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German Pages 158 Year 2017
Stephan Günzel Raum
Edition Kulturwissenschaft | Band 143
Stephan Günzel (Dr. phil. habil.), geb. 1971, ist Professor für Medientheorie an der Berliner University of Applied Sciences Europe und seit 2016 Leiter des Instituts für gestalterisches Forschen. Als Gastprofessor für Kulturtheorie und Raumwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Trier sowie in zahlreichen Veröffentlichungen hat er die Facetten der interdisziplinären Raumdebatte untersucht und deren Grundlagen in Sammelbänden und Lexika zusammengetragen. Seine Lehrgebiete umfassen u.a. Game Design, Medientheorie, Bildgeschichte und Philosophie.
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung
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Inhalt Einleitung | 7 1. Gründe für die Wende zum Raum | 9 2. Raumrevolutionen | 14 3. Medienkulturgeschichte des Raums | 18
I. Antinomien des Raums | 25 1. Verschwinden vs. Erstarken | 26 2. Determinismus vs. Possibilismus | 35 3. Raum vs. Ort | 45 4. Die Schachtel als Denkhindernis | 60 5. Überwindungsversuche | 69
II. Produktion des Raums | 75 1. Dialektik des Drittraums | 76 2. Repräsentationsräume | 81 3. Mächtigkeit | 85 4. Ortskonzepte | 89 5. Heterotopologie | 97
III. Wenden zum Raum | 107 1. Frühe Kehren | 107 2. Spatial, Topographical und Topological Turn | 110 3. Relationales Raumverständnis | 116 4. Topologie als Methode | 123 5. Topo-Logik | 133
Nachbemerkung | 141 Auswahlbibliographie | 143 Personenregister | 151 Abbildungsverzeichnis | 155
Einleitung
Die Wende zum Raum ist kein bloß akademisches Unterfangen, sondern geht auf eine grundlegende Veränderung der Lebenswelt zurück, die von Theorien reflektiert wird. Dass diese Wende erfolgt, lässt sich an ganz banalen Dingen ablesen: So gibt es kaum eine Mittelstadt, die nicht einen ›Kunstraum‹ aufweisen kann. Bis vor einigen Jahren hießen solche Einrichtungen noch ›freies Museum‹. Heute hingegen scheint es wichtig geworden zu sein, dass auf das Vorhandensein eines Raums hingewiesen wird, in dem Kunst ausgestellt oder verkauft wird. Auch in der Szene kunstnaher Startups werden in gleicher Weise Büros oder Dienstleistungsstellen benannt und diese dann etwa als ›Freiraum‹, ›Raum für Fotografie‹ oder ›Farbraum‹ bezeichnet. Diese Raumkennzeichnung kann besondere Blüten treiben, wie etwa die Namensgebungen ›Raum für Persönlichkeit‹ (Immobilienmakler), ›Atemraum‹ (Meditationseinrichtung) oder ›Bauchraum‹ (Hebammenpraxis) deutlich machen. Seit 1984 das Modell Espace von Renault auf dem Markt ist, heißen sogar Automobile ›Raum‹. Die unmittelbaren Gründe für die Namensgebung waren vielfältig: Zum einen besitzt das Auto ein für die Zeit futuristisches – an die Weltraumfahrt gemahnendes – Design, zum anderen geben die großen Scheiben den Blick auf den Außenraum frei, der mit dem Vehikel privat nun so ›erfahren‹ werden kann, wie zuvor mit einem Bus oder der Eisenbahn. Mittlerweile ist aber vor allem eine dritte Bedeutung in den Vordergrund gerückt, was sich etwa an der Namensgebung Roomster für ein Kombimodell von Škoda oder ›Space Box‹ für den C3 Picasso von Citroën und den zugehörigen Claim »Besser kann man Raum nicht nutzen« zeigt: die Betonung der Ladekapazität. Just zwei Jahre bevor das erste französische Raummobil angeboten wird, kommt es zur Taufe eines weiteren Raums, in dem sich zunächst vor allem Jugendliche in den Vereinigten Staaten und Japan bewegen: dem ›Cyberspace‹. Das Wort ist eine Kreation des Science-Fiction-Autors William Gibson, der das Kunstwort des ›Steuerungsraums‹ (von gr. kybernesis für die nautische ›Steuerung‹) erstmals 1982 in seiner Kurzgeschichte Burning Chrome erwähnt. Den Ausdruck, welcher im folgenden Jahrzehnt vor allem als begriffliche Annäherung an das noch nicht gänzlich verstandene, 1991 für die Öffentlichkeit freige-
