebenem Container sozialer Interaktion aufzubrechen. Der letzte Teil des Buchs (C) ist der Frage gewidmet, wie die skizzierten theoretischen Ansätze angemessen in empirischen Arbeiten um47

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gesetzt werden können, und stellt anhand humangeographischer Forschungsprojekte geeignete und erprobte Methoden vor. Das erste Methodenkapitel (11) setzt auf der Ebene textübergreifender Strukturen an. Iris Dzudzek, Georg Glasze, Annika Mattissek und Henning Schirmel zeigen, wie mithilfe quantitativ arbeitender lexikometrisch-korpuslinguistischer Verfahren große Textkorpora auf ihre Gemeinsamkeiten und auf die ihnen inhärenten Regeln der Verknüpfung von Wörtern untersucht werden können. Lexikometrische Verfahren bieten die Chance, induktiv diskursive Strukturen und deren Veränderungen bspw. im Zeitverlauf herauszuarbeiten, die „von Hand“, d. h. durch interpretierendes Lesen der Forschenden, nicht erfassbar wären. In Ergänzung zu einer solchen Makroperspektive, die große Textmengen in den Analysefokus nimmt, setzen die drei darauf folgenden Beiträge auf der Ebene einzelner Texte bzw. Textsegmente an. Anhand von Konzepten der Argumentationsanalyse zeigt Tilo Felgenhauer in Kapitel (12), wie die impliziten Annahmen und Schlussregeln, die sprachlichem Argumentieren zugrunde liegen, als Ausdruck diskursiver Strukturen interpretiert und analysiert werden können. Annika Mattissek geht in Kapitel (13) der Frage nach, inwiefern Verfahren der Aussagenanalyse eingesetzt werden können, um Verbindungen zwischen Text und Kontext zu untersuchen und um die Präsenz von Brüchen, Widersprüchen und Konflikten im Diskurs herauszuarbeiten. Ob und ggf. wie kodierende Verfahren in diskursanalytische Arbeiten integriert werden können, diskutieren Georg Glasze, Shadia Husseini und Jörg Mose in Kapitel (14). Dabei prüfen sie insbesondere, welche Anforderungen eine diskurstheoretische Perspektive an die Formulierung der Analysekategorien für die Kodierung stellt. Auf der Basis von Arbeiten der so genannten „Kritischen Kartographie“ stellen Jörg Mose und Anke Strüver in Kapitel (15) Ansätze für eine diskurstheoretisch orientierte Untersuchung von Karten vor. Noch weniger als die Autoren vorheriger Kapitel können sie dabei auf ein etabliertes Set von Methoden zurückgreifen, denn die diskurstheoretisch orientierte Untersuchung nicht-textlicher Materialien steckt in weiten Teilen noch in den Kinderschuhen.6 6

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Es kann dabei nicht einfach an die etablierten, vielfach hermeneutisch ausgerichteten Verfahren der Bildanalyse angeknüpft werden. Ziel ist ja nicht ein vermeintliches „Verstehen“ dessen, was Bilder repräsentieren, sondern eine Analyse, wie in Bildern Bedeutung und damit soziale Wirklichkeit konstituiert wird. Eine unmittelbare Übertragung der Methoden einer sprachbasierten Diskursanalyse ist indes auch nicht möglich. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass für nicht-textliches Material nicht unmittelbar mit Konzepten wie „Lexik“ oder „Syntax“ gearbeitet werden kann.

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Gerade der letzte Beitrag macht damit auch deutlich, dass das Handbuch weder als Überblick über ein fest gefügtes Theoriegebäude noch als Einführung in ein vollständiges und vielfach erprobtes Set an Methoden zu verstehen ist, sondern als ein Versuch, ein vorläufiges Zwischenfazit humangeographischer Diskursforschung zu ziehen. Neue Diskussionen in der geographischen Diskursforschung wie bspw. über eine konzeptionelle und methodische Auseinandersetzung mit Visualität und Materialität, über Fragen nach der Konzeptionalisierung von Affekt und Emotionalität oder dem Verhältnis von sedimentierten sozialen Strukturen und diskursivem Wandel zeigen, dass die humangeographische Diskursforschung ein lebendiges und sich dynamisch entwickelndes Forschungsfeld ist, das eng mit der interdisziplinären Diskursforschung in den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften vernetzt ist. Vor diesem Hintergrund bieten die folgenden Beiträge allen Interessierten eine Einführung in den Stand konzeptioneller und methodischer Debatten der humangeographischen Diskursforschung.

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Grundla ge n und ze ntrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie ANKE STRÜVER Warum gehen einige Menschen besonders gerne oder sogar ausschließlich und auch unabhängig von der Tages- und Arbeitszeit in der Dunkelheit joggen und warum würden andere Menschen das wiederum niemals tun? Wie werden menschliche Körper über Elemente der gebauten Umwelt arrangiert und (de-)platziert und welche Machtbeziehungen werden darin abgebildet bzw. dadurch hergestellt? Wie schlagen sich gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen (d. h. spezifische Formen von „Wissen“) in räumlichen Alltagspraktiken und der Eigen- und Fremdwahrnehmung von verkörperten Subjekten nieder? Diese und ähnliche Fragen verweisen auf Michel Foucaults Aussage, dass die „Kontrolle der Gesellschaft im Körper und mit dem Körper vollzogen“ (2003 [1994]: 275) wird, und stellt zugleich unter Einbeziehung der Dimension des Räumlichen als unhinter- bzw. be-„gehbarem“ Teil der Gesellschaft die rahmende Frage dieses Kapitels dar. Michel Foucaults Werke durchziehen seit mehr als zwei Jahrzehnten in unübersehbarer Weise – und auch in unüberschaubarem Maße – die Sozial- und Kulturwissenschaften und sind, zeitlich leicht verzögert, dafür inhaltlich aber umso nachdrücklicher, spätestens mit der Jahrtausendwende auch in der deutschsprachigen Humangeographie angekommen. Der Fokus lag dabei anfänglich auf machtanalytischen Fragestellungen im Kontext der Konzeptionalisierung von Raum als sozialer Konstruktion. Er erweiterte sich dann aber schnell und mit explizit poststrukturalistischer Ausrichtung um das weite Forschungsfeld des konstitutiven Wechselverhältnisses von „Raum und Identität“ und den damit verbundenen räumlichen wie sozialen Grenzziehungen, einschließlich

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ANKE STRÜVER

der diskursiv-gesellschaftlichen Prozesse von Fremd- und Selbstwahrnehmung auf unterschiedlichsten Maßstabsebenen. Ganz allgemein hat die Foucault’sche Diskurstheorie zunächst die gesellschaftliche Konstruktion und Regulation von Bedeutungszuweisungen, die damit verknüpften Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüche sowie die ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse zum Gegenstand. Für die Humangeographie rückt indessen insbesondere das Zusammenspiel von Macht, Raum und Gesellschaft ins Blickfeld, da die gesellschaftliche und damit machtgeladene Konstruktion von Räumen wichtiger Bestandteil des Sozialen ist und die Bedeutungskonstitution von Räumen unhintergehbar mit der von sozialer Wirklichkeit verstrickt ist. Bei den theoretischen Grundlagen von Foucault handelt es sich um die im einleitenden Kapitel beschriebene Entstehung und Weiterentwicklung des klassischen Strukturalismus sowie um die Kritik am Strukturalismus durch den Poststrukturalismus. Im Anschluss daran ist es auch bei Foucault zunächst die Sprache, die er im weitesten Sinne als gesellschaftliches Organisationsprinzip versteht, durch das soziale Realitäten in historisch spezifischen Diskursen produziert werden. Zu diesen Diskursen gehören die Normen und Werte, aber auch die Machtverhältnisse einer Gesellschaft sowie die sie konstituierenden Praktiken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Foucault in seinen Arbeiten den Auswirkungen des Diskurses auf die Machtverhältnisse und auf dessen Rolle bei den gesellschaftlichen Prozessen und Formen der Subjektivierung. Im Fokus steht die kritische Untersuchung von institutionellen Wissen(schaft)sdiskursen und sozialen Machtverhältnissen sowie deren Bedeutungen bei der Subjektkonstitution – und in seinen Werken hat Foucault historische Diskursformen untersucht, die zur Ausprägung des modernen Subjekts geführt haben. Foucault hat seine Arbeiten in einem Zeitraum von mehr als dreißig Jahren veröffentlicht. Dabei blieb es nicht aus, dass sich seine Zugänge und Ansichten bestimmter Aspekte verändert haben. Autor_innen, die sich mit seinem Gesamtwerk befassen, unterscheiden sich u. a. dadurch, ob sie es als ein einheitliches, unsystematisches oder als ein in Phasen unterteiltes Werk verstehen (vgl. vor allem Dreyfus und Rabinow 1987 [1982]; Deleuze 1992 [1986]; Fink-Eitel 1997; Sarasin 2005; Ruoff 2007; Keller 2008). Foucault selbst beschreibt sein Werk als eine Reihe von „theoretischen Verschiebungen“ (Foucault 1986a [1984]: 12f.) bzw. – und mit nahezu selbstironischem Rekurs auf die Vielzahl seiner Arbeiten – als „Verwandlungen“ (Foucault 2005 [1994]: 654). Diese Verschiebungen werden nachfolgend allerdings stärker im Hinblick auf die Genealogie („Theorie der Machtpraktiken“) als auf die der Archäologie („Theorie der Diskurse und Wissensformen“) berücksichtigt, um 62

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schließlich seine Überlegungen zum Subjekt zusammenzufassen. D. h. in der Hinführung zu Letzterem werden hier die Machtpraktiken – und damit die hegemonialen Bedingungen sozialer Praktiken, die den Diskurs und seine Machtverhältnisse bestimmen – prominenter betrachtet als die Frage, wie sich die Regeln der Diskurse und die sie ordnenden Formen und Strukturen des Wissens vollziehen. Folgt man Foucaults eigenen Ausführungen zur Systematisierung seines Werks in „Der Gebrauch der Lüste“, so ist es entlang der drei Achsen von Wissen–Macht–Subjekt bzw. von „Wissensformen“, „Machtsystemen“ und „Selbstpraktiken“ (1986a [1984]: 10ff.) strukturiert. Diese Achsen wiederum lassen sich (vordergründig) auch chronologisch verorten, nämlich mit den Untersuchungen zu Wissens- und Diskurssystemen in den frühen Werken wie „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) und „Die Ordnung der Dinge“ (1971 [1966]), zur Disziplinar- und Biomacht insbesondere in „Überwachen und Strafen“ (1976 [1975]) und „Der Wille zum Wissen“ (1977 [1976]) sowie zum Subjekt bzw. zu Selbstverhältnissen und -praktiken in den späten Werken wie „Freiheit und Selbstsorge“ (1985), „Der Gebrauch der Lüste“ (1986a [1984]), „Die Sorge um sich“ (1986b [1984]) oder auch die Geschichte der Gouvernementalität (2004 [1978], 2004 [1979]) und Hermeneutik des Subjekts“ (2004 [2001]). Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den drei Achsen ist diese Chronologie allerdings nur bedingt hilfreich, da die Beziehungen zwischen Wissens- und Machtsystemen sowie deren Einflüsse auf die Subjektkonstitution all seine Werke und Vorlesungen durchziehen, dabei jedoch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgen sowie den oben bereits erwähnten theoretischen Verschiebungen unterliegen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die der Maßstäblichkeit, da sich bspw. hinsichtlich der Subjektkonzeptionen der „frühe Foucault“ eher mit mikrosozialen Fragen wie der „Mikrophysik der Macht“ in „Überwachen und Strafen“ (1976 [1975]: 38) beschäftigte, wohingegen sich der „mittlere“ mit dem Konzept der Biopolitik bereits explizit der Gesellschaftsanalyse zuwandte (vgl. Foucault 1977 [1976], 1978) und sich der „späte Foucault“ insbesondere mit dem Konzept der Gouvernementalität auf makrogesellschaftliche Formen der „Regierungskunst“ stützte (vgl. Foucault 2004 [1978], 2004 [1979]; sowie Kap. 3 in diesem Band). Die Struktur dieses Beitrags folgt jedoch der bereits angedeuteten Foucault’schen Systematisierung entlang der drei Achsen von Wissen, Macht und Subjekt, die an- und abschließend um den Raum als Produkt und Produzent dieser Achsen erweitert wird.

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Wissen: Wissen macht Macht Ein grundlegendes Anliegen von Foucault war es, die Beziehung zwischen Macht und Wissen als dem Wissen zugrundeliegend zu betrachten und daher die Macht als Ausgangspunkt zur Untersuchung des Wissens zu nehmen. Denn der Wille zum Wissen ist ein Wille zur Macht – und Wissen(-schaft) dient der Durchsetzung, Erhaltung oder Auflösung von Herrschaftsverhältnissen (vgl. Foucault 1977 [1976], 1978). Im Unterschied zur herkömmlichen Definition „wissenschaftlichen Wissens“, nämlich der „wahren Erkenntnis objektiver Gegebenheiten“, hat sich Foucault in der Hinterfragung universeller Objektivität und Wahrheit primär auf die Konstitutions- und Ordnungsprozesse von Wissen konzentriert sowie auf die Frage, wie dominante Vorstellungen von der Welt durch Diskurse ermöglicht und strukturiert werden: „Es handelt sich eher um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalität sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen.“ (Foucault 1971 [1966]: 24)

Insbesondere in seinen Werken „Archäologie des Wissens“ (1973 [1969]) und „Die Ordnung des Diskurses“ (1991 [1971]) hat Foucault grundlegende Überlegungen zur Theorie der Diskurse formuliert. Er unterscheidet dabei zwei Wissensebenen, zum einen die zentralen „Codes einer Kultur“, die die Alltagssprache und -praktiken beeinflussen, und zum anderen das wissenschaftliche Denken; und die dazwischen vermittelnde Ebene von Ordnungsstrukturen wird bei Foucault durch das Konzept der Diskurse besetzt (vgl. Foucault 1971 [1966]: 22f., 1973 [1969]: 41ff.). Hier zeigt sich, dass Foucault Diskurse nicht nur im engeren, unmittelbar sprachlichen Sinne behandelt, sondern als Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben“ (Foucault 1973 [1969]: 74, Hervorh. im Orig.). Foucaults Vorstellung von Diskursen lässt sich paraphrasieren als institutionalisierte und geregelte Redeweisen. Er fokussiert somit die Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache und deren Bedeutungen 64

GRUNDLAGEN UND ZENTRALE BEGRIFFE DER FOUCAULT’SCHEN DISKURSTHEORIE

sowie die gesellschaftlich ausdifferenzierten Formen der Wissensproduktion. „Ein Wissen ist das, wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann, […] der durch die verschiedenen Gegenstände, die ein wissenschaftliches Statut erhalten werden oder nicht, konstituierte Bereich […], ein Wissen ist auch der Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat […], ein Wissen ist auch das Feld von Koordination und Subordination der Aussagen, wo die Begriffe erscheinen, bestimmt, angewandt und verändert werden […]; schließlich definiert sich ein Wissen durch die Möglichkeiten der Benutzung und der Aneignung, die vom Diskurs geboten werden […] [aber] es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.“ (Foucault 1973 [1969]: 259f.)

In diesem Verständnis erscheint der Diskurs zunächst als vermeintlich omnipotentes Strukturprinzip der Gesellschaft. Allerdings ist damit weder Willkür noch Beliebigkeit gemeint. Vielmehr geht es Foucault um die spezifische Verknüpfung diskursiver Formationen und die durch sie angeleiteten (Kontroll-)Praktiken, den „Dispositiven der Macht“.1 Diskurse entstehen in je spezifischen historischen und kulturellen Kontexten und werden durch diskursive Praktiken (lesen, sprechen, schreiben, wahrnehmen, darstellen usw.) manifestiert, erhalten und transformiert. Über die diskursiven Praktiken werden zudem „objektives Wissen“, universalisierte Bedeutungen von Wahrheit, Normalität und Moral sowie Subjekte konstituiert. Eine diskursive Praxis ist daher die „Gesamtheit von anonymen historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben“ (Foucault 1973 [1969]: 171, Hervorh. AS).

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Foucault führt den Begriff des „Dispositivs“ zur Kennzeichnung der machtstrategischen Verknüpfungen von Diskursen, Praktiken, Wissen und Macht ein. „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (Foucault 1978: 119f.). 65

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Diese „Wirkungsbedingungen von Aussagen“ verweisen wiederum direkt auf die hegemonialen Bedingungen bzw. gesellschaftlichen Kontexte, die die Wirkmächtigkeiten von Diskursen strukturieren. „Diskurse können gewissermaßen als ‚Substrat‘ gesellschaftlicher Prozesse, als in sich heterogene Produktions- und Konstitutionsbedingungen einer – gesellschaftlichen – Wirklichkeit gelten, von der angenommen wird, dass sie auf der Verselbständigung konstruktiver Prozesse und subjektloser Operationen sowie ihrer Performanz beruht und dass sie sich in materiellen Anordnungen, Technologien und Praktiken manifestiert.“ (Bublitz 2003: 9)

Diskurse sind in diesem Verständnis raumzeit-spezifische Möglichkeitsbedingungen bzw. „kulturelle Rahmungen“ (Frank 1984; Bublitz 2003), die das Denken und Handeln von – aber auch die Subjekte selbst – als individualisierte Personen innerhalb gesellschaftlich manifestierter Macht-Wissens-Komplexe konstituieren. Damit verschiebt sich nun der Fokus zunächst auf „die andere Seite derselben Medaille“, nämlich vom Wissen zur Macht, und konzentriert sich anschließend auf die Ebene des verkörperten Subjekts.

Macht: Macht als Machbarkeit Foucaults diskurstheoretische Konzeptualisierung von Macht als komplexes, mehrdimensionales Verhältnis geht über die klassische Unterdrückungs- und Repressionshypothese hinaus. Macht wird sowohl als repressiv und destruktiv als auch als produktiv aufgefasst und schließt die Möglichkeit des Widerstands mit ein. Daher gibt es für ihn kein außerhalb der Machverhältnisse und keine einfache Zweiteilung in Opfer und Täter_innen. Foucaults Vorstellung moderner Macht ist mit einer Kritik an statischen und etatistisch verengten Konzepten von Macht, Gewalt und Herrschaft verbunden. In seinen Arbeiten zum modernen Staat befasst er sich zwar mit dessen Disziplinartechnologien gegenüber der Bevölkerung2, doch beinhalten die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Strukturen auch Handlungsmöglichkeiten für die Menschen. Macht ist für ihn 2

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Foucaults verschiedene Zugänge zur Machtthematik lassen sich unterscheiden in die Disziplinarmacht bzw. „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976) einerseits, deren Hauptziel die Disziplinierung und Normalisierung der menschlichen Körper darstellt. Die Biomacht (Foucault 1977) andererseits beschreibt die Politik der auf die Bevölkerung gerichteten staatlichen Machtstrategien der Disziplinarmacht (s. u.). Beide Zugänge wurden später durch die gouvernementale „Kunst des Regierens“ erweitert (Foucault 2004a, b; s. auch Kap. 3 in diesem Band).

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allgegenwärtig, zirkulierend und polymorph, sie ist nicht per se repressiv strukturiert, sondern beinhaltet auch strategisch-produktive Aspekte. Es geht Foucault nicht um die Entwicklung einer Theorie der Macht, sondern um die Bestimmung der Instrumente zu ihrer Analyse, d. h. um die auf die Machtverhältnisse konzentrierte Frage: „wie wird sie ausgeübt?“ (Foucault 1987 [1983]: 251). Macht ist für ihn der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. Sie ist keine feste Institution, keine Struktur, keine Mächtigkeit einiger Mächtiger: „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault 1977 [1976]: 115). In „Der Wille zum Wissen“ definiert Foucault Macht folgendermaßen (ebd.: 113f.): „Unter Macht verstehe ich hier nicht die Regierungsmacht als Gesamtheit der Institutionen und Apparate, die die bürgerliche Ordnung in einem gegebenen Staat garantieren. Ebenso wenig verstehe ich darunter eine Unterwerfungsart, die im Gegensatz zur Gewalt in Form der Regel auftritt. Und schließlich meine ich nicht ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die andere aufrechterhalten wird und das in sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt. [...] Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.“

In diesem Verständnis ist Macht auch im politischen Sinne nicht nur unidirektionale Repression in Form von Unterdrückung oder Ausschließung. Sie hat nicht nur negative Auswirkungen, sondern auch positive und produktive Aspekte wie z. B. den der sozialen Integration oder des Widerstandes (s. u.). Machtbeziehungen verhalten sich darüber hinaus nicht als etwas Äußeres zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen (Politik, Ökonomie, Sexualität...). Sie sind immanent in allen Formen und Skalierungen von Beziehungen und durchlaufen die gesamte Gesellschaft in vielfältigen Kräfteverhältnissen. Aus diesem Grund erscheint es auch wenig sinnvoll, eine eindimensionale, polarisierende Gegenüberstellung von Herrschenden und Beherrschten zu betrachten. Foucault versucht statt67

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dessen, Macht als ein Verhältnis zu denken, in dem es keine einfache Zweiteilung in Macht/Ohnmacht, Subjekt/Objekt, Täter_in/Opfer, oben/ unten gibt. An deren Stelle tritt ein vielfältig verzweigtes Geflecht von Machtverhältnissen, in denen sich die Subjekte einer Gesellschaft befinden und die immer wieder neu verhandelt werden. Machtverhältnisse sind so tief im gesellschaftlichen Nexus verwurzelt, dass sie nicht als eine Struktur über oder außerhalb der Gesellschaft existieren. Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse kann daher nur als Abstraktion gedacht werden. D. h. aber auch, dass es kein erstes und grundlegendes Machtprinzip gibt, dessen Autorität bis ins winzigste Element der Gesellschaft reicht, sondern dass es verschiedene Formen von Macht und Machtverhältnissen gibt (vgl. Foucault 1987 [1983]). Um zu verstehen, worum es bei den Machtverhältnissen geht, müssen schließlich die Widerstandsformen, die Versuche zur Veränderung dieser Verhältnisse sowie die möglichen Formen von Freiheit untersucht werden. „In diesem Spiel [von Freiheit und Macht] erscheint die Freiheit sehr wohl als Existenzbedingung von Macht“ (Foucault 1987 [1983]: 256). Denn: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch, oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“ (Foucault 1977 [1976]: 116). Macht ist in diesem Sinne einerseits zunächst den Subjekten scheinbar vorgängig – bzw. Subjekte sind als Produkte der Machtverhältnisse zu begreifen (s. u.). Andererseits setzt Machtausübung das Vorhandensein unterschiedlicher Subjekte und unterschiedlicher Handlungsformen voraus, da sie „auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat“ (Foucault 1987 [1983]: 255) operiert und auf ein „ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen“ verweist (1987 [1983]: 254, Hervorh. AS; s. auch Bröckling 2007: 20ff.). Durch einen Rückgriff auf Foucaults Verständnis von Diskurs als Organisationsprinzip der Gesellschaft wird deutlich, dass sein diskurstheoretischer Ansatz prinzipiell die Möglichkeit des Widerstands beinhaltet: Da es verschiedene gesellschaftliche Interessen und Kontexte gibt, gibt es auch unterschiedliche, mehr oder weniger dominante Diskurse. Aus dem Wechselspiel von Ermächtigung und Begrenzung durch Diskurse erwächst zum einen die Dynamik von Diskursen, zum anderen liegen an den Bruchstellen zwischen den Diskursen Ansatzpunkte zum Widerstand. Vor diesem Hintergrund betont Foucault den strikt relationalen Charakter von Machtverhältnissen, die nur Kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren können.

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GRUNDLAGEN UND ZENTRALE BEGRIFFE DER FOUCAULT’SCHEN DISKURSTHEORIE

„Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellion, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im Feld der strategischen Machtbeziehungen existieren können.“ (Foucault 1977 [1976]: 117)

Hinrich Fink-Eitel fasst Foucaults Grundbegriff der Macht folgendermaßen zusammen: „Macht ist nicht, wofür sie bislang immer gehalten wurde, kein souveränes Herrschaftszentrum, das sein Gesetz von oben nach unten durchsetzt. Sie ist kein Eigentum und keine bloße Potenz, kein Vermögen oder Mittel, das es einem erlaubt, irgendwelche Zwecke durchzusetzen. Macht ist der Krieg aller gegen alle, der Gesamtzusammenhang ereignis- und augenblickshafter Konfrontationen von Körper zu Körper, das komplexe dezentrierte Netzwerk einzelner, lokaler, antagonistischer Kräfteverhältnisse. Aus ihnen steigt sie von unten nach oben auf, bis hinauf zu globalen Machtstrategien oder Gesamtdispositiven (z. B. einem Staat). Widerstand ist das zu einem Kräfteverhältnis gehörende ‚Gegenüber‘ der Macht, die Gegen-Macht, die sich ihrerseits zu einer Globalstrategie vernetzen kann (z. B. einer Revolution). Alles ist Macht. Foucaults Theorie ist ein Monismus der Macht auf der Basis eines unendlichen, offenen Pluralismus lokaler, ungleicher und instabiler Kräfteverhältnisse.“ (Fink-Eitel 1997: 88, Hervorh. AS)

S u b j e k t : Zw i s c h e n I n d i v i d u a l i s i e r u n g und Regierung In den Ausführungen zum Wissen und zur Macht deutete sich bereits an, dass Foucaults Vorstellungen vom Subjekt eng mit den diskursiven Praktiken der Wissensproduktion sowie der Machtdistribution verflochten sind. „Macht bringt Körper und Subjekte hervor, die im Sinne disziplinarischer und statistischer Vorgaben weniger der Repression als der Fremd- und Selbstführung unterliegen, worin Macht und Freiheit sich nicht als entgegengesetzte, sondern als miteinander verwobene Elemente zeigen und sich Kontrollstrategien mit von den Individuen anerkannten Formen der Lebensführung mischen.“ (Bublitz 2003: 70)

Um wirksam zu sein, müssen Diskurse durch individualisierte Subjekte und deren Handeln aktiviert werden. Gleichzeitig konstituieren und re69

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gieren Diskurse in jeweils spezifischer Weise verkörperte Subjekte. Das moderne Subjekt bzw. der Mythos vom autonomen Vernunftsubjekt gehören somit zu Foucaults zentralen Interessen, und die (historischen) Prozesse der komplexen Konstitution des Subjekts werden in vielen seiner Werke sowie in Arbeiten über seine Werke aufgegriffen (vgl. Foucault 1973 [1969], 1976 [1975], 1977 [1976], 1978, 1987 [1983] sowie – mit verschobenem Schwerpunkt – Foucault 1985, 1986a [1984], b [1984], 2004 [1978], 2004 [1979], 2004 [2001], 2005 [1994]). Untersucht wird dabei einerseits, wie „in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“, und andererseits, wie „ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1987 [1983]: 243). Es geht ihm dabei nicht primär um die Analyse von Machtphänomenen, sondern um die Arten der Objektivierung, die Menschen zu Subjekten werden lassen. „Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung. Aber die Analyse der Macht ist selbstverständlich unumgänglich. Denn wenn das menschliche Subjekt innerhalb von Produktions- und Sinnverhältnissen steht, dann steht es zugleich auch in sehr komplexen Machtverhältnissen.“ (Ebd.) Subjekte sind für Foucault Ergebnis eines komplexen historischen Konstitutionsprozesses, d. h. Subjekte werden gemacht. Ihre Identität ist niemals abgeschlossen, sie ist weder unveränderbar noch prinzipiell jedem Individuum eigen. Vielmehr befindet sich die Identitätsbildung in einem fortwährenden Prozess, in dem diskursive Praktiken die Subjektidentität (re-)produzieren und transformieren. Die diskursiven Praktiken (z. B. in Familie und Schule) konstituieren die Bedeutungen des physischen Körpers, der Gefühle und des Begehrens sowie die bewusste Subjektivität. Damit grenzt sich Foucault scharf von der cartesianischen und liberal-humanistischen Subjekt-Vorstellung ab. Diese setzt die einheitliche Natur des Subjekts sowie eine bewusste Subjektivität voraus und erweckt dadurch den Anschein einer Einheitlichkeit des autonomen (Vernunft-)Subjekts. Das Subjekt wird „nicht durch die synthetische Aktivität eines mit sich selbst identischen, stummen oder jedem Sprechen vorhergehenden Bewußtsein hergestellt, sondern durch die Spezifität einer diskursiven Praxis. […] Man wird darin [im Diskurs] ein Feld von Regelmäßigkeit für verschiedene Positionen von Subjektivität sehen. Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts“ (Foucault 1973 [1969]: 82; vgl. auch Foucault 1977 [1976]). Trotzdem zielt Foucault nicht auf den vieldiskutierten „Tod des Subjekts“ – der ihm durch den Schlusssatz in „Die Ordnung der Dinge“

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(1971 [1966]) oftmals unterstellt wurde.3 Zwar stellt das gesamte Buch, das die Grundlagen des diskurstheoretischen Denkens darlegt, eine gezielte Provokation und Herausforderung an die Bewusstseinsphilosophie, die Phänomenologie, den Humanismus und den Marxismus dar – zugespitzt in dem am Ende postulierten „Verschwinden des Menschen“ (Foucault 1971 [1966]: 462). Doch bezieht sich das antihumanistische Argument nicht auf die physische Existenz der Menschen, sondern auf die idealistischen Vorstellungen eines autonom handelnden Subjekts mit vordiskursivem Bewusstsein und Handeln (zur Diskussion um den „Tod des Subjekts“ vgl. Nagl-Docekal und Vetter 1987, insbesondere die Kapitel von Frank und Lyotard; s. auch Frank 1984 (12. bis 14. Vorlesung) und Uphoff 2004). Für ihn leben Menschen als Subjekte, d. h. sie agieren als individualisierte Personen, die „Ich“ sagen können, und existieren in diesem Sinne als Subjekte. Allerdings sind sie das weder aus einer psychologischen Notwendigkeit heraus noch mit anthropologischer Selbstverständlichkeit. Stattdessen sind die menschlichen Subjekte Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses, insbesondere spezifischer Machttechniken. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass das menschliche Handeln determiniert sei. Foucault weist lediglich die idealistische Auffassung von Autonomie zurück, nach der Subjekte alleiniger und genuiner Ursprung ihres Denkens, Fühlens und Handelns sind. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass in Foucaults poststrukturalistischer Auffassung das Subjekt in Diskurspraktiken konstituiert wird. Entgegen häufig geäußerter Kritik spricht Foucault den Menschen dadurch ihre Materialität bzw. Körperlichkeit nicht ab. Sie existieren als denkende, fühlende Subjekte und als sozial handelnde Personen, die aus dem Zusammentreffen widersprüchlicher Subjektpositionen und Praktiken heraus zu Widerstand und zur Auswahl zwischen verschiedenen Optionen fähig sind (s. Kap. 4 in diesem Handbuch).

Disziplinar- und Biomacht: Die Kontrolle der Körper In der hier vorgestellten Perspektive, die nach den konkreten Orten des Zusammentreffens von Praktiken, Subjektkonstruktionen und Machtwirkungen fragt, kann Foucaults Analyse der Macht auch gelesen werden als eine Analyse des menschlichen Körpers als dem Ort, an dem sich die winzigen und begrenzten Gesellschaftspraktiken mit der Organisation der Macht in großem Maßstab verbinden, an dem die „Mikro-

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Dieser Schlusssatz besagt, dass durch „irgendein Ereignis [...] der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1971: 462). 71

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physik der Macht“ (Foucault 1976 [1975]), die Biomacht als Politik der Bevölkerungskontrolle (Foucault 1977 [1976]) und die Gouvernementalität als Regierungskunst, einschließlich der Selbstregulierung des Subjekts (Foucault 2004 [1978], 2004 [1979], 2004 [2001], 2005 [1994]), aufeinandertreffen. Der Körper steht damit unmittelbar im Feld des Politischen: „Die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zum Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen“ (Foucault 1976 [1975]: 37). Der Körper kann daher nicht natürliche Grundlage des Selbst und der Selbsterkenntnis sein. Körper, Sexualität, leibliche Empfindungen wie Begehren und sexuelle Praktiken sind diskursiv erzeugte Effekte eines historisch spezifischen Macht-Wissen-Komplexes. Das soll aber nicht heißen, dass der Körper als starres, totes Objekt behandelt wird. Foucault begreift ihn als lebendigen Organismus, dessen vitale Äußerungskraft der Wille zur Macht ist. Die Körper werden durch die Machtverhältnisse als Subjekte konstituiert, sie sind also nicht ein Gegenüber der Macht, sondern eine ihrer ersten Wirkungen (vgl. Foucault 1978: 82f.; Fink-Eitel 1997: 67f.; s. auch das Kap. „Performativität“ in diesem Band). Ein wichtiger Aspekt bei der Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist für Foucault die Disziplinarmacht. Anhand seiner Studien über die Disziplinargesellschaft, das Gefängnis und die Irrenanstalt kommt er zu dem Ergebnis, dass Machtausübung mittels spezifischer Disziplinartechnologien erfolgt (Foucault 1976 [1975]). Ziel der Disziplinarmacht ist es, aus den Menschen nützliche, produktive und fügsame Körper zu machen. In diesem Zusammenhang thematisiert er auch die Mechanismen von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen, die Einteilung in Normalität und Verrücktheit sowie in Gleiche und Andere und postuliert das Recht auf Andersheit. In „Überwachen und Strafen“ zeigt Foucault, dass der zentrale Ort der disziplinierenden Machttechniken der menschliche Körper ist – und die dort beschriebenen Disziplinartechnologien im Gefängnis gelten bei Foucault als sichtbarster Ausdruck der weit verbreiteten „Praktiken der Körperdisziplinierung“, der „Mikrophysik der Macht“, im 18. und 19. Jahrhundert, die omnipräsent und unscheinbar zugleich sind und die normierte sowie produktive Körper herstellen: die Disziplinarmacht „wirkt normend, normierend, normalisierend“ (1976 [1975]: 236, Hervorh. im Orig.). Im Kontext seiner Untersuchung der Sexualität entwickelt Foucault schließlich die Begriffe der Biopolitik und Biomacht als Kontrolle der Körper (Foucault 1977 [1976]). Er versteht die Biomacht als unerlässli72

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ches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne die kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktion bzw. ohne die Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre: „Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern ebenso im Körper und mit dem Körper vollzogen (Foucault 2003 [1994]: 275, Hervorh. AS). Darüber hinaus verlangte die Entwicklung des Kapitalismus das Wachstum der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Bevölkerung insgesamt. D. h. er brauchte Machtmethoden zur Steigerung der menschlichen Arbeitskraft bei gleichzeitiger Gewährleistung der Unterdrückungsverhältnisse. Parallel zur Entwicklung der Staatsapparate als Machtapparate bzw. als konkrete Herrschaftsinstitutionen zur Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse begreift Foucault die im 18. Jahrhundert entstandenen Herrschaftstechniken, die auf allen Ebenen der Gesellschaft durch die verschiedenen Institutionen eingesetzt wurden (Familie, Armee, Schule, Polizei, Medizin, öffentliche Verwaltung uvm.). Das Einwirken der Machttechniken auf die Kräfte der ökonomischen Prozesse wiederum hat zur Sicherung von Herrschaftsbeziehungen und Hegemonien als Faktoren der gesellschaftlichen Absonderung und Hierarchisierung geführt. Durch die Abstimmung der Akkumulation von Menschen mit der von Kapital, durch die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktionskräfte und die Verteilung des Profits wurde die Ausübung der Biomacht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Dabei waren die Besetzung und Bewertung des lebendigen Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte unentbehrliche Voraussetzungen (vgl. Foucault 1977 [1976]). Die Biomacht erzeugt in diesem Verständnis auf „produktive“ Weise konformistisches Verhalten von Subjekten zum Zweck der Machtsicherung. Der Körper wird zum Austragungsort von Verteilungskämpfen und Zuordnungen, zum Gegenstand von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen anhand körperlicher Merkmale. „Disziplinarmacht der Körper und Bio-Politik der Bevölkerung bilden die beiden Säulen der ‚Bio-Macht‘ in den entstehenden modernen Gesellschaften, die hauptsächlichen Erscheinungsformen ihres Macht-Wissens-Zugriffs auf die Körper.“ (Keller 2008: 118)

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Erweiterung der Subjektkonzeption: Die Praktiken der Selbstsorge „Wenn man die Genealogie des Subjekts in der abendländischen Kultur untersuchen will, muss man nicht nur die Herrschaftstechniken, sondern auch die Selbsttechniken berücksichtigen.“ (Foucault 2005 [1994]: 210)

Um der Frage, wie „ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1987 [1983]: 243) nachzugehen, bedarf es neben dem Rückgriff auf die Disziplinar- und Biomacht auch der Berücksichtigung der Selbsttechniken, denen sich der „späte Foucault“ nicht in Abgrenzung, sondern in Ergänzung zu seinen früheren Subjektkonzeptionen verstärkt gewidmet hat. Mit den Selbsttechniken/-technologien thematisiert Foucault die Selbstkonstitution von Subjekten jenseits von Disziplinar- und Biomacht als „Selbstführung von Individuen“ bzw. Selbst-Subjektivierung im Rahmen der kulturell verfügbaren Lebensmodelle. Mit seinen Überlegungen zum Subjekt im Neoliberalismus als „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault 2004 [1979]: 314) ist eine beachtliche Erweiterung seiner Subjektkonzeption einhergegangen mit dem Ziel zu verstehen, „welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt (Foucault 1986a [1984]: 29, Hervorh. AS). In Foucaults „Technologien des Selbst“ geht es im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung seiner Machtkonzeption sowie der Analyse der Gouvernementalität um die Praxen der „Autoformation“ (Foucault 1985: 10), d. h. Selbstbildung, in denen sich Individuen aktiv als Subjekte herstellen. Als Technologien der Selbstbildung gelten Praktiken, „mit denen Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen“ (Foucault 1986a [1984]: 18), so dass „selbsttechnologische Subjektivierungspraktiken“ im Zusammenhang mit den Disziplinartechnologien aus dem Wechselspiel von Diskursivität und Materialität entstehen. Dieses Wechselspiel von Diskursivität und Materialität, von diskursiver Wissens-, Macht- und Subjektproduktion, wird abschließend am Beispiel verkörperter Subjekte und Raumkonstruktionen zusammengefasst.

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„Wissen Macht Subjekt“ – und Raum! In der kritisch-poststrukturalistischen Raumforschung ist nicht von Interesse, was der Raum ist, sondern inwieweit die (veränderbaren) Bedeutungen von Räumlichkeit einen unumgänglichen Teil gesellschaftlicher Prozesse ausmachen, und mit Doreen Massey (2007 [1992]: 113) ist „Raum […] eine der Achsen, entlang derer wir die Welt erfahren und konzeptionalisieren“. Diese Auffassung findet sich auch in Foucaults Konzeptualisierung des Räumlichen, da er die gesellschaftliche Produktion von Raum mit der Konstruktion von Gesellschaft verknüpfte. Gemeint sind damit allerdings weniger seine Überlegungen zur Disziplinargesellschaft am Beispiel des panoptischen Gefängnisses (1986a [1984]), in denen es primär um die explizit architektonische Gestaltung des Raums geht. Vielmehr beschäftigt sich Foucaults Konzept der „Heterotopologie“ mit den Relationen im Raum und den Relationen zu „Andere[n] Räume[n]“ (1991 [1967]), da er davon ausging, dass Raum für jede Form gesellschaftlichen Lebens und somit für jede Form der Disziplinierung und Machtausübung fundamental sei. Im Rahmen seiner Machtanalysen und ausgehend von der Annahme „jeder Mensch hat zu einer bestimmten (Tages-)Zeit seinen ‚richtigen‘ Ort“, kam er zu der Auffassung, dass Disziplin(-ierung) nur durch die aktive Kontrolle von Raum und Zeit ausgeübt werden kann. Besonders interessant an Foucaults Heterotopologie erscheint der Aspekt der Funktion von Heterotopien als ein System von Ein- und Ausschluss: Denn jeder Raum hat in diesem Verständnis eine bestimmte gesellschaftliche Funktion – auch gegenüber anderen Räumen, d. h. sie sind exklusiv oder inklusiv und schließen bestimmte Menschen ein oder aus. Gerade in Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit auf unterschiedliche sozioökonomische und -kulturelle Verkörperungen verdeutlicht dieser Punkt die wechselseitigen Beziehungen von Körpern (bzw. Identitäten) und Räumen (vgl. Strüver 2005: 88ff.). Dem einführenden Charakter dieses Kapitels zu den Grundlagen und zentralen Begrifflichkeiten der Foucault’schen Diskurstheorie sind eine „objektive Oberflächlichkeit“ und eine „subjektive Schwerpunktsetzung“ im Hinblick auf die Auswahl und das Ausmaß der hier behandelten Konzepte gleichermaßen geschuldet, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit beinhalten. Dennoch – oder gerade deswegen – sei zur „Abrundung“ noch einmal detaillierter auf das verkörperte Subjekt an der Schnittstelle von Wissens- und Machtsystemen bzw. auf das Zusammenspiel von Körper, Macht und Raum eingegangen.

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Foucault beschreibt mit den Technologien des Selbst eine Form der Subjektivität, die weder uneingeschränkt gesellschaftlich produziert (hier i. S. v. determiniert), noch absolut frei wählbar ist. D. h. die Praktiken der Selbstsorge bzw. Selbstführung sind – entgegen ihrer Bezeichnung – nicht ausschließlich individuell, sondern gesellschaftlich: „Es sind Schemata, die es [das Subjekt] in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind“ (Foucault 2005 [1994]: 889). Diese Selbsttechniken sind somit nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtkämpfen und Herrschaftsverhältnissen, bilden jedoch ein Gegengewicht dazu. Sie setzen der Fremdbeherrschung die Selbstermächtigung entgegen. Zentraler Ort dieses Gegengewichts ist der Körper, auf den die Kräfte der Normalisierung und Disziplinierung sowie die der Selbsttechnologien – der Fremd- und der Selbstformung – einwirken: „Es sind die Körper, die potentiell disparaten körperlichen Regungen und Bewegungen, die durch die Einschreibung und Einverleibung der Subjektcodes und der Technologien zu spezifischen, identifizierbaren Subjekten werden.“ (Reckwitz 2008: 30) Foucault begreift das verkörperte Subjekt damit als eine „aktivistische Instanz“, dessen Selbstverstehen allerdings nicht „im Inneren eines privaten Selbst verankert“, noch ausschließlich Produkt kollektiver Diskurse ist (Reckwitz 2008: 35f., 38), so dass an dieses Konzept gekoppelte Fragen lauten: (1) wie unter bestimmten diskursiven Bedingungen bestimmte subjektive Selbstinterpretationen vollzogen werden und (2) welche auf das Selbst gerichtete Praktiken eingesetzt werden, um das Subjekt zu formen (vgl. ebd.). Übertragen auf ein konkretes Beispiel liest sich dieses Zusammenspiel von Disziplinar- und Selbsttechnologien folgendermaßen: Die neoliberalen Umstrukturierungen der Gesellschaft und die sich wandelnden Lebens- und Arbeitsformen haben zu einem veränderten Körperbewusstsein und zu einer neuen Bewertung des Körperlichen geführt. Der Körper wird zunehmend als „Option“ (Schroer 2005: 35) verstanden, der gesund, schön und fit sein muss, um sich gegen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – aber auch auf dem Freizeitmarkt der Lebensstile – durchsetzen zu können. Diese Form der individualisierten Selbstsorge sowie die stetige Zunahme sportlicher Alltagsaktivitäten lassen sich als „neoliberales Körperbewusstsein“ verstehen, das sich als „Sportboom“ und „Fitnesswahn“ – als wachsende Bedeutung von sportlicher Bewegung als Teil der Alltagskultur und damit des öffentlichen Lebens und auch Raum-er-lebens – niederschlägt. Sportlichkeit als gesellschaftlicher Leitwert bzw. „diskursive Bedingung“ symbolisiert Gesundheit, Schönheit und Jugendlichkeit einerseits sowie Leistungsfähigkeit und Belast76

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barkeit andererseits. Die „Verinnerlichung“ dieser „Werte“ lässt Sport treiben zum „selbstverständlichen“ Teil des Alltagslebens werden. Derartige Selbstpraktiken, die die Individuen wählen, um mit und an ihrem Körper bestimmte Operationen zu vollziehen, um ihn zu formen und verändern, sind Ausdruck dessen, wie sich das unternehmerische Selbst konstituiert bzw. „optimiert“. D. h. mit dem Konzept der Selbsttechniken hat sich die Ebene der Normierung von Körpern und Subjekten um die Selbstkontrolle im Prozess der Subjektivierung erweitert: Das Subjekt „bestimmt sich also selbst aus quasi-eigener Verantwortung und nach quasi-eigenen Zielen, aber es merkt nicht, dass ihm beides nicht zur Wahl stand und dass es eigentlich ein Produkt von Herrschaftsverhältnissen, von Macht-, Wissens- und Körpertechniken ist“ (Turnes 2008: 206). Selbsttechniken sind damit keine autonomen Praktiken, sondern innerhalb der diskursiven Bedingungen verortet. „Man könnte im Sinne Foucaults sagen: Die Fitnesswelle [der 1970er-Jahre] bereitete die Körper auf die neuen Anforderungen der Mediengesellschaft vor, indem sie den aus der industriellen Arbeit freigesetzten Körper zum Fitnesskörper disziplinierte […]. Die Mediengesellschaft produziert einen Körper, dessen Physis vor allem zur öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung des Subjektes dient und dessen Äußeres entsprechend gepflegt und gestylt werden muss.“ (Klein 2008: 258)

Der Fitnesskörper des Freizeitsports ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Prozesse materialisiert und inkorporiert werden. Dazu gehört nicht nur Sport im Sinne von körperlicher Bewegung, sondern auch Sport als Lifestyle-Element, als gesellschaftliches Zeichensystem, das neben der aktiven Bewegung den Körper prägt und gestaltet, so dass „sich körperlich (Un-)Wohlfühlen“ kein autonomes, vordiskursives Gefühl darstellt. Doch neben der gesellschaftlichen Prägung des Körpers geht es auch um die Verkörperung des Sozialen: Die Symbolisierung des Sozialen findet als Somatisierung statt (Bourdieu 1992 [1987]: 207) – und wirkt auch konstitutiv auf Räume. Denn der aktuelle Freizeitsport verlässt die angestammten Sportstätten (wie z. B. Turnhallen), „betritt die Straße“ und eignet sich den öffentlich-städtischen Raum, d. h. den gesellschaftlichen Raum, an. Sportive Verkörperungen prägen somit insbesondere den urbanen Raum als Bewegungsraum für nichtinstitutionalisierte Sportaktivitäten wie z. B. Laufen oder Skaten, aber auch Parcours- oder Crossgolfen. Einen nicht unbedeutenden Teil der urbanen Sporträume macht dabei das „Sehen und Gesehenwerden“ aus (Bublitz 2006): Öffentliche Räume stellen eine Bühne zur Selbstdarstellung und -inszenierung be77

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reit, d. h. einerseits wird dadurch der Raum konstituiert und andererseits konstituiert er diejenigen, die sich in ihm aufhalten. Durch kollektive Bewegungspraktiken wird eine – vorübergehend exklusive – Gemeinschaft erzeugt, die mit ihren Aktivitäten einen öffentlichen Raum besetzt und sich in ihm und über ihn verortet. Da diese Verortung bzw. Platzierung auf einer körperlichen Aufführung beruht, geht sie mit einer besonderen Sichtbarkeit einher (vgl. Boschert 2002b). „Körper und Bewegung [sind…] elementar mit der Dimension des Raums verknüpft. Sie brauchen Raum und sind raumgreifend. Es ist der Raum, der die Bewegungen der Körper ermöglichen wie auch verhindern kann und somit konstitutiv für die Bewegung ist.“ (Boschert 2002a: 20) Die Raumnutzungsmuster Sport treibender bzw. verkörperter Subjekte eignen sich dadurch zur Illustration von Verkörperungen an der Schnittstelle von Disziplinar- und Selbsttechnologien, und die gesellschaftliche Körperkonjunktur des Neoliberalismus lässt sich nicht nur am „Sport-Körper“, sondern auch am „Stadt-Körper“, in der Raumentwicklung und -nutzung ablesen, die ebenfalls weder ausschließlich gesellschaftlich noch individuell ist, sondern durch Wissen, Macht und Subjekte diskursiv wie materiell ausgehandelt wird. Wenn Räume und ihre (veränderbaren) Bedeutungen Teil und Medium gesellschaftlicher Prozesse und Machtverhältnisse sind, anhand derer wir die Welt „erfahren“ oder begehen, dann wird auch die eingangs formulierte Frage nach der Bevorzugung oder Vermeidung der Dunkelheit zum Joggen nachvollziehbar: Einige Menschen wollen beim Joggen am liebsten nicht gesehen werden, da sie sich dabei in und mit ihrem Körper nicht wohl fühlen – z. B. stark Übergewichtige – und die den „Schutz“ der Dunkelheit schätzen (sich gleichzeitig aber dem Fitnesswahn verpflichtet fühlen). Andere Menschen wiederum empfinden gerade die Dunkelheit nicht als Schutz, sondern als Bedrohung, und der dunkle Raum wir zum „Angstraum“, den es zu vermeiden gilt. Für Erstere ist der dunkle Raum weniger Bühne als Gardine (i. S. v. Schutz), für Letztere hingegen zu viel Bühne gerade durch die Dunkelheit als „Gardine“. In beiden Fällen ist die jeweilige „Qualität“ des Raumausschnittes in der Dunkelheit jedoch „offen-sichtlich“ nicht dem Raum inhärent, sondern er ist Medium gesellschaftlicher Bedeutungszuweisungen und Machtverhältnisse, die zugleich auch die sich in ihm aufhaltenden Körper konstituieren. D. h. ein Raum in der Dunkelheit hat für unterschiedliche verkörperte Subjekte unterschiedliche Bedeutungen und daraus resultierende Nutzungsmuster, da Dunkelheit das Gefühl des Schutzes, aber auch der Schutzlosigkeit generieren kann. Die hier nur kurz angedeuteten Beispiele für alltägliche Praktiken der Raum(um)nutzung machen jedoch mit Rekurs auf die Diskurstheorie 78

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Foucaults deutlich, dass und vor allem wie sich verkörperte Identitäten und Räume und ihre jeweiligen Bedeutungen machtvoll „cokonstituieren“ – dass „die Kontrolle der Gesellschaft [und des Raums] im Körper und mit dem Körper vollzogen wird“ (Foucault 2003 [1994]: 275) –, da Räume ihre Bedeutungen durch die gesellschaftlichen Nutzungen zugeschrieben bekommen und auch umgekehrt die Bedeutungen bzw. dominanten Nutzungsstrukturen von Räumen wichtiger Bestandteil im Prozess von verkörperten Identitätskonstruktionen sind.

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Gouvernementalität in de r humangeographischen Diskursforschung HENNING FÜLLER, NADINE MARQUARDT

Einleitung „[S]o muß man heutzutage vielleicht einen Schritt weitergehen und unter Verzicht auf die Figur des Fürsten die Machtmechanismen von einer den Kräfteverhältnissen immanenten Strategie her entschlüsseln.“ (Foucault 1977 [1976]: 118)

Mit der Diskursanalyse hat sich auch in der Geographie inzwischen eine Perspektive etabliert, die gesellschaftliche Phänomene wie lokale Identitäten, räumliche Repräsentationen oder Strategien der Stadtentwicklung entlang der Basiskategorie Macht zu entschlüsseln versucht. Forschungsleitend ist dabei der Vorschlag Michel Foucaults, die geltenden Wahrheiten und Auffassungen nicht als zwangsläufigen Effekt einer gegebenen Realität zu begreifen, sondern als eine soziale Konstruktion, die bestimmten Formationsregeln folgt. Diese These hat Foucault in seinen späteren Arbeiten präzisiert und dabei weiter gefasst. Die (machtvolle) Konstruktion geltender Wahrheiten und Bezeichnungen ist bloß ein Aspekt eines größeren Prozesses gesellschaftlicher (Selbst-)Regierung. „Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ führt Foucault (2005 [1980]: 115) in einem Gespräch aus und markiert dabei die veränderte Schlüsselkategorie. Ein geschärfter Blick auf Phänomene des „Regierens“ erlaubt es dem späten Fou-

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cault herauszuarbeiten, inwiefern Machteffekte einer ganzen Reihe von Ausdrucksformen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu eigen sind. So wird sichtbar, dass neben diskursiv produzierten Wahrheiten auch bspw. architektonische Gestaltungen, institutionelle Arrangements oder eingeübte Routinen Mittel des Regierens in einer Gesellschaft sein können. Dieser Forschungsansatz, Gesellschaft vor dem Hintergrund eines weit gefassten Begriffs von Regieren zu untersuchen, verengt somit einerseits strategisch das Blickfeld der Untersuchung gegenüber einer zunächst offeneren Diskursanalyse. Die Aufmerksamkeit gilt solchen Konstruktionen, Institutionen und Praktiken, die wirksam das Verhalten von Menschen beeinflussen. Andererseits erweitert eine solche Perspektive den Blick für zusätzlich relevante Aspekte des untersuchten Gegenstands über das Faktum seiner diskursiven Repräsentation hinaus. Zum größten Teil posthum ist diese Forschungsperspektive im Anschluss an Foucault unter der Bezeichnung Governmentality Studies für unterschiedliche Teildisziplinen der Sozialwissenschaft fruchtbar gemacht worden. Im Folgenden möchten wir die Perspektive der Gouvernementalität skizzieren und dabei insbesondere auf Anschlussmöglichkeiten für die Humangeographie hinweisen. Was sind die veränderten Blickrichtungen einer Gouvernementalitäts-Perspektive? Was verspricht diese Perspektive für humangeographische Fragestellungen? Und welche Fallstricke sind bei der Aneignung des Konzepts für empirische Forschung zu beachten? Der sperrige Begriff „Gouvernementalität“ taucht in den Arbeiten Foucaults vergleichsweise spät auf. Von zentraler Bedeutung wird das Konzept in Foucaults Denken insbesondere in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, die er 1978 und 1979 gehalten hat (vgl. Foucault 2003 [1978], 2003 [1979], 2004 [1978]). Erschwerend für das Verständnis ist der Umstand, dass der Begriff von Foucault für zwei unterschiedliche Anliegen verwendet wird. Zum einen dient er ihm, um eine bestimmte analytische Suchanweisung für Machtanalysen vorzuschlagen. Auf der anderen Seite benutzt er Gouvernementalität, um eine historische Entwicklung westlicher Gesellschaften zu beschreiben (vgl. Nonhoff 2008: 287ff.). Eine wichtige Veränderung markiert der Begriff Gouvernementalität im Hinblick auf das Verständnis von Macht und im Bezug auf das Vorgehen einer Machtanalyse. In den frühen Arbeiten spielt das Phänomen „Regieren“ noch keine Rolle, Foucaults Interesse liegt unter anderem bei Fragen der Ideengeschichte und dabei auf der Herausbildung der modernen Wissenschaften. Im Zentrum dieser Untersuchung steht allerdings bereits die Verbundenheit von Wissen und Macht. Foucault zeigt die historische Relativität von Wissensbeständen und macht die gesell84

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schaftlich produzierten Formationsregeln explizit, die zur Fixierung von allgemein geteilten Wahrheiten führen (vgl. „Die Ordnung der Dinge“ Foucault 1971 [1966]). In der Folge legt er mit „Überwachen und Strafen“ eine Arbeit vor, die entlang der Geschichte von Disziplinarinstitutionen und Gefängnissen einer weiteren Ausdrucksform gesellschaftlicher Machtverhältnisse nachspürt. Ordnung in den Schulen, Gehorsam in den Kasernen und die Aufsicht über Gefangene gelingt zum großen Teil über permanente, wiederkehrende und in alle Lebensbereiche hinein ausgeübte, im Einzelfall aber minimale Zurichtungen. Foucault spricht von der „Mikrophysik“ der Macht, welche die Individuen in vielfältigen Kräfteverhältnissen einschränkt, aber dadurch auch produktiv macht (etwa durch in der Gestaltung der gebauten Umwelt angelegte Disziplinierung, wie die berühmten Ausführungen zum Panoptikum zeigen, vgl. „Überwachen und Strafen“, Foucault 1976 [1975]). Schließlich hebt Foucault, neben den Machteffekten von Wahrheit und der Mikrophysik der Macht in Institutionen und Routinen, noch eine dritte Ausdrucksform besonders heraus: die Wirkung der Subjektkonstituierung und die damit in Verbindung stehenden „Technologien des Selbst“ (vgl. „Technologies of the Self“, Foucault 1988 [1983]). Die Art und Weise, in der wir uns selbst als Subjekt begreifen, basiert auf gesellschaftlichen Deutungsangeboten. Unsere Imagination als ein so und so geartetes Subjekt ist damit zum Teil auch eine Form, über die wir gesellschaftliche Beschränkungen an uns selbst vermitteln. Subjekt hat einen doppelten Sinn, wie Foucault betont: „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“ (Foucault 1987 [1983]: 246f.). In unterschiedlichen Phasen seines Werks gelang es Foucault, zusammenfassend drei Ausdrucksformen gesellschaftlicher Machtbeziehungen herauszustellen. Macht erwächst 1. aus der Art und Weise, in der wir uns „unser Sein zu denken geben“ (Diskurs/diskursive Wahrheitseffekte), 2. aus der Art und Weise, in der wir uns auf einander beziehen (Mikrophysik der Macht/Disziplin) und 3. aus der Art und Weise, in der wir uns auf uns selbst beziehen (Ethik des Selbst/Subjektivierung). Diese drei Formen von Machtbeziehungen stehen dabei selbstverständlich nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr betont Foucault, dass alle drei Arten der Machtausübung eng miteinander verzahnt sind. Gleichwohl verspricht die analytische Trennung die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Ausübungsformen von Macht zu differenzieren. 85

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„[…] Beziehungen der Beherrschung von Dingen, Beziehungen der Wirkung auf andere, Beziehungen zu sich selbst. Dies bedeutet nicht, daß diese drei Gebiete einander völlig fremd sind. Es ist hinreichend bekannt, daß die Herrschaft über Dinge über Beziehungen mit anderen vermittelt ist; und diese enthalten umgekehrt stets Beziehungen zu sich selbst und umgekehrt. Aber es handelt sich um drei Achsen, deren Besonderheiten und Beziehungen untereinander analysiert werden müssen: die Achse des Wissens, die Achse der Macht, die Achse der Ethik.“ (Foucault 1990 [1984]: 51f.)

In seinen späten Arbeiten bringt Foucault nun diese zuvor herausgearbeiteten Achsen von Macht – diskursive Wahrheitseffekte, Mikrophysik der Macht und Subjektivierung – unter einer analytischen Klammer miteinander in Beziehung (vgl. Lemke, Krasmann und Bröckling 2000). Um das Zusammenspiel der drei Achsen der Machtausübung zu greifen, führt Foucault den Begriff der Regierung ein. Im Gegensatz zur heute alltagssprachlichen Verwendung sind mit „Regierung“ in diesem Kontext offensichtlich nicht staatlich-institutionalisierte Formen der Machtausübung (etwa in Form von Gesetzen) gemeint, sondern ganz allgemein durch gesellschaftliche Interaktion hervorgerufene Beeinflussung des Handelns von Individuen. Machtausübung „ist auf Handeln gerichtetes Handeln“ (Foucault 2005 [1982]: 286), so der allgemeine Begriff von Macht, den Foucault schließlich festhält.1 Die analytische Klammer „Regieren“ integriert unterschiedliche Erscheinungsformen von Macht und erlaubt es dadurch, die Wechselwirkungen und das Zusammenspiel der verschiedenen Mechanismen zu erfassen. Hier zeichnen sich schließlich bestimmte Muster oder Logiken ab. Einige Techniken der Beeinflussung des Handelns sind besonders dominant oder wirken besonders effektiv zusammen. Foucault spricht hier von einer „Rationalität des Regierens“. Die Suche nach diesen übergreifenden Mustern bzw. Rationalitäten des Regierens aus einer Zusammenschau unterschiedlicher Ausdrucksformen von Macht ist letztlich der Kern einer Gouvernementalitätsanalyse. Bei einer solchen Analyse ist das Zusammenspiel der unterschiedlichen Formen der Machtausübung in einzelnen gesellschaftlichen Kontexten daraufhin zu untersuchen, ob es nicht eine dominante Funktionsweise und eine identifi1

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Vgl. Foucault: „[Die Macht] ist ein Ensemble von Handlungen im Hinblick auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld [...]: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrerer handelnde Subjekte, und das, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.“ (Foucault 1987: 254f.).

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zierbare Zielsetzung gibt, auf die die verschiedenen Machteffekte hin wirken (vgl. Rose, O’Malley und Valverde 2006). In seinen späten Arbeiten begegnet Foucault dem Phänomen Macht also mit einer veränderten Arbeitshypothese. Nicht mehr allein die Machteffekte selbst stehen nun im Zentrum, sondern der Versuch, die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen Machteffekten herauszuarbeiten. „Foucault’s working hypothesis [concerns] the reciprocal constitution of power techniques and forms of knowledge and of regimes of representation and modes of intervention.“ (Lemke 2007: 44) Foucault interessiert sich nun für die spezifische Charakteristik der Machtausübung zu einer gegebenen Zeit in einer gegebenen Gesellschaft, für deren Regierungsweise. Neben dem Verweis auf eine zugespitzte Arbeitshypothese für die Durchführung von Machtanalysen (Machteffekte folgen bestimmten übergreifenden Arrangements und lassen sich im Hinblick auf solche gouvernementalen Strategien untersuchen) beinhaltet der Begriff Gouvernementalität in der Verwendung bei Foucault zweitens eine historische Bedeutungskomponente. Foucault benutzt, vorwiegend in der Vorlesungsreihe „Sicherheit – Territorium – Bevölkerung“ des Studienjahres 1977/1978 (vgl. Foucault 2003 [1978]), die neu entwickelte Arbeitshypothese, um westliche Gesellschaften und ihre historische Entwicklung nach Machtarrangements abzusuchen. Der für unsere Gegenwart vorherrschende Modus von Machteffekten, so skizziert Foucault die ersten Ergebnisse, wird im 18. Jahrhundert präsent und lässt sich – anschließend an historische Phasen, in denen souveräne bzw. disziplinierende Formen der Machtausübung überwogen – mit dem Schlagwort „Sicherheit“ charakterisieren. Hauptzielscheibe dieser Regierungsform ist nicht mehr wie zuvor das Individuum, welches es zu disziplinieren gilt, sondern die Bevölkerung als Gesamtheit. Grundlegend für diese Form der Regierung ist der Bezug auf spezifische Risikokonstruktionen, an denen sich die Sicherheitsdispositive als wesentliches technisches Instrument ausrichten. In der vierten Vorlesung dieser Reihe benutzt Foucault dann den Begriff Gouvernementalität zur Kennzeichnung jener zunächst als „Sicherheit“ aufgefundenen Ordnung der Herrschaftsausübung. Gouvernementalität ist nachfolgend also kennzeichnend sowohl für eine bestimmte, bis in die Gegenwart hinein wirkende Rationalität des Regierens (historisch-empirische Bedeutungsebene), als auch für das Forschungsprogramm der Suche nach unterschiedlichen Formen der Regierung (analytische-konzeptionelle Bedeutungsebene).

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Tabelle 1: Historische Abfolge von Rationalitäten des Regierens nach Foucault Rationalität des Regierens

Souveränität

Disziplin

gouvernementales Regieren / Sicherheitstechniken

Zu lösendes Hauptproblem

Herrschaft in einem Territorium

Normierung der individuellen Körper

Effektivierung der Zirkulation

Regierungstechniken (Kontaktstelle der Individuen mit Macht)

Abgaben, punktueller Gehorsam

Disziplinierung in allen Lebensbereichen

Sich selbst verhalten in einem Möglichkeitsfeld

Art der Machtausübung

Untersagend

Normierend

Normalisierend

Beispiel

Erlasse durch einen König/ souveränen Herrscher

Panoptikum, Gesetze, die über die Disziplinierung individueller Körper angewendet werden.

Ratgeber, Vorbilder und Zielvorstellungen, die als Leitlinie für das eigene Leben verinnerlicht werden.

Städtebauliche Versinnbildlichung (vgl. Foucault 2004 [1978], vgl. auch Rabinow 2003)

Karlsruhe (Gesellschaftlicher Rang aus der Nähe/ Ferne zum zentralen Königspalast ablesbar)

Richelieu (Grundriss der Stadt entspricht einem militärischen Lager)

Nantes (Straßenzüge ermöglichen größtmögliche Zirkulation)

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Foucault 2004 [1978], 2004 [1979] Foucault geht es mit dem Konzept der Gouvernementalität insgesamt darum, ein Verständnis für die vielfältigen Formen politischer Macht zu fördern. Er versteht politische Macht als eine Führung der Führungen und als Schaffung von Wahrscheinlichkeiten. Im Kern äußert sich politische Macht daher in dem Zuschnitt des Bereichs möglichen Handelns. Gegenwärtig funktioniert dieser Zuschnitt des Möglichkeitsfeldes in einem Zusammenspiel von Wissensformen, Machttechniken und Prozessen der Subjektivierung. „Foucaults umfassender Begriff von Regierung bezieht sich auf die Kunst der Menschenführung und erfasst das Zusammenspiel von Wissensformen, Machtstrategien und Subjektivierungsmodi.“ (Lemke 2001: 25)

Auch die Zielperspektive der als gouvernemental verstandenen Regierung lässt sich genauer fassen. Richtung und Ziele politischer Machtausübung werden seit Ende des 16. Jahrhunderts in veränderter Weise problematisiert. Wie angedeutet, wird das gute Regieren von nun an anhand der Struktur von wahrgenommenen Problemen (Dinge, deren man sich anzunehmen hat), erstrebenswerten Zielen (angemessener Zweck) und gangbaren Lösungswegen (richtiges Verfügen) bestimmt. Dieses „politische Wissen“ artikuliert sich, wie Foucault in seiner Machtanalyse gezeigt hat, nicht gemäß einer externen Wahrheit, sondern ist in seinen Ka88

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tegorien und Problematisierungen eingebunden in den gesellschaftlichen Macht-Wissen-Komplex. Der Typ von Rationalität, der einer Strukturierung des Möglichkeitsfelds zugrunde liegt, ist somit nicht als objektive Wahrheit zu begreifen, sondern eingeordnet in das Verhältnis von Wissen und Macht.

Gouvernementalität und humangeographische Fragestellungen (unter Mitarbeit von ANNIKA MATTISSEK) Als Leitgerüst, um daran humangeographische Forschungsvorhaben aufzuziehen, ist das Konzept der Gouvernementalität aus mehreren Gründen interessant. Wir möchten im Folgenden drei Gründe herausstellen. Beispielhafte Verweise auf empirische Anwendungen sollen jeweils belegen, inwiefern humangeographische bzw. allgemein sozialwissenschaftliche Forschungen von der Perspektive profitieren können. Erstens ist der für das Konzept der Gouvernementalität charakteristische Begriff der „Führung“ geeignet, um eine Spezifik der Machtausübung in modernen, individualisierten Gesellschaften auszuloten. Denn der Begriff der „Führung umfasst zwei analytisch voneinander zu trennende Phänomene: ‚Führung‘ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten.“ (Foucault 2005 [1982]: 286) Mit diesem von Foucault als zweites genannten Aspekt der „Selbstführung“ wird der analytische Blick somit auch für Situationen erweitert, in denen sich Individuen – ohne dazu „gezwungen“ zu werden – durch verinnerlichte Normen oder Wertvorstellungen häufig widerstandslos in das Gefüge der Kräfteverhältnisse einpassen. Die Form des Selbstverhältnisses – darauf macht Foucault hier aufmerksam – stellt in einem weiten Sinn ebenfalls eine Regierung dar, eine Selbst-Regierung. Die Perspektive der Gouvernementalität vermag wahrzunehmen, inwiefern auch über die Form, in der wir uns als moderne Subjekte selbst verstehen, Macht ausgeübt wird: „One of the most formative general principles underlying governmentality writings has been […] the identification of programmes and practices of rule in micro-settings, including those ‚within‘ the subject.“ (O’Malley, Weir und Shearing 1997: 501). Die Forschungsfrage nach der Rationalität des Regierens lenkt den Blick somit gerade auf die Verschränkung von Selbst- und Fremdführung. Der Topos Regierung integriert Subjektivität (sich selbst regieren) und politische Herrschaft (regiert werden), inte89

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griert Macht, aber auch Widerstand („nicht dermaßen regiert werden wollen“, „sich selbst nicht dermaßen regieren wollen“). „The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we call, I think, government.“ (Foucault 1993: 203) Mit diesem konzeptionellen Zugriff ermöglicht das Konzept der Subjektivierung als Machteffekt, auch solche Phänomene in die Analyse einzubeziehen, die bislang dem Bereich individueller Präferenzen oder „freier“ Wahlmöglichkeiten zugeordnet wurden: Fragen der Identität, Lebensstile und Selbstdisziplin (vgl. Greco 1993, 2004; Rose 1996, 2000; Nettleton 1997; Bröckling 2007). So können etwa charakteristische Veränderungen alltäglicher Aktionsräume von Kindern und Jugendlichen, die sich in zunehmendem Maße zu einem präzise abgestimmten Bewegungsmuster zwischen Schule, Musikunterricht, Sportkursen, Nachhilfe etc. entwickeln, als „freie“ oder „lebensstilspezifische“ Entscheidung interpretiert werden. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive können solche vermeintlich freien und selbstbestimmten Entscheidungen aber auch als Ausdruck einer spezifischen Form der Selbststeuerung von Individuen interpretiert werden. Diese hält Eltern und Kinder dazu an, das eigene Leben (bzw. das des Kindes/Jugendlichen) so früh wie möglich zu optimieren, die eigenen Potenziale effizient zu nutzen und sich so auf die Erfordernisse der Arbeitswelt einzustellen. Grundlage dieser Form der Subjektivierung stellt die übergreifende Risikokonstruktion eines (neoliberalen) Wettbewerbs dar, in dem sich Individuen gegenüber ihrer Konkurrenz behaupten müssen, um nicht „abgehängt“ zu werden. Auf ähnliche Art und Weise können auch Formen der Selbststeuerung, die auf der Mikroebene des eigenen Körpers ansetzen, interpretiert werden. So lässt sich etwa der Körperkult der „fit for fun“-Gesellschaft ebenfalls als Ausdruck des Bedürfnisses deuten, sich selbst – das eigene Aussehen, die eigene Gesundheit, den eigenen „Marktwert“ – zu optimieren und den Erfordernissen der gesellschaftlichen Konkurrenz anzupassen. Charakteristisch für diese Formen der Selbststeuerung ist es jeweils, dass sie nicht auf äußerem Zwang, Gesetzen oder Verordnungen beruhen. Niemand schreibt Eltern die musikalische Früherziehung vor, niemand wird gezwungen, den eigenen Körper im Fitnessstudio „fit“ und „attraktiv“ zu modellieren. Dennoch folgen die entsprechenden Entscheidungen in beiden Fällen diskursiven Strukturen, die an einem spezifischen Risikoszenario ausgerichtet sind und bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.

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Zweitens geht das Konzept der Gouvernementalität noch auf eine weitere Art über „klassische“ Governance-Ansätze, die sich auf die Regierung durch Institutionen, Gesetze, Normen und Zwang konzentrieren, hinaus. Denn Foucault schlägt mit der Gouvernementalität einen ausgeweiteten Begriff von Regierung vor, der neben Gesetzen, Institutionen, verinnerlichten Risikoszenarien und Wertvorstellungen (s. o.) auch Architekturen, Milieus oder räumliche Arrangements als Steuerungsmedien anerkennt. Durch dieses programmatische Offenhalten können die vielfältigen Apparaturen, Einrichtungen, Programme und Anordnungen in die Analyse einbezogen werden, die gegenwärtig einen Lenkungseffekt haben. Gegenstand der Untersuchung ist dann „die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung, […] die Gesamtheit von Prozeduren und Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten.“ (Foucault 2005 [1980]: 116) Dieses Konzept war inspirierend für eine Reihe unterschiedlicher humangeographischer Arbeiten. So lässt sich mithilfe dieses Konzepts erfassen, inwiefern auch die Formierung von räumlichem Wissen, die von der Vergabe von Hausnummern bis zur Aufteilung der sozialen Welt in Regierungsbezirke und Nationalstaaten reicht, als Technik des Regierens lesbar ist (Rose-Redwood 2006). „[A]ccording to Miller and Rose (1990), one area of research into the governmental process might be the mechanisms that translate Foucault’s political rationalities into the domain of reality. One such mechanism is spatializing language (Rose 1996).“ (Moon und Brown 2000: 73). Aus gouvernementalitätsorientierter Perspektive kann dann bspw. gefragt werden, wie spezifische Formen der Regierung an institutionalisierte Strukturierungen der Gesellschaft in unterschiedliche, hierarchisch gegliederte räumliche Einheiten (Kommunen, Bundesländer, Nationalstaaten etc.) gebunden sind und sich aus diesen ergeben. Entsprechend haben Graham Moon und Tim Brown herausgearbeitet, wie der konservative Health Authorities Act in Großbritannien durch Bezugnahme auf unterschiedliche räumliche Maßstabsebenen legitimiert werden konnte (vgl. Moon und Brown 2000). Neben dieser neuen Aufmerksamkeit für Repräsentationen von Raum im Hinblick auf (weitgefasstes) Regieren gehen andere Arbeiten stärker der baulichen bzw. ästhetischen Anordnung (meist städtischer) Räume nach und prüfen die Regierungswirksamkeit solcher räumlicher Gestaltungen. Vielfach konnte gezeigt werden, inwiefern städtische Räume als Medien sozialer Kontrolle, als Filter- und Sortiermechanismus sozialer Gruppen und Handlungsweisen funktionieren (vgl. u. a. Merry 1993, 2001; Fyfe 1998; Allen 2006; Huxley 2006). Im Bereich 91

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der städtischen Sicherheits- und Kontrollpolitiken hat etwa Davis (1990) am Beispiel von Los Angeles gezeigt, wie unerwünschte Gruppen nicht nur über Verbote und Vertreibungen von bestimmten Orten ferngehalten werden, sondern auch über die Gestaltung der räumlichen Umwelt (etwa eine Konstruktion von Bänken an Bushaltestellen, die das Hinlegen verhindern, oder über eine architektonische Ausrichtung auf den motorisierten Individualverkehr). Gegenwärtig wird diese Politik sozialer Kontrolle durch Raumproduktion in einer ausgefeilteren Variante fortgeführt. Die Perspektive der Gouvernementalität erlaubt, einzelne Maßnahmen der Stadt und auch privater Akteure wie der örtlichen Business Improvement Districts oder privater Entwickler im Hinblick auf ihre soziale Lenkungsfunktion zusammen zu denken. Dann wird sichtbar, inwieweit der Stadtentwicklung in Downtown die Strategie eines Risikomanagements durch Raumproduktion zugrunde liegt, d. h. inwieweit mittels baulicher, aber auch diskursiver Strategien ein städtischer Raum geschaffen wird, der eine spezifische konsumorientierte Nutzung des historischen Downtown Los Angeles sicherstellt (vgl. Füller und Marquardt 2008). Mit diesen zwei Erweiterungen traditioneller Governance-Konzepte bietet die Perspektive der Gouvernementalität schließlich drittens die Möglichkeit, die untersuchten Formen der Machtausübung nicht für sich alleine stehen zu lassen, sondern in ihren Wechselverhältnissen zu untersuchen. Dieser integrative Blick auf die Aspekte des Regiert-werdens ermöglicht die Identifizierung von bestimmten Mustern und Zielen dieses Regierens. So lassen sich die einzelnen „Techniken“ und „Taktiken“ des Regierens (vgl. Foucault 2000 [1978]: 66) für eine bestimmte gesellschaftliche Situation zu charakteristischen Regierungsweisen aggregieren. Für die Gegenwart lässt sich bspw. eine Dominanz indirekter Techniken der Machtausübung feststellen. Das Regieren der Gegenwart funktioniert offensichtlich nicht vornehmlich durch Gebot und Befehl, Untersagung oder Zwang, sondern in der direkten und indirekten Einwirkung auf den Bereich der möglichen Handlungen der zu Regierenden. Vielfach wird eine „neoliberale Regierungsweise“ identifiziert. Unterschiedliche Aspekte dieser vordergründig indirekten „Gouvernementalität der Gegenwart“ können konkretisiert werden: Das weite Feld der Responsibilisierung (s. o.), aber auch die Überantwortung an den privaten Markt, Regieren durch Community oder die Inflation von Risikoberechnungen. So kann etwa am Beispiel der zunehmenden Wettbewerbsorientierung von Städten und der damit verbundenen Stadtmarketingaktivitäten 92

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gezeigt werden, dass das Stadtmarketing maßgeblich auf Prozessen der Responsibilisierung (Verantwortlichmachung) von Bürger_innen beruht. Diese werden im Rahmen von Runden Tischen, Private Public Partnerships, Bürgerbeteiligungen und diversen Initiativen in Prozesse der Entscheidungsfindung und wirtschaftliche Aktivitäten integriert, die bislang durch städtische oder staatliche Organe abgedeckt wurden. Gerade in den Innenstädten, deren repräsentative Eigenschaften als maßgeblich für die Wettbewerbsfähigkeit der Städte gelten, zeigt sich das Paradigma der Konkurrenz und Anpassung an Marktmechanismen auch in der Gestaltung der gebauten Umwelt: Öffentlicher Raum dient zunehmend als Aushängeschild für Touristen und Investoren, gleichzeitig wird für die Außenwerbung „störenden“ Personengruppen wie Punkern oder Obdachlosen sowohl über Hausordnungen und Betretungsverbote als auch über subtilere Mechanismen wie mehr oder weniger ansprechend gestaltete Aufenthaltsbereiche vermittelt, dass diese nicht erwünscht sind. In beiden Fällen – Responsibilisierung und bauliche Gestaltung – wird dabei deutlich, dass die angewendeten Regierungstechniken sowohl untereinander als auch mit gesetzlichen und institutionellen Formen der Steuerung eng verknüpft sind und sich erst in der Kombination dieser Techniken der Machtausübung das Ensemble der Regierung einer Gesellschaft erschließt (vgl. Mattissek 2008).

K o n s e q u e n z e n f ü r d i e m e t h o d i s c h e An w e n d u n g In seinen späten Arbeiten schlägt Foucault somit eine spezifische Perspektive auf gesellschaftliche Phänomene vor, namentlich das Herausarbeiten ihrer Funktion in Bezug auf die Lenkung, Führung und Anordnung von Menschen, kurz die Betrachtung gesellschaftlicher Gegenstände im Hinblick auf ihre Gouvernementalität. Anders als bei anderen zentralen Begriffen wie Diskurs oder Subjekt, zu denen Foucault jeweils eigene Monographien vorgelegt hat (vgl. Foucault 1971 [1966], 1977 [1976]), konnte Foucault diese Perspektive allerdings nur noch in seinen Vorlesungen ausführen. Dieses Fehlen einer wegweisenden Monographie war nun nicht unbedingt ein Hinderungsgrund für die weitere Ausarbeitung des Forschungsprogramms Gouvernementalität. Vielleicht ist dies im Gegenteil sogar ein Umstand, der mit zu der Verbreitung der Bezugnahmen geführt hat. Während die Monographien Foucaults schnell den Status von Klassikern erhielten und entsprechend ehrfürchtig behandelt wurden, entspann sich um das Konzept Gouvernementalität insbesondere in der anglophonen Sozialwissenschaft eine angeregte Debatte. Besonders produktiv bei dieser Aneignung der Forschungsperspektive waren Soziologen_innen und Politologen_innen in Großbritan93

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nien und Australien. Angeregt vor allem durch den Band „The Foucault Effect“ (1991 von Colin Gordon und anderen herausgegeben, vgl. Burchell, Gordon und Miller 1991), formierte sich das Forschungsfeld Governmentality Studies. Angesichts der hauptsächlich posthumen Rezeption des Gouvernementalitäts-Konzepts gilt hier noch weit mehr als bei anderen Konzepten Foucaults die viel zitierte Metapher des Werkzeugkastens. Eine Metapher, die zu einem produktiven Umgang mit der Theorie auffordert, bisweilen allerdings eine zu sorglose Verwendung provoziert hat. Im letzten Teil des Beitrags möchten wir im Hinblick auf zukünftige Anwendungen daher einen in unseren Augen problematischen Aspekt der Rezeption herausstellen und mit Hinweisen für die Konzeptionalisierung empirischer Gouvernementalitäts-Analysen in der humangeographischen Forschung schließen. Der problematische Aspekt der Rezeption des Konzepts betrifft die Vermischung der beiden oben skizzierten Bedeutungsebenen. Häufig wird in der gegenwärtigen Anwendung ignoriert, dass Foucault in einem Teil der Vorlesungen nicht das analytische Konzept Gouvernementalität präzisiert, sondern Ergebnisse einer historisch-empirischen Anwendung der Forschungshypothese „Suche nach Regierungsweisen“ präsentiert. So konnte Foucault mit seiner veränderten „gouvernementalen“ Perspektive aufzeigen, dass im 16. Jahrhundert ein neuartiger Modus des Regierens seinen Ursprung genommen hatte: abgrenzbar von bisherigen souveränen oder disziplinären Regierungsstilen und charakterisiert unter anderem durch Selbstregierung, Aktivierung und Kontextsteuerung. Allerdings ist dies ein Ergebnis der Anwendung einer Forschungsperspektive, die unter dem Begriff Regierung das Zusammenspiel von Wissensformen, Machttechniken und Subjektivierungsweisen integriert. Gegenwärtige Arbeiten zur Gouvernementalität verzichten oftmals auf diese Unterscheidung, erweisen damit der empirischen Tiefenschärfe allerdings einen Bärendienst. Insbesondere im Hinblick auf zukünftige Anwendungen des Konzepts plädieren wir diesbezüglich für eine bewusste Trennung. Eine Konsequenz aus dieser oftmals unterbliebenen Trennung ist der häufig kritisierte Hang zur Generalisierung. GouvernementalitätsAnalysen, so der Vorwurf, schneiden die Empirie entsprechend vorgefertigter Erwartungen zu (vgl. u. a. Curtis 1995; O’Malley, Weir und Shearing 1997; Osborne 2001). Eine strengere analytisch-konzeptionelle Verwendung des Konzepts ist jedoch in der Lage, so möchten wir argumentieren, diese häufig erhobene Kritik zu entkräften. Die Analyse einer „neoliberalen Regierungsweise“ macht die problematische Vermischung von analytischer und historisch-empirischer Ebene anschaulich. Im Anschluss an Foucaults Differenzierung und Pe94

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riodisierung unterschiedlicher Rationalitäten des Regierens (souveräne, disziplinarische, gouvernementale Regierungsweise) identifizieren viele Anwendungen des Konzepts gegenwärtig eine neoliberale Regierungsweise, die auf ein liberales und auf ein wohlfahrtsstaatliches Regieren folge. Der anfängliche heuristische Nutzen dieser Unterscheidung wandelt sich aber mehr und mehr zu einer analytischen Schwäche (vgl. Rose, O’Malley und Valverde 2006). Häufig wird der Befund einer Periodisierung nicht bloß als Resultat einer Gouvernementalitäts-Analyse angesehen, sondern zu einem Bestandteil des analytischen Gerüsts selbst erhoben. Statt ergebnisoffen nach Techniken, Programmen und Strategien zu suchen, stehen zentrale Eckpunkte der aufzufindenden Regierungsweise, wie das „Regieren durch Community“ (vgl. Rose 1996, 2000) oder das Regieren mittels Individualisierung (vgl. Bröckling 2000, 2002; Knights und McCabe 2003), dann von Anfang an fest. Die erwartete Kontur einer „neoliberalen Regierungsweise“ wird in diesem Fall meist nur noch mit selektiven Verweisen auf die Empirie bestätigt. Die Beharrlichkeit anderen Epochen zugeordneter Machtmechanismen, ihre häufige Inanspruchnahme durch gegenwärtiges Regieren und das Nebeneinander moderner und vermeintlich überkommener Formen der Macht geraten dabei aus dem Blick. Eine produktivere Verwendung des Gouvernementalitäts-Konzepts hätte den analytischen Gehalt des Konzepts gegenüber dem historischdeskriptiven Bestandteil zu betonen. Zum Abschluss des Beitrags möchten wir einige methodische Möglichkeiten vorstellen, die dazu dienen könnten, Gouvernementalität stärker analytisch-konzeptionell zu verstehen. Allerdings müssen und werden wir enttäuschen, falls Erwartungen an eine ausgearbeitete Anleitung zur Gouvernementalitäts-Analyse geweckt wurden. Zentrales Anliegen Foucaults ist es, den Zugang zu den Kräfteverhältnissen der sozialen Welt nicht durch unnötige theoretische Vorannahmen und Generalisierung zu verstellen. Seine Konzepte entfalten ihr analytisches Potenzial erst mit dieser Haltung des „glücklichen Positivisten“ (Foucault 1973 [1969]: 182). Aus dem Bewusstsein für die Machteffekte von (quasi-)universellen Wahrheiten ergibt sich zudem folgerichtig eine Skepsis gegenüber festen Schlussregeln oder formalisierten Verfahren. Entsprechend hat sich Foucault in seinem Arbeiten mit methodischen Anleitungen bzw. Handreichungen bedeckt gehalten. Eine einheitliche Rezeptur „methodisches Vorgehen Gouvernementalitäts-Analyse“ würde den grundsätzlichen Prämissen des poststrukturalistischen und wahrheitskritischen Denkens Foucaults zuwiderlaufen. Wir beschränken uns folglich auf drei Hinweise, die uns beim Zuschnitt eigener Analysen hilfreich gewesen sind: Konzeptionell ist der besondere Machtbegriff Foucaults ernst zu nehmen, insbesondere das charakteristi95

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sche Wechselspiel von Macht und Widerstand, welches eine statische Verfestigung homogener Formen der Regierung verhindert. Die Analyse sollte darauf verzichten, nach chronologischen Entwicklungslinien zu suchen, sondern das empirische Feld als Topologie von Kräfteverhältnissen begreifen. Schließlich sind Machtverhältnisse empirisch auf die Ebene einzelner Machttechniken zurückzuverfolgen.

Zu den Hinweisen im Einzelnen Es bleibt eine Herausforderung für die empirische Anwendung einer Gouvernementalitäts-Perspektive, Machtverhältnisse in dem jeweiligen Fallbeispiel tatsächlich in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Die Suchanweisung nach übergreifenden Mustern legt es zumindest nahe, rasch solche Rationalitäten des Regierens zu konstatieren und dabei nur den passfähigen Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit von Machtwirkungen zu berücksichtigen. Dann bliebe die Analyse aber, entgegen den poststrukturalistischen Lippenbekenntnissen, latent statisch und brächte das konzeptionelle Potenzial nur bedingt zur Geltung. Foucault selbst weist in der Konzeption seiner Machttheorie der Kategorie Widerstand einen prominenten Platz zu. Widerstand ist in den Arbeiten Foucaults zwar ein zentraler Begriff,2 wird aber nicht abschließend definiert.3 Jedenfalls ist die Brüchigkeit von Machtverhältnissen und die konstitutive Rolle von Widerstand eine zwangsläufige Konsequenz aus dem produktiven Machtbegriff. Machtbeziehungen sind per Definition Effekt eines konflikthaften und von Widerständen begleiteten Prozesses der Entfaltung (vgl. Rose 2002). Widerstand ernst zu nehmen, hilft empirischer Anwendung der Gouvernementalitäts-Perspektive, die Tendenz zur Homogenisierung zu vermeiden, so unser erster methodischer Vorschlag. Insbesondere ist eine Vorstellung von Macht und Widerstand aufzugeben, die sich auch in der empirischen Gouvernementalitäts-Forschung findet: Macht wird hier als eine gefestigte Struktur begriffen und Widerstand als gelegentliche, aber zu vernachlässigende Störung. Erst vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis wird es möglich, die produktive Qualität der Machtbeziehungen richtig zu erfassen.

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So ist Widerstand bspw. ein konstitutiver Bestandteil von Macht, wie Foucault sie versteht: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ (Foucault 1977: 122). S. hierfür die Forderung Neil Brenners nach einer Klärung des Widerstandsbegriffs: „Any viable interpretation of Foucault’s theory of power must therefore attempt to define the character of resistance more precisely and substantively than Foucault himself does.“ (Brenner 1994: 696)

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„The separation of contestation from rule, together with the subordination of contestation to rule at the analytical level, leaves little space for theorizing the productive engagement between them.“ (O’Malley, Weir und Shearing 1997: 511)

Der zweite Hinweis betrifft den Rückgriff auf die Entwicklungsgeschichte des untersuchten Fallbeispiels. Hier bietet es sich im Sinne einer unbefangenen Hinwendung zu den akuten Kräfteverhältnissen an, auf eine Einordnung in langfristige Entwicklungslinien zunächst zu verzichten. So regt Foucault an, für die Analyse konkreter Machtkonstellationen in einer Gesellschaft auf eine chronologische Perspektive zu verzichten und konzeptionell konsequent an der Mikrophysik der Macht anzusetzen. Statt Machteffekte von historischen Epochen ausgehend zu generalisieren, besteht seine methodologische Revolution darin, auf die konkreten Formen der Machtausübung, auf die practices of governance zu fokussieren (vgl. Veyne 1992). „Die Genealogie-Geschichte à la Foucault erfüllt also vollständig das Programm der traditionellen Geschichte; sie ignoriert die Gesellschaft, die Ökonomie etc. nicht, aber sie strukturiert diese Materie anders: nicht nach Jahrhunderten, Völkern, Kulturen, sondern nach Praktiken.“ (Veyne 1992: 75)

Machtbeziehungen – so insistiert Foucault – lassen sich besser über die Positivität ihrer Verkettung untereinander, über ihre Anordnung und über ihre Beziehungen aufzeigen, als über eine historische Entwicklung oder das Nachvollziehen ihrer Abfolge. Einerseits finden wir in Foucaults Hauptwerken sein Augenmerk auf den verschiedenen Perioden der zeitlichen Entwicklung. Gleichzeitig plädiert Foucault aber für eine topologische (und nicht chronologische) Analyseperspektive. Ähnlich wie bei dem Spannungsfeld von Macht und Widerstand, lässt sich auch hier der Gegensatz nicht einfach in Richtung einer der beiden Seiten auflösen. In der Gouvernementalitäts-Forschung wird hingegen oft einseitig die Periodisierung, also die zeitliche Abfolge, zur Grundlage genommen – und dadurch das Problem der Übergeneralisierung und des impliziten Strukturalismus noch verstärkt. Gerade eine geographische Gouvernementalitäts-Analyse kann an dieser Stelle einen wichtigen Beitrag leisten, um auf die Heterogenitäten und Widerständigkeiten in Regierungsprogrammen aufmerksam zu machen. Denn obwohl es Formen der Regierung geben mag, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer Vielzahl gesellschaftlicher Kontexte maßgeblichen Einfluss haben (etwa heutzutage „neoliberale“ Formen der Regierung), sind die konkreten Praktiken, die innerhalb dieser Re97

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gierungsform auftreten, doch durch mannigfaltige Widersprüche, Heterogenitäten und Widerstände gekennzeichnet. Diese entstehen auch (aber natürlich nicht nur) aufgrund lokaler Aneignungsformen dieser übergreifenden Programme, die sich in konkrete lokale Kontexte und regional spezifische Praktiken einfügen und somit an verschiedenen Orten zu charakteristischen Widerständen und Brüchen führen. Ähnlich der Konzeption von Widerstand als „Katalysator“ für das bessere Auffinden von Machtverhältnissen, bietet Foucaults Machttheorie einen dritten Hinweis, der bei der Konzeption empirischer Gouvernementalitäts-Studien nützlich sein kann. Macht „existiert nur in actu, auch wenn sie sich […] auf permanente Strukturen stützt“ (Foucault 1987 [1983]: 254), daher ist sie am besten auf der Ebene der Praktiken zu untersuchen. Foucault schlägt außerdem vor, Macht nicht „von ihrer Innenseite her zu nehmen“ (Foucault 2003 [1977]: 236), d. h. nicht nach den Absichten zu fragen, die einen Machthaber motivieren, Macht auszuüben. Für die Wirkung und den Effekt einer Praktik ist es unerheblich, ob eine bewusste Überlegung zu dieser Praktik geführt hat, oder nicht. „[Es wäre] nicht nötig, die Instanz eines individuellen oder kollektiven Bewußtseins zu durchlaufen, um den Ort der Artikulation einer politischen Praxis und politischen Theorie zu erfassen; es wäre nicht nötig, zu untersuchen, in welchem Maße dieses Bewußtsein einerseits stumme Bedingungen ausdrücken und andererseits theoretischen Wahrheiten gegenüber sich empfänglich zeigen kann; man müßte nicht das psychologische Problem einer Bewußtwerdung stellen […].“ (Foucault 1973 [1969]: 277f.)

Die psychologische Frage nach den Intentionen und der individuellen Sinngebung schränkt bloß die wahrnehmbaren Effekte ein und nötigt unter anderem zu letztlich unbeantwortbaren Fragen nach der Bewusstheit/Unbewusstheit von Handlungen. Stattdessen ist es weitaus vielversprechender, so Foucault, Macht quasi von außen zu untersuchen, „da, wo sie in direkter und unmittelbarer Beziehung zu dem steht, was man ganz provisorisch ihren Gegenstand, ihre Zielscheibe, ihr Anwendungsfeld nennen kann, da, mit anderen Worten, wo sie sich einpflanzt und ihre wirklichen Effekte hervorbringt“ (Foucault 2003 [1977]: 237). Das bedeutet für die konkrete Umsetzung auf der empirischen Ebene jedoch nicht, dass die von Individuen vorgenommenen Rationalisierungen ihres eigenen Handelns nicht untersucht werden sollten. Vielmehr kann gerade eine Verbalisierung der (oftmals als selbstverständlich wahrgenommenen eigenen Praktiken und Handlungsweisen) durch Individuen, bspw. im Rahmen qualitativer Interviews, durchaus hilfreich 98

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sein, um die wirksamen „Technologien des Selbst“ und hegemonial wirksame Rationalitäten zu identifizieren. Wichtig erscheint es an dieser Stelle jedoch, nicht im Stil eines hermeneutischen oder handlungstheoretischen Paradigmas extrahieren zu wollen, wie Individuen quasi „aus sich selbst heraus“ je spezifische Zielvorstellungen und Rationalisierungen entwickeln, sondern wie die unterschiedlichen Darstellungen dieser sich zu Mustern zusammenfügen lassen, welche sich als Ergebnis der Verschränkung unterschiedlicher Formen der Machtausübung erklären lassen. Sollen jedoch eher nicht-verbale Praktiken untersucht werden, können auch Verfahren der teilnehmenden Beobachtung weiterhelfen – das Spektrum der einsetzbaren Methoden ist generell vielfältig. Um unzulässige Generalisierungen und Homogenisierungen zu vermeiden, scheint es aber wichtig, nicht nur Regierungsprogramme (Broschüren, Verlautbarungen, Gesetzestexte etc.) zu untersuchen, sondern sich methodisch der Ebene konkreter Handlungen auf der individuellen Ebene anzunähern. Machtanalyse hat somit auf dem Anwendungsfeld selbst zu erfolgen; sie hat danach zu fragen, wie Macht ausgeübt wird (und nicht etwa warum); und sie hat in Rechnung zu stellen, dass es kein Zentrum der Macht gibt. Machtverhältnisse prägen unsere Anordnung der Dinge und Wissensbestände, unsere täglichen Interaktionen und unser Selbstverständnis. Viele Gouvernementalitäts-Analysen folgen dieser Definition von Macht. Sie setzen jedoch analytisch trotzdem nicht auf dem Anwendungsfeld von Macht selbst an, sondern „vermitteln“, nämlich auf der Ebene der politischen Programme und der hier – zugegebenermaßen am einfachsten – aufzufindenden Rationalisierungen. Dies hat jedoch zur Folge, dass tendenziell vor allem die intendierten und nicht die tatsächlichen Effekte von Macht herausgearbeitet werden: „One of the prime difficulties with the ‚authorative centre‘ view of power is that it tends to be judged by its intended rather than by its actual effects.“ (Allen 2003: 157) Eine hilfreiche Metapher, um der methodischen Anweisung zu entsprechen, analytisch auf dem Anwendungsfeld anzusetzen, ist der Begriff der Technologie bzw. die Wahrnehmung von Macht in Gestalt von Machttechniken. Für das Forschungsinteresse an der Gesamtheit der Verfahren und Instanzen, in denen Macht ausgeübt wird, und nach den Mustern, in denen diese Machtrelationen in Beziehung stehen, kurz, für die Frage nach der Gouvernementalität der Gegenwart, hilft auf der Suche nach den relevanten Kräfteverhältnissen die Untersuchung von Machttechniken. Dies ist aus mehren Gründen hilfreich. Die Metapher Machttechnik lenkt den Blick auf den Funktionsaspekt von Macht. Mit 99

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der Konzeption Technik sind automatisch Fragen nach Funktionsort, Funktionsweise und Wirkung verbunden. Zum zweiten hält die Metapher den Blick offen für die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen wir in Machtverhältnisse eingespannt sind. „Regiert werden“ beinhaltet gegenwärtig zum Beispiel, im öffentlichen Raum der Überwachung ausgesetzt zu sein. „Regiert werden“ drückt sich aber auch darin aus, dass wir auf eine bestimmte Subjektivität festgelegt werden und auch aktiv einen bestimmten Lebensstil verfolgen. „[A]nalytics of government examines how forms of subjectivity, gender regimes and life styles are produced in practical terms by distinguishing a plurality of governmental technologies.“ (Lemke 2007: 49) In seinen Monographien konnte Foucault den Ertrag dieser Suchanweisung unter Beweis stellen. So gelang es ihm in „Überwachen und Strafen“ unterschiedliche Techniken aufzuzeigen, die sich auf die Disziplinierung der individuellen Körper richten: Verfahren der zeitlichen Reglementierung, hierarchische Überwachung, Prüfung. In „Der Wille zum Wissen“ zeigt Foucault, wie im 19. Jahrhundert Techniken entstehen, welche die Reproduktion der Bevölkerung als eine zu regulierende Größe begreifen und bearbeiten. Schließlich öffnet die Metapher der Machttechnik den Blick für die verschiedenen Formen, in denen Machtverhältnisse auf uns wirken. Das kann über die Institution der Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen Subjektpositionen geschehen, aber auch in dem Verfahren der Passkontrolle an der Grenze, und reicht bis zu der Architektur eines Gefängnisses. Die Metapher der Machttechnik ermöglicht es, die nichtdiskursiven Apparaturen und diskursiven Verfahren, Institutionen und Repräsentationen zusammen zu denken. „Governmental technologies denote a complex of practical mechanisms, procedures, instruments, and calculations through which authorities seek to guide and shape the conduct and decisions of others in order to achieve specific objectives.“ (Lemke 2007: 50) Statt von einer einfachen Abfolge der übergreifenden Logik des Regierens auszugehen, schlägt Foucault daher vor, „eine Geschichte der Techniken im engeren Sinne“ (Foucault 2004 [1978]: 23) zu unternehmen. Anhand einer Technik des Regierens – Foucault nennt als Beispiele die Zellentechnik oder die Verbrechensstatistik – lässt sich darstellen, wie sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise Mittel des Regierens gewesen ist. Dadurch gewinnt eine Machtanalyse an Offenheit für die Disparitäten der sozialen Welt. Die Betonung des Widerstands-Aspekts, die Hinwendung zu den Techniken im engeren Sinn und die Vermeidung epochaler Einteilungen – immer liegt das Bemühen zugrunde, die Analyse sozusagen auf den 100

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empirischen Boden zu holen. Ein solches theoretisch formuliertes, positivistisches, empiriezentriertes Programm ist allerdings nicht leicht zu befolgen. Es liegt nahe, stattdessen mithilfe der Begriffe theoriegeleitet Thesen zu entwickeln und diese anschließend zu bestätigen. Diese deduktive Blickrichtung ist allerdings oftmals problematisch, wie wir zu zeigen versucht haben. Es besteht die Gefahr übereinheitlicher, starrer und typologischer Generalisierungen. Anders angewandt, eröffnet die Perspektive der Gouvernementalität jedoch einen erneuten Blick auf die vielfältigen und teils subtilen Wirkungsorte gesellschaftlicher Machtverhältnisse und liefert einen Schlüssel zur Beantwortung nicht zuletzt humangeographischer Fragestellungen an die Funktionsweise gegenwärtiger Gesellschaft.

Exkurs: Zentrale Begriffe im Kontext des Gouvernementalitäts-Konzeptes von Foucault ANNIKA MATTISSEK Als Rationalitäten bezeichnet Foucault das relationale Bezugssystem, in dem Bedeutungen kodiert und Handlungsweisen mit normativen Wertungen aufgeladen werden. Rationalitäten schaffen Konstellationen, in denen bestimmte Handlungen nahe gelegt und andere unwahrscheinlich gemacht werden, ohne dabei einen direkt präskriptiven Charakter zu haben. Der Begriff „Rationalität“ impliziert dabei keine „transzendentale Vernunft“, sondern zunächst nur ein relatives Referenzsystem, in dessen Kontext Strategien der Wahrnehmung und Beurteilung generiert werden (vgl. Lemke 2007: 40). „Es gibt in der Tat keine ‚Praktiken‘ ohne ein bestimmtes Regime der Rationalität“ (Foucault 2005 [1982]: 33, zit. nach Lemke 2007: 41). Die Frage, wie sich bestimmte Rationalitäten in alltagspraktische Formen des Handelns und in der Wahrnehmung und Bewertung gesellschaftlicher Zusammenhänge ausdrücken, hängt maßgeblich von den verwendeten Technologien ab. Technologien bezeichnen dabei nicht etwa nur im engeren Sinne materielle Hilfsmittel (etwa im Strafrecht eine Guillotine, Gefängnisse oder Überwachungskameras), sondern allgemein die Verfahren und Techniken, die in einem bestimmten „Realitätsbereich“ zur Anwendung kommen und die das Wissen über diese „Realität“ und den praktischen Umgang mit ihr prägen (z. B. Ratgeberliteratur). Technologien leisten nicht einfach nur, im Sinne einer neutralen „Übersetzung“, die Transformation von Wissen in Handeln, sondern sie haben eine eigene Materialität und greifen selbst formend in die Rationalitäten ein, indem sie bestimmte Aspekte von „Wirklichkeit“ erst sicht- und behandelbar machen (vgl. Lemke 2007: 62). Eine zentrale Rolle spielen im Gouvernementalitäts-Konzept von Foucault Begriffe, die das übergreifende Muster bzw. das gesamte Arrangement unterschiedlicher Technologien des Regierens bezeichnen. Er spricht hier bspw. von Dispositiven oder Regierungsweisen. Dispositiv ist nach Foucault „ein entschieden heterogenes Ensemble, 101

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das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist“ (Foucault 1978: 119f.). Eine eingehende Diskussion des Dispositivbegriffs, den Foucault in seinen Schriften nicht ausentwickelt hat, findet sich bei Deleuze (1991 [1989]: 153–163). Das Dispositiv wird hier beschrieben als eine Apparatur oder eine „Maschine“ (ebd.: 154), die bestimmte Sichtbarkeits- und Aussageordnungen schafft, von Kraftlinien durchzogen ist und die Produktion von Subjektivität bestimmt. Ein Begriff, der in Foucaults Ausführungen zur Gouvernementalität keine zentrale Rolle spielt, allerdings von seinen Schülern für die Analyse politischer Rationalitäten fruchtbar gemacht wurde, ist der Begriff des Risikos. So konnte gezeigt werden, wie der Risikobegriff historisch sukzessive aus seinem ursprünglich engen versicherungsmathematischen Zusammenhang herausgelöst und schließlich zu einem zentralen Begriff gesellschaftlicher Selbstbeschreibung wurde. Im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Risikobegriffen (etwa Ulrich Becks „Risikogesellschaft“) bezeichnet „Risiko“ in dieser Perspektive aber keine objektivierbare, reale Bedrohung, deren sprunghaftes Angestiegensein sich empirisch beobachten ließe. Vielmehr ist die Definition dessen, was ein gesellschaftliches „Risiko“ darstellt und wie damit umzugehen sei, das Ergebnis spezifischer Verbindungen von Rationalitäten und Technologien. Die gesellschaftliche Definition eines Risikos hat die Funktion, gesellschaftliche Wirklichkeit zu strukturieren und beherrschbar („regierbar“) zu machen, indem es Risiken als identifizierbare, quantifizierbare und kalkulierbare Realitäten konstruiert, für die angemessene Wege des Umgangs etabliert werden müssen (vgl. Ewald 1993; Lemke 2007: 53). Es steht also die Frage im Vordergrund, mithilfe welcher Technologien und Wissensformen, nach welchen Rationalitäten welche Risiken „erkannt“ (d. h. konstruiert) und damit als sozio-politische Handlungsfelder definiert werden.

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Performativität ANKE STRÜVER, CLAUDIA WUCHERPFENNIG

E i n f ü h r u n g : P e r f o r m a t i v i t ä t a l s d i s k u r s i ve P r a x i s d e r P r o d u k t i o n v o n R e al i t ä t „Früher habe ich ‚performatorisch‘ benutzt. ‚Performativ‘ ziehe ich vor, weil es kürzer, nicht so häßlich, leichter zu handhaben und traditioneller gebildet ist.“ (AUSTIN 2002 [1962]: 27, Anm. 7)

Performativität bezieht sich im Rahmen dieses Kapitels auf den„performative turn“ als Weiterentwicklung der linguistic/semiotic/representational turns – und somit auf die Erweiterung und Re-Materialisierung des Text- und Zeichenbegriffs des so genannten cultural turn. Der Performativitäts-Ansatz zielt dabei neben der Untersuchung der sprachlichdiskursiven Konstruktion von Wirklichkeit auch auf deren soziale wie materielle („fleshy“) Konstitution, womit Performativität weniger als ein sprachliches bzw. linguistisches, sondern als ein soziales Phänomen anzusehen ist (Krämer und Stahlhut 2001: 38). In der angloamerikanischen Geographie werden performative Ansätze seit Ende der 1990erJahre diskutiert (u. a. Rose 1999; Gregson und Rose 2000; Nash 2000; Cloke, May und Johnson 2008). In jüngster Zeit haben sie auch Einzug in deutschsprachige (kultur-)geographische Debatten gehalten (s. bspw. Kutschinske 1999; Bauriedl, Fleischmann, Strüver und Wucherpfennig 2000; Schlottmann 2005; Strüver 2005b; Berndt und Boeckler 2007; Müller 2007). Die anfängliche Verwendung des Begriffs „performativ“ findet sich in den posthum veröffentlichten Vorlesungen des Sprachphilosophen John L. Austin. Deren sprachwissenschaftlicher Ertrag „wird allgemein 107

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darin gesehen, dass Austin den ,deskriptiven Fehlschluss‘ des logischen Positivismus entlarvte und den Blick darauf lenkte, dass wir durch Äußerungen in vielfältiger Weise Handlungen ausführen“ (Bohle und König 2001: 13; eigene Hervorh.). Neben diesem sprachbezogenen Performativitätsbegriff Austins gibt es eine Reihe von weiteren Performativitäts-Ansätzen, die sich größtenteils unter einem theatralen und damit im klassischen Sinne kulturellen Performanzbegriff subsumieren lassen. Dieser betont die Herstellung bzw. Ausführung sozialer Wirklichkeit durch Aufführung und versteht dabei Kultur als Inszenierung und Aufführung bzw. Theatralität als Kultur (s. bspw. Fischer-Lichte 2004; vgl. auch Bachmann-Medick 2006: 107–111, 123f.). In unserem Beitrag wird der theatrale Performanzbegriff keine weitere Berücksichtigung finden, im Zentrum steht demgegenüber die diskurstheoretische Weiterentwicklung von Austins Überlegungen insbesondere durch die Philosophin Judith Butler, welche auf die Konstituierung sozialer und materieller Phänomene durch Sprache und gesellschaftliche Bedingtheiten abzielt.

H i n f ü h r u n g : „ H ow t o d o t h i n g s w i t h w o r d s “ John L. Austins Sprechakttheorie John Longshaw Austin entwickelte seine Theorie der Sprechakte im Rahmen einer Vorlesungsreihe mit dem programmatischen Titel How to do Things with Words, die er im Jahr 1955 an der Harvard University hielt. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen der Gebrauch der Sprache (in Abgrenzung zur reinen Betrachtung des Inhalts) und die grundlegende Idee, dass mit sprachlichen Äußerungen immer auch Handlungen vollzogen werden (Austin 2002 [1962]). Hiermit setzt Austin direkt an Wittgensteins Sprachspielthese an, insbesondere an dessen Auffassung, dass die Bedeutungen von sprachlichen Äußerungen durch ihren Gebrauch entstehen (von Savigny 2002: 7; Wirth 2002: 10). Den Ausgangspunkt von Austins Sprechakttheorie bildet die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen. Während mit konstativen Äußerungen etwas festgestellt, bemerkt oder beschrieben wird (z. B. „Detlef hat geheiratet.“), zeichnen sich performative Äußerungen dadurch aus, dass mit ihnen direkt etwas getan wird: „Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar sage ,Ja‘, dann berichte ich nicht, daß ich die Ehe schließe; ich schließe sie“ (Austin 2002 [1962]: 27). In ähnlicher Weise werden Handlungen vollzogen, wenn jemand sagt: „Ich verspreche dir, dass…“, „Ich warne dich!“ oder auch „Das Büffet ist eröffnet!“. Kraft derartiger Äußerungen werden unmit108

PERFORMATIVITÄT

telbar soziale Tatsachen geschaffen; eine performative Äußerung „konstituiert, was sie konstatiert“ (Krämer und Stahlhut 2001: 37). Dementsprechend kann sie auch weder wahr noch falsch sein. So macht es einen Unterschied, ob jemand sagt: „Das Kind wurde auf den Namen Judith getauft.“ (= konstative Äußerung, die wahr oder falsch sein kann) oder ob er_sie sagt: „Ich taufe dich auf den Namen Judith.“ (= performative Äußerung, die das vollzieht, was sie sagt – und dadurch unterstützt wird, dass dem armen Wesen Wasser über den Kopf geschüttet wird). Wie wir weiter unten mit Bezug auf Judith Butler ausführen werden, wird dem Kind in diesem Rahmen nicht nur ein (Eigen-)Name und damit ein bedeutender Teil seiner personalen Identität verliehen. Vielmehr wird es (nachdem vor oder während der Geburt das Geschlecht festgestellt wurde) als Mädchen angerufen und damit als geschlechtlich bestimmtes Subjekt in die Welt geführt. – Aber zurück zu Austin: Wenn performative Äußerungen selbst weder wahr noch falsch sein können, bedeutet dies natürlich nicht, dass die damit vollzogene Handlung auch gelingt. Hierzu bedarf es gewisser Kontexte oder Gelingensbedingungen, die auf Seiten der Sprecher_innen, der Adressat_innen und/oder der institutionellen Rahmenbedingungen liegen. „Ganz allgemein gesagt, ist es immer nötig, daß die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere Handlungen vollziehen – ob nun ,körperliche‘ oder ,geistige‘ Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern.“ (Austin 2002 [1962]: 29, Hervorh. im Orig.)

So muss Austin zufolge die Äußerung (z. B. ein Versprechen) ernst bzw. ehrlich gemeint sein. Insbesondere bei konventionalen und rituellen Verfahren (Taufe, Vermählung, Vertragsabschluss…) muss das Verfahren zudem korrekt und vollständig ausgeführt werden. Weiterhin müssen die beteiligten Personen befugt bzw. zum Verfahren zugelassen sein. Andernfalls verunglückt die Handlung; sie kommt nicht zustande bzw. erweist sich als nichtig (vgl. Austin 2002 [1962]: 35ff.). Die Bedeutung performativer Äußerungen lässt sich somit „nicht mit Bezug auf ihren Wahrheitswert, sondern nur mit Bezug auf ihre Gelingensbedingungen bestimmen“ (Wirth 2002: 10). Dies bedeutet auch (und hierin liegt ein zentraler Stellenwert von Austins Sprechakttheorie): Um erkennen und erklären zu können, auf welche Weise mit Äußerungen Handlungen vollzogen werden und inwiefern dies ge- oder misslingen kann, reicht es nicht aus, sich allein auf den Satzinhalt zu konzentrieren. Vielmehr muss die Äußerung im Kontext des gesamten Sprechakts, d. h. der gesamten 109

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Situation, in der die Äußerung getätigt wird, betrachtet werden (Austin 2002 [1962]: 71). So weit, so gut – oder auch nicht. Denn ab der fünften Vorlesung beginnt Austin, sein bisheriges Theoriegerüst in sich zusammenbrechen zu lassen, indem er zeigt, dass sich kein Kriterium finden lässt, das seine ursprüngliche Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen aufrecht erhalten lässt, und diese sukzessive demontiert. Stattdessen führt er die Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Sprechakten ein, welche in jeder Äußerung zusammenwirken. Unter einem lokutionären Akt versteht Austin (2002 [1962]: 113ff.) die gesamte Handlung „etwas zu sagen“, also den Sachverhalt, dass jemand die Sprache gebraucht und bestimmte Laute von sich gibt. Ein illokutionärer Akt kommt dagegen zustande, indem jemand etwas sagt. Entscheidend ist hier die konventionale bzw. illokutionäre Rolle von Sprechakten (Ratschlag, Befehl, Frage, Wunsch, Drohung, Beschreibung etc.), die durch sprachliche und gesellschaftliche Konventionen geregelt ist und sich „auf die Handlungsdimension jeder Äußerung bezieht“ (Krämer und Stahlhut 2001: 36; eigene Hervorh.; s. Austin 2002 [1962]: 123ff.). Wird ein illokutionärer Akt im Moment der Äußerung ausgeführt, so gilt dies nicht für perlokutionäre Akte, welche vollzogen werden, dadurch dass jemand etwas sagt: „Überzeugen, Überreden, Abschrecken, […] Überraschen oder Irreführen“ (Austin 2002 [1962]: 123). Perlokutionäre Akte, die mit der Äußerung selbst nicht identisch sind, zeichnen sich also durch ein „Nachspiel“ bzw. eine Kette von (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Wirkungen, Folgen oder Effekten aus, die sie bei den Adressat_innen auslösen (Austin 2002 [1962]: 121, 131ff.); kurz: „Während illokutionäre Akte sich mittels Konvention vollziehen, vollziehen sich perlokutionäre Akte mittels Konsequenzen“ (Butler 2006 [1997]: 34).

An- und Ausschlüsse Es ist vor allem das Verständnis von performativen Akten als soziale Akte, welches Austins Sprechakttheorie und die Performativität für sozial- und kulturwissenschaftliches Arbeiten nutzbar sowie für die Diskurstheorie anschlussfähig gemacht haben. Hervorzuheben sind dabei insbesondere drei Aspekte: Wenn sich performative Akte nicht auf Sprache reduzieren lassen, sondern es die gesamte Sprechsituation ist, in der sie ihre Kraft und Wirksamkeit entfalten (können), bedeutet dies erstens, immer auch die Materialität und Körperlichkeit von Sprechakten mit in den Blick zu nehmen – eine Dimension, die im Zuge des cultural turn und der Diskurstheorie oftmals vernachlässigt wird. Zweitens muss 110

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der ritualisierte, zitierende und wiederholende Charakter von Sprechakten und deren Effekten berücksichtigt werden, der häufig selbstverständliche, mithin scheinbar natürliche Formen annimmt. Denn gerade diese Quasi-Natürlichkeit verschleiert deren Konstruktionscharakter und verleiht ihnen so ihre Wirkmächtigkeit. Insofern ist es auch wenig sinnvoll, nach klar definierbaren Anfängen oder Grenzen von performativen Akten zu suchen, vielmehr müssen diese als „kondensierte Geschichtlichkeit“ (Butler 2006 [1997]: 12) begriffen werden, die wiederum Ursache und Effekt zugleich sein kann. Zu betonen ist drittens, dass performative Akte immer auch verunglücken oder scheitern können. Erst dies eröffnet Möglichkeiten und Spielräume für Veränderung, Subversion und politische Intervention. Gemeinsam liefern diese Aspekte gewinnbringende Anknüpfungspunkte für eine macht- und herrschaftskritische Analyse von Räumen und Räumlichkeit in deren Materialität und Sozialität. Hierzu bedarf es jedoch einer grundlegenden Reformulierung respektive Dezentrierung des Subjekts, denn ähnlich wie es in theatralen Performativitätskonzepten der Fall ist, ist Austins sprechendes Subjekt als ein prädiskursives, (selbst-)bewusst und intentional handelndes konzipiert.

Durchführung: (Geschlechts-)Identität als kulturelle Performanz – Judith Butlers performative Sprechakttheorie Performanz als wiederholte Inszenierung von Normierung Wie wir oben angedeutet haben, befasst sich Judith Butler mit performativen Sprechakten – insbesondere im Hinblick auf geschlechtsspezifische Anrufungen und Subjektidentitäten. Ihre Analyse steht vor dem Hintergrund der Frage, was mit den Subjekten und der Stabilität von Identitätskategorien geschieht, wenn sie sich als ontologische Kategorien eines spezifischen Machtregimes herausstellen. Ausgehend von der Foucault’schen Diskurstheorie einerseits (s. Kap. 2 und 3) sowie der Performativität von Sprechakten (Austin) und deren Verschiebungseffekten (Derridas différance, vgl. Derrida 1976 [1967]) andererseits, sucht sie nicht nach den Ursprüngen der Kategorien Geschlecht und Geschlechtsidentität, sondern begreift sie als Effekte spezifischer Machtformationen. Butler ersetzt somit die ontologische Frage „Was ist das Subjekt?“ durch die konstruktivistische Frage „Wie wird es hergestellt und verkörpert?“. Sie geht dabei über die Feststellung hinaus, dass das Subjekt diskursiv konstituiert ist, indem sie das Augenmerk auch auf die andauernde performative Selbstarbeit lenkt, d. h. auf die Verarbeitung 111

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gesellschaftlich-hegemonialer Regulierungsmechanismen in körperlichen Verhaltensroutinen, einschließlich der performativen Selbst-Darstellung. Butler konzentriert sich auf das feministische Subjekt Frau(-en) und die Kategorie Geschlecht, die durch die herrschenden Machtstrukturen hervorgebracht und beschränkt worden sind. In diesem Zusammenhang zweifelt sie die Trennung von biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsidentität an, da die Geschlechtsidentität erstens nicht das kausale Resultat des Geschlechts sein muss und zweitens nicht etwas Starres, Unveränderliches darstellt. Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit erweisen sich indessen, ebenso wie Geschlechtsidentität, als kulturelles Produkt, und „möglicherweise ist Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen“ (Butler 1991 [1990]: 24). Aus diesem Grund sollte Geschlechtsidentität nicht als die kulturell zugeschriebene Bedeutung eines vorgegebenen anatomischen Geschlechts verstanden werden, sondern, wie auch Geschlecht selbst, als diskursives Produkt, das im Dienst hegemonialer politischer und gesellschaftlicher Interessen steht. Indem Butler von einer diskursiv erzeugten Wirklichkeit spricht, geht sie von der Sprache als Bezeichnungs- und Bedeutungspraxis sowie deren performativem Charakter aus. Performativität ist in diesem Sinne die diskursive Praxis, die die Identität(-en) eines Subjekts „real“ – und auch materiell – werden lässt. Die Subjektivitäts- und Identitätsbildung befindet sich in einem ständigen Prozess von Bestätigung oder Neudefinition des Selbst, und dieser Prozess wird durch ökonomische, politische, soziale und kulturelle Diskurspraktiken geprägt, die von den Faktoren Raum und Zeit abhängig sind. Butler gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass es keine vordiskursiven, ursprünglich existierenden Körper und Identitäten gibt, sondern dass sie Effekte bestimmter Machtformationen sind – ohne durch diese determiniert zu sein. Sie stützt sich damit auf Foucaults Ausführungen zur Biomacht und die Annahme, dass Diskurspraktiken auch die Bedeutungen des physischen Körpers und der Gefühle konstituieren, dass der Körper Austragungsort gesellschaftlicher Verteilungskämpfe und damit eine der ersten Wirkungen von Macht ist (vgl. Foucault 1977 [1976]). Dadurch wird für ihn der Körper zu einem Ort, an dem gesellschaftliche Mikro- und Makrostrukturen aufeinandertreffen. Die Biomacht als Kontrolle der Körper dient somit der Erzeugung von konformistischen Körpern und Subjekten zur Machtsicherung. Aufgrund der Unklarheiten in Bezug auf die Materialität des Körpers nimmt Butler als Teil des Performativitäts-Konzepts eine Reformulierung des Körpers vor, die folgende Aspekte umfasst: Die materiellen Wirkungen des Körpers werden als Produkt der Macht aufgefasst, so 112

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dass die regulierenden Normen von den Wirkungen nicht zu trennen sind. Das heißt: Die sich ständig wiederholende Macht der Diskurse produziert performativ diejenigen Phänomene (z. B. Körper), die sie kontrolliert. Geschlecht ist in diesem Sinne nicht etwas rein Biologisches, Gegebenes, dem die Geschlechtsidentität auferlegt ist, sondern eine kulturelle Norm, die die Materialisierung der Körper regiert. Der Prozess, durch den eine körperliche Norm angenommen wird, ist der der sprachlichen Bedeutungszuschreibung durch Subjekte und eng mit der Frage der Identifizierung verbunden (vgl. Butler 1997 [1993]: 22). Diese Reformulierung des Körpers und des Subjekts wirft die Frage nach dessen materieller Handlungsfähigkeit auf, und es kann ihr nur entgegnet werden, dass ein Verständnis von Körpern als Konstruktion sowie das Infragestellen des autonomen Vernunftsubjekts nicht deren Abschaffung oder Handlungsunfähigkeit bedeutet. Denn die „Konstruktion ist weder ein Subjekt noch dessen Handlung, sondern ein Prozeß ständigen Wiederholens, durch den sowohl ‚Subjekte‘ wie ‚Handlungen‘ überhaupt erst in Erscheinung treten. Es gibt keine Macht, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist.“ (Ebd.: 32) Vielfältige Beispiele hierfür liefert u. a. das weite Feld der räumlichen – und d. h. immer auch „geschlechtsspezifischen“ – Sozialisation: Bis vor wenigen Jahren war es in unserer Gesellschaft üblich und quasi selbstverständlich, dass Jungen „raumgreifenden“ (Freizeit-)Aktivitäten mit relativ großem Krafteinsatz nachgehen (können und sollen): Fußball spielen, Herumstreunern, Kampfsport treiben usw. Mädchen dagegen wurden – abgesehen vom Reiten – vor allem wenig expansive Aktivitäten eingeräumt, bspw. Gummitwist, Puppenspiel, Ballett oder rhythmische Sportgymnastik. Begründet wurde dies mit spezifischen Rollen und Aufgaben, die die Heranwachsenden zu erlernen haben, darüber hinaus aber auch mit der jeweiligen körperlichen Konstitution. Dass mit derartigen Praktiken unterschiedliche Raumaneignungs- und Subjektivierungsprozesse zwischen Jungen_Männern und Mädchen_Frauen einhergehen, ist aus feministischer Perspektive und der Männlichkeitsforschung vielfach kritisiert worden (vgl. Schnack und Neutzling 1990; Massey 1993; Martschukat und Stieglitz 2005; Hartmann-Tews und Rulofs 2006). In den (zugegebenermaßen etwas überspitzten) Beispielen offenbart sich aber auch der ritualisierte und wiederholende Charakter von Geschlechternormen und körperlichen Verhaltensroutinen. Gelingen derartige Praktiken, d. h. fügen sich die Subjekte in gesellschaftlich hegemoniale Vorstellungen und Normen ein, werden diese zitatförmig reproduziert und stabilisiert; sie erscheinen als normal und richtig. Wie sehr dagegen Identitätskonstruktionen und vergeschlechtlichte Selbst113

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Verständlichkeiten infrage gestellt werden und aus den Fugen geraten können, zeigen bspw. die Figuren in Spielfilmen wie „Billy Elliot“, „Mein Leben in Rosarot“, „Boys don’t cry“, „XXY“ oder auch (in utopisch-verklärter Form) „Kick it like Beckham“. In diesen filmischen Inszenierungen, die die Alltagserfahrungen Tausender Jugendlicher (und deren sozialer Umfelder) repräsentieren, artikulieren sich in sehr eindrücklicher und z. T. dramatischer Weise körperliche und emotionale „Normierungs-, Formierungs- und Disziplinierungsprozesse“ (Foucault 1976 [1975]). Körper wie auch Geschlecht erweisen sich hier als Norm und Effekt gesellschaftlicher Macht (s. auch Wucherpfennig 2010). Zugleich zeigt sich hierin, dass die Konstruktion kein einzelner Akt oder ein kausaler Prozess ist, der von einem Subjekt ausgeht und in festgelegten Wirkungen endet. Vielmehr findet Konstruktion als zeitlicher Prozess statt, der mit der laufenden Wiederholung von Normen funktioniert: „Als sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis erlangt das biologische Geschlecht [und der Körper] seinen Effekt des Naturalisierten“ (Butler 1997 [1993]: 32).

Die strategische Politik subversiver Wiederholungen als Möglichkeit des Widerstands durch Variation und Intervention In der Spezifizierung der Entstehung und Stabilisierung der „diskursiv erzeugten Wirklichkeit“ und aus ihrer Kritik an ontologischen Identitätskategorien entwickelt Butler das Konzept des Geschlechts als kulturelle Performanz. Ziel dieses Konzepts ist neben der theoretischen Erörterung der diskursiven Produktion von Geschlecht die Entwicklung von neuen Formen des politischen Handelns, das die ungelösten Widersprüche und Durchkreuzungen innerhalb von Subjektidentitäten zum Ausgangspunkt des Handelns macht. „Ohne die Einheit als Voraussetzung oder Ziel […] könnten provisorische Einheiten im Kontext der konkreten Aktionen entstehen, die andere Zwecke verfolgen, als die, Identität zu artikulieren“ (Butler 1991 [1990]: 36, eigene Hervorh.). Ausgangsüberlegung von Butlers Konzept der kulturellen Performanz bildet die Frage, worin für das innerhalb der Diskursverhältnisse hervorgebrachte Subjekt Möglichkeiten für eine wirkungsvolle Subversion liegen. Da die normierenden Identitätskategorien der wiederholten Inszenierung/Performanz derselben bedürfen, stellt die Wiederholung jeweils eine Re-Inszenierung des bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes und damit die ritualisierte Form seiner Legitimation dar. In diesem Verständnis sind Identitäts-Attribute nicht expressiv, sondern performativ, und die Identität, die sie angeblich ausdrücken, er114

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weist sich als eben durch diese Attribute konstruiert. Dies bedeutet auch, dass es weder vordiskursive, ursprünglich existierende Identitäten gibt noch richtige oder falsche – und dass subversives Handeln ohne Rückgriff auf ein autonomes, vordiskursiv-souveränes Subjekt postuliert oder durch eine Positionierung außerhalb des herrschenden Diskurses vollzogen werden kann. Dennoch begreift Butler das Subjekt als Effekt bestimmter Diskurse nicht als durch diese Diskurse determiniert: Durch die regulierende Wiederholung der gesellschaftlichen Bezeichnungsund Bedeutungskomplexe besteht für die Subjekte die Möglichkeit, innerhalb der repetitiven Verfahren die Bezeichnungen aktiv zu variieren. Ein Effekt zu sein, bedeutet daher für die Identität nicht, schicksalhaft determiniert, künstlich oder arbiträr zu sein (vgl. Butler 1991 [1990]: 213ff.). Stattdessen geht es Butler um die Entwicklung einer strategischen Politik, die durch diskursimmanente, subversive Wiederholungen lokale Möglichkeiten des Widersprechens, des Variierens und der Intervention schafft (s. u.). Butler weist in diesem Zusammenhang bspw. immer wieder auf interventionistische Praktiken im Kontext von queer bzw. drag politics hin. Dies ist auch in der (v. a. englischsprachigen) Geographie aufgegriffen und in Richtung queer spaces erweitert worden (vgl. Bell und Valentine 1995; Binnie 1997; bassda 2006). Schließlich schlägt Butler, insbesondere zum besseren Verständnis der vermeintlichen Immaterialität von diskursiv produzierten Körpern, einen alternativen Begriff von Materie vor. Während die klassische Konfiguration von Materie die eines Ortes der Erzeugung ist und als Prinzip der Entstehung und Kausalität verallgemeinert wird, versteht Butler unter Materie mehr als einen Ort oder eine Oberfläche, die von der diskursiven Produktion ausgeschlossen ist und nur das darstellt, worauf die Konstruktion einwirkt. Stattdessen begreift sie Materie als einen Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so dass sich die Wirkungen von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellen, die als Materie bekannt sind (vgl. Butler 1997 [1993]: 32, 54ff.). „Materialität bezeichnet eine bestimmte Wirkung der Macht oder ist vielmehr Macht in ihren formativen oder konstituierenden Effekten. Solange Macht erfolgreich verfährt, indem sie einen Objektbereich […] als eine für selbstverständlich gehaltene Ontologie errichtet, werden ihre materiellen Effekte als Datenmaterial oder als primäre Gegebenheiten aufgefaßt. Diese materiellen Positivitäten treten außerhalb von Diskurs und Macht in Erscheinung, und zwar als […] ihre transzendentalen Signifikate. Aber im Moment des Erscheinens ist das Macht/Diskurs-Regime am vollständigsten unkenntlich und überaus heimtückisch wirksam.“ (Ebd.: 62, Hervorh. im Orig.)

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In Anlehnung an Foucault begreift Butler daher die Produktivität der Macht als die Erzeugung von materiellen Wirkungen, z. B. Körpern. Materie wiederum erweist sich als Zeichen, das Bedeutungen inszeniert und die Wirklichkeit konstruiert – und auch in ihr interveniert. „Die Konzepte der Materie und des Körpers dekonstruieren heißt nicht, sie zu verneinen oder abzulehnen. Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe, daß man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie verschiebt bzw. aus dem Kontext heraus nimmt […] [Es geht] darum, sie aus ihrem metaphysischen Gehäuse zu befreien, um ganz unterschiedliche politische Ziele zu besetzen und zu verfolgen. Die Materie von Körpern zu problematisieren beinhaltet an erster Stelle einen Verlust epistemologischer Gewißheit, der aber nicht zwangsläufig zu politischem Nihilismus führen muß.“ (Butler 1993a: 52)

Ausgehend von dieser theoretischen Neuformulierung des Körpers und seiner Materie stellen sich nach wie vor die Fragen, wie Subjektidentitäten gesellschaftlich produziert werden, wie sie ge- und erlebt werden: Wie sich anhand von Foucault und Butler zeigen lässt, ist der Körper eine vermittelnde Instanz zwischen gesellschaftlichen Mikrostrukturen (subjektiver Identität) und Makrostrukturen (gesellschaftlichen Kategorien wie z. B. Geschlecht, Alter, Ethnizität oder Sozialstatus). Der Körper gilt damit als „Schnittstelle von Gesellschaft und Subjekt“ (Bublitz 2003: 74) bzw. als „stabilitätssicherndes Scharnier“, das zwischen (Mikro-)Konstruktionen und (Makro-)Strukturen vermittelt; er „ist Bindeglied von Struktur und Subjekt; er ist Konstituens für Sozialität und zugleich Produkt dieser Sozialität“ (Villa 2006: 27; s. auch Lindemann 1994 und Jäger 2004, die Butlers performativitätstheoretische Überlegungen zum Körper mit einer phänomenologischen Perspektive auf den Leib verknüpfen). Körperliche Identität wird durch Benennung und Anrufung geschaffen. Auf die Bedeutung der Sprache bei der gesellschaftlichen Konstitution von Körpern kommt Butler zurück, indem sie eine performative Sprechakttheorie entwickelt, deren Ausgangspunkt die normierenden Aspekte von Sprache sind. Damit schließt sie, in Auseinandersetzung mit Austin sowie mit Louis Althusser, Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida, an die Annahme an, dass der Körper nicht nur etwas rein Materielles ist, sondern die Verkörperung von durch Sprache strukturierten Normen, die die Wahrnehmung und Erfahrung beeinflussen. Denn „Identitätskategorien [haben] niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter“ (Butler 1993a: 49). Einen Namen zu erhalten, gehört nach Butler zu 116

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den Bedingungen, durch die sich das Subjekt sprachlich konstituiert und auf „seinen Platz verwiesen“ wird. „Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinne ins Dasein bringt oder ernährt. Vielmehr wird eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch ermöglicht, dass er sprachlich angerufen wird“ (Butler 1997 [1993]: 14). Die Anrufung, das „beim Namen Nennen“ wiederum ist kein rein sprachlicher Akt, sondern immer auch eine Auferlegung von Normen. Um die konstituierenden, normierenden Effekte von Sprache analysieren zu können, muss der Kontext, innerhalb dessen gesprochen wird, untersucht werden. Dieser Verweis auf den Kontext erfordert wiederum einen Rückgriff auf ein mehrdimensionales Verständnis von Macht als allgegenwärtiges, flexibles Strukturprinzip der Gesellschaft (vgl. Kap. 2 und 3). Die veränderliche Macht bestimmter Ausdrücke markiert die Performativität von Sprache, die aus (Re-)Signifizierungen besteht und weder einheitlich noch ursprünglich ist. Sprache geht somit weit über die Abbildung oder „Spiegelung“ gesellschaftlicher Verhältnisse hinaus: Sie inszeniert sowohl diese Verhältnisse als auch die Individuen. Sprache ist das Instrument der (Re-)Produktion der gesellschaftlichen Strukturen, indem sie die_den Angesprochene_n im Moment der Äußerung konstituiert (vgl. Butler 1997 [1993]: 33). Ein bereits benanntes Subjekt hat dadurch die Möglichkeit, erneut benannt zu werden und selbst andere zu benennen. In beiden Fällen ist es kein souverän handelndes und sprechendes Subjekt, sondern ein diskursiv produziertes, das den Diskurs, den es reproduziert, nicht kontrollieren kann, aber dennoch für seine sprachlichen Äußerungen verantwortlich ist (vgl. ebd.: 54f.). Im Anschluss an ihre Ausführungen zur sprachlichen Konstitution von Körpern und Subjekten entwickelt Butler Ideen für eine Politik des Performativen, die u. a. untersucht, warum die Normen, die das Sprechen beherrschen, sich im Körper einrichten (vgl. ebd.: 201ff.). Das „gesellschaftliche Leben“ eines Körpers wird, wie oben gezeigt, durch Anrufung/Benennung hergestellt, die sprachlich und produktiv zugleich ist, d. h. die Anrufung nimmt in körperlichen Stilen Form an und kann ihrerseits soziale Realität performativ herstellen. „Die Anrufung, die ein Subjekt in die Existenz ruft, d. h. gesellschaftlich performative Äußerungen, die mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind, sind für den Prozeß der Subjektbildung ebenso zentral wie der verkörperte, partizipatorische Habitus“ (Butler 1997 [1993]: 217). Von einer gesellschaftlichen Anrufung angesprochen zu werden, ist somit gleichbedeutend damit, gesellschaftlich konstruiert und normiert zu werden. Die Normen wiederum richten sich im Körper ein, da Menschen als kategorisierte Individuen erkennbar sein müssen, um überhaupt ge117

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sellschaftlich agieren zu können. (Zu territorial verorteten Identitätskonstruktionen qua Anrufung s. auch Schlottmann 2005 am Beispiel „der Ostdeutschen“.) Gleichwohl ist die körperliche Identität mehr als nur der festgelegte Effekt von Sprechakten, die sie konstituieren. Denn wenn der Körper durch die Wiederholung von Normen gebildet wird, besteht – im diskurstheoretischen Verständnis – die Möglichkeit zur Veränderung und Resignifikation. Körper und Identität nicht als natürliche, sondern als politische Kategorien aufzufassen, Körper und Identität zu prozessualisieren, eröffnet subversive Möglichkeiten insofern, als Körper und Identitäten resignifiziert und durch parodistische Wiederholungen der Bezeichnungspraxen performativ verändert werden können. Durch die Performativität wird der Sprechakt zu einem Akt des Widerstands. Voraussetzung dafür ist zum einen die Überwindung von Denkmustern, die den Körper und die Subjektidentität als etwas scheinbar Natürliches betrachten, denn erst durch den Bezeichnungsprozess entsteht der Effekt des Natürlichen, d. h. die Bezeichnung erzeugt den Effekt des a priori Bezeichneten. Zum anderen kann Widerstand nicht länger als politisches Handeln von Bewusstseinssubjekten gedacht werden, sondern als diskursimmanente Verinnerlichung und Verschiebung von Macht(-verhältnissen). Identität in diesem Sinne ist kein abstraktes theoretisches Konzept. Denn identitätsspezifische diskursive Praktiken bringen eben jene Körper hervor, über deren Identitäten angeblich nur gesprochen wird. Durch diese Perspektive kann erkannt werden, wann, wie, warum, durch wen und mit welchen Effekten Identität entsteht. Denn in der dekonstruktivistischen Perspektive existieren Identitäten nicht als Wesen außerhalb der diskursiven Formation oder vor der Repräsentation, sondern sind (wie Körper) so konstituiert, als ob sie vor der Repräsentation existieren würden. Durch die ständig erzwungene Identifikation mit idealen, normativen Vorgaben entstehen automatisch Abweichungen, „nichtnormale“, andere Identitäten. An genau dieser Stelle der unvorhersehbaren Wirkungen, der „Abweichungen“, entsteht „Handlungsfähigkeit, [die] in das impliziert ist, dem sie sich widersetzt“ (Butler 1993b: 127). Diese Form der Handlungs- und Widerstandsfähigkeit setzt voraus, dass Identitäten prozessual sind, vieldeutig, fragmentiert und widersprüchlich.

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Fort- und Ausführung: Performative Ansätze als Form der „Resozialisierung“ durch Materialisierung – Empirische Erfassbarkeit sozialer Alltagspraktiken Butlers These von der performativen Materialisierung hat zu der Frage geführt, ob Körper und Subjektivität als letzte außerdiskursive Referenz für Erfahrungen verstanden werden können. In der Theorie des dezentrierten Subjekts sind Menschen weder auf ihre Intentionen noch auf strukturelle Determinanten reduzierbar. Butler führt dies in „Psyche der Macht“ (Butler 2001 [1997]) weiter aus, indem sie darlegt, dass Voraussetzung des Menschseins einerseits die Unterwerfung von Subjekten unter die Macht ist, andererseits aber Widerstand nicht außerdiskursiv ist: „Macht, die am Körper ansetzt, ist ohne Widerstand des Körpers, der sich in unterschiedlichen Verkörperungen kundtut, nicht denkbar“ (Winter 2003: 115). Butler spricht sich damit deutlich gegen das „Trugbild der Souveränität“ des Subjekts (1998 [1997]: 29) bzw. für ein Verständnis als postsouveränes Subjekt aus (ebd.: 198), doch zugleich ist das Subjekt fähig, „sich selbst als ein ‚Ich‘ zu zitieren“ (1993a: 131) und über dieses Ich den „Status eines Wahrnehmungsobjektes“ zu erlangen (2001 [1997]: 158; s. auch den Abschnitt zum Subjekt in Kap. 2 in diesem Band). Das Konzept der Performativität leugnet also nicht die Materialität des Körpers und des körperlichen bzw. vergeschlechtlichten Subjekts, sondern lediglich die vordiskursive Materialität. Es versteht Materialität immer als Prozess der Materialisierung, der eine temporäre Fixiertheit durch performative Fremd- und Selbstbildung erreichen kann, die mehr als nur Diskurs ist. Denn Butlers Performativität ist zu verstehen als ein sich ständig wiederholender Akt – als sich wiederholende Praxis der Reiteration im Sinne Derridas. Wenn performative Ansätze – bzw. hier insbesondere das Werk Judith Butlers – in diesem Sinne als ein Versuch gesehen werden, das Materielle (des Körpers, des Handelns, von Subjektivität) zu „resozialisieren“, d. h. wieder stärker gesellschaftstheoretisch und -praktisch zu erden, dann bieten sich für eine theoretische Fort- und eine empirische Ausführung des Perfomativitätsgedankens drei zwar verschiedene, jedoch durchaus kombinierbare Perspektiven an: erstens das Konzept des „doing identity“, zweitens der Intersektionalitäts-Ansatz und drittens die insbesondere durch Nigel Thrift geprägte „Non-Representational Theory“. Im Folgenden werden wir die Anschlussfähigkeit dieser Perspektiven an Butlers Performativitätsansatz in gebotener Kürze skizzieren, um abschließend aktuelle bzw. „wegweisende“ Diskussionen aus der angloamerikanischen Geographie anzusprechen.

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Das Konzept des „doing identity“, welches in der Tradition der interaktionistischen Soziologie und Ethnomethodologie steht, wendet sich ebenfalls explizit gegen ein essenzialistisches Subjekt- und Identitätsverständnis. Für eine Fort- und Ausführung des Performativitätsansatzes eignet es sich zudem dadurch, dass es die sozialen Prozesse thematisiert, die Identitätskategorien als sozial relevante Merkmale in der Interaktion, d. h. im Rahmen von Alltagswissen und -handeln, hervorbringen (vgl. Gildemeister und Wetterer 1992; zu performativen Raumaneigungsprozessen und einem doing identity im Rahmen von Skateboarding und Streetbiken s. Müller 2007). Butlers Performativitäts-Verständnis beinhaltet auch die Idee, dass in einem Körper bzw. einem Subjekt immer mehrere kulturelle Subjektcodes aufeinander treffen und sich daraus verschiedene Konstellationseffekte ergeben (und auch verschieben) können. Dieses Aufeinandertreffen verschiedener „kultureller Codes“ bzw. Kategorien im Prozess der Subjektivierung verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Intersektionalität, das die komplexe Durchkreuzung von Identitätskategorien innerhalb von Subjekten zu erfassen vermag: Der Ansatz fordert ein Verständnis von Subjektformationen als komplexes Ineinandergreifen unterschiedlichster sozialer Identitäts- und Differenzkategorien. Es geht somit um die analytische Verbindung verschiedener machtgeladener Kategorisierungen wie Ethnizität, Geschlecht, Klasse, Alter, körperliche Verfasstheit, Religion usw., die gesellschaftliche Beziehungen hierarchisch strukturieren – und zwar um die konzeptionelle Verschränkung („Durchkreuzung“) der Kategorien, nicht um deren additive Reihung (vgl. Engel, Schulz und Wedel 2005; McCall 2005). Und es geht auch um das „verlegene ,usw.‘“ (Butler 1991 [1990]: 210), das stets der Reihung von Kategorien wie Hautfarbe, Sexualität, Ethnizität, Klasse und Gesundheit folgt, wie Butler im Rahmen ihrer Kritik an der Theorie des situierten Subjekts zu verstehen gibt. In kritischer Auseinandersetzung mit der Intersektionalitätsdebatte wurde zudem der Begriff der Interdependenzen eingeführt, um den Fokus auf wechselseitige Interaktionen anstatt auf Schnittmengen zu legen. Hier geht es weniger um die Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien als um die Konzeptualisierung der jeweiligen Kategorien als interdependent: „Durch diese integrale Perspektive [des Denkens in interdependenten Kategorien] wird die Idee der ‚Verschränkung‘ demnach radikalisiert, indem Differenzen bzw. Ungleichheiten nicht mehr zwischen (distinkt oder verwoben gedachten) Kategorien wirksam sind, sondern innerhalb einer Kategorie“ (Walgenbach 2007: 24, Hervorh. im Orig.).