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gebene Internetsystem des ›weltweiten Netzes‹ verwendet wird, kreiert Gibson angesichts der Videoautomaten in den Arcades.1 In diesen selbst dunkel gehaltenen Spielhallen steht die erste Generation digitaler »Eingeborene[r]«2 (engl. digital natives) vor den Bildschirmen und steuert immaterielle Vehikel durch den schwarzen Raum einer endlosen Nacht: So liegt 1980 prominent mit der Panzersimulation Battlezone (Abb. 1) von Atari eine frühe ›virtuelle Realität‹ vor, die Raum perspektivisch in Echtzeit darstellt und die Betrachter durch Abschirmung äußerer visueller Stimuli in eine ›andere Welt‹ eintauchen lässt. Fortan sind Computerspiele nicht nur paradigmatisch für das Verständnis ›neuer Medien‹, sondern definieren diese grundlegend durch ihre Räumlichkeit.3 Abb. 1: »Battlezone«
In Ermangelung eines farbigen Hintergrunds sind viele der frühen Videospiele selbstläufig im Weltraum angesiedelt und heißen bereits in den 1960er und 1970er Jahren Space War, Computer Space oder Space Invaders.4 Ihre Ästhetik wird in Filmen wie dem aus dem ›Cyberspace-Jahr‹ 1982 stammenden Tron aufgegriffen, in dem ein Computernutzer in den dunklen, nur von neonfarbenen Linien markierten Raum einer digitalen Welt – im wörtlichen Sinne – hinein1 | Vgl. David Wallace-Wells: »William Gibson Interviewed«, in: The Paris Review 197 (2011), www.theparisreview.org/interviews/6089/the-art-of-fiction-no-211-william-gibson. 2 | John Perry Barlow: »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«, in: Karin Bruns/ Ramón Reichert (Hg.): Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld 2007, 138–140 [engl. 1996], hier 139. 3 | Vgl. Lev Manovich: »Navigable Space. Raumbewegung als kulturelle Form«, in: Hans Beller/Martin Emele/Michael Schuster (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes, Ostfildern 2000, 185–207 [engl. 1999]. 4 | Vgl. Espen Aarseth: »Allegorien des Raums. Räumlichkeit im Computerspiel«, in: Zeitschrift für Semiotik 23/3–4 (2001), 301–318 [engl. 1998].
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gezogen wird, um sich darin mit seinen Gegnern direkt zu messen. Computerspiele bieten der Öffentlichkeit damit einen ersatzweisen Zugang zu den damals nur wenigen Menschen vorbehaltenen Raumsimulationen der Forschungsinstitute:5 Wie etwa das schon 1968 von dem Elektrotechniker Ivan Sutherland am Massachusetts Institute of Technology konstruierte Videobrillensystem The Sword of Damocles, mit dessen Hilfe den physischen Raum überlagernde, stereographische Drahtgittermodelle gesehen werden können. (Wobei es freilich kein Zufall ist, dass Sutherlands Erfindung in die von Drogenexperimenten geprägten Jahre der Hippiebewegung fällt, als die 1954 von Aldous Huxley in seinem Roman The Doors of Perception beschriebenen Pforten durchschritten werden …)
1. G ründe für die W ende zum R aum So divers und mithin amüsant die alltägliche Raumwende auch in Erscheinung treten mag, lässt es sich kaum abschätzen, wofür die genannten Beispiele Indizien sind: Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Raum ist die Folge einer fundamentalen Umwälzung, deren kulturelle Tragweite erst nach und nach abgeschätzt werden kann. Ihre Gründe sind dabei jedoch vielfältig und datieren keineswegs einheitlich: In den größeren Städten kann die Betonung des ›Raumseins‹ in erster Linie auf den Prozess der sogenannten Gentrifizierung zurückgeführt werden, das heißt, dem Vorgang einer ›Veradelung‹ (von engl. gentry für ›Adel‹) der zentralen oder attraktiven Wohngebiete unter Verdrängung alteingesessener Bewohner und dem Verschwinden öffentlicher, gemeinschaftsfördernder Funktionsräume. Der städtische Kunstraum ist eben nicht nur ein Ort, an dem Bilder ausgestellt werden, sondern auch ein Ort, an dem die Menschen sich begegnen und Kunstschaffende weitgehend auflagenfrei experimentieren können. Vorreiter sind seit den 1960er Jahren alternative Kunsträume in New York, die sich gegen den neutralisierenden ›White Cube‹ des modernen Museums richten,6 sowie die dortigen ›Off-Broadway‹-Spielstätten, welche sich von den teuren Theatern an der Hauptstraße in Manhattan absetzen und Vorbilder für Off-Theater weltweit sind. (Wie ein Vorgriff auf die Paradoxien im akademischen Raumdiskurs wirkt es hier, dass die Aufmerksamkeit auf den Ort der Theateraufführung von einer – gegenläufig zum Kunstraum erfolgenden – Entleerung der Bühne im modernen Theaterstück begleitet wird.7)
5 | Vgl. Howard Rheingold: Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek 1995 [engl. 1991]. 6 | Vgl. Brian O’Doherty: In der weißen Zelle, Berlin 1996 [engl. 1976]. 7 | Vgl. Peter Brook: Der leere Raum, Berlin 1983 [engl. 1968].