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Der Intersektionalitäts-/Interdependenzen-Ansatz verfolgt insgesamt eine Perspektive, die gesellschaftliche Machtstrukturen mit individuellen Erfahrungen und Interaktionen verbindet. Bislang durchgeführte Studien konzentrieren sich allerdings primär auf die mikroanalytische Ebene (vgl. Sobiech 2004; Bruner 2005; Valentine 2007; King 2008), so dass die fehlende gesellschaftskonzentrierte Konkretisierung sowohl in der theoretischen wie auch der praktischen Dimension der Sozialstruktur kritisiert wird (Klinger 2003, 2008; Knapp 2008). Letzteres wiederum wird im Mehrebenen-Ansatz versucht, der die Identitätskonstruktionen mit Gesellschaftsstrukturen und diskursiv-kulturellen Repräsentationen in der empirischen Erforschung verbindet (vgl. Degele und Winker 2007, 2008). Dies erinnert schließlich an die Grundprinzipien der Non-Representational Theory (NRT), die sich ebenfalls mit den Praxen der verkörperten Subjektivierung sowie den sich durchkreuzenden Identitätsachsen beschäftigt (vgl. Thrift 1996, 1997; s. auch Thrift 2000; Thrift und Dewsbury 2000; Dewsbury, Harrison, Rose und Wylie 2002): Ähnlich wie bei Butler steht hier nicht „das Subjekt“ im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Prozesse und Praktiken der Subjektivierung, also die Frage, wie verkörperte Subjekte konstituiert werden und sich selbst konstituieren. NRT ist eine explizit auf (Alltags-)Praktiken ausgerichtete Theorie, die auf der Verbindung von Performativität mit verkörperten räumlichen Alltagspraktiken basiert – es handelt sich dabei nicht länger um „a project concerned with representations and meaning, but with the performative ,presentations‘, ,showings‘ and ,manifestations‘ of everyday life“ (Thrift 1997: 127). Dem liegt allerdings die Tendenz zugrunde, Diskursund Repräsentationsforschung als Widerspruch oder zumindest exklusiven Gegenpol zur empirischen Beschäftigung mit materiellen Lebensumständen und insbesondere mit der Materialität verkörperter Subjekte und deren Praktiken zu verstehen. So stellt Nigel Thrift (1996: 4) fest: „A hardly problematised sphere of representation is allowed to take precedence over lived experience and materiality, usually as a series of images or texts which a theorist contemplatively deconstructs, thus implicitly degrading practices“ (eigene Hervorh.). Die starke (Über-)Betonung der körperlichen Materialität des Alltagslebens durch die NRT kann damit aber auch als recycelter bzw. umgekehrter cartesianischer Dualismus gelesen werden, der die Materialität und die Praktiken des Körpers der Bedeutung von visuellen und textuellen Repräsentationen als (zu) positiv bzw. zu gewichtig hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Konstitutionskraft gegenüberstellt. Ein „gangbarer Weg“ liegt demgegenüber in der Verknüpfung diskurs- und repräsenta121

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tionstheoretischer Ansätze mit denen der performativen Materialisierung, von „new theoretical vocabulary of performance on the one hand and the imaginative and material geographies of cultural performativity and embodiment on the other“ (Nash 2000: 654; s. auch Gregson und Rose 2000; Jacobs und Nash 2003; Strüver 2005a). Ein derartiger „Social Re-turn“ infolge der Erweiterung des Textund Zeichenbegriffs des cultural turn lehnt in seiner Forderung nach der stärkeren Berücksichtigung von Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Ungleichheit die Diskurs- und Repräsentationstheorien nicht ab (insbesondere deren Annahmen zur Denaturalisierung und DeEssentialisierung gesellschaftlicher Subjektkategorien), leitet jedoch veränderte Konsequenzen daraus ab, nämlich die Neudefinition von Materialität (als Prozess der Materialisierung) sowie die stärkere Berücksichtigung von sozialen Ungleichheitslagen. Zu denken wäre hier z. B. an eine Art „more-than-representational“-theory im Sinne Hayden Lorimers. Dieser führte das „more-than“ anstelle der „blockierenden Folgen“ der non-represenational-theory in die britische Debatte zur Neuen Kulturgeographie ein, welche ursprünglich das „non“ dem „deadening effect“ (Lorimer 2005: 84f.) der Repräsentationstheorien entgegengestellt hatte. Hier wird „[d]as Konstruktive [des linguistic und cultural turn] […] nicht mehr nur als eine rein kognitive Aktivität des Sprechens und Denkens betrachtet, sondern unter dem Aspekt eines Fleisch und Blut gewordenen ‚Diskurses‘. Die performative Wende wäre demnach ein, wenn man so will, ‚auf die Füße gestellter‘, körperthematisch und material gewordener Konstruktivismus.“ (Boschert 2003: 285, Anm. 13)

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Diskursanal ys e als Gesellschaftsanal yse – Ideologiekritik und Kritische Diskursanal yse BERND BELINA, IRIS DZUDZEK

Einleitung In diesem Kapitel diskutieren wir Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse.1 Unser Ziel ist es, das gesellschaftskritische Potenzial der Diskursanalyse für die Geographie auszuloten. Diskurse verstehen wir als hervorgebracht durch und Momente von Gesellschaft: Den theoretischen Ausgangspunkt bildet deshalb die Analyse der Gesellschaft, die methodisch auch als Diskursanalyse vonstatten gehen kann. Im Anschluss an Überlegungen, die unseren eigenen Arbeiten zugrunde liegen, setzen wir uns mit zwei Strömungen in der Literatur auseinander. Erstens greifen wir auf Konzepte der an Marx anschließenden Ideologiekritik zurück (Marx und Engels 1969 [1845/46]; Althusser 1977 [1970]; PIT 1979; Gramsci 1991ff. [1948ff.]; Herkommer 2005), ohne die Essentialismen zu verwenden, die dieser Tradition – oft zu unrecht – unterstellt werden. Zweitens beziehen wir uns auf poststrukturalistische Diskursverständnisse (Foucault 1973 [1969], 1991 [1971], 2002 [1971], 2003a [1977], 2004 [1999]; Derrida 1974 [1967], 1976 [1972], 2001 [1971]; Laclau und Mouffe 1985; Laclau 1994; Mouffe 2005 [1993]), ohne die dort lauernden Idealismen zu reproduzieren. In unserem Verständnis ist die Tradition der Ideologiekritik mit ihrem Begriff von Gesellschaft entscheidend, weil die gesellschaftliche und politische Relevanz von Diskursen nur zu begreifen ist, wenn herausgearbeitet wird, 1

Wir danken den Herausgebern sowie Hans Gebhardt und Henning Füller für wertvolle Hinweise zu früheren Versionen dieses Kapitels. 129

BERND BELINA, IRIS DZUDZEK

aus welchen sozialen Praktiken diese hervorgehen und welche Machtverhältnisse sie stützen. Hier werden die „Was-Fragen“ beantwortet im Sinne von „Was wird diskutiert?“. Die Stärke poststrukturalistischer Diskursverständnisse sehen wir in ihrem Fokus auf die Form von Diskursen mit ihren Regeln, weshalb mit ihnen die „Wie-Fragen“ beantwortet werden können im Sinne von „Wie wird diskutiert?“. Wir behaupten nicht, in diesem kurzen Beitrag diese beiden Traditionen mit ihren zahlreichen, teilweise grundlegenden Unterschieden (vgl. Laclau 1996; Schärer 2008) irgendwie versöhnen zu können. Vielmehr geht es uns darum, aus beiden Traditionen Argumente anzuführen, dass und in welcher Hinsicht Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse zu betreiben und damit ein machtkritisches Projekt ist. Vorliegende Versuche, die unter dem Titel „Kritische Diskursanalyse“ einen ähnlichen Weg einschlagen (Link 1997; Jäger 2001; Fairclough 2002, 2005, 2007a, b; Fairclough und Wodak 2003; Wodak 2005; Wodak und Meyer 2006; Wodak und Kendall 2008), dienen uns dabei primär als Ideenquelle, die wir hier nicht en detail vorstellen. Wie in der Diskursforschung insgesamt, geht es einer Diskursforschung als Gesellschaftsforschung zunächst um Gesprochenes und Geschriebenes; anders als in vielen Varianten der Diskursforschung befasst sie sich stets mit dem Gesprochenen und Geschriebenen als Ausdruck und Mittel gesellschaftlicher/sozialer Kräfteverhältnisse, in denen sich Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse spiegeln und mittels derer diese hergestellt, stabilisiert und verändert werden können. In diesem Sinne verstehen wir Diskursanalyse nicht als reine Sprachanalyse, sondern als ein machtkritisches Projekt der Gesellschaftsforschung. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass eine so verstandene Diskursanalyse keine reine Methode ist, sondern sinnvoll nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht werden kann, von denen diese Diskurse hervorgebracht werden. Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse bietet unseres Erachtens ein großes und noch weitgehend unausgeschöpftes Potenzial, um die Rolle ideologischer Diskurse für hegemoniale Raumproduktionen und die Rolle von Raumproduktionen zur Stützung hegemonialer Diskurse herauszuarbeiten. Damit ist sie nicht nur ein geographisches und linguistisches, sondern vor allem ein zutiefst gesellschaftskritisches Projekt. Eine solche Herangehensweise setzt ein Diskursverständnis voraus, das sich von den meisten in diesem Buch vorgestellten Konzepten unterscheidet. Diskurs wird hier nicht idealistisch verstanden. Das bedeutet, dass die soziale Welt nicht auf reinen Text zu reduzieren ist, weder theoretisch – Gesellschaft ist nicht identisch mit Sprache, wie etwa Lyotard (1986 [1979]) postuliert (zur Kritik vgl. Becker 1996: 14–22) – noch 130

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methodisch – die Analyse von Sprache ist kein privilegierter Zugang zum Sozialen, wie die Praxis der Diskursanalyse nahelegt (vgl. die meisten Beiträge in Teil C in diesem Band). Diskurs wird hier vielmehr als Set von Regeln der Aussagenproduktion verstanden, das in einem dialektischen Verhältnis mit den materiellen Grundlagen räumlicher und gesellschaftlicher Produktion und (Re-)Produktion steht und damit zur Aufrechterhaltung hegemonialer gesellschaftlicher und räumlicher Ordnungen beiträgt. So verstanden wird Diskursanalyse zu einem Instrument kritischer Gesellschaftsforschung und stellt eine sinnvolle Ergänzung zu gängigen materialistischen Theorien der Raumproduktion dar, da hier explizit der Zusammenhang zwischen diskursiven und materiellen gesellschaftlichen Formen in den Blick genommen wird, die Herrschaft sowie soziale und räumliche Ungleichheiten (re-)produzieren. Das hier vorgestellte Verständnis von Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse illustrieren wir am Beispiel der gesellschaftlichen Form und des Diskurses der Nation.

Diskurse als gesellschaftliche Form In Diskursen spiegeln sich gesellschaftliche Verhältnisse, die durch soziale Praktiken produziert und reproduziert sind. D. h., die Widersprüche und Machtunterschiede, durch die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt sind, finden sich in den Diskursen in sprachlicher Form wieder. Diskurse sind in eine sprachliche Form gegossene gesellschaftliche Praktiken. Durch permanente Wiederholung verfestigen sich diese Praktiken zu Strukturen in Form von Diskursen, die so selbstverständlich werden können, dass von ihren gesellschaftlichen Ursprüngen abstrahiert wird, diese vergessen werden und als allgemeine Gesetze erscheinen. Die diskursiven Formationen sind gesellschaftliche Form neben und unter anderen, allen voran der Wert-, Staats- und Rechtsform (s. u.). Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse versucht, diese vergessene Beziehung zwischen abstrakten gesellschaftlichen und sprachlichen Formen (d. h. den Diskursen) und den konkreten gesellschaftlichen und sprachlichen Praktiken, aus denen sie entstanden sind, aufzudecken. Einer solchen Diskursanalyse geht es nicht um „Sprache“ oder „Diskurs“ an sich, sondern um Argumentationsformen, Aussagesysteme, diskursive Formationen etc., die Ausdruck je konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse sind und sich daher in der Struktur der Sprache spiegeln. Deshalb bedarf es keiner Diskurstheorie, sondern einer Theorie von Gesellschaft, die Macht und Funktion von Diskursen bei der (Re-)Produktion konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse erklären kann. Die Analyse soll die durch die Abstraktion verloren gegangene Verbindung 131

BERND BELINA, IRIS DZUDZEK

von Diskursen zu den sozialen und sprachlichen Praktiken wieder herstellen, aus denen sie hervorgegangen sind, weil auf diese Weise die Machtverhältnisse sichtbar werden, die die Diskurse strukturieren. Die Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse vermag damit die Kontingenz und historische Gewordenheit der vergessenen diskursiven und gesellschaftlichen Regeln aufzudecken und gesellschaftliche Verhältnisse infrage zu stellen. Dieses Verständnis von Diskursen als Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse sei am Beispiel des Nationendiskurses illustriert. Zu jeder Nation gehören eine Geschichte, Mythen, Traditionen und Symbole, Dinge also, die entweder in Sprache gefasst existieren oder nur durch die Bedeutung Sinn ergeben, die ihnen mittels Sprache zugeschrieben wird. Diese Diskurse lassen die Nation als etwas erscheinen, das es schon ewig gibt und dessen Gründung sich in den Mythen der Vorzeit verliert. Dabei wird vergessen gemacht, dass nationale Diskurse im heutigen Sinn erst seit der Neuzeit existieren (vgl. Hobsbawm und Ranger 1983; Anderson 1988 [1983]). In ihnen ist das soziale Verhältnis der Nation eingeschrieben, deren Kern nur zu erkennen ist, wenn das Schreiben und Sprechen über Nation in Relation zu den gesellschaftlichen Verhältnissen untersucht wird, denen es entstammt. Zu einer nationalen Geschichte oder zu nationalen Mythen werden die Diskurse, weil sie sich auf einen (existierenden, ehemaligen oder noch zu schaffenden) Nationalstaat beziehen, auf eine gesellschaftliche Form und auf ein Herrschaftsverhältnis also, zu deren ideologischer Ausstattung die genannten Diskurse gehören und das selbst als soziales Verhältnis (Poulantzas 2002) über die rein sprachliche Ebene hinausgeht und u. a. eine Währung, ein Rechtssystem (mit seinen Materialisierungen in z. B. Aktiengesellschaften und Gefängnissen), eine Armee und eine oder mehrere Polizei(-en) beinhaltet. So interessant die Untersuchung der Herstellung von nationaler Geschichte, nationalen Symbolen oder Traditionen ist, und so viel dies über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagen kann, in denen und zu deren Beherrschung diese produziert wurden, so notwendig ist es doch, sich stets zu vergegenwärtigen, dass es die Diskurse von „nationaler Geschichte“ oder „einheitlicher Nationalkultur“ sowie die damit verbundenen diskursiven Praktiken wie Traditionen oder Bräuche nur gibt, weil sie das Herrschaftsverhältnis Nationalstaat ideologisch stützen, indem sie die Unterschiede zwischen Mitgliedern einer Nation zum Schweigen bringen und die Differenzen zu den Mitgliedern anderer Nationen aufrechterhalten. Auf weitere Aspekte dieses Beispiels kommen wir im Folgenden zurück.

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DISKURSANALYSE ALS GESELLSCHAFTSANALYSE

Zum dialektischen Stützungsverhältnis diskursiver und gesellschaftlicher Praktiken und Formen Je bestimmte diskursive Praktiken konstituieren die soziale Welt und werden durch je bestimmte soziale, materielle Praktiken konstituiert. Die machtvolle, gesellschaftlich hergestellte Form, die diskursive Praktiken durch Wiederholung und Abstraktion annehmen, wird als Diskurs bezeichnet. Dabei stehen diskursive und soziale Praktiken mit den gesellschaftlichen Formen und diskursiven Formationen jeweils in einem dialektischen „Verhältnis wechselseitiger Stützung und Konditionierung“ (Foucault 2003 [1977]: 265; vgl. Abbildung 3). „[T]he discursive constitution of society does not emanate from a free play of ideas in peoples heads but from a social practice which is firmly rooted in and oriented to real, material social structures“ (Fairclough 1992: 66). Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse geht stets von den gesellschaftlichen Verhältnissen aus und sieht Diskurse als Regelsysteme zur Aufrechterhaltung bestimmter gesellschaftlicher Rationalitäten in einem System gegenseitiger Stützung. Sie fragt nach Grund, Modus und Funktion der Produktion eben dieser Regelsysteme. Bezogen auf das Beispiel des Nationen-Diskurses etwa gilt, dass einzelne, als national zu bezeichnende diskursive Praktiken in den Zusammenhang des gesellschaftlichen Verhältnisses zu stellen sind, dem sie entstammen, also dem der Nation. Wenn etwa in den Medien – im Politikteil ebenso wie in der Sportberichterstattung – oder im Alltag von „wir“ die Rede ist, wenn die Mitglieder der eigenen Nation gemeint sind (vgl. Billig 1995), ist das nur zu verstehen im Zusammenhang mit der zugleich homogenisierenden und andere ausschließenden sozialen Form der Nation als Herrschaftsverhältnis (s. u.). Im dazugehörigen Diskurs erscheinen Nationen nach innen kulturell homogen, im Gegensatz zu anderen Nationen als stark different. Diese Vorstellung der Nation aber ist nicht allein diskursiv hergestellt, bspw. durch den Rekurs auf „wir“ als „wir Deutsche“. Die Rolle des Diskurses der Nation erklärt sich erst im Zusammenhang mit materiellen sozialen Praktiken wie bspw. des rechtlich geregelten Ausschlusses (z. B. von Ausländern aus der Gemeinschaft der Deutschen) und der vielfach durch staatliche Apparate wie Schulunterricht und staatlich geförderte Hochkultur betriebenen Homogenisierung „nationaler“ Kultur und Exklusion anderer kultureller Praktiken. Die Beschreibung des Diskurses der Nation kann ohne den Rekurs auf die Funktionsweisen und Machtverhältnisse von Gesellschaft nicht verstanden werden. Das Schwenken von Fahnen, Singen von Hymnen, die Ansprache von Zeitungsleser_innen als „wir Deutsche“ 133

BERND BELINA, IRIS DZUDZEK

oder andere materielle Praktiken werden durch einen Diskurs gestützt, der der Aufrechterhaltung der machtvoll hergestellten „nationalen Einheit“ dient, der „Fremde“ und „Ausländer“ ausschließt und marginalisiert. Diskurse wie auch gesellschaftliche Verhältnisse sind – wie oben beschrieben – nicht an sich gegeben oder natürlich. Sie werden durch die permanente Wiederholung und die dabei immer wieder vollzogene Abstraktion von ihrer konkreten, praktischen Herstellung produziert und reproduziert; auf diese Weise werden diskursive und gesellschaftliche Praktiken reifiziert. Unter Reifizierung verstehen wir „the moment in the process of alienation in which the characteristic of thing-hood becomes the standard of objective reality“ (Berger und Pullberg 1965: 200, Hervorh. im Orig.), wobei Entfremdung (alienation) verstanden wird als „the process by which the unity of the producing and the product is broken“ (ebd.). Dieser Prozess der Entfremdung kann bei materiellen ebenso wie bei diskursiven Praktiken durch stetige Wiederholung und durch Abstraktion vom konkreten Produktionsprozess stattfinden. Wenn Diskursanalyse das Verhältnis von abstrakter sprachlicher Form (z. B. Nationaldiskurs) und gesellschaftlicher Form (z. B. Nationalstaat) verstehen will, dann muss sie die sozialen und sprachlichen Praktiken untersuchen, die diese Formen tagtäglich reproduzieren und bestätigen. Das bedeutet, dass sich die Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse mit der Praxis der Textproduktion auseinandersetzt, in der „the unity of the producing and the product is broken“ (Berger und Pullberg 1965: 200, Hervorh. im Orig.). Ihre Aufgabe besteht darin, die Regeln herausarbeiten, die diese konkreten Praktiken strukturieren. Erst damit wird deutlich, dass gesellschaftliche und diskursive Regeln keine auf ewig fixen Strukturen sind, sondern durch die Dynamik sozialer und sprachlicher Praxis verändert werden können – und dies auch andauernd werden. Ausgangspunkt Kritischer Diskursanalyse sind also soziale und diskursive Praktiken, durch die gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt, reproduziert und verändert werden können. Im Folgenden werden zunächst die Begriffe gesellschaftliche und diskursive Praktiken näher bestimmt, anschließend die Begriffe gesellschaftliche Form und diskursive Formation. Abschließend wird auf das machtvolle dialektische Stützungsverhältnis dieser vier Begriffe eingegangen, das mit Foucault als Gouvernementalität bezeichnet werden kann. Es ist der Schlüssel zum Verständnis der Macht ideologischer Diskurse.

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Gesellschaftliche und diskursive Praktiken Für den an Marx anschließenden historischen Materialismus ist die „menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis“ (Marx 1969 [1845]: 5, Hervorh. im Orig.) der „Kernpunkt“ (Haug 2000: 387).2 Der italienische Philosoph Antonio Gramsci (1991ff. [1948ff.]: 493, Hervorh. im Orig.) formuliert diesbezüglich in den Gefängnisheften: „das heißt Tätigkeit des Menschen (Geschichte) in concreto, das heißt angewandt auf eine bestimmte organisierte ‚Materie‘ (materielle Produktivkräfte), auf die vom Menschen umgeformte ‚Natur‘, Philosophie der Tat (Praxis), aber nicht der ‚reinen Tat‘, sondern gerade der ‚unreinen‘, das heißt wirkliche Tat im profanen Sinn des Wortes“. Weder determinieren Natur bzw. Materie die Gesellschaft (wie das etwa traditionelle Geographie oder moderne Hirnforschung behaupten), noch tun dies Sprache, Ideen oder Kommunikation, also das rein Geistige. Vielmehr ist Gesellschaft gerade das praktisch und unter anderem mittels Sprache hergestellte, dabei nie individuell, sondern stets gesellschaftlich zu begreifende Verhältnis zwischen beidem: „Praxis ist zunächst und vor allem Akt, dialektische Beziehung zwischen Natur und Mensch, Ding und Bewusstsein“ (Lefebvre 1972: 40). Um etwas über diese Gesellschaft und ihre Raumproduktionen zu erfahren, um sie zu erforschen, stellt die Analyse von Gesprochenem und Geschriebenem eine von mehreren möglichen Zugängen dar (Fairclough 2007a: 2) – eben weil Diskurse gesellschaftlich hergestellt sind, weil sie eine in Sprache gegossene, verfestigte gesellschaftliche Form voller Abstraktionen konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse sind, die als Abstraktionen in ihnen fortleben. Diskursive Praktiken gehen also aus sozialen Verhältnissen hervor, die nicht ausschließlich sprachlich sind, die aber u. a. mittels Sprache hergestellt, reproduziert und transformiert sowie in Sprache ausgedrückt werden können. Diskursive Praktiken sind Aussagen aller Art und liegen stets in sprachlicher Form vor, bspw. als Interview, Zeitungsartikel etc. Ihr Auftreten wird durch bestimmte gesellschaftliche Regeln strukturiert, durch diskursive Formationen (Foucault 1973 [1969]: 58).

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Im Folgenden werden der Begriff „Praxis“, der eher in der (neo-)marxistischen Literatur Verwendung findet, und der Begriff „Praktik“, der dem Kontext poststrukturalistischer und postkolonialer Theorie entlehnt ist, synonym verwendet. 135

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Gesellschaftliche Form und diskursive Formation – oder wie ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse in eine hegemoniale Form gebracht werden Im Folgenden werden gesellschaftliche Formen und die diskursive Formation als abstrakte Formen gesellschaftlicher und diskursiver Praktiken diskutiert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt.

Gesellschaftliche Formen Gesellschaftliche Widersprüche werden durch gesellschaftliche Formen prozessierbar gemacht. In der Analyse der Wertform hat Marx in „Das Kapital“ gezeigt, wie dies bezüglich des Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert funktioniert, und folgert: „Man sah, daß der Austauschprozeß der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen“ (Marx 1988 [1967]: 118). Analog dazu hat Paschukanis (1929) die Rechtsform untersucht und festgehalten, dass „der Streit, der Interessenszusammenstoß, [...] die Rechtsform […] [erzeugen]“ (ebd.: 69, Hervorh. im Orig.; Buckel und Fischer-Lescano 2007). Aufbauend u. a. auf Paschukanis, befasst sich die materialistische Staatstheorie mit der politischen Form des Kapitalismus, dem Staat, als der besonderen Instanz, die vermeintlich außerhalb der Einzelinteressen stehend deren Regierung organisiert und betreibt (Hirsch 2005). Das Denken in und Reden über diese grundlegenden gesellschaftlichen Formen verbleibt wegen deren „Fetischcharakter“ (Marx 1988 [1967]: 85ff.) üblicherweise an der Oberfläche, da es in „objektive[n] Gedankenformen“ (ebd.: 90) geschieht, die evident und quasi-natürlich erscheinen, also in Diskursen, in denen die gesellschaftlich und praktisch hergestellten Zusammenhänge reifiziert werden. Da gesellschaftliche Formen zugleich Resultat sozialer Praxis sind, gilt damit, dass sie „die Reproduktion der Gesellschaft hinter dem Rücken, aber mittels des Handelns der individuellen Akteure gewährleisten“ (Hirsch 2005: 40). Sie zu untersuchen erfordert Ideologiekritik i. e. S., also die Kritik von vermeintlich selbstverständlichen Annahmen über die Gesellschaft, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst erwachsen und für deren Reproduktion notwendig sind (Herkommer 2005). Für eine solche Kritik können Methoden einer Diskursanalyse hilfreich sein.

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Am Beispiel der Nation ist weiter oben betont worden, dass nationale Diskurse in der Lage sind, die gewaltsam hergestellte nationale Einheit zu stützen, indem sie die Differenzen innerhalb der Nation zum Schweigen bringen. Die „imagined community“ bzw. „vorgestellte Gemeinschaft“ (Anderson 1988 [1983]) der Nation ist eine spezifische soziale Form mit einer dazugehörigen diskursiven Formation, die gesellschaftliche Widersprüche prozessierbar macht. Dies geschieht, indem eine Unterscheidung, nämlich die zwischen den Angehörigen der Nation und den Fremden, über alle anderen Unterschiede gestellt wird. Der „Nation-Form“ (Balibar 1990 [1988]: 111) gelingt es, sich die sozial hergestellten Unterschiede zwischen Mann und Frau, Herr und Knecht, Kapital und Arbeit, hetero- und homosexuell etc. unterzuordnen, „so dass schließlich der symbolische Unterschied zwischen ‚uns‘ und ‚den Fremden‘ obsiegt und als irreduzibel erlebt wird“ (ebd.: 116).

Ideologie – eine hegemoniale diskursive Formation Der mitunter leichtfertig benutzte Begriff der „Ideologie“ kann in diesem Rahmen genauer bestimmt werden. Eine diskursive Formation ist ein Set von Regeln, das das Auftreten bestimmter Aussagen ermöglicht und regelt und andere Aussagen ausschließt. Mit ihm werden Inhalte des Sagbaren über die Form des Diskurses reguliert. „In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, dass man es hier mit einer diskursiven Formation zu tun hat […]. Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind“ (Foucault 1973 [1969]: 58, Hervorh. im Orig.). Diese Regeln, die die Praxis des Sprechens strukturieren, sind gesellschaftlich hergestellt, in ihnen zeigen sich konkrete gesellschaftliche Verhältnisse. Da Diskurse stets aus analysierbaren Gründen aus ganz bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen entstammen, werden sie stets durch bestimmte Interessen, Zwecke, Formen der Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche etc. bestimmt, die in Zusammenhang mit bestimmten Praktiken stehen. Ideologisch sind Diskurse, wenn sie als Sachzwänge, naturalisiert, neutral, evident etc. erscheinen. Dann wirken sie als „irreduzibler Teil der Wirklichkeit“ (Fairclough 2001: 336). Sie sind scheinbar unabhängig von sozialen Praktiken, können aber tatsächlich nur deren Resultat sein. Diskurse und Ideologien sind damit kein als von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt zu 137

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verstehender Überbau, sondern nur abstrakt gewordene, objektive gesellschaftliche Formen, deren Genealogie aus je konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen eine Ideologiekritik und Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse wieder „ent-decken“ muss. In der Ideologie, so Marx und Engels, erscheinen „die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt“ (Marx und Engels 1969 [1845/46]: 26). Mit dieser Metapher bezeichnen sie die scheinbare Abtrennung des Denkens von konkreter sozialer Praxis, wie sie auf einer bestimmten Stufe der Arbeitsteilung eintritt. Denn obwohl „die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins [...] unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“ (ebd.) ist, löst sie sich davon scheinbar und verselbstständigt sich. Der berühmte Satz von Marx: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx 1969 [1859]: 9), darf dabei keinesfalls mechanistisch aufgefasst werden. Entscheidend ist das Adjektiv „gesellschaftlich“. In der je konkreten Gesellschaft entstehen Ideologien entweder „als Resultat einer spezifischen Tätigkeit der Ideologen“ (PIT 1979: 10), deren Ziel darin besteht, „ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen“ (Marx und Engels 1969 [1845/46]: 47), also als willentliche Lüge zur Verschleierung existierender Machtverhältnisse; oder, wie die Fetische der sozialen Formen, „hinter dem Rücken, aber mittels des Handelns der individuellen Akteure“ (Hirsch 2005: 40) ohne deren willentliches Zutun, mit dem Resultat, die hergestellten Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern, Männern und Frauen, Arbeitern und Fabrikbesitzern etc. zu verschleiern. Die Funktion ideologischer Diskurse ist die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse trotz ihrer inhärenten Widersprüche. Ideologische Diskurse sind in der Lage, asymmetrische Machtverhältnisse zu reproduzieren und zu stabilisieren und darüber hinaus Zustimmung für diese Ungleichheit unter denjenigen herzustellen, die durch sie benachteiligt werden. Diesen Zusammenhang hat Gramsci (1991ff. [1948ff.]) als das Problem der „Hegemonie“ bezeichnet, die ihm zufolge ein freiwilliges Mittun der Unterdrückten garantiert und in der Zivilgesellschaft – verstanden als erweiterter Staat3 (vgl. Buckel und Fischer-Lescano 2007) – produziert wird. Es gilt demnach: „Staat = politische Gesell-

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Der Begriff des „erweiterten Staates“ schließt an Gramsci an, der betonte, „daß man unter dem Staat außer dem Regierungsapparat auch den ‚privaten‘ Hegemonieapparat oder Zivilgesellschaft verstehen muß“ (1991ff.: 816).

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schaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“ (Gramsci 1991ff. [1948ff.]: 783). Dieses Verständnis von Hegemonie aufnehmend, hat Louis Althusser dem Begriff „Ideologie“ eine spezifische Bedeutung gegeben. Er bezeichnet damit die Funktionsweise, durch die aus konkreten Menschen, den „Individuen“, „Subjekte“ im modernen Sinn konstituiert werden: „Die Kategorie des Subjekts ist konstitutiv für jede Ideologie. Aber gleichzeitig fügen wir unmittelbar hinzu, daß die Kategorie des Subjekts nur insofern konstitutiv für jede Ideologie ist, als jede Ideologie die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu ,konstituieren‘“ (Althusser 1977 [1970]: 140, Hervorh. im Orig.). Ideologie ist hier nicht primär das, was Individuen denken, sondern sie „existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen“ (ebd.: 137), wobei die Apparate4 Bestandteile des erweiterten Staates sind (vgl. PIT 1979: 111). Ideologie ist für Althusser mithin das Resultat der Gesamtheit der Praktiken des erweiterten Staates, der aus Individuen Subjekte macht. Diesen Mechanismus bezeichnet er als die „Anrufung des Subjekts“, den er u. a. an folgendem Beispiel illustriert: In dem Moment, in dem ein Individuum von einem Polizisten auf der Straße mit den Worten „He, Sie da!“ ‚angerufen‘ wird und sich umdreht, wird es zum Subjekt, „[w]eil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt“ (ebd.: 142f.). Das Resultat zahlloser Anrufungen sind Subjekte, die als solche also Effekte staatlicher Praktiken sind. Wenn durch Anrufungen seitens der Staatsapparate „aus der Masse der Individuen Subjekte rekrutiert [...] oder diese Individuen in Subjekte ‚transformiert‘“ (ebd.: 142) werden, ist dies ein durch und durch vermachteter Prozess: „Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung.“ (Ebd.: 148) Der Kern der Hegemonie, die auf diese Weise hergestellt wird, ist nicht direkte Herrschaft über Subjekte, sondern die Tatsache, dass diese Subjekte erst in machtvollen Praktiken konstituiert werden. Diese Vorstellung Althussers wurde und wird dafür kritisiert, dass es ihr schwer fällt zu erklären, warum sich Individuen als Subjekte anrufen lassen (Butler 2001 [1997]), was diesem Prozess etwas naturwüchsiges gibt; sie „ontologisiert die Unterwerfungserfahrung“ (Kaindl 2007: 146). Deshalb gilt es stets zu untersuchen, wie Subjekte im Sinne 4

Staatsapparate sind die institutionalisierte Form des Staates. Auf Althusser (1977 [1970]) geht die Unterscheidung zurück zwischen repressiven Staatsapparaten („die Regierung, die Verwaltung, die Armee, die Polizei, die Gerichte, die Gefängnisse usw.“; ebd.: 119), die „auf der Grundlage der Gewalt funktionier[en]“ (ebd.), und ideologischen Staatsapparaten, zu denen etwa Schulen, Parteien, Gewerkschaften, Hochkultur, Sport u. v. a. m. zählen. 139

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Althussers durch je spezifische, inhaltlich bestimmbare Anrufung – etwa als Schüler_innen, Arbeiter_innen, Delinquent_innen etc. – innerhalb der jeweiligen Herrschaftsprozesse – schulische Erziehung, Lohnarbeit, Polizeiarbeit – hergestellt werden. Der Zusammenhang von Anrufung, Diskurs und sozialen Strukturen sei erneut am Beispiel der Nation illustriert. Wie sehr die Nation zu einer hegemonialen Erzählung und damit ideologisch zur akzeptierten gesellschaftlichen Form geworden ist, wird bei dem Versuch deutlich, jenseits nationaler Homogenisierungen und Ausschlüsse zu denken und zu handeln. Dies zeigt die Situation der Gefangenen im Gefangenenlager in Guantánamo sehr eindrücklich, die als „enemy combatants“ angerufen werden, um ihnen eine Anrufung als Bürger eines Staates oder als Völkerrechtssubjekte zu verwehren. Diese Anrufungspraxis als „enemy combatant“ erlaubt es, ihnen den Status als Völkerrechts- und Staatsrechtssubjekte abzusprechen, an den das Recht auf ein Verfahren nach völkerrechtlichen oder rechtsstaatlichen Grundsätzen geknüpft ist (vgl. Gregory 2007). Das führt dazu, dass die Gefangenen weder nach nationalem Recht noch nach der Genfer Konvention behandelt werden, sondern aktiv auf das „nackte Leben“ (Agamben 2002 [1995], 2004 [2003]) reduziert werden. Gleichzeitig aber ist die Kritik an eben dieser Situation ja möglich und wird geübt: Die Häftlinge werden von den Kritiker_innen Guantánamos als Subjekte mit Namen und im Hinblick auf die Menschenrechte oder die Moral angerufen. Mit Althusser ist dies als Anrufung durch die Apparate der Menschenrechte (NGOs etc.) zu interpretieren, die sich gegen die Reduzierung der Gefangenen auf Feinde bzw. das „nackte Leben“ richtet. Warum aber diese Anrufung auf den Plan tritt und von vielen Individuen bzw. Subjekten getragen wird, kann allein mit Althussers Theorie nicht erklärt werden, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Apparate der Menschenrechte ihrerseits indirekt, insbesondere durch die UN, auf den Apparaten der Nationalstaaten basieren. Widersprüche zwischen verschiedenen Apparaten können mit Althusser und Autor_innen mit einer auf seinem Konzept der „Anrufung“ aufbauenden Theorie nicht sinnvoll thematisiert werden, nach der alle staatliche Anrufung gleichermaßen Unterwerfung bedeutet. Deshalb versteht Poulantzas (2002) den Staat in Weiterentwicklung von Althusser als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“ (ebd.: 159, Hervorh. im Orig.), deren Interessen sich in „den Apparaten entsprechender Form [kristallisieren]“ (ebd.: 162). Eine Analyse, die damit zufrieden ist festzustellen, dass Subjekte durch Praktiken und Diskurse konstruiert und damit unterworfen werden, ohne zu untersuchen, in welchen gesellschaftlichen Kontexten die Praktiken 140

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und Diskurse stattfinden und welche Interessen der Unterwerfung ihren konkreten Inhalt geben, läuft Gefahr, die „unity of the producing and the product“ (Berger und Pullberg 1965: 200, Hervorh. im Orig.) aufzubrechen, mithin das Subjekt zwar als produziertes zu behaupten, es zugleich aber durch Abstraktion vom konkreten Prozess seiner Herstellung wieder zu reifizieren. Bezogen auf das Beispiel könnte nicht erklärt werden, warum und wie das System Guantánamo von benennbaren gesellschaftlichen Kräften und Interessen in den und durch die Staatsapparate der USA geschaffen wurde. Dies wäre die Aufgabe einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse, die die Diskurse um „Sicherheit“, „Terrorismus“ und „Feinde“ und deren zeitweise Hegemonie nach 9/11 beim Umgang mit bestimmten Kriegsgefangenen im Zusammenhang mit den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA untersucht.

F o r m u n d P r a x i s – g o u ve r n e m e n t a l e Regierungstechniken zwischen Selbst- und Fremdführung In Fortführung der Ideen Althussers hat Foucault das Konzept der Gouvernementalität entwickelt. Es bezeichnet eine Regierungstechnik, die sich zugleich durch Selbst- und Fremdführung auszeichnet. Sie beschreibt konkrete Regierungspraktiken und die gesellschaftliche und diskursive Form, durch die diese Praktiken „in-formiert“ werden. Diese Art der Regierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Individuen nicht nur als Fremdzwang auferlegt wird. Es ist vielmehr eine Machtpraxis, die jeder „am Ende so verinnerlichen wird, dass er sich selbst beobachtet; jeder wird so diese Überwachung über und gegen sich selbst ausüben“ (Foucault 2003 [1977]: 260f.). Foucault geht es bei seiner Diskussion der Gouvernementalität weniger darum, was jeweils von wem und warum regiert wird, sondern wie Regierung und Führung funktionieren. Gouvernementalität meint eine „Art des Denkens [...], die fähig ist, eine Form [des Regierens] denkbar und praktizierbar zu machen, sowohl für ihre Anwender als auch für diejenigen, auf die sie angewandt wird“ (Gordon 1991: 3). Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse untersucht auf der Makroebene, wie diese Rationalitäten und Denkordnungen hergestellt werden, und auf der Mikroebene, wie sie durch soziale und sprachliche Praktiken (re-)produziert und verschoben werden und auch wie sie bis auf die Ebene des Körpers Effekte zeitigt: „Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über“ (Foucault 2003 [1977]: 298), sie werden im wahrsten Sinne des Wortes „ver-körpert“. Die Diskursanalyse untersucht, wie gouvernementale Praktiken in der Lage sind, „die Elemente der Realität wechselseitig in Gang zu set141

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zen“ (Foucault 2004 [1978]: 101): „Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen – Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden“ (Foucault 1993: 203f., zit. nach Lemke 2007: 37). Die gouvernementalen Regierungspraktiken können damit als Praktiken verstanden werden, in denen sich das dialektische Verhältnis zwischen Fremd- und Selbstführung, zwischen diskursiver Formation und gesellschaftlicher Form sowie zwischen diskursiver und gesellschaftlicher Praxis als vermachteter Prozess zeigt. Auch für den Diskurs der Nation kann auf der Makroebene mit Harris (1990) festgestellt werden, dass bis in die Sprache hinein kaum je eine politische Forderung ohne Bezug auf dieses Herrschaftsverhältnis auskommt: „Nationalism today provides the framework and language for almost all political discussion.“ (Ebd.: 269) Diese Feststellung verweist auf die Mikroebene der Selbstführung, zu der Michael Billig – ohne sie so zu nennen – schreibt: „national identity in established nations is remembered because it is embedded in routines of life, which constantly remind, or ‚flag‘, nationhood. However, these reminders, or ‚flaggings‘, are so numerous and they are such a familiar part of the social environment, that they operate mindlessly, rather than mindfully […]. The remembering, not being experienced as remembering, is, in effect, forgotten“ (1995: 38). Wie machtvoll dieser Diskurs auf der Mikroebene ist, zeigt sich am Beispiel der „Ver-Körperung“ nationaler Diskurse. Sie können so weit verinnerlicht werden, dass sie zur eigenen Natur, zu einem Teil des Selbst werden, die das eigene Handeln und die eigene Wahrnehmung strukturieren. Am wirkungsvollsten ist der Diskurs des Nationalismus immer dann, wenn er auch materiell so weit verinnerlicht ist, dass wir ihn als natürlich bzw. als Teil unserer Natur wahrhaft empfinden. Dies zeigt sich etwa in patriotischen Gefühlen, die in Fußballstadien so manche Träne hervorrufen, sobald die Nationalhymne gespielt wird. Ziel der Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse ist es, zu erklären, wie Diskurse – wie derjenige der Nation – funktionieren und woher sie kommen, indem sie die diskursive Formation als gesellschaftliche Form untersucht und die konkreten diskursiven und gesellschaftlichen Praktiken sichtbar macht, die zur Reproduktion der diskursiven Formation bei142

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tragen. Sie untersucht an dieser Stelle insbesondere das Verhältnis von Makro- und Mikroebene, von Zwangs- und Herrschaftsverhältnis und dessen Zueigenmachung.

D i s k u r s i ve P r a k t i k e n u n d d i e P r o d u k t i o n von Raum Auf der hier skizzierten theoretischen Basis kann eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse zur Untersuchung konkreter Raumproduktionen beitragen. Auch Raum wird dabei verstanden als Produkt sozialer Praxis und als Ausdruck der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse (Harvey 1973; Lefebvre 1974). Die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse ist mittels sozialer und hier vor allem diskursiver Praktiken zur Produktion von Hegemonie in vielerlei Hinsicht mit der Reproduktion sozialer und räumlicher Ungleichheit verwoben. Ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse produzieren Räume ungleicher Entwicklung (vgl. als Überblick Harvey 2007 [2006]: 74ff.; Wissen und Naumann 2008). Gleichzeitig sind sie in den vielfältigen Formen alltäglicher sozialer Praxis stets umkämpft. Bei der Produktion von Raum spielen diskursive Praktiken insbesondere dann eine Rolle, wenn sie dazu beitragen, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu reproduzieren. Dann stehen sie in einem Verhältnis wechselseitiger Stützung mit hegemonialen Raumstrukturen, die aus ihnen hervorgehen und durch sie hervorgebracht werden. Insbesondere spielen sie bei der symbolischen Aneignung und Produktion von Räumen eine zentrale Rolle. Ein Paradebeispiel hierfür ist die schon mehrfach zur Illustration herangezogene „vorgestellte politische Gemeinschaft“ der Nation (Anderson 1988 [1983]: 15), die stets „als begrenzt vorgestellt [wird], weil selbst die größte von ihnen mit vielleicht einer Milliarde Menschen in genau bestimmten, wenn auch variablen Grenzen lebt, jenseits derer andere Nationen liegen“ (ebd.: 16). Diese spezifische Art und Weise, wie Herrschaft in der Nation organisiert ist, nämlich räumlich in der Form von Herrschaft über ein klar begrenztes Territorium, ist alles andere als selbstverständlich und auch nicht die einzige räumliche Form staatlicher Machtausübung (Agnew 2005). Weil die historische Grundlage der territorial vor- und hergestellten Nation der Staat als besondere Herrschaftsform (Hirsch 2005) bildet, der die Angehörigen der Nation von den „Fremden“ durch territoriale Grenzziehung, also durch Raumproduktion scheidet, gilt, dass „die historischen Wurzeln des Nationalismus und aller anderer Formen des Zugehörigkeitsgefühls zu einem Raumausschnitt in der Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen und nach Geschlecht zu suchen [sind] sowie in der Errichtung des Staates, durch 143

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den die herrschende Klasse herrschen kann“ (Smith 2007: 65). Die moderne Nation als territoriale Entität ist ein Produkt sozialer und diskursiver Praktiken. Als soziale Form trägt sie zur Stabilisierung des Diskurses der Einheit des Nationalstaates bei. Die klar gezogenen territorialen Grenzen lassen die Nation als naturgegebene Entität erscheinen und verschleiern die Tatsache, dass sie durch soziale und diskursive Praktiken hergestellt wurde und immer wieder reaktualisiert wird.

Das kritische Potenzial der Diskursanalyse sozialer und diskursiver Praktiken Ideologien sind diskursive Formationen, die ungleiche, hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse stützen. Gefragt wird im Rahmen einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse weniger, inwiefern sich gesellschaftliche Gewaltverhältnisse in der Sprache widerspiegeln (wie es bspw. die Analyse der faschistischen Sprache durch Klemperer (2005) zeigt), sondern vielmehr, wie soziale und räumliche Ungleichheiten u. a. vermittels Sprache, vermittels der machtvollen – sprachlichen – Definition dessen, was diskutierbar, was denkbar, was wahr ist, als diskursive Praxis reproduziert und gestützt werden. Insbesondere geht es einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse darum, Brüche und gesellschaftliche Widersprüche anhand von Texten nachzuweisen und ihre verborgenen Machtverhältnisse zu entlarven. Ähnlich wie sich gesellschaftliche Verhältnisse nur durch eine Veränderung der je konkreten gesellschaftlichen Praktiken transformieren können, können sich auch Diskurse durch ständige Wiederholung verschieben, d. h. sie können ihre Bedeutung, ihren Sinn verändern. Spätestens seit den Arbeiten von Derrida (z. B. Derrida 1974 [1967], 1976 [1972], 2001 [1971]) ist bekannt, dass Repräsentationssysteme nicht fix sind, sondern Bedeutungen von Zeichen sich verschieben, sich mit der Zeit verändern können. Diese verschiebende Wiederholung nennt Derrida Iteration (vgl. Derrida 2001 [1971]). Mit der Diskursanalyse lassen sich Bedeutungsverschiebungen im Text aufspüren, die auf gesellschaftliche Veränderungen verweisen bzw. die Gewordenheit einer sprachlichen bzw. gesellschaftlichen Ordnung nachvollziehen, die Foucault die „Genealogie des Diskurses“ (Foucault 2003 [1977]: 39ff.) nennt. Das bedeutet, dass eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse neben der Infragestellung hegemonialer, evident erscheinender Diskurse auch die Bruchstellen und Verschiebungen herauszuarbeiten vermag, die ebendiese versteinerten, natürlich erscheinenden diskursiven Ordnungen zum Tanzen bringen, aufbrechen, verschieben oder infrage stellen. Dieses „zum Tanzen bringen“ natürlich erscheinender, verkrusteter, macht144

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voller diskursiver wie gesellschaftlicher Strukturen bezeichnet Derrida als Dekonstruktion: „Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zum anderen überzugehen, sondern eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an die sie geknüpft ist, umzukehren“ (Derrida 2001 [1971]: 45). Die Dekonstruktion bezeichnet also stets das Aufbrechen eines Diskurses von innen heraus, eine Wendung seiner eigenen Logik gegen sich selbst, was möglich ist, weil sich in ihm die Widersprüchlichkeit der Vergesellschaftung spiegelt. Ziel der Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse ist es, die diskursiven Regeln, die den Diskurs konstituieren und stützen, freizulegen und so für ihre Dekonstruktion zu öffnen. Das Freilegen des Diskurses als Konstruktion kann eine Schwächung der Macht bedeuten, die von ihm ausgeht. Auf diese Weise kann es geschehen, dass sich die Dekonstruktion der Diskurse „bemächtigt und sie gegen ihre eigene Herkunft wendet“ (Foucault 2002 [1971]: 185). Die Dekonstruktion zielt stets auf die „Verschiebung“ diskursiver Grenzen und damit hegemonialer gesellschaftlicher Ordnung (vgl. Laclau 1994; Mouffe 2005 [1993], 2007 [2005]). Wenn sie dabei jedoch den weiter oben beschriebenen Zusammenhang von Diskurs und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht angemessen berücksichtigt und Gesellschaft theoretisch oder in der konkreten Untersuchung auf eine rein sprachliche Ebene reduziert, liegt in dieser Form der auf fortwährende Denaturalisierung abzielenden Kritik „etwas blind Naturwüchsiges“ (Demirović 2008: 26). Denn auf der Ebene der Sprache kann jede Aussage immer und immer wieder erneut „dekonstruiert“ werden, es gibt hier keine Hinweise darauf, welche Dekonstruktion, also welche (behauptete) Bedeutungsverschiebung sinnvoll und welche Unfug ist. Die im Sommer 2006 weit verbreitete Behauptung, schwarzrot-gold hätte angesichts der allgemeinen Partystimmung nun eine ganz neue Bedeutung, vergisst, dass es um die Spiele der deutschen Mannschaft herum immer wieder zu tätlichen Angriffen auf Nicht-Deutsche kam. Auf theoretischer Ebene soll dieses Beispiel verdeutlichen, dass nur der Rückbezug des zu dekonstruierenden Diskurses auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen er entstammt, einen Maßstab für Art und Umfang der tatsächlichen Bedeutungsverschiebung liefert. Erst wenn mit der Dekonstruktion hegemonialer Diskurse auch ein Aufbrechen und eine Veränderung der verfestigten hegemonialen sozialen Praktiken einhergeht, zeigt sich das emanzipative Moment kritischer Wissenschaft. Ein Vorgehen, dessen Kritik auf der rein sprachlichen Ebene verbleibt, kann dazu beitragen, die „Verhältnisse auf einem höheren Niveau zu reproduzieren“ (ebd.: 27).

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Sprachgebrauch muss innerhalb seines s o z i a l e n K o n t e x t e s a n a l ys i e r t w e r d e n Weiter oben ist festgehalten worden, dass für eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse keine Diskurstheorie notwendig ist, sondern eine Gesellschaftstheorie, die Macht und Funktion von Diskursen erklärt. Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse untersucht Sprachgebrauch als soziale Praxis. Diskursanalyse darf sich daher nicht auf Linguistik beschränken, sondern muss „transdisziplinär“ (Fairclough 2005: 76) mit den Sozialwissenschaften und, wo es um Raumproduktionen geht, speziell der Geographie zusammenarbeiten. In letztgenannter Hinsicht muss sie das dialektische Verhältnis von Gesellschaft, Ideologie- und Diskursproduktion sowie Raumproduktion in den Blick nehmen. Daher untersucht die Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse Sprachgebrauch als soziale Praxis und fragt stets, wie diese Praxis in die Produktion und Reproduktion hegemonialer und ideologischer Strukturen verwickelt ist, d. h. wie sie zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Machtverhältnisse beiträgt. Im Kontext geographischer oder anderer auf die Produktion von Raum ausgerichteter Forschung fragt sie insbesondere nach dem Verhältnis konkreter diskursiver Praktiken und ideologischen und hegemonialen Raumproduktionen. Eine Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse kann sich aller in diesem Band vorgestellter Methoden zur Umsetzung bedienen. Wichtig im Rahmen einer Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse aber ist es, bei deren Anwendung nicht auf der Ebene der Analyse des Textkorpus stehen zu bleiben, sondern nach den je konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und Kräften zu fragen, die das Feld der Aussagen im jeweiligen Korpus strukturieren. Hierfür hoffen wir, in diesem Kapitel Argumente aus den beiden Traditionen der Ideologiekritik und des Poststrukturalismus geliefert zu haben, die den Weg für eine Diskursanalyse als machtkritische Gesellschaftsanalyse jenseits von Essentialisierungen und Idealismus ebnen und deren theoretische Begriffe in empirischen Arbeiten noch weiter auszuarbeiten und gleichzeitig enger zu bestimmen sind.

Exkurs: Kritische Diskursanalyse in Deutschland Im deutschen Kontext werden unter dem Begriff „Kritische Diskursanalyse“ diejenigen Ansätze gefasst, die im Anschluss an die Literaturwissenschaftler Jürgen Link (1978, 1997) und Siegfried Jäger (2006) im weiteren Kontext des Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) in Duisburg entstanden sind. Auch diese Richtung verfolgt einen ideologiekritischen Ansatz. Als interdisziplinäres Projekt 146

DISKURSANALYSE ALS GESELLSCHAFTSANALYSE

vereint die Kritische Diskursanalyse Ansätze aus der Psychologie, den Sozialwissenschaften und vor allem der Literaturwissenschaft. Ausgehend von der These, dass die moderne, funktional gegliederte Gesellschaft zu einer Herausbildung verschiedener Spezialdiskurse führt, die untereinander immer weniger verständlich und anschlussfähig sind, zielen Link und Jäger ihr Interesse auf so genannte Interdiskurse, die zwischen verschiedenen Spezialdiskursen vermitteln. Der literaturwissenschaftliche Fokus dieses Ansatzes zeigt sich, indem Link und Jäger Interdiskurse als vermittelnde (Kollektiv-) Symbole zwischen den Diskursen deuten (vgl. Link 1978, 1988). Sie sind gesellschaftlich bestimmt und historisch veränderbar. Symbolketten ebnen gesellschaftliche Widersprüche ein. Sie produzieren Normalität, indem sie Abweichung aus dem Diskurs verbannen. Bspw. beschreibt Link (1997) in seinem Buch „Versuch über den Normalismus“, wie es dem Mediendiskurs im Anschluss an den Fall der Berliner Mauer gelingt, einen nationalstaatlichen Normalzustand wiederherzustellen, den es so zuvor nie gegeben hat. In diesem Sinne erfüllt er eine ideologische Funktion, die die Kritische Diskursanalyse aufdecken will. Jäger setzt sich vor allem mit rechtem Gedankengut in gegenwärtigen Diskursen (vgl. Jäger 1999; Jäger und Jäger 1999; Jäger und Schobert 2000; Jäger und Jobst 2001; Jäger, Dietzsch, Kellershohn und Schobert 2004) sowie dem Mythos nationaler Identität auseinander (vgl. Jäger und Schobert 2004). In diesem Sinne bietet auch die Kritische Diskursanalyse, wie sie im deutschen Kontext diskutiert wird, vielfältige Ansatzmöglichkeiten für kritische geographische Diskursanalysen.

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Die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

Potenziale der Hegemonie- und Diskurstheorie f ü r h u m a n g e o g r a p h i s c h e Ar b e i t e n Die Hegemonie- und Diskurstheorie der Politikwissenschaftler_innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Fluchtpunkt poststrukturalistischer Theoriebildung entwickelt und hat zahlreiche empirische Arbeiten der Diskursforschung inspiriert und angeleitet (Laclau und Mouffe 1985; Laclau 1990, 2005; Mouffe 2000, 2005 [1993]; zum Überblick über die Rezeption vgl. Marchart 1998; Howarth, Norval und Stavrakakis 2000; Nonhoff 2007). Im Zentrum der Arbeiten von Laclau und Mouffe steht das Interesse, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie die damit zusammenhängenden Machtverhältnisse zu hinterfragen und in ihrer Kontingenz offen zu legen – d. h. deutlich zu machen, dass diese immer das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse und damit prinzipiell veränderlich sind. Ein Fokus der Theorie liegt auf der Frage, wie sich Identitäten diskursiv konstituieren, d. h. welche Mechanismen die Identifikation von Individuen mit bestimmten Leitbildern, Vorstellungen, Programmen und Gemeinschaften steuern. Laclau und Mouffe zufolge sind diese Mechanismen maßgeblich für die Frage, welche sozialen Grenzen gezogen werden und welche Themen in der politischen Arena verhandelt werden. Entsprechend ihrer theoretischen Verortung in poststrukturalistischen Ansätzen legen die Autoren besonderen Wert auf die Konzeptionalisierung von Brüchen und Widersprüchen innerhalb von Diskursen 153

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sowie auf – oftmals konfliktgeladene – Prozesse der Veränderung und des diskursiven Wandels. Laclau und Mouffe verfolgen dabei einen dezidiert politischen Anspruch: Die Kritik an essenzialistischen Denkschemata soll die Chance für neue emanzipatorische Praktiken eröffnen (Mouffe 2005 [1993], 2007a [2004]). Vor diesem Hintergrund lassen sich für die Anwendung des Konzeptes für humangeographische Fragestellungen und allgemein für sozialund kulturwissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Diskurs und Raum auseinandersetzen, insbesondere die beiden folgenden Schwerpunkte ausmachen: • Zum einen entwickelt die Theorie ein radikal konstruktivistisches Konzept von Identität. Humangeographische Arbeiten untersuchen in diesem Kontext, inwieweit in Identitätskonstrukten Differenzierungen von Eigenem und Fremden mit räumlichen Differenzierungen verknüpft werden, d. h. welche Ein- und Ausschlüsse vorgenommen werden und welche gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen damit produziert und reproduziert werden (und dies sowohl auf einer lokalen bspw. städtischen Maßstabsebene als auch im Bereich der internationalen Beziehungen, s. u.). • Darüber hinaus werden politische Konflikte aus einem radikal antiessenzialistischen Verständnis von Gesellschaft heraus analysierbar, in dem politische Positionen nicht als objektiv gegeben, sondern als instabile Ergebnisse diskursiver Identifizierungs- und Grenzziehungsprozesse konzeptionalisiert werden. Die Theorie stellt damit einen Rahmen zur Verfügung, um die Durchsetzung planerischer und weltanschaulicher Leitbilder, bspw. in der Raumplanung oder in der Stadtpolitik, konzeptionell zu fassen. Damit können Konflikte zwischen verschiedenen diskursiven Rahmungen herausgearbeitet sowie die Mechanismen untersucht werden, mit denen Allianzen zwischen einzelnen Positionen hergestellt werden. Insgesamt hilft die Diskurs- und Hegemonietheorie dabei, den Blick für die Ambivalenzen und Heterogenitäten zu schärfen, die innerhalb sozialer Wirklichkeiten bestehen. Im Fokus der Analyse steht also weniger die vermeintliche Homogenität von Diskursen, sondern eher deren permanente Unabschließbarkeit und Veränderlichkeit.

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DIE HEGEMONIE- UND DISKURSTHEORIE VON LACLAU UND MOUFFE

Au s g a n g s p u n k t : K r i t i k a n d e r I d e e g e g e b e n e r sozialer Strukturen Zentral für die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ist es, dass sie eine Theorie des Politischen und des Sozialen entwickeln, welche eine Konzeption politischer Auseinandersetzungen, der Konstitution von Identitäten sowie des Sozialen insgesamt leistet, ohne auf die Idee vorgängig gegebener sozialer Strukturen oder die Idee autonomer Subjekte zurückzugreifen. Vielmehr werden auch die in Konflikten involvierten politischen Akteure und ihre Interessen als Ergebnisse und nicht als Ausgangspunkte von Auseinandersetzungen konzeptionalisiert: „Political identities are not pre-given but constituted and reconstituted through debate in the public sphere. Politics, we argue, does not consist in simply registering already existing interests, but plays a crucial role in shaping political subjects“ (Laclau und Mouffe 2001: xvii). Diesen Gedanken der diskursiven Konstitution von Identitäten führen die Autor_innen insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem in marxistischen Ansätzen geprägten Konzept von „Klassensubjekten“ aus. Laclau und Mouffe zufolge sind auch der Bereich der Ökonomie und folglich auch die hieraus resultierenden ökonomischen Klassen und deren Konflikte diskursiv hergestellt. „It is not the case that the field of the economy is a self-regulated space subject to endogenous laws; nor does there exist a constitutive principle for social agents which can be fixed in an ultimate class core; nor are class positions the necessary location of historical interests“ (Laclau und Mouffe 1985: 85). Auch wenn der Ausgangspunkt von Laclau und Mouffe also strikt anti-essenzialistisch ist, d. h. ohne Vorstellungen eines ökonomischen Determinismus oder von Interessenskonflikten vordiskursiv bestehender Klassensubjekte auskommt, teilen die Autor_innen doch das Forschungsinteresse marxistischer Theorien an der Analyse und Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse und verstehen sich in diesem Sinne als postmarxistisch. Im Gegensatz zu marxistischen Ansätzen stehen dabei aber weder die Widersprüche zwischen gesellschaftlichen „Klassen“ im Vordergrund, die als bestimmt von den wirtschaftlichen Verhältnissen gedacht werden, noch die Verhältnisse zwischen den vermeintlich getrennten Feldern sozialer Wirklichkeit wie „Politik“, „Ökonomie“ und „Ideologie“. Vielmehr geht es in erster Linie darum, gerade die Bedingungen der diskursiven Konstitution dieser Kategorien und der dadurch etablierten Beziehungen aufzudecken. Ziel ist es folglich herauszuarbeiten, dass diese Kategorien nicht objektiv gegeben sind, sondern als „sedimentierte“, d. h. verfestigte, Diskurse gelesen werden können. Indem diese Kategorien problematisiert und hinterfragt werden, werden die Ka155

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tegorien als Konstruktionen erkennbar. „Sedimented theoretical categories are those which conceal the acts of their original institution, while the reactivating moment makes those acts visible again […] Instead of dealing with notions such as ,class‘, the triad of levels (the economic, the political and the ideological) or the contradictions between forces and relations of production as sedimented fetishes, we tried to revive the preconditions which make their discursive operation possible, and asked ourselves questions concerning their continuity or discontinuity in contemporary capitalism“ (Laclau und Mouffe 2001: viii). Die Theorieanlage von Laclau und Mouffe kommt also ohne die Annahme einer prädiskursiven Basis der sozialen Organisation aus. Identitäten und soziale Machtverhältnisse sind danach immer historisch spezifisch und kontingent, damit veränderbar und in diesem Sinne politisch. Kollektive Identitäten und damit Gemeinschaften („die Arbeiterklasse“, aber auch „Deutschland“, „die Arabische Welt“) entstehen demnach nicht auf der Basis objektiv gegebener gemeinsamer Eigenschaften, sondern werden erst in diskursiven Prozessen hervorgebracht. Damit sagen Laclau und Mouffe allerdings weder, dass wirtschaftliche Zusammenhänge belanglos sind, noch dass kollektive Identitäten für gesellschaftliche Prozesse unbedeutend sind. Sie machen vielmehr deutlich, dass soziale Wirklichkeit und die jeweils relevanten und machtvollen Kategorien und Relationen immer als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden müssen. Das Politische, d. h. die Akte der Entscheidung für eine bestimmte Form der Symbolisierung sozialer Wirklichkeit, ist Laclau und Mouffe zufolge maßgeblich für die Strukturierung der Gesellschaft (Laclau und Mouffe 2001: XII). Laclau formuliert das folgendermaßen: „the political is […] the anatomy of the social world, because it is the moment of the institution of the social. Not everything in society is political, because we have many sedimented forms which have blurred the traces of their original political institution …“ (Laclau 2005: 154). Im Folgenden werden zunächst die Schlüsselkonzepte und -aussagen der Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe erläutert. In einem zweiten Schritt wird dann aufgezeigt, wie dieser Ansatz genutzt werden kann, um Zusammenhänge von Diskurs, Hegemonie und Raum zu konzeptionalisieren.

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DIE HEGEMONIE- UND DISKURSTHEORIE VON LACLAU UND MOUFFE

Schlüsselkonzepte und -aussagen der Diskurs- und Hegemonietheorie Weiterführung und Präzisierung des Diskursbegriffs Laclau und Mouffe verstehen Gesellschaft als diskursiv konstituiert. Im Diskurs werden politische Identitäten und gesellschaftliche Machtverhältnisse hergestellt, die durch Prozesse der Hegemonialisierung und Sedimentierung temporär fixiert werden und dann als quasi-natürliche soziale Wirklichkeit wahrgenommen werden. Die Versuche, Bedeutungen und gesellschaftliche Verhältnisse festzuschreiben, scheitern aber letztlich immer an inhärenten Widersprüchen. Im Anschluss an Überlegungen Derridas (s. Kap. 1; Einleitung) gehen Laclau und Mouffe davon aus, dass Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können. Da aber auch Identitäten und gesellschaftliche Beziehungen in Prozessen der symbolischen Bedeutungsproduktion hergestellt werden, sind auch diese damit immer kontingent. Gesellschaftliche Strukturen können nicht auf ein unverrückbares Fundament wie eine „göttliche Ordnung“ oder das „Gesetz der Ökonomie“ zurückgeführt werden. Die Vielzahl unterschiedlicher Begründungsmuster und Sinnstrukturen, die sich in gesellschaftlichen Prozessen der Bedeutungskonstitution überlagern, sowie innerhalb einzelner Bezugssysteme bestehende Widersprüche führen dazu, dass innerhalb des Diskurses immer wieder Brüche und Ambivalenzen auftreten. Es kommt also permanent zu Situationen, in denen aufgrund der Präsenz unterschiedlicher Referenzsysteme (und der innerhalb dieser bestehenden Unstimmigkeiten) Entscheidungen und Sinnkonstruktionen mehrdeutig und widersprüchlich sind. Zur Erklärung dieser diskursiv produzierten Instabilitäten und Brüche greifen die Autor_innen den Begriff der Überdeterminierung von Althusser auf (Laclau und Mouffe 1985: 97ff.): Die soziale Wirklichkeit lässt sich danach nicht auf eine Ursache zurückführen, sondern ist immer überdeterminiert, geht also auf eine Vielzahl von untereinander verbundenen Ursachen zurück. Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixierung impliziert nach Laclau und Mouffe, dass immer neue partielle, temporäre Fixierungen möglich und notwendig werden. Die temporären Fixierungen sind die Grundlage für fortwährende Auseinandersetzungen um soziale Beziehungen und Identitäten. Die provokante These in ihrem Buch „Hegemony & Socialist Strategy“ lautet daher, dass Gesellschaft nicht existiert – in dem Sinne, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass gesellschaftliche Prozesse auf feststehende gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt werden können (Laclau und Mouffe 1985: 108ff.). 157

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Zur Konzeptionalisierung der beständigen Versuche, in dieser Situation der Überdeterminierung und Instabilität von Bedeutungen Ordnung zu schaffen, führen Laclau und Mouffe den Diskursbegriff ein: „Any discourse is constituted as an attempt […] to arrest the flow of differences.“ (Ebd.) Sie beziehen sich dabei explizit auf den Diskursbegriff in der „Archäologie des Wissens“ von Foucault (ebd.: 105). Allerdings unterscheidet sich ihr Diskurskonzept in Bezug auf dessen Reichweite von demjenigen Foucaults, denn Laclau und Mouffe gehen konsequenter als Foucault über den Bereich der Sprache hinaus1: Für die beiden Politikwissenschaftler_innen gibt es keinen dem Menschen zugänglichen Bereich des Außer- bzw. Vordiskursiven. Vielmehr sind gemäß der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe alle sozialen Beziehungen die letztlich immer fragilen und temporären Ergebnisse diskursiver Auseinandersetzungen. Die Vorstellung, dass jedes Objekt, jedes soziale Phänomen ein Objekt des Diskurses ist, muss dabei allerdings nicht bedeuten, dass es keine Welt außerhalb von Sprache und Gedanken gibt: „An earthquake or the falling of a brick is an event that certainly exists, in the sense that it occurs here and now, independently of my will. But whether their specificity as objects is constructed in terms of ,natural phenomena‘ or ,expressions of the wrath of God‘, depends upon the structuring of a discursive field. What is denied is not that such objects exist externally to thought, but the rather different the assertion that they could constitute themselves as objects outside of any discursive condition of emergence.“ (Laclau und Mouffe 1985: 108)

Laclau und Mouffe argumentieren also nicht radikalkonstruktivistisch – sie gehen nicht davon aus, dass es keine Welt jenseits der Diskurse gibt. Aber eine solche Welt wird ihrer Konzeption nach für die Menschen nur 1

Foucault unterscheidet in der „Archäologie des Wissens“ zwischen diskursiven (d. h. sprachlichen und anderen symbolischen) und nicht-diskursiven Praktiken: „Die archäologische Analyse individualisiert und beschreibt diskursive Formationen. Das heißt, sie muß sie in der Gleichzeitigkeit, in der sie sich präsentieren, konfrontieren und sie einander gegenüberstellen, sie von denen unterscheiden, die nicht dieselbe Zeitrechnung haben, sie in ihrer Spezifität mit den nicht diskursiven Praktiken in Beziehung setzen, die sie umgeben und ihnen als allgemeines Element dienen“ (Foucault 1973: 224). Allerdings ist Foucaults Positionierung zu der Frage, ob sich Sphären des Diskursiven bzw. Nicht-Diskursiven unterscheiden lassen, keineswegs eindeutig. So bemerkt er in einer Fachdiskussion mit Kollegen, auf die Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv angesprochen, es sei „kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht“ (Foucault 1978: 125, vgl. dazu ausführlicher Jäger 2006: 90ff.; Bührmann und Schneider 2008: 47f.).

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dann relevant, wenn sie diskursiv von Menschen und für Menschen mit Sinn versehen wird (s. das Beispiel mit dem Erdbeben im Zitat oben). Insofern ist die Diskurstheorie eine Gesellschaftstheorie. Der Diskursbegriff von Laclau und Mouffe umfasst dabei die Verknüpfung sowohl von sprachlichen als auch materiellen Elementen (Laclau 2005: 106). Laclau veranschaulicht dies mit der Kooperation zweier Bauarbeiter: Der eine bittet den anderen, ihm einen Ziegelstein zu reichen. Obwohl nun die Frage als sprachlich und das Herüberreichen als außersprachlich beschrieben werden können, so sind beide Praktiken doch Teil eines größeren Zusammenhangs „Hausbau“, und genau die Qualität dieser Verknüpfung in größere Zusammenhänge macht beide Praktiken zum Teil eines Diskurses (Laclau 1990: 100). Um analytisch zwischen Entitäten unterscheiden zu können, die außerhalb bzw. innerhalb des Diskurses stehen, führen Laclau und Mouffe inneralb ihrer Theorie die Differenzierung zwischen „Elementen“ und „Momenten“ ein. Als „Momente“ beschreiben sie all jene Differenzierungen, deren Bedeutungen in einem spezifischen Diskurs partiell fixiert wurden. Im „Feld der Diskursivität“ gibt es hingegen einen Überschuss an Bedeutungen. Diese Bedeutungen, welche in anderen Diskursen existierten bzw. existieren, bezeichnen sie als „Elemente“. Die Praktiken, die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, so dass deren Identität verändert wird, nennen sie „Artikulation“ 2. Auf diese Weise können sie ihren Diskursbegriff wie folgt präzisieren: „The structured totality resulting from the articulatory practice, we will call discourse.“ (Laclau und Mouffe 1985: 105) Ein Diskurs ist also der Versuch, die Bedeutung von Elementen zu fixieren und sie somit in die Momente eines Diskurses umzuwandeln. Diese Umwandlung ist allerdings niemals vollständig, und damit scheitert letztlich jede Identität: „The status of the ,elements‘ is that of floating signifiers, incapable of being wholly articulated to a discursive chain. And this floating character finally penetrates every discursive (i. e. social) identity.“ (Ebd.: 113).

Neukonzeption einer Hegemonietheorie Laclau und Mouffe greifen den Begriff der Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci auf (1991ff. [1948ff.]: GH 13 § 18). Gramsci versucht, mit dem Konzept der Hegemonie die Vorstellung ei2

In den romanischen Sprachen wie auch im Englischen wird mit dem Wort „artikulieren“ in höherem Maße als im Deutschen auch die Bedeutung „verbinden“ transportiert („durch ein Gelenk zusammenfügen“). Die deutsche Übersetzung gibt daher die Bedeutung des diskurstheoretischen Konzepts „Artikulation“ nur teilweise wieder. 159

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ner mechanistischen Determinierung des gesellschaftlichen Überbaus durch die ökonomische Basis aufzubrechen. Hegemonie ist nach Gramsci die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Gesellschaft moralisch und intellektuell zu führen, indem es der herrschenden Klasse gelingt, ihre Überzeugungen als „kollektiven Willen“ zu etablieren (ebd.; Torfing 1999: 27ff.; Demirović 2007). Nach Gramsci muss die herrschende Klasse dabei über die rein korporativ-ökonomische Solidarität, die bspw. einen Kaufmann mit einem anderen Kaufmann verbindet, hinausgehen und in einem Kompromiss zumindest auch in Teilen die Interessen der Gruppen berücksichtigen, welche die Hegemonie der herrschenden Klasse akzeptieren: „Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, […] dass also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivitäten ausübt.“ (Gramsci 1991ff. [1948ff.]: GH 13 §18)

Gramsci geht also davon aus, dass die Gesellschaft durch gegebene Klassen strukturiert ist. In seiner Perspektive bringt die Ökonomie Klassen hervor, und diese Klassen haben wahre Interessen (bspw. Gramsci 1991ff. [1948ff.]: GH 3 §90). Laclau und Mouffe kritisieren aus ihrer poststrukturalistisch informierten Perspektive daher, dass Gramsci in letzter Instanz dem ökonomischen Determinismus verpflichtet bleibt. Sie „befreien“ das Hegemoniekonzept von diesen „Resten“ eines ökonomischen Essentialismus: Hegemonie definieren sie als die Expansion eines Diskurses zu einem dominanten Horizont sozialer Orientierung. Die Entwicklung von diskursiven Auseinandersetzungen zu einer spezifischen sozialen Wirklichkeit wird in der Diskurstheorie also konzeptionalisiert als die Hegemonie eines spezifischen Diskurses, der eine „temporäre Schließung“ des Diskurses verheißt und damit eine spezifische soziale Wirklichkeit naturalisiert (dazu auch Phillips und Jørgensen 2002: 36). Die Installierung einer hegemonialen Lesart gesellschaftlicher Wirklichkeit kann Differenzen und Heterogenitäten immer nur temporär schließen, jedoch nicht dauerhaft eliminieren. Die daher permanent im Diskurs entstehenden Widersprüche und Gegensätze haben Laclau und

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Mouffe zufolge das Potenzial, als Forderungen („demands“ in der Terminologie von Laclau 2005) in Konflikten vorgebracht zu werden. Jedoch ist die Frage, welche Differenzen in politischen Auseinandersetzungen tatsächlich als zentral und gegensätzlich (antagonistisch) artikuliert werden, nicht von vornherein bestimmt. Vielmehr bilden sich immer wieder aufs Neue Koalitionen, die durch den gemeinsamen Bezug auf bestimmte Kategorien („Klasse“, „Kultur“, „Geschlecht“) als Identitäten temporär fixiert werden. In anderen Worten: die Frage, welche Gruppierungen sich in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gegenüberstehen, ist nicht von vornherein gegeben, sondern beruht auf permanenten Prozessen der Neukonfiguration von Kollektiven. Ob etwa globale politische Konflikte auf ungleiche Teilhabe an wirtschaftlicher Entwicklung, auf religiöse oder kulturelle Unterschiede oder auf postkoloniale Abhängigkeitsbeziehungen zurückgeführt werden, ist Ausdruck hegemonialer Deutungsweisen. Aufgrund der Instabilität der immer wieder neu strukturierten gesellschaftlichen Sinnstrukturen und der sich immer wieder neu etablierenden und wieder zerbrechenden Gemeinschaften scheitert letztlich jeder Versuch, eine permanente und universelle soziale Wirklichkeit zu etablieren, weil jegliche Form von Fixierung immer nur temporär bestehende Widersprüche und Heterogenitäten überdecken kann. Ereignisse, die nicht in der bestehenden Struktur verarbeitet werden können, unterminieren immer wieder die jeweils bestehenden Symbolisierungen und Verknüpfungen – Laclau und Mouffe sprechen hier von „Dislokationen“. Damit werden Situationen bezeichnet, die so neu sind, dass sie nicht aus der bestehenden sozialen Wirklichkeit heraus bearbeitet werden können, sondern radikal unentscheidbar sind und daher in einem politischen Akt entschieden werden müssen (Laclau und Mouffe 1985: 142; Laclau 1990: 39ff.). Dies bedeutet nicht, dass jederzeit alles möglich wäre, denn jeder politische Akt findet vor dem Hintergrund einer bestimmten sozialen Wirklichkeit statt, d. h. vor dem Hintergrund bestimmter sedimentierter Diskurse. Für den Erfolg eines spezifischen Diskurses ist nach Laclau entscheidend, dass er in einer gegebenen historischen Situation überhaupt zur Verfügung steht (availability) und in dieser eine glaubwürdige Lösung (credibility) zur Überwindung der Krise, d. h. der Dislokation, bietet. Je tiefgreifender die Dislokation einer Struktur ist, umso größer und tiefgreifender werden die Möglichkeiten für Reartikulationen, d. h. für neue diskursive Verknüpfungen (Laclau 1990: 39, 66). Vor dem Hintergrund diskursiver Auseinandersetzungen ist dann die Herstellung einer (neuen und letztlich wieder instabilen, weil nie alle Widersprüche vereinenden) sozialen Wirklichkeit durch einen partikularen Diskurs ein 161

GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

hegemonialer Akt. Genau hier liegt der Machteffekt diskursiver Auseinandersetzungen: denn mit der Durchsetzung eines spezifischen hegemonialen Diskurses ist immer die Unterdrückung und Marginalisierung von alternativen sozialen Wirklichkeiten verbunden.

Ein politisches Konzept von Identität Die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ermöglicht es, die Konstitution von individuellen und kollektiven Identitäten zu konzeptualisieren, ohne auf die essenzialistische Vorstellung von Wesensmerkmalen zurückgreifen zu müssen. Identität wird als ein „articulated set of elements“ (Laclau 1990: 32) konzipiert – als kontingente und temporäre Struktur, die verschiedene Elemente verbindet und auf diese Weise Einheit und Zugehörigkeit vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit sozialer Bruchlinien schafft. In „Hegemony & socialist strategy“ greifen Laclau und Mouffe zunächst das Konzept der Subjektpositionen von Louis Althusser auf (Laclau und Mouffe 1985: 114ff.). Der marxistische Philosoph hatte das Konzept der „Anrufung“ (interpellation) als Alternative zur Idee des autonomen Subjekts entworfen. In dieser Perspektive werden Individuen durch die Ideologie „angerufen“, d. h. in bestimmte Subjektpositionen platziert. Institutionen, die Althusser als ideologische Staatsapparate bezeichnet – wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie – konstruieren die Überzeugung, dass die Individuen autonom seien, indem sie definieren und „lehren“, was eine Arbeiterin, ein Fabrikbesitzer, eine Schülerin etc. ist (Althusser 1977 [1970]: 140ff.; Scharmacher 2004). Die Anrufung bezeichnet Althusser als ideologisch, da sie die wahren sozialen Beziehungen verdeckt, welche er als durch die Ökonomie bestimmt ansieht. Wie gezeigt, gibt es für Laclau und Mouffe allerdings keine „wahren sozialen Beziehungen“ und keine ökonomische Determinierung von Subjektpositionen. Sie verwerfen daher das Konzept der Ideologie, da diese in marxistischen Ansätzen mit der Vorstellung eines ökonomischen Determinismus und der Idee verbunden wird, dass die Wissenschaft ideologische Verzerrungen „demaskieren“ könne, d. h. die „tatsächlichen“ ökonomischen Verhältnisse hinter sozialen Beziehungen aufdecken könne. Die Idee des nicht-autonomen Individuums, d. h. der Subjektpositionen, greifen sie hingegen auf und rücken an die Stelle des Ideologiebegriffs den Diskursbegriff (Laclau und Mouffe 1985: 115; Laclau 1996). Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass ein Individuum von verschiedenen Diskursen, bspw. als Umweltschützerin, Mann, Christ, Französin, Schwarzer, Fußballfan etc., angerufen wird. Identität ist für Lac162

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lau und Mouffe die Identifikation mit einer diskursiv konstituierten Subjektposition. Letztlich scheitert aber jede Identifikation, weil keine Subjektposition eine vollkommene, ganze und endgültig fixierte Identität bieten kann. Die Idee des ganzen, autonomen und stabilen Subjekts interpretieren Laclau und Mouffe genauso wie die Idee einer determinierten und feststehenden Gesellschaftsstruktur als Wunsch nach einer letztlich unmöglichen Ganzheit (Laclau und Mouffe 1985: 121). In den späteren Publikationen, nach „Hegemony & socialist strategy“, vertieft v. a. Laclau die Idee des Wunschs nach Ganzheit und stabiler Identität – ein Wunsch, der zwangsläufig immer scheitert: Angeregt durch den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek setzt sich Laclau intensiver mit den Arbeiten des (post-)strukturalistischen Psychoanalytikers Jacques Lacan auseinander. Lacan geht davon aus, dass das Subjekt permanent nach Ganzheit strebt und dabei immer wieder scheitert.3 Die Subjektpositionen werden nach Lacan durch so genannte Polsterknöpfe (points de capiton) definiert. So wie die Knöpfe das Polster einer Couch fixieren, etablieren spezifische Signifikanten Äquivalenzketten und definieren damit eine Subjektposition – zumindest partiell und temporär (Stavrakakis 1999: 13ff.; Phillips und Jørgensen 2002: 42). Diese Vorstellung haben Laclau und Mouffe bereits in „Hegemony & socialist strategy“ aufgegriffen (Laclau und Mouffe 1985: 112): Privilegierte Signifikanten etablieren als „Knotenpunkte“ (nodal points) Äquivalenzketten und fixieren so Bedeutung relational. So wird bspw. im traditionellen Patriarchatsdiskurs der Knotenpunkt „Mann“ mit anderen Signifikanten wie „Stärke“, „Vernunft“, „Fußball“ etc. äquivalent gesetzt.4

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Lacan verdeutlicht seine Überlegungen am Beispiel des Kleinkindes, das sich noch nicht als eigenständiges Subjekt wahrnimmt, aber in einem Zustand der Ganzheit und des Genießens (jouissance) lebt. Das Erkennen als eigenständiges Ich beschreibt Lacan mit der Metapher des Spiegels. Während des Spiegelstadiums sieht sich das Kind erstmals ganz in einem Spiegel und erkennt sich erfreut als eigenständiges und ganzes Lebewesen. Das Subjekt erkennt sich allerdings, indem es sich mit etwas anderem, dem Bild im Spiegel, identifiziert, so dass mit dem Blick in den Spiegel gleichzeitig Identifikation und Entfremdung, d. h. das Scheitern der vollständigen Identität, einhergehen (Lacan 1973; Stavrakakis 1999: 17f.). Mit dem Eintritt in die Welt der „Bilder“ und allgemein der Bedeutungsstrukturen (des Symbolischen) tritt das Kind also gleichzeitig aus dem Zustand der Ganzheit und verliert den Zugang zum absoluten Genießen. Das letztlich immer scheiternde Streben nach Ganzheit und der Zugang zum absoluten Genießen (jouissance) wird bestimmend für die Existenz des Subjekts. Subjekte sind danach in der Diskurstheorie insofern auch diskursive Elemente, als dass sie ihre Identität immer aus der Relationierung im Diskurs erfahren: „Individuen erscheinen immer als mit Sinn versehene, differente 163

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Charakteristisch für Identitätsbildungsprozesse ist es nun, dass durch den gemeinsamen Bezug auf privilegierte Signifikanten auch gleichzeitig eine Abgrenzung nach außen konstituiert wird. Dieses Außen wird dabei als dasjenige konstruiert, welches die eigene Identität gefährdet und folglich aus ihr ausgeschlossen werden muss. Gleichzeitig ist es auf paradoxe Weise die Existenzbedingung jeder Identität.5 Laclau spricht mit Bezug auf Derrida von dem „constitutive outside“ (Laclau 1990: 9, 17). Die gemeinsame Identität wird also erst durch den gemeinsamen Antagonismus gegenüber einem radikal anderen Außen hergestellt. Auf der anderen Seite blockiert das Außen aber auch die volle Ausbildung jeglicher Identität, indem es die Kontingenz dieser Identität zeigt – denn ohne den gemeinsamen Bezug auf ein Außen gäbe es keine universelle Gemeinsamkeit zwischen den so vereinten Elementen (ebd.: 21). In Anschluss an Lacan (1973 [1966]) und Žižek (1998 [1990]) lässt sich die Rolle dieses ausgeschlossenen Außen als Ausdruck der Unmöglichkeit der endgültigen Schließung der eigenen Identität interpretieren. Der in jeder Identität angelegte Mangel, das nie vollständig zu stillende Bedürfnis, ein geschlossenes und ganzes „ich“ oder „wir“ zu werden, wird auf ein Außen, auf einen antagonistischen Gegner projiziert. Die diskursiv konstituierte Gemeinschaft kann nicht aufhören, gegen ihr Anderes anzukämpfen bzw. sich immer wieder neue Andere zu suchen, da im Moment des Stillstands und des „Sieges über den Anderen“ auch die Gemeinschaft zerfallen würde – schließlich hält diese nichts zusammen, als ihr gemeinsamer Gegner, ein Paradoxon, das die Diskursproduktion ständig in Bewegung hält. Damit kommt es zu einer antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Feldes. Diese antagonistische Zweiteilung ist allerdings nicht als Konflikt zweier Akteure zu interpretieren, die aus einer Art außerdiskursiven bzw. außersozialen Adlerposition analysiert werden könnte. Die antagonistische Zweiteilung ergibt sich immer nur aus einer spezifischen Perspektive, wird in dieser Form also sozusagen nur „von einer Seite“ artikuliert (Nonhoff 2006: 221ff.; Laclau 2007 [2006]: 30f.). Charakteristisch für Identitätsbildungsprozesse entlang antagonistischer Grenzen sind die komplementären Logiken der Differenz und der

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und spezifische Individuen, und damit erst in Diskursen als Subjekte“ (Nonhoff 2006: 156). Laclau veranschaulicht dieses Argument mit der Konstitution verschiedener Regionen von Marokko über Indien bis nach China – als eine einzige Weltregion um den Knotenpunkt „Orient“. Eine Konstitution, die nur möglich wird, weil „Orient“ dabei gleichbedeutend mit der Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ ist: „Orient“ ist also gleich „Nicht-Westen“ (Laclau 1990: 32).

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Äquivalenz. Ausgangspunkt sind Forderungen oder demands, die keine essenziellen Gemeinsamkeiten besitzen, d. h. nicht über einen gemeinsamen Wesenskern verfügen. Ihre Gemeinsamkeit, das, was sie als Gemeinschaft auszeichnet, besteht in ihrer Abgrenzung nach außen. Diese Beziehung bezeichnen Laclau und Mouffe als Äquivalenz: Partikularinteressen schließen sich zu Äquivalenzketten zusammen. Die einzelnen Elemente einer kollektiven Identität sind also different insofern, als sie nicht über objektiv vorhandene gemeinsame Merkmale verfügen, und sie sind äquivalent, weil sie sich durch die gleiche Abgrenzung nach außen definieren. Die Abgrenzung nach außen – und damit gleichzeitig die kollektive Identität – wird durch einen spezifischen Signifikanten, einen „Knotenpunkt“ in der Terminologie von Lacan, repräsentiert. Dieser Signifikant muss, um die Gemeinschaft als solche repräsentieren zu können, weitgehend von einer spezifischen Bedeutung entleert sein, da er sonst ja wieder in eine Differenzbeziehung treten würde und keine Äquivalenzbeziehung herstellen könne. Laclau und Mouffe bezeichnen diesen Knotenpunkt als leeren Signifikanten. Er repräsentiert die vollkommene, aber letztlich unmögliche Identität einer Gemeinschaft. Leere Signifikanten repräsentieren gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedener Elemente und verknüpfen diese damit in einen diskursiven Zusammenhang. Je größer die Menge der Elemente innerhalb eines solchen Zusammenhangs, desto kleiner wird deren gemeinsamer Nenner und desto unspezifischer muss auch der leere Signifikant werden – daher die Bezeichnung leerer Signifikant. Mit der Verkörperung einer Vielzahl von Elementen nach außen geht also zwangsläufig eine Sinnentleerung des Vertreters einher (s. Abbildung 3). Der leere bzw. entleerte Signifikant befindet sich also in einer ambivalenten Rolle: Auf der einen Seite repräsentiert er eine Kette disperser Elemente und auf der anderen Seite wird der Signifikant damit weitgehend bedeutungsleer. Die Frage, welche Signifikanten zu einem bestimmten Zeitpunkt als leere Signifikanten funktionieren und wie diese (immer wieder) mit Bedeutung gefüllt werden, ist eine Frage hegemonialer Auseinandersetzung (Laclau 2002 [1996]; Nonhoff 2006: 124ff.).

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Abbildung 3: Antagonistische Grenzziehung nach Laclau (2005)

Quelle: Mattissek 2008, verändert nach Laclau 2005: 130 Die Abbildung zeigt den Zusammenschluss verschiedener Partikularinteressen in einer Äquivalenzrelation. Laclau (2005: 130f.) zufolge sind diese Partikularinteressen (D1 bis D4) zunächst durch Differenz gekennzeichnet – in der Abbildung ist dies durch die unterschiedlichen unteren Hälften der Symbole für D1 bis D4 dargestellt. Gleichzeitig sind alle diese Partikularinteressen aber äquivalent insofern, als sie in der Opposition gegenüber einem antagonistischen Außen vereint sind (dargestellt durch die antagonistische Grenze). Diese gemeinsame Abgrenzung wird symbolisiert durch einen bestimmten Signifikanten der Äquivalenzkette, in diesem Fall D1, der die Rolle des tendenziell leeren Signifikanten übernimmt und damit eine Doppelfunktion einnimmt: Auf der einen Seite bezeichnet er noch immer das Partikularinteresse D1, auf der anderen Seite steht er aber auch stellvertretend für die diskursiv etablierte Abgrenzung der Äquivalenzkette nach außen.

Die Etablierung einer neuen hegemonialen Ordnung und damit eines neuen Antagonismus wird dann nötig, wenn die etablierte diskursive Ordnung destabilisiert wird. Diesen Vorgang bezeichnet Laclau als Dislokation (s. o.). Dislokationen machen die Ausbildung ganzer, permanenter Identitäten unmöglich. Die Herausbildung eines Antagonismus ist eine mögliche – diskursive – Antwort auf die Dislokation, welche die Ursache für die Dislokation in einem antagonistischen Gegner verortet: „…antagonism is not only the experience of a limit to objectivity but also a first discursive attempt at mastering and reinscribing it“. (Laclau 2001 in einem Interview, zit. nach Norris 2006: 133, FN 35) Jedes soziale Kollektiv, jede politische Gemeinschaft beruht also Laclau und Mouffe zufolge auf einem Prozess der Grenzziehung, der den Diskurs in einen Bereich des „Eigenen“ und einen des „Anderen“ 166

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unterteilt. Dieser Mechanismus der Ausbildung antagonistischer Äquivalenzrelationen ist damit ein konstitutiver und notwendiger Bestandteil von Gesellschaft; sein jeweiliger Inhalt, also die Frage, welche Elemente hier mit Berufung auf welche Gemeinsamkeiten miteinander verknüpft werden, beruht jedoch auf keinerlei vordiskursiven Kausalitäten und ist Gegenstand hegemonialer Auseinandersetzungen. Gemeinschaften wie „die Basken“, „die Muslime“ und politische Zusammenschlüsse wie „die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten“ etc. stellen danach also keine objektiv gegebenen oder zwingenden, quasi-natürlichen Zusammenschlüsse dar. Vielmehr beruhen sie auf spezifischen Abgrenzungsprozessen nach außen, durch die eine innere Einheit erst hergestellt wird.

Exkurs: Beispiele für hegemonial repräsentierte Äquivalenzrelationen Hegemonial repräsentierte Äquivalenzrelationen lassen sich aus der Perspektive der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe in verschiedensten Lebensbereichen und politischen Kontexten beschreiben. Auf der Ebene transnationaler bzw. (anti-)globaler Politik repräsentiert etwa das Label „ATTAC“, das ursprünglich „nur“ eine Initiative gegen Finanzspekulationen war (association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens, dt. „Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“), mittlerweile eine Vielzahl ausgesprochen heterogener Ansprüche und Widerstände gegen „die Globalisierung“, die von Forderungen von Gewerkschaftsvertretern über antirassistische und antikapitalistische Bewegungen bis hin zu neonationalistischen Interessen oder Ansprüchen kultureller Autonomie reichen. Ein weiteres Beispiel ist das Schlagwort „grüner Politik“. Wie Stavrakakis (2000) zeigt, hat sich „grün“ zu einem Repräsentant für eine ganze Reihe zunächst unverbundener Partikularinteressen (ökologisch, feministisch, pazifistisch...) entwickelt.

Die Diskurstheorie befähigt, die Idee von „vorgestellten Gemeinschaften“ (Anderson 1988 [1983]) wie Nationen, Ethnien, politische Gruppen, Sprachgemeinschaften etc. konzeptionell zu schärfen: Die Erinnerung historischer Konflikte, die Idee einer gemeinsamen Hautfarbe oder Sprache funktionieren als Knotenpunkte, welche eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Elementen definieren, diese gegenüber einem Außen abgrenzen und so eine Gemeinschaft herstellen (genauer dazu bspw. Norval 1996; Keohane 1997; Sarasin 2003; Glasze 2009). Der leere Signifikant ist dabei nicht Abbild oder Beschreibung einer existierenden Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft konstituiert sich vielmehr erst durch die gemeinsame Identifikation der einzelnen Elemente mit diesem Knotenpunkt. „The unity of the object is a retroactive effect 167

GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK

of naming it“ (Laclau 2005: 108). Auch wenn wir handeln, als ob Identitäten, d. h. als ob Nationen, Ethnien, Sprachgemeinschaften etc., objektiv gegebene Fakten seien, so muss diese soziale Wirklichkeit als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden – als sedimentierter Diskurs. Laclau und seine Schüler sprechen daher folglich nicht länger von sozialer, sondern von politischer Identität (bspw. Stavrakakis 2001).

N o r m a t i vi t ä t u n d p o l i t i s c h e P o s i t i o n i e r u n g a u s diskurstheoretischer Perspektive: das Konzept der radikalen Demokratie Poststrukturalistisch orientierten Ansätzen wird verschiedentlich vorgeworfen, gesellschaftlich bzw. politisch irrelevant zu sein. Tatsächlich lassen sich Ansätze, welche die Vorstellung einer Letztfundierung von Gesellschaft ablehnen und welche die Idee einer objektiven Wahrheit, die durch die Wissenschaft aufgedeckt werden könne, als Illusion beurteilen, kaum in ein traditionelles Verständnis der Aufgaben von Wissenschaft integrieren. Wenn solche Ansätze aber weder davon ausgehen, der Gesellschaft (vermeintlich) wahre und richtige Erkenntnisse liefern zu können, noch davon, von einer feststehenden Position aus Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen leisten zu können, welche Funktion und Legitimation hat dann eine solche Wissenschaft? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet das von Laclau und Mouffe in den 1980er-Jahren entwickelte (Laclau und Mouffe 1985: 149ff.) und später von Mouffe weiter ausgearbeitete normative Ziel einer „radikalen Demokratie“ (Mouffe 1988, 2000, 2005 [1993], 2007a [2004], b [2005]). Das Konzept der radikalen Demokratie baut unmittelbar auf den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der Diskurstheorie auf, geht also von einem prozessualen Verständnis von Identität aus und fasst die gesamte soziale Wirklichkeit als diskursiv konstituiert, damit kontingent und niemals endgültig fixiert. Vor dem Hintergrund, dass es keine absoluten und ewig gültigen Wahrheiten gibt, sei es für eine „radikale Demokratie“ notwendig, den Dissens anzuerkennen. Chantal Mouffe lehnt daher Vorstellungen einer „perfekt harmonischen“ Gesellschaft als letztlich gefährliche „Träume“ ab. Vielmehr regt sie an, die inhärente Un-Logik des Diskurses, seine niemals vollständig aufzulösenden Brüche, Differenzen und Widersprüche als notwendigen Bestandteil sozialer Wirklichkeit anzuerkennen und als Potenziale für eine fortwährende Debatte um die Gestaltung von Gesellschaft zu nutzen.

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Das Konzept der radikalen Demokratie will also das Potenzial der Diskurstheorie, Identitäten nicht essenzialistisch zu fassen, sondern als immer nur temporäre und kontingente Versuche der Fixierung zu konzeptionalisieren, für die gesellschaftliche Praxis erschließen. „Only if it is accepted that the subject positions cannot be led back to a positive and unitary founding principle – only then can pluralism be considered radical“ (Laclau und Mouffe 1985: 167). Damit soll es möglich werden, in den unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen den anderen nicht als „Feind“, sondern als legitimen „Gegner“ zu verstehen (Mouffe 2007a [2004]: 45). Bei aller Anerkennung und Betonung der Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Beziehungen muss Mouffe allerdings eingestehen, dass diese Transformation ein gewisses Maß an Konsens bezüglich der „konstitutiven ethisch-politischen Prinzipien“ der Demokratie voraussetzt (ebd.: 46). Die Grundlagen und Voraussetzungen der radikalen Demokratie liegen nach Laclau und Mouffe in den symbolischen Ressourcen des demokratischen Diskurses. Mit der Französischen Revolution seien Freiheit und Gleichheit als grundlegende Knotenpunkte der Konstruktion des Politischen etabliert worden (zusammenfassend dazu Jörke 2004: 173). Vor diesem Hintergrund könne eine radikale Demokratie ein doppeltes emanzipatorisches Potenzial entwickeln: Zum einen könne das Konzept „Gleichheit“ auf immer weitere Bereiche des Sozialen ausgedehnt werden (d. h. immer weitere soziale Ungleichheiten als kontingent, damit politisch und veränderbar, konzeptionalisiert werden). Und zum anderen können partikulare Setzungen, d. h. Versuche der Fixierung, immer wieder aufs Neue hinterfragt und aufgebrochen werden. So könne auch die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen Zivilgesellschaft und Politik aufgebrochen werden und jeder Bereich von Gesellschaft als Gegenstand hegemonialer Auseinandersetzungen und damit von Politik konzeptionalisiert werden. „The distinction public/private, civil society/political society are only the result of a certain type of hegemonic articulation, and their limits vary in accordance with the existing relations of forces at a given moment“ (Laclau und Mouffe 1985: 185). Das Konzept der radikalen Demokratie eröffnet damit neue Perspektiven für eine kritische Wissenschaft: So können wissenschaftliche Arbeiten dazu beitragen, soziale Strukturen als Sedimentierungen zu fassen, die Prozesse der Sedimentation zu analysieren und damit immer wieder den kontingenten und damit veränderbaren Charakter jeglicher sozialer Strukturen herauszuarbeiten.

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Überlegungen zur Bedeutung raumbezogener Identitätskonzepte Auf der Basis der Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe lässt sich ein politisches Konzept von Raum und Identitätskonstruktionen, die sich auf bestimmte Räume beziehen, entwickeln (s. dazu genauer in Teil C, Kap. 12). Bezüge zu Räumen können demnach als Versuche interpretiert werden, die Hegemonie eines Diskurses zu stabilisieren. Die Artikulation von hier/dort-Differenzierungen in Texten, Bildern und Praktiken erlaubt, die Zweiteilung des diskursiven Feldes als vermeintlich evidente territorial-erdräumliche Differenzierung zu konstituieren. So erscheint es vielfach „ganz natürlich“, dass zwischen Nationalstaaten, Kulturerdteilen oder Regionen objektiv beschreibbare Unterschiede bestehen: Hier ist es anders als dort, in Europa ist es anders als in den USA, im Umland ist es anders als in der Stadt und im Westen ist es anders als im Orient. Diese Grenzziehungen sind dabei insofern machtgeladen, als dass dabei vielfach ein „wir“ und „hier“ als das richtige und gute gegenüber einem defizitären, bedrohlichen und unnormalen „Fremden dort“ konstituiert wird. Signifikanten, über die räumlich-territoriale Differenzen hergestellt werden (wie bspw. „der Westen“), können vielfach als Knotenpunkte und tendenziell leere Signifikanten interpretiert werden, die Gemeinschaft konstituieren. Räume sind damit Ergebnis hegemonialer Diskurse und tragen gleichzeitig zur Naturalisierung und damit Stabilisierung hegemonialer Diskurse bei. Die Diskurstheorie bietet vor diesem Hintergrund die Chance, die Prozesse zu untersuchen, die zu der vermeintlichen Objektivität und Gegebenheit spezifischer Räume führen, und die Machtbeziehungen aufzuzeigen, die in diesen Konstruktionen angelegt sind. Die große Bedeutung raumbezogener Identitätskonstruktionen erklärt sich aus der hohen Glaubwürdigkeit solcher Raumkonstitutionen. Diese rührt in erster Linie daher, dass gesellschaftliche Differenzierungen objektiviert und naturalisiert werden, indem sie mit einer territorial-räumlichen hier/dort-Differenzierung verknüpft werden. Raumbezogene Identitätskonzepte scheinen daher eine große Rolle in zahlreichen sozialen Prozessen zu spielen – und dies auf verschiedenen Maßstabsebenen, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen.

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Fallstudie: Konstitution städtischer Identität in Ab g r e n z u n g vo m U m l a n d Mithilfe der diskurstheoretischen Terminologie von Laclau und Mouffe kann am Beispiel der sprachlichen Repräsentation des Verhältnisses zwischen Kernstadt und Umland gezeigt werden, wie „die Stadt“ (in diesem Fall die Stadt Frankfurt am Main) sich mittels diskursiver Abgrenzungsprozesse vom Umland bzw. der Region als soziale Gemeinschaft konstituiert. Grundlage der Analyse ist ein Textkorpus mit den Protokollen aller Stadtverordnetenversammlungen der Stadt Frankfurt am Main aus den Jahren 1993–2005. Aus diesem Textkorpus wurden alle Passagen extrahiert, in denen über Formulierungen wie „wir in Frankfurt“, „wir Frankfurter“ oder „wir hier in Frankfurt“ auf eine spezifische, raumbezogene Frankfurter Identität Bezug genommen wurde. Mithilfe lexikometrischer Auswertungen (s. Kap. 11) wurde dann analysiert, welche Begriffe in der unmittelbaren Umgebung dieser Formulierungen6 statistisch signifikant häufiger auftraten als im Rest der Texte. Die Auswertung zeigte, dass sich im Kontext dieser Suchausdrücke u. a. andere raumbezogene Signifikanten wie „Städte“, „Land“ (= Bundesland Hessen) sowie insbesondere die Begriffe „Umland“ und „Region“ häuften. In der näheren Analyse der entsprechenden Textpassagen wurde deutlich, dass es bestimmte Argumentationsmuster gibt, die an diesen Stellen immer wieder auftreten und in denen das Verhältnis zwischen der Stadt Frankfurt und der Region bzw. dem Umland diskursiv hergestellt wird. Generell lassen sich eine ganze Reihe diskursiver Argumentationsmuster ausmachen, in denen das Umland als Einheit hergestellt wird, welche die Stadt daran hindert, sich wirtschaftlich voll zu entfalten, eine „gesunde“ Sozialstruktur auszubilden etc. So wird bspw. argumentiert, die Stadt halte Infrastruktureinrichtungen (z. B. Theater, Krankenhäuser und Altenheime) vor, die vom Umland/der Region mit genutzt würden, ohne dass diese Gemeinden sich in ausreichendem Maße an den Kosten beteiligten. Gleichzeitig entzögen die Umlandgemeinden der Stadt über Suburbanisierungsprozesse (Wohnmigration in die Peripherie der Städte) Ressourcen in Form von Steuereinnahmen. Diese sprachlichen Strukturierungen des Verhältnisses von Stadt und Umland sind eng verkoppelt mit institutionellen Verhältnissen: So werden etwa auch öffentliche Einnahmen und Ausgaben (Arbeitslosenhilfe, Zuschüsse zum sozialen Wohnungsbau etc.) auf die entsprechenden 6

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räumlichen Einheiten bezogen eingezogen bzw. verteilt. Im Sinne von Laclau können diese territorial definierten Praktiken der Mitteleinnahmen und -zuweisungen (bspw. kommunaler Finanzausgleich etc.) als sedimentierte Diskurse verstanden werden, in denen die Stadt Frankfurt und ihr Umland als distinkte Einheiten mit spezifischen sozialen Relationen reproduziert werden. Auf der sprachlichen Ebene zeigen sich diese Strukturierung des Diskurses und die daraus resultierende Konstitution einer kollektiven Identität Frankfurts bspw. in den folgenden zwei Zitaten: „In einem Gutachten hat die Landesregierung ermitteln lassen, welche kulturellen Einrichtungen im Ballungsraum Rhein-Main überregionale Bedeutung haben und von wem sie besucht werden. Bestätigt hat sich genau das, was wir hier in Frankfurt nun schon lange gesagt und auch in unseren eigenen Untersuchungen belegt haben. Demnach befinden sich 90 Prozent der kulturellen Leuchttürme der Region in Frankfurt, 30 Prozent der Besucherinnen und Besucher kommen aus dem Ballungsraum, 13 Prozent aus dem übrigen Hessen, aber die Finanzierung liegt zu 90 Prozent bei der Stadt Frankfurt am Main. Das kann so nicht bleiben, da müssen wir ganz eindeutig fordern, dass sich die Region beteiligen muss.“7 „Während [in Frankfurt, Anm. AM] immer mehr Wohnungen für vermeintlich sozial Schwächere entstanden sind, haben sich Bürgerinnen und Bürger, die aus Frankfurt kommen, die nicht mehr in der Lage waren, sich ein Häuschen zu bauen, eben dieses Haus im Umland gekauft, und somit ist auch die einkommensteuerabhängige Ertragskraft dieser Bürger ins Umland gezogen. Was zur Folge hatte, dass die Umlandgemeinden an Wohlstand gewonnen haben, während wir in Frankfurt eine Situation haben, die uns Angst und Bange machen muss, ob diese Stadt zukunftsfähig sein kann. Wir haben überproportional viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger in dieser Stadt. Verglichen mit anderen Großstädten leben hier mehr ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger und auch sozial schwache Menschen.“8

Die Region und das Umland werden also sowohl auf der sprachlichen Ebene als auch über damit verknüpfte institutionalisierte Praktiken als antagonistisches Anderes der Stadt konstruiert, welches die Prosperität der Stadt gefährdet. In der Abgrenzung von einem die eigene Identität bedrohenden „Außen“ (der Region oder dem Umland) konstituiert sich die städtische Gemeinschaft Frankfurts als soziale Einheit. Innerhalb der 7 8

Dr. Renate Wolter-Brandecker, SPD, Protokoll der 46. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt am Main vom 14.7.2005 Volker Stein, FDP, Protokoll der 21. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt am Main vom 27.3.2003

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Stadt bestehende Unterschiede werden dadurch homogenisiert und Konflikte – etwa zwischen relativ wohlhabenden Familien, die sich einen Umzug ins Umland leisten können und anderen Bevölkerungsgruppen wie etwa Senioren, Migranten oder Sozialhilfeempfängern – territorialisiert.

Fallstudie: Konstitution einer weltumspannenden Gemeinschaft Ausgangspunkt der Studie ist eine traditionelle Fragestellung der Geographie: Wie kann die Existenz einer „internationalen Gemeinschaft“ und eines „geokulturellen Raums“ verstanden, d. h. konzeptionalisiert und analysiert werden? Die Internationale Organisation der Frankophonie (Organisation Internationale de la Francophonie) definiert sich selbst als „internationale Gemeinschaft“ von mehr als 60 Staaten und Regionen sowie als „geokultureller Raum“. Ziel der Fallstudie war es, in einer diachronen Perspektive herauszuarbeiten, um welche Knotenpunkte die frankophone Gemeinschaft artikuliert wurde, welche Äquivalenzketten dabei gebildet wurden und welches Außen jeweils konstituiert wurde. Dafür wurden mehrere diachrone Textkorpora mit Serien von Texten als Grundlage für korpuslinguistisch-lexikometrische Analysen (zur Methodik s. Kap. 11) sowie die Untersuchung komplexer Artikulationen mithilfe kodierender Verfahren (zur Methodik s. Kap. 14) etabliert. Ergänzend wurde die diskursive Herstellung von Bedeutung in Bildern sowie die Sedimentierung und Desedimentierung von Diskursen in formalen Institutionen und Organisationen untersucht (Glasze 2009). Auf dieser Basis lässt sich herausarbeiten, dass die Frankophonie in den 1960er-Jahren ein Versuch war, nach der Dislokation des Kolonialdiskurses eine neue Ordnung um den Knotenpunkt langue française zu etablieren. Im frühen Frankophoniediskurs werden Topoi der „Universalität“, „Klarheit“ und „Präzision“ der französischen Sprache mit den Topoi des „Andersseins“ und der „Verschiedenheit“ verknüpft. Der Frankophoniediskurs verbindet damit Artikulationsmuster des Kolonialdiskurses mit Mustern, welche die antikolonialen Diskurse der Unabhängigkeitsbewegungen prägen. Die französische Sprache wird dabei in den Rang gehoben, trotz (!) einer Vielfalt von „Rassen“, „Religionen“ und „Kontinenten“ eine Gemeinschaft zu begründen. Langue française kann damit als Knotenpunkt und leerer Signifikant des frühen Frankophoniediskurses interpretiert werden, der es nach der Dislokation des Kolonialdiskurses ermöglicht, dass differente Elemente in eine Äquivalenzbeziehung treten und sich gleichzeitig gegenüber einem antagonistischen Außen abgrenzen – dem Kolonialismus. In frankophoniekritischen Texten 173

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werden langue française und francophonie hingegen mit „Autokratie“ und „Neokolonialismus“ äquivalent gesetzt (ebd.). Ab Ende der 1980er- und v. a. in den 1990er-Jahren beginnt eine Verschiebung des Frankophoniediskurses. Zum einen wird das Wort francophonie zunehmend häufig benutzt – die Wortfolge langue française hingegen seltener. Darüber hinaus wird francophonie mit Begriffen wie „Frieden“ und „Demokratie“ verknüpft, die im Kontext der internationalen Beziehungen insbesondere nach 1990 für das Gute und Richtige stehen. Ende der 1990er-Jahre stabilisiert sich der Frankophoniediskurs dann um einen neuen Knotenpunkt. Die lexikometrischen Analysen zeigen, dass auf den Gipfelkonferenzen der Frankophonie seit 1999 signifikant häufiger von „kultureller Vielfalt“ gesprochen wird als auf den früheren Gipfelkonferenzen. Mithilfe kodierender Verfahren konnte herausgearbeitet werden, dass an die Stelle von langue française nun diversité culturelle als neuer Knotenpunkt getreten ist (s. dazu auch Kap. 14 „Kodierende Verfahren in der Diskursfoschung“). „Kulturelle Vielfalt“ und „Frankophonie“ werden im neuen Diskurs einer uniformisierenden und homogenisierenden – angelsächsisch dominierten – Globalisierung gegenübergestellt. Diese Zweiteilung des diskursiven Feldes macht die Frankophonie ab Ende der 1990er-Jahre zum Knotenpunkt einer Allianz aller Elemente, die gegen eine homogenisierende und uniformisierende Globalisierung sind. Gleichzeitig werden die organisatorischen Strukturen der Frankophonie gestärkt und der Posten eines Generalsekretärs geschaffen (Glasze 2007, 2009). Im Frankophoniediskurs ist regelmäßig von „frankophonen Ländern“ bzw. einem „frankophonen Raum“ die Rede. In Karten und weiteren Visualisierungen wird die Frankophonie als Territorium dargestellt. Mit diesen Verknüpfungen von francophonie mit Territorial-Räumlichem wird die Gegebenheit eines frankophonen Raums und damit der Frankophonie naturalisiert. Die Existenz der Frankophonie erscheint damit als evident. Auf diese Weise wird also der Frankophoniediskurs in gewisser Weise gegen Kritik immunisiert und damit stabilisiert (ebd.). Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen, dass die Sedimentierung des Diskurses in formalisierten Institutionen und v. a. in Organisationen den Diskurs über die Zeit stabilisiert. Mit den Organisationen wird die Artikulation koordiniert und zudem werden Sprecherpositionen etabliert, von denen aus im Namen der Gemeinschaft und als Gemeinschaft artikulatorische Akte vollzogen werden können. Darüber hinaus geben die Ergebnisse Hinweise darauf, dass sich erfolgreiche hegemoniale Diskurse dadurch auszuzeichnen, dass sie Äquivalenzverbindungen zu Signifikanten etablieren, die im jeweiligen diskursiven Kontext bereits hegemonial und als Hochwertbegriffe quasi unhinterfragbar sind. In Gegen174

DIE HEGEMONIE- UND DISKURSTHEORIE VON LACLAU UND MOUFFE

diskursen scheinen hingegen genau die Elemente äquivalent gesetzt zu werden, die im hegemonialen Diskurs als das antagonistische Andere artikuliert werden.

Fazit Die Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe bildet seit dem Erscheinen von „Hegemony & Socialist Strategy“ 1985 einen wichtigen Bezugspunkt konzeptioneller Debatten im Kontext poststrukturalistisch informierter und politisch ausgerichteter Diskursforschung. Die Bedeutung der Theorie für empirische Arbeiten erklärt sich zum einen aus der Präzision konzeptioneller Schärfe und Kohärenz der Argumentation wie auch aus dem Umstand, dass Laclau und Mouffe eine Reihe von Konzepten wie bspw. Antagonismus, Identität etc. für die Diskursforschung fruchtbar machen. Somit steht ein Set an Konzepten zur Verfügung, welches in lebhaften Debatten weiterentwickelt wurde und wird (s. bspw. Stäheli 1995; Stavrakakis 1998; Glynos und Stavrakakis 2004; Howarth 2004; Marchart 2004; Nonhoff 2006; Angermüller 2007) und welches inzwischen auch mehrfach in die Konzeption humangeographische Forschungsprojekte eingeflossen ist (Mattissek 2005; Glasze 2007; Dzudzek 2008; Brailich, Germes, Glasze, Pütz und Schirmel 2009). Einen Schwerpunkt dieser Arbeiten stellt die Konzeptionalisierung der diskursiven Herstellung kollektiver Identitäten dar. Darüber hinaus bietet die Theorie die Möglichkeit, im Sinne einer poststrukturalistischen Perspektive auch die Widersprüche und Brüche, die in raumbezogenen Konflikten auftreten, sichtbar zu machen und in der Analyse zu berücksichtigen (Mattissek 2008).

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Diskurstheoretisch orientierte Anal yse von Bildern JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN „Man möge mir meinen Mangel an Kompetenz verzeihen. Ich bin kein Kunsthistoriker. Bis vor einem Monat habe ich noch nichts von Panofsky gelesen.“ (Foucault 2001 [1967]: 794)

Bilder und Blicke Bild und Bildlichkeit sind in der Geographie bisher wenig systematisch untersucht worden. Nur vereinzelt wurde bislang die Funktion von Bildern für die Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen thematisiert, ebenso die Funktion und Bedeutung (erd-)raumbezogener Visualisierungen. Arbeiten mit einer bilddiskursanalytischen Perspektive fehlen bislang. Das ist aber kein spezifisch geographisches Defizit, vielmehr dominiert in der Diskursanalyse die Beschäftigung mit sprachlichen Zeichen und textlichem Material. Interessanterweise stammen aktuelle Forderungen, andere als sprachliche Zeichen in Untersuchungen kommunikativen Handels zu berücksichtigen, nicht zuletzt aus der linguistischen Pragmatik (u. a. Stöckl 2004), auch wenn nicht-sprachliche Zeichen schon vielfach und in den unterschiedlichsten Disziplinen thematisiert wurden. Aber auch die wachsende Bedeutung der Medientheorie und -didaktik führt zu einem verstärkten Interesse an Bildlichkeit sowie an Bild/Text-Beziehungen. Eine nicht unwesentliche Motivation, in diskursanalytischen Perspektiven Bilder als Zugang zum Verständnis von Gesellschaft einzubeziehen, wird in der „Etablierung einer Medienreali-

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tät“ (Meier o. J.: 1) gesehen. Und die alles durchdringende Produktion von Gebrauchsbildern wird durch vermutete „Informationseffizienz in der bildlichen Kommunikation“ (ebd.) legitimiert. Das heißt: Fotografischem und filmischem Material wird eine hohe Ikonizität zugesprochen – Ikonizität verstanden als „das Maß der Ähnlichkeit zwischen einem ikonischen Zeichen und seinem Referenzobjekt“ (Michel 2006: 57, nach Morris 1973). Mindestens unterschwellig schwingt in dieser Diskussion also stets die Frage mit, „ob Bilder auf die Wirklichkeit verweisen, da sie der Wirklichkeit ähnlich sind“ (ebd.). Die Eigenständigkeit des Bildes gegenüber dem Text und der gesprochenen Sprache (vgl. Boehm 2004) macht es dann aber umso dringender, Bilder eben nicht nur als illustrierendes und kommentierendes und letztlich abhängiges Beiwerk „des Diskurses“ zu sehen, sondern als eigenständige Äußerungsform. Inwieweit können bilddiskursanalytische Fragen zum Verständnis von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen beitragen? Die Beantwortung dieser Frage hängt erstens davon ab, was denn unter „Gesellschaft-RaumVerhältnissen“ verstanden werden soll, und das ist geographiegeschichtlich bekanntlich sehr unterschiedlich gewesen (vgl. u. a. Eisel 1980; Weichhart 1999, 2008; Zierhofer 1999; Werlen 2000). Rücken Praktiken der Konstitution und Aneignung raum-zeitlicher Wirklichkeiten in den Mittelpunkt des Interesses, dann stellt sich zweitens die Frage, inwieweit bilddiskursanalytische Perspektiven zum Verständnis der Mechanismen sowie der Ausdrucksformen dieser Konstitutions- und Aneignungsprozesse beitragen können. Im Sinne eines in die Thematik einführenden Beitrags und vor einem noch recht spärlichen Hintergrund an substanziellen Arbeiten zum Verhältnis von Bild und Diskurs, geschweige denn Bild, Diskurs und Raum, soll im Folgenden zunächst auf bislang geleistete Beiträge zur Bilddiskursanalyse eingegangen werden. Dem Versuch der Einordnung in eine Matrix von bildtheoretischen Positionen folgen dann Überlegungen zu einer spezifisch geographischen Perspektive und zu Aussichten, die eine Einbeziehung bilddiskurstheoretischer Perspektiven in die – oder besser in eine – Geographie bieten könnte.

B i l d d i s k u r s a n a l ys e – e i n e e r s t e An n ä h e r u n g Die Bilddiskursanalyse greift eine zentrale theoretische Annahme zahlreicher bildwissenschaftlicher Positionen auf: „Bilder bilden Realität nicht einfach ab, sondern beteiligen sich an der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität“ (Maasen, Mayerhauser und Renggli 2006: 19). Innerhalb dieser bildtheoretischen Positionierung ist für ein bilddiskursanalytisches darüber hinaus spezifisch, dass Bilder als Bestandteil von 182

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„bestimmten Macht-Wissens-Konstellationen (Dispositiven)“ verstanden werden, die „im intermedialen Zusammenspiel mit Texten oder architektonischen Formationen Sichtbarkeiten [verteilen], politische Relevanzen [erzeugen] und die Verortung entsprechender Subjektpositionen [ermöglichen]“ (ebd.). Folglich interessieren sich bilddiskursanalytische Zugänge weniger für das einzelne Bild, auch wenn sie möglicherweise nur ein einziges Bild analysieren (z. B. Renggli 2005), sondern vielmehr für gesellschaftliche Ordnungs- und Positionierungsverhältnisse, innerhalb derer Bilder Funktionen im Hinblick auf gesellschaftliche Sichtbarkeitsverhältnisse haben. Ebenso folgerichtig wird Bildern kein Primat bezüglich der Konstituierung gesellschaftlicher Realität(-en) eingeräumt, vielmehr wird von einer Verwobenheit textlicher (sprachlicher) und bildlicher Aussagen und von einer Verschränkung des Sagbaren und des Sichtbaren ausgegangen (zu einer verschränkten Text- und Bildanalyse vgl. Maasen und Böhler 2006). Elemente des Diskurses ziehen sich als Themen durch die Texte, „aber sie gewinnen Gestalt in den plastischen Motiven, die ihrerseits Veränderungen unterworfen sind“ (Foucault 2001 [1967]: 795). Zwischen verbalen und nicht-verbalen Äußerungs-/Ausdrucksformen des Diskurses bestehen Beziehungen; welcher Art, ist offen, sie sind aber keineswegs deterministischer Art in dem Sinne, dass das Verbale/Textliche das andere hervorbringen würde oder umgekehrt. Das Sichtbare darf dem Sagbaren nicht untergeordnet werden, auch wenn dies der allgemeinen Überzeugung entspräche, der zufolge die „Strukturen der Sprache [...] der Ordnung der Dinge ihre Form“ aufprägen (Foucault 2001 [1967]: 795). Letzteres hieße, plastische Formen als Texte aufzufassen und sie darauf hin zu untersuchen, was sie „sagen“ wollen, mithin „das Sprechen [zu] rekonstruieren, wo es sich wegen des unmittelbaren Ausdrucks seiner Worte entledigt hatte“ (ebd.). Damit aber werde man, wie von Panofsky1 zu lernen war, der ganzen Komplexität der Beziehungen zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren nicht gerecht: „Diskurs und Form bewegen sich im Verhältnis zueinander. Aber sie sind keineswegs unabhängig voneinander.“ (Ebd.) Möglicherweise gerade um die Eigenständigkeit der Bilder herauszustellen und damit den Blick auf die Verhältnisse zu öffnen, stellt Foucault im Folgenden „Diskurs und Figur“ in ihrer je eigenen Seinsweise gegenüber und begrenzt damit implizit den Diskursbegriff:

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Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) trug mit seinem dreistufigen Modell zunehmender Komplexität der Bildinterpretation wesentlich zur Entwicklung des ikonologischen Ansatzes bei. 183

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„Der Diskurs ist also nicht die gemeinsame Interpretationsgrundlage aller Erscheinungen einer Kultur. Eine Form erscheinen zu lassen ist keine indirekte (subtilere oder auch naivere) Art, etwas zu sagen. Nicht alles, was die Menschen tun, ist letztlich ein entschlüsselbares Rauschen. Diskurs und Figur haben jeweils ihre eigene Seinsweise; aber sie unterhalten komplexe, verschachtelte Beziehungen. Ihr wechselseitiges Funktionieren gilt es zu beschreiben.“ (Ebd., Hervorh. im Orig.)

D. h. aber nun nicht, dass bilddiskursanalytische Ansätze sich in methodischer Hinsicht der gleichen Verfahren bedienen würden und könnten wie jene diskursanalytischen Arbeiten, die den Text als Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Aussageverhältnissen wählen. Um zu erschließen, welche Funktion Bildern in und für sozialkulturelle Phänomene und Prozesse zukommt, greifen bilddiskursanalytische Perspektiven weitgehend auf (etablierte) bildwissenschaftliche Theoreme und Verfahren zurück. So untersucht bspw. Urs Stäheli Finanzwerbungen innerhalb eines diskursanalytisch formulierten Erkenntnisinteresses mithilfe einer ikonographischen Codierung des Bildmaterials (Stäheli 2006), Cornelia Renggli greift auf phänomenologische Bildpositionen zurück (Renggli 2005), integriert aber auch systemtheoretische Überlegungen (Renggli 2006). Welchen Bildbegriff bieten (bild-)diskursanalytische Positionen an? Keineswegs einen eindeutigen, wie Klaus Türk meint. Bilddiskursanalytische Arbeiten bezögen sich meist mehr oder weniger stark auf Foucault. Aus dessen spezifischer Konzeption der Diskursanalyse lasse sich ein Bildbegriff ableiten, der am Konzept der Artefakte orientiert sei: Foucaults Diskursanalyse operiere, so Türk, „strikt nur auf einer Ebene [...], nämlich auf der Ebene der diskursiven Elemente, der Artefakte selbst, um immanent auf dieser Ebene Strukturen und Konstruktionen zu ermitteln. Artefakte werden deshalb nicht als ‚Dokumente‘ für etwas anderes als sie selbst behandelt, sondern als autonome ‚Monumente‘, deren Positionen in einem Muster der Ein- und Ausschließung, einer Struktur der Ermöglichung und Inhibierung zu bestimmen sind. Der Diskurs ist hier nicht die hinter oder unter den diskursiven Elementen liegende verborgene Rede, sondern das ‚verbindende Muster‘ (Bateson) der diskursiven Elemente selbst.“ (Türk 2006: 153)

Ein darauf Bezug nehmender Bildbegriff könne folglich nicht auf Ideologieproduktion, auf vermeintlich hinter den Bildern liegende Wahrheiten oder Weltauffassungen abzielen, sondern müsse „bilddiskursive Felder“ identifizieren, deren innere Strukturierungen sowie „historische Brüche in bildthematischen und bildstrukturellen Darstellungen“ heraus184

DISKURSTHEORETISCH ORIENTIERTE ANALYSE VON BILDERN

arbeiten (ebd.: 154). Dies schließe aber dennoch nicht aus, mit einem anders gelagerten Diskursbegriff Bilder nicht als für sich stehende „Monumente“, sondern – weniger autonom – als Dokumente für etwas anderes aufzufassen. Das Verhältnis von Bild und Sprache ist damit jedoch noch lange nicht geklärt. Statt von der „je eigenen Seinsweise“ von „Diskurs und Figur“ auszugehen, wird nämlich auch eine gewisse Parallelität ausgemacht. Angelehnt an die sprachzentrierte Konzeption von Stuart Hall (1994 [1992]: 150) kann ein Diskurs als eine Gruppe nicht nur von sprachlichen, sondern auch von bildlichen Aussagen verstanden werden, die eine bestimmte Sichtweise zur Verfügung stellen, um etwas darzustellen bzw. bildlich auszudrücken, als eine besondere Art von „visuellem Wissen“ über einen Gegenstand. Auf der Ebene der Zeichen diskutiert Eco die Möglichkeit, visuelle Zeichen analog zu sprachlichen Zeichen als Codes zu fassen (Eco 1994: 197ff.). Wird man aber damit der Besonderheit des visuellen Zeichens gerecht und wie verhält es sich zum oder im Diskurs? Pörksen, der den Begriff des „Visiotyps“ kreiert hat, um damit den „durch die Entwicklung der Informationstechnik begünstigten Typus sich rasch standardisierender Visualisierung“ (Pörksen 1997: 27) zu fassen, versucht eine differenzierte Antwort: Erklärungen wissenschaftlicher Zusammenhänge, politische Äußerungen, Begründungen, Informationen usw. sind zunehmend durchsetzt mit Visualisierungen: Bevölkerungspyramiden und Wachstumskurven, Luftbilder vermeintlicher Produktionsstätten von Massenvernichtungswaffen, Karten der Luftbelastung, mikroskopische Aufnahmen von Zellen und Mikroorganismen usw. – kurz: Visualisierungen sind überall präsent, wenn es um Aussagen über etwas geht. Sie sind aber nicht einfach Illustrationen oder Ergänzungen des Wortes, sondern entfalten ihre eigene Wirkkraft und stehen verselbstständigt als „globale visuelle Zeichen“ (ebd.: 28). Sie können das, weil sie eingebettet sind in soziale Normen, die ihnen Bedeutung(-en) verleihen: in Stile und technische Standards, in Gebrauchsnormen, in vorhandene und tradierte Bildervorräte und nicht zuletzt in (wechselnde) Neigungen zur Visualisierung selbst (vgl. ebd.: 172f.). Sie sind aber nicht nur „geradezu Ausbünde sozialer Norm“, sie haben selbst wiederum „eine starke prägende, Normen bestätigende und setzende Wirkung“ (ebd.: 168). Wenn folglich unter Diskurs mit Hall eine Gruppe von sprachlichen und bildlichen Aussagen verstanden wird, die eine bestimmte Sichtweise zur Verfügung stellen (s. o.), dann kommt man nicht umhin, die prägende Wirkung von Visualisierungen zu berücksichtigen. Dazu aber müssen die visuellen von den sprachlichen Zeichen unterschieden werden. Das heißt: Pörksen diskutiert die Frage 185

JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

der Beziehung zwischen visuellen und sprachlichen Zeichen, indem er aus sprachwissenschaftlicher Sicht nach einer Möglichkeit sucht, sie auseinander zu halten und eine Grenze zwischen ihnen zu ziehen. Diese sieht er in der Unterschiedlichkeit der mit ihnen verbundenen „Übereinkunft“. „Das sprachliche Zeichen gilt auf Grund einer zwar grundsätzlich beliebigen, aber festen Verabredung; die lautliche Form ist der vereinbarte Stellvertreter. Die visuelle Form gilt, wo sie zum ‚Zeichen‘ wird, auf Grund eines zur Konvention gewordenen Wahrnehmungsschemas; die von der Form vermittelte Bedeutung ist eine sozial verankerte Sehnorm: Teil des Blickes.“ (Pörksen 1997: 153)

Die Gleichsetzung von visueller und sprachförmiger Diskursivität ist damit alles andere als unproblematisch. Während auf der einen Seite – ausgehend vom Gebrauch des Bildes – der normierte und normierende Charakter von Visualierungen hervorgehoben und in Beziehung zur Spezifik des visuellen Zeichens gesetzt wird, gilt auf der andere Seite – ausgehend von der Frage der ikonischen Sinnerzeugung – jedes Bild als polysemisch: Seine Bedeutung wird nicht allein durch ihren Inhalt und ihre Struktur determiniert. Auch hier wird betont, dass die Logik der Bilder (und damit auch „ihre Macht“) anders geartet ist als die des gesprochenen oder geschriebenen Satzes oder anderer Sprachformen. Sie wird, folgt man etwa Boehm (Boehm 2007: 34), „wahrnehmend realisiert“. Dennoch, so Boehm, ist diese nicht den Sätzen und anderen Sprachformen folgende, also nichtprädikative, Logik (Boehm 2004) der Bilder nicht entkoppelt von sprachlichen Diskursen (Boehm 2007). Vielmehr ist von einer Durchdringung auszugehen, die sich in der kommunikativen Notwendigkeit der Versprachlichung von Wahrnehmung und den Metaphern (in) der Sprache besonders deutlich zeigt. Aushandlungen von bestimmten Bedeutungen des Sichtbaren werden sprachlich geführt, das dialektische Verhältnis der Produktion und Reproduktion von Wirklichkeit scheint sowohl bildhafter als auch sprachlicher Art. Eine machtdurchdrungene Bildpraxis bzw. das normierte und geregelte Bildhandeln sind daher Bereiche, die diskursanalytisch insbesondere in Bezug auf die unterliegenden Wahrheits- und Natürlichkeitsbehauptungen untersucht werden (vgl. Rose 2006 [2001]: 137f., 140). Wenn aber Sprache und Bild in „Bildpraxen“ und „Bildhandeln“ sich permanent durchdringen, dann sind Bilder wiederum als Quellen für das Verständnis normierten und geregelten sprachlichen Handelns interessant.

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DISKURSTHEORETISCH ORIENTIERTE ANALYSE VON BILDERN

Bevor an diese Überlegungen im Hinblick auf einen spezifisch geographischen Anschluss angeknüpft werden kann, besteht nun jedoch noch Klärungsbedarf hinsichtlich der bilddiskursanalytischen Position in Abgrenzung zu anderen, etwa handlungstheoretischen Positionen, und so soll im Folgenden zunächst der Versuch einer Einordnung unternommen werden.

B i l d d i s k u r s a n a l ys e – V e r s u c h e i n e r E i n o r d n u n g in andere bildtheoretische Positionen Aus der philosophischen Tradition der theoretischen Auseinandersetzung mit Bildern, bildhaften Zeichen, Visualität und Wahrnehmung haben sich heute höchst unterschiedliche Ansätze und Zugänge zu visuellem Material und zur „Bilderfrage“ (Boehm 2004: 28) entwickelt. Eine Systematisierung scheint dabei von vornherein kaum in dem Sinne möglich, dass sich die Zugriffe trennscharf unterscheiden ließen und eine Kategorisierung den Differenzierungen innerhalb schlagwortartig zusammengefasster Perspektiven gerecht werden könnte. Wie können bildtheoretische Positionen voneinander unterschieden werden? Wir schlagen vor, diese Unterscheidung entlang der Frage nach dem – theoretisch – angenommenen Entstehungsort der Bildbedeutung vorzunehmen. „Ort“ ist hierbei durchaus metaphorisch zu verstehen: Es geht um die Frage, wo sich im – vermutlich komplexen – Zusammenspiel von materieller Wirklichkeit, der Intention der Bildproduzent_in, dem Auge der Betrachter_in und der Kommunikation über Wahrgenommenes bildbezogene Wirklichkeit konstituiert, wo sie Bedeutung erhält und worauf entsprechend der theoretisch ausgerichtete Blick fokussiert. Daraus wiederum lässt sich ableiten, welche Gefahren der Ausblendung bzw. Überbetonung die jeweilige Position mit sich bringt. Die nachfolgende Tabelle fasst dementsprechend die Zugänge in Bezug auf ihre Blickrichtung, ihre methodischen Zugänge, ihre Fragestellungen sowie ihre (potenziellen) blinden Flecken schematisch zusammen, wobei den acht Positionen eine unvollständige, eher exemplarisch zu verstehende Auswahl von Vertretern zugeordnet ist. In dieser idealtypischen Übersicht nicht berücksichtigt sind die vielen „Grenzgänger“ wie etwa Sachs-Hombach (2004; 2006), der sich seit Jahren um eine Verbindung phänomenologischer und semiotischer Zugänge im Sinne einer „allgemeinen Bildwissenschaft“ bemüht, oder Stäheli (2006), der eine Kombination von Ikonographie und Systemtheorie vorschlägt.

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JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

Tabelle 2: Bildtheoretische Positionen Ort der Bedeutung

Ansatz

Vertreter_in Methodik / (Auswahl) Zugang

Fragestellungen

im Abgebil1 deten (Bildsujet)

essenzialistisch, repräsentional

Platon

Beschreibung

Was ist die reale Bild-Referenz?

in der Abbildung

medienwissenschaftlich

Großklaus

Kritik

Was bewirkt die Evidenz des technisch-apparativen (Ab-)Bildes?

unterschätzt die Kreativität der symbolischen Aneignung

Barthes Eco Goodman Panofsky

(Objektive) Hermeneutik

Was bedeutet das bildhafte Zeichen? Was sagt das Bild, worauf verweist es?

blendet die – ggf. nicht-funktionale – Herstellung und Aneignung, „Semiotisierung“ (Wiesing 2004), aus

Fellmann

Semiologie / Semiotik

Nr.

2

semiotisch, 3 im Bildobjekt ikonographisch

im Vollzug system4 der Betrach- theoretischtung semiotisch

5

in der Bildpraxis

in der Bildwahrneh6 mung / im Subjekt

pragmatisch, performativ

Bourdieu Bredekamp Michel Morris Peirce Schelske Schürmann

phänomenologisch

MerleauPonty Schürmann Waldenfels Wiesing

in der Beobachtung diskursanalytischMaasen 7 (Anwendung systemRenggli einer Unter- theoretisch scheidung)

im kulturellen Hintergrund / in diskurs8 der intersub- theoretisch jektiven Sphäre

Quelle: eigener Entwurf

188

Bourdieu Foucault Urry

Kontextualisierung

Wahrnehmung Erfahrung / Introspektion

Beobachtung von Beobachtung(-en); differenztheoretisch („Bruch mit Evidenzen“)

Diskursanalyse (Archäologie / Genealogie)

Welche Bedeutung hat Bildlichkeit für die Wahrnehmung? Wie werden Bilder zur Wirklichkeit? Wie werden bildhafte Zeichen in soziokulturellen Kontexten verwendet und interpersonal mitgeteilt? (Geltungsansprüche, Prägung der Wiedererkennung etc.) Wie erscheint was als was? Was löst das Bild (körperlich) aus? Wie kann die Betrachtung eines Bildes beobachtet werden? Was sind die kulturell „sedimentierten Selbstverständlichkeiten“ der Bildbetrachtung? Wie werden in der Bildbetrachtung Subjekte konstituiert? Wie ist der Blick / visuelle Erfahrung / visuelles Wissen (intersubjektivstrukturell und durch soziale Vordeutung) gerichtet / gesteuert / diszipliniert?

Gefahren / blinde Flecken essenzialistische Haltung verneint Manipulierbarkeit, blendet konstitutive Aneignungsprozesse aus

entsubjektiviert den Betrachter zu einem Vollzieher eines allgemeinen Sinns unterschätzt die strukturelle Dimension der Deutung, überbetont die Offenheit, Handlungsfreiheit (Schelske 2001) blendet das semiotische Vorwissen beim Herantreten an Bilder und die symbolische Durchdringung von Wahrnehmung aus

blendet subjektive / individuelle Hintergründe der Bildkonstitution aus

tendenziell wird das Normative überbetont, während die emotionale Subjektivität der direkten, dramatischen Bilderfahrung ausgeblendet wird

DISKURSTHEORETISCH ORIENTIERTE ANALYSE VON BILDERN

Mit Blick auf die Positionierung eines bilddiskurstheoretischen Zugangs in diesem Feld bildtheoretischer Ansätze sind zwei Dinge hervorzuheben. Erstens: Die Bilddiskursanalyse oder die diskurstheoretische Bildanalyse gibt es nicht. Arbeiten, die sich aus einem diskursanalytischem Interesse Bilder oder, weiter gefasst, visuellem Material zuwenden, bedienen sich bei unterschiedlichen bildtheoretischen Positionen und loten ihr analytisches Potenzial aus. Stäheli (2006) bspw. beginnt mit einer systemtheoretisch begründeten Analyse von Finanzwerbung und kombiniert diese mit einer aus der ikonographischen Tradition hergeleiteten Methode der Analyse von Werbematerial, um daraus dann wiederum Aussagen über die eingesetzten „visuellen Strategien“ und verwendeten Bild- bzw. Bild-Text-Typen, deren Existenz er aufgrund seiner theoretischen Positionierung als These aufgestellt hat, ableiten zu können. Die in der Tabelle vorgenommenen Abgrenzungen können folglich nur einer Orientierung dienen, sind aber nicht trennscharf. Zweitens: Der tabellarischen Ordnung auf der Basis der angenommenen Orte der Bildkonstitution folgend, zeigt sich der diskurstheoretische Zugang als derjenige, der am stärksten Augenmerk auf die gesellschaftliche Vordeutung von Bild(be)deutungen legt und der auf der anderen Seite Ähnlichkeitskriterien weitgehend ausblendet. Es interessiert also vor allem die kontextuelle Einbindung von Bildern (und Sichtweisen) und die soziokulturell bedingte Einschränkung der Möglichkeit ihrer Interpretation, weniger die kontextuelle Einschränkung der Möglichkeit der Wahrnehmung (vgl. Sachs-Hombach 2001). Ähnlich wie aus diskursanalytisch-systemtheoretischer Perspektive (Position 7) wird auch subjektiven bzw. individuellen Hintergründen der konstitutiven Deutung wenig Beachtung geschenkt. Dem ließe sich begegnen, indem – wie Renggli (2006) es vorschlägt – die Betrachtung des Bildes durch jemanden („ich“) als Ausgangspunkt genommen und diese Beobachtungen als Unterscheidungen begriffen würden, die nicht dem Bild inhärent sind, sondern im Moment der Bildbetrachtung durch jemanden vollzogen, „bezeichnet“, werden. Das Bild ist dann nichts „an sich“, sondern das Ergebnis eines Unterscheidungsprozesses, der nun seinerseits einer Beobachtung zweiter Ordnung unterworfen werden kann. Während semiotische und phänomenologische Positionen, welche die Bedeutungskonstitution im Bild selbst respektive im Vollzug der (individuellen) Wahrnehmung verorten, dazu tendieren, die normative Dimension der Betrachtung auszublenden, wird das Normative in diskursanalytischer Hinsicht tendenziell überbetont und eine machtdurchdrungene Bildpraxis generell vorausgesetzt. Dabei ist es durchaus nicht so, dass die Vertreter der – notwendig selektiven – Positionen die jeweils anderen Dimensionen verneinen. „Auch dort, wo wir vitale Spon189

JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

taneität vermuten, liegt Kultur, Konvention, System, Code und damit Ideologie vor“ bemerkt etwa Eco (1971 [1967]: 82) und wendet sich damit ebenso wie Bourdieu (1974 [1970]: 162) dezidiert gegen den „Mythos vom ‚reinen Auge‘“. Doch perspektivisch und instrumentarisch entzieht sich die intersubjektive, soziokulturelle, normativ geregelte Dimension der Bildkonstitution ihrem Blick. Auch die (objektive) Hermeneutik ist hier einzureihen, die zwar immer wieder darauf hinweist, dass analytisch keinesfalls Vorannahmen in das Bild hineingetragen werden dürfen, die aber, gerade weil sie die Bildkonstitution im Bild selbst vermutet, keine theoretische Basis für die Unterscheidung zwischen dem Hereingetragenen und dem Bildimmanenten bietet. Hingegen haben diskursanalytische Positionen keinen Begriff für anthropologische Konstanten visueller Wahrnehmung und obwohl sie alltägliche Routinen des – verständigungsleitenden – Bildhandelns nicht ausschließen, tendieren sie dazu, sie in ihrer Bedeutung unterzubewerten.

Bild, Diskurs und Raum: S p e z i f i k a g e o g r a p h i s c h e r H e r a n g e h e n sw e i s e n An die vorangegangenen allgemeinen theoretischen Überlegungen und Ordnungsbestrebungen ist nun die Frage anzuknüpfen, welchen Beitrag die diskursanalytische Position zu einer geographisch ausgerichteten Beschäftigung mit Bildern und Bildlichkeit bzw. dem Visuellen leisten könnte. Dass Geographie konstitutiv visuell sei, hat Yi-Fu Tuan bereits Ende der 1970er-Jahre festgestellt und damit darauf aufmerksam gemacht, dass Disziplinen sich hinsichtlich der Wege der Wissenserzeugung, also hinsichtlich ihrer epistemologischen Positionierung, unterscheiden (Tuan 1979). Diese konstitutive Visualität der Geographie manifestierte sich zunächst jedoch vornehmlich instrumentell in der Herstellung visueller Materialien, insbesondere in kartographischen Darstellungen zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und -darstellung. Auf der reflexiven Ebene, auf der die spezifischen Bedingungen der Produktion und Interpretation visuellen Materials – nicht zuletzt ihre diskursive Einbettung und ihre diskursstrukturierende Kapazität – zu thematisieren wären, blieb sie weitgehend latent (vgl. hierzu Schlottmann und Miggelbrink 2009). Dieser Befund ist mit den erst im Lauf der letzten zehn Jahre durchgreifenden Veränderungen des fachkonstitutiven Moments in Verbindung zu bringen. Während das Wesen der Geographie zunächst dinglich festgemacht wurde, werden heute – reflexiv kritische – geographische Perspektiven als Alleinstellungsmerkmal diskutiert. Diese poststrukturalistische Wendung ist jedoch nicht ohne Widersprüche, insbesondere nicht hinsichtlich eines weiter190

DISKURSTHEORETISCH ORIENTIERTE ANALYSE VON BILDERN

hin geltenden essenzialistischen Alltagsverständnisses, dem sich auch die Theoretiker nicht entziehen können. Auf den ersten Blick scheint es etwa plausibel, einen geographischen Zugang zur gesellschaftlichen Bedeutung von Visualität über die Verwendungen von „Landschaften“ zu erschließen. Folgt man Escher und Zimmermann (2001) am Beispiel des Films, dann eröffnet bspw. die systematische Betrachtung des Landschaftlichen einen ersten analytischen Zugriff auf Formen und Praktiken der Verortung durch (bewegte) Bilder. Allerdings ergeben sich Probleme, wenn man diesen Zugriff als genuin „geographisch“ anhand des Bildelements „Landschaft“ festmacht, zumindest dann, wenn grundsätzlich eine nicht-essenzialistische Perspektive angelegt wird. Nicht nur wird das als Landschaft erkannte Bildsujet als vorsemiotischer Gegenstand bereits vorausgesetzt, eine zweite Vordeutung besteht darin, dass es das Bildobjekt Landschaft ist, das einen Film geographisch interessant macht. Die stillschweigende Voraussetzung, dass die Kulisse einer filmischen Handlung eine wie auch immer geartete „Landschaft“ abbildet bzw. vom Betrachter als solche dekodiert wird, ist vor dem Hintergrund bildtheoretischer Diskussionen jedoch keineswegs selbstverständlich. Gibt es überhaupt genuin geographisches visuelles Material? Kann man Bilder sortieren in geographisch relevante und andere? Aus semiotischer Sicht kaum, wenn davon ausgegangen wird, dass nicht das Bild selbst, sondern seine Eingebundenheit in einen Verwendungszusammenhang und ein semantisches Umfeld Bedeutungen freisetzen (hermeneutischer Ansatz, kontextualistische Argumentationen) bzw. erst erzeugen (pragmatischer Ansatz). Nichts ist dann per se geographisch, es gibt nur einen geographisch ausgerichteten Blick auf etwas in Bezug auf das Erkenntnisinteresse an (gesellschaftlichen) Raumverhältnissen. Die zu stellenden Fragen müssten daher lauten: Worin besteht die spezifische Bedeutung von Bildern für alltägliche räumliche Strukturierungsleistungen? Und welcher Art ist das derart strukturierte „Räumliche“? Geographie wird dabei – konstruktivistischen Ansätzen entsprechend – nicht gegenstands-, sondern tätigkeitsbezogen definiert. Daraus folgt, dass auch einzelne Elemente nicht als die Gegenstände einer geographischen Bildanalyse zu extrahieren sind. Zumindest nicht, solange nicht auch eine fundierende Auseinandersetzung mit dem Landschafts- respektive Raumbegriff stattfindet und begründet wird, warum und inwiefern die Landschaftsbilder raumkonstituierend und raumstrukturierend wirken. Folglich ist das „Erkennen“ bzw. Einordnen der Bildbedeutung nicht im Signifikanten selbst begründbar, sondern im Prozess des Gebrauchs von Zeichen, d. h. als eine Form der Einheit von Signifikant, Code und Signifikat, die eine „Verortung/Verräumlichung“ bilden. Das löst das Problem nicht, sondern ver191

JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

schiebt es auf die Ebene einer Analyse des (konventionalisierten) Gebrauchs „visueller Zeichen“. Nicht eine inhärente Bildbedeutung steht dann im Vordergrund eines geographischen Bildbegriffs, sondern das kulturell bedingte und disziplinierte Sehen sowie die soziokulturellen Verweise der vorhandenen und nicht vorhandenen Signifikate. Dann könnte man auch fragen, was im Bild die Interpretation einer konkreten erdräumlichen Verortung auslöst und welche Bedeutung diese Verortung für das Verstehen des Bildes oder den Zusammenhang, innerhalb dessen das Bild verwendet wird, hat. Dabei spielt der bildinhärente Geltungsanspruch („Hier sieht es so aus!“) eine wesentliche Rolle. Die Frage, welches Material zu Diskussion steht, wenn im Rahmen eines sozialgeographischen Ansatzes diskursanalytisch gearbeitet werden soll, ist also keineswegs trivial. Wird die Frage damit beantwortet, dass es sich um ein spezifisches Motiv bzw. Sujet handle, gerät anderes Bildmaterial in den Fokus, als wenn bestimmte Themen, Herangehensweisen ([exoder implizite] Theorie[-n], Methodologie[-n], Methodike[-n]) als Bestimmungsmoment des „Geographischen“ herangezogen werden. Greift man noch einmal Tuans Diktum von der Geographie als einer visuellen Disziplin auf, lässt sich daraus ein für die bildtheoretische Positionierung der Geographie wichtiges Argument gewinnen. Zur spezifischen Medialität geographischen Wissens gehören konstitutiv Formen der Visualisierung, die (unter anderem) (statisches) Fakten-Wissen in einer erdräumlich projizierten Matrix realräumlich verorten und bildhaft mittels einer fotografischen Wiedergabe einer „äußeren Welt“ arbeiten. Das Verbindende solcher auf den ersten Blick doch höchst unterschiedliche Prozeduren liegt im meist latent bleibenden Abbildtheorem, das die Realität als etwas außerhalb des Abbildungsprozesses Liegendes versteht und demzufolge Gegenstand der Abbildung ist. Aufgrund dieses latenten Abbildtheorems wird Geographisches eher mit dem in Verbindung gebracht, was Maasen, Mayerhauser und Renggli (2006: 21) als „visuelle ‚Zeugenschaft‘“ bezeichnen, „die das Reale, die Wahrheit abzubilden, vorgibt“, als mit der „Funktion eines artifiziellen Ordnungsmodells“. Die prägende Wirkung dieses Abbildtheorems kommt auch in bisherigen Arbeiten zum Verhältnis von Geographie und Film/Bild zum Tragen. Etwa in der geläufigen Gegenüberstellung von konkretem Raum und abgebildetem Raum, von Räumen erster und zweiter Ordnung (Bollhöfer 2003) oder auch von Landschaften innerhalb und außerhalb des Films (Escher und Zimmermann 2001). Das Geographische besteht dann in der Bezugnahme auf und in der Wiedergabe von einer bestimmten Gegenständlichkeit der Welt. Implizit wird dabei davon ausgegangen, dass zwischen dem Gegenstand und dem Bild ein Verhältnis besteht, eine Art Korrespondenz, die als „übereinstimmend“ oder „wahr192

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heitsgetreu“, aber auch als Abweichung vom konkreten Raum, als dessen Überhöhung, als Neu- und Umcodierung oder auch als Stereotypisierung gedeutet wird. Immer aber wird ein abbildendes Verhältnis angenommen, wobei gleichzeitig versichert wird, dass dieses Verhältnis keineswegs als mimetisches gedacht werden dürfe (Escher und Zimmermann 2001: 230). Das hier zur Diskussion stehende Bildmaterial wird unter referenziellen Perspektiven in dem Sinne betrachtet, dass es sich auf einen konkreten Ort bezieht (Bollhöfer 2007: 20) oder (in fiktionalen Verwendungen) doch eine wenigstens potenzielle Konkretheit hat. Es geht um Bilder, die „realistisch“ sind und Schauplätze tatsächlicher oder fiktionaler Handlungen abbilden, gleichzeitig aber immer Bilder bleiben. Man kann nun das implizite Abbildtheorem explizit machen und reflexiv wenden: Stellt man die (gewollte, intendierte, als selbstverständlich erscheinende) Referentialität in den Mittelpunkt, lässt sich die Frage stellen, welche Funktion bildhaft hergestellte Wirklichkeitsgarantien und damit direkt verbundene Themen wie „Manipulation“ oder „Wirklichkeitsverzerrung“ im gesellschaftlichen Handeln haben.

Bildlichkeit und Gesellschaft-RaumV e r h ä l t n i s s e : e i n e P e r s p e k t i ve Die aufgezeigte Realitätsproblematik einer spezifisch geographischen Bildlichkeit, die sich an vermeintlich geographischen Referenten festmacht, weist den Weg zu einer anderen Bestimmung des Verhältnisses von Bild, Raum und Gesellschaft. So ist davon auszugehen, dass Bilder auf eine eigenständige (nicht-triviale) Weise zur Konstitution raumzeitlicher Wirklichkeit(-en) beitragen. D. h. aber eben nicht, dass es (nur) um die (scheinbar) primären Raumbilder wie z. B. Landschaftsbilder gehen müsste. Selbstverständlich können Raum-Bild-Verhältnisse von der Frage der Realitätserzeugung her diskutiert werden (vgl. Miggelbrink 2009), aber dabei ginge es dann nicht um einen schlichten Nachweis von bildlicher Korrektheit oder Manipulation. Setzt man einerseits Selektivität, Kontextualität und Perspektivität der Konstitution jeglicher Bildlichkeit voraus und geht andererseits davon aus, dass es eine präskriptive („geographische“) Referenz im Sinne eines beobachterunabhängigen Objekts nicht gibt, dann gerät auch hier die Bildpraxis – die Herstellung des Bildes und der Bildbedeutung im Gebrauch – in den Mittelpunkt. Stattdessen lassen sich ausgehend von bestimmten Topoi, die als geographischer Diskurs rekonstruiert werden können, bestimmte, auch auf den ersten Blick „nicht-landschaftliche“ Bilder als Symbolisierungen ebendieser Topoi dechiffrieren (Hard 1987). Das hieße aber, eine Unter193

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scheidung, wie sie Husserl mit Bildsujet, Bildobjekt und Bildträger vornimmt, ist kaum hilfreich. Es geht eben nicht um die Landschaft als Bildsujet, sondern um die Symbolisierung einer Idee, nicht um die Abbildung eines Gegenstands, sondern um Analogien von Weltbildern und deren Basis in Vergesellschaftungsprozessen. Landschaft ist dann etwa „das äußere Bild einer inneren Einheit von Mensch und Natur, in der sich der ‚objektive Geist‘ in variierenden Formen zeigt“ (Eisel 1987) und immer schon ein semantisches Konzept, weder eine Theorie noch ein Realobjekt. Eine „bildliche Umsetzung“ kann es streng genommen nicht geben (die stellt immer die Frage: von was?), sondern nur Variationen der immanenten Bildhaftigkeit des Konzepts. Das hieße aber andersherum, dass Bilder als prominente Zugänge zu vergangenen und zeitgenössischen gesellschaftlichen Raumverhältnissen wie auch dem Mensch-Natur-Verhältnis genutzt werden können. Um nicht immer wieder in die „Realitätsfalle“ zu tappen, die sich übrigens, wenn auch variierend, in jedem der in Tabelle 2 gelisteten Ansätze auftut, hieße das nun mit einem konstruktivistisch gewendeten Realitätskonzept zu arbeiten. So entstehen zunächst andere Fragen als die nach Funktion und Wirklichkeitsgehalt geographischer Bilder, nämlich die nach ihrer wirklichkeitskonstituierenden Funktion. Welche Rolle spielen Bilder bei der Konstitution einer als Wirklichkeit aufgefassten bzw. gedeuteten raum-zeitlichen Wirklichkeit? Jenseits eines (abbildtheoretisch fundierten) Realismus-Konzepts ist dieses GeographieMachen durch Bilder dann mit einem Begriff von hergestellter Realität verbunden. Sie lässt sich als stabilisierendes, Kontingenz reduzierendes Bild-Produkt im Sinne einer verwirklichenden Verortung fassen. Dieser Effekt wäre dann als ein epistemologisch zu fassender Vorgang zu begreifen, womit praxistheoretische und insbesondere diskurstheoretische Positionen zu begründen sind. In geographischer Auslegung hieße das zum Beispiel zu fragen, wie mit (Un-)Sichtbarkeiten von Raumrepräsentationen diskursiv umgegangen wird und wie Referentialität und Evidenzcharakter von materiellen Bildern konstitutiv an Diskursen über Regionen oder Landschaften beteiligt sind (vgl. Müller und Backhaus 2007). Daran lässt sich dann die Frage anschließen, wie Bilder Anteil an der Fetischisierung von Landschaft haben, insofern sich die sozialen Prozesse der Herstellung hinter einem scheinbar natürlichen Wert verstecken. Und auch die soziokulturelle „Disziplinierung des Blicks“ (vgl. Urry 2002) scheint ein aussichtsreiches Feld einer begrifflich so abgestützten diskursanalytischen Betrachtung. Denn ob eine Berglandschaft als Natur, als heile Welt oder als ökologisches Krisengebiet erscheint, hängt aus dieser Perspektive nicht nur wesentlich damit zusammen, welche anderen Deutungsmög194

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lichkeiten ausgeblendet werden, sondern vor allem mit diskursiv verankerten Ansprüchen auf bildliche Wahrhaftigkeit und Umgangsweisen mit bildlicher Realitätstreue. Ein bildtheoretisch fundierter diskursanalytischer Umgang mit Bildern und Bildlichkeit in der Geographie könnte dann möglicherweise Einsichten in die Konstitution von Gesellschaft-Raum-Verhältnissen bieten, die (erstens) über die Analyse der sprachlichen Zeichen nicht erschlossen werden können und (zweitens) mit den gerade durch Bilder hergestellten Essentialismen brechen.