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In Deutschland ist das Reklamieren von (Frei-)Räumen für Kunst seit der Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre im besonderen Maße spürbar, da der in den ostdeutschen Städten zunächst vorhandene Freiraum in den zumeist verfallenen Innenstadtbereichen in den Folgejahren auf hohem Niveau renoviert wird.8 Neben den Altmietern verlieren so die nicht profitorientierten Künstler ihre Räume und werden im wörtlichen Sinne ›marginalisiert‹: Sie müssen an die Ränder der Städte ausweichen. Weniger ökonomisch, denn ökologisch ist ein anderer Grund der Wende zum Raum, der sich bis auf einzelne Fotografien verdichten lässt: die Blue Marble-Serie, deren bekannteste Aufnahme 1972 während der Raumfahrtmission von Apollo 17 entsteht und die Erde als eben diese ›blaue Murmel‹ vor dem schwarzen Hintergrund des Weltalls zeigt.9 Unfreiwillig trägt die NASA damit sowohl zum Erstarken der Friedens- und Umweltschutzbewegung bei, wie auch zur Konjunktur des bereits drei Jahrhunderte alten Konzepts der ›Nachhaltigkeit‹.10 Initiiert wurden die Erdaufnahmen durch eine Petition des Computerpioniers Stewart Brand, der das Subkulturjournal Whole Earth Catalog herausgibt. Deren erste Ausgabe vom Herbst 1968 zeigt auf der Titelseite bereits ein von einem Satelliten aufgenommenes Bild der Erde (Abb. 2).11 Was die Aufnahmen zum Ausdruck bringen, ist nicht nur die Einzigartigkeit des Planeten (wie dies auch die spätere Aufnahme Pale Blue Dot der Raumsonde Voyager 1 verdeutlicht, welche die Erde aus sechs Milliarden Kilometern zeigt), sondern sie machen auch die Begrenztheit des irdischen Raums deutlich: Selbst wenn die mehr als 500 Millionen Quadratkilometer nicht wenig Fläche sind, so sind davon nur 30 Prozent Landmasse, von der wiederum nur zehn Prozent agrarwirtschaftlich genutzt werden können, da gegenwärtig mehr als sieben Milliarden Menschen Platz zum Wohnen benötigen. Zudem ist die Schutzschicht der Atmosphäre, die auf den NASA-Bildern durch die Wolkenbildung Sichtbarkeit erlangt, eminent dünn und deren erdnaher Bereich wird mit dem strahlungsabweisenden Ozon zusehends durch chemische Substanzen der Industrieproduktion zersetzt. Jene Fotografie macht diese Umstände sinnlich begreif bar und kann gar anstelle der genannten Faktoren als Argument fungieren, das zu einer Anerkennung der Endlichkeit und damit
8 | Vgl. Andrej Holm: Die Restrukturierung des Raumes – Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin. Interessen und Machtverhältnisse, Bielefeld 2006. 9 | Vgl. eoimages.gsfc.nasa.gov/ve/12903/apollo17_earth.tiff. 10 | Vgl. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010. 11 | Vgl. Diedrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.): The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Berlin 2013.
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Abb. 2: »Whole Earth Catalog«
zu einer anderen Vorstellung von Raum führt.12 (Die bildlich ausgedrückte Bewusstseinsveränderung schlägt sich letztlich nieder in der Gründung des Expertenverbunds Club of Rome und der Veröffentlichung seiner ersten Studie über The Limits of Growth im Jahr 1972, mit der die Ressourcenverschwendung durch die Menschheit fortan nicht mehr geleugnet werden kann.) Ein weiterer Grund für die Hinwendung zum Raum kann erneut an der Wiedervereinigung Deutschlands festgemacht werden, deren Vorgeschichte heute selbst ›die Wende‹ genannt wird. Mit ihr geht die Rückkehr einer geopolitischen Sichtweise im Zuge der Beendigung des Kalten Krieges einher:13 Auf der einen Seite schafft sich die Sowjetunion Ende 1991 unter ihrem Staatspräsidenten Michail Gorbatschow ab, nachdem sich zuvor schon der Warschauer Pakt auflöste, in dem die Länder des ›Ostblocks‹ zusammengeschlossen waren. Allen voran durch die polnische Solidarność-Bewegung erstritten sich deren Staaten bereits seit Anfang der 1980er Jahre ihre Freiheit. Auf der anderen Seite haben die Mitglieder des Nordatlantikpakts unter ideologischer Führung der Vereinigten Staaten seit langem ein Interesse an einem Sieg über 12 | Vgl. Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000. 13 | Vgl. Yves Lacoste et al.: Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Wien 2001.
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die kommunistische Gegenseite, nachdem weder der Stellvertreterkrieg gegen Nordkorea noch derjenige gegen Nordvietnam gewonnen worden war. Geopolitisch bedeutsam sind am Umbruch in Europa jedoch weniger die Veränderungen Deutschlands, als das, was sich auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ereignet: Religiöse und ethnische Unterschiede, die zu Sowjetzeiten als irrelevant gelten, führten zu erbitterten Kämpfen unter der Bevölkerung, bis hin zum Genozid im Bosnienkrieg, als im Massaker von Srebrenica 8.000 sunnitische Bosniaken von christlich-orthodoxen Serben abgeschlachtet werden. In Folge dieses und anderer Ereignisse kommt Raum erneut als politischer zu Bewusstsein, der von den Kriegstreibern im direkten Verhältnis nicht allein zum Glauben, sondern darüber auch zu einem ›Volk‹ gesehen wird.14 Das Verhältnis kann die Behauptung eines ursprünglichen Anrechts auf das Gebiet sein; zumeist handelt es sich aber um ein strategisches Anliegen, den betreffenden Bereich ethnisch zu homogenisieren. Von daher wird der (akademischen) Wende zum Raum mitunter vorgeworfen, sie beflügele eine Rückkehr des ›Blut und Boden‹-Denkens, wie es von den Nazis im Zuge der Erweiterung des ›Lebensraums im Osten‹ durch das rassische Ansinnen propagiert wird, um Ackerland für ›Arier‹ außerhalb der Reichsgrenzen bereitzustellen. Im Raumdiskurs der 1990er Jahre geht so das Gespenst vom ›Volk ohne Raum‹ um. (Die Formulierung entstammt dem gleichnamigen Roman Hans Grimms von 1926, worin der Mangel an ›deutschem Raum‹ sowohl in der ›engen Heimat‹ als auch im ›fremden Raum‹ der Kolonialgebiete beklagt wird.) Die Reduktion der Raumdiskussion insgesamt auf »geopolitisches Tamtam«15 lässt die Debatte damit vor allem in Deutschland anfänglich suspekt erscheinen,16 auch weil mit einer Affirmation von Geopolitik offen kokettiert wird.17 Im Vergleich zur englischsprachigen Theoriebildung konzentriert sich die Diskussion daher zunächst darauf, überhaupt deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine bloße Rückkehr alter Denkweisen handelt, mit der die Sozial- und Kulturwissenschaften einem »Raumfetischismus« 18 anheimfallen 14 | Vgl. Steven W. Sowards: Moderne Geschichte des Balkans. Der Balkan im Zeitalter des Nationalismus, Seuzach 2005. 15 | Jürgen Habermas: »Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«, in: Rudolf Augstein (Hg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, 62–76, hier 75. 16 | Vgl. Werner Köster: Die Rede über den Raum. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002. 17 | Vgl. Rudolf Maresch/Niels Werber: »Die Permanenz des Raums«, in: Dies. (Hg.): Raum – Wissen – Macht, Frankfurt a. M. 2002, 7–30. 18 | Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte, Hamburg 2014 [frz. 1970], 169.
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und sich im ›Räumeln‹19 ergehen oder in die ›Raumfalle‹20 manövrieren würden. Über Gentrifizierung, Nachhaltigkeit und Geopolitik hinaus können als ein vierter Grund veränderte Kommunikationsstrukturen angeführt werden, die selbst auf den Vorgang der Digitalisierung – und damit dem Auftauchen des Cyberspace – beruhen:21 Es gibt in der Menschheitsgeschichte keine vergleichbare Veränderung der Lebenswirklichkeit. Allein die Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts, durch die der Verbrauch natürlicher Ressourcen exponentiell anstieg, steht in Konkurrenz dazu;22 oder mehr noch die Sesshaftwerdung des Menschen in der Steinzeit, wodurch Ackerbau und Viehzucht an die Stelle des Jagens und Sammelns treten und die Werkzeugherstellung durch das Schleifen von Steinen revolutioniert wird.23 In gewisser Weise führt die Digitalisierung also zurück in die Zeit des Übergangs zum Neolithikum, da das, was sich in archaischen Dörfern als Kommunikationsstrukturen herausbildete, nun auf dem gesamten Globus möglich wird: das gleichzeitige Beisammensein. Allerdings ist deren Nähe nicht mehr unmittelbar, wie diejenige derer, die sich um das gemeinsame Feuer scharten, sondern mittelbar, erwirkt durch Medien, welche die Sprech- und Hörfähigkeit des Menschen auf den Fernbereich erweitern. Vorboten aus dem Industriezeitalter sind der 1837 konstruierte Morsetelegraph sowie das Telefon, dessen elektroakustisches Grundprinzip im selben Jahr entdeckt wird. Die Fernsprech-Apparate überwinden als Medien der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht nur eine räumliche Distanz, sondern etablieren zugleich einen ihnen eigenen medialen Raum. Seine Besonderheit besteht darin, dass er – etwa in Form der Stimme des Anderen – zwar wahrnehmbar, nicht aber lokalisierbar ist. (Vergleichbar sind die Daten einer Website zwar auf jedem ›besuchenden‹ Rechner vorhanden, die Erfahrung der Nutzer ist aber die einer Bewegung 19 | Vgl. Peter Weichhart: »Vom ›Räumeln‹ in der Geographie und anderen Disziplinen«, in: Jörg Mayer (Hg.): Die aufgeräumte Welt. Raumbilder und Raumkonzepte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft, Rehburg-Loccum 1993, 225–239. 20 | Vgl. Roland Lippuner/Julia Lossau: »In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften«, in: Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld 2004, 47–64. 21 | Vgl. William J. Mitchell: City of Bits. Space, Place, and the Infobahn, Cambridge/ London 1995. 22 | Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 23 | Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M. 1988 [frz. 1964/65].