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JUDITH MIGGELBRINK, ANTJE SCHLOTTMANN

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Ra uma nge bote bei Fouca ult VERENA SCHREIBER Die Sozialwissenschaften begegnen in den letzten Jahrzehnten ihren zentralen Kategorien von Gesellschaft und Kultur mit zunehmender Skepsis. Zu der Erschütterung dieser vermeintlich unhintergehbaren Positivitäten haben auch die Schriften Foucaults zum Verhältnis von Wissen, Macht und Subjekt maßgeblich beigetragen. In der Geographie setzte sich in weiten Teilen die Vorstellung durch, dass ihre zentrale Kategorie „Raum“ jenseits sprachlich-symbolischer Ordnungen nicht fassbar sei. Mit der metaphysischen Wende scheint sie ihre eindeutige Erklärungskraft verloren zu haben. Mit großer Erleichterung wird daher die verstärkte Diskussion von Raumfragen in den letzten Jahren aufgenommen, die in den Sozialwissenschaften unter dem Label des spatial turn (je nach Blickwinkel auch als topological oder topographical turn) geführt wird. Nach Phasen der Raumabwertung und -relativierung tritt jeder Sozialwissenschaftler_in nun ein schillernder Raumbegriff entgegen (vgl. z. B. die Beiträge in Döring und Thielmann 2008), der einerseits einen großen Interpretationsrahmen freisetzt, andererseits zur Konkretisierung zwingt. Viele aktuelle Arbeiten in der (Kultur-)Geographie wenden sich daher wieder verstärkt dem Raum und der Räumlichkeit zu und setzen sich mit den Begriffen umfassend theoretisch auseinander (z. B. Miggelbrink 2002; Schlottmann 2005; Redepenning 2006). Vor diesem Hintergrund gewinnt die Raumfrage auch bei diskurstheoretisch ausgerichteten Arbeiten zunehmend an Bedeutung und damit auch bei der Auslegung der Schriften Foucaults. In einer stark vereinfachten Systematisierung lassen die Foucault’schen Ausführungen zwei Facetten der Raumreflexion zu. Auf der einen Seite erlaubt die Bezugnahme auf die Schriften Foucaults, Raum hinsichtlich seiner Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit zur Sortierung von Gesellschaft zu thematisieren. Auf der anderen Seite rekurriert er auf einen relational199

VERENA SCHREIBER

abstrakten Raumbegriff, der Raum im Sinne von Räumlichkeit als Strukturdarstellung von Ordnungen der Ein- und Ausschließung in der Verbindung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken versteht.1 Oder anders: Die ökonomische Perspektive räumt der Beziehung des Subjekts zum praktischen Ort das Privileg ein; die relationale Perspektive dahingegen der Topologie, in der die Struktur bildenden Elemente von Sprache und Praxis in eine Beziehung der Nähe und Ferne sowohl zu ihrer Umgebung als auch untereinander eintreten. In der Geographie wird dem ersten Gesichtspunkt ein höherer Stellenwert beigemessen, da mit ihm unmittelbar an konkrete erdräumliche Ausschnitte angeschlossen werden kann. Der zweite Gesichtspunkt fordert eine stärkere Berücksichtigung der Funktion von Sprache als Wahrheitsproduzent und entlehnt hierfür die Vorstellung von Räumlichkeit anderen Disziplinen: Aus dem sprachwissenschaftlichen Strukturalismus und der Mathematik speist sich ein Denkangebot von Räumlichkeit, das auf die Relationalität und Strukturalität aller Existenz abhebt. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Angebote seines Raum-Denkens hinsichtlich ihrer Reichweite für geographische oder – allgemeiner: raumbezogene – Fragestellungen ausgeführt werden.

Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit Der Aspekt der territorialen Verfügungsgewalt (Günzel 2006: 24) über Menschen steht im Zentrum der historischen Schriften Foucaults. Insbesondere in „Überwachen und Strafen“ beschreibt Foucault am Beispiel unterschiedlicher Institutionen die Kunst, Individuen im Raum zu verteilen und darüber Machtausübung zu perfektionieren (Foucault 1976 [1975]: 181ff.). So diente im städtischen Raum das rigorose Parzellieren dem Zweck der lückenlosen Überwachung bei Ausbruch der Pest: „Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums; Verbot des Verlassens unter Androhung des Todes; Tötung aller herumlaufenden Tiere; Aufteilung der Stadt in verschiedene Viertel, in denen die Gewalt jeweils einem Intendanten übertragen wird“ (ebd.: 251). Dieser Ausnahmesituation stellt Foucault mit der berühmten Beschreibung des 1

Andere Autoren sehen den Raumbegriff bei Foucault in weiteren Dimensionen. So differenziert Ruoff (2007) bspw. vier Schwerpunkte der – im weiteren Sinne – Raumthematisierung: (1) der Zusammenhang von Sprache und Raum als Verbindung von Sagbarem und Sichtbarem, (2) die Verräumlichung des Denkens in den Wissenschaften, (3) die Idee der Heterotopie als „Gegenort“ und schließlich (4) die ökonomisch-politisch motivierte Raumanalyse. Auf weitere Raumbegriffe der gegenwärtigen Humangeographie, die für diskursanalytisches Arbeiten fruchtbar gemacht werden können, verweist Bauriedl in diesem Band (Kap. 10).

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Bentham’schen Panopticons ein Funktionsmodell des Raums an die Seite, das die Beziehung der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert (ebd.: 263). Das Panopticon sei kein „Traumgebäude“, sondern in vielen Variationen bereits realisiert: „es dient zur Besserung von Sträflingen, aber auch zur Heilung von Kranken, zur Belehrung von Schülern, zur Überwachung von Wahnsinnigen, zur Beaufsichtigung von Arbeitern, zur Arbeitsbeschaffung für Bettler und Müßiggänger. Es handelt sich um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum, der Verteilung von Individuen in ihrem Verhältnis zueinander, der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen, der Definition von Instrumenten und Interventionstaktiken der Macht – und diesen Typ kann man in den Spitälern, den Werkstätten, den Schulen und Gefängnissen zur Anwendung bringen“ (Foucault 1976 [1975]: 264). Raum versteht sich in diesem Sinne als eine Produktivkraft für Einschließungsmilieus (z. B. die Schule, das Krankenhaus, die Familie etc.), mit ihm lassen sich Individuen konzentrieren, verteilen, anordnen (Deleuze 1993b [1990]: 254). Wie kaum eine andere Analyse Foucaults sensibilisiert „Überwachen und Strafen“ die Leser_in dafür, wie in unser Alltagsleben eingeflossene Funktionsräume für die Kontrolle von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen nutzbar gemacht werden. Besonders deutlich bringt Foucault den Zusammenhang von Raumproduktion und der Führung von Menschen in der ersten Vorlesung zur Geschichte der Gouvernementalität zum Ausdruck. Die das gegenwärtige Sicherheitsdispositiv umfassenden Disziplinarmechanismen, die Souveränität und die Subjektivierungstechniken behandeln den Raum in je unterschiedlicher Weise (Foucault 2004 [1978]: 26ff.). Während die Disziplin die praktische Ortsgebundenheit nutzt, um Körper von Individuen hierarchisch zu organisieren und zu kontrollieren, liegt die Aufgabe des modernen Sicherheitsraums darin, nicht kontrollierbare, zukünftige Ereignisse in einem veränderbaren Rahmen zu verwalten. Am Beispiel der Stadtgestaltung im 18. Jahrhundert beschreibt Foucault, wie die Verwaltung von Bevölkerung erreicht werden sollte: „Erstens Achsen schlagen, die die Stadt durchdringen und Straßen, die weiträumig genug sind, um vier Funktionen sicherzustellen. Erstens die Hygiene, das Durchlüften [...] Zweitens, den Binnenhandel in der Stadt sicherstellen. Drittens, dieses Straßennetz derart mit den Landstraßen der Umgebung verbinden, daß die Waren von außen hereinkommen oder befördert werden können, dies jedoch ohne Vernachlässigung der Zollkontrolle. Und schließlich eines der wichtigsten Probleme für die Städte im 18. Jahrhundert, nämlich die Überwachung zuzulassen, da ja der durch die ökonomische Entwicklung notwendig gewordene Wegfall der Festungs201

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mauern bewirkte, daß man die Städte nicht mehr schließen oder tagsüber das Kommen und Gehen nicht mehr genau überwachen konnte [...] Anders gesagt, es handelte sich darum, die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren“ (Foucault 2004 [1978]: 36f.). Es wäre verkürzt, diese Ausführungen Foucaults als Beleg dafür zu sehen, dass er einem substanziellen Raumverständnis den Vorrang gäbe. Raum interessiert ihn vielmehr als soziale Praxis (vgl. auch Belina und Michel 2007: 22) in seiner substanziellen Auswirkung auf das menschliche Handeln. Denn jedem Vorgang der Subjektwerdung ist ein Stück materiellen Zwangs inhärent, „weil es stets wenn nicht der handgreiflichen Disziplinierung, so doch der physischen Präsenz verräumlichter Gewalt bedarf, um ein menschliches Wesen in das entsprechende Netzwerk sozialer Regeln einzuüben“ (Honneth 2003: 24). Für die Geographie schließen sich an diese Perspektive die Fragen an, welche Funktionen Raumproduktionen bei der Steuerung von Bevölkerung erfüllen und wie sich durch Territorialisieren und Zonieren menschliches Handeln und gesellschaftliche Teilhabe lenken lässt. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele aus der geographischen Stadtforschung: 1. Öffentliche Stadtplanung: Der Aspekt der territorialen Verfügungsgewalt eröffnet eine Sichtweise auf die Stadtplanung, die quer zu der konventionellen geographischen Auseinandersetzung mit politischen Planungsprozessen steht. Im Mittelpunkt des Interesses steht dann nicht die Erstellung von Planungskonzepten. Vielmehr lässt sich problematisieren, wie mittels bestimmter Planungskonzepte eine Idealvorstellung städtischen Zusammenlebens entworfen wird. Beispielweise weist der Bebauungsplan Nutzungsarten und Nutzungsbeschränkungen im städtischen Raum aus und definiert so eine spezifische Siedlungsstruktur. Diese Praxis sortiert Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen und legt damit auch fest, welche Zugangschancen zu gesellschaftlicher Teilhabe möglich und unmöglich werden. 2. Siedlungsgestaltung unter kriminalpräventiven Aspekten: Aktuelle Trends bei der Gestaltung von Wohngebieten, wie das Defensible Space-Konzept, lassen sich aus der Perspektive der Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit hinsichtlich ihrer Wirkungen auf menschliches Handeln kritisch beleuchten. Das Konzept des Stadtplaners Newman (Newman 1972) zielt darauf ab, über bauliche Elemente zu normieren, wie und von wem bestimmte Bereiche im Wohnquartier genutzt werden dürfen. Dem Prinzip der Territorialisierung folgend, werden insbesondere Wohngebiete durch den Einsatz unterschiedli202

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cher Materialien und Farben in einzelne Zonen eingeteilt. Durch ihre Kopplung mit erwünschten Nutzungen kann menschliches Handeln gezielt gelenkt und der Ausschluss „unerwünschter“ Personengruppen legitimiert werden. Mit diesem Instrument versucht die Siedlungsgestaltung letztlich die Bewegung von Menschen zu organisieren und kalkulierbar zu machen.

Exkurs: Heterotopien In zwei Vorträgen zur Heterotopologie bezieht Foucault dezidierter Stellung zu Aspekten von Raum und Räumlichkeit. 1966 hält er einen Radiovortrag über „Die Heterotopien“ (Foucault 2005) und kurz darauf den Vortrag „Von anderen Räumen“ (Foucault 2005 [1967]) im Cercle d’études architecturales. Beide sorgten insbesondere in der Architektur (z. B. Brauns 1992) für Aufsehen, sollten fortan aber auch in der angloamerikanischen Geographie eine Rolle spielen (z. B. Soja 1995). In der deutschsprachigen Geographie werden diese Schriften bislang selten explizit herangezogen (eine Ausnahme bildet z. B. Hasse 2007). Als Heterotopie bezeichnet Foucault einen Raum, der eine physisch-materielle Seite sowie eine mythisch-diskursive Seite aufweist. Heterotopien sind Räume, die sich allen anderen realen Orten widersetzen (Foucault 2005 [1966]: 10f.). Als lokalisierte Utopien übernehmen sie in der Gesellschaft die Aufgabe, Menschen zu versammeln, welche sich „im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten“ (Foucault 2005 [1966]: 12). Er denkt hierbei z. B. an Psychiatrien, Krankenhäuser oder Gefängnisse, aber auch Friedhöfe oder Gärten. In den Heterotopien verdichten sich all die Brüche und Widersprüche auf engstem Raum, die für das Funktionieren des gesellschaftlichen Alltags wesentlich sind, in ihrer Existenz aber kaum bekannt sind oder verschwiegen werden müssen (mythisch-diskursive Seite). Sie „beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird“ (Foucault 1971 [1966]: 20, Hervorh. im Orig.). Heterotopien haben folglich eine ganz eigene Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit. Als „Nichtorte der Sprache“ (Defert 2005: 75) sind sie nicht etwa aus der lebensweltlichen Realität verbannt. Im Gegenteil sichern gerade die „Masken ihrer Äußerlichkeit“ (Hasse 2007: 76) und ihre offensichtliche Integration in die Stadtarchitektur (physischmaterielle Seite), dass eine Problematisierung des Ausschlusses von Menschen aus gesellschaftlicher Teilhabe aus bleibt. Ihre besondere Leistung ist es, als verstreute Zentren von Mächten zu fungieren, die im Verborgenen bleiben und dadurch die gesellschaftliche Organisation sicherstellen können. Auch wenn Foucault fünf (2005 [1966]) bzw. sechs (2005 [1967]) heterotopologische Grundsätze verfasst, bleibt er exakte Kriterien zur Bestimmung von Orten als Heterotopien schuldig. Die relativ kurzen Texte zu den Heterotopien haben eher fragmentarischen Charakter, weniger bieten sie eine ausgearbeitete Theorie (Hasse 2007: 74). In diesem Sinne provoziert die den „anderen Orten“ immanente, aber 203

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nicht theoretisch ausformulierte Grenzverwischung zwischen Mythisch-Diskursivem und Physisch-Materiellen vielfältige Kritik. Mit dem Blick auf die Heterotopologie und ihre Vervielfältigung der Gegenorte fragt Marchart (1998: 25) bspw., ob es überhaupt noch andere Orte als „andere Orte“ gäbe? Positiv gewendet fördert der unkonkrete Charakter des Heterotopie-Konzepts allerdings auch experimentelles und kreatives Arbeiten.

Topologie: Entsprechungen und Lagebeziehungen Foucaults gesellschaftsbezogene Studien haben bis heute nicht an Wirkung verloren, weil sie, wie keine anderen, die Beziehungen ent„falten“, in denen das Innen des Subjekts zum Außen der diskursiven und nichtdiskursiven Herrschaftstechniken steht. Im Mittelpunkt steht für ihn immer das Wechselspiel zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren. Diese komplexe Sichtweise auf die Wirklichkeit besticht in all seinen historischen Schriften. Als konzeptionelle Denkoperation stellt sie die Leser_in allerdings vor enorme Herausforderungen (z. B. bei der Lektüre Foucaults früher konzeptioneller Schrift „Das Denken des Außen“ von 2001 [1966]): Wie ist das Verhältnis zu denken, in dem das Sagbare zum Sichtbaren steht und auf das Subjekt wirkt, wie wird zwischen den beiden Achsen vermittelt und schließlich, wie sich den Rissen und Fäden nähern, welche die beiden Achsen teilen und zusammenhalten?2 Um sich diesen Fragen zu nähern, behelfen sich einige Autoren mit dem Raumdenken der Topologie (z. B. Günzel 2007). Aus relationaler Perspektive lässt sich dann das Verhältnis zwischen Sagbarem und Sichtbarem als Distanzraum, als Eingehen von Elementen in eine Beziehung der Nähe und Ferne thematisieren. Beim Perspektivenwechsel weg von einem situierten Raum (s. o.) hin zu einer relationalen Raumauffassung wird Raum im Anschluss an die mathematische Auslegung „nicht mehr als eine dreifach dimensionierte Entität oder formale Einheit gefasst, sondern anhand von Elementen beschrieben, die relational zueinander bestimmt werden. Mit anderen Worten: An die Stelle des Ausdehnungsaprioris tritt eine Strukturdarstellung von Raum“ (Günzel 2007: 17). Die Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit bildet dann (nur noch) einen Aspekt der Topologie. Über den ausschließlichen Rekurs auf die Relationalität aller Existenz ist die Idee der Topologie allerdings noch wenig konkretisiert und differenziert. Zu Systematisierungszwecken soll daher im Folgenden das Spezifische, was Foucault unter jenen „topolo2

Vorschläge zur forschungspraktischen Differenzierung zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem finden sich u. a. bei Bührmann und Schneider (2008).

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gischen Operationen“ versteht, die uns zu unseren aktuellen Problemen zurückbringen sollen (Deleuze 2005: 249), in zwei Typen von Beziehungen zerlegt werden. Zum einen konfrontiert uns diese Sichtweise mit Beziehungen zwischen Sprache und Praxis, zum anderen mit Beziehungen zwischen diskursiven Elementen (Diskursformationen). Etwas genauer: Foucault geht es im ersten Fall darum, „Entsprechungen im Verschiedenen zu beschreiben“ (Günzel 2007: 21). Auf diesen Aspekt rekurriert insbesondere Deleuze, wenn er die Beziehung zwischen den Foucault’schen Achsen von Wissen und Macht als wechselseitiges Durchdringen konzipiert. Sich auf die Suche nach Distanzräumen im Sinne der Topologie zu begeben, impliziert im zweiten Fall das Moment der Lagebeziehungen. Innerhalb einer Achse interessiert dann die Anordnung von Elementen in einer spezifischen Struktur. Diesen Gesichtspunkt hebt Foucault heraus, wenn er in der „Archäologie des Wissens“ dafür plädiert, die Beziehungen zwischen den Aussagen in diskursiven Formationen zu beschreiben.

Entsprechungen Geographische Diskursanalysen setzen häufig an geschriebenen oder gesprochenen Worten an. Gleichzeitig suchen sie nach Entsprechungen im Nicht-Diskursiven. Für dieses Vorgehen können sie sich an nahezu allen Schriften Foucaults orientieren. Den praktischen Herrschaftsmechanismen stellt er immer eine Begleiterin an die Seite – die Sprache. Beide Achsen bilden im wechselseitigen Durchdringen unsere gesellschaftlichen Positivitäten. Die Erfassung ihrer wechselseitigen Bezugnahme kann als ein zentrales Anliegen Foucault’scher Diskursanalysen gelten. Auf die Abhängigkeit der beiden Achsen voneinander verweist Deleuze (Deleuze 2005: 249), wenn er herausstellt, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse immer nur unter der Berücksichtigung ihrer nichtdiskursiven Formationen und ihrer diskursiven Formationen erschlossen werden können. So verwirklichten sich die Machtverhältnisse in diskursiven Formationen. Diskursformationen hätten ohne einen (machtvollen) Sichtbarkeitsraum nichts zu verkörpern. Umgekehrt aber bleiben Machtverhältnisse instabil und flüchtig und können keine Form annehmen, wenn sie nicht durch diskursive Formationen aktualisiert werden (Deleuze 2005: 240f.). Jedes Beschreibungssystem besitzt somit eine physische Ausdehnung, nimmt eine materielle Gestalt an, „indem es sich in der Form unserer kognitiven Instrumente, der Architektur unserer Räume der Regelaufzwingung und der Technik unserer Kommunikationsmedien niedergeschlagen hat“ (Honneth 2003: 23). Dem Artikulationsprozess steht daher stets ein Sichtbarkeitsraum zur Seite. Eine Fou205

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cault’sche Diskursanalyse vollzieht sich immer mehrpolig: „sie arbeitet an einer Vielzahl von Registern; sie durchläuft Zwischenräume und Abstände; sie hat ihren Bereich dort, wo die Einheiten nebeneinander stehen, sich trennen, ihre Ränder festlegen, sich gegenüberstehen und zwischen sich leere Räume zeichnen“ (Foucault 1973 [1969]: 224). Eine Reduzierung des Foucault’schen Anliegens entweder ausschließlich auf den Aspekt der Lokalisierungen von Machtverhältnissen oder ausschließlich auf die Untersuchung sprachlicher Machtstrukturen läuft seiner Intention entgegen, nicht-diskursive Praktiken mit diskursiven Formationen in Beziehung zu setzen. Die Erfassung beider Achsen bildet das Charakteristische einer an Foucault angelehnten Diskursanalyse. Für die (nicht nur geographische) Forschungspraxis ist die Integration des Sichtbaren und des Sagbaren jedoch eine enorme Herausforderung. Das Problem wird deutlich, wenn der Blick noch einmal auf die Heterotopien gerichtet wird: Wie lässt sich bspw. der medizinische Diskurs (Sagbarkeitsraum) in Beziehung zum materiellen Ort der psychiatrischen Einrichtung (Sichtbarkeitsraum) setzen, ohne dabei einem einfachen Repräsentationsgedanken aufzusitzen? Beide Ebenen scheinen jeweils für sich genommen durch geeignetes diskurs- und machtanalytisches Instrumentarium (vgl. die in diesem Handbuch angebotenen Methoden) noch erschließbar zu sein. Die Verknüpfung wirft jedoch das Problem auf, ihre Entsprechungen zu finden und gleichzeitig ihren Eigenheiten gerecht zu werden. Denn auch wenn die beiden Bereiche sich durchdringen, sich gegenseitig stabilisieren und in Beschlag nehmen, sind sie doch nicht identisch. Im Gegenteil, sie sind durch einen „gewaltigen Riß“ durchbrochen, wie es Deleuze (Deleuze 1993a [1990]: 140) zum Ausdruck bringt, ein Riss, „der die Form des Sichtbaren auf die eine Seite bringt, die des Aussagbaren auf die andere, und zwar irreduktibel. Und außerhalb der Formen, in einer anderen Dimension verläuft der Faden, der beide miteinander vernäht und den Zwischenraum einnimmt“. Auf dieses Problem verweist auch Foucault selbst. Die „nackte“ Erfahrung des Außen stehe schweigsam außerhalb des Sagbaren, „weil das Außen niemals sein Wesen preisgibt; es kann sich nicht als positive Gegenwart darbieten [...], sondern nur als Abwesenheit, die sich ständig von sich selbst zurückzieht und tiefer in das Zeichen hineingräbt, in dem sie uns auffordert, ihr zu folgen, so als ob es möglich wäre, sie jemals zu erreichen (Foucault 2001 [1966]: 680). Somit bleibt auch die Sprache über das, was uns als Außen entgegentritt, immer nur Kommentar und damit stets außerhalb des in ihr gesagten (ebd.: 679). Das Sichtbare lässt sich folglich nicht analog dem Sagbaren bestimmen. Es müsste immer in seiner eigenen Wirkung des sprachlosen Entgegentretens berücksichtigt 206

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werden. Die Übersetzung des Sprachlosen in Sagbares, die Übertragung des Nicht-Diskursiven auf die andere Ebene der diskursiven Ordnungen ist aber zum Scheitern verurteilt. Sonst reduziert sich Sprache auf die Reflexion der Erfahrung des Außen, und sie vermag lediglich, das Außen in das Innen hineinzuholen. Das hat zur Konsequenz, dass auch Beschreibungen der diskursiven Formationen letztlich keine Schlussfolgerungen auf die Wirkungen des Sichtbaren zulassen. Mit Bezugnahme auf die Diskurse kann letztlich immer nur das untersucht werden, was sich sprachlich entgegenstellt, kurz: die Positivität der Aussagen.

Lagebeziehungen Der bizarre Begriff der Topologie lässt sich darüber hinaus inhaltlich auf das Moment des Sagbarkeitsraums, genauer auf die Lagebeziehungen von Aussagen in diskursiven Formationen eingrenzen. Dies gelingt besonders gut, wenn hierfür die frühen Schriften Foucaults zuhilfe genommen werden. Insbesondere in „Raymond Roussel“ (Foucault 1989 [1963]) und in „Das Denken des Außen“ (Foucault 2001 [1966]) widmet er sich der Architektur des Raums, die er in der Bewegungen der Sprache selbst entdeckt (Sarasin 2005: 48). Die determinierende Funktion der Sprachmaschinerie bewirke, dass „das Subjekt, das sprechende Ich, sich teilt, sich auflöst, sich zerstreut und in diesem leeren Raum vollends verschwindet“ (Foucault 2001 [1966]: 672, zit. nach Sarasin 2005: 48). Diese Denkweise von Räumlichkeit als Architektur von Sprache formuliert Foucault paradigmatisch in der „Archäologie des Wissens“ aus. Er stellt die archäologische Beschreibung als eine Analyseform vor, welche die Aussagen nach funktionalen Ähnlichkeiten isoliert und ihre Ordnungen untersucht. Mit Sarasin (2005: 68) lassen sich diese Ordnungen „nicht in einer linguistischen Analyse erschließen, sondern in einer allgemein topologischen, räumlichen Untersuchung ihrer Verteilungen, Grenzen und Übergänge.“ Dabei versucht die archäologische Analyse nicht, die sie umgebende Stummheit zum Sprechen zu bringen. Sie lehnt einen Text unterhalb ab, denn „[d]as Aussagegebiet ist völlig an seiner eigenen Oberfläche befindlich. Jede Aussage nimmt darin einen Platz ein, der nur ihr gehört. Die Beschreibung besteht also anläßlich einer Aussage nicht darin herauszufinden, den Platz welches Nicht-Gesagten sie einnimmt, noch wie man sie auf einen stummen und gemeinsamen Text reduzieren kann, sondern umgekehrt darin, welchen besonderen Platz sie einnimmt, welche Verzweigungen im System der Formationen ihre Lokalisierung gestatten, wie sie sich in der allgemeinen Streuung der Aussagen isoliert“ (Foucault 1973 [1969]: 174). Eine so verstandene topologische Beschreibung verwehrt sich dagegen, eine verborgene Me207

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taerzählung herbeizuzitieren. Sie hebt auf das symbolische Element der Struktur ab, das die Struktur weder in präexistenten Realitäten noch in imaginären oder begrifflichen Inhalten aufgehen lässt. Was übrig bleibt, ist ein Sinn, „der notwendig und einzig aus der ‚Stellung‘ hervorgeht. Es handelt sich nicht um einen Platz in realer Ausdehnung, noch um Orte in imaginären Bereichen, sondern um Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, das heißt, topologischen Raum“ (Deleuze 1992 [1973]: 15). Die einzelnen Elemente erhalten ihren Sinn ausschließlich aus ihrer Stellung im Beziehungsgefüge der diskursiven Formation. Sie treten mit ihrer Umgebung in eine Nachbarschaftsordnung ein und spannen durch ihre je spezifischen Abstände einen Raum der Entzweiung (Foucault 1973 [1969]: 218) auf. Die Aufgabe einer so verstandenen topologischen Beschreibung der Aussagebeziehungen besteht darin, die Funktionen zu bezeichnen, die den Figuren ihre Positionen im Diskurs zuweisen. Die Topologie installiert ein Netz, das die Subjekte in unterschiedliche Stellungen zwingt. Eine Betrachtung der Lagebeziehungen zwischen den Aussagen ist von Belang, wenn die topologische Sortierung von Subjekten über ihre Stellung im gesellschaftlichen System entscheidet, über ihren Zugang zu Ressourcen und Widerstandsmöglichkeiten. Diese Form der Subjektivierungspraxis nutzt ein Moment der Festschreibung, das sich jenseits eingenommener konkreter Orte vollzieht. Dabei ist die innere Organisation der Aussagen nicht frei von Widersprüchen. Ein topologisches Unternehmen muss sich folglich abseits dichotomer Denkfiguren bewegen und nach Zwischen-Räumen, Übergängen und Verflechtungen suchen. Die aus den Sprachwissenschaften und dem mathematischen Denken importierte Sichtweise von Räumlichkeit als Topologie in die Gesellschaftswissenschaften birgt allerdings die Gefahr, Soziales ausschließlich über eine ihr vorgängige topologische Struktur erschließen zu wollen. Der Wissenstransfer lässt die Komplexität von Wirklichkeit als bezwingbar erscheinen. Er suggeriert der Forscher_in, dass gesellschaftlichen Unwägbarkeiten Strukturen und topologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde lägen, die, wenn sie denn offen gelegt seien, einfache Problemlösungen möglich machten. Letztlich sollte die Topologie daher nur als eine Beschreibungsmöglichkeit verstanden und nicht als Erklärungsversuch von gesellschaftlichen Sortierungsprozessen genutzt werden.

Foucault und Geographie In seiner letzten Antwort auf die „Fragen an Michel Foucault zur Geographie“ (Foucault 2003 [1976]: 54) in Hérodote, trifft Foucault die der Geographie schmeichelnde Aussage: „[d]ie Geographie muss wirklich 208

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im Zentrum dessen stehen, womit ich mich befasse“. Diese Aussage darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich in seinen Hauptwerken nicht dezidiert der Raumfrage zuwendet. In seinen historischen Studien und konzeptionellen Schriften formuliert er keinen expliziten Raumbegriff. Sein Werk kann jedoch vielfältige Anregungen für die Fortführung der Raumdebatte und raumbezogenes Arbeiten in der Geographie bieten – und hat dies in der angloamerikanischen Geographie auch bereits getan. Hier plädierte Philo (1992) schon Anfang der 1990er-Jahre dafür, das „Andere“ der Perspektive Foucaults auf Raum für die Geographie fruchtbar zu machen. In Foucaults „Überwachen und Strafen“ entdeckte Allen „a particular spatial vocabulary of power“ (1997: 64). Und jüngst lieferten Crampton und Elden (2007) eine Zusammenstellung von Texten Foucaults zum Raum und zur Geographie, begleitet von namhaften Rezeptionen. Mit zeitlicher Verzögerung greift in den letzten Jahren zunehmend auch die deutschsprachige Geographie die Schriften Foucaults und die hier angelegten Perspektiven auf Raum auf. So findet insbesondere im Zuge der stärkeren Betrachtung unterschiedlicher Dimensionen des Regierens eine rege Diskussion des Zusammenhangs von Gouvernementalität und Raumaspekten statt (vgl. Füller/Marquardt in diesem Band). Andere Autor_innen nehmen die komplexen Denkoperationen Foucaults zur Verknüpfung von Diskursen, Macht und Subjekt zum Anlass, das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken mithilfe hegemonietheoretischer Anleihen zu konkretisieren (vgl. Glasze/Mattissek in diesem Band). Maßgeblichen Einfluss üben die Foucault’schen Schriften außerdem auf die Gender-Debatte in der Geographie aus (vgl. Strüver in diesem Band). Allen gemeinsam ist, dass sie sich in ihren empirischen Arbeiten sowohl um die Re- und Dekonstruktion diskursiver Strukturen bemühen als auch um die Berücksichtigung von Aspekten territorialer Verfügungsgewalt des physisch-materiellen Raums. Damit machen sie die Raumangebote Foucaults mal mehr, mal weniger explizit zum Inhalt ihrer Untersuchungen.

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Der Raumbegriff bei Laclau – auf dem Weg zu einem politischen Konzept von Räumen GEORG GLASZE In dem 1990 erschienenen Buch „New Reflections on the Revolution of our Time“ räumt der Diskurs- und Hegemonietheoretiker Laclau dem Raumbegriff einen prominenten Platz ein. Er definiert dabei Raum als das Gegenteil von Zeitlichkeit. Die britische Geographin Massey, eine der profiliertesten Autor_innen der raumtheoretischen Debatte (s. Beitrag Bauriedl), hat diese Verwendung des Raumbegriffs scharf kritisiert – obwohl sie die Arbeiten von Laclau und seiner vielfachen Koautorin Mouffe mehrfach positiv rezipiert hat. Wie lässt sich verstehen, dass eine gesellschaftskritisch engagierte Geographin einen aus der Politischen Theorie entwickelten Raumbegriff als „apolitisch“ zurückweist? In diesem Kapitel soll zunächst diese Frage geklärt werden, indem die jeweilige Argumentation von Laclau und Massey gegenübergestellt werden. Auf der Basis dieser Klärung wird dann ein Vorschlag für ein politisches Konzept von Raum entwickelt – letztlich im Sinne sowohl der politisch-theoretischen Argumentation von Laclau als auch der sozialwissenschaftlich-raumtheoretischen Argumentation von Massey. Laclau verbindet Zeitlichkeit mit nicht determinierten und unerwarteten Ereignissen, den dadurch notwendigen Entscheidungen – und damit mit dem Politischen. Raum versteht er hingegen als fixierte Struktur – den Gegenpart von Zeitlichkeit. So dass er formulieren kann: „Politics and space are antinomic terms“ (Laclau 1990: 68). Dabei will Laclau seinen Raumbegriff nicht metaphorisch verstanden wissen: „There is no metaphor here. […] If physical space is also space, it is because it participates in this general form of spatiality“ (Laclau 1990: 41f.).

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Die Verräumlichung eines Ereignisses ist nach Laclau die Auslöschung seiner Zeitlichkeit (insbes. Laclau 1990). Sein Argument verdeutlicht er mit dem Fort/Da-Spiel nach Freud. Der Wiener Psychoanalytiker hatte bei seinem Enkel beobachtet, dass dieser im Alter von anderthalb Jahren ein „Spiel“ entwickelt hatte, bei dem er immer wieder Gegenstände wegwarf, so dass diese „fort“ waren, und sie dann wieder zurückzog, so dass sie wieder „da“ waren. Nach Freud ermöglicht das Fort/Da-Spiel dem Kind, die Angst vor dem Ereignis „Abwesenheit der Mutter“ zu verarbeiten. Das Ereignis wird durch eine Abfolge von Anund Abwesenheit symbolisiert, in diesem Sinne synchron präsent gemacht und verräumlicht. Letztlich konzeptionalisiert Laclau alle wiederkehrenden Abfolgen daher nicht als zeitlich, sondern als räumlich. Auch jede teleologische Konzeption von Veränderung, bei der Richtung, Ziele und Zwecke einer Veränderung determiniert sind, sei räumlich. Vor dem Hintergrund einer solchen exklusiven Gleichsetzung von Zeitlichkeit mit Wandel, Entscheidungen und dem Politischen verwundert es nicht, dass Massey Laclau vorwirft, dass seine Perspektive auf Raum es unmöglich mache, die politische Dimension von Räumlichkeit ins Blickfeld zu nehmen (Massey 1992).1 Eine Konzeption von Raum als statischem Gegenpart von Zeit, welche Veränderungen und Wandel bewirke, wird in der raumtheoretischen Debatte der Geographie seit Ende der 1980er-Jahre kritisiert (s. insbes. Massey 1992, 1999; Soja 1995, 1996; s. auch den Beitrag Bauriedl, Kap. 10). Aufbauend auf poststrukturalistischen Ansätzen und damit auch theoretisch den Arbeiten von Laclau durchaus nahe stehend, konzeptionalisiert Massey Raum als geprägt von Vielfalt, Fragmentierung und Widerspruch. Sie sieht Raum „as constructed out of interrelations, as the simultaneous coexistence of social interrelations and interactions at all spatial scales …“ (Massey 1992) und betont die Untrennbarkeit von Raum und Zeit (ebd.: 159). Ein Denken, das auf die Pluralität und Vielfältigkeit des Raums abhebe, steht ihr zufolge einem teleologischen Denken in zeitlichen Sequenzen gegenüber, welches durch Eindeutigkeit und eine scheinbar widerspruchsfreie Abfolge unterschiedlicher Zustände gekennzeichnet sei. „Truly recognizing spatiality […] necessitates acknowledging a genuinely co-existing multiplicity – a different kind of difference from any which can be compressed into a supposed temporal sequence“ (Massey 1999: 281). Die Ursachen für diskursiven Wandel liegen nach Massey daher auch im Raum begründet. Veränderungen ent-

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In ähnlicher Weise kritisiert auch Kohn die Dichotomisierung von Raum und Zeit bei Laclau. Sie betont, dass sowohl Zeit als auch Raum „elements of fixity and flux“ enthalten (Kohn 2003).

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stünden aus den unüberwindbaren (gleichzeitigen) Widersprüchen, die im Raum angelegt sind (ebd.). Nach Massey bietet die Konzeptionalisierung von Raum als Gleichzeitigkeit von Widersprüchen und Vielfalt letztlich eine Voraussetzung für das normative Ziel einer radikalen Demokratie, wie es Laclau und insbesondere Mouffe skizziert haben (Laclau und Mouffe 1985; Massey 1995, 1999, 2005; Mouffe 2005 [1993]; s. Kap. 6). Obwohl sowohl Laclau als auch Massey vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Ansätze argumentieren, und die normative Zielrichtungen ihrer Arbeiten sich im Leitbild der „radikalen Demokratie“ (s. Kap. 6) treffen, scheinen beide von vollkommen unterschiedlichen Konzepten zu sprechen, wenn sie sich auf Raum beziehen. Die LaclauSchüler Howarth (1993) und Marchart (1998) greifen diese Widersprüche in den Konzeptionen von Laclau und Massey auf: Letztlich werfen sie Massey in ihren Repliken vor, dass sie die Laclau’sche Konzeption missverstehe. Dieses „Missverstehen“ führt Howarth darauf zurück, dass die Konzeption von Laclau auf einer ontologischen Ebene operiere, während Massey als Sozialwissenschaftlerin auf einer ontischen Ebene argumentiere. Während Laclau also nach den Voraussetzungen der sozialen Wirklichkeit frage, bemüht sich Massey, angemessene Kategorien für die Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeit zu entwickeln. Marchart (1998) systematisiert auf dieser Grundlage die Raumbegriffe bei Laclau und Massey: • Raum fasst Laclau danach als „Name für den theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation, d. h. Ereignissen, welche in eine Struktur einbrechen (s. Kap. 6). Dieser Extremfall kann jedoch nie eintreten, weil das konstitutive Außen der Struktur immer Spuren und dislokatorische Turbulenzen im Inneren hinterlassen wird […]“. Raum setze Laclau also gleich mit einer (letztlich unmöglichen) endgültig fixierten Struktur. • Der Umstand, dass es Raum (sing.) als endgültig fixierte Struktur im ontologischen Sinn nicht geben könne, sei die Voraussetzung und der Grund dafür, dass es auf der ontischen Ebene, d. h. der Ebene der sozialen Wirklichkeit, hingegen Räume (pl.) geben könne. • Diese Räume (pl.) seien also nicht gegeben, sondern müssten fortwährend konstruiert werden. Die Herstellung von Räumen sei immer an Entscheidungen geknüpft und daher politisch. Massey argumentiert nach Howarth ausschließlich auf einer ontischen Ebene. Sie versucht also, die Räume der sozialen Wirklichkeit konzeptionell zu fassen. Die Kritik von Massey an Laclau verkenne also, dass Laclau eben gerade nicht über die Räume der sozialen Wirklichkeit 215

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spreche, sondern über die theoretischen Voraussetzungen dieser Räume (Howarth 1993). Eine weitere Ausarbeitung der von Marchart herausgearbeiteten diskurstheoretischen Unterscheidung zwischen Raum und Räumen leisten die Laclau-Schüler allerdings nicht. Howarth weist zwar auf das Risiko hin, dass eine Betonung von räumlichen Widersprüchen und den gesellschaftlichen Potenzialen räumlicher Vielfalt bei Massey Politiken stärken könne, die auf räumliche Heterogenität setzen wie bspw. nationalistische, rassistische, aber auch vielfach multikulturalistische Politiken und damit räumlich definierter Partikularismen gestärkt würden (ebd.: 53) – eine vertiefte Auseinandersetzung mit der raumtheoretischen Diskussion liefert er allerdings nicht und läuft damit Gefahr, letztlich einer Vernachlässigung der sozialen Kategorie Raum innerhalb der Diskurstheorie Vorschub zu leisten. Erst in jüngster Zeit hat der Laclau-Schüler Stavrakakis (Stavrakakis 2008) darauf hingewiesen, dass innerhalb der Diskurs- und Hegemonietheorie sowie insbesondere bezüglich des normativen Ziels einer radikalen Demokratie (bislang) kaum über die soziale Kategorie Raum nachgedacht wurde. So weist er darauf hin, dass Dislokationen im Sinne der Diskurstheorie (s. Kap. 6) immer vor dem Hintergrund sedimentierter Diskurse stattfinden, d. h. im Sinne der oben skizzierten Unterscheidung: in Räumen. Stavrakakis verdeutlicht diesen Punkt mit dem simplen Satz „events ‚take place‘. Again and again“ (Tschumi 1996: 160, zit. nach Stavrakakis 2008). Eine demokratische Gesellschaft müsse sich der Notwendigkeit bewusst sein, ihre eigenen Räume2 zu schaffen und immer wieder zu reproduzieren, aber sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass eine endgültige Fixierung unmöglich sei (ebd.: 156). Die Diskussion zwischen Laclau, Massey, Howarth, Marchart und Stavrakakis zeigt zum einen die Potenziale der Diskurs- und Hegemonietheorie nach Laclau und Mouffe für die Humangeographie sowie die raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt. So verdeutlicht die Replik von Howarth und Marchart einen für die raumbezogenen Sozial- und Kulturwissenschaft entscheidenden Punkt der Diskurstheorie: Genauso wie das Streben nach Identität und Bedeutung nur möglich, aber auch unvermeidlich ist, weil Identitäten und Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können, so gibt es Verräumlichungen nur deswegen, weil eine endgültige und absolute Fixierung unmöglich 2

Stavrakakis spricht im Originalzitat vom Singular „Raum“ („A democratic society is – or should be – conscious of the need to represent itself, to create and institute its own space, but, at the same time, aware of the ultimate impossibility of any final representation.“). Im Sinne der klärenden Unterscheidung von Marchart wäre es hier aber angebracht, von „Räumen“ zu sprechen.

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ist. Weil Räume also niemals gegeben sind, sondern konstituiert werden, sind Räume immer politisch (Glasze 2009). Stavrakakis hebt hervor, dass eine demokratische Gesellschaft sich daher mit der Konstitution von Räumen auseinandersetzen müsse. Zum anderen verdeutlicht die Diskussion aber auch einige Probleme der Rezeption einer politischen bzw. philosophischen Theorie in den Sozialwissenschaften. So erscheint es fraglich, ob es für die sozialwissenschaftliche Forschung sinnvoll und notwendig ist, den „theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation“ mit dem Begriff „Raum“ zu fassen (ebd.). Darüber hinaus erscheint es für die Humangeographie und die Sozialwissenschaften problematisch, jegliche Versuche einer Fixierung sozialer Wirklichkeit, d. h. jegliche Sedimentation von Diskursen, als Räume zu bezeichnen. Es ist zwar richtig, dass jede Strukturierung in dem Sinne räumlich ist, als dass sie nur topographisch gedacht und präsentiert werden kann. Würden die Humangeographie und die Sozialwissenschaften insgesamt aber jegliche Strukturierungen als Räume bezeichnen, dann würde auf der ontischen Ebene eine sozialwissenschaftliche Differenzierungsmöglichkeit verloren gehen. Es wäre dann bspw. unmöglich zu unterscheiden zwischen Identitätskonstruktionen, die mit einer „hier“- und „dort“-Unterscheidung arbeiten (s. dazu den systemtheoretisch hergeleiteten Vorschlag von Redepenning 2006) wie „Umland“ versus „Kernstadt“, „London“ versus „Frankfurt“, „Europa“ versus „USA“ und anderen Identitätskonstruktionen wie „weiß“ versus „schwarz“, „akademisch“ versus „nichtakademisch“, „Mann“ versus „Frau“, „Geschäftsführerin“ versus „Angestellte“ etc. Die Beziehungen zwischen diesen sozialen Kategorien und damit die spezifische soziale Funktion von Räumlichkeit im Sinne der hier/dort-Unterscheidung könnte dann nicht mehr untersucht werden: Die spezifische Sehschärfe eines sozialwissenschaftlichen bzw. humangeographischen Blicks drohte verloren zu gehen (Glasze und Pütz 2007; Glasze 2009). Für eine diskurstheoretisch informierte Bearbeitung raumbezogener Fragestellungen in der Geographie und den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften erscheint es daher sinnvoll, die Konzeption von Räumen als immer kontingent und damit politisch aufzugreifen, allerdings nur jene Artikulationen als Konstitution von Räumen zu fassen, die symbolisch und/oder materiell hier/dort-Unterscheidungen herstellen, indem bspw. in einem territorialen Sinne Grenzen gezogen und Regionen differenziert werden, in einem skalaren Sinne Maßstabsebenen konstitutiert und differenziert werden oder in einem topologischen Sinne Orte konstituiert und differenziert werden (Glasze 2009).

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10 Impulse der ge ographischen Ra umtheorie für e ine ra um- und maßstabskritische Diskursforschung SYBILLE BAURIEDL In den Sozial- und Kulturwissenschaften wird unter dem Label des spatial turn seit Ende der 1990er-Jahre eine umfangreiche Auseinandersetzung geführt über die Wechselwirkung von Gesellschaftsverhältnissen und die Art und Weise, wie Räume gedacht, wahrgenommen und gestaltet werden. Eine Diskursanalyse kann hierbei Hinweise geben zur symbolischen Strukturierung von Gesellschafts- und Raumverhältnissen und deren handlungsermöglichende und disziplinierende Effekte. Die Impulsgeber für den spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind vielfältig. Eine raumtheoretische Debatte lässt sich mindestens bis Anfang der 1970er-Jahre zurückverfolgen (vgl. Lefebvre 1974). Da diese seit Mitte der 1980er-Jahre insbesondere auch in der Humangeographie geführt wurde und wird, sollen die geographische Auseinandersetzung und deren wissenschaftstheoretischer und empirischer Implikationen hier im Zentrum stehen. Zentrale Protagonist_innen der kritischen Raumtheorie in der Geographie sind u. a. Neil Smith (1984), Edward Soja (1989), Doreen Massey (1994) und David Harvey (1996). In den letzten Jahren wurde ebenfalls von Geograph_innen eine kritische Auseinandersetzung über die Zusammenführung raumtheoretischer und diskurstheoretischer Ansätze angestoßen (Crampton und Elden 2007; Füller und Michel 2008). Die Diskursforschung hat mehrere theoretische Ausgangspunkte und ist in den letzten dreißig Jahren mit unterschiedlichen Ansätzen weiterentwickelt worden. Dieser Beitrag will jedoch die konzeptionellen und methodischen Differenzierungsangebote der raumtheoretischen Debatte vorstellen und kann daher die Diskursforschung an dieser Stelle nicht in 219

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seiner Breite diskutieren. Da die Humangeographie sowie die sozialund kulturwissenschaftliche Raumforschung sich auf die Rezeption der Ansätze von Foucault konzentrieren, wird vor allem auf das von ihm beschriebene Raumverständnis stellvertretend Bezug genommen. Die Problematik der geringen Differenzierung der verwendeten Raumbegriffe findet sich in ähnlicher Form auch in anderen diskurstheoretischen Ansätzen wieder. Auf der Suche nach einer expliziten Thematisierung der Analysedimension Raum in den Werken von Michel Foucault unterscheidet Jonathan Murdoch einen „raumunsensiblen genealogischen Foucault“ und einem „raumsensiblen archäologischen Foucault“ (Murdoch 2006). Diskurstheoretisch fundierte und differenzierte Raumbegriffe stellt Foucault jedoch auch in der jüngeren archäologischen Phase nicht bereit. Entsprechend nehmen diskursanalytische Studien, die sich auf Foucault beziehen, unterschiedliche Raumdimensionen in den Blick, die oft nicht explizit gemacht und befriedigend reflektiert werden. Noch dazu ist der Begriff „Raum“ ein vielschichtiger Begriff der Alltagssprache und außerdem in fremdsprachigen Übersetzungen an unterschiedliche Konnotationen geknüpft. Dieser Beitrag argumentiert daher, dass es für die Diskursforschung mehr bedarf als nur einer Sensibilität für die Dimension Raum und schlägt mit Verweis auf die geographische Raumtheorie eine raumkritische Fundierung vor. Als „kritisch“ ist eine Raumtheorie zu verstehen, die gesellschaftliche Normierungen durch die Verwendung des Begriffs „Raum“ und Essentialisierungen bei der Analyse von Raumdimensionen reflektiert. Auch wenn es keine einheitliche kritische Raumtheorie gibt, so gehen alle im Folgenden genannten Ansätze davon aus, dass es für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung keinen Raum an sich geben kann, der unbeeinflusst von Gesellschaftsverhältnissen ist. Diese grundsätzlich konstruktivistische Perspektive ist die Basis einer hohen Anschlussfähigkeit der kritischen Raumtheorie für die Diskursforschung. Ein differenziertes Raumverständnis bietet die Möglichkeit, dem diskurstheoretischen Anspruch, Raum gleichzeitig als Bedingung und Effekt diskursiver Praxis zu verstehen, analytisch näher zu kommen. Hierfür lässt sich eine raumtheoretische Terminologie nutzen (Sturm 2000; Löw 2001; Miggelbrink 2002; Redepenning 2006). Für die geographische Raumtheorie ist außerdem die Maßstäblichkeit eine zentrale Raumdimension (Wissen 2008). Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, zentrale Argumente der kritischen Raumtheorie nachzuvollziehen und damit die Potenziale und Grenzen für eine raumtheoretisch fundierte Erweiterung der Diskursforschung sichtbar zu machen. Als Argumentationsgrundlage dienen vier Raumbegriffe der raumtheoretischen Diskussion, 220

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mit denen die unterschiedlichen Betrachtungsebenen benannt werden können, die für Diskursanalysen relevant sind, jedoch bislang kaum systematisch explizit gemacht werden: 1. Physischer Raum: Diskursforschung untersucht die materielle Gestalt von institutionellen Räumen (Gefängnis, Psychiatrie usw.) und deren Ermöglichung und Disziplinierung sozialer Interaktionsformen. 2. Sozialer Raum: Diskursforschung untersucht die Anordnung von Subjekt- und Diskurspositionen in sozialen Institutionen (Familie, Beruf, Regierung u. ä.) und deren Interaktionsnormen. 3. Raum-Zeit: Diskursforschung untersucht primär eine genealogische Ordnung von Diskursen mit Blick auf räumliche Strukturierung als sekundäre Erklärungsvariable. 4. Relationaler Raum: Diskursforschung untersucht die Bedeutung der räumlichen Bezüge unterschiedlicher Subjekte, Dinge und Diskurse und setzt deren Verortung miteinander in Verhältnis. 5. Maßstäblichkeit: Diskursforschung untersucht diskursiv vermittelte Normierungen von vertikal organisierten Interaktionsformen. Die Struktur der folgenden Ausführungen orientiert sich an diesen Raumbegriffen. Der erste Abschnitt stellt die Konstruktions- und Konstitutionsbedingungen des physischen und sozialen Raums miteinander in Bezug, im zweiten Abschnitt wird das Konzept der Raum-Zeit als Erweiterung einer genealogischen Strukturierung in der Diskursforschung vorgestellt, der dritte Abschnitt fasst die Erkenntnispotenziale einer relationalen Raumperspektive für die Diskursforschung zusammen, der vierte Abschnitt stellt die Bedeutung einer maßstäblichen Perspektive auf die (An-)Ordnung von Diskursen heraus, um abschließend die Möglichkeiten einer Wissenssynthese von Diskurstheorien und Raumtheorien hervorzuheben.

Raum als Ort und Territorium sozialer (An-)Ordnung Für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse kann der physische Raum nicht als Grundbedingung sozialer Interaktion betrachtet werden, da er immer schon das Ergebnis einer Syntheseleistung sozialer und kultureller Praxis darstellte. Erst „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst“ (Löw 2001: 159; vgl. auch Läpple 1991). Da diese Raumkonstitution im alltäglichen Handeln permanent abläuft, betont die kritische Raumtheorie die prozesshafte Dimension des Raums. Es wird versucht, diese Konstitutionspraxis durch Bezeichnungen wie „verräumen“ 221

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(Bauriedl, Fleischmann, Strüver und Wucherpfennig 2000: 136) oder „spacing“ (Löw 2001: 158) auf den Punkt zu bringen. Die raumtheoretische Diskussion in der Geographie hat in den letzten Jahren gerade diesen Prozess der permanenten Reproduktion des Raums als Effekt und Bedingung gesellschaftlicher Interaktion betont. Eine zentrale Referenz dieser Raumbetrachtung ist Henri Lefebvre, der mit seinem Buch „Die Produktion des Raums“ (1974) die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert, die die dingliche Gestalt des Raums hervorbringen. Sowohl physischer wie auch sozialer Raum kann mit diesem Ansatz als Ausdruck dominanter Partikularinteressen und gesellschaftlicher Normierungen gedeutet werden. Raumproduktion betrachtet Lefebvre als Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte und als Konfliktterrain permanenter gesellschaftlicher Normierungen. Für die Diskursforschung bedeutet dieser Ansatz, dass Gesellschaftsordnung und Raumstruktur von den gleichen Konstitutions- und Konstruktionsbedingungen gebildet werden und stets in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden müssen. Gerade dieser prozesshafte und machtdurchdrungene Raumbegriff macht die Ansätze der kritischen Raumtheorie anschlussfähig für die Diskursforschung. Wo Machtverhältnisse ausgehandelt werden, entsteht Widerstand. Entsprechend interessiert sich z. B. Foucault sehr stark für normabweichende Räume, die er als „Heterotopien“, „andere Räume“ oder „Gegenorte“ beschreibt (Foucault 2005 [1967]). Foucault macht die Wechselwirkung von Raum und Diskurs jedoch nicht in beide Richtungen explizit. Er konzentriert sich auf die konstituierende Bedeutung des Raums. Wenn Foucault z. B. in seinen frühen Studien Räume in Form von psychiatrischer Klinik, Gefängnis oder Museum untersucht, beschreibt er die Materialität der Gebäude als Ausgangspunkt seiner Analyse der Institutionalisierung sozialer Ordnung (Foucault 1977 [1976]). Er zeigt damit die Wirkungsweise dieser räumlichen Materialität auf soziale Interaktionen. Der physische Raum wird hier als disziplinierend betrachtet aufgrund seiner Gestalt. Dessen Gestaltungspraxis ist nicht Gegenstand seiner Diskursanalyse. Mit der Konstitution von Materialität durch soziale Ordnung und Normierung liefert vor allem die Geschlechterforschung wesentliche Beiträge, die sich mit dem Ko-Konstitutionsprozess von Raum und Körper beschäftigen (Butler 1997 [1993]).

Raum-zeitliche Perspektive in der Diskursforschung Allein die Verzeitlichung gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu betrachten, macht räumliche Differenz unsichtbar. Nur von einer großen, historisch begrenzten Erzählung zu berichten (Fordismus, Globalisie222

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rung usw.), lässt die gleichzeitig ablaufenden lokalen Geschichten unbeachtet. Auch zum Verhältnis der Zeit- und Raumdimension stellt die kritische Raumtheorie anschlussfähige Ansätze für die Diskursforschung bereit. Vor allem Doreen Massey hat die sozialwissenschaftliche Praxis, soziale Prozesse in historischen Phasen abzugrenzen, kritisiert und die problematische Fokussierung auf die Kategorie Zeit als zentrale Erklärungsvariable nachgewiesen (Massey 2005). Sie mahnt an, dass auf diese Weise dem Raum eine statische Dimension zugeschrieben und er als erklärende Strukturierung für Gesellschaftsverhältnisse vernachlässigt wird (vgl. Beitrag Glasze, Kap. 9). „The imagination of space as a surface on which are placed, the turning of space into time, the sharp separation of local place from the space out there; these are all ways of taming the challenge that the inherent spatiality of the world presents“ (Massey 2005: 7). In diesem Sinn kann bspw. das Konzept der „Entwicklungsländer“ als Verzeitlichung räumlicher Unterschiede betrachtet werden. Ehemalige Kolonialländer des Südens werden auf einem industriell-kapitalistischen Entwicklungspfad eingeordnet, der in Relation zum ökonomischen Wachstumsmodell der alten Industriestaaten bemessen wird. Damit wird die Konzentration politischer und ökonomischer Macht in den USA und Europa durch konstruierte Entwicklungsstufen legitimiert und gleichzeitig diese räumliche Differenzierung manifestiert (Agnew 1998: 35f.). Mit dem Konzept einer Raum-Zeit (space-time), das die Dimensionen Raum und Zeit immer in ihrem Wechselverhältnis und als untrennbar betrachtet, bietet sich ein alternativer Blick auf den Raum. Der Raum wird mit diesem Konzept als Bestandteil der Produktion von Geschichte verstanden, genauso wie die Zeitdimension als Bestandteil der Produktion von Geographie (Massey 1994). Auf diese Weise lassen sich z. B. Globalisierungsprozesse als raum-zeitliche Reorganisation oder wie Harvey es nennt „Raum-Zeit-Verdichtung“ kapitalistischer Gesellschaften interpretieren (Harvey 1990). Diskurstheoretische Studien, die sich an den Arbeiten von Foucault orientieren, sind vielfach geprägt von seiner genealogischen Betrachtungsweise von Diskursen, die ein historisches Sortieren gesellschaftlicher Prozesse bevorzugt. Wird jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Raum als kulturelle Größe verstanden, ist diese genealogische Dominanz bei der erkenntnistheoretischen Strukturierung zu kritisieren. Ein räumliches Sortieren kommt bei Foucault lediglich als Ausdifferenzierung historischer Phasen in Betracht, sozusagen als sekundäre Strukturierungsdimension. Die Wechselwirkungen zwischen Bedeutung und Materie können jedoch nur verstanden werden, wenn Zeit und Raum zu223

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sammengedacht und als produktive, offene Dimensionen betrachtet werden. Weder Zeit noch Raum sind grundsätzlich dynamische oder grundsätzlich statische Dimensionen. Entsprechend können Aussagen zur Ausdehnung einer spezifischen zeitlichen oder räumlichen Einheit niemals durch eine exakte Begrenzung und Reichweite dieser Dimension getroffen werden. Die Betrachtung des Lokalen, des Haushalts, des Staats usw. suggeriert eine Geschlossenheit dieses Betrachtungsraums bzw. der Betrachtungsebene, die weder eindeutig ist noch fix. Gleiches gilt für die Betrachtung historischer Phasen als begrenzte Zeitabschnitte.

Raum als Ensemble relationaler Lokalisierungen von Diskursen Die poststrukturalistische Raumtheorie ist angetrieben von dem Versuch, einen nicht-essenzialistischen Raumbegriff zu konzeptionalisieren. Doreen Massey hat zahlreiche Publikationen vorgelegt, in denen sie kritisiert, dass Raum in den Sozialwissenschaften als statisch lokalisiert verstanden würde. Damit werden nicht nur Raumstrukturen festgeschrieben, sondern ist auch die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse und Hierarchisierung nicht adäquat zu begreifen. Ihr Plädoyer für eine Theorie und Politik des Raums fasst Massey in der Monographie „For Space“ zusammen, in der sie drei Annahmen über den Raum herleitet: Erstens sei Raum als Produkt horizontaler und vertikaler Wechselbeziehungen zu verstehen (relational), zweitens als Sphäre der möglichen Existenz von Vielfalt (ermächtigend) und drittens als stets in Umgestaltung (prozesshaft) (Massey 2005: 9). Diese Prämissen können als Grundbedingungen einer raumkritischen Diskursforschung verstanden werden. Seit Anfang der 1990er-Jahre propagiert Doreen Massey die konzeptionelle, empirische und politische Relevanz eines relationalen Raumverständnisses und begründet diese im Kontext feministischer und poststrukturalistischer Ansätze. In welcher Weise sich mit einem „relationalen Raumbegriff“ räumlich ungleiche Entwicklungen und sozialer Wandel in den Blick nehmen lassen, macht Massey in einer Studie zur britischen Regionalpolitik nachvollziehbar. Diese Studie beschreibt Geschlechterverhältnisse im Kontext postfordistischer, regionaler Arbeitsmärkte in Großbritannien (Massey 1993). Massey rekonstruiert „lokal konstruierte Geschlechterbeziehungen“ (ebd.: 114), indem sie die Effekte der regionalen Wirtschaftsförderung seit den 1960er-Jahren in Nordengland (von der Bergbauregion zur Dienstleistungsregion im Niedriglohnbereich) und im Großraum London (von der Industrieregion zur Wissens- und Hightech224

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Region) nachzeichnet. Der Wandel der geschlechtsspezifisch organisierten Produktions- und Reproduktionsarbeit hat sich in diesen Regionen sehr unterschiedlich vollzogen. Verstärkt wird diese räumliche Differenz jedoch erst durch das Verhältnis der beiden regionalisierten Arbeitsmarktcluster. Damit weist sie erstens die historische sowie räumliche Dynamik von Geschlechter- und Klassenverhältnissen nach und zweitens die Bedeutung regionaler Prozesse in Verhältnis zu Diskursen in anderen Regionen. Diese sind wechselseitig strukturierend und transformierend wirksam. In welcher Weise sind aber lokale Gesellschaftsverhältnisse als lokal und verortet zu verstehen? Mit einem relationalen Raumverständnis ist Lokalität nicht allein Effekt, sondern auch Bedingung globaler Prozesse und Handlungsmacht. Orte werden aus dieser Perspektiven zu einem produktiven Teil einer weitreichenden Geometrie der Macht (Massey 2006: 29). Globalisierung als Entterritorialisierung zu konzeptionalisieren hieße, sich das Globale als ortlosen, grenzenlosen, ungebundenen space of flows vorzustellen und alle anderen sozialräumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen als vernachlässigbare Größen zu betrachten (Berking 2006: 8f.). Das Lokale entsteht jedoch gerade im Wechselspiel mit globalen Prozessen und Narrativen und macht daher ein relationales Raumverständnis für die Diskursforschung relevant, das sowohl Globalisierung wie auch Lokalisierung als prozesshaft und vernetzt versteht. Masseys Auseinandersetzung mit Raum und Ort auf Grundlage einer relationalen Konzeptionalisierung ist in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften eingeführt (vgl. Löw 2001; Hubbard, Kitchin und Valentine 2004; Berking 2006), in der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung bislang kaum rezipiert. Trotz der Betonung der relationalen Perspektive des Raumbegriffs in zahlreichen Arbeiten der Diskursforschung ist z. B. bei Foucault festzustellen, dass er nicht bemüht ist, einen Raumbegriff herzuleiten oder sein relationales Raumverständnis stringent anzuwenden. Eine Diskursforschung, die eine relationale Perspektive vertritt und die Wechselwirkungen von Konstruktions- und Konstitutionsprozessen untersucht, muss konsequenterweise alle Dinge als relational begreifen, egal ob diese Dinge Orte, Identitäten oder sozialräumliche Formationen sind. Ideen entstehen nicht unabhängig von materiellen Objekten (Milliken 1999: 225).

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Raum als geographische und politische Maßstabsebene Ein Aspekt des spatial turn der Sozialwissenschaften ist die Anerkennung der Bedeutung maßstäblicher Ordnung als Element gesellschaftlicher Strukturierung, d. h. der spatial turn ist auch ein scalar turn. Demzufolge gilt es für die Diskursforschung, die Aufmerksamkeit für den kulturell hervorgebrachten Raum nicht allein auf dessen Lage und Ausdehnung zu konzentrieren, sondern auch auf dessen Maßstäblichkeit. Von Interesse für die Diskursforschung ist nicht nur die horizontale (An-)Ordnung von Diskursen, sondern auch die Bedeutung vertikaler Verflechtung von Machtstrukturen. Diskursive Praxis kann für unterschiedliche geographische Maßstabsebenen (global, national, regional, lokal, körperlich usw.) verschieden wirksam sein, steht aber i. d. R. miteinander in Bezug. Aus diesem Grund gilt es nicht nur die Verräumlichung von Diskursen in den Blick zu nehmen, sondern auch deren Vermaßstäblichung: Welche Rolle spielen geographische Maßstabsebenen für die Positionierung von Diskursen? Ist ein Diskurs sprachlich geknüpft an eine spezifische Maßstabsebene? Sind diskursive Praktiken spezifischen Maßstabsebenen zugeordnet, bzw. werden diese konstitutionalisiert? Diese Fragen können nur bearbeitet werden, wenn die Diskursforschung eine multiskalare Perspektive einnimmt. Eine solche Perspektive hat in der Geographie seit Mitte der 1990erJahre mit der Analyse der Reorganisation ökonomischer und politischer Strukturen im Kontext von Globalisierungsprozessen zunehmend Beachtung gewonnen. Die Schaffung, relative Aufwertung oder Abwertung von Maßstabsebenen ist nicht allein als räumlicher Konflikt, sondern als räumliche Dimension sozialer Konflikte zu verstehen (Wissen 2008: 9). Eine räumlich-maßstäbliche Reorganisation ist daher ein zutiefst herrschaftsförmiger Prozess. Für die Diskursforschung sollten MachtWissen-Komplexe in ihrer Maßstabsbindung sowie die Vermaßstäblichung von Diskursen von Interesse sein. Der Blick auf die diskursive Hervorbringung von Maßstäblichkeit ist in besonderem Maße relevant für Diskursanalysen, die sich mit Globalisierungs- und Regionalisierungsprozessen, mit globalen Umweltveränderungen, Ressourcenkonflikten oder städtischer Restrukturierung und anderen Diskursen mit direktem Bezug auf geographische und politische Maßstabsebenen auseinandersetzen (vgl. Bauriedl 2007). So sind z. B. „Globalisierung“ und „Klimawandel“ umkämpfte Diskurse, die auf einzelnen Maßstabsebenen unterschiedliche Deutungsmacht erlangt haben und maßstabsspezifische Diskursdynamiken zeigen. In der Klimadebatte findet aktuell eine Deutungsverschiebung des Klimadiskurses statt, die für die globale und lokale Maßstabsebene un226

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terschiedlich ausgeprägt ist. Der globale Klimawandel wird zunehmend als gesellschaftliche Krise gedeutet und die Tätigkeit des Menschen als zentrale Ursache globaler Umweltveränderungen betrachtet (IPCC 2007). Für die Klimapolitik auf der regionalen, lokalen und Haushaltsebene wird der Klimawandel hingegen weiterhin als Umweltkrise gedeutet, an die sich der Mensch anpassen kann, ohne sich von gewohnten Konsummustern und Produktionsweisen verabschieden zu müssen. Dieses Beispiel zeigt, dass es zu Deutungsverschiebungen kommen kann, die möglicherweise auf einer Maßstabsebene sichtbar werden, während der Macht-Wissen-Komplex auf einer anderen unberührt bleibt. Gleichzeitig wird durch diese diskursive Praxis die Deutung von Maßstabsebenen permanent reproduziert, wie z. B. mit dem Slogan der Nachhaltigkeitspolitik „global denken – lokal handeln“. Andere Konstruktionsleistungen des Klimadiskurses (Wachstums-, Technologieparadigma usw.) sind sowohl für die internationale Klimapolitik wie auch alltagsweltliche Entscheidungsprozesse wirkmächtig. Rianne Mahone und Roger Keil bezeichnen daher die Grenzen diskursiver Maßstabsebenen als „Knoten der Macht“ und plädieren dafür, die Deutungsbezüge und -widersprüche unterschiedlichen Maßstabsebenen in den diskursanalytischen Fokus zu rücken (Mahone und Keil 2008). Um diese Knoten identifizieren zu können, halten Roger Keil und Anne-Marie Debbané eine „scalesensitiveness“ für die Diskursforschung für notwendig (Keil und Debbané 2005: 270). Sie verstehen dabei Maßstabsebenen nicht als prädiskursive Raumdimension, sondern leiten aus ihren empirischen Befunden zur kommunalen Wasserwirtschaft in Südafrika und Namibia die Notwendigkeit ab, die Konstitution geographischer Maßstäbe als diskursive Praxis der Klima-, Energie- und Wasserpolitik zu berücksichtigen. Eine Maßstabssensibilität in diesem Sinne, die die Reproduktion vertikal angeordneter Raumdimensionen in den Blick nimmt, wurde bisher am konsequentesten von der Institutionentheorie und der Governance-Forschung vorgelegt (vgl. Brunnengräber und Walk 2007). Beide Ansätze sind jedoch nur begrenzt für die Diskursforschung anschlussfähig, da sie stark problemlösungsorientiert ausgerichtet sind und mit relativ statischen, hierarchisch angeordneten Maßstabsebenen argumentieren. Für die Diskursforschung übertragbare Hinweise für eine multiskalare Perspektive finden sich im Konzept der politics of scale, das in den letzten Jahren besonders durch die radical geography ausgearbeitet wurde (Wissen 2008). Dieser Ansatz wurde schon 1984 von Neil Smith entworfen und verweist auf die komplexe und umkämpfte Rekonfiguration interskalarer Ordnung (vgl. Smith 1984; Mahone und Keil 2008). Analysegegenstand ist der Prozess der Maßstabszuordnung von Politi227

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ken als eine Praxis der Festschreibung von Politikinhalten und/oder deren Legitimation. Mit den Begriffen „up-scaling“, „down-scaling“, „re-scaling“ wird der Prozess der möglichen Verschiebung der Politikzuordnung auf andere Maßstabsebenen begrifflich gefasst. Henning Füller und Boris Michel haben versucht, das Konzept der politics of scale mit einer Foucault’schen Perspektive zu verbinden, und sehen den Mehrwert darin, einerseits die Skalierung der Welt durch soziale Akteure als diskursive Praxis zu erfassen und andererseits die Machtwirkungen der multiskalaren Ordnung zu untersuchen. Dafür müsste ihrer Ansicht nach ein brauchbarer scale-Begriff jedoch durch ein kritisches Machtverständnis erweitert werden, um sich verändernde Geometrien der Macht nachweisen zu können (Füller und Michel 2008). Mit diesem Argument schließen sie sich der Kritik von Sallie Marston, John Paul Jones und Keith Woodward an, die in der ursprünglich stark materialistischen Argumentation des politics of scale-Ansatzes starre, dualistisch markierte Maßstabshierarchien erkennen und diese grundsätzlich kritisieren (Marston, Jones III und Woodward 2005). Diese Kritik wird auch von anderen Autor_innen aufgegriffen mit dem Argument, dass durch das Denken in Maßstabshierarchien emanzipatorische Möglichkeiten sozialen Handelns unsichtbar bleiben (vgl. Wissen 2008: 17).

Raum als relevante Dimension der Diskursforschung Als Gemeinsamkeit der vorgestellten Ansätze der kritischen Raumtheorie kann ihr Blick auf Raum als relationale, machtdurchzogene und prozesshafte Dimension sozialer Interaktion zusammengefasst werden. Eine Diskursforschung, die die Impulse des spatial turn ernst nimmt, muss daher erstens die Konstruktions- und Konstitutionsbedingungen von Räumen in ihr empirisches Programm aufnehmen und zweitens den Stellenwert einer räumlichen Analyse dem der genealogischen Analyse gleichstellen. Sobald die Diskursforschung ihren relationalen Anspruch auch auf die Betrachtung von Räumen konsequent anwendet, können Diskurse nicht mehr als fix eingeschrieben in den Raum begriffen werden und räumliche Praktiken nicht länger als positioniert innerhalb stabiler geographischer Maßstabsebenen. Als Konsequenz dieses Raumverständnisses gilt es, sowohl Räume wie auch Maßstabsebenen als multiskalar und vielfältig hergestellt zu betrachten. Denn erst in Relation zu anderen Räumen und Maßstabsebenen lassen sich sowohl Diskursordnungen wie Geometrien der Macht erklären.