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›Wohin‹.24) Aus dieser ›Ortlosigkeit‹ erklärt sich die verbreitete Auffassung, dass technische Kommunikationssphären gar keine ›echten‹ Räume sind, sondern allenfalls diejenigen Orte Realität besitzen, an denen sich die (voneinander entfernten) Gesprächsteilnehmer auf halten. Doch auch wenn mediale Räume nicht immer im physischen Sinne real sind, ist die Wirkung der Digitalisierung dennoch erheblich: So sind die Sprechenden mit mobile phones nicht mehr länger darauf angewiesen, an einem Ort zu verharren, sondern können sich bewegen, ohne den – gegenüber dem physischen Raum nun wesentlich stabiler erscheinenden – Kommunikationsraum zu verlassen.25
2. R aumre volutionen All die genannten Gründe sind ausschlaggebend dafür, dass es eine Wende des akademischen Diskurses gibt, im Zuge dessen Raum als Thema, Kategorie oder Begriff relevant wird. Es ließe sich an dieser Stelle einwenden, dass die geschilderten Entwicklungen sich auch treffend als ›Globalisierung‹ bezeichnen lassen; und in der Tat hängt diese Veränderung mit der Raumwende insofern zusammen, als sie eine grundsätzliche Form von Raumveränderung ist: Wie schon die Etymologie (lat. globus für ›Kugel‹) deutlich macht, bedeutet Globalisierung die historische Hervorbringung einer Sphäre der sozialen und ökonomischen Beziehungen, die kein (irdisches) ›Außen‹ mehr hat.26 Obwohl ursprünglich ein durch Rudi Dutschke 1968 popularisierter,27 antikapitalistischer Kampf begriff, ist ›Globalisierung‹ (engl. globalisation) heute weitgehend wirtschaftsideologisch behaftet und wird ab den 1990er Jahren in der US-amerikanischen Außenpolitik anstelle des seit Ende des Ersten Weltkriegs gebräuchlichen, imperialistisch konnotierten Terminus ›New World Order‹ verwendet. Im Französischen wird das in Frage stehende Phänomen dagegen treffend als ›Verweltlichung‹ oder ›Mundanisierung‹ (frz. mondiali sation) bezeichnet,28 was den Prozess deutlicher in seiner Raumrelevanz fasst: 24 | Vgl. Boris Groys: »Die Topologie der Aura«, in: Ders.: Topologie der Kunst, München/Wien 2003, 33–46. 25 | Vgl. Regine Buschauer: Mobile Räume. Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation, Bielefeld 2010. 26 | Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./ New York 2002 [engl. 2000], 198–202. 27 | Vgl. Olaf Bach: Die Erfindung der Globalisierung. Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs, Frankfurt a. M./New York 2013, 72. 28 | Vgl. Stuart Elden: »Mondialisation before Globalization. Lefebvre and Axelos«, in: Kanishka Goonewardena et al.: Space, Difference, Everyday Life. Reading Henri Lefebvre, New York/London 2008, 80–93.
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Die Welt (frz. monde, von lat. mundus für ›Schmuck‹) ist nicht allein das physische Vorhandene, sondern die von Menschen erschlossene und ihnen gleichermaßen offenstehende Erde.29 Wohingegen der entsprechende griechische Terminus kosmos auch ›Ordnung‹ bedeuten kann, geht ›Welt‹ selbst auf das althochdeutsche weralt für ›Menschenalter‹ (von ahd. wer für ›Mensch‹) zurück und betont jene Bezogenheit ausdrücklich. Als Verweltlichung gedacht, ist Globalisierung damit nicht nur der Vorgang einer quantitativen ›Rundum‹Verbreitung von Waren und Informationen, sondern der qualitativen Veränderung von Welt, wie dies exemplarisch an der Etablierung des intimen Kommunikationsraums durch das Telefon deutlich wird. So gesehen ist Globalisierung kein Vorgang, der erst in Folge der Industrialisierung stattfindet, sondern der schon seit jeher stattfand.30 Verweltlichung muss dabei keineswegs auf Menschen beschränkt bleiben, sondern umfasst durchaus alle Lebewesen, die Raumwahrnehmung besitzen – vielleicht gar die Erde als geologische Entität selbst. In jedem Fall steht ›Revolution‹ emblematisch für diesen möglichen Zusammenhang: Wörtlich bezeichnet er nämlich die ›Umschwünge‹ der Planeten auf den Himmelsschalen oder -kreisen (lat. orbi). In diesem Sinne bezieht sich 1543 Nikolaus Kopernikus in De revolutio nibus orbium coelestium zunächst auf die Bewegung der Körper des Himmels (lat. caelum) um die Sonne.31 Zugleich aber bedeutet der damit erklärte Heliozentrismus auch eine Veränderung des Raumbewusstseins, insofern von nun an der bekannte Weltraum aus einem anderen Blickwinkel oder einer anderen Perspektive gesehen wird.32 Zuletzt werden von hier aus politische Umwälzungen als ›Revolutionen‹ bezeichnet, wobei sie sinngemäß eigentlich eine Rückkehr zum Ausgangspunkt bedeuten und nicht einen Umsturz, wie er sich mit der Französischen Revolution ereignet. Doch worauf sie auch abzielen mögen, politische Revolutionen sind ebenfalls weltverändernde Perspektivwechsel. Kulturgeschichtlich gelten als maßgebliche Globalisierungs- oder Verweltlichungsschritte aus europäischer Sicht die Etablierung von Handelsräumen zunächst in der Antike entlang der Mittelmeerküsten, sodann im Mittelalter auf dem eurasischen Kontinent, die im 16. Jahrhundert schließlich durch die Kolonialisierung Afrikas und Amerikas erstmals weltumspannend
29 | Vgl. Christian Bermes: Welt als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004. 30 | Vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005. 31 | Vgl. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975. 32 | Vgl. Thomas S. Kuhn: Die kopernikanische Revolution, Braunschweig/Wiesbaden 1981 [engl. 1957].