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IMPULSE DER GEOGRAPHISCHEN RAUMTHEORIE

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11 Verfahren der lexikometrischen Anal yse von Textkorpora IRIS DZUDZEK, GEORG GLASZE, ANNIKA MATTISSEK, HENNING SCHIRMEL Lexikometrische Verfahren untersuchen die quantitativen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen in geschlossenen Textkorpora, d. h. in Textkorpora, deren Definition, Zusammenstellung und Abgrenzung klar definiert ist und die nicht im Laufe der Untersuchung verändert werden. Im Rahmen diskursorientierter Ansätze können diese Verfahren genutzt werden, um Rückschlüsse auf diskursive Strukturen und deren Unterschiede zwischen verschiedenen Kontexten wie bspw. Entwicklungen über die Zeit zu ziehen. Ziel lexikometrischer Verfahren in der Diskursforschung ist es also, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Textkorpora zu erfassen (allgemein zur Lexikometrie und korpusbasierten Verfahren1 der Linguistik s. Maingueneau 1991: 48ff.; Fiala 1994; Bonnafous und Tournier 1995; Lebart, Salem und Berry 1998; Marchand 1998; Teubert 2005; Baker 2006; Lemnitzer und Zinsmeister 2006; Scherer 2006).2 Die Verfahren der Lexikometrie und der Korpuslinguistik wurden innerhalb der Sprachwissenschaften entwickelt. Ihre konzeptionellen Grundlagen liegen in der de Saussure’schen Linguistik und zumindest teilweise auch in der Radikalisierung der de Saussure’schen Ansätze im

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Während in der französischsprachigen Wissenschaftslandschaft eher von léxicométrie oder statistique textuelle gesprochen wird, ist in englisch- und deutschsprachigen Publikationen die Rede von corpus linguistics bzw. Korpuslinguistik. Informationen zur Korpuslinguistik bieten darüber hinaus die Internetseiten http://www.corpus-linguistics.de (Zugriff: 2.2.2007) sowie http:// www.bubenhofer.com/korpuslinguistik (Zugriff: 2.2.2007). 233

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Poststrukturalismus sowie den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaults. Dabei ermöglichen lexikometrische Verfahren, gerade auch die Unterschiedlichkeit von Verweisstrukturen und damit der Bedeutungen von einzelnen Wörtern und Zeichenverkettungen in unterschiedlichen diskursiven Formationen zu erfassen. Während bei Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse mit der Kategorisierung und Kodierung von Textabschnitten wichtige Teile der Interpretation i. d. R. an den Anfang der Untersuchung gestellt werden (s. Exkurs), steht bei der Lexikometrie die Herausarbeitung quantitativer Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen innerhalb eines gegebenen Textkorpus im Vordergrund – der Schwerpunkt der Interpretation wird im Forschungsprozess damit tendenziell nach hinten an das Ende des Forschungsprozesses verlagert. Dabei handelt es sich jedoch „nur“ um eine Verlagerung des Schwerpunktes, da die Formulierung der Fragestellung sowie die Zusammenstellung, Definition und Abgrenzung der geschlossenen Korpora immer bereits interpretative Entscheidungen erfordern. Die eigentliche Interpretation der Ergebnisse erfolgt aber erst, nachdem die Ergebnisse der korpuslinguistischen Analysen vorliegen. Innerhalb der lexikometrischen Verfahren lassen sich zwei Herangehensweisen unterscheiden: Als corpus based werden korpuslinguistische Verfahren bezeichnet, bei denen aufgrund von zuvor aufgestellten Hypothesen über sprachliche Verknüpfungen die Verteilung eines im Voraus definierten lexikalischen Elements in einem definierten Teilkorpus (bspw. in einem bestimmten Zeitabschnitt oder in den Texten einer bestimmten Sprecherposition) untersucht wird. Als corpus driven werden hingegen induktive Verfahren bezeichnet, die ohne im Voraus definierte Suchanfragen auskommen und damit die Chance bieten, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat (Tognini-Bonelli 2001). Ein corpus driven-Vorgehen ist daher besonders für explorative Zwecke geeignet, d. h. um einen ersten Überblick über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprachlicher Verweisstrukturen aufzuzeigen. Folgt man der gemeinsamen theoretischen Grundannahme von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass Bedeutung ein Effekt der Beziehung von (lexikalischen) Elementen zu anderen (lexikalischen) Elementen ist, dann können lexikometrische Verfahren herangezogen werden, um diese Beziehungen und damit die Konstitution von Bedeutung herauszuarbeiten.3 Bislang werden lexikometrische Verfahren al-

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John Rupert Firth hat diese Perspektive als „Kontextualismus“ bereits in den 1950er-Jahren in die Linguistik eingeführt. Die Kontexte lexikalischer Elemente geben danach Hinweise auf deren Gebrauch und damit deren

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VERFAHREN DER LEXIKOMETRISCHEN ANALYSE VON TEXTKORPORA

lerdings kaum im Rahmen von Forschungsprojekten eingesetzt, die auf eine Operationalisierung von Diskurstheorien – etwa im Anschluss an Foucault oder Laclau und Mouffe – zielen. Wo liegen die Ursachen für diese Zurückhaltung? Baker (2006) vermutet, dass lexikometrische Verfahren als quantitative Methoden vielfach in eine Schublade mit Ansätzen gesteckt werden, die in einem naiven Realismus davon ausgehen, dass wissenschaftliche Analysen einfach objektive Fakten messen können (2006: 8). Hinzu kommt, dass lexikometrische Verfahren vielfach selbst bei diskursanalytisch arbeitenden Sozialwissenschaftler_innen nicht bekannt sind. Auch in sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Bereichen der deutsch- und englischsprachigen Sprachwissenschaften werden bislang nur vereinzelt korpusbasierte lexikometrische Verfahren angewendet (für die deutschsprachige Diskursgeschichte s. aber bspw. Jung 1994 und Niehr 1999, für die – überwiegend englischsprachige – critical discourse analysis s. aber bspw. Orpin 2005 sowie Baker, Gabrielatos, Khosravinik, Kryzanowski, Mcenery und Wodak 2008).4 In der Konsequenz bleibt der Einsatz lexikometrischer Verfahren vielfach auf Bereiche der Linguistik beschränkt, die kaum im Austausch mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen stehen. Dabei werden lexikometrische Verfahren teilweise in Forschungsdesigns eingebunden, die in einer rein strukturalistischen Perspektive darauf abzielen, sprachliche Strukturen zu messen (kritisch dazu bspw. der Sprachwissenschaftler Teubert 1999).5 Lexikometrische Verfahren können jedoch durchaus sinnvoll in ein Forschungsdesign eingebunden werden, das entsprechend einer diskurs-

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Bedeutung: „You shall know a word by the company it keeps“ (1957, zit. nach Belica und Steyer 2005; Lemnitzer und Zinsmeister 2006). Anders stellt sich die Situation in der französischsprachigen Forschungslandschaft dar: Hier existieren im Rahmen der so genannten „französischen Schule der Diskursforschung“ seit den 1960er-Jahren vielfältige Beziehungen zwischen Linguistik, Politik- und Geschichtswissenschaft, so dass politik- und geschichtswissenschaftliche Arbeiten regelmäßig auch auf lexikometrische Verfahren zurückgreifen (Bonnafous und Tournier 1995; Guilhaumou 1997; Mayaffre 2004). In Deutschland wurden diese Arbeiten bislang nur vereinzelt von einigen Romanisten rezipiert (Lüsebrink 1998; Reichardt 1998), einen englischsprachigen Überblick liefert Williams 1999. Einige Hinweise zur Verwendung lexikometrischer Verfahren in der französischsprachigen Geschichtswissenschaft bietet auch der von Reiner Keller ins Deutsche übersetzte Aufsatz von Guilhaumou 2003. Dies scheint wiederum Wissenschaftler, die an der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe anknüpfen, in ihren Vorbehalten gegenüber Verfahren zu bekräftigen, die Marchart bspw. pauschal als „rein statistisches Wörterzählen“ ablehnt (1998: FN 19). 235

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theoretischen Positionierung auf die Kontingenz und Dynamik von Bedeutungen abhebt (ähnlich argumentieren bspw. Teubert 1999, 2005; Koteyko 2006; Glasze 2007b; Mattissek 2008)6.

Exkurs: Abgrenzung der Lexikometrie von der quantitativen Inhaltsanalyse Die Verfahren der Lexikometrie sind nicht zu verwechseln mit Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse. Die Inhaltsanalyse hat ihre Ursprünge in der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft und baut auf einem Kommunikationsmodell „Sender  Inhalt  Empfänger“ auf. Ziel ist dabei, vom „Inhalt“ auf „die soziale Wirklichkeit“ zu schließen – d. h. auf den „Kommunikator“, den „Rezipienten“ oder die „Situation“. Wichtigste Methodik ist die Kodierung der „Inhalte“ von Texten mittels eines Kategoriensystems (Merten 1995). Die Inhaltsanalyse geht dabei davon aus, dass jeder Text(-teil) einen eindeutig zu bestimmenden „Inhalt“, d. h. eine Bedeutung, transportiert und dass dieser „Inhalt“ durch die Inhaltsanalytiker_innen erschlossen werden kann. Aus der Sicht einer poststrukturalistisch informierten Diskursforschung ist ein solches Repräsentationsmodell, das von einem Text(-teil) auf die eine, vermeintlich gegebene Bedeutung schließen will, problematisch. Die Diskursforschung betont ja gerade die Mehrdeutigkeit und Instabilität von „Sinn“ (vgl. Kap. 1). Insbesondere französische Diskursforscher kritisierten die Diskursforschung dafür, dass die Arbeit mit Kategoriensystemen zudem das Risiko mit sich bringt, Tautologien zu erzeugen, indem ein voretabliertes System durch Belegstellen reifiziert wird (s. Bonnafous 2002). Berelson, der als einer der Väter und Vordenker der quantitativen Inhaltsanalyse bezeichnet werden kann, plädierte allerdings Anfang des 20. Jahrhunderts dezidiert für eine Inhaltsanalyse, die am „manifesten Inhalt“ und an den „black-marks-on-white“ ansetzt (Berelson 1952: 19). Tatsächlich gehen Frequenzanalysen von Wörtern und Wortfolgen, wie sie in quantitativen Inhaltsanalysen in der Tradition von Berelson durchgeführt werden, ähnlich vor wie Frequenzanalysen in der Lexikometrie bzw. Korpuslinguistik. Der theoretische Hintergrund und damit der Stellenwert, der den Ergebnissen zugespro6

Die Lexikometrie ermöglicht es bspw., grundlegende Prinzipien der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe (Kap. 6) zu operationalisieren: So werden die „Elemente“ der Diskurstheorie als lexikalische Formen gefasst, die in temporären Fixierungen zu „Momenten“ eines Diskurses werden. Das Konzept der „Regelmäßigkeit von Differenzbeziehungen“ wird operationalisiert als die mit einer gewissen Signifikanz verknüpften lexikalischen Elemente. Die Signifikanz ist dabei das Maß der Überwahrscheinlichkeit für das Auftreten eines lexikalischen Elements im Kontext eines anderen Elements (s. Kap. 2 und Exkurs „Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen“). Dabei kann die Temporalität jeglicher Fixierung mittels einer vergleichenden Untersuchung verschiedener (Sub-)Korpora im Zeitvergleich herausgearbeitet werden (Glasze 2007b).

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VERFAHREN DER LEXIKOMETRISCHEN ANALYSE VON TEXTKORPORA

chen wird, ist jedoch ein anderer: In der Inhaltsanalyse werden lexikalische Elemente wie einzelne Wörter nicht wie in der Lexikometrie als „Bausteine“ der Konstitution von Bedeutung, sondern unmittelbar als Indikatoren für die „soziale Wirklichkeit“ interpretiert, indem ihnen eine denotative „Standardbedeutung“ zugeschrieben wird (Merten 1995). Berelson war sich zwar der engen Grenzen einer solchen Perspektive durchaus bewusst. Sein Lösungsvorschlag lautet jedoch etwas naiv: „…content analysis must deal with relatively denotative communication materials and not with relativeley connotative materials“. Er nennt „Nachrichtenmeldungen“ (news stories) als Beispiel für „denotative Kommunikationen“ (Berelson 1952: 19f.). Auch neuere computergestützte Verfahren der Inhaltsanalyse gehen von der Prämisse aus, dass die Bedeutung von Wörtern feststeht. Sie arbeiten mit „a priori Wörterbüchern“, welche Wörter „gleicher Bedeutung“ auflisten, die von den Programmen gemeinsam kategorisiert werden (Atteslander und Cromm 2006: 202ff.). Wie insbesondere Roland Barthes gezeigt hat, kann allerdings eine Grenze zwischen der einen denotativen „Standardbedeutung“ und weiteren konnotativen Nebenbedeutungen nicht sinnvoll gezogen werden (s. Kap. 1). Innerhalb der Sozialforschung wurde versucht, den skizzierten Problemen der Inhaltsanalyse insofern zu begegnen, als Methoden entwickelt wurden, welche die Interpretation methodisch kontrollieren und intersubjektiv absichern sollen. In diese Richtung zielen bspw. die Vorschläge einer „Objektiven Hermeneutik“ nach Oevermann (Wernet 2006) oder auch der „Qualitativen Inhaltsanalyse“ nach Mayring (2008 [1983]). In den vergangenen Jahren hat zudem ein Austausch zwischen Inhaltsanalyse und Sprachwissenschaften eingesetzt und in der Forschungspraxis finden sich Überschneidungen von Inhaltsanalysen und sprachwissenschaftlichen Verfahren. Die Unterschiede in der theoretischen Fundierung bleiben jedoch bestehen: Aus einer poststrukturalistisch informierten Perspektive fehlt der Inhaltsanalyse nach wie vor eine Auseinandersetzung mit einer Theorie der Bedeutungskonstitution (so auch der Inhaltsanalytiker Merten 1995).

Verfahren der Lexikometrie und Korpuslinguistik Auswahl der relevanten Textsorten Grundlage lexikometrischen Arbeitens sind digitale Textkorpora.7 In den Analysen werden unterschiedliche Teile des Korpus miteinander verglichen. Korpora für lexikometrische Analysen müssen „geschlossen“ sein, da die lexikometrischen Analysen nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich auf ein stabiles Ensemble von Texten beziehen. Für die Zusammenstellung des Korpus ist es entscheidend, dass – mit Ausnahme der zu analy7

Dafür wird entweder auf Texte zurückgegriffen, die bereits digital vorliegen, oder die Texte müssen mittels Texterkennung digitalisiert werden. 237

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sierenden Variable (bspw. unterschiedliche Zeitabschnitte oder unterschiedliche Sprecherpositionen) – die Bedingungen der Aussagenproduktion möglichst stabil gehalten werden (s. u.). Denn bei einem Vergleich, bei dem zwischen den zu vergleichenden Teilen sowohl die Zeit bzw. Epoche, die Kommunikationskanäle, die Sprecherposition, die Genres etc. wechseln, könnten keine sinnvollen Ergebnisse gewonnen werden, da nicht mehr bestimmt werden kann, auf welche Veränderungen sprachliche Unterschiede zurückzuführen sind. Bei der Vorbereitung lexikometrischer Verfahren ist die Überlegung zentral, bezüglich welcher Kriterien die Bedeutungskonstitution verglichen werden soll, denn dies entscheidet über die Segmentierung, d. h. Aufteilung des Textkorpus in entsprechende vergleichbare Teilkorpora: Sollen zeitliche Verschiebungen untersucht werden, wird man eine diachrone Segmentierung wählen. Geht es darum, die Unterschiedlichkeit von Bedeutungskonstitutionen aus der Sicht von einzelnen Sprecherpositionen oder in einzelnen Genres zu erfassen, wird man einen zeitlich homogenen Korpus wählen, der nach den auftretenden Sprecherpositionen bzw. nach einzelnen Genres segmentiert wird etc. Die anderen Merkmale des Textes werden dabei jeweils konstant gehalten.8 Sprecherpositionen werden hier in Anlehnung an Überlegungen Foucaults (1973 [1969]) als institutionell stabilisierte Positionen i. d. R. innerhalb von Organisationen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und die bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen – weitgehend unabhängig von den Individuen, welche die Position einnehmen. Die Sprecherpositionen sind dabei selbst diskursiv konstituiert. Je nach Fragestellung der Untersuchung kommen unterschiedliche Sprecherpositionen infrage. In der Regel sind gesellschaftlich bedeutsame Sprecherpositionen in Organisationen eingebunden, sind also Positionen, von denen aus im Namen und als Organisation gesprochen werden kann (bspw. Texte von Wissenschaftsorganisationen, Zeitungstexte, Texte von Behörden etc.). Für diachron angelegte Studien ist darüber hinaus die Arbeit mit Serien sinnvoll, die durch regelmäßige Publikationen einer Sprecherposition entstehen (Texte regelmäßig erscheinender Medien, Verhandlungsbände regelmäßig stattfindender Konferenzen, Protokolle regelmäßig tagender Gremien etc.). Mit dem Begriff des Genre bzw. der Gattung werden in den Sprachwissenschaften Gruppen von Texten bezeichnet, für deren Strukturie-

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Die Zusammenstellung des Korpus ist also abhängig von der Fragestellung der Untersuchung, wobei immer auch die Frage geklärt werden muss, wofür ein bestimmter Korpus steht.

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VERFAHREN DER LEXIKOMETRISCHEN ANALYSE VON TEXTKORPORA

rung und damit deren Kohärenz sich historisch spezifische, institutionell stabilisierte Regeln etabliert haben (Maingueneau 2000 [1986]): So gelten für die Strukturierung und Kohärenz wissenschaftlicher Fachaufsätze andere Regeln als für Zeitungsartikel und wiederum andere für politische Reden. Im Rahmen der Diskurstheorie können die entsprechenden Institutionen, d. h. Sprecherpositionen bzw. Genres, selbst als diskursiv konstituiert konzeptionalisiert werden – als „sedimentierte Diskurse“ (Laclau 1990 und s. Kap. 6 zur Diskurs- und Hegemonietheorie).9

Zusammenstellung der Texte für das Textkorpus Für die Zusammenstellung der Texte für das zu untersuchende Textkorpus lassen sich zwei prinzipielle Strategien unterscheiden: 1. Es werden alle Texte einer bestimmten Textserie (z. B. alle Texte einer bestimmten Zeitung, alle Reden eines Präsidenten, alle Verlautbarungen einer Organisation etc.) über einen festen Zeitraum berücksichtigt. 2. Anhand des Auftretens von Schlüsselwörtern oder thematischen Kodierungen wird ein thematisches Korpus erstellt. Das zweitgenannte Verfahren erscheint dabei insofern problematisch, als ein solches Vorgehen immer Gefahr läuft, dass nur jene Texte bzw. Textpassagen berücksichtigt werden, die den impliziten Erwartungen der Wissenschaftler entsprechen (Baker 2006). Eine Arbeit mit thematisch zusammengestellten Textkopora, wie sie Busse und Teubert (1994: 14) vorgeschlagen haben, scheint daher für lexikometrische Studien nicht geeignet.10 Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass nicht alle 9

In den Sprachwissenschaften gibt es zudem Bemühungen, durch die Zusammenstellung sehr großer Textmengen Standardkorpora zu erstellen, welche „den“ typischen Sprachgebrauch einer bestimmten Epoche abbilden sollen. Beispiele sind der British National Corpus (BNC) (verfügbar unter http://www.natcorp.ox.ac.uk, Zugriff: 25.9.2006), das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (verfügbar unter http://www. dwds.de, Zugriff: 25.9.2006), die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (verfügbar unter http://www.ids.de, Zugriff: 16.1.2007) sowie der französische Korpus Frantext (verfügbar unter http://www.fran text.fr, Zugriff: 25.9.2006). Ziel solcher Bemühungen ist es u. a., Vergleiche zwischen spezifischen Textkorpora und „dem“ Sprachgebrauch in einer Epoche zu ermöglichen. 10 Für die stärker interpretativ ausgerichteten Methoden, wie bspw. kodierende Verfahren (s. Kap. 14), kann hingegen mit offenen Korpora gearbeitet werden, die im Laufe der Analyse verändert, d. h. verkleinert bzw. ergänzt, werden. Dann kann auch mit einem auf Basis des Kontextwissens thematisch zusammengestellten Korpus begonnen werden. 239

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sprachlichen Muster an Schlüsselbegriffen festzumachen sind: So können etwa oft als „neoliberal“ bezeichnete sprachliche Formen auf ganz unterschiedliche Art und Weise und mithilfe sehr unterschiedlicher Wortverbindungen ausgedrückt werden (Mattissek 2008). Die Analyse geschlossener Korpora, bspw. mit Serien von Texten einer homogenen Sprecherposition, begrenzt das Risiko von Zirkelschlüssen und erhöht die Chance, Diskursmuster herausarbeiten zu können, die nicht den impliziten Erwartungen entsprechen (Glasze 2007b).

Verfahren der lexikometrischen Analyse von Texten Innerhalb lexikometrischer Verfahren lassen sich insbesondere vier grundlegende Methoden unterscheiden, die vielversprechende Ansätze für diskurstheoretisch orientierte Arbeiten bieten. Dies sind Frequenzund Konkordanzanalysen, Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus sowie Analysen von Kookkurrenzen (eine ausführlichere Darstellung bieten Lebart und Salem 1994; Lebart, Salem und Berry 1998; Marchand 1998: 29ff.; Baker 2006). Für die Berechnung bzw. Erstellung der jeweiligen Parameter und Auswertungen kann auf unterschiedliche Computerprogramme zurückgegriffen werden (s. Exkurs). Im Folgenden werden die wichtigsten lexikometrischen Verfahren anhand empirischer Beispiele kurz vorgestellt. 1. Frequenzanalysen zeigen, wie absolut oder relativ häufig eine spezifische Form in einem bestimmten Segment des Korpus auftritt: Auf der Basis von diachronen Korpora lassen sich damit also bspw. die relative Häufigkeit eines Wortes (Graphems, d. h. der kleinsten zusammenhängenden Einheit, die im Schreibfluss auftritt) oder von regelmäßig verknüpften Wörtern (Wortfolgen, bzw. N-Grammen) im Zeitverlauf herausarbeiten (vgl. Abbildung 4). In der Regel werden zunächst Wortlisten erstellt, in denen alle grammatischen Formen eines Wortes (d. h. die einzelnen Grapheme) getrennt gezählt werden (also bspw. Forscher/Forscherin/Forschern/Forschers). Oftmals kommt es aber vor, dass man solche Flexionen für die Analyse als gleichwertig betrachten möchte. In diesem Fall wird mit dem Lemma bzw. Lexem gearbeitet, d. h. mit einer Gruppe verschiedener Flexionsformen, die alle zum gleichen Begriff gehören; im o. g. Beispiel würden also Forscher/Forschern und Forschers zum gleichen Lemma gehören. Dieser Vorgang wird als Lemmatisierung bezeichnet (vgl. Lebart, Salem und Berry 1998: 23). Die Grenze, welche Wortformen für eine gegebene Analyse als äquivalent angesehen werden und welche nicht, hängt von der Fragestellung ab – so kann etwa in einem Fall, wo es um ungleiche Geschlechterverhältnisse an 240

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Universitäten geht, die Unterscheidung zwischen „Forscher“ und „Forscherin“ entscheidend sein, in einem anderen Fall, wo es nur darum geht, welche Rolle in einer bestimmten Stadt die Forschung spielt, ist diese Differenzierung nicht relevant (vgl. Lebart, Salem und Berry 1998: 22). Abbildung 4: Ergebnisse des diachronen Vergleichs relativer Häufigkeiten von Wörtern des Postkolonialismus und der ethnischen Differenzierung im Banlieue-Diskurs (Le Monde 1987–2005) 180

Rel. Häufigkeit * 1 000 000

160

Freq/Okk * 1 000 000 für ethn* Freq/Okk * 1 000 000 für colonial*

140 120 100 80 60 40 20 0 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

Quelle: eigene Darstellung Die Abbildung zeigt ein Teilergebnis eines Forschungsprojekts, in dem der Bedeutungswandel des Lexems „banlieue*“ im Kontext der so genannten „Krise der banlieues“ in Frankreich untersucht wird (Glasze, Germes und Weber 2009). Anhand eines diachron angelegten Pressekorpus mit allen Artikeln der Tageszeitung Le Monde seit 1987, die das Lexem „banlieue“ enthalten, konnte gezeigt werden, dass seit 2003 die relative Häufigkeit von Wörtern stark angestiegen ist, die semantisch dem Feld der ethnischen Differenzierung (untersucht wurde die Buchstabenfolge ethn*) und dem Postkolonialismus (untersucht wurde die Buchstabenfolge colonial*) zugerechnet werden kön11 nen . Dies kann als ein erster Hinweis darauf gewertet werden, dass es zu einer Ethnisierung des banlieue-Diskurses kommt, d. h. dass die so genannte „Krise der banlieues“ seit 2003 zunehmend als eine Krise der ethnischen Differenz und des Postkolonialismus konstituiert wird.

11 Die Lexeme ethn* und colonial* wurden ausgewählt, da diese in einer vorangegangenen Analyse der Charakteristika eines Teilkorpus (s. unten) als Charakteristika des banlieue-Diskurses identifiziert wurden. 241

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2. Konkordanzanalysen. Die einfachste Möglichkeit, den Kontext eines Wortes bzw. einer Wortfolge zu untersuchen, ist die Anzeige von Konkordanzen. Dabei werden die jeweils vor und hinter einem Schlüsselwort stehenden Zeichenfolgen dargestellt. Eine Konkordanz ist eine Liste, die alle Vorkommen eines ausgewählten Wortes – oder auch Wortfolgen – in seinem Kontext zeigt. Für Konkordanzen üblich ist eine zeilenweise Darstellung, die als KWIC (key word in context) bezeichnet wird (Scherer 2006: 43; vgl. Lebart, Salem und Berry 1998: 32f.). Auf dessen linker und rechter Seite wird, je nach verwendeter Analysesoftware, ein festgelegter Kontext, bestehend aus einer bestimmten Anzahl an Zeichen oder Wörtern, angezeigt (vgl. Abbildung 5). Konkordanzanalysen können sinnvoll als Vorbereitung und Hilfe für die qualitative Interpretation des Kontextes bestimmter Schlüsselwörter verwendet werden. Abbildung 5: Ausschnitt aus einer Konkordanzliste

Quelle: eigene Darstellung Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt der Konkordanzen des Lexems „Jugendliche*“ in dem Diskurs über die ostdeutschen Großwohnsiedlungen der Süddeutschen Zeitung von 1994–2006 (Brailich, Germes, Glasze, Pütz und Schirmel 2009). Das Lexem „Jugendliche“ stellt in der hier gezeigten Studie über die Konstitution ostdeutscher Großwohnsiedlungen ein Charakteristikum eines Teilkorpus dar und wird anhand einer Konkordanzanalyse kontextualisiert. So lässt sich in der Darstellung der Konkordanzen erkennen, dass „Jugendliche*“ vielfach in Verbindung mit Wörtern steht, welche Problematisierungen als „gewalttätige“, „rechtsextreme“ oder „randständische Jugendliche“ konstituieren. 242

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3. Analysen der Charakteristika eines Teilkorpus zeigen, welche lexikalischen Formen für einen Teil des Korpus im Vergleich zum Gesamtkorpus bzw. einem anderen Teilkorpus spezifisch sind. Hierzu werden diejenigen Wörter ermittelt, die in einem bestimmten Teilkorpus signifikant über- oder unterrepräsentiert sind12. Die Analysen von Charakteristika eines Teilkorpus sind also induktiv und corpus driven, d. h. sie kommen ohne im Voraus definierte Suchanfragen aus und bieten damit die Chance, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat (Teubert 2005; Bubenhofer 2008).

12 Grundlage der Berechnung der Signifikanz sind die absolute Häufigkeit eines bestimmten Wortes bzw. einer Gruppe von Wörtern (d. h. von Graphemen oder Lexemen) bzw. einer Wortfolge und die Gesamtzahl aller Wörter in einem gegebenen Korpus (Okkurrenzen). Aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit einzelner Wörter bzw. Wortgruppen und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnen. Auf diese Weise lässt sich zeigen, welche Wörter und ggf. Wortfolgen in einem Teilkorpus im Vergleich zum Gesamtkorpus spezifisch häufiger bzw. seltener vorkommen. Je nach Analysesoftware stehen unterschiedliche statistische Tests für die Berechnung der Signifikanzen zur Verfügung (s. Exkurs „Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen“). 243

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Abbildung 6: Ergebnisse der Analyse von Charakteristika des Teilkorpus westdeutsche Großwohnsiedlungen mit dem Referenzkorpus Süddeutsche Zeitung 1994–2006

Quelle: eigene Darstellung Die Abbildung zeigt die in einer Analyse der Süddeutschen Zeitung (1994– 2006) herausgearbeiteten Charakteristika eines Teilkorpus und visualisiert den Mediendiskurs zu den westdeutschen Großwohnsiedlungen (Brailich, Germes, Glasze, Pütz und Schirmel 2009). Dazu wurde anhand der Eigennamen der westdeutschen Großwohnsiedlungen mit mehr als 2.500 Wohneinheiten ein Teilkorpus gebildet und mit dem Referenzkorpus aller Artikel der Süddeutschen Zeitung verglichen. Mit diesem corpus driven-Ansatz wurden diejenigen Wörter herausgearbeitet, die charakteristisch für die Bedeutungskonstitution westdeutscher Großwohnsiedlungen sind. Je näher die charakteristischen 244

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Wörter zum Zentrum der Abbildung stehen, desto signifikanter sind diese (desto höher ist ihr keyness-Wert13). Der Schriftgrad zeigt die Häufigkeit des jeweiligen Wortes im Teilkorpus an. Die Wörter wurden „manuell“ in thematischen Gruppierungen angeordnet, um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten.14

4. Die Untersuchung von Kookkurrenzen15 zeigt, welche Wörter und Wortfolgen (N-Gramme) im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden, d. h. welche Wörter in der Umgebung eines bestimmten Wortes überzufällig häufig auftauchen16. Dafür wird ein Teilkorpus mit der Umgebung um ein bestimmtes Schlüsselwort erstellt. Diese Umgebungen können Einheiten sein wie der Satz oder Absatz, in dem das Schlüsselwort vorkommt, ein definierter Bereich mit einer bestimmten Zahl von Wörtern vor und nach dem Schlüsselwort oder Einheiten, aus denen der Korpus zusammengesetzt wurde (bspw. einzelne Reden oder Presseartikel, in denen das Schlüsselwort vorkommt). Der Teilkorpus mit den Wörtern und Wortfolgen in der Umgebung des Schlüsselwortes wird dann auf Charakteristika im Vergleich zum Gesamtkorpus untersucht (s. o.).

13 Das lexikometrische Analyseprogramm WordSmith Tools berechnet als Signifikanzwert der Charakteristika einen so genannten keyness-Wert. Die Berechnung der Charakteristika erfolgte mithilfe eines statistischen Tests auf Basis von Ted Dunnings Log Likelihood (Dunning 1993). 14 Als Interpretationshilfe wurden dabei Konkordanzanalysen herangezogen, um wiederum den Kontext der Charakteristika genauer bestimmen zu können (s. o.). 15 Teilweise werden Wörter, die regelmäßig in der Nähe voneinander auftreten, auch als Kollokationen bezeichnet (Baker 2006). 16 Zur Berechnung von Signifikanzen s. unter (3.) „Analyse der Charakteristika eines Teilkorpus“. 245

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Abbildung 7: Ergebnisse der Kookkurrenzanalyse des Begriffs „Frankfurt“ in überregionalen Printmedien* 1999–2005

Quelle: eigene Darstellung Die Abbildung zeigt die in der vergleichenden Printmedienanalyse herausgearbeiteten Kookkurrenzen mit „Frankfurt am Main“ (Mattissek 2008). Je weiter innen die Begriffe stehen, desto höher der ced-Wert17 und desto wahrscheinlicher ist es folglich, dass die beobachtete Häufung dieser Begriffe in den Artikeln zu Frankfurt statistisch signifikant (d. h. „überzufällig“) ist. Die Größe der Begriffe entspricht der relativen Häufigkeit im untersuchten Teilkorpus. 17 Der ced-Wert ist ein Maß für die Überzufälligkeit des Auftretens eines Begriffs in einem Teilkorpus verglichen mit allen anderen Teilkorpora. 246

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Inhaltlich-semantisch wurden die Wörter der Übersichtlichkeit halber manuell unterschiedlichen thematischen Segmenten zugeordnet.

5. Eine sinnvolle Erweiterung der Kookkurrenzanalyse bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen, mithilfe derer sich Kookkurrenzen verschiedener Begriffe in unterschiedlichen Teilkorpora in einen Zusammenhang bringen lassen (Dzudzek 2008). Während bei der Kookkurrenzanalyse die Bedeutungsverschiebung eines Begriffs durch unterschiedliche Teilkorpora verfolgt wird und man davon ausgeht, dass es einen fixen Knotenpunkt gibt, der in allen Teilkorpora eine zentrale, wenn auch sich verändernde Rolle spielt, bieten multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen die Möglichkeit, diskursive Verschiebungen im Sinne eines Gleitens von „Signifikant zu Signifikant“ zwischen unterschiedlichen Teilkorpora zu verfolgen. Ziel multivariater Analyseverfahren von Differenzbeziehungen ist also die Erweiterung der Kookkurrenzanalyse hin zu einer Analyse eines komplexen differenziellen Netzes von Zeichen (Textelementen), in dem Bedeutung konstituiert wird im Sinne von de Saussure (1931 [1916]) sowie Laclau und Mouffe (1985). Daher wird der Begriff Kookkurrenz, der „das gemeinsame Vorkommen zweier Wörter in einem gemeinsamen Kontext“ (Lemnitzer und Zinsmeister 2006: 147) beschreibt, um eine Vielzahl von Dimensionen erweitert, so dass er die Beziehung mehrerer Elemente innerhalb eines differenziellen Zeichensystems beschreibt. Mithilfe multivariater Dimensionsreduktionsverfahren lässt sich dieser komplexe n-dimensionale Zusammenhang in einem zweidimensionalen Koordinatensystem visualisieren. Als dimensionsreduzierende Methoden für linguistische Sachverhalte kommen die Hauptkomponentenanalyse und die Korrespondenzanalyse18 infrage (vgl. Lebart, Salem und Berry 1998: 45–69). In diesem zweidimensionalen Koordinatensystem lassen sich nun folgende Sachverhalte ablesen: a) Möglicher Kontext: Die relative Nähe bzw. Entfernung der Begriffe zueinander ist Indikator für mögliche Differenz- bzw. Äquivalenzverhältnisse im Sinne von Laclau und Mouffe. b) Möglicher relativer Bedeutungsgrad für den Diskurs: Je weiter die Begriffe vom Mittelpunkt des Koordinatenkreuzes entfernt 18 Es gibt eine Vielzahl von Statistikprogrammen, die unterschiedliche multivariate Verfahren rechnen und visualisieren können. Das – eigentlich für die Ökologie entwickelte – Programm Canoco 4.5 kann neben der üblichen Hauptkomponentenanalyse auch die für linguistische Zwecke entwickelte Korrespondenzanalyse rechnen (Ter Braak und Smilauer 2002). 247

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sind, desto größer ist ihre „relative Wichtigkeit“ (Lebart, Salem und Berry 1998: 57) für den Diskurs einzuschätzen. Denn je häufiger ein Begriff in einem Teilkorpus vorkommt und je stärker er sich vom Vorkommen in sonstigen Teilkorpora und von anderen Begriffen unterscheidet, desto stärker wird er nach außen gezogen. c) Mögliche Cluster von Teilkorpora: Nicht nur die Lage der Begriffe zueinander kann interpretiert werden, sondern auch die Lage der Teilkorpora zueinander. Die relative Nähe bzw. Entfernung der Teilkorpora bietet eine Grundlage zur Abgrenzung von Phasen bzw. Clustern im Diskurs. d) Identifikation von möglichen zentralen Begriffen für die einzelnen Phasen/Cluster des Diskurses: Mithilfe der hier dargelegten Verfahren kann ermittelt werden, welche Begriffe für welche Phasen/Cluster besonders charakteristisch sind. Die relative Nähe der Begriffe zu den Teilkorpora zeigt, welche Begriffe für welche Phasen/Cluster besonders charakteristisch sein können.19 Multivariate Analyseverfahren von Differenzbeziehungen stellen ein exploratives Tool der Diskursanalyse im Sinne des corpus drivenAnsatzes dar. Da Position und relative Lage der Begriffe im Koordinatensystem zueinander – im Gegensatz zu den beiden oben vorgestellten Verfahren – rein mathematisch bestimmt sind, können sie nicht direkt interpretiert werden. Position und relative Lage der Begriffe zueinander aber bieten gute Anhaltspunkte für das Finden von Begriffsrelationen in sehr großen Korpora, deren Qualität dann interpretativ durch gezieltes Nachschlagen im Korpus bestätigt werden muss.

19 Dies ist allerdings nur über einen Umweg möglich, der die Jahrgänge und Begriffe leicht gegeneinander verschiebt (Dzudzek 2008: 66). 248

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Abbildung 8: Ergebnisse einer multivariaten Analyse von Differenzbeziehungen des Kultur-Diskurses der UNESCO

Quelle: eigene Darstellung Die Abbildung zeigt das Ergebnis einer multivariaten Analyse von Differenzbeziehungen am Beispiel des Kultur-Diskurses der UNESCO (Dzudzek 2008). Grundlage der hier dargestellten Hauptkomponentenanalyse sind charakteristische Begriffe mit Raumbezug aus dem Korpus aller UNESCO-Resolutionen seit ihrer Gründung. Die Abbildung visualisiert die diskursive Verschiebung von einer Fokussierung auf den Nationalstaat in der frühen und mittleren Phase hin zur sub- und supranationalen Ebene in der jüngeren Phase, in der Begriffe wie „subregional“, „regional“, aber auch „worldwide“ und „global“ relevant werden. Auch zeigt sich anhand der räumlichen Nähe der Begriffe innerhalb der Grafik die Differenzbeziehung zwischen „colonialism“ und den „national liberation movements“, welche diskursiv mit der Befreiung der „newly independent countries“ vom Kolonialismus verknüpft werden. Dass die mathematisch bestimmte Lage der Begriffe zueinander nicht direkt interpretiert werden kann, sondern die Qualität der Beziehungen zueinander durch gezieltes Nachschlagen im Korpus überprüft werden muss, zeigt der Begriff „national culture“. Er taucht in der Grafik in der mittleren Phase auf. Dies mag zunächst verwundern, da die interpretative Analyse zeigt, dass „Nationalkultur“ das räumliche Ordnungsprinzip ist, in dem Kulturen in der ersten Phase des Diskurses verortet und verhandelt werden. Die Tatsache, dass der Begriff 249

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aber erst überzufällig häufig in der mittleren Phase mit Begriffen wie „(neo-) colonialism“ und „national liberation movements“ auftaucht, hängt damit zusammen, dass er erst im Diskurs ausgesprochen wird, als das Konzept der nationalen Container, in denen man Kulturen verorten kann, durch die nationalen Befreiungsbewegungen der postkolonialen Staaten zum Thema gemacht wird, indem bspw. gefordert wird: „the need to reassert indigenous cultural identity and to eliminate the harmful consequences of the colonial era, […] call(s) for the preservation of national culture and traditions“ (UNESCO 2006: 60).

Exkurs: Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Software und Ressourcen Für lexikometrische Analysen steht eine Vielzahl von Programmen bereit, die auf den unterschiedlichen Betriebssystemen (Windows, Unix-Systeme, Linux etc.) basieren. Diese Programme wurden fast ausschließlich im Rahmen sprachwissenschaftlicher Fragestellungen entwickelt und bieten ein umfangreiches Spektrum an Funktionen. Einen Überblick über verschiedene lexikometrische Programme bieten der Linguist Noah Bubenhofer20 sowie eine Internetdatenbank des belgischen Soziologen Christophe Lejeune21. Für Frequenz-, Konkordanz-, Kookkurrenzanalysen oder die Berechnung von N-Grammen stehen einerseits verschiedene Tools und Programme zur Verfügung, die ausschließlich für die jeweiligen Analyseverfahren entwickelt wurden (wie z. B. das Ngram Statistics Package (NSP) zur Berechnung von N-Grammen oder das KonkordanzProgramm AntConc). Andererseits gibt es mit dem französischsprachigen Lexico322 und dem englischsprachigen Wordsmith423 zwei komplexe lexikometrische Programme, welche die Durchführung aller oben angesprochenen lexikometrischen (Grund-)Verfahren ermöglichen. Die beiden Pogramme haben in sozialwissenschaftlichen Studien bereits mehrfach Anwendung gefunden. Für komplexe multivariate Analysen, wie bspw. Cluster- oder Faktorenanalysen, bieten sie jedoch keine bzw. nur begrenzte Möglichkeiten (Ausnahmen: SenseCluster24, HyperBase25). Lexico3 bietet bspw. nur die Möglichkeit einer auf sechs Dimensionen begrenzten Faktorenanalyse. Lexico3 und Wordsmith4 unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Analyseverfahren nicht grundlegend. Sie ermöglichen die Berechnung von Frequenzen, Konkordanzen, N-Grammen (als segments 20 Online abrufbar unter http://bubenhofer.com (Zugriff: 7.10.2008) 21 Online verfügbar unter http://analyses.ishs.ulg.ac.be/logiciels/ (Zugriff: 28.1.2009) 22 Informationen zu Lexico3 finden sich unter http://www.cavi.univparis3.fr/ilpga/ilpga/tal/lexicoWWW/lexico3.htm (Zugriff: 18.12.2008) 23 Informationen verfügbar auf Mike Scotts Website unter http://www. lexically.net/wordsmith/index.html 24 Online verfügbar unter http://www.d.umn.edu/~tpederse/senseclusters. html (Zugriff: 14.9.2008) 25 Informationen zu dem Programm finden sich unter: http://ancilla.unice.fr/ ~brunet/ pub/hyperbase.html (Zugriff: 18.12.2008) 250

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repetés bzw. cluster bezeichnet) und Kookkurrenzen (bei Wordsmith4 als Berechnung von keywords bezeichnet)26. Unterschiede gibt es jedoch bzgl. ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Handhabung. Wordsmith4 ermöglicht durch die direkt miteinander verknüpften drei Basis-Werkzeuge Wordlist, Concord und Keyword eine flexiblere Analyse. Zudem ist es leistungsstärker und lässt eine Analyse von Textkorpora mit einem Umfang von mehr als 150 MB zu, während Lexico3 bei diesem Datenvolumen an seine Leistungsgrenzen stößt. Vorteilhaft erscheint bei Lexico3, dass sich im Anschluss an die Analyse der N-Gramme diese mit in die Berechnung der Kookkurrenzen bestimmter Teilkorpora einbeziehen lassen. So kann Lexico3 neben den einzelnen Wörtern auch die N-Gramme berechnen, die im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden. Dies ist einerseits für Analysen in Sprachen sinnvoll, in denen im Gegensatz zum Deutschen keine Bildung von zusammengeschriebenen Nominalkomposita erfolgt, wie bspw. im Fall romanischer Sprachen, in denen Komposita zumeist mithilfe einer Präposition (etwa politique de la ville im Französischen) oder durch Substantiv-Adjektiv-Konstruktionen (z. B. desenvolvimento urbano im Portugiesischen) ausgedrückt werden. Andererseits ist dies von großer Bedeutung, wenn man die regelmäßigen sprachlichen Verknüpfungen mit bestimmten, aus zwei oder mehr Lexemen bestehenden Bedeutungskonzepten untersuchen möchte, wie z. B. „Soziale Stadt“ oder „Nachhaltige Entwicklung“.

26 Je nach Analyse-Software werden unterschiedliche Signifikanztests bereitgestellt. Grundlage der Berechnung der Signifikanzen ist in beiden Fällen die absolute Häufigkeit eines bestimmten Wortes (Graphems) bzw. einer Wortfolge und die Gesamtzahl aller Wörter in einem gegebenen Korpus (Okkurrenzen). Aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit dieses Wortes und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus lässt sich die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnen. Auf diese Weise lässt sich zeigen, welche Wörter und ggf. Wortfolgen in einem Teilkorpus im Vergleich zum Gesamtkorpus spezifisch häufiger bzw. seltener vorkommen. Im Fall von Lexico3 wird aus dem Verhältnis zwischen der Häufigkeit des bestimmten Wortes und der Gesamtzahl aller Wörter im Korpus die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Frequenz des Wortes in einem Teil des Korpus berechnet. Dabei werden die negativen Exponenten der Zehnerpotenzen dieser Wahrscheinlichkeiten als Spezifität bezeichnet (10-x). Die empirisch gefundenen Wahrscheinlichkeiten unterschreiten dabei vielfach 10-5 deutlich. Gemäß Lebart, Salem und Berry können diese Werte daher unmittelbar als Aussage über die Spezifität eines bestimmten Wortes (Graphems) bzw. einer Wortfolge in einem bestimmten Teilkorpus interpretiert werden (1998: 135). WordSmith4 stellt zwei statistische Tests für die Berechnung der als keyness-Wert bezeichneten Signifikanzen zur Verfügung. Die Berechnung des keyness-Werts erfolgt entweder anhand des klassischen Chi-QuadratTests mit Yates-Korrektur oder mithilfe des statistischen Tests auf Basis von Ted Dunnings Log Likelihood (Dunning 1993). Eine gute Einführung in diese beiden statistischen Verfahren bietet Noah Bubenhofer unter http://www.bubenhofer.com (Zugriff: 12.1.2009). 251

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Bevor Texte mithilfe lexikometrischer Software analysiert werden können, müssen diese aufbereitet werden. So scheint es bei einigen Programmen, wie auch Lexico3, sinnvoll, den gesamten Korpus auf Kleinschreibung umzustellen, da diese Programme graphische Formen unterscheiden – dasselbe Wort einmal in Groß- und einmal in Kleinschreibung wird als zwei unterschiedliche Formen registriert. Für spezifische Fragestellungen kann es darüber hinaus sinnvoll sein, eine Lemmatisierung durchzuführen, d. h. eine Reduktion der Flexionsformen eines Wortes auf die Grundform. Für die Lemmatisierung sind sprachspezifisch spezielle Programme notwendig. WordSmith4 verfügt über eingeschränkte Möglichkeiten zur Lemmatisierung von Texten. So ist es anhand einer eigens zu erstellenden Lemma-Liste möglich, ausgewählte Flexionsformen auf die Grundform zurückzuführen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass bislang keine lexikometrische Software vorliegt, die auf die Unterstützung einer sozialwissenschaftlich orientierten Diskursforschung ausgerichtet ist. So bieten die Programme Lexico3 und Wordsmith4 bspw. keine Möglichkeit, Dokumente zu verwalten und auf diese Weise flexibel unterschiedliche Kombinationen von Dokumenten (z. B. Presseartikel unterschiedlicher Jahrgänge oder mit unterschiedlichen Schlagwörtern) kontrastieren zu können. Folglich muss für neue Kontrastierungen jeweils aufwendig ein neuer Korpus erstellt werden. Hilfreich für eine flexible Korpuserstellung erweisen sich Datenbankensysteme, mit denen sich die einzelnen digitalen Texte verwalten lassen.27 Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) bieten digitale Korpora, die über das Internet abfragbar sind. Verschiedene lexikometrische Analyseverfahren können mit diesen Ressourcen online durchgeführt werden wie bspw. Kookkurrenzanalysen und die Berechnung von Kookkurrenzprofilen oder Synonymen (Cosmas II28, CCBD29, DWDS30) – ohne dass dafür spezielle Programme notwendig wären.

27 Aus Sicht einer sozialwissenschaftlichen Diskursforschung erscheint es daher wünschenswert und wichtig, dass die komfortableren QDAProgramme (bspw. MaxQDA und Atlas.ti) zukünftig um korpuslinguistische Werkzeuge ergänzt werden. 28 Über Cosmas II kann anhand eines umfangreichen Abfragepakets auf die Korpora des IDS zugriffen werden, verfügbar unter http://www.idsmannheim.de/cosmas2/uebersicht.html (Zugriff: 18.12.2008). 29 Zugriff auf die Kookkurrenzdatenbank CCBD des IDS unter http://corpora .ids-mannheim.de/ccdb (Zugriff: 18.12.2008) 30 Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften bietet eine lemmabasierte Kollokationssuche im DWDS-Kerncorpus, durchführbar unter http://www.dwds.de (Zugriff: 18.12.2008). 252

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Fazit: Potenziale und Grenzen korpuslinguistisch-lexikometrischer Verfahren für die Diskursforschung Wie die Ausführungen und Beispiele gezeigt haben, können lexikometrische Analysen im Rahmen diskursanalytischer Arbeiten einen wichtigen Beitrag leisten. Sie ermöglichen es, große Textmengen zu erfassen und auf Regelmäßigkeiten und Strukturen zu untersuchen, die „von Hand“, d. h. durch Lesen des/der Forschenden, nicht zu erfassen wären. Lexikometrische Verfahren bieten zudem die Chance, induktiv diskursive Strukturen herauszuarbeiten, die gerade nicht den Vorannahmen der Forschenden entsprechen. Strukturalistische bzw. poststrukturalistische Theorien teilen die Auffassung, dass Bedeutung durch regelmäßige Verknüpfungen von symbolischen (insbesondere sprachlichen) Formen entsteht. Die Lexikometrie hilft, diese theoretische Annahme zu operationalisieren, indem sie Differenzbeziehungen von sprachlichen Elementen untersucht und damit die kontextspezifische Konstitution von Sinn im diachronen oder synchronen Vergleich herausarbeitet. Gerade der Vergleich unterschiedlicher Teilkorpora kann dabei eingesetzt werden, um auch Unterschiede, Verschiebungen und Brüche innerhalb des Diskurses – etwa Veränderungen über die Zeit oder Unterschiede zwischen Sprecherpositionen – herauszuarbeiten. Damit kann aufgezeigt werden, wie sich die Konstitution von Bedeutungen abhängig vom jeweiligen diskursiven Kontext verschiebt, wie sie verändert und von neuen Formen der Sinnproduktion herausgefordert wird (Glasze 2007a, b). Mithilfe der entsprechenden statistischen Verfahren können aber nicht nur Unterschiede zwischen einzelnen Teilkorpora untersucht werden, sondern auch Begriffshäufungen im Kontext bestimmter sprachlicher Formen. So kann für Fragestellungen, die sich mit der Herstellung kollektiver Identität und diskursiver Gemeinschaften beschäftigen, nach Kookkurrenzen des Begriffs „wir“ (sowie „uns“ etc.) gesucht werden. Die Signifikanten, die in solchen sprachlichen Kontexten besonders häufig auftreten, können Hinweise auf Prozesse der Identifikation und Abgrenzung bieten (Mattissek 2007). Die Verwendung lexikometrischer Verfahren stößt allerdings auch an Grenzen: So kann mittels lexikometrischer Verfahren bspw. gezeigt werden, ob und wann das Wort „Afrika“ regelmäßig mit „Armut“ verknüpft und dementsprechend eine bestimmte Bedeutung hergestellt wird – oder nicht. Die lexikometrischen Analysen sind aber nur teilweise in der Lage, die Qualität dieser Verknüpfungen herauszuarbeiten und damit zu analysieren, ob bspw. zwischen den Elementen Beziehungen der Temporalität, der Äquivalenz, der Opposition oder der Kausalität herge253

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stellt werden. Es erscheint daher heuristisch fruchtbar, auch diese Dimension der Konstitution von Bedeutung ins Blickfeld zu nehmen.31 Darüber hinaus erweist sich die Lexikometrie auch als wenig hilfreich, wenn es darum geht, ungesagtes oder implizites Wissen (etwa Prämissen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden) zu erfassen. Ebenso wenig lassen sich mit ihrer Hilfe Phänomene wie Ironie oder Sarkasmus analysieren. In der Regel bietet es sich daher in empirischen Arbeiten an, lexikometrische Methoden mit anderen Verfahren zu kombinieren, die die Konstitution von Bedeutung in einzelnen Aussagen oder Texten adressieren. Insbesondere können die hier vorgestellten Verfahren der quantitativen Makroanalyse von Texten sinnvoll mit Verfahren der Aussagenund Argumentationsanalyse und kodierenden Verfahren verknüpft werden (Kap. 12, 13 und 14). Für diese „Mikroverfahren“ liefert die Lexikometrie wichtige Anregungen, indem sie Hinweise auf relevante Themen- und Begriffsfelder gibt.

Exkurs: Lexikometrische bzw. korpuslinguistische Fachbegriffe Signifikanz/Signifikanztests: In der Lexikometrie bzw. Korpuslinguistik spielen Signifikanztests eine wichtige Rolle. Sie werden verwendet, um bspw. zu überprüfen, ob ein bestimmtes Lexem in einem Teilkorpus signifikant häufiger vorkommt als in einem Referenzkorpus. In diachroner Perspektive kann damit geprüft werden, ob die Verwendung eines Sprachmusters sich zeitlich signifikant verändert. Auch bei der Berechnung von Kookkurrenzen und N-Grammen werden Signifikanztests eingesetzt, um zu bestimmen, ob zwei Wörter überzufällig (signifikant) häufig zusammen auftreten. Regelmäßig verwendete Signifikanztests sind bspw. der Chi-Quadrat-Test oder der Log-Likelihood-Test. Multivariate Verfahren: Ziel multivariater Analyseverfahren von Differenzbeziehungen ist die Erweiterung der Kookkurrenzanalyse hin zu einer Analyse eines komplexen differenziellen Netzes von Zeichen (Textelementen), in dem Bedeutung konstituiert wird. Dabei wird der Begriff Kookkurrenz um eine Vielzahl von Dimensionen erweitert, so dass er die Beziehung mehrerer Elemente innerhalb eines differenziellen Zeichensystems beschreibt. Mithilfe multivariater Dimensionsreduktionsverfahren lässt sich dieser komplexe n-dimensionale Zusammenhang in einem zwei-dimensionalen Koordinatensystem visualisieren. 31 Prinzipiell könnten diese Fragen auch mittels lexikometrischer Verfahren adressiert werden – die Untersuchung müsste dann letztlich unendlich lange fortgesetzt werden, um auch die signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen der signifikanten Umgebungen zu untersuchen usw. In der Forschungspraxis ist dies allerdings kaum umsetzbar. 254

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corpus based: Korpuslinguistische Verfahren, bei denen die Verteilung eines im Voraus definierten lexikalischen Elements in einem Textkorpus untersucht wird. corpus driven: Induktive korpuslinguistische Verfahren, die ohne im Voraus definierte Suchanfragen auskommen und damit die Chance bieten, auf Strukturen zu stoßen, an die man nicht schon vor der Untersuchung gedacht hat. Genre: Mit dem Begriff des Genres werden in den Sprachwissenschaften Gruppen von Texten bezeichnet, für deren Strukturierung und damit deren Kohärenz sich historisch spezifische, institutionell stabilisierte Regeln etabliert haben. So gelten für die Strukturierung und Kohärenz wissenschaftlicher Fachaufsätze andere Regeln als für Zeitungsartikel und wiederum andere für politische Reden. Graphem: Als Graphem werden die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheit der geschriebenen Sprache bezeichnet. Kollokationen: s. unter Kookkurrenzen Kookkurrenzen: Als Kookkurrenz wird das überzufällig häufige gemeinsame Auftreten zweier oder mehrerer Wörter in einer bestimmten definierten Umgebung eines bestimmten Schlüsselwortes bezeichnet. Die Untersuchung von Kookkurrenzen zeigt, welche Wörter und Wortfolgen im Korpus mit einer gewissen Signifikanz miteinander verknüpft werden, d. h. das gemeinsame Auftreten ist höher, als bei einer Zufallsverteilung aller Wörter erwartbar wäre. Eine Kookkurrenzanalyse untersucht die Wortumgebung eines ausgewählten Begriffs und gibt dadurch Aufschluss über seine Bedeutungskonstitution. Lexem: Das Lexem ist die kleinste semantische Einheit. Ein Lexem bezeichnet eine Menge von Wörtern, welche alle Flexionsformen des gleichen Grundwortes darstellen, d. h. sich nur in bestimmten morphosyntaktischen Merkmalen (Kasus, Numerus, Tempus usw.) unterscheiden. So gehören z. B. die verschiedenen Flexionsformen eines Substantivs oder Verbs zum selben Lexem (laufen, läuft, läufst = ein Lexem; laufen, Läufer = zwei Lexeme). Lemma/Lemmatisierung: Ein Lemma bezeichnet in der Lexikographie und Linguistik eine lexikographische Standard-Notation für ein Lexem. Ein Lemma ist die Grundform eines bestimmten Wortes, die nach bestimmten Notationskonventionen gebildet wird (z. B. im Deutschen für Nomen die Verwendung des Nominativ Singular, für das Verb der Infinitiv). Anhand einer Lemmatisierung wird eine Reduktion der Flexionsformen eines Wortes auf die Grundform durchgeführt. Lexikometrie: Die Lexikometrie zielt darauf ab, großflächige Strukturen der Sinn- und Bedeutungskonstitution in Texten zu erfassen. Lexikometrische Verfahren untersuchen die quantitativen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen in geschlossenen Textkorpora, d. h. in Textkorpora, deren Definition, Zusammenstellung und Abgrenzung klar bestimmt ist und die im Laufe der Untersuchung unverändert bleiben.

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Okkurrenzen: In der Linguistik bezeichnet man mit Okkurrenz die Häufigkeit, mit der ein bestimmtes sprachliches Element wie bspw. ein Wort in einem komplexeren sprachlichen Zusammenhang auftritt. Konkordanz: Eine Konkordanz ist eine Liste, die alle Vorkommen eines ausgewählten Wortes – oder auch Wortfolgen – in seinem Kontext zeigt. Für Konkordanzen üblich ist eine zeilenweise Darstellung, die als KWIC (key word in context) bezeichnet wird. Auf dessen linker und rechter Seite wird ein festgelegter Kontext, bestehend aus einer bestimmten Anzahl an Zeichen oder Wörtern, angezeigt. Konkordanzanalysen können sinnvoll als Vorbereitung und Hilfe für die qualitative Interpretation des Kontextes bestimmter Schlüsselwörter verwendet werden. Sprecherposition: Sprecherpositionen werden in Anlehnung an Überlegungen Foucaults als institutionell stabilisierte Positionen i. d. R. innerhalb von Organisationen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und die bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen – weitgehend unabhängig von den Individuen, welche die Position einnehmen. Die Sprecherpositionen sind dabei selbst diskursiv konstituiert. Textkorpus: Ein Korpus ist eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen, die als empirische Grundlage für sprachwissenschaftliche Untersuchungen dient. Die Beschaffenheit des Korpus hängt von der spezifischen Fragestellung und der methodischen Herangehensweise der Untersuchung ab. Die typischerweise digitalisierten Daten können ggf. Metadaten enthalten, die diese Daten beschreiben, sowie linguistische Annotationen. N-Gramme: Ein N-Gramm ist eine Folge aus N Zeichen oder N Wörtern. So besteht bspw. ein Monogramm aus einem Zeichen, bspw. nur aus einem einzelnen Buchstaben, das Bigramm aus zwei und das Trigramm aus drei Zeichen. Im Rahmen von lexikometrischen Analysen bezieht sich die Berechnung von N-Grammen vor allem auf Wortkombinationen aus N Wörtern (auch Multi Word Units oder segments repetés genannt). So lassen sich N-Gramme nach ihrer Frequenz sortieren oder in komplexeren Verfahren nach ihrer Signifikanz gewichten.

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12 Raumbezogenes Argumentieren: Theorie, An al ysemethode, Anw endungsbeispiele TILO FELGENHAUER

Ar g u m e n t i e r e n u n d B e g r ü n d e n a l s „Geographie-Machen“ Fokussieren die Neue Kulturgeographie und die Politische Geographie soziale Aushandlungsprozesse um Raum, so stehen oft strukturale Machtaspekte und das Vermögen der hegemonialen Bedeutungsbelegung von Orten bzw. Raumausschnitten durch bestimmte Diskurspositionen im Vordergrund. Empirisch können dann mit qualitativen und quantitativen Analysen Sprechweisen, Begriffsbildungen und diskursive Formationen identifiziert werden, die als fest gefügte Deutungsmuster die sprachliche Konstruktion der räumlichen Wirklichkeit bestimmen. Solche diskursiven Geographien werden zur gesellschaftlichen Realität, wenn nur noch eine oder wenige „Lesarten“ des Ortes dauerhaft praxisrelevant bleiben und eine hegemoniale Deutung beliebige Um- und Neudeutungen ausschließt. Erweitert werden kann dieses machtzentrierte Verständnis mithilfe der Argumentationstheorie und der Methode der Argumentationsanalyse. Strategien, Rhetoriken und Standpunkte raumbezogener Debatten (z. B. Migrationsdebatten, Nutzungskonflikte, Konstruktionen regionaler Identität etc.) können als ein „Geben und Verlangen von Gründen“ (Brandom 2001: 41) aufgefasst werden. Geographische Weltbilder zeigen sich u. a. darin, welche Gründe für ein bestimmtes Handeln oder eine politische Forderung angegeben werden. Wer z. B. Maßnahmen zum Klimaschutz mit der Solidarität mit den besonders betroffenen Entwicklungsländern begründet, drückt damit nicht nur seine Vorstellung einer 261

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globalen Verantwortungsgemeinschaft aus, sondern unterstellt auch die menschliche Verursachung des Klimawandels, dessen räumlich ungleich verteilte Auswirkungen, ebenso wie das Vermögen des Menschen, dem zu begegnen. D. h. die im Diskurs vorgebrachten Argumente sind besonders geeignete Bestandteile, um die raumrelevanten Vorannahmen und das implizite Wissen der beteiligten Akteure systematisch untersuchen zu können. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen müssen Argumente und Begründungen im Allgemeinen nach relativ strengen Regeln konstruiert werden. Beim Argumentieren lassen wir im Alltag viel weniger „durchgehen“ als etwa im Bereich der Poesie. Auch ist der soziale Charakter eines Arguments ein komplett anderer als der eines Befehls, eines Berichtes oder Ähnlichem. Das Argumentieren soll eigene Überzeugungen ausdrücken und vor allem verbreiten – sei es zum Gegenüber oder zum Publikum eines Massenmediums. Zum anderen sind Argumente sehr komplexe soziolinguistische Gebilde, auch und gerade dann, wenn sie mit wenigen Worten auskommen. Dieser Beitrag möchte zeigen, dass ihr impliziter Gehalt dabei nicht nur von großem Erklärungswert, sondern auch analytisch vergleichsweise gut zugänglich ist – gerade im Hinblick auf raumbezogenes Argumentieren. Die Argumentationsanalyse ist dementsprechend als Rekonstruktion einer alltäglichen Praxis zu verstehen – als ein qualitatives sprachanalytisches Verfahren, das vor allem die Satz- und Wortebene in den Blick nimmt. Sie setzt also auch qualitative Erhebungsverfahren voraus, die entweder Transkripte erzeugen (z. B. von Interviews, Filmen oder TVSendungen) oder textförmige Dokumente aufbereiten (z. B. Zeitungsartikel). Für die geographische Anwendung setzt dies voraus, dass sich die Textdatengrundlage thematisch-inhaltlich auf Raum oder eine geographisch relevante Problematik bezieht. Außerdem ist zu beachten, dass der interpretierbare Umfang zumeist auf kürzere Passagen beschränkt bleibt. Methodisch besteht der Kerngedanke darin, dass Rechtfertigungen und Begründungen, die für bestimmte Behauptungen angegeben werden, als Praktiken der Welt- und damit Raumkonstruktion aufzufassen sind. Zunächst einmal, indem Begründungen und Argumente ausdrücklich auf räumliche Gegenstände und Probleme verweisen und damit deren Bedeutung und Sinn benennen1. Aber auch, indem sie zumeist unaus-

1

Linguistisch wird diese Ebene mit den Begriffen „Referenz“ (Bezug auf…) und „Prädikation“ (z. B. Zuweisung einer Raum-Zeit-Stelle, Eigenschaft etc.) erfasst (s. Reisigl und Wodak 2001: 45ff.).

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RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

gesprochenes raumbezogenes Hintergrundwissen (re-)produzieren2. Während des Argumentierens schaffen wir eine bestimmte Geographie. Und dies nicht nur, indem wir alltäglich Aussagen über Raum machen, sondern vor allem, indem wir Aussagen über die räumliche Wirklichkeit „zwischen den Zeilen“ vermitteln oder diese als Rezipienten akzeptieren. So werden mithilfe von Argumenten ständig Gewissheiten über die räumliche Wirklichkeit bestätigt und verbreitet. Wie aber läuft diese Form der kommunikativen Praxis ab? Wie kann man dieses Tun rekonstruieren und analysieren? Und wodurch unterscheiden sich raumbezogene Argumentationen von anderen? Dazu sollen zu Beginn einige begriffliche und theoretische Grundlagen aufbereitet und auf empirische Beispiele angewendet werden, um die Vorgehensweise der Argumentationsanalyse zu verdeutlichen. Abschließend wird der Platz der Argumentationsanalyse und -theorie innerhalb der Diskursanalyse und innerhalb der Humangeographie diskutiert.

Grundbegriffe und Entwicklungslinien d e r Ar g u m e n t a t i o n s t h e o r i e Das Argument war bereits ein wichtiger Bestandteil der antiken Rhetorik. Vor allem im Sinne praktischen „How-to-do-Wissens“ haben die Sophisten als „Rhetorik-Trainer“ zur Verbreitung rhetorisch-argumentativer Kenntnisse und Fähigkeiten beigetragen. Natürlich lag ihr Interesse nicht im theoretisch-analytischen Erkennen, sondern darin, zum überzeugenderen Sprechen und Argumentieren zu befähigen. Die wichtigsten drei Redegattungen der politischen Staatsrede, Gerichtsrede und Festrede (Ottmers 2007: 17ff.)3 sind jeweils aus vier klassischen Redeteilen aufgebaut (ebd.: 54ff.): Exordium, der Redeanfang als Kontaktaufnahme zum Publikum, das Narratio – das eine plausible und glaubwürdige Beschreibung des Themas/Problems beinhalten soll – die Argumentatio, welche die entscheidende und überzeugende Beweisführung vorbringt. Abgeschlossen wird die Rede mit der Perroratio, dem emotionalen und affektorientierten Abschluss. Die Topik unterscheidet hier bereits einige Grundprinzipien und „gängige“ Wege des Argumentierens wie das Teil-Ganzes-Schema (induktive Arg.) bzw. das Ganzes-TeilSchema (deduktive Arg.). Vergleiche und Gegensätze stützen die eigene 2

3

Diese Ebene der Präsuppositionen ist vergleichbar mit dem Begriff des „Vorkonstruktes“ in der Aussagenanalyse (s. Beitrag von Mattissek, Kap. 13). Geographisch interessant ist vor allem die Subgattung des so genannten Städtelobes. 263

TILO FELGENHAUER

Behauptung oder widerlegen die des Gegners, oder aber das Kausalprinzip soll Begründung und Behauptung wie eine naturgesetzliche UrsacheWirkung-Relation aussehen lassen (zur modernen [Weiter-]Entwicklung vgl. Kienpointner 1992: 187ff., 246). Wer aktuelle Medienberichte oder politische Statements untersucht, wird die klassischen Elemente ebenso erkennen wie den Idealtypuscharakter dieses Schemas. Gesprochen und argumentiert wird so, aber eben auch anders. Der persuasive Effekt einer Rede kann gerade aus der Konterkarierung des klassischen Aufbaus resultieren. Ein Argument kann plausibel erscheinen auch ohne die traditionelle Rahmung. Schon die Massenmedien begrenzen die rhetorische Ausbreitung und Entfaltung eines Themas im Sinne der klassischen Lehre. Interessanter erscheint es deshalb, die innere Struktur des Arguments und seine sozialen und kommunikativen Grundlagen zu untersuchen – trotz und gerade wegen der vielfältigen Verkleidung und Integration des Argumentativen im Alltag. Dabei kann man sich zunächst für die logische Konsistenz von Argumentationen interessieren (s. Salmon 1983; Bayer 1999), um daraus Kriterien zur Bewertung von Argumenten und Handlungsanweisungen zum „richtigen“ Argumentieren abzuleiten (s. van Eemeren, Grootendorst und Snoeck Henkemans 2002). Im Rückgang auf das Prinzip des so genannten „klassischen Syllogismus“, der ein Schlussschema der Form „wenn A = B und B = C dann A = C“ beinhaltet, erscheinen diese auf das Logische abzielenden Prüfungen von Argumenten aber ebenso logisch zwingend wie empirisch nutzlos. Dies liegt vor allem daran, dass die logische Konsistenz nicht die zentrale alltags-praktische Instanz ist, die die Logiker gern in ihr sähen. Lehrbücher des Argumentierens bieten daneben auch eine formale Unterscheidung von Argumenten im Sinne einer „Morphologie“ an. Je nach Zahl und Ordnung der „Stränge“ einer Argumentation kann man bspw. Einzel- oder multiple Argumentationen unterscheiden (van Eemeren, Grootendorst und Snoeck Henkemans 2002: 63ff). Neben dem rein logischen Zugang und der klassifizierenden Formenlehre hat sich seit einiger Zeit eine dritte einflussreiche Forschungsrichtung aus der Wiederbelebung der Rhetorik im 20. Jahrhundert und aus der sprachpragmatisch interessierten Philosophie entwickelt. Chaïm Perelman (1980) als Vertreter dieser „neuen Rhetorik“ betont, dass die Stärken und Schwächen von Argumenten nicht aus logischer Reinheit resultieren, sondern aus der Wirkmächtigkeit vor einem „virtuellen Auditorium“. Argumentieren als rhetorische Kernpraxis ist damit stets gesellschaftlich situiert.

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RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

Diese Einsicht findet man auch in Wittgensteins Denken, das Sprechen als Handeln auffasst und die soziale Wirklichkeit als ein Konglomerat von „Sprachspielen“ versteht. Daraus entwickelte Austin 1972 [1962] seine Sprachpragmatik („How to do things with words“) und Toulmin 1996 [1958] seine Argumentationstheorie (s. u.). Insbesondere Habermas’ „Theorie des Kommunikativen Handelns“ (1995 [1981]: 25ff.) und Kopperschmidt (2000) haben an diese Linie im deutschen Kontext angeknüpft und nach den sozialen und politischen Implikationen des Argumentierens gefragt. Argumentationen haben die Aufgabe, strittige Behauptungen auf unstrittige, allgemein akzeptierte Gründe zurückzuführen und so die anderen Diskussionsteilnehmer oder das Auditorium von der Gültigkeit der vorgebrachten Behauptung zu überzeugen. Gelungenes Argumentieren führt also die gemachte Behauptung zurück auf gemeinsame, vielleicht sogar universale Überzeugungen (vgl. Aristoteles’ „Enthymem“, s. Ottmers 2007: 74ff.). Daraus entsteht der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995 [1984]: 161). Gute Gründe haben für uns eine seltsame Affinität, die gegebenenfalls auch asymmetrische Machtverhältnisse transzendieren kann. Der Stärkere kann sich auf ein Argument einlassen und zum Beispiel auf die gewaltsame Durchsetzung seines Willens verzichten. Dies ist eine besondere zivilisatorische Leistung, die nicht leichtfertig durch postmoderne Vernunftkritik und vorschnelle Relativierung aufs Spiel gesetzt werden sollte. Soll unsere Gesellschaft als emanzipiert, demokratisch und liberal gelten können – so eine zentrale Aussage der Habermas’schen Philosophie – ist sie auf die Verbindlichkeit und Überzeugungskraft von Argumenten und Gründen angewiesen. Auch Searle (2001) zeigt, wie schwer es ist, auf die Idee der Rationalität, die für das Argumentieren überhaupt grundlegend ist, zu verzichten. Er gibt das Beispiel, dass er gefragt wird, welches Argument er überhaupt für die Rationalität anführen könne und erwidert sogleich, dass schon diese Frage selbst Rationalität voraussetzt. Auch Robert Brandom (2001) zeigt, dass selbst angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und Weltbilder die Rationalität und damit unsere Fähigkeit zum Argumentieren für das Funktionieren der Gesellschaft grundlegend sind. Denn nur dann, wenn die Mitglieder sich verbindlich auf bestimmte Aussagen (und vor allem auf die Konsequenzen von Aussagen) festlegen lassen, kann die Bindungskraft entstehen, die zum Beispiel für das Einhalten von Gesetzen und die Aufrechterhaltung von Alltagsroutinen notwendig ist. Ohne sprachliche Rationalität gibt es kein (An-)Erkennen der Konsequenzen, die aus bestimmten Aussagen entstehen, und damit keine soziale und normative Verbindlichkeit. Damit ist die Praxis des Argumentierens nicht als exotische Sonderform des gesellschaftlichen 265

TILO FELGENHAUER

Austauschs aufzufassen, sondern als eine konstitutive Ebene der sozialen und, wie nun zu zeigen sein wird, räumlichen Wirklichkeit. Geographisches Argumentieren ist keine spezifische Argumentationsart oder -form. Geographische Forschungsfragen können aber spezifische Aspekte in die Analyse von Argumentationen einbringen, die eine allgemeine, z. B. rein logische, Analyse der Argumentation außer Acht lassen würde. Die Themenfeld- und Wissensabhängigkeit ist im Analyseschema von Stephen Toulmin besonders gut sichtbar.

D i e M e t h o d i k d e r Ar g u m e n t a t i o n s a n a l ys e Ausgangspunkt von Toulmins Überlegungen ist die Beobachtung, dass die Menschen nicht zwingend logisch argumentieren. Eine rein logische Analyse würde also die soziale Wirklichkeit zu einem großen Teil ausblenden oder nur als mangelhaft und unzulänglich erscheinen lassen. Seine Idee ist stattdessen die Untersuchung des tatsächlichen „Gebrauchs von Argumenten“4. Ihn interessieren nicht die Perfektion und Vollständigkeit des Arguments, sondern das reale, für die Akteure relevante Thema und dessen argumentative Darstellung. Er geht sogar so weit, analytische Argumente (die logisch zwingenden, aber praktisch irrelevanten) von den substanziellen „echten“ Argumenten zu unterscheiden (Toulmin 1996 [1958]: 111ff.). Es geht ihm nicht um eine logische Bewertung, sondern um ein Verstehen des realen Behauptens und Begründens. Die beiden letztgenannten Begriffe sind auch die ersten beiden Bestandteile, die Toulmin an einem Argument identifiziert (s. Abbildung 9, vgl. Kopperschmidt 2000: 109ff.): Eine Behauptung (Claim, oder auch Conclusion genannt) wird durch einen Fakt (Data) gestützt. Ganz gleich, welches Thema verhandelt wird, diese beiden Komponenten machen das Argument aus. Das Interessante und Komplexe am Argument ist aber nicht deren simples Vorhandensein, sondern der gedankliche Übergang vom Grund zur Behauptung, vom Data zum Claim. Diese abstrakte gedankliche Bewegung wird systematisch mithilfe des Argumentationsschemas zugänglich.

T o u l m i n s Ar g u m e n t a t i o n s s c h e m a Die Begriffe Claim (Behauptung) und Data (stützender Fakt, Begründung) bilden die Ausgangspunkte seines Schemas (s. Abbildung 9), werden aber um wichtige Elemente ergänzt. Um nach den Bedingungen des Übergangs vom Data zum Claim zu fragen, bildet er eine dritte Ein4

Der Titel seiner Arbeit lautet: „The Uses of Arguments“ (i. O. 1958).

266

RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

heit, den so genannten Warrant, in der deutschen Übersetzung als Schlussregel bezeichnet. Diese gibt an, welche (meist nicht ausgesprochene) Aussage den Übergang vom Data zum Claim rechtfertigen würde. Die Schlussregel wiederum stützt sich auf Hintergrundwissen, ohne das sie nicht formulierbar wäre. Dies wird in der Kategorie „Backing“ (auch: Stützung) eingetragen. Es stellt die unausgeprochenen Voraussetzungen für die Schlussregel und damit für das gesamte Argument dar. Abbildung 9: Das Argumentationsschema5 Data

Claim/Conclusion

(begründender Fakt)

(Behauptung)

Warrant (Schlussregel)

Backing (Hintergrund)

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90, verändert) Zu betonen ist dabei, dass Schlussregel und Backing nicht als Bewertungen des Arguments durch den Interpreten zu verstehen sind, sondern die unausgesprochenen Elemente des Arguments wiedergeben sollen: Was müsste gelten, damit der Übergang vom Data zum Claim verständlich wird. Damit soll nicht die Plausibilität des Arguments beurteilt, sondern seine Funktion und Anatomie erläutert werden. Dazu zunächst ein einfaches hypothetisches Beispiel, das aber bereits eine Anwendung auf raumbezogenes Schließen und Schlussfolgern beinhaltet.

5

Toulmin gibt außerdem noch „modale Operatoren“ (O) an, die die Strenge der Schlussregel angeben (z. B.: D, deshalb wahrscheinlich C) oder Ausnahmebedingungen (AB) angeben (z. B.: D, deshalb C, es sei denn…) (s. Toulmin 1996 [1958]: 92f.). 267

TILO FELGENHAUER

Beispiel 1: Raumargument und Herkunft Abbildung 10: Lena kommt aus Deutschland, deshalb ist sie Europäer_in. Data: Lena kommt aus Deutschland…

Claim/Conclusion: …deshalb ist sie Europäer_in.

Schlussregel/Warrant: Deutschland ist ein Teil Europas. Alle Deutschen sind deshalb auch Europäer.

Backing: Europa setzt sich aus Teilräumen, z. B. Nationalstaaten, zusammen. Diese „enthalten“ Nationalitäten oder Ethnien, die räumlich voneinander separiert sind.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90) Die Schlussregel gibt die deduktive Schlussfolgerung an, die mit allgemeingültigen Sätzen auch die spezifische Aussage über Lena stützt. Hier werden die Zwischenschritte des Schlussfolgerns explizit gemacht. Im Backing ist dann das Hintergrundwissen benannt, das die Voraussetzung für die Schlussregel bildet. In diesem Fall geht es hier um das grundsätzliche Verständnis und die alltägliche Praxis, gesellschaftliche Differenzierungen (Individuen, Ethnien, Nationen) an territoriale Gliederungen (Deutschland, Europa) zu koppeln. Dieses Wissen wiederum repräsentiert natürlich keine „Naturtatsachen“, sondern ist kulturell und diskursiv erzeugt. Genau dadurch macht die Schlussregel das „gängige Normalverständnis“ oder eine hegemoniale implizite Lesart sichtbar. Und zwar nicht nur die des Argumentierenden, sondern ebenso die des Interpreten.

Beispiel 2: Regionaler Konsum Während das vorangegangene Beispiel (s. Abbildung 10) vor allem zur Illustration der Analysekategorien dient, soll nun gezeigt werden, wie die Argumentationsanalyse alltags- und handlungsorientiert eingesetzt werden kann, indem sie bspw. als Auswertungsmethode für qualitative Interviews benutzt wird. Dies erfordert nicht zwingend eine Fokussierung der Interviewform auf argumentative Sprechakte, gezielte Begrün268

RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

dungsaufforderungen durch den Interviewer können diese aber auslösen, um raumbezogenes Hintergrundwissen oder bestimmte Deutungsmuster zugänglich zu machen6. Am Beispiel regionalen Konsums soll die Argumentationsanalyse wiederum als Zugang zur alltäglichen „Raumlogik“ benutzt werden. Das Beispiel stammt aus einem qualitativen Konsumenten-Interview, das am Verkaufsort geführt wurde. Die Befragte rechtfertigt ihre Präferenz für regionale, in diesem Fall Thüringer Lebensmittel: „Ich kaufe unbedingt die Thüringer Leberwurst, weil ich hier aufgewachsen bin. Also das will ich unbedingt auch von hier haben, wegen des Geschmacks. Ist das woanders her, ist das ganz anders im Geschmack“ (Interviewauszug, vgl. Felgenhauer 2007: 47) Zunächst zeigt sich die höhere Komplexität realer Argumentationen im Vergleich zum ersten hypothetischen Beispiel. Man spricht von einer so genannten Multiplen Argumentation (van Eemeren, Grootendorst und Snoeck Henkemans 2002: 69), weil zwei verschiedene Begründungen zur Stützung derselben Behauptung angegeben werden. Deshalb erfolgt die Analyse in Form von zwei Teilargumenten, die ein je eigenes Schema erfordern. Das erste Teilargument begründet die Produktwahl mit einem individuellen biographischen Hintergrund. Abbildung 11: Teilargument 1: raumgebundene Sozialisation und Konsumtion/Produktion Data: ...weil ich hier aufgewachsen bin.

Claim/Conclusion: Ich kaufe Thüringer Leberwurst…

Schlussregel: Man kauft die Dinge, die dort produziert werden, wo man aufgewachsen ist. [in diesem Falle Thüringen]

Backing: Der Ort der Sozialisation bestimmt die Produktwahl des Konsumenten. Produktions-, Sozialisations- und Konsumtionsgeographie sollten übereinstimmen. Sozialisation und Konsumtion sind ortsgebundene Praktiken (Gewohnheit? Eingeübtes Verhalten?) oder sollten es sein.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90) 6

Ulrich 1999 unterscheidet in seiner Form des „diskursiven Interviews“ zwischen Erzähl- und Begründungsaufforderungen. So kann zu Beginn in einem narrativen Teil eine freie Erzählung erfolgen, die anschließend durch Nachfragen und Begründungsaufforderungen durch den Interviewer ergänzt und fokussiert wird. 269

TILO FELGENHAUER

Ein Grundprinzip bei der Produktwahl besteht offenkundig darin, die eigene Herkunft, die sich biographisch ausprägt, und die Herkunft der konsumierten Produkte in Übereinstimmung bringen zu wollen. „Herkunft“ wird dabei räumlich/geographisch gedacht und mit „Bodenständigkeit“ und Kontinuität als Idealvorstellung verknüpft. In der Deutung der Interviewten ist die Welt sprichwörtlich „in Ordnung“, wenn die Geographien des eigenen Lebenslaufs, der Produktion und der Konsumtion von Lebensmitteln übereinstimmen. Das zweite Teilargument ergänzt dies. Abbildung 12: Teilargument 2: Der Herstellungsort prägt die Produkteigenschaften

Data: ...wegen des Geschmacks.

Claim/Conclusion: Also das will ich unbedingt von hier haben…

Schlussregel: „Ist das woanders her, ist das ganz anders im Geschmack.“ [Ist es von hier, hat es den gewünschten Geschmack.]

Backing: Produkteigenschaften sind abhängig vom Herstellungsort. Der geographische Ort prägt die Produkteigenschaften.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90) Während das erste Teilargument ausdrückt, dass die eigene Lebenswelt und die Muster der Produktbewertung raum- und ortsgebunden sind bzw. sein sollten, stützt das zweite Argument die Annahme, dass der Ort auch die Produkteigenschaften determiniert. Das erste Teilargument postuliert die Prägung der Menschen durch den Ort im Sinne der Ausprägung bestimmter Präferenzen bei der Produktwahl. Das zweite Teilargument postuliert die Prägung des Produktes durch den Ort, das dann „logischerweise“ diesen Präferenzen am besten entspricht. So schematisiert, gibt die Argumentation insgesamt Aufschluss über die unausgesprochenen deskriptiven oder normativen Annahmen, die die Interviewte über die Geographie der Produktion und Konsumtion macht. Solche und ähnliche „Raumlogiken“ sind im alltäglichen, lebensweltlichen Kontext ebenso am Werk wie in der Weltpolitik, wie das folgende Beispiel zeigt. 270

RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

Beispiel 3: Geopolitik Abbildung 13: Wem gehört der Nordpol?

Data: Russlands geologische Platte reicht bis zum Nordpol

Schlussregel: Plattentektonik entscheidet über Zugehörigkeit.

Claim: Russland hat keinen Anspruch auf den Nordpol. Claim: Russland hat einen Anspruch auf den Nordpol.

Data: Grönland und Kanada reichen territorial näher an den Nordpol h

Schlussregel: Räumliche Nähe rechtfertigt administrativen Anspruch.

Quelle: eigene Darstellung nach Toulmin (1996 [1958]: 90) Im Streit um die am Nordpol vermuteten Ressourcen haben die „Anrainer“ (Russland, USA, Kanada, Norwegen, Dänemark) in ihrem auch innerhalb der UN-Gremien geführten Disput geographisch interessante Argumente vorgebracht. Anlass war zunächst eine symbolische Demonstration der Russen, die auf dem Meeresgrund am Nordpol eine russische Flagge hissten und damit ihren Anspruch auf diesen Teil des Meeresgrundes medienwirksam ausdrückten. Außer dieser „performativen“ Geste wurde aber auch argumentiert, dass der Nordpol auf einer gemeinsamen geologischen Platte mit Russland liege und aus dieser natürlichen Verbindung auch ein Rechtsanspruch abzuleiten sei. Dieses Argument ist im Schema (Abbildung 13) links dargestellt. Daraufhin erwiderten die anderen Parteien, dass ihre Küstenlinie näher an den Nordpol heranreiche als diejenige Russlands bzw. dass die Ausweisung einer Zone von 200 Seemeilen vor der jeweiligen Küste als Grundregel für die Stützung der Ansprüche anzuwenden sei (s. rechten Teil des Schemas). So durchsichtig diese Argumentationen angesichts der machtpolitischen Konstellation auch sein mögen – wollen die Akteure die von allen anerkannten UN-Gremien zur Durchsetzung ihrer Ansprüche nutzen, müssen sie sich dem „Argumentationszwang“ unterwerfen. Der 271

TILO FELGENHAUER

Diskurs verlangt von den Parteien die Darstellung der eigenen Position in Form eines Arguments: Im Fall Russlands basiert dieses auf der Anrufung einer externen Autorität, der wissenschaftlichen Geologie, im Fall Grönlands und Kanadas wird eine allgemein akzeptierte Distanzlogik bemüht, die besagt, dass räumliche Nähe immer auch eine Intensität der Beziehung impliziert. Die nahe Küstenlinie stützt, folgt man jedenfalls dem Argument, den politischen Anspruch auf den Nordpol. Aus Sicht der so Argumentierenden sollte sich die politische Praxis von „natürlichen Verhältnissen“ leiten lassen. Nun könnte man diese Argumente sicherlich entkräften oder zumindest ins Wanken bringen, indem man wiederum die Schlussregeln hinterfragt und nach Gründen für deren Gültigkeit und Relevanz sucht. Man sollte die Wirksamkeit und Verbreitung der hier zutage tretenden „Raumlogiken“ aber nicht unterschätzen und stattdessen das Gedankenexperiment wagen, wie man als kritischer kulturgeographischer Analyst auf die Frage antworten würde, warum z. B. Kamerun oder Österreich keine Möglichkeit erhalten, an den Rohstoffen des Nordpols zu partizipieren. Dann sieht man sich womöglich selbst aus diskurskritischer Sicht versucht, eine distanzlogische Argumentation zu führen. So durchschaubar die hier untersuchten Argumente auch sein mögen – die ihnen zugrunde liegenden Vorannahmen und Schlüsse, auch im Sinne des Aus-Schließens, sind vielerorts, auch und gerade in der geographischen Wissenschaft, zu finden.

Diskussion der Ergebnisse Auffällig ist in den Beispielen, dass Raumbezüge vor allem in den impliziten Teilen des Arguments (Schlussregel, Backing) zu finden sind. Diese scheinen für die sprachliche Raumkonstitution, d. h. für die Bedeutungs- und Sinnerzeugung des sprachlichen Raumbezuges, entscheidend zu sein. Ausdrückliche Benennungen mithilfe so genannter Toponyme wie z. B. „Thüringen“ sind zwar vorhanden, müssen aber, um als solche erkannt und als „Raumbezeichnungen“ verstanden werden zu können, an ein komplexes geographisches Weltwissen als eine Art „Basisvokabular“ anschließen können. Dieses besteht zum Beispiel aus kognitiven Metaphern (Lakoff und Johnson 2003 [1980]; Schlottmann 2005), die in die Schlussregel und das Backing eingelassen sind. Zum einen ist die so genannte ContainerMetapher (oder auch Container-Konzept) ein besonders wichtiges Prinzip der Raumkonstruktion, weil es zweidimensionale Ausschnitte der Erdoberfläche zu dreidimensionalen „Behältern“ macht, die dann als Nationalstaaten oder Regionen gedacht werden (s. Beispiel 1, Abbildung 272

RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

10). Die Sprechweise „in Deutschland“ oder „aus Deutschland“ bringt genau dieses Konzept zum Ausdruck, das alle möglichen Natur- und Kulturphänomene zum Inhalt eines räumlich begrenzten Containers macht – vom Bürger mit einer bestimmten Nationalität bis hin zur Wurst aus Thüringen. Anthropomorphisierungen sind ein weiteres, häufig anzutreffendes Element impliziter sprachlicher Geographien. Hier wird die Region oder Nation als Wesen vorgestellt, dem dann auch Bewusstsein und Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden kann. Im Fall internationaler Konflikte (vgl. Beispiel 3, Abbildung 13) geschieht dies typischerweise dadurch, dass Nationalstaaten wie selbstverständlich als die Akteure in politischen Auseinandersetzungen erscheinen. Im weiteren Sinne zählen auch Zentrum-Peripherie-Figuren zu solchen grundlegenden Konzepten, die auch in der phänomenologischen Lebensweltphilosophie und der Humanistic Geography eine zentrale Rolle spielen. Die Welt, so der Kerngedanke des Lebensweltkonzepts von Edmund Husserl (vgl. Schütz und Luckmann 2003 [1973]: 71), wird unserer Sinneswahrnehmung entsprechend in ein inner- und außerkörperliches Erleben eingeteilt – unser Bewusstsein ist von der Außenwelt abgeteilt. Unser Körper erscheint dabei als Koordinatenursprung, um den herum sich die Welt in konzentrische Kreise gliedert. Phänomenologisch gesehen, ist jeder „sein“ eigener Mittelpunkt der Welt. Das sprachliche Zeigen (Deixis), das wie in Beispiel 2 („von hier“) immer in Abhängigkeit vom Sprecherstandort interpretiert wird, drückt genau diese Körper- und Subjektzentrierung der Sprache aus (dazu Genaueres im Beitrag von Mattissek, Kap. 13): „Hier“ versus „Woanders“ – nah versus fern, vertraut versus fremd etc. Diese und andere Grundmuster der sprachlich-kognitiven Welteinteilung sind für die Artikulation von raumbezogenen Argumenten grundlegend und deshalb bildet die Argumentationsanalyse umgekehrt auch die Möglichkeit zu deren Freilegung. In Relation zur Diskurstheorie stellt sich die Frage, ob die Schlussregeln alltäglicher Argumentationen mit hegemonialen Lesarten gleichzusetzen sind. In dem Sinne, wie sie auf geteiltes Wissen von Sprecher und Adressaten verweisen, spiegeln sie natürlich auch Machtverhältnisse, die das Spektrum möglicher Schlussregeln praktisch (und nicht nur logisch) begrenzen. Plausibilität und Überzeugungskraft eines Arguments sind aber nicht durch Machtkonstellationen determiniert. Wenn es um reine Hegemoniezementierung ginge, wäre das Argumentieren eine viel zu anstrengende, reflektionsbehaftete, offene und deshalb ungeeignete Praxis.

273

TILO FELGENHAUER

Diskussion der Methode Die Argumentationsanalyse ist vor allem auf einzelne Diskursausschnitte anzuwenden, und damit kann sie ergänzend zur qualitativen Inhaltsanalyse oder auch zu anderen „Makro-Verfahren“ zum Einsatz kommen. Wie die Schematisierungen zeigen, ist sie außerdem in ihrer Vorgehensweise eine Art stillstellende Methode – das Prozessuale und Dynamische wird mithilfe der Schematisierung gewissermaßen eingefroren, damit aber auch der Besichtigung und Analyse überhaupt erst zugänglich gemacht. Aus dem auch zeitlich formierten Text- oder Redefluss werden einzelne Elemente herausgegriffen, die den Sprechakten des Behauptens und Begründens entsprechen. Natürlich müssen diese, um dem Kriterium einer validen qualitativen Analyse zu entsprechen, auch real im Textzusammenhang stehen. Es geht aber nicht um umfassende Materialstrukturierung, sondern um die Explikation einzelner Passagen, die einen argumentativen Charakter tragen. Die Argumentationsanalyse könnte so im Teilschritt der Explikation auch in eine qualitative Inhaltsanalyse integriert werden (vgl. Mayring 1999: 91ff.). Die Interpretation der Textpassage erfolgt dann aber nicht unter Zuhilfenahme textexterner Wissens- und Datenbestände, sondern textintern, indem nach dem impliziten Gehalt in Form von Schlussregeln und Geltungsbedingungen gefragt wird. Weiterhin ist die Bereichsabhängigkeit der Argumentation und Argumentationsanalyse zu beachten (vgl. Toulmin 1996 [1958]: 222). Aus grundsätzlich unendlich vielen logischen Geltungsbedingungen werden im Fall einer kulturgeographischen Fragestellung lediglich die raumbezogenen herausgefiltert. Wollte man hier logische Vollständigkeit erreichen, müsste man bspw. in Beispiel 3 ontologische Setzungen wie „Der Nordpol existiert“ mit aufführen, was allerdings wenig zielführend im Hinblick auf die Beantwortung einer konkreten diskursanalytischen Forschungsfrage erscheint. Um diese Fokussierung herzustellen, sollte bereits die thematische, geographische Relevanz der zentralen Behauptung bzw. der expliziten Begründung vor der genauen Analyse abgeschätzt werden. Dazu kann die Identifizierung von Toponymen (z. B. mithilfe von lexikometrischen Verfahren, s. Kap. 11) oder von Sprachelementen räumlicher Deixis ein Vorbereitungsschritt sein. Bezogen auf den Modus und die erwartbaren Ergebnisse raumbezogener Argumentationen ist zu sagen, dass diese keine spezifische äußere Form aufweisen – sie benötigen keine eigene Form der Schematisierung. Wohl aber zeichnen sich die Schlussregeln in ihrem Gehalt durch einen spezifischen Raumbezug aus.

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RAUMBEZOGENES ARGUMENTIEREN

Insgesamt ist die Argumentationstheorie als Teilgebiet der Sprachpragmatik zu verstehen, d. h. das Geben und Verlangen von Gründen sind Handlungen, die sprecher- und situationsgebunden erfolgen. Tendenziell weicht dieses Verständnis sowohl von der traditionellen Logik als auch von einigen Linien der Diskurstheorie ab, weil das strukturalistische Moment und die übergeordnete Formation zugunsten der „MikroPraxis“ der einzelnen Argumentation zurückgestellt werden. Da jede Argumentation primär als monologisches Handeln (Lumer 1990: 6) mit einem autonomen Gültigkeitsanspruch zu verstehen ist, ist diese prinzipiell auch kontextfrei analysierbar. Für die Schematisierung muss das einzelne Argument zunächst isoliert werden, um seine „Binnenlogik“ erfassen zu können. Anschließend ist eine Verknüpfung oder auch Kontrastierung unterschiedlicher Argumente möglich und eine Rahmung im Sinne einer Makroanalyse anschlussfähig. Sprachwissenschaftlich (Textlinguistik) ist die Argumentationstheorie und -analyse vor allem mit den Konzepten der Kohärenz und der thematischen Verknüpfung von Aussagen („thematische“ oder „anaphorische Wiederaufnahme“, Brinker 2005) kompatibel, weil es auch hier (wie beim Argumentieren, aber in einem allgemeineren Sinne) um die rationale Fähigkeit geht, Aussagen aufeinander beziehen zu können, Widersprüche zu erkennen oder implizite Schlussfolgerungen zu ziehen (Brinker 2005; mit geographischem Bezug: Felgenhauer 2007). Dieses Vermögen, mit dessen Hilfe wir bspw. Schlussregeln und deren Konsequenzen im Alltag identifizieren und unausgesprochen akzeptieren, wird von Robert Brandom mit dem Begriff der Inferenz beschrieben (Brandom 2001: 9). Wir können Aussagen im Alltag nicht beliebig und frei deuten, weil das Vorbringen und Akzeptieren von Behauptungen in erstaunlich hohem Maße an soziale Bindungen (Erwartungen, Normen, Sanktionierungen etc.) gekoppelt ist. Diese werden mithilfe unserer rationalen Fähigkeiten, wie sie sich im Argumentieren (aber nicht nur dort) zeigen, in die Alltagssprache eingeflochten. So wird das Verstehen einer Aussage zwar zur Interpretations-, aber nicht zur Privatsache. Unsere Freiheit der Artikulation wird demnach nicht nur vom jeweiligen Diskurs und dessen „Sagbarkeiten“, sondern auch von unserer sprachlichen Vernunft ermöglicht und gleichzeitig begrenzt. Diese Erweiterung vom Argument zur Inferenz kann in ihrer empirischen Anwendung z. B. dann von Nutzen sein, wenn man nichtargumentative, aber gleichwohl kohärente Texte oder visuelles Material analysieren will. Bilder können nicht eigentlich argumentieren, wohl aber können sie uns als Interpreten zu bestimmten Inferenzen und Schlussfolgerungen veranlassen. D. h. in der Text-Bild-Interpretation, ob alltäglich oder wissenschaftlich, werden die gleichen Fähigkeiten ak275

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tiviert, die auch beim Argumentieren am Werk sind – natürlich durch ästhetische, emotionale und andere Interpretationsdimensionen erweitert.

Einordnung in das humangeographische und d i s k u r s a n a l yt i s c h e M e t h o d e n s p e k t r u m Die Argumentationsanalyse bildet ein Mikro-Verfahren, das im Rahmen einer umfassenderen Diskursanalyse auf der Satzebene operiert und grundsätzlich qualitativ angelegt ist. Je nach Charakter der jeweiligen Untersuchung kann die Argumentationsanalyse im Sinne einer reinen hermeneutischen Rekonstruktion (Welche Prämissen und Behauptungen werden real postuliert und akzeptiert?) oder auch als kritisch-rationale Dekonstruktion (Welche Prämissen beinhalten diskursive Schließungen, hegemoniale oder manipulative Deutungen?) angewendet werden. Die Methode ist in ihrer diskursanalytischen und insbesondere sozialgeographischen Anwendung nicht als Rhetorikschule zu verstehen, die hauptsächlich die logische Konsistenz, ethische Qualität oder gar affektive Wirkung einer Argumentation beurteilen helfen soll. Es handelt sich auch nicht primär um eine „entlarvende“ Aufklärungstechnik, obwohl natürlich das ideologiekritische Potenzial der Methode auf der Hand liegt – etwa im Sinne der Extraktion hegemonialer Lesarten. Sie ist aber vor allem ein Weg, das in Alltagsargumentationen „eingebaute“ geographische Vorwissen zu extrahieren und damit die Prämissen und impliziten Gehalte raumbezogener Kommunikation sichtbar zu machen. Ihr diskursanalytisches Potenzial könnte dann in einem nächsten Schritt die Offenlegung der Geltungsbedingungen von raumbezogenen Argumenten auch im Alltag für die Akteure selbst, z. B. im Bereich der KonfliktMediation, erleichtern. Die Möglichkeit, die Argumentationsanalyse relativ reibungslos in umfassendere Diskursanalysen zu integrieren (s. z. B. Wodak, de Cillia, Reisigl, Liebhart, Hofstätter und Kargl 1998; Reisigl und Wodak 2001), sollte die gänzlich unterschiedlichen theoretischen Hintergründe jedoch nicht verdecken. Während die Argumentationsanalyse aus der Sprachpragmatik kommt, die einen mehr oder weniger starken Handlungs- und Rationalitätsbegriff beinhaltet, kritisiert insbesondere die poststrukturalistische Diskurstheorie Begriffe wie Handlungsrationalität, Vernunft und Subjekt. Beide Theorie-„Schulen“ geben eine je eigene Antwort auf die Herausforderung, wie Raum als kontingentes Phänomen zu fassen sei. In einer groben Verallgemeinerung könnte man sagen, die Pragmatik favorisiert eine rationalistische, die diskurstheoretische eine strukturalistische Erklärung der sozialen Fixierung des Räumlichen. Bei der Anwendung der Argumentationsanalyse ist also jeweils auf die Kompa276

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tibilität von Makro- und Mikroebene zu schauen, so dass sich Argumentations- und Diskursanalyse ergänzen und nicht widersprechen.

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Reisigl, Martin/Wodak, Ruth (2001): Discourse and discrimination. Rhetorics of racism and antisemitism, London/New York: Routledge. Salmon, Wesley C. (1983): Logik, Stuttgart: Reclam. Schlottmann, Antje (2005): RaumSprache. Ost-West-Differenzen in der Berichterstattung zur deutschen Einheit, Stuttgart/München: Franz Steiner Verlag. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (2003 [1973]): Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UTB. Searle, John R. (2001): Rationality in action, Cambridge (Mass.)/ London: MIT Press. Toulmin, Stephen Edelston (1996 [1958]): Der Gebrauch von Argumenten, Weinheim: Beltz. Ulrich, Carsten (1999): Deutungsmusteranalyse und diskursives Interview. Zeitschrift für Soziologie 28 (6), S. 429–447. Wodak, Ruth/de Cillia, Rudolf/Reisigl, Martin/Liebhart, Karin/Hofstätter, Klaus/Kargl, Maria (Hg.) (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft).

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13 Die Aussagenanal yse als Mikromethode de r Dis k ursforsc hung ANNIKA MATTISSEK Eine zentrale Aussage strukturalistischer und poststrukturalistischer Ansätze im Allgemeinen und der Diskurstheorie im Besonderen ist die konstitutive Rolle der Sprache für die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen (s. Kap. 1). Folglich liegt der Schluss nahe, die Regeln der Bedeutungsproduktion einer Gesellschaft über deren Verfasstheit in sprachlichen Formen zu erschließen. Mit den Ausführungen zu lexikometrischen Verfahren wurde in Kapitel 11 ein Zugang vorgestellt, der versucht, situationenübergreifende Muster des Sprachgebrauchs zu erfassen und die für diesen Sprachgebrauch grundlegenden Regeln und Verknüpfungen herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen lässt allerdings die Frage offen, wie in empirischen Analysen auch die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten analysiert werden können, die sich aus der kontextspezifischen Aneignung sprachlicher Formen ergeben. Denn ähnlich wie die qualitative Sozialforschung widersprechen auch viele theoretische Konzepte des Poststrukturalismus der Idee, dass (sprachliche) Bedeutungen eindeutig seien, und insistieren vielmehr darauf, dass Sinnproduktion nur für bestimmte Situationen bzw. soziale Kontexte erfasst werden kann. Im Folgenden soll daher mit der Aussagenanalyse in der Tradition der französischen Schule der Diskursanalyse ein methodologischer und methodischer Zugang vorgestellt werden, der diesen Anspruch – Vieldeutigkeit, Kontextbezug und Heterogenität der Sinnproduktion zu erfassen – einzulösen sucht. Im Zentrum des Vorgehens steht dabei der Versuch, die Regeln offen zu legen, anhand derer Verbindungen zwischen sprachlichen Äußerungen und ihrem nicht-sprachlichen Kontext hergestellt werden. 279

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G r u n d l a g e n d e r Au s s a g e n a n a l ys e Weitgehend unbeachtet von der angloamerikanischen und deutschsprachigen Diskussion hat in den letzten vierzig Jahren in Frankreich eine breite Auseinandersetzung mit Fragen der Operationalisierung von Diskurstheorien stattgefunden, aus der sowohl Methoden der Makroanalyse, d. h. der Auswertung und wissenschaftlichen Beschreibung großer Textkorpora (vgl. Kap. 11), als auch der Mikroanalyse, d. h. der Analyse einzelner Aussagen, hervorgegangen sind (vgl. Williams 1999; Angermüller 2007). Dass diese Ansätze außerhalb Frankreichs bislang nur sehr vereinzelt rezipiert wurden, erklärt sich zum einen aus Problemen der Übersetzung, zum anderen aus der im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum dominanten Verortung diskurstheoretischer Perspektiven in den Sozialwissenschaften (statt wie in Frankreich in den Sprachwissenschaften). Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Potenziale dieser Verfahren für diskursanalytisches Arbeiten auszuloten. Für die Ansätze der Aussagenanalyse lassen sich drei zentrale Prämissen festhalten: Materialität der Form, Überdeterminierung der Sinnproduktion und Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution. Diese drei grundlegenden Konzepte werden im Folgenden kurz ausgeführt. Verfahren der Aussagenanalyse nehmen die Materialität der Form zu ihrem Ausgangspunkt, d. h. sie gehen nicht davon aus, dass die Bedeutung von Texten durch einen dahinterliegenden „Sinn“ bestimmt wird, sondern postulieren, dass Sinn einen instabilen, diskursiven Effekt darstellt, der im Zusammenspiel sprachlicher (materialer) Formen und dem jeweiligen interpretativen Kontext immer wieder aufs Neue hervorgebracht wird. „Die Zeichen und Praktiken des Diskurses erweisen sich insofern als ‚material‘, als sie keinen stabilen inhärenten Sinn aufweisen. Sinn ist ein Effekt, der im Zusammenspiel der materialen Elemente des Diskurses mit dem Kontext im interpretativen Prozess entsteht“ (Angermüller 2007: 104). Ein zentrales Charakteristikum dieser Sinnproduktion ist es, dass diese nicht eindeutig ist, dass also die Bedeutung einer Aussage nicht absolut und objektiv bestimmt werden kann, sondern durch Überdeterminierung gekennzeichnet ist. Mit Überdeterminierung ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Aussagen unterschiedlich interpretiert werden können und eine unterschiedliche Funktion und Bedeutung haben, je nachdem in welchem Kontext sie geäußert werden. So können etwa durch den Satz „wir Europäer zeichnen uns durch eine gemeinsame Wertebasis aus, die es zu bewahren gilt“ recht unterschiedliche politi-

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DIE AUSSAGENANALYSE ALS MIKROMETHODE DER DISKURSFORSCHUNG

sche Gemeinschaften konstituiert werden, abhängig davon, wer diesen Satz in welchem Kontext wie äußert. Die Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution schließlich postuliert, dass die Frage, welche Bedeutung eine Aussage hat, zwar nicht kontextunabhängig bestimmt werden kann, dass sie aber trotzdem bestimmten Regeln folgt, die ebenfalls in der Sprache angelegt sind. Ziel ist es folglich, die allgemeinen Schemata der Äußerung, die oft unbewusst und unreflektiert ablaufenden Prozesse der inhaltlichen Verknüpfungen einzelner Begriffe und die Regeln, nach denen diese mit ihrem diskursiven Kontext in Verbindung gesetzt werden, offen zu legen.

V e r f a h r e n d e r Au s s a g e n a n a l ys e Um die Regeln der Bedeutungskonstitution, die aus der Verbindung von Text und Kontext entstehen, zu bestimmen, wendet sich die Aussagenanalyse denjenigen sprachlichen Ausdrucksformen zu, die über die einzelne Aussage hinausweisen und sie reflektieren, indem sie diese etwa mit einer Person, einer Zeit und einem Ort in Bezug setzen, wie die deiktischen Partikel, oder indem sie wie Verneinungen auf alternative Sichtweisen verweisen, die für die Interpretation der Aussage notwendig vorausgesetzt werden müssen. Der Ansatz macht somit die sprachlichen Formen, durch die die Deutung von Texten durch den Leser angeleitet wird, explizit und trägt damit dazu bei, die Interpretation innerhalb des Forschungsprozesses nach hinten zu verschieben „Wie Texte tatsächlich verstanden werden, kann und will dieser Ansatz nicht bestimmen. Aber Texte können auch nicht beliebig verstanden werden. So geben die Formen, mit denen Texte operieren, den Lesern Instruktionen über die relevanten Ko- und Kontexte. Diese unterspezifizierten Formen organisieren den Diskurs, indem sie ihre Leser auf die Suche nach den Kontexten schicken, in denen sie geäußert werden.“ (Angermüller 2007: 140)

Ziel ist es also nicht, den (eindeutigen) Inhalt eines Textes zu bestimmen, sondern aufzuzeigen, wie sich ein Text über in ihm angelegte Ausdrucksformen mit immer wieder neuen Äußerungskontexten verbindet (vgl. Angermüller 2007: 137). Die logischen Verknüpfungen zu den jeweiligen Äußerungskontexten (also bspw. die Verbindung zwischen „hier“ = „mein Schreibtisch am Geographischen Institut“, „jetzt“ = „ein sonniger Nachmittag im Oktober“ etc.) stellen die einzelnen Sprecher (Enunziatoren) in Kommunikationssituationen individuell her – diese Verknüpfungen sind der Analyse nicht zugänglich. Hinzu kommt, dass in einer Aussage mehr als eine Sichtweise zu einem bestimmten Thema 281

ANNIKA MATTISSEK

vorhanden sein kann und unterschiedliche Diskursstränge mit teilweise widersprüchlichen Argumentationen angesprochen werden können. „Die Analyse hat es grundsätzlich mit Aussagen (nicht mit Sätzen) zu tun, die als von den Parametern der Äußerung eingehüllte Sätze die möglichen (d. h. nicht faktischen) Äußerungskontexte organisieren. Das Individuum kann sich die Aussage nicht vollständig aneignen, da ihr Äußerungsursprung in eine Vielzahl von Stimmen und Sprechperspektiven aufgesplittert ist. Die Aussage, die verhandelbares und unverhandelbares Wissen in Beziehung setzt, enthält Instruktionen mit Blick auf die argumentative Verkettung mit anderen Aussagen.“ (Angermüller 2007: 134f.)

In dem oben stehenden Zitat sind zumindest drei unterschiedliche Formen enunziativer Markierungen angesprochen, die auf unterschiedliche Dimensionen der Analyse der Äußerung verweisen und die weiter unten näher erläutert werden. • So werden zunächst die Parameter angesprochen, die die Verbindung zu möglichen Äußerungskontexten organisieren – insbesondere deiktische Partikel1, die die räumliche und zeitliche Verortung garantieren („hier“, „jetzt“). • Die Instruktionen zu den argumentativen Verkettungen mit anderen Aussagen rekurrieren auf Annahmen und Aussagen, die zum „Verständnis“ einer Aussage getroffen bzw. angenommen werden müssen – Vorkonstrukte, Präsuppositionen, Implikationen. • Der Verweis auf die Vielzahl vorhandener Sprechperspektiven spricht das Konzept der Polyphonie an, das einzelne Aussagen als Gewirr unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Sprechperspektiven versteht. Die genannten drei Dimensionen der Verortung einer Aussage in einem diskursiven Kontext sollen im Folgenden näher erläutert werden. Gemeinsam sind diese Aspekte in der Lage, auf der Mikroebene einzelner Aussagen das Zusammenwirken größerer diskursiver Zusammenhänge zu verdeutlichen. Dabei wird sich zeigen, dass in der Aussagenanalyse vor allem solche Ausdrücke relevant sind, die in inhaltsanalytischen oder lexikometrischen Herangehensweisen meist zu kurz kommen: indexikalische Ausdrücke („ich“, „wir“, „hier“ etc.) und Konnektoren

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Als deiktische Ausdrücke werden solche verstanden, die auf die personellen, temporalen oder lokalen Charakteristika der Sprechsituation verweisen. Über solche Anbindungen an die Sprechsituation verknüpfen die Deiktika Text und Kontext (vgl. das Organon-Modell von Bühler 1965 [1934]).

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DIE AUSSAGENANALYSE ALS MIKROMETHODE DER DISKURSFORSCHUNG

(„aber“, „weil“, „dennoch“ etc.) sowie Modalisatoren und evaluative Termini, durch die in der Aussage Subjektivität hergestellt wird.

Deiktika/Deixis Eine erste Form sprachlicher Ausdrücke, die die Äußerung zu ihrem diskursiven Kontext in Bezug setzen, sind die deiktischen Formen oder Zeigewörter wie z. B. „ich“, „hier“ und „jetzt“. Die deiktischen Wörter reflektieren die Äußerung dadurch, dass sie auf die Person, den Ort und die Zeit der Äußerung verweisen (vgl. die hier-ich-jetzt-Origo von Karl Bühler 1965 [1934]). „The deictics pertain to how a sequence is designated as relating to an object of discourse“ (Williams 1999: 238). Durch diese Verweisfunktion haben deiktische Wörter eine doppelte Bedeutung, die sie von lexikalischen Ausdrücken unterscheidet: „Jedes Zeigewort, so Jakobson [1957, Anm. AM], hat eine eigene allgemeine Bedeutung. So ist ICH der Sender und DU der Empfänger einer an ihn gerichteten Nachricht. Das Signifikat der Zeigewörter unterscheidet sich jedoch von dem gewöhnlicher Nomen. Der Bezug eines Zeigewortes ist nur zu klären, wenn man es im räumlichen und temporalen Kontext der Äußerung untersucht. Zeichen wie fenêtre/Fenster oder tulipe/Tulpe können dagegen exakt definiert werden und ermöglichen eine rein empirische Bestimmung einer Gruppe von Gegenständen, die als ‚Fenster‘ oder ‚Tulpe‘ bezeichnet werden dürfen.“ (Maingueneau 2000: 18)

Die primären Äußerungspartikel („ich“, „hier“, „jetzt“) lassen sich durch eine Reihe weiterer Verweiswörter ergänzen, die sich wiederum in Pronomen der Person, die direkt vom Äußerungskontext abhängen („wir“, „du“, „uns“, „euch“ etc.) und Pronomen der Nicht-Person, die auf eine weitere textuelle Umgebung verweisen („er“, „sie“, „man“ etc.) unterscheiden. Eigennamen, sowohl von Menschen („Michel Foucault“, „Annika Mattissek“) als auch von Orten („Heidelberg“, „Deutschland“), stellen eine dritte, „absolute“ Referenzweise dar, da sie mit ihrem Objekt konventionell verbunden sind (vgl. Angermüller 2007: 120). Über solche deiktische Partikel kann in Texten Subjektivität hergestellt werden, „und zwar insofern als der Gebrauch dieser Partikel es den Sprechern erlaubt, ihren ‚subjektiven Abdruck‘ in der Sprache zu hinterlassen“ (Angermüller 2007: 122). Eine besondere Rolle für die Analyse diskursiv hergestellter raumbezogener Identitäten können die Verknüpfung von Personalpronomen wie „wir“ und „uns“, durch die eine Gemeinschaft konstituiert wird, mit räumlichen Bezügen wie „hier“ und „dort“ einnehmen („wir hier in Europa sind anders als die anderen dort

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in den USA/im Orient/in Asien“). Auf diese Weise kann nachvollzogen werden, welche Bereiche des „Eigenen“ und des „Fremden“ in Texten unterteilt werden und mit welchen Eigenschaften diese Bereiche jeweils verbunden werden. Aber nicht nur personelle, sondern auch temporale und räumliche Verweise werden über Deiktika organisiert: So erfordern auch zeitliche Adverbien wie „gestern“, „damals“, „letztes Jahr“ und „bald“ oder räumliche Verortungen wie „nah“, „fern“, „hinter“, „links“ einen Bezug auf einen gewissen Zeitpunkt oder Standpunkt, um im diskursiven Kontext eine (temporär fixierte) Bedeutung annehmen zu können. Aus Sicht einer diskurstheoretisch informierten Humangeographie können gerade die letztgenannten raumbezogenen Deiktika eine herausgehobene Rolle einnehmen. Denn ihre Analyse macht deutlich, wie auch in alltäglichen, oft unbewusst ablaufenden Kommunikationssituationen, Aufteilungen der Welt in Bereiche des Eigenen und des Fremden, der Nähe und der Ferne konstituiert werden. Dies geschieht, indem räumliche Deiktika diskursiv mit bestimmten „Raumcontainern“ verknüpft werden und somit immer wieder aufs Neue Grenzziehungsprozesse performativ vollzogen werden.

Vorkonstrukt Der Begriff des Vorkonstrukts trägt bei Pêcheux dem Umstand Rechnung, dass eine Äußerung nicht im luftleeren Raum steht, sondern an andere Äußerungen anschließt, die zuvor getroffen wurden (Pêcheux 1983). „Über das Vorkonstrukt ragt ein Außen in den Diskurs hinein, das sich in der Regel als ein Wissen präsentiert, das sich von selbst versteht und keiner weiteren Begründung bedarf“ (Angermüller 2007: 152). In Pêcheux’ Theorie verweisen die Vorkonstrukte insbesondere auf soziale und institutionelle Strukturen, in die eine Äußerung eingebettet ist. Neben den unmittelbar für das „Funktionieren“ von Aussagen notwendigen Voraussetzungen wird dadurch also ein ganzes Set an Wertungen und Positionierungen angesprochen, die den Hintergrund von Aussagen bilden (vgl. auch Kap. 12). So impliziert etwa die Aussage: „Der Ausbau des Frankfurter Flughafens ist wichtig, um im internationalen Wettbewerb der Standorte bestehen zu können“ auf der Ebene des Funktionierens der Aussage zunächst einige Banalitäten, wie etwa dass es einen Frankfurter Flughafen gibt, dass dieser ausgebaut werden kann etc. Darüber hinaus werden aber auch normative Positionen berührt, die ebenfalls zum „Verständnis“ der Aussage notwendig sind, wie etwa dass ein Wettbewerb zwischen Standorten stattfindet, dass dieser für Standorte

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bedrohlich ist und dass sich daraus die Notwendigkeit ergibt, Maßnahmen zur Wettbewerbssteigerung zu ergreifen. Das Auftreten von Vorkonstrukten lässt sich nach Angermüller (2007: 154) insbesondere (aber nicht ausschließlich) an zwei grammatikalischen Formen festmachen: den nicht-notwendigen Relativsätzen („der Wettbewerb, dem die Kommunen ausgesetzt sind, wird immer härter“), sowie Nominalisierungen, die bspw. durch bestimmten Endungen wie „-ismus“ (Kapitalismus, Liberalismus) angezeigt werden. Von diesen unterschiedlichen Formen nimmt in der Literatur die Diskussion von Nominalisierungen den weitaus größten Raum ein (vgl. Williams 1999; Baker 2006). Unter Nominalisierungen versteht man Substantive, die als Kurzform für einen ganzen Satz mit Subjekt und Prädikat stehen und damit einen Transformationsprozess von der Verbform zum Nomen durchlaufen haben. „Nominalization involves a process being converted from a verb or adjective into a noun or a multi-noun compound (e.g. discover  discovery, solve  solution)“ (Baker 2006: 153). Nominalisierungen abstrahieren von dem Umstand, dass die beschriebenen Prozesse oder Zustände das Ergebnis des Handelns von Akteuren sind (vgl. ebd.: 153). In diesem Sinne verweisen sie auf ein diskursives Vorwissen (bzw. Vorkonstrukt), indem Aussagen getroffen werden, für die innerhalb der Aussage keine diskursive Person (kein „ich“, „wir“ oder „die Kölner“) mehr die Verantwortung übernimmt. „Thus, when nominalisation occurs, so also does preconstruction, in the sense that there is no trace of the taking in charge that one has with verbs. Thus the example ‚the development of steel production is important‘ claims that something is important without implying any responsibility for that development. The series of marks of person and modality are absent, leaving the taking in charge and agency within the context of the preconstructed“ (Williams 1999: 223f.). Eine Möglichkeit, die Vorkonstrukte in Nominalisierungen sichtbar zu machen, ist die Paraphrase, die diese wieder in eine Verbform überführt und damit die enunziativen Referenzen wieder „zurück gibt“. „If, in the paraphrase operation, one modifies the enunciation into ‚denominalisant‘, one is led to ‚returning‘ the enonciative references that are necessary in order to make the enonce exist in an autonomous fashion. This makes it possible to explore the different possibilities that are tantamount to an inherent ambiguity of the nominalised enonce. […] This reference to implication carries the double value of substantial implicit, and the reconstructed implicit, and their ambiguity. Thus, resorting to the implicit and the preconstructed allows

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the paraphrase to be a useful methodological means of mixing the linguistic and the discursive.“ (Williams 1999: 223f.)

Mehrstimmigkeit von Aussagen/Polyphonie Bereits die Analyse der Deiktika erlaubte es, der Heterogenität von Bedeutungen einzelner Aussagen insofern gerecht zu werden, als diese mit immer wieder neuen und anderen diskursiven Kontexten in Verbindung gesetzt werden müssen und dadurch immer wieder neuer und anderer „Sinn“ entsteht. Ein weiterer Ansatz, der der Heterogenität von Sinn Rechnung trägt, ist die Analyse der polyphonen Struktur von Aussagen. Im Gegensatz zu den Deiktika sieht diese allerdings Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nicht nur als Ergebnis der Verbindungen zwischen Text und Kontext, sondern bereits in einzelnen Textsegmenten selbst eingeschrieben. Die Analyse der polyphonen Struktur einer Aussage geht auf Oswald Ducrot 1984 zurück. Ducrot zufolge sind in einer Aussage nicht nur eine Stimme (die des Sprechers/der Sprecherin), sondern eine ganze Reihe verschiedener Stimmen präsent, die durch Verbindungswörter wie „nein“, „jedoch“, „aber“, „sondern“, „wahr“, „vielleicht“ etc. auf unterschiedliche Distanz gehalten werden. Solche Konnektoren nehmen daher eine zentrale Stellung ein, da sie „Aussagen in ein argumentatives Verhältnis zueinander setzen“ (Angermüller 2007: 128). Bspw. die Aussage „der Schutz der Bevölkerung vor Lärmbelastung ist wichtig, aber langfristig kommt Frankfurt um einen Ausbau des Flughafens nicht herum“ operiert mit zwei Teilaussagen: • „der Schutz der Bevölkerung vor Lärmbelastung ist wichtig“ und • „langfristig kommt Frankfurt um einen Ausbau des Flughafens nicht herum“. Beide Aussagen werden vom „Verantwortlichen“ der Äußerung, dem Lokutor, auf unterschiedliche Distanz gehalten: beide werden in der Aussage als „wahr“ vorausgesetzt, jedoch erscheint die erste Aussage durch die Einschränkung der Zweiten in einem neuen Licht: Zu a) wird eine größere Distanz deutlich als zu b). In anderen Worten: in der Aussage wird zwar für einen bestimmten Standpunkt (den Ausbau des Flughafens) Stellung bezogen, jedoch nicht ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es zu diesem Sachverhalt auch noch weitere Meinungen gibt, die so dominant sind, dass sie sich als konkurrierende Deutungsangebote quasi in die eigentliche Äußerung „hineinschleichen“. Zur Beschreibung der Vielstimmigkeit von Aussagen unterscheidet Ducrot zwei „diskursive Wesen“ (Angermüller 2007: 129): zum einen 286

DIE AUSSAGENANALYSE ALS MIKROMETHODE DER DISKURSFORSCHUNG

den Lokutor, d. h. die Instanz, welche „für die Aussage verantwortlich zeichnet“ (Ducrot 1984: 193, zit. nach Angermüller 2007: 129), zum anderen Enunziatoren (énonciateurs), die für einzelne Positionierungen stehen und die vom Lokutor auf unterschiedliche Distanzen gehalten werden. Diese diskursiven Wesen, Lokutor und Enunziator, sind nicht zu verwechseln mit „realen Personen“. „Lokutor und Enunziator [sind] diskursive Wesen, die zum Inventar der Aussage gehören und nicht auf ein sprechendes Subjekt, auf ein bestimmtes Individuum draußen in der Welt, zurückgeführt werden können“ (Angermüller 2007: 130). Vielmehr können sich in Äußerungen von ein und derselben Person durchaus eine Vielzahl von Stimmen und Perspektiven überlagern, die sich gegenseitig stützen, widersprechen und infrage stellen. Durch diese Sichtweise auf einzelne Aussagen als Schauplatz unterschiedlicher divergierender Ansichten und Stimmen macht Ducrot deutlich, dass „die Bedeutung“ von Aussagen nicht auf einen homogenen einheitlichen Ursprung zurückzuführen ist (vgl. ebd.: 129). Gerade die Analyse der polyphonen Struktur von Aussagen scheint somit geeignet, um diskursive Situationen zu analysieren, in denen ein (diskursiv artikulierter) Bruch zwischen der hegemonialen und etablierten Diskursstruktur auf der einen Seite und einer vor diesem Hintergrund getroffenen und zu der hegemonialen Darstellung widersprüchlichen Aussage besteht. Diese Brüche und Widersprüche zeigen sich dann oftmals in einem gehäuften Auftreten von verneinenden Konnektoren („aber“, „nicht“, „sondern“) ebenso wie in einer Vielzahl von Adjektiven und Verben, die eine Verneinung beinhalten („unanständig“, „unvermeidlich“, „zweifellos“, „entgegentreten“). Diese besondere Bedeutung von Negationen erklärt sich daraus, dass diese nicht, wie etwa in der mathematischen Logik, zu einer Aufhebung der ursprünglichen Aussage führt. „Die Negation [macht] einen positiven Wert (p) nicht wie in einer mathematischen Operation einfach zu einem negativen Wert; sie ist eine komplexe Operation, in der sich zwei Stimmen überlagern, und zwar ein Enunziator (énonciateur), der etwa E:(p) äußert, und ein Lokutor, der den Enunziator auf Distanz hält (L: ‚Es ist nicht wahr, dass E:(p)‘)“ (Angermüller 2007: 129). Die Spuren der ursprünglichen „positiven“ Äußerungen bleiben also in der Aussage als Hinweis auf alternative Sichtweisen enthalten. Neben den Konnektoren, die die einzelnen Stimmen in Aussagen orchestrieren, nennt Angermüller noch weitere linguistische Anzeichen für polyphone Strukturen: So können auch modale Brüche (z. B. Wechsel

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zum Imperativ), indirekte Rede, nominalisierte Sätze, assertive2 oder negierende Partikel, sowie der Gebrauch von Ironie Hinweise auf Teilaussagen geben, die vom Lokutor der Aussage auf unterschiedliche Distanz gehalten werden (vgl. Angermüller 2007: 129ff.). Alle diese Formen stellen Beispiele dafür dar, dass Aussagen geäußert werden, ohne dass der Lokutor die Verantwortung für diese übernimmt, hinterfragen damit die Homogenität von Aussagen und machen Heterogenitäten explizit.

Empirisches Beispiel Die dargelegten Potenziale der Aussagenanalyse sollen abschließend anhand eines Fallbeispiels illustriert werden. Gegenstand der vorgestellten empirischen Untersuchung war eine Analyse des Stadtimagemarketings deutscher Großstädte (Frankfurt am Main, Köln und Leipzig, vgl. Mattissek 2008). Die Anforderungen an dieses Imagemarketing ergeben sich aus den hegemonialen Vorgaben eines globalisierten Standortwettbewerbs, die Standards wie Effizienz, Modernität, Wettbewerbsorientierung etc. einfordern. Allerdings lassen sich Stadtimages durch gezielte Marketingmaßnahmen nicht einfach beliebig verändern. Denn die getätigten Zuschreibungen müssen sich immer in einen Kontext bereits etablierter Repräsentationen einreihen, und durch diesen Kontext wird gewissermaßen ein pfadabhängiges „Glaubwürdigkeitsspektrum“ vorgegeben. Daher können Darstellungen, die zu weit von diesem Spektrum abweichen, zu unvorhergesehenen Diskurseffekten führen, die den Bruch zwischen hegemonialem Image und aktueller Repräsentation deutlich machen. Solche Widersprüche zwischen konkurrierenden Zuschreibungen können anhand eines gehäuften Auftretens von Konnektoren wie „aber“, „nicht“, „sondern“, etc. festgemacht werden. Dies zeigte sich in der empirischen Analyse bspw. in Frankfurt am Main, wo das Stadtimagemarketing versuchte, entgegen der hegemonialen Darstellung als „kalter Bankenstadt“ auch solche Elemente im Stadtimage zu verankern, die eine positive Ortsbindung ermöglichen, wie in den folgenden zwei Textausschnitten deutlich wird. „Kein Zweifel: Frankfurt bringt auf reizvolle Art und Weise Gegensätzliches zusammen. Und auf das angenehmste die Vorzüge einer Weltstadt mit Beschaulichkeit. Eine Stadt mit Lebensart, in deren Straßen Vielsprachigkeit

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Durch assertive Partikel werden Forderungen, Drohungen oder Aggressionen ausgedrückt.

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selbstverständlich ist. Dabei liegen zwischen Weltstadtflair und anheimelnder Gemütlichkeit in Frankfurt oft nur ein paar Schritte. Und kaum zu glauben, die Finanzmetropole ist kein steinerner Moloch, sondern eine sattgrüne Stadt.“ „Nirgendwo wird ein höheres Tempo angeschlagen als auf der Zeil, einer der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Deutschlands. Die Stadt am Main ist aber auch gemütlich. Apfelweinkneipen in jedem Stadtteil lassen den Alltag beim Feierabend vergessen.“ (Verfügbar unter http://www.stadt-frankfurt.de, Zugriff: 16.3.2008)

Der Widerspruch zwischen den hier gewählten Zuschreibungen zu Frankfurt und den sonst im Stadtimage dominierenden Eigenschaften zeigt sich in Form von diskursiven Brüchen: Die Behauptung, Frankfurt sei „heimelig“ und „gemütlich“ ist diskursiv kaum möglich, ohne durch polyphone Markierungen („dabei“, „kein“, „aber“) implizit auf die weitaus stärker im Diskurs verankerte, hegemoniale Repräsentation von Frankfurt als wenig emotionaler Stadt zu verweisen. Die Analyse der deiktischen Markierungen im Stadtimagemarketing war im Rahmen der zitierten Untersuchung in erster Linie geeignet, um diskursive Trennungen in Bereiche des Eigenen und des Anderen zu untersuchen, die konstitutiv für die Etablierung raumbezogener Identitäten sind. So ist es etwa für die Stadt Leipzig charakteristisch, dass diese in starkem Maße als „Stadt im Osten“ wahrgenommen wird, was diskursiv mit einer ganzen Reihe problematischer Konnotationen verknüpft ist (Arbeitslosigkeit, Abwanderung etc.). Folglich wird in der Eigendarstellung häufig versucht, sich von „dem Osten“ zu distanzieren, sei es in zeitlicher Hinsicht („heute spielt das keine Rolle mehr“) oder in räumlicher Hinsicht, wie der folgende Textausschnitt deutlich macht. „In seinem Büro, das mit viel Glas und hellem Holz eingerichtet ist, rückt der Münchner Marzin die neuen Koordinaten der Leipziger Messe zurecht: ‚Hier ist nicht Ostdeutschland, wir sind ein zentraler Punkt in Mitteleuropa‘.“ (SZ, 27.8.2005, Hervorh. AM)

Diese Darstellung etabliert eine positive Abgrenzung von der problematischen Wahrnehmung der Stadt Leipzig als „ostdeutsche Stadt“. Jedoch ist dies nicht möglich, ohne auf die hegemoniale Trennung in „Ost“ und „West“ Bezug zu nehmen (dieser Bruch zeigt sich erneut in dem Begriff „nicht“). Dabei wird allerdings die eigene Identität durch die Begriffe „wir“ und „hier“ gerade in Abgrenzung von „dem Osten“ konstituiert, der somit das ausgeschlossene Andere der eigenen Identität darstellt. Implizit als Vorwissen vorausgesetzt wird in dieser Darstellung, dass dieser „ganz andere Osten“ eben gerade nicht durch die positiven Eigen289

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schaften gekennzeichnet ist, die in dem Zitat der Stadt Leipzig zugeschrieben werden (hell, zentral, neu), denn erst durch diesen Gegensatz wird die eigene Abgrenzung verständlich.

Fazit Diese hier nur sehr kurz angerissenen Beispiele machen deutlich, dass in einzelnen Aussagen oftmals eine Vielzahl von Positionierungen und Annahmen enthalten sind. Diese können mithilfe des beschriebenen Instrumentariums sichtbar und damit der Analyse zugänglich gemacht werden. Dies bedeutet insbesondere für poststrukturalistisch informierte Diskursanalysen eine Bereicherung, bietet sich damit doch die Möglichkeit, Brüche und Heterogenitäten, deren zentrale Bedeutung auf der theoretischen Ebene postuliert wird, auch empirisch „finden“ und analysieren zu können. Insbesondere eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, Widersprüche zwischen hegemonialen Diskursstrukturen und sie herausfordernden konfligierenden Darstellungen sichtbar zu machen.

Exkurs: Grundbegriffe linguistischer Methoden Unterscheidung unterschiedlicher Worttypen mit unterschiedlichem Status innerhalb der Analyse (vgl. Achard 1995: 76): Wörter mit einer lexikalischen Funktion/lexikalische Wörter und indexikalische Wörter (vgl. Williams 1999). • Bei lexikalischen Wörtern (lexicon/lexical) wird Bedeutung über ihren performativen Gebrauch und ihre relationalen Bedeutungen zu anderen Wörtern in unterschiedlichen Kontexten bestimmt. Diese Bedeutung konstituiert einen bestimmten Überschneidungsbereich „ähnlicher“ Bedeutungen, der als „site of maximum common meaning“ (Williams 1999: 213) bezeichnet werden kann. • Indexikalische Wörter tragen keine eigene inhaltliche Bedeutung, sondern beziehen diese erst im spezifischen Gebrauch innerhalb eines diskursiven Kontextes durch die Verbindungen mit diesem („ich“, „du“ oder „hier“ bspw. können in unterschiedlichen diskursiven Kontexten auf völlig unterschiedliche Personen und Orte verweisen). Diese Unterscheidung hat Konsequenzen für die Frage, auf welche Typen von Wörtern sich unterschiedliche Analysestrategien beziehen: Während lexikalische Wörter vor allem Gegenstand quantitativkorpusanalytischer Methoden sind, die versuchen, Regelmäßigkeiten von Verknüpfungen aufzuzeigen, setzen die Verfahren der enunziativen Analyse häufig gerade bei den indexikalischen Wörtern an, die die Verbindung zwischen Text und Kontext organisieren.

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Literatur Achard, Pierre (1995): Formation discursive, dialogisme et sociologie. Langages 117, S. 82–95. Angermüller, Johannes (2007): Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript. Baker, Paul (2006): Using corpora in discourse analysis, London/New York: Continuum. Bühler, Karl (1965 [1934]): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Gustav Fischer. Ducrot, Oswald (1984): Le dire et le dit, Paris: Minuit. Maingueneau, Dominique (2000 [1986]): Linguistische Grundbegriffe zur Analyse literarischer Texte, Tübingen: Narr. Mattissek, Annika (2008): Die neoliberale Stadt. Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte, Bielefeld: transcript. Pêcheux, Michel (1983): Language, semantics and ideology. Stating the obvious, London/Basingstoke: The Macmillan Press. Williams, Glyn (1999): French discourse analysis. The method of poststructuralism, London/New York: Routledge.

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14 Kodierende Verfa hren in der Diskursforschung GEORG GLASZE, SHADIA HUSSEINI, JÖRG MOSE

Einleitung: An a l ys e k o m p l e x e r B e d e u t u n g s s ys t e m e Diskursanalysen untersuchen im Anschluss an die konzeptionellen Überlegungen von Foucault bzw. Laclau und Mouffe Konstitution und Wandel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Bedeutungssystemen (s. Kap. 1 bis 7, vgl. Viehöver 2001: 177). Diese Bedeutungssysteme können sehr komplex sein. So wird in Texten Bedeutung nicht nur durch die Verknüpfung einzelner Elemente hergestellt, sondern durch vielfältige Verbindungen und vielschichtige Relationen oberhalb der Wort- und Satzebene, häufig sogar oberhalb der Ebene einzelner konkreter Texte. Um diese im Rahmen einer diskursanalytischen Untersuchung greifen zu können, reichen Verfahren, die unmittelbar quantifizierend an der sprachlichen Oberfläche ansetzen (wie lexikometrisch-korpuslinguistische Verfahren, s. Kap. 11) vielfach nicht aus. Ein wichtiges Verfahren diskursanalytischer Arbeiten ist daher auch das stärker interpretative Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen (s. u.). Das Ziel des Kodierens als Teilschritt einer Diskursanalyse ist es, Regelmäßigkeiten im (expliziten und impliziten) Auftreten (komplexer) Verknüpfungen von Elementen in Bedeutungssystemen herauszuarbeiten. Diese lassen sich dann als Hinweise auf diskursive Regeln verstehen. Dabei werden Techniken der interpretativen Textanalysen sowie der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet, die allerdings an die theoretischen Vorannahmen angepasst verwendet werden müssen. Aus diesem Grund wird in dem Kapitel zunächst der Stellenwert des Kodierens in diskurstheoreti293

GEORG GLASZE, SHADIA HUSSEINI, JÖRG MOSE

schen Analysen diskutiert und gegenüber der Funktion des Kodierens in qualitativen Inhaltsanalysen abgegrenzt. Anschließend wird dargestellt, welche Elemente in textbasierten Diskursanalysen kodiert werden können, wie sich Korpora für die Kodierung zusammenstellen lassen und wie die Kodierung abläuft. Anhand dreier Fallstudien im Themenbereich raumbezogener Identität wird dann beispielhaft die Integration kodierender Verfahren in diskurstheoretisch orientierte Forschungsprojekte dargestellt.

Kodierende Verfahren im Rahmen diskurstheoretisch orientierter Forschungsprojekte Wozu kodieren in Diskursanalysen? Kodierende Verfahren können im Rahmen diskursanalytischer Untersuchungen hilfreich sein, um Regeln des Diskurses und damit Regeln der Konstitution von Bedeutung und damit der Herstellung sozialer Wirklichkeit aufzudecken. Kodierungstechniken wurden in den Sozialwissenschaften zunächst vor dem Hintergrund interpretativ-hermeneutischer Theorien entwickelt, bspw. im Rahmen der „qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 2008 [1983]) und Ansätzen der grounded theory (Strauss und Corbin 1996 [1990]; Glaser und Strauss 1998 [1967]). Innerhalb dieser interpretativ-hermeneutisch orientierten Ansätze dient das Kodieren dazu, Textstellen zu klassifizieren und zu bündeln. Die dabei entwickelten Codes werden als Indikatoren für einen bestimmten Inhalt, einen bestimmten Sinn interpretiert. In diskurstheoretisch orientierten Forschungsprojekten dient das Kodieren von Elementen und deren Verknüpfungen dazu, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten und von diesen Regelmäßigkeiten auf die Regeln der diskursiven Bedeutungskonstitution zu schließen. Dementsprechend halten die beiden Diskursforscher Diaz-Bone und Schneider fest (Diaz-Bone und Schneider 2003: 474): Die Kodierungen in diskurstheoretisch orientierten Analysen „dienen zwar ebenso der Identifizierung (‚Markierung‘) von Textstellen, stellen jedoch nicht […] gehaltvolle Indikatoren (im Sinne eines Konzept-Indikator-Verhältnisses) [und damit] den notwendigen (!) Weg hin zu ‚Schlüsselkonzepten‘ dar […]. Vielmehr müssen die jeweiligen ‚Codes‘ (als Verweis auf die in den Daten materialisierte Diskursordnung als Realität ‚sui generis‘) entsprechend ihrer empirisch rekonstruierbaren ‚Verwendungsweisen‘ zu empirisch begründeten, diskurstheoretischen Aussagen über die Strukturiertheit, Regelhaftigkeit dieser Ordnung zusammengefügt wer294

KODIERENDE VERFAHREN IN DER DISKURSFORSCHUNG

den“. Während der Ablauf der Kodierung (Markierung, Ordnung, Klassifizierung) in diskurstheoretisch orientierten Analysen also vielfach ähnlich verläuft wie in interpretativ-hermeneutisch orientierten Analysen (Reuber und Pfaffenbach 2005: 162; Mayring 2008 [1983]: 65ff.), ist der konzeptionelle Stellenwert des Kodierens jedoch ein anderer.

Was kann man in Diskursanalysen kodieren? Wenn das Ziel des Kodierens ist, Regelmäßigkeiten in den Beziehungen von lexikalischen Elementen bzw. Konzepten (s. u.) in Diskursen herauszuarbeiten, um damit auf die Regeln der Konstitution von Bedeutung zu schließen, muss bei der Frage, was eigentlich kodiert werden kann, zwischen zwei Schritten unterschieden werden: erstens dem Kodieren selbst, und zweitens der Analyse von Regelmäßigkeiten, die sich im Überblick über die kodierten Textstellen erkennen lassen. Was kodiert wird, ist also eine Frage, die sich im Wesentlichen im ersten Schritt stellt. Um diesen zu operationalisieren, schlagen wir vor, zwei Ebenen des Diskursiven konzeptionell zu unterscheiden:

Elemente In Anlehnung an Laclau und Mouffe (Laclau und Mouffe 1985, s. Kap. 6) können Elemente als Basiseinheit des Diskurses begriffen werden. Dabei lassen sich in der Forschungspraxis zwei Verständnisse unterscheiden. Elemente können entweder als lexikalische Elemente (d. h. Wörter bzw. Wortfolgen) oder als semantische Konzepte gefasst werden – so wird das Konzept „Spanien“ bspw. durch die gesprochenen/geschriebenen Symbole España1 und Estat Espanyol2 sowie visuell durch die Umrisse des spanischen Staates transportiert. In beiden Auffassungen dienen die Elemente im Kodierungsprozess im Wesentlichen als Suchraster (und damit lediglich als Bestandteil eines Codes, jedoch nicht als Code selbst). Sie können je nach Forschungsfrage entweder im Vorhinein festgelegt werden oder auch durch andere Verfahren, wie z. B. lexikometrische Abfragen, ermittelt und anschließend im Text gesucht werden.

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Span.: Spanien Katalanisch: spanischer Staat 295

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Artikulationen Das, worauf das Kodieren eigentlich abzielt, sind nicht die einzelnen Elemente selbst, sondern ihre Verknüpfungen untereinander. Um diese greifen zu können, wird hier das Konzept der Artikulation3 verwendet. Demnach setzen Artikulationen Elemente miteinander in Beziehung und stellen auf diese Weise Beziehungen einer spezifischen Qualität her – bspw. Beziehungen der Äquivalenz, der Opposition, der Kausalität oder der Temporalität (Somers 1994: 616). Dabei können minimal zwei Elemente miteinander verknüpft werden, vielfach werden aber komplexe Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen gebildet. Solche komplexen Verknüpfungen werden teilweise als plot (z. B. Viehöver 2001: 197), storyline (z. B. Hajer 2003: 277) oder narratives Muster (z. B. Glasze 2009: im Druck), Argumente (s. Kap. 12) oder Aussagen (s. Kap. 13) bezeichnet. Artikulationen, die sich in hohem Maße zu einem Gemeinplatz verfestigt haben, werden zuweilen unter dem Begriff Topos (Wengeler 2003) gefasst. Sowohl einzelne Elemente einer Artikulation als auch Elemente in ihrer Verknüpfung als bspw. Topos können in einem Text entweder explizit oder als implizit mitbehauptet auftauchen. (s. u.). Ein Beispiel für eine solche Artikulation wäre „Kasachstan ist ein europäisches Land“. Hier werden die Elemente „Kasachstan“ und „europäisch“ in eine Äquivalenzbeziehung gebracht. Diese Artikulation könnte auch visuell konstituiert werden, z. B. durch kartographische Darstellungen der Mitglieder des europäischen Fußballverbandes UEFA.

Wie kann man kodieren, um auf diskursive Regeln zu schließen? Kodieren ist ein interpretatives Verfahren, das sich je nach Fragestellung der Arbeit und Zusammenstellung des empirischen Materials mehr oder weniger stark formalisieren lässt. Sie können unterteilt werden in eher deduktive und eher induktive Vorgehensweisen. Induktiv meint in diesem Zusammenhang, dass das Kategorien- oder Codesystem beim Durchgang durch das Material nach und nach entwickelt wird (Mayring 2008 [1983]: 74ff.). Hierbei handelt es sich um einen offenen Prozess, der es erlaubt bzw. erfordert, die einzelnen Codes während der Kodierung zu modifizieren und gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. Deduktiv heißt hingegen, dass das Kategorien- oder Codesystem bereits vor der Arbeit mit dem Textmaterial entwickelt wurde. So können bspw. auf

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„Artikulation“ wird hier also im Sinne von Verknüpfung bzw. Verbindung verwendet.

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KODIERENDE VERFAHREN IN DER DISKURSFORSCHUNG

der Basis theoretischer Annahmen bestimmte Artikulationen als Code definiert werden und anschließend im Textkorpus gesucht werden. Darüber hinaus können in einer Kombination von korpuslinguistisch-lexikometrischen mit kodierenden Verfahren die Ergebnisse lexikometrischer Analysen für die Definition von Codes herangezogen werden (s. Exkurs).

Exkurs: Integration von kodierenden und lexikometrischkorpuslinguistischen Verfahren Im Rahmen einer Operationalisierung der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe können kodierende Verfahren lexikometrisch-korpuslinguistische Verfahren v. a. in zwei Punkten ergänzen: Die lexikometrisch-korpuslinguistischen Verfahren geben auf der Ebene der Sprachoberfläche Hinweise auf Charakteristika bspw. historisch bestimmte Teilkorpora sowie auf die Kookkurrenzen bestimmter Wörter oder Wortfolgen. Mithilfe kodierender Verfahren kann anschließend geklärt werden, welche Qualitäten die Verbindungen zwischen den lexikometrisch ermittelten Wörtern bzw. Wortfolgen haben. Dabei können bestimmte Wörter (bspw. „weil“ und „infolge“ als Hinweise auf Kausalverknüpfungen, „danach“ und „nachdem“ als Hinweise auf temporale Verknüpfungen), Wortverbindungen und grammatikalische Konstruktionen bereits auf der Ebene der Sprachoberfläche Hinweise auf die Qualität von Verbindungen geben, letztlich ist dieser Schritt aber in hohem Maße ein interpretativer Schritt. In diachron angelegten Studien können lexikometrische Verfahren Hinweise auf Brüche und Verschiebungen des Diskurses im Zeitverlauf herausarbeiten. Gemäß der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe können diese Brüche und Verschiebungen als Folgen einer Dislokation des Diskurses interpretiert werden, die dadurch ausgelöst werden, dass „Ereignisse“ nicht in einen bestehenden Diskurs integriert werden können. Mithilfe kodierender Verfahren kann dann gezielt nach Artikulationen gesucht werden, die im Widerspruch zu dem für eine bestimmte Epoche als hegemonial identifizierten Diskurs stehen und so Hinweise auf die Ursache für dessen Dislokation liefern.

In den meisten Forschungsprojekten laufen die Prozesse der CodeBildung entsprechend ihrer jeweiligen Fragestellung sowohl induktiv als auch deduktiv ab, jedoch ggf. mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Grundsätzlich sollte jedoch stets transparent gemacht werden, warum welche Textstelle wie kodiert wird. Um auch nicht explizit, aber implizit „Gesagtes“ im Text erkennen und herausarbeiten zu können, sozusagen Mitbehauptetes und Mitgemeintes, das beim Leser des Textes als vorhandenes Wissen vorausgesetzt wird, kann bspw. das Toulmin-Schema (Toulmin 1996 [1958]) zuhilfe genommen werden (Mattissek 2007). Demnach begründet der Sprecher eine These (= Konklusion) mit Argumenten, wobei die Ver297

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knüpfung beider Teile durch die Schlussregel erfolgt. Anhand derer wird vom Argument auf die Konklusion geschlossen. Während These bzw. Konklusion und Argument expliziert werden, wird die Schlussregel zumeist nicht ausgedrückt (Brinker 2005: 81), denn sie beinhaltet „vorausgesetzte[s], konsensuelle[s] Wissen“ (Höhne 2003: 401), durch das sie als Prämisse fungieren kann, mittels derer vom Argument auf die These geschlossen wird (detailliert s. Kap. 12). Nach dem Schritt des eigentlichen Kodierens gilt es im zweiten Schritt, Regelmäßigkeiten innerhalb der kodierten Textstellen des Materials zu erkennen und herauszuarbeiten. Dabei kann die Analyse von Regelmäßigkeiten auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen: Durch Häufigkeitsanalysen kann untersucht werden, welche Codes wie häufig im Material vorkommen. Dieser Schritt ermöglicht, Rückschlüsse auf die Dominanz oder Marginalität bestimmter expliziter Verknüpfung von Elementen zu ziehen. Außerdem lassen sich auch zeitliche Verläufe (durch Häufigkeitszählungen zu bestimmten Zeitpunkten) nachzeichnen und Zusammenhänge sichtbar machen. Neben Häufigkeitszählungen können auch weitere quantitativ-statistische Analysen mit den Codes durchgeführt werden, wie z. B. die Analyse von Korrelationen (Mattissek 2005). Daran anschließend können sowohl synchrone Vergleiche durchgeführt werden, bspw. der Vergleich von Regelmäßigkeiten unterschiedlicher Korpora, als auch diachrone Vergleiche, wie zeitliche Verläufe von Regelmäßigkeiten. Bei der Ableitung von diskursiven Regeln aus den Regelmäßigkeiten (vgl. Fallstudien, s. u,) handelt es sich ebenfalls um einen interpretativen Schritt. Ausgangsthese ist, dass die Regelmäßigkeiten Manifestationen von diskursiven Regeln sind. Die Regeln dürfen dabei nicht als statisch verstanden werden; sie sind vielfältig, können widersprüchlich sein und unterliegen fortwährend Veränderungen.