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werden.33 Im Zuge der Industrialisierung folgt darauf die Herausbildung des börsengestützten Weltmarktes, der in die Digitalisierung der Kommunikation einmündet und die umfassende Virtualisierung des Warentransfers mit sich bringt. Die Entwicklung erfolgt freilich nicht in allen Erdregionen auf die gleiche Weise: Aus chinesischer Sicht etwa ist der Kontakt mit Europa über das mongolische Herrschaftsgebiet im zwölften Jahrhundert sowie die Industrialisierung im 20. Jahrhundert entscheidend, für Ozeanien hingegen bereits steinzeitliche Wanderungsbewegungen nach Amerika. Gleichwohl sind all diese Verweltlichungsschritte Beispiele dafür, was mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt als ›Raumrevolutionen‹ bezeichnet werden kann, wenn dieser 1942 in seinem Band Land und Meer schreibt: »[D]ie geschichtlichen Kräfte und Mächte warten nicht auf die Wissenschaft, sowenig wie Christoph Columbus auf Kopernikus gewartet hat. Jedesmal wenn durch einen neuen Vorstoß geschichtliche Kräfte […] neue Länder und Meere in den Gesichtskreis des menschlichen Gesamtbewußtseins eintreten, ändern sich auch die Räume geschichtlicher Existenz. Dann entstehen neue Maßstäbe und Dimensionen der politisch-geschichtlichen Aktivität, neue Wissenschaften, neue Ordnungen, neues Leben neuer oder wiedergeborener Völker. Die Erweiterung kann so tief und überraschend sein, daß sich nicht nur die Maße und Maßstäbe, nicht nur der äußere Horizont der Menschen, sondern auch die Struktur des Raumbegriffes selber ändert. Dann kann man von einer Raumrevolution sprechen.« 34
Wenn die jüngste dieser Raumrevolutionen datiert werden müsste, dann lassen sich hierfür – zusammen mit der grenzüberschreitenden Wirkung des Nuklearunfalls im Lenin-Kraftwerk bei Prypiat am 26. April 1986 (Abb. 3) – ohne Zweifel die Anschläge vom 11. September 2001 anführen, mit denen nicht nur der Wilde Frieden des vorangegangenen Jahrzehnts endet, sondern in erster Linie die ökonomische und kommunikationstechnische Vernetzung der Welt als ›neuer Raum‹ zu Tage tritt. Selbst wenn es sich um die größte Zahl an Toten bei einem terroristischen Anschlag in der westlichen Welt und den ersten feindlichen Angriff auf das Gebiet der USA seit fast 200 Jahren handelt, ist in räumlicher Hinsicht weniger dieser Umstand entscheidend – und auch nicht der, dass das Ereignis nahezu auf der ganzen Erde in Echtzeit verfolgt wurde (das galt bereits für den Irakkrieg von 1990/91) –, sondern vielmehr, dass der Anschlag nahezu überall Folgen hatte: etwa in Form von Kursverlusten an den 33 | Vgl. Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem. Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986 [engl. 1974]. 34 | Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 3 1993 [1942], 56 f.
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Börsen, verschärfte Überwachung des öffentlichen und privaten Raums sowie eine Kaskade sich anschließender Konflikte. Gerade an letzteren zeigt sich, dass sie in einem anderen Raum stattfinden als die Kriege des vorherigen Jahrhunderts: Es gibt schlichtweg keine eindeutig identifizierbare Nation,35 welche für die Anschläge verantwortlich ist und deren Land zufolge einer territorialen Logik im Gegenzug angegriffen werden könnte. Stattdessen existieren nur Netzwerke von Terroristen, deren Finanziers in der ganzen Welt zu finden sind und die – wie zuletzt als ›Islamischer Staat‹ – allenfalls in den vakanten Räumen ehemaliger Nationalstaaten agieren. Abb. 3: »Tagesschau« vom 29. April 1986
Während die US-amerikanische Regierung erst nach dem Verlust vieler weiterer Menschenleben zu der Erkenntnis kommt, dass die Flugzeugattacken einem nicht eindeutig lokalisierbaren Gegner zuzuschreiben sind, diagnostizierte der französische Philosoph Jean Baudrillard bereits unmittelbar nach dem Einsturz der Zwillingstürme in dem seinerzeit stark polarisierenden Aufsatz L’esprit du terrorisme – sinnigerweise für die Zeitschrift Le Monde –, dass »es die Welt (frz. monde) selbst [ist], die sich der Globalisierung (frz. mondiali sation) widersetzt«.36 Baudrillard will damit darauf hinweisen, dass nicht eine bestimmte Nation angegriffen wurde, sondern das westliche, christlich-kapitalistische Weltsystem. Die Attentäter rechneten selbst nicht mit einer derart 35 | Vgl. Arjun Appadurai: »Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie«, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, 11–40 [engl. 1991]. 36 | Jean Baudrillard: »Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes«, in: Ders.: Der Geist des Terrorismus, Wien 2002, 11–35 [frz. 2001], hier 18.
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großen Zahl an Toten, sondern suchten sich in erster Linie ›repräsentative‹ Orte. (Baudrillards Lehrer Henri Lefebvre, der weiter unten ausführlich vorgestellt wird, nennt diese denn auch ›Repräsentationsräume‹.) Nach Baudrillard ist vor allem das World Trade Center in New York City für Terroristen eine »symbolische Herausforderung«,37 da es durch die Binarität der beiden Türme selbst die Funktionsweise des globalen Wirtschaftssystems im digitalen Zeitalter ausdrückt. Dieser Interpretation muss zwar nicht soweit gefolgt werden, dass zufolge der gängigen Opferlogik der Einsturz den Verlust der Attentäter überbietet (weshalb der Westen durch seinen hohen Verlust aus diesem ›Wettstreit‹ als ›Sieger‹ hervorgeht), Baudrillards Einwurf ergänzt jedoch die ›historisch-materialistische‹ Sichtweise Carl Schmitts.
3. M edienkulturgeschichte des R aums Eine Identifizierung von Orten, an denen im Zuge der Globalisierung Vernetzungen erfolgten, ist also nur eine Seite der Entwicklung. Mindestens ebenso wichtig sind die eigentlichen ›Raumrevolutionen‹ in Form veränderter Strukturen der Welterschließung, die (wie im Falle des Telefons) medien-, in anderen Fällen wissensbasiert zu einer Entstehung neuer Räumlichkeiten und Raumvorstellungen führt. Um einen ersten Bereich der Raumtheorie zu nennen, kann die Technikgeschichte angeführt werden, die ihren modernen Ursprung 1877 in Grundlinien einer Philosophie der Technik von Ernst Kapp hat: In dem Werk wird die Kulturentstehung aus dem Prinzip der von ihm sogenannten Organprojektion abgeleitet, wonach alle Technik letztlich auf nach außen verlagerte oder delegierte Funktionen der körpereigenen Organe (von gr. orga non für ›Werkzeug‹) zurückzuführen ist.38 Demnach wäre das Telefon ein technisch umgesetztes ›Ohrmund‹-Werkzeug, welches Hören und Sprechen strukturell im Außenraum implementiert. Das Eisenbahnsystem wiederum, an dessen Schienen entlang die Telegraphen- und Telefonleitungen verliefen, ist nach Kapp eine Projektion der Blutgefäße. Der kanadische Literaturkritiker Marshall McLuhan hat die These der Organprojektion dann (ohne Nennung Kapps) 1964 in seinem Hauptwerk Understanding Media aufgegriffen und zum Fundament der heutigen Medientheorie gemacht. Auch nach McLuhan sind die genannten ›Werkzeuge‹ – wie der Untertitel seines Buches sagt – ›Erweiterungen des Menschen‹ (engl. exten sions of man), die eine Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit und Informationsübertragung zur Folge hat, so dass es zur »Aufhebung (engl. annihilation) 37 | Ebd. 38 | Vgl. Harald Leinenbach: Die Körperlichkeit der Technik. Zur Organprojektionstheorie Ernst Kapps, Essen 1990.
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des Raumes«39 gekommen sei. McLuhan adaptiert damit eine These, die schon Karl Marx in seiner Kritik am ungezügelten Handel und globalen Geldtransfer mit Blick auf die sich dabei veränderten Kommunikationsbedingungen ein Jahrhundert zuvor formuliert: »Das Kapital treibt seiner Natur nach über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der physischen Bedingungen des Austauschs – von Kommunikations- und Transportmitteln – wird also für es in ganz anderem Maße zur Notwendigkeit – die Vernichtung des Raums durch die Zeit.«40 Die marxsche These erfährt bei McLuhan jedoch zwei entscheidende Abwandlungen: Zum einen besteht die vermeintliche Herrschaft der Zeit nur für eine bestimmte Epoche, die mit der Industrialisierung – deren Auswirkungen Marx beschreibt – gerade zum Ende kommt. Auf die Epoche der Zeit folgt sodann nach McLuhan die des »globalen Dorfes«41 (engl. global village). Mit diesem Arrangement kehrt der archaische Kommunikationsraum zurück, dessen Leitmedium zu Beginn der Sesshaftwerdung die menschliche Stimme ist. Der Raum der Stammesgesellschaft erscheint zufolge McLuhan daher ›rund‹ (oder in Gleichzeitigkeit), weil deren Klang sich in jede Richtung ausbreiten kann und konzentrische Konfigurationen (etwa die Zusammenkunft am Lagerfeuer) unterstützt, in denen der Blick schweifen kann. Sehstrukturen sind in diesem ›gyroskopischen‹ (von gr. gyros für ›Runde‹ und gr. skopein für ›betrachten‹) Raum analog dem Hören ausgerichtet. Zum anderen zeigt McLuhan, dass Zeit auch nur eine Form des Raums ist, wenn er hervorhebt, dass die Neuzeit als ein zunächst durch das Sehen konstituierter Raum zu begreifen ist, der entsprechend der Lage der Augen eine ausgezeichnete Richtung hat: das Vorn. Die Medien der von McLuhan nach dem Erfinder der beweglichen Lettern so bezeichneten Gutenberggalaxis sind die (Druck-)Schrift und das (Tafel-)Bild. Beide verlangen von den Rezipienten eine Ausrichtung des Blicks: In der Ordnung der Schrift ›liest‹ das Auge in horizontalen Zeilen und vertikalen Spalten. Am zentralperspektivischen Bild ›tastet‹ es ebenfalls die Erscheinungen in der Fläche ab, blickt durch die Fluchtpunktkonstruktion aber auch ›hinein‹ in die Tiefe. McLuhan unterläuft damit eine seit Gotthold Ephraim Lessings Aufsatz Über die Grenzen der Mahlerey und Po esie von 1766 bestehende Zuordnung der Ästhetik des Raums zur Kunst- oder Medienform des (flächigen) Bildes und der Zeit zu derjenigen des (linearen)
39 | Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel 1994 [engl. 1964], 150. 40 | Karl Marx: »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58)«, in: Ders./ Friedrich Engels: Werke, Bd. 42, Berlin 1983, 47–768 [1939–41], hier 430. 41 | Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typographischen Menschen, Hamburg 2011 [engl. 1962], 47.
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Textes.42 Gerade die linearperspektivische Darstellungsweise unterscheidet sich für McLuhan nicht grundsätzlich von der Form des geschriebenen oder gedruckten Wortes. Die eigentlich ästhetische Differenz besteht vielmehr in der Weise der durch Medien konstituierten Wahrnehmung (gr. aisthesis). Erst die gerichtete Struktur in der Welt des gutenbergschen Buchdrucks führt zu einer Vorstellung von Zeit, die nicht allein wie in der archaischen Welt zyklisch verläuft (etwa als wiederkehrende Jahreszeiten), sondern die nach vorn, aus der Vergangenheit kommend, in Richtung Zukunft verläuft. Hieraus folgt nichts Geringeres als die Vorstellung von Geschichte und hieraus selbst noch die Annahme einer Vernichtung des Raums durch die Zeit. So lässt sich zuletzt mit McLuhan gegen Marx sagen, dass in der elektronischen Epoche keine Vernichtung des Raums erfolgt, sondern eine tatsächliche Auf hebung. Die deutsche Übersetzung ist hier zutreffender als der englische Originaltext, da ›Aufhebung‹ nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel auch den Wortsinn der ›Bewahrung‹ haben kann.43 In der durch die visuelle Kultur ›vernichteten‹ oder negierten akustischen Struktur ist der archaische Raum ›bewahrt‹, so dass er nach dem Ende des visuellen Zeitalters zurückkommen kann. Er ist dann jedoch noch in einem dritten Sinne ›aufgehoben‹, als er auf einer neuen Stufe durch elektronische Medien weltweit wirksam ist.44 Wie McLuhan schreibt, kommt hierbei das Visuelle in Verschwisterung mit dem Auditiven: »Die visuelle Raumstruktur ist ein Artefakt der abendländischen Zivilisation, das aus der griechischen phonetischen Bildung entstanden ist. Es handelt sich um einen Raum, der dann von den Augen wahrgenommen wird, wenn diese von allen anderen Sinnen abgetrennt oder abgesondert worden sind. Als Konstruktion des Geistes (engl. mind) wird dieser Raum geschlossen und bruchlos wahrgenommen. Das bedeutet, daß er unendlich, teilbar, dehnbar und ohne besondere Merkmale ist. Die akustische Raumstruktur ist der natürliche Raum der unangetasteten Natur, die von nichtliteralisierten Menschen bewohnt wird. Sie entspricht dem ›inneren Ohr (engl. mind’s ear)‹ oder der akustischen Imaginationsfähigkeit, die das Denken von präliteralen und auch postliteralen Menschen beherrscht: Ein Rockvideoclip