Welche Korpora kann man in Diskursanalysen kodieren? Da die kodierenden Verfahren im Rahmen von Diskursanalysen darauf zielen, Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten, erscheint es grundsätzlich sinnvoll, mit umfangreichen Textkorpora zu arbeiten. Dabei muss die Zusammenstellung des Korpus auf vorhandenem Kontextwissen basieren. In erster Linie entscheidet die Fragestellung über die Auswahl der zu untersuchenden (textlichen sowie ggf. auch nicht-textlichen) Materialien. Welche Sprecherpositionen sind gesellschaftlich besonders relevant? Welche Genres sind einflussreich? Im Gegensatz zu lexikometrischen Untersuchungen kann im Rahmen von kodierenden Verfahren auch mit einem „offenen, sich […] er298

KODIERENDE VERFAHREN IN DER DISKURSFORSCHUNG

weiternden Korpus“ (Pêcheux 1983 [1975]: 54, zit. nach Busse 2000: 44) gearbeitet werden. Da zu Beginn des Forschungsprozesses vielfach nicht das gesamte zu untersuchende Diskursfeld überblickt werden kann und sich aus den ersten Ergebnissen neue Detailfragen ergeben können, erscheint es dabei sinnvoll, sich an die Methode das theoretical sampling der grounded theory anzulehnen (Strauss und Corbin 1996 [1990]: 25f.; Lamnek 2005: 100f.). Hier erfolgen Datensammlung und -auswertung in mehreren Schritten und werden so lange fortgesetzt, bis bei der Auswertung neuer Daten keine neuen Ergebnisse mehr hinzutreten (Lamnek 2005: 100f.).

Welche Herausforderungen gibt es beim Kodieren in Diskursanalysen? Die methodologischen Ausführungen über das Kodieren abschließend, sollen nun noch einmal die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Kodierens innerhalb eines diskursanalytischen Rahmens beleuchtet werden. Wie bereits dargelegt, wurden die kodierenden Verfahren innerhalb der Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund interpretativ-hermeneutischer Erkenntnistheorien entwickelt. Der Einsatz kodierender Verfahren im Rahmen von Diskursanalysen erfordert also zunächst einen „Umbau“ und eine „Einpassung“ kodierender Verfahren in diskurstheoretische Forschungsanlagen. Wie gezeigt, sind in der Forschungspraxis allerdings auch im Rahmen von Diskursanalysen an verschiedenen Stellen „interpretative Schritte“ unumgänglich. Der Einsatz kodierender Verfahren in Diskursanalysen sollte jedoch immer „von einer hohen Sensibilität für die erkenntnistheoretischen Probleme der Interpretation bestimmt“ werden (Glasze 2007: 13). Konkret bedeutet dies für den Forschungsprozess, dass erkenntnistheoretische Brüche aufgezeigt werden müssen. Letztlich muss immer auf die Positionalität jeglicher Forschung hingewiesen werden und damit vor dem Hintergrund operiert werden, dass die Ergebnisse immer auch hätten anders ausfallen können (Lossau 2002: 64). Was in der Anwendung des Kodierverfahrens weiterhin problematisiert werden muss, sind seine „blinden Flecken“, denn die Entwicklung des Code-Buchs sowie die Zuordnung von Textstellen des Materials zu bestimmten Codes sind Prozesse, die von Außen kaum einsehbar sind (Reuber und Pfaffenbach 2005: 115)4 – auch wenn die Verwendung von 4

Hinter diesem Argument versteckt sich die Forderung nach einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit empirischer Ergebnisse, welche aus poststrukturalistischer Perspektive ohnehin als unmöglich deklariert und abgelehnt werden. Jedoch darf diese Ablehnung nicht als ein 299

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Programmen der computergestützten Inhaltsanalyse (qualitative data analysis, QDA) wie bspw. MaxQDA oder Atlas.ti die Nachvollziehbarkeit der Kodierungen erleichtern können (Diaz-Bone und Schneider 2003). Mit der Kritik an den blinden Flecken des Kodierens hängt ganz eng die Warnung vor dem selektiven Blick der oder des Forschenden zusammen. Die Schritte bei der Analyse (wie das Suchen von Elementen sowie das interpretative Kodieren von Verknüpfungen) und damit auch die Ergebnisse hängen in starkem Maße vom Vorwissen und Vorverständnis der oder des Forschenden ab (Bublitz 2001: 237). Ein anderes Vorverständnis der oder des Forschenden, ein anderes Vorwissen, eine andere Vorabkonstruktion führt entsprechend zu anderen Ergebnissen. Darüber hinaus gehen beim Kodieren durch Zusammenfassung, Kategorisierung und Zuordnung von Textelementen viele Feinheiten und Bedeutungsspielräume verloren. Aus diskurstheoretischer Perspektive ist dies insofern problematisch, als dass dadurch Bedeutungsspielräume reduziert und bestimmte Bedeutungen – vor allem in der Ergebnisdarstellung – festgeschrieben werden.

Fallstudien: diskursive Konstitution raumbezogener Identitäten Die folgenden Fallstudien zielen alle aus einer diskurstheoretischen Perspektive auf die Analyse raumbezogener Identitätskonzepte und setzen dabei u. a. auf die Verwendung kodierender Verfahren. Bevor in diesem Abschnitt dargestellt wird, wie die verschiedenen Fallstudien die oben beschriebenen Verfahrensschritte jeweils umsetzen, soll daher kurz auf den Zusammenhang von Identität und Diskurs eingegangen werden.

Konstitution von Identität in Narrationen Poststrukturalistische und mithin auch diskurstheoretische Ansätze kritisieren die Vorstellungen wesenhaft gegebener, einheitlicher, geschlossener und dauerhafter Identitäten (vgl. in diesem Handbuch Kap. 1, 4, 5, 6, 7 und 8). Auch die hier im Weiteren behandelten Kollektividentitäten werden als kontingente, fließende, hybride, historisch situierte, in einem diskursiven Prozess geformte Kategorien konzeptualisiert (dazu bspw. Somers 1994; Haraway 1995; Hall 1999 [1989]; Pott 2007). Freibrief für eine naive Alltagshermeneutik verstanden werden, denn will die Arbeit zum Wissenschaftsdiskurs gehören, muss sie versuchen – auch wenn dies unerreichbar bleibt –, ihren Forschungsprozess nachvollziehbar und überprüfbar zu gestalten. 300

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Die Konstitution scheinbar stabiler kollektiver Identitäten durch Ausschluss und Differenzbildung sowie interner Homogenisierung kann als Grundmechanismus gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Auf diese Weisen werden Kategorien von Sinn und Ordnung etabliert. Als diskursive Regeln der raumbezogenen Identitätskonstitution lassen sich die Differenzierungen zwischen Eigenem und Fremden mit der geographisch-territorialen Differenzierung zwischen hier und dort (Redepenning 2006; Glasze 2009) sowie in vielen Fällen auch die Konstruktion einer gemeinsamen (historischen) Narration beobachten. Auf diese Weise werden Identitätskonzepte stabilisiert, da sie eben mit vermeintlich objektiven räumlichen Differenzierungen verknüpft und damit naturalisiert werden (dazu auch Pott 2007). Kollektive Identitäten sind also ein Effekt komplexer Verweisstrukturen. Die nachfolgend vorgestellten humangeographischen Arbeiten zu raumbezogenen Identitätskonzepten zeigen beispielhaft, wie die o. g. diskursiven Regeln durch Kodieren nachgezeichnet werden können. Zunächst werden jeweils kurz Fragestellung und Korpuszusammenstellung charakterisiert. Dann wird der Analyseschritt des Kodierens thematisiert, bevor abschließend die Analyse der Regelmäßigkeiten im Auftreten von Codes vorgestellt werden.

Verknüpfung lexikometrischer und narrationsanalytischer Vorgehensweise am Beispiel eines Forschungsprojekts zur diskursiven Konstitution der Frankophonie Fragestellung, Korpuszusammenstellung, Verknüpfung mit lexikometrischer Analyse Die hier in Auszügen vorgestellte Studie (ausführlich s. Glasze 2009, zur Konzeption s. Kap. 6) fragt danach, wie die kollektive Identität der „Frankophonie“ konzeptionalisiert und analysiert werden kann. Die Internationale Organisation der Frankophonie definiert sich selbst als „internationale Gemeinschaft“ von mehr als 60 Staaten und Regionen sowie als „geokultureller Raum“. Im ersten Untersuchungsschritt wurde die historische Entwicklung des Frankophoniediskurses seit der Entkolonialisierung bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts korpuslinguistisch-lexikometrisch untersucht. Dazu wurden mehrere geschlossene, digitale Korpora erstellt, die jeweils von einer weitgehend homogenen Sprecherposition stammen und in hohem Maße einem homogenen Genre zuzurechnen sind (Protokolle der Frankophonie-Konferenzen, Reden der Generalsekretäre der Frankophonie). Für die kodierende Analyse wurden diese Korpora in ein Programm zur 301

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computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse eingelesen (Atlas.ti) und darüber hinaus einige weitere Texte integriert (u. a. Einleitungen und Schlusskapitel von Monographien zur Frankophonie, Texte zweier frankophoniekritischer Organisationen sowie Texte, die von den heutigen Frankophonieorganisationen als „Gründungstexte“ beschrieben werden). Im Vergleich zu der korpuslinguistisch-lexikometrischen Analyse muss die kodierende Analyse aus arbeitsökonomischen Gründen auf bestimmte Textstellen fokussiert werden. Ansatzpunkt waren dabei soweit wie möglich die Kontexte von Wörtern bzw. Wortfolgen, die nach der lexikometrischen Analyse Hinweise auf Charakteristika, Brüche und Verschiebungen des Diskurses gegeben hatten. Im ersten Schritt wurden also jeweils die Absätze kodiert, in denen diese lexikalischen Elemente auftreten. Im zweiten Schritt wurde zum einen induktiv analysiert, mit welchen Konzepten diese lexikalischen Elemente verknüpft werden, sowie zum zweiten in einem durch die Konzeption von Identität in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (s. Kap. 6) deduktiv angeleiteten Schritt untersucht, welche Qualität von Beziehungen dabei jeweils hergestellt wird.

Analysebeispiel: Kodieren der Artikulationen um lexikometrisch ermittelte Signifikanten und Identifikation von Regelmäßigkeiten Im Zuge korpuslinguistisch-lexikometrischer Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Wortfolge diversité culturelle (kulturelle Vielfalt) in den Verhandlungsprotokollen der Frankophonie-Gipfelkonferenzen 1999, 2002 und 2004 im Vergleich zu allen Konferenzen seit 1986 die höchste Signifikanz aufweist – d. h. überdurchschnittlich häufig auftritt. Untersucht man vor diesem Hintergrund, in welche Beziehungen die Wortfolge diversité culturelle regelmäßig eingebunden wird, dann lassen sich folgende Muster interpretativ herausarbeiten: • Diversité culturelle als Eigenschaft der Frankophonie und ihrer Geschichte, • diversité culturelle als Voraussetzung und als Element von Demokratie, Frieden und nachhaltiger Entwicklung sowie • diversité culturelle als Gegensatz zu einer uniformisierenden und homogenisierenden Globalisierung. Diversité culturelle wird also in Artikulationen eingebunden, welche kulturelle Vielfalt als Eigenschaft und Wesen der Frankophonie fassen sowie in Artikulationen, welche die Geschichte der Frankophonie mit

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kultureller Vielfalt gleichsetzen und aus dieser Äquivalenz eine Berufung der Frankophonie ableiten (s. Tabelle 3). „Frankophonie“ ist danach äquivalent mit „kultureller Vielfalt“, weil sich die Frankophonie aus vielfältigen Räumen zusammensetzt und weil die Geschichte der Frankophonie eine Geschichte der kulturellen Vielfalt ist. Zwischen „kultureller Vielfalt“ und „Frankophonie“ werden somit historisch-teleologische und räumlich-geodeterministische Beziehungen hergestellt. Als wiederkehrendes und (relativ) festes Muster wird auf diese Weise eine bestimmte Bedeutung konstituiert und reproduziert. Tabelle 3: Narrative Muster „diversité culturelle als Eigenschaft der Frankophonie und ihrer Geschichte“5 „…die Frankophonie wurde geboren und wächst in der kulturellen Vielfalt.“ Rede des Premierministers von Kanada, Jean Chrétien, auf der VIII. Gipfelkonferenz der Frankophonie 1999 in Moncton (Kanada)

„Von ihren Ursprüngen an bildete sich die Frankophonie auf dem Sockel der kulturellen Vielfalt. Als Raum, der Völker mehrerer Kontinente mit sehr unterschiedlichen Geschichten und kulturellen Traditionen umfasst, ist die Frankophonie ein Laboratorium der Solidarität unter dem Zeichen der Vielfalt.“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Abdou Diouf, am 4. September 2003 vor der Ministerkonferenz der Frankophonie zur Informationsgesellschaft

„Auf der Gipfelkonferenz in Beirut hat die Frankophonie daran erinnert, dass die kulturelle Vielfalt wahrhaft von Beginn an ihr Arbeitsfeld ist…“ Rede der Ministerpräsidentin der französischen Gemeinschaft Belgiens, Marie Arena, auf der X. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2004 in Ouagadougou (Burkina Faso)

Die Äquivalentsetzung von francophonie und diversité culturelle wird als Legitimation für die Sensibilität, Betroffenheit und Kompetenz der Frankophonie für das Thema der kulturellen Vielfalt herangezogen und damit zu einer Legitimation der Aktivitäten der Organisationen der Frankophonie (s. Tabelle 4).

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Alle Zitate wurden von mir (GG) übersetzt. Die Originalzitate werden in französischer Sprache in Glasze 2009 dargestellt. 303

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Tabelle 4: Narrative Muster „Die Frankophonie als sensibel und kompetent im Kampf für die kulturelle Vielfalt“ „Frankophon zu sein heißt daher zu kämpfen, über die Verteidigung der französischen Sprache hinaus, für die Toleranz, für den Respekt der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, für den Erhalt einer pluralen Zivilisation. In einem Wort: für einen neuen Humanismus!“ Rede des Generalsekretärs der OIF, Boutros Boutros-Ghali, auf der Eröffnung eines Symposiums zur Sprachenvielfalt in den internationalen Organisationen am 5. November 1998 in Genf „Von ihren Ursprüngen an wurde die Frankophonie von ihren Gründern unter dem Zeichen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt entworfen. […] Es ist daher nur natürlich, dass ihre Mitglieder besonders sensibel sind […] für die Notwendigkeit, die kulturelle Vielfalt im Zeitalter der Globalisierung zu erhalten und zum anderen für das Risiko, das sie mit sich bringt.“ Rede des Generalsekretärs der OIF, Abdou Diouf, in einer Rede vor dem Parlament der französischen Gemeinschaft Belgiens am 13. März 2003 in Brüssel

Darüber hinaus wird diversité culturelle in Artikulationen eingebunden, in denen „kulturelle Vielfalt“ als Voraussetzung und Element von „Demokratie“, „Frieden“ und „nachhaltiger Entwicklung“ konstituiert wird. Auf diese Weise wird „kulturelle Vielfalt“ und damit „Frankophonie“ mit Signifikanten verknüpft, die im Kontext internationaler Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in hohem Maße hegemonial sind – d. h. als unumstößlich akzeptiert werden (s. Tabelle 5). Tabelle 5: Narrative Muster „diversité culturelle als Voraussetzung und als Element von Demokratie, Frieden und nachhaltiger Entwicklung“ „Die Mitgliedsstaaten und -regierungen beurteilen die Achtung der kulturellen Vielfalt als eine notwendige Bedingung für die nachhaltige Entwicklung…“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Boutros Boutros-Ghali, auf dem Weltgipfel zur Nachhaltigen Entwicklung am 29. August 2002 in Johannesburg (Südafrika) „Lasst uns gemeinsam handeln um die Frankophonie zu einem wahrhaften Raum der Vielfalt, der Gleichheit, der Solidarität und der Komplementarität zu machen, um zum Bau einer Welt des Friedens, der Stabilität, der Kooperation und der nachhaltigen Entwicklung beizutragen.“ Rede der vietnamesischen Vizepräsidentin, My Hoa Truong, auf der X. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2004 in Ouagadougou (Burkina-Faso) „Die kulturelle und linguistische Vielfalt ist das Herz der Aktivitäten, die von der Frankophonie unternommen werden. Sie ist zu einer politischen Frage geworden, denn in dem gegenwärtigen Prozess der Globalisierung ohne die kulturelle Vielfalt laufen wir sonst Gefahr, eine Schwächung des Dialogs der Kulturen, des Gleichgewichts einer multipolaren Welt und gar der fundamentalen Werte des Friedens, der Gerechtigkeit und der Demokratie beobachten zu müssen.“ Neujahrsansprache des OIF-Generalsekretärs, Abdou Diouf, am 24. Januar 2005 in Paris

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Zu der Bedeutungsfixierung trägt darüber hinaus bei, dass diversité culturelle in einen Gegensatz gestellt wird zu einer „uniformisierenden“ und „homogensisierenden Globalisierung“ und damit ein antagonistisches Außen der Frankophonie definiert wird: eine (kulturell und sprachlich) uniformisierte und homogenisierte Welt (s. Tabelle 6). Tabelle 6: Narrative Muster „diversité culturelle als Gegensatz zu einer uniformisierenden und homogenisierenden Globalisierung“ „Im Zeitalter der Globalisierung […] und der voranschreitenden Uniformisierung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens […] scheint die Frankophonie sich der Etablierung eines uniformisierten Lebensstils entgegenstellen zu können, der de facto zu einer Auslöschung von Identitäten führen würde.“ Barrat, J. (Hg.) (1997): Géopolitique de la Francophonie, Paris : Presses universitaires de France (= Politique d’aujourd’hui). „Nein zu einer ungeregelten Globalisierung, die sich nicht um die Individuen, die kulturelle Vielfalt, die Demokratie kümmert.“ Rede des OIF-Generalsekretärs, Boutros Boutros-Ghali, auf der Sitzung des Jugendparlamentes der Frankophonie am 8. Juli 2001 in Québec (Kanada) „Die Bedrohungen der Uniformisierung, die auf der Vielfalt der Kulturen und Sprachen lastet, die tragischen Ereignisse des 11. September 2001, die immer augenscheinlichere Notwendigkeit, den ‚Schock der Kulturen‘ zu verhindern, den einige vorhersagen, vergrößert den Nutzen und die Relevanz unserer Allianz.“ Rede des Präsidenten der Republik Burkina-Faso, Blaise Compaore, auf der IX. Gipfelkonferenz der Frankophonie 2002 in Beirut (Libanon)

Damit wird das Außen gegenüber der Frankophonie konstituiert und gleichzeitig eine Aufgabe und Funktion definiert: die Frankophonie als „unentbehrlicher Schutzwall“6 gegenüber der uniformisierenden (angelsächsisch-dominierten) Globalisierung. Der Signifikant diversité culturelle kann damit im Sinne der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (s. Kap. 6) als ein Knotenpunkt des Diskurses der institutionalisierten Frankophonie zu Beginn des 21. Jahrhunderts interpretiert werden. So wird diversité culturelle als Voraussetzung und Element für Begriffe konstituiert, die im Kontext der internati6

So bspw. eine Pressemitteilung der Union Internationale de la Presse Francophone (UPF) vom 24. März 2003: „La Francophonie apparaît comme la garante de la diversité des identités et du droit de chacun de se déterminer, constituant ainsi un rempart indispensable contre l’hégémonie d’une pensée unique“. (Die Frankophonie erscheint als Garant der Vielfalt der Identitäten und des Rechts der Selbstbestimmung und bildet damit einen unverzichtbaren Schutzwall gegen die Hegemonie des Einheitsdenkens.) Verfügbar unter http://www.presse-francophone.org/uijplf/uijplf_ upfbelgique.htm (Zugriff: 15.9.2007). Ähnlich äußert sich der ehemalige Generalsekretär des Haut Conseil de la Francophonie, Stélio Farandjis, im Journal Jeune Afrique vom 6. April 1999. 305

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onalen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für das Gute, Richtige und Unhinterfragbare stehen wie „Frieden“, „Demokratie“ und „nachhaltige Entwicklung“, und rückt damit selbst in die Nähe eines solchen Hochwertbegriffs. Abgegrenzt wird diversité culturelle von „Homogenisierung“ und „Uniformisierung“, die wiederum als Eigenschaften einer angelsächsisch dominierten Globalisierung konstituiert werden. Damit funktioniert diversité culturelle im Frankophoniediskurs als leerer Signifikant, auf den sich verschiedene Elemente beziehen können.

Analyse geopolitischer Weltbilder und Identitäten mit Raumbezug in transnationalen arabischen Printmedien Das hier vorgestellte Forschungsprojekt analysiert geopolitische Weltbilder und damit zusammenhängende Identitätskonstruktionen von „Eigenem“ und „Anderem“ in den panarabischen Printmedien al-Hayat, alQuds al-Arabi und Asharq Alawsat. Ausgangspunkt sind die Terroranschläge von 9/11, der daraufhin proklamierte „Kampf gegen den Terrorismus“ und die Frage, welche Weltordnungen in diesem Kontext aus der Perspektive dieser Zeitungen gesehen werden. Das Ziel des Projektes ist, gewichtige Konstruktionen aufzuspüren und Regeln von Identitätsdiskursen herauszuarbeiten, die diesen Konstruktionen unterliegen. Die Untersuchung analysiert die Artikel der Meinungsrubriken der ausgewählten Zeitungen zwischen September 2001 (9/11) und dem Streit um die Mohammed-Karikaturen im Jahr 2006. Der Fokus wird auf die meinungsbetonten Texte gelegt, da gerade hier die (Re-)Produktion von geopolitischen Weltbildern und Identitäten im Zuge der Kontextualisierung, Deutung und Bewertung von Medienereignissen sichtbar wird. Um die Fragestellung dieser Studie zu bearbeiten, wird im ersten Schritt eine Überschriftenanalyse aller Artikel durchgeführt. Diese zielt darauf ab, einen Überblick über die in den Zeitungsartikeln verhandelten Konstruktionen zu schaffen. Auf die Ergebnisse dieses Schrittes aufbauend, werden Artikel für eine Feinanalyse zusammengestellt und induktiv Begriffe herausgefiltert, die Identitäten konstituieren. Auf dieser Basis werden dann die ausgewählten Texte kodiert. Diese Schritte sowie die anschließende Suche nach Regelmäßigkeiten und der Schluss auf diskursiven Regeln werden im Folgenden kurz und exemplarisch dargestellt: Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Identitäten durch Differenzachsen von „Eigenem“ und „Anderem“ konstitutiert werden, wird das Material nach Verknüpfungen von Elementen durch Differenz- und Äquivalenzbeziehungen kodiert, wobei auch implizit Mitbehauptetes unter Zuhilfenahme des Toulmin-Schemas (s. o.) berücksichtigt wird. Als 306

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Suchraster dienen dabei die mithilfe der Überschriftenanalyse herausgearbeiteten Begriffe. Darunter fallen bspw. die Elemente „USA“ und „islamische Welt“.7 Die Texte werden danach durchsucht, wobei dann die Textstellen kodiert werden, in denen Differenz- oder Äquivalenzbeziehungen eben dieser Elemente mit anderen zutage treten. So ist bspw. einer der im Rahmen des Kodierungsprozesses gebildeten Codes „USA versus islamische Welt“. Im Zuge des Kodierens werden aus den kodierten Textstellen „semantische Strickleitern“ (Höhne 2003) herausgearbeitet. Dabei handelt es sich um ein Konzept, anhand dessen Verknüpfungen von Textelementen innerhalb eines Zeitungsartikels (bzw. einer thematischen Einheit eines Zeitungsartikels) offen gelegt werden können. Entscheidend ist hier der Bedeutungszusammenhang von Textelementen, der aufgrund semantischer Merkmale entsteht. Semantische Differenzen und Äquivalenzen wirken dabei zusammen und werden in einer Art Strickleitersystem gegenübergestellt, wobei auch implizit mitbehauptete Elemente berücksichtigt werden können (s. o.). Veranschaulichen lässt sich dies durch die folgende Textpassage, die mit dem Code „USA versus islamische Welt“ erfasst wurde: „Die USA führten […] einen scheußlichen Krieg gegen Afghanistan, vergossen das Blut Unschuldiger und setzten andere Staaten der islamischen Welt auf die Liste der Aggression […]. Der gegenwärtige Krieg, der im Rahmen des ‚Kampfes gegen den Terror‘ geführt wird, der in Afghanistan begann und seine Aggression auf andere ausstreckt, fällt unter die Kategorie der Unterwerfung und nicht unter die Kategorie der Konfrontation zweier, in ihrer militärischen Kraft nahe beieinander liegenden Weltmächte. […] Der Kampf erhebt sich hier […] nicht zu einem Krieg mit einem ebenbürtigen Feind, der selbst Reißzähne hat. […] Was uns betrifft, so erfüllen wir [lediglich] die Bedingungen schwacher Völker, die einem Krieg gegenüberstehen, der auf ihre Unterwerfung abzielt“ (Shafiq, al-Hayat, 28.10.01, S. 19, übers. von SH). Die in dieser kodierten Textstelle zutage tretenden, Identität konstituierenden Begriffe „USA/Amerika“ auf der einen und „Afghanistan und andere Staaten der islamischen Welt“ auf der anderen Seite sowie die mit ihnen verknüpften semantischen Merkmale – „führt Krieg“, „Blut Unschuldiger“, „Aggression“ etc. – lassen sich nun in einer Strickleiter gegenüberstellen (s. Abbildung 14). 7

Alle Begriffe und Textpassagen, die hier aufgeführt werden, wurden von mir (SH) aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Damit sind zwangsläufig Bedeutungsverschiebungen einhergegangen, denn jede Übersetzung ist letztendlich ein Interpretationsschritt. Es sind nicht die „Originalstimmen“, die hier zu Wort kommen. Vgl. dazu auch Husseini 2009. 307

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Abbildung 14: Semantische Strickleiter „USA versus islamische Welt“

Quelle: eigene Darstellung Nachdem die Kodierung abgeschlossen ist und semantische Strickleitern herausgearbeitet wurden, werden die Strickleitern miteinander verglichen, um Regelmäßigkeiten in der Anordnung bestimmter Elemente in ihren spezifischen Differenz- bzw. Äquivalenzbeziehungen zu finden. Eine der Regelmäßigkeiten, die sich dadurch in der Studie zeigt, ist, dass das, was explizit oder implizit als Element „des Eigenen“ auftritt, gegenüber dem Element „des Anderen“ fast immer in der Position des Opfers erscheint – gleich, „wer“ „Eigenes“ und „Anderes“ konkret verkörpert. So ist bspw. „das Eigene“ als „islamische Welt“ Opfer der „USA“, aber „das Eigene“ ist auch als „Welt“ Opfer „des Terrorismus“, als „Volk“ Opfer „arabischer Regime“, als „kolonialisierte Welt“ Opfer „der Kolonialstaaten“, als „Muslime“ Opfer von „religiösem Extremis-

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mus“, als „Araber und Muslime“ Opfer von „Islamophobie“ u. ä. Aus dieser Regelmäßigkeit heraus wird auf eine zentrale diskursive Regel im untersuchten Korpus geschlossen und als Grenzziehung interpretiert, die Identitäten von „Eigenem“ und „Anderem“ entlang der Differenz von Opfer/Agressor anordnet und damit formt.

Die Produktion katalanischer und spanischer nationaler Identität durch historische Narrationen Das im Folgenden vorgestellte Material ist Teil einer Studie zur Dynamik raumbezogener Identität in politischen Konflikten um die territoriale Ordnung des spanischen Nationalstaats. In diesem kurzen Beispiel soll anhand der historischen Narrationen über die katalanische und spanische Nation gezeigt werden, wie die Konstruktion von Identitäten über eine gemeinsamen Geschichte (vgl. Smith 1988; Renan 1990 [1882]; Anderson 1988 [1983]; Weichlein 2006) mithilfe kodierender Verfahren analysiert werden kann. Die historischen Erzählungen formen sich dabei nicht in einzelnen Texten, sondern text- und genreübergreifend. Die folgenden Belegzitate stammen aus Zeitungen und Schulbüchern. Verweise auf Nationalgeschichten ließen sich im Rahmen der Untersuchung, aber auch in Verfassungstexten, an Erinnerungsorten, in Stadtplänen, in Museen etc. nachweisen. Durchsucht wurde der Korpus nach Stellen, an denen die Konzepte der jeweiligen Nationen als Element des Diskurses auftreten. Mithilfe des oben beschriebenen Kodiersystems ließen sich Nationalgeschichten (und deren Varianten) in einem induktiven Schritt rekonstruieren, indem komplexe Artikulationen, in denen verschiedene Elemente verbunden wurden (so genannte narrative Einheiten), in den untersuchten Texten als Code markiert wurden. Um Variationen aufzuzeigen, wurden die Codes entlang einer Zeitskala nach dem erzählten Zeitpunkt geordnet (s. Tabelle 7).

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Tabelle 7: Auszug aus dem Codebuch zur Rekonstruktion der historischen Narrationen mit Belegzitaten8: Nr. 1

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Code Belegzitat „In der 2. Periode etablierten sich die Grafen in Abhängigkeit von den fränkischen Geburt KataloHerrschern. Es gab viele Aufstände und Bürgerkriege, und der nationale Geist niens durch Unab[Kataloniens] begann sich von der ausländischen Herrschaft zu emanzipiehängigkeit ren.“ „Durch acht Jahrhunderte hindurch kämpften diese Könige gegen die Araber Geburt Spaniens und am Ende, vereinigt unter der Herrschaft der Reyes Católicos, erreichten die durch Einheit spanischen Länder und Menschen ihre endgültige Einigkeit.“ „Im Gegensatz zu einem berühmten ausländischen Politiker, der den sehr beGeburt Spaniens kannten Satz ‚Teile und Siege‘ geprägt hat, haben die katholischen Könige das durch Einheit gegenteilige Prinzip angewendet: ‚Wenn wir uns vereinigen, werden wir niemals besiegt werden.‘“ „Was wird bleiben? Für Spanien, als historisches Subjekt, bleibt bei der Beantwortung dieser Frage kein Zweifel. Wenn kein anderer Grund da wäre, um spanisches seine Existenz vor Gottes Augen zu rechtfertigen, so würde das kolossale Kolonialreich als amerikanische Unternehmen ausreichen. […] Sie [die Kanaren, d. A.] waren Hochphase der erste Anlaufhafen der Entdecker und der letzte der geschlagenen Armee, die aus Kuba zurückkam. Hier dämmerte 1492 ein Imperium und ging 1898 unter.“ Die Märtyrer des 11. September [1714, Besetzung Barcelonas durch ‚spanische‘ Niedergang KataTruppen, d. A.], und viele Andere danach, starben für Katalonien. An uns ist es loniens durch Vernun, ‚für Katalonien zu leben‘, und wir haben die Pflicht, all unser Wissen und all lust der Freiheit unser Können aufzuwenden, um das zu erreichen.“ Niedergang Spaniens im Zusam- „Die moderne Epoche begann mit einer Zeit großer Pracht, aber endete mit einer menhang mit mo- Zeit des Niedergangs.“ ralischem Verfall Auferstehung „Glücklicherweise überlebten die ewigen Wahrheiten Spaniens, obwohl sie Spaniens im Fa- unter Bergen von schlechten Gesetzen und schlechten Regierungen begraben schismus waren. […]. Aufgabe der Jugend war es, sie wiederzubeleben […].“ „Das heutige Spanien, jung und verführerisch, kann viel zur Geschichte beiAuferstehung tragen. Dieses Neue Spanien beglückwünscht Dich [Europa, d. A.] und bietet Dir Spaniens in der sein Bestes dar.“ Die Zeitung ABC zum Beitritt Spaniens zur Europäischen GeDemokratie meinschaft

Quelle: eigene Darstellung Diesem Schritt schließt sich die Herausarbeitung von Regelmäßigkeiten und Varianten in den Codes an. Der Fokus liegt dabei nicht so sehr auf dem Inhalt historischer Narrationen, sondern auf der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird. So konnte im vorliegenden Beispiel die diskursive Konstruktion verschiedener Beziehungen von Spanien und Katalonien beobachtet werden sowie auf allgemeine diskursive Regeln zur Konstitution raumbezogener Identität allgemein geschlossen werden: • Eine Vielzahl der kodierten Episoden stellt eine Verbindung der Begriffe „Spanien“, „Einigkeit“ und „Stärke“ (z. B. Zit. 2 und 3) so8

Die Zitate stammen aus folgenden Zeitungen und Schulbüchern: (1.) Font y Sagué (1907): Historia de Catalunya Barcelona, S. 41; (2.) Alvarez Perez (1956): Enciclopedia, Valladoid, S. 588; (3.) ebd., S. 590; (4.) ABC 13.10.1957, S. 50; (5.) Avui 9.11.1977, S. 3; (6.) Brotons Vitoria et al. (2002): Conocimiento del Medio Castilla y León. Tercer Ciclo de Primaria. Madrid, S. 174; (7.) Instituto de España (Hg.) (1937): Manual de la Historia de España. Segundo Grado, Santander, S. 278f.; (8.) ABC 2.1.1986, S. 6; Übersetzungen und Hervorhebungen JM

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wie „Katalonien“ und „Freiheit“ (z. B. Zit. 1) her. Diese Artikulationen konstituieren einen Antagonismus von Spanien und Katalonien, indem der spanische Staat als Fessel des nach Freiheit drängenden katalanischen Volkes dargestellt wird. Eine andere Regelmäßigkeit ist die Temporalisierung der Erzählungen von der Nation. Als allgemeine diskursive Regel der Erzählweise von Nationalgeschichten lässt sich ein Spannungsbogen von Geburt- über Hoch- und Niedergangsphasen bis zu Wiedergeburtsmotiven herausarbeiten. Für den vorliegenden Fall werden die spanische und katalanische Geschichte nach demselben Muster, aber phasenverschoben erzählt, so dass bspw. die Phase des Aufstiegs der spanischen Nation den Niedergang der katalanischen zeitlich überlagert (vgl. Zit. 4 und 5). So werden Spanien und Katalonien auch durch die Struktur des Erzählens von Nationalgeschichten als Antagonisten konstituiert (für eine detaillierte Darstellung vgl. Mose 2005, 2007).

Diese drei beispielhaften Ergebnisse geben nur einen kurzen Einblick in die Potenziale kodierender Verfahren in dem skizzierten Forschungsprojekt. Anhand von Variationen von narrativen Elementen lassen sich auch Sprecherpositionen herausarbeiten (z. B. katalanisch separatistisch; vgl. Zit. 1 und 5). In einer diachronen Betrachtungsweise (Ordnung der Codes nach dem Erzählzeitpunkt) werden auch Bedeutungsverschiebungen deutlich (vgl. Zit. 7 und 8) und es kann die Dynamik diskursiver Regeln herausgearbeitet werden.

Fazit Kodierende Verfahren dienen innerhalb diskurstheoretisch orientierter Forschungsprojekte dazu, Regelmäßigkeiten in der expliziten und impliziten Verknüpfung von lexikalischen Elementen und von Konzepten herauszuarbeiten, die oberhalb der Wort- und Satzebene, vielfach sogar oberhalb der Ebene einzelner konkreter Texte liegen. Kodiert werden dabei bestimmte lexikalische Elemente und Konzepte innerhalb komplexerer Verknüpfungen, die teilweise als plot, storyline, narratives Muster, Argument oder Aussage bezeichnet werden. Die dargestellten Fallbeispiele zeigen, dass die Identifizierung von Elementen dabei eng an der sprachlichen Oberfläche ansetzen und auf bestimmte Wörter und Wortfolgen zielen kann. Gleichzeitig zeigen sie jedoch auch, dass es vielfach sinnvoll ist, stärker interpretativ bestimmte Konzepte zu kodieren, die durch unterschiedliche Signifikanten transportiert werden können. Dasselbe gilt für die Verknüpfung, d. h. die Ar311

GEORG GLASZE, SHADIA HUSSEINI, JÖRG MOSE

tikulation von Elementen und Konzepten: Die Qualität dieser Verknüpfungen wird immer auch interpretativ herausgearbeitet, auf der Sprachoberfläche lassen sich dazu allenfalls Hinweise erkennen.

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15 Diskursivität von Karten – Karten im Diskurs JÖRG MOSE, ANKE STRÜVER „Maps are slippery customers“ (Harley 2002a: 160)

Vor einem diskurstheoretischen Hintergrund erscheint die in der Kartographie bis heute verbreitete Idee, Landkarten seien die objektive Abbildung eines realen Raums, vor allem eines: naiv. Im Folgenden möchten wir diese Naivität in dreierlei Hinsicht dekonstruieren: • durch ein Verständnis von Karten als „Text“ bzw. als Zeichensystem, • durch ein Verständnis von Karten als Teil eines Diskurses sowie • durch einen Ausblick, der Kartographie nicht länger als scheinbar neutrale Wissenschaft, sondern Kartographie als Diskurs konzeptionalisiert. Karten sind in die soziale Konstruktion räumlicher Vorstellungen verstrickt, d. h. einerseits sind sie an der Produktion von geographical imaginations beteiligt, anderseits stellen sie eine Form der visuellen Repräsentation von räumlichen Vorstellungen dar: „It is in the nature of all maps, including the ,scientific‘ maps of our own day, to construct a world in the image of society rather than to hold a mirror to an ,objective‘ reality.“ (Harley 2002b: 187)

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Die Karte als Text In populärkulturellen Medien werden (farbige) Landkarten oft als so genannte Eye-Catcher benutzt, die einen Artikel „illustrieren“, oftmals aber auch überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf den sie begleitenden Artikel lenken sollen (so z. B. in kleinformatigen Hochglanz-Wochenzeitungen wie „Der Spiegel“). Zugleich werden Bilder – und damit auch Karten – in solchen Medien häufig „überlesen“ und damit eher „unbewusst“ rezipiert und selten bewusst reflektiert. Dennoch gelten Karten (bzw. Bilder) als vermeintlich „wahre“ und realitätsgetreue Abbildungen. Deren Produktions-, Distributions- und Rezeptionskontexte bleiben somit häufig unhinterfragt. Im Unterschied zu vielen anderen visuellen Materialien zeichnen sich Karten in erster Linie durch einen hohen Grad an Formalisierungen aus. Daher ist es wenig überraschend, dass sich der Großteil kartographischer Fachliteratur der „richtigen“ und „objektiven“ Erfassung und Darstellung eines Raumausschnittes widmet. Hier wird die Verwendung von „intuitiv verständlichen Symbolen und Schraffuren“ sowie Farben empfohlen, bspw. Blautöne für Meere(-stiefenzonen) und Grüntöne für Waldgebiete sowie „eindeutige“ bildhafte und geometrische Formen für Siedlungsstrukturen und Verkehrswege etc. (vgl. z. B. Kohlstock 2004, insbesondere Kap. 4 und 6). Es wird also ein vermeintlich objektives und eindeutiges Zeichensystem zur Darstellung der Erdoberfläche konstruiert. Die Regeln und Konventionen zur Produktion und Rezeption von Karten sind jedoch Teil eines kontingenten gesellschaftlichen Wissenskorpus – dass der Nordpfeil auf den Karten nach oben zeigt bzw. der Nullmeridian durch Greenwich verläuft, sind keineswegs Naturgesetze, ebenso wenig dass Rot als Signalfarbe gilt. Diese Konventionen setzten sich bspw. erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch (vgl. Schneider 2005). Gerade die Festlegung des Nullmeridians zeigt das enge Verhältnis von Kartographie und Macht: Bevor das Royal Observatory der damaligen Weltmacht England zum kartographischen „Mittelpunkt“ der Welt wurde, verlief der symbolisch bedeutsame Nullmeridian bspw. auf spanischen Karten noch durch Madrid (vgl. Ambrós 1904), auf anderen Karten durch Paris oder Washington DC. Aber auch vermeintlich „natürliche Zeichen“ sind sozial produzierte Konventionen: Harley (2002a) weist zu Recht darauf hin, dass Wasser nur manchmal blau und der Boden nur unter bestimmten Klimabedingungen braun ist. Innerhalb dieser Konventionen – bzw. Mythen, verstanden im Sinne von Barthes als semiologisches System (Barthes 2003 [1957]) – prägen eine Vielzahl von technischen und inhaltlichen Entscheidungen das Kartenbild, so dass Karten eher als konventionalisiertes Zeichensystem bzw. 316

DISKURSIVITÄT VON KARTEN – KARTEN IM DISKURS

als Text zu verstehen sind denn als Abbild der Natur bzw. als „unangezweifelte, da wissenschaftliche“ Verbindung zwischen Realität und Repräsentation. Karten sind in die Macht-Wissens-Komplexe bestimmter Diskurse verstrickt (Crampton 2001) und dadurch aktiv an der Produktion und Rezeption von gesellschaftlichen Vorstellungswelten im Allgemeinen und von geographical imaginations im Besonderen beteiligt: Gesellschaftliche Machtverhältnisse schreiben sich zum einen in die Karten bzw. die Kartographie ein (durch die Auftraggeber von Karten, im Rahmen der Produktion), zum anderen wird mit Karten bzw. Kartographie Macht ausgeübt (die kartographische Darstellung beeinflusst die Interpretation von Karten und daraus resultierende räumliche Vorstellungen, z. B. der Grenzverläufe, der Bevölkerungszusammensetzung und -verteilungen nach sozialstatistischen Merkmalen, der Wirtschaftskraft u. v. a. m.). Beide Machtformen werden jedoch weder bewusst-intentional noch zentral-unidirektional ausgeübt, sondern als „schweigende Vermittlung“ (Harley 2002a: 166) zwischen den gesellschaftlichen Konventionen der Produktion und Rezeption von Repräsentationen. Aus diesem Blickwinkel gewinnt Karteninterpretation eine neue Bedeutung, denn „instead of focusing on how we can map the subject, […] [we should] focus on the ways in which mapping and the cartographic gaze have coded subjects and produced identities“ (Pickles zit. nach Crampton und Krygier 2006: 15). Zu dieser Art der Karteninterpretation bzw. -dekonstruktion gibt es keine universell anwendbare Methode. Je nach Forschungsfrage können eine Vielzahl von Elementen der Karte von Bedeutung bzw. von „Wert“ für die Interpretation sein (vgl. Pickles 1992; Henrikson 1999; Schneider 2006 und v. a. s. auch Kap. 7 in diesem Band): bspw. die Art der Projektion, die Art der Einteilung in Hemisphären, Formen der Orientierung und Vergrößerung bzw. Verkleinerung, der Maßstab, die Farbgebung, die Art der Hierarchien, die Auswahl von Kartenausschnitt und Kartenmitte, die Verwendung von Symbolen und dekorativen Elementen, die Auswahl von Ortsnamen und ihre Darstellung usw. Auch nicht dargestellte Elemente, so genannte cartographic silences, können in die Interpretation einbezogen werden. Grund für das Schweigen jeder Karte ist das Prinzip der Selektivität einerseits und der Generalisierung andererseits: Die Auswahl und die Hervorhebung bestimmter Elemente bedeutet gleichzeitig die Auslassung bzw. „Verdrängung“ anderer Elemente. Dieses „Schweigen“ kann z. B. technische Gründe haben (Andrews 2002), didaktisch begründet oder auch auf fehlendes geographisches Wissen zurückzuführen sein. Es kann aber auch Ausdruck

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von „Zensur, unbewußt-epistomologischem Schweigen oder eine Mischung von beidem“ (Harley 2002d: 105) sein. Im Folgenden schlagen wir zwei Wege des Umgangs mit Karten in diskurstheoretisch orientierten Untersuchungen vor, wobei diese als Pole eines Spektrums von Ansätzen gesehen werden müssen. Denn je nach Forschungsinteresse, Art der Karten und Verfügbarkeit von Informationen über den Kontext werden sehr individuelle Ansätze verfolgt werden müssen. Grundsätzlich kann jedoch zwischen zwei wesentlichen Betrachtungsweisen unterschieden werden: • Zum einen können einzelne Karten als Fragmente innerhalb von Diskursen verstanden werden, deren Aussagen mit semiotischen Mitteln interpretierbar sind. • Zum anderen kann die Kartographie selbst – oder ein Ausschnitt der Kartographie – als (Spezial-)Diskurs bzw. Teil eines Diskurses mit eigenen Regeln der (Bedeutungs-)Produktion verstanden werden, durch deren Analyse sich Rückschlüsse auf gesellschaftliche Wissensbestände, Kräfteverhältnisse, Wert-Vorstellungen usw. ziehen lassen.

Karten im Diskurs Karten können als Diskursfragmente, als Aussagen innerhalb eines bestimmten Diskurses betrachtet werden – eine Karte ist dann ein visueller Text, der dekonstruiert werden kann. Dekonstruktion bedeutet vor dem Hintergrund eines diskurstheoretischen Vorgehens, dass die vermeintlich unhintergehbare Verbindung zwischen Realität (Welt) und Repräsentation (Karte) aufgebrochen wird. Nach Harley (2002a: 153) kann man auch in Karten „zwischen den Zeilen lesen“, um nach alternativen Les- und Deutungsarten zu suchen. Schneider (2005) spricht in diesem Zusammenhang von Subtexten, die unter Berücksichtigung des Entstehungskontextes rekonstruierbar sind. Für eine derartige Dekonstruktion bzw. Interpretation des Kartenbilds schlagen wir drei Schritte vor: die Beschreibung der Karte, eine eng an der Beschreibung orientierte Interpretation sowie – um die Auswertung der Karte in eine Diskursanalyse einzubinden – in einem dritten Schritt die Analyse des Kontexts (je nach methodologischen Annahmen können dies z. B. die Produktionsbedingungen, die Rezeptionsergebnisse, die Zuordnung der Karte zu einer Sprecherposition, die Anbindung der Karte an einen Diskursstrang etc. sein). Im Folgenden sollen diese drei Schritte an der Karte „Key Migrant Routes from Africa to Europe“ (vgl. Abbildung 15) exemplarisch erläutert werden.

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DISKURSIVITÄT VON KARTEN – KARTEN IM DISKURS

Beschreibung Genauso wie hier aufgrund des gestrafften Kapitelumfangs nur eine kurze Kartenbeschreibung möglich ist, wird die Beschreibung einzelner Karten in der Darstellung von Forschungsergebnissen wahrscheinlich nur einen kleinen Raum einnehmen. Trotzdem ist die detaillierte Beschreibung der Karte unerlässliche Grundlage der Interpretation. Wichtig sind insbesondere die Reflektion der Abstraktionsebene, auf der gearbeitet wird, sowie die Abgrenzung zur bzw. die Reflektion der Interpretationen, die bereits als Teile der Beschreibung vorzufinden sind. Abbildung 15: Key Migrant Routes from Africa to Europe

Quelle: BBC-News 2007: http:/news.bbc.co.uk/2/hi/europe/6228236.stm (abgerufen am 21.5.2008) Die Karte mit dem Titel „Key Migrant Routes from Africa to Europe“ zeigt einen Ausschnitt Nord-, West- und Zentralafrikas, Südeuropas und des Nahen Ostens. Eine kleine Karte in der linken oberen Ecke setzt diesen Ausschnitt in einen größeren räumlichen Kontext. Die Hauptkarte wird durch blaue Einfärbungen einerseits und graue sowie verschiedene braune Einfärbungen andererseits in Meer und Festland untergliedert. Der weiteren Orientierung dienen die für das Festland weiß eingezeichneten Staatsgrenzen. In der Legende wird die dunkelbraune Farbgebung mit den Ausmaßen der Wüste Sahara erklärt, wohingegen die ockerbraune Einfärbung für viele weitere afrikanische Staaten/Regionen so319

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wie Spanien nicht erläutert wird und das verbindende Element dieser Länder ungeklärt bleibt. Die drei grün eingefärbten Ellipsen hingegen weist die Legende als die Operationsgebiete der „EU joint border patrols (Frontex)“ aus. Diese befinden sich an den Kanarischen Inseln, in der Straße von Gibraltar einschließlich Ceuta und Melilla sowie um das nordlibysche Bengazi herum. Rote Pfeile kennzeichnen auf der Karte Migrationsrouten. Dies ist in der Legende nicht erklärt, lässt sich aber über den Titel der Karte erschließen. Gleiches gilt für kleine weiße Quadrate mit schwarzem Rand, die sich in Verbindung mit dem Kartentitel sowie den roten Pfeilen als Stationen auf den Migrationswegen definieren lassen. Diese Stationen sind teilweise mit Städte-, bisweilen auch mit Staatsnamen versehen und teilweise durch Doppelpfeile mit den Herkunftsländern verbunden. Schon in diesem kurzen Ausschnitt der Beschreibung wird das Problem implizit verwendeter Kategorien und Interpretationen deutlich. Von der blauen Farbe auf Meer und aus dem Titel der Karte auf die Bedeutungen der afrikanischen Staaten sowie der roten Pfeile auf Herkunftsländer und Routen von afrikanischen Migranten zu schließen – all das sind bereits Interpretationen. Die Beschreibung verwendet „Nordafrika“, „Südeuropa“ und „Naher Osten“ als Kategorien. Je nach Untersuchungsziel sind es aber gerade diese „selbstverständlichen“ Bedeutungen und Kategorien, die dekonstruiert werden sollen.

Interpretation bzw. Dekonstruktion Genauso wie die Beschreibung, so können auch Interpretation und Dekonstruktion nicht allein auf der Basis der Informationen aus/in der Karte erfolgen. In diesen Schritt fließt das Kontextwissen des Interpretierenden ein. Dieses sollte ebenso wie im ersten Schritt kritisch hinterfragt oder durch Beobachtungen der Wissenschaftler_in selber oder Verweise auf andere Autor_innen gestärkt werden. Im hier vorliegenden Beitrag sollen aufgrund der Kürze nur ausgewählte Beispiele möglicher Richtungen von Interpretationen skizziert werden: • Akzeptiert man die oben bereits angesprochene Auslegung der roten Pfeile als Hauptmigrationsrouten afrikanischer Migranten nach Europa, so scheint der Niger – bzw. die nigrianische Stadt Agadez – einen zentralen Durchgangsort für zentral- wie westafrikanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden darzustellen. Dabei bleibt zum einen ungeklärt bzw. unhinterfragt, auf welchen Datengrundlagen solche Routen erfasst werden (können). Zum anderen wird mit dieser Darstellung eine Sicherheit/Zuverlässigkeit über die Wege klandestiner Migration suggeriert. 320

DISKURSIVITÄT VON KARTEN – KARTEN IM DISKURS











Die Route durch die Wüste lässt sich als unvorstellbar mühsamer Weg auslegen, der neben der Länge der Wegstrecke vor allem durch die unwirtlichen klimatischen und naturräumlichen Bedingungen erschwert wird. Zugleich lässt die Karte aber durchaus auch den Eindruck entstehen, es handele sich bei den durch rote Pfeile gekennzeichneten Migrationsrouten quasi um Hauptverkehrsstraßen, deren Bereisung mühelos zu bewältigen sei und auf denen die Orientierung und das Überleben auf vielen Tausend Kilometern leicht fällt. Hinsichtlich der „Eintrittsorte in die EU“ sind auf der Karte nur die Kanarischen Inseln, die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko sowie Malta gekennzeichnet – es stellt sich die Frage, warum die südlichen Küstenregionen Griechenlands und Italiens sowie die dazugehörigen Inseln hier weder als farbliche Markierung (wie das Ockerbraun Spaniens) oder als weiße Quadratsignatur als Stationen auf den Migrationswegen einbezogen bzw. hervorgehoben worden sind. Ähnlich gelagert wäre die Frage (als Teil der Interpretation), warum um die Inselgruppe Malta – und damit den auf der Karte zentralen Eintrittsort in die EU – keine FRONTEX-Grenzschutz-Patrouillen stationiert sind. Schließlich fällt auf, dass auf der Karte alle Staatsnamen in Großbuchstaben und alle Ortsnamen nur mir großem Anfangsbuchstaben geschrieben sind – bis auf die Kanarischen Inseln und Westsahara, die ebenfalls in Großbuchstaben notiert sind, obwohl sie (momentan) keine formal unabhängigen Staaten darstellen. Neben diesen (natur-)geographischen, sozialen und politischen Interpretationsansätzen sei schließlich auch noch auf eine „technische“ Form hingewiesen, nämlich die Tatsache, dass die roten Pfeile, die die Routen der Migranten darstellen, und die grünen Zonen, in denen die FRONTEX patrouilliert, auf dem Komplementärverhältnis „Rot/Grün“ basieren, das mit den Gegensatzpaaren gefährlich-sicher (Ampel) oder auch Vorsicht/Entspannung assoziiert werden kann.

Einbinden in den diskursiven Kontext Die Aussagen, die im Rahmen einer „kritischen Karteninterpretation bzw. -dekonstruktion“ gewonnen wurden, können – je nach Ziel der Diskursanalyse – in Zusammenhang mit textlichen Aussagen im engeren bis weiteren Kontext der Karte und/oder der Herausgeber(-institution) der Karte gebracht werden. Im vorliegenden Beispiel fällt auf, dass die BBC die Karte der EU-Grenzschutz-Agentur FRONTEX auf seinem Internetauftritt kommentarlos übernimmt und somit visuelle Aussagen die321

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ser EU-Behörde zur Migration und auch die tendenziell positive Selbstdarstellung (unkritisch) reproduziert. Grund hierfür könnte bspw. die institutionelle Nähe beider Organisationen sein – die BBC ist das „öffentlich-rechtliche“ Medium Großbritanniens, die FRONTEX ist eine EUBehörde.

Kartographie als Diskurs Neben der Betrachtung von Karten als einzelne Diskursfragmente verspricht noch ein anderes methodisches Vorgehen interessante Ergebnisse: „[I]t is possible to view cartography as a discourse – a system which provides a set of rules for the representation of knowledge embodied in the images we define as maps and atlases.“ (Harley 2002a: 164) Die Kartographie selbst ist eine tradierte Praxis, in der die Dichotomie zwischen eingeschriebener Macht und Zirkulation von Bedeutung deutlich wird (vgl. Nohr 2002). Schon der oben beschriebene Ansatz kommt nicht ohne Berücksichtigung der Produktionsbedingungen und des gesellschaftlichen Kontextes aus. Die zweite von uns vorgeschlagene Möglichkeit des Vorgehens rückt die Kartographie in ihrer Gesamtheit ins Zentrum der Analyse: Karten werden dann als Macht-WissensKomplexe i. S. v. Foucault (1971 [1966]; 1973 [1969]; 1991 [1971]) betrachtet. Dementsprechend tritt die Analyse des einzelnen Kartenbildes bei diesem Verfahren etwas zurück. Dieses Vorgehen soll hier nicht anhand eines ausführlichen Beispiels, sondern durch eine Rezeption einiger Arbeiten, die diesen Weg wählen, vorgestellt werden: Brian Harley, der als einer der Ersten versuchte, die Theorien Foucaults auf die Kartographie anzuwenden, beschäftigte sich vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen empirisch mit der historischen Kartographie, wobei er neben der Analyse von Kartenbildern auch deren Produktionsbedingungen zum jeweiligen Zeitpunkt mit einbezog. So konnte er bspw. aufzeigen, wie sich die Machtstrukturen des 18. Jahrhunderts in England auch in der Kartographie institutionalisierten und damit auch das Kartenbild beeinflussten (Harley 2002c) oder wie die Besiedlung Nordamerikas durch englische Siedler und die damit einhergehende Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner von einer kartographischen Landnahme begleitet wurde (Harley 2002b). Aber auch in Arbeiten zu aktuellen geopolitischen Konflikten um Territorialität ist die Analyse von Karten ein zentrales Instrument, denn: „Through maps and charts, through these graphic representations virtually alone, the earth and its regions have acquired the shapes by which we know them.“ (Henrikson 1999: 95)

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DISKURSIVITÄT VON KARTEN – KARTEN IM DISKURS

Untersucht man unterschiedliche Vorstellungen von Territorialität, sind insbesondere die Grenzziehungen von Interesse, so dass nur ein Element des Kartenbildes von Bedeutung für die Interpretation ist. Eine intensive Analyse aller zur Verfügung stehender Einzelkarten, die enorme Ressourcen binden würde, ist in diesem Rahmen nicht notwendig. Nachdem die territorialen Vorstellungen sowie die Methoden ihrer kartographischen Konstruktion offen gelegt wurden (z. B. (Nicht-)Verwendung administrativer Grenzen, historischer Grenzverläufe, ‚natürlicher‘ Grenzen), ist vor allem der Kontext der Karten von Interesse. Wo, wann und von wem werden welche Grenzen „verwendet“? Welche Quellen propagieren alternative räumliche Vorstellungen und mit welchen Institutionen sind diese verknüpft? Einen solchen Ansatz wählen bspw. Mansvelt Beck (2006) und Mose (2007) zur Analyse der territorialen Vorstellungen peripher-nationaler Bewegungen im spanischen Baskenland und in Katalonien sowie Strüver (2008a) zur Analyse der über Printmedien transportierten geopolitischen Flüchtlingsdiskurse im Mittelmeerraum. Ein anderes Vorgehen dieser Art der Analyse von Karten im Diskurs wäre die Suche nach „Regelmäßigkeiten“ in verschiedenen Karten zu einem Oberthema. So wurden bspw. im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Analyse geopolitischer Diskurse nach dem 11. September die in kartographischen Repräsentationen transportierten räumlichen Imaginationen im Zusammenhang mit dem „Krieg gegen den Terror“ anhand der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ herausgearbeitet (vgl. Reuber und Strüver 2007; Strüver 2008b): „Der Spiegel“ als das traditionell einflussreichste und größte „Kartenmedium“ in der deutschen Presselandschaft setzt durchgehend kartographische Repräsentationen ein, die auf der Identifizierung bzw. Abgrenzung von räumlichen Typisierungen über Personifizierungen beruhen und damit mit der Verbindung von Menschen- und Raumbildern arbeiten. Die darin enthaltenen polarisieren den Differenzierungen basieren – zusammengefasst – auf klassischen Dichotomien wie zivilisiert/radikal-fanatisch, technologisch/archaisch, menschlich/grausam, aktiv/passiv und friedlich/kriegerisch, aber auch auf grün versus rot eingefärbten Staaten, die die „gefährlichen“ islamischen Staaten von den „gemäßigten“ abgrenzen und einmal mehr an die oben angesprochenen dominanten Muster der Farbassoziation anschließen.

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JÖRG MOSE, ANKE STRÜVER

Schluss Karten sind weniger ein (Ab-)Bild der erdräumlichen denn der gesellschaftlichen Ordnung sowie der ihr zugrunde liegenden Werte, Normen und Machtverhältnisse. In der Hinterfragung der „Ordnung des kartographischen Diskurses“ (JM und AS in Anlehnung an Foucault 1991 [1971]) müssen daher die gesellschaftlichen Regeln, die bestimmte Aussagen zulassen und ordnen bzw. als „wahr“ oder „falsch“ klassifizieren, offen gelegt sowie um eine semiotische Analyse einzelner Karten erweitert werden. Denn: „[T]he omnipresence of power [is] in all knowledge, even though power is invisible or implied, including the particular knowledge encoded in maps and atlases“ (Harley 2002a: 152).

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UND

AU T O R E N

Bauriedl, Sybille ist promovierte Geographin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Politikwissenschaftliche Umweltforschung der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Dimensionen des Klimawandels, Stadtentwicklungsprozesse in Europa, raumstrukturierende Geschlechterverhältnisse und Intersektionalität. Belina, Bernd lehrt und forscht als Juniorprofessor am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt am Main. Er hat am Institut für Geographie der Universität Bremen promoviert und anschließend am Institut für Geographie der Universität Potsdam und am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig gearbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich historisch-materialistischer Politischer Geographie und Sozialgeographie. Dzudzek, Iris ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie an der Universität Münster. Thematische Schwerpunkte sind Neue Kulturgeographie und Politische Geographie. Felgenhauer, Tilo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Sozialgeographie an der Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf die sprachliche und symbolische Konstruktion räumlicher Wirklichkeiten und die Anwendung qualitativer Methoden auf sozialgeographische Fragestellungen. Empirische Untersuchungsfelder sind regionale Medien und regionenbezogener Konsum. Füller, Henning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg. Schwerpunkte seiner For327

HANDBUCH „DISKURS UND RAUM“

schung betreffen Fragen der Politischen Geographie, die Territorialisierung von Machtverhältnissen sowie die Präzisierung konzeptionelltheoretischer Analysewerkzeuge. In seiner Promotion hat er die Restrukturierung von Downtown Los Angeles mithilfe der Machttheorie Michel Foucaults untersucht. Gebhardt, Hans ist Lehrstuhlinhaber für Anthropogeographie an der Universität Heidelberg. Er lehrt und forscht zu Themen der geographischen Stadtforschung, der politischen Geographie und der Kulturgeographie. Regional arbeitet er im Vorderen Orient, in Südostasien und in Südwestdeutschland. Glasze, Georg ist Professor für Kulturgeographie am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen in der Politischen Geographie, der geographischen Stadtforschung und der interdisziplinären Diskursforschung. Husseini, Shadia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Politischer Geographie, Postcolonial Studies und Migrationsforschung. Sie arbeitet zurzeit zu geopolitischen Leitbildern in transnationalen arabischen Printmedien. Marquardt, Nadine arbeitet seit 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich von Sicherheitspolitik und Stadtentwicklung, Machttheorien und empirischer Sozialforschung. In ihrer empirischen Forschung versucht sie, sozialgeographische Stadtforschung mit poststrukturalistischen Gesellschaftstheorien zu verbinden. Mattissek, Annika ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut in Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Geographie, Stadtgeographie und interdisziplinären Diskursforschung. Aktuelle Forschungsprojekte befassen sich mit der Neoliberalisierung von Stadtpolitik und politischen Aspekten des globalen Klimawandels. Miggelbrink, Judith ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am LeibnizInstitut für Länderkunde in Leipzig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in den Praktiken der Raumproduktion. Zurzeit leitet sie eine Forschergruppe zur Außengrenze der EU und setzt sich mit Fragen machttechnologischer Raumproduktionen auseinander. 328

AUTORINNEN UND AUTOREN

Mose, Jörg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geowissenschaften der Universität Münster und promoviert dort am Institut für Geographie zu raumbezogener Identität in Spanien. Pütz, Robert lehrt und forscht seit 2004 als Professor für Humangeographie an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der sozial- und wirtschaftsgeographischen Metropolenforschung. Zuvor hat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität in Mainz promoviert und habilitiert und war Professor für Sozialgeographie an der Universität Osnabrück. Reuber, Paul ist Professor für Humangeographie am Institut für Geographie der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Geographie und der Neuen Kulturgeographie, wo er u. a. eine Reihe diskurstheoretisch angelegter Projekte zum Verhältnis von Sprache, Raum und Macht durchgeführt hat. Schirmel, Henning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der geographischen Stadtforschung und den Methoden der empirischen Sozialforschung. Schlottmann, Antje ist Juniorprofessorin für Geographie und ihre Didaktik am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt am Main. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die alltägliche sprachliche und bildliche Konstitution von raumbezogener Wirklichkeit in kommunikativer Praxis. Schreiber, Verena ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich von Stadtentwicklung und Sicherheitspolitik, Sozialgeographie und Methoden der empirischen Sozialforschung. Im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Präventionsbegriff (der Kommunalen Kriminalpolitik) und fragt aus einer Foucault’schen Perspektive nach dessen Auswirkungen auf das Zusammenleben von Menschen. Strüver, Anke ist zurzeit Vertretungsprofessorin für Allgemeine und Angewandte Anthropogeographie an der Universität Kassel. Ihre thematischen Schwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Raumtheorie, insbesondere im Bereich der Wechselbeziehungen zwischen Raum-, Identitäts- und Gesellschaftskonstitutionen. 329

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Wucherpfennig, Claudia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Universtität Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Natur/ Gesellschaft/Visualität, kritische Geographien der Kindheit und geographische Geschlechterforschung.

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INDEX

Althusser, Louis 28, 116, 139–141, 157, 162 Antagonismus 164, 166, 175, 311 Anthropomorphisierung 273 Äquivalenz, Äquivalenzkette, -beziehung 163–167, 173, 248, 253, 296, 303, 306–308 Archäologie 24, 37, 62–64, 158, 188, 205, 207 Argumentation, multiple 264 Argumentationsanalyse 48, 254, 261–263, 266, 268f., 273f., 274, 276f. Argumentationstheorie 261, 263, 265, 274f. Ausbeutungsverhältnis 130 Austin, John 24, 107–111, 116, 265 Barthes, Roland 23, 188, 237, 316 Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas 32 Biomacht 63, 71–74, 112 Butler, Judith 29, 46, 108–122 corpus based 234, 255 corpus driven 234, 243f., 248, 255 Critical discourse analysis 58 Critical Geopolitics 36, 59 cultural turn 20, 35, 42, 107, 110, 122 Deixis 273f., 283

Derrida, Jacques 25, 111, 116, 119, 144f., 157, 164 Dialektisches Verhältnis 131, 133–135, 142, 146, 186 Differenz 24, 120, 132, 137, 160, 164, 166, 168, 170, 222, 225, 241, 248, 306–308 Diskursive Formation 25, 65, 83, 85, 118, 131–144, 205–208, 225, 234, 261, 274 Dislokation 161, 166, 173, 215– 217, 297 Dispositiv 43, 65, 69, 87, 102, 183, 201 Dispositiv der Macht 43, 65, 102 Disziplin 75, 85, 88, 192, 201 Disziplinierung/Disziplinartechnologie 18, 66, 72, 74– 76, 78, 85, 88, 100, 194, 202, 221 Erzähltheorie (Kap. 14) Essentialismus/essenzielle Bedeutung 20, 27, 30, 129, 160, 164 Foucault, Michel 46f., 61–79, 83, 199–209, 220, 283 (Kap. 1–3, 5, 8) (French) Theory (Kap. 1)

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Führung (von Individuen)/ Selbst- vs. Fremdführung 18, 69, 74, 76, 88f., 93, 141f., 201 Genderforschung/feministische Ansätze 26, 36, 42, 100, 112, 122, 167 Genealogie 37, 62, 74, 97, 138, 145, 188 Genre 238f., 255, 298, 302 Geschlechtsidentität 111–113 Gesellschaftliche Raumproduktion (Kap. 5) Gouvernementalität 29, 45, 63, 72, 74, 83f., 87–107, 135, 141, 201, 209 Governmentality Studies 84, 94 Gramsci, Antonio 135, 139, 159f. Graphem 255 Grounded Theory 294, 299 Handlungstheorie 20, 36, 41, 99, 187 Harley, Brian 316, 318, 322 Hegemonie 9, 31, 46f., 67, 73, 139–141, 143, 153, 155f., 159f., 170, 305 (Kap. 6) Hermeneutik 63, 188, 190, 237 Identität 11, 15, 28–30, 32, 35, 42–44, 46, 61, 70, 75, 79, 83, 85, 90, 109, 111–116, 118, 121, 153–157, 159, 161–166, 168–172, 175, 216f., 225, 253, 261, 283, 289, 294, 300– 302, 305–307, 309f. (Kap. 1, 3, 6) Identitätskonstitution (Kap. 1, 3, 6) Ideologiekritik 31, 46, 129, 137f., 146 Illokutionärer Akt 110 Imagined Community/ vorgestellte Gemeinschaft 137 (Kap. 5, 6) Inferenz 275 Karte 26, 38, 43, 48, 174, 185, 315–324

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Klassenreduktionismus (Kap. 6) Kodierung 48, 234, 236, 239, 294, 296, 300, 308 Kollektive Identität 156, 301 Kollokation 245, 255 Konkordanz 240, 242, 250f., 256 Konnotation (Kap. 1), 220, 289 Konstitution von Subjekten (Kap. 1, 3, 6) Konstitutives Außen 29, 98, 164–167, 173, 204, 206, 207, 215, 248, 273, 284, 305 Kontext, diskursiver 19, 32, 61, 115, 117, 171, 256, 283f. Kontingenz 12, 44, 46, 132, 153, 164, 194, 236 Kookkurrenz 240, 245–247, 251, 253–255, 297 Körper/Körperlichkeit 11, 26, 36, 61, 69–79, 88, 90, 100, 110– 122, 142, 201, 222, 273 Kritische Diskursanalyse 46, 129–147 Kritischer Rationalismus 20, 38 Lacan, Jacques 163–165 Laclau, Ernesto 46f., 153–175, 213–217, 293, 295, 297, 305 Leerer Signifikant 165–167, 170, 173, 305f. Lemmatisierung 240, 252, 255 Lexem 240–242, 251, 254f. Lexikometrie 233f., 236f., 253– 255 linguistic turn 35, 46 Macht/Machtverhältnis/ soziales Machtverhältnis 17, 29, 39f., 44f., 61–78, 85, 96, 99–101, 132, 134, 138f., 142– 144, 146, 153, 155–157, 199, 201, 205f. 209, 222, 265, 273, 317, 324 Machtinstitution (Kap. 2) Machttechnik 71–73, 88, 94, 96, 99f. Macht-Wissen-Komplex 72, 89, 183, 226f., 317, 322 Mangel 164, 181

INDEX

Marx, Karl 129, 135–138 Materialität der Form 280 Mikrophysik der Macht 63, 72, 85f., 97 Modernes Subjekt 62, 70, 89 Mouffe, Chantal 153–175, 305 Narratologie (Kap. 14) Neomarxismus 28, 31, 40f., 43, 129, 135–138, 155 Neue Kulturgeographie 34, 122, 261 New cultural geography (Kap. 1) N-Gramm 240, 245, 250f., 254, 256 Normativität 168 Normierung 77, 88, 111, 220– 222 Okkurrenz 243, 251, 256 Ökonomie praktischer Ortsgebundenheit 47, 199– 204 Ökonomischer Determinismus 155, 160, 162 Panopticon/Panoptikum 85, 88, 201 Partikularinteresse 165–167, 222 performative turn 107 Performativität 45, 72, 107, 110– 112, 117–122 Perlokutionärer Akt 110 Politische Geographie 9, 16, 36, 261 Polyphonie 282, 286 Postkolonialismus/postkolonialistische Ansätze 27, 29, 44, 241 Poststrukturalismus 25–27, 35, 62, 146, 234, 279 Pragmatik 23–25, 181, 276 Praktische Ortsbindung (Kap. 8) Präsupposition 24, 263, 282 Produktive Macht 12, 66f., 73, 85, 96, 116, 225 Qualitative Inhaltsanalyse 274, 293f., 300, 302

Qualitative Sozialforschung 38 Quantitative Inhaltsanalyse 234, 236f. Radical Geography 40, 43 Radikale Demokratie 168f., 174, 215f. Rationalität(-en) 26, 64, 86–89, 94, 96, 99, 101f., 133, 142, 265 Raum, politisches Konzept von Laclau 213–217 Raum, relational-abstrakter 200, 205, 221, 224f., 228 Raum, topologischer 208f., 217 Raumbegriff der praktischen Ortsbindung (Kap. 8) Raumbezogene Identitätskonstruktion 44, 79, 118, 121, 170, 217, 306 (Kap. 5) Regierung/Regierungsweise 18, 45, 69, 83, 86–97, 102, 136, 139, 141f., 221 Relationalität 20, 22, 204 Re-Materialisierung/ Materialität 46, 107 Repräsentationsmodell 20, 26, 236 representational turn 107 Repressive Macht 12, 66f. Responsibilisierung 92f. Rhetorik 261, 263, 264 Risiko/Risiko-Konstruktion 92, 102, 216, 236, 240, 304 Saussure, Ferdinand de 21–23, 116, 233, 247 Searle, John 265 Sedimentierung 157, 173f., 169 Semantik 24, 41 Semiotik 23, 188 Sicherheit/Sicherheitsdispositiv 19, 87, 141, 201, 320 Souveränität 88, 119, 201 Soziale Praxis/ Praktik (Kap. 2, 4, 5) Spatial Science 43

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spatial turn 7, 14, 39, 199, 219, 225, 228 Sprachgebrauch als soziale Praxis 146 Sprachspiel 265 Sprechakttheorie 23–25, 108– 111, 116 Strukturalismus 20–22, 25f., 62, 97, 200, 234 Subjektivierungsweise 94 Subjektposition 28f., 71, 100, 162f., 183 Subversion 111, 114 Syllogismus 264 Technologie des Selbst 29, 74, 76, 78, 85, 99 Technologie/Technik des Regierens 38f., 86, 91f., 100f. Territorialisierung 15f., 47, 202, 328

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Textkorpus, geschlossen (Kap. 11) Textkorpus, offen (Kap. 14) Topik 263 Toulmin, Stephen 265–267 Überdeterminierung 28f., 157f., 280 Universalismus 27 Vernunftsubjekt/modernes Subjekt 26, 70, 113, 276 Vorkonstrukt 282, 284f. Widerstand 66–69, 71, 90, 96– 98, 100, 114, 118f., 222 Wissenssoziologie 32 Zeichen, natürliches 316 Zeichensystem, konventionalisiertes 247, 254, 315f. Žižek, Slavoi 163f.

Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen September 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse 2008, 180 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-818-6

Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft 2008, 514 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-829-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-08-20 13-56-33 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02ea218670096326|(S.

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Sozialtheorie Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität Dezember 2009, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie 2008, 358 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-917-6

Gabriele Winker, Nina Degele Intersektionalität Zur Analyse sozialer Ungleichheiten Juni 2009, 166 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1149-6

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Sozialtheorie Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten 2008, 238 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1000-0

Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Über Kultur Theorie und Praxis der Kulturreflexion

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (2. unveränderte Auflage 2009) 2008, 460 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-683-0

Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.) Die Architektur der Gesellschaft Theorien für die Architektursoziologie Mai 2009, 424 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1137-3

Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven

2008, 278 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-965-7

2008, 192 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-874-2

Gregor Bongaerts Verdrängungen des Ökonomischen Bourdieus Theorie der Moderne

Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht

2008, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-934-3

Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Oktober 2009, ca. 450 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

2008, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-830-8

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Avantgarden und Politik Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne August 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1167-0

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Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Oktober 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert November 2009, ca. 290 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5

Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault 2008, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-631-1

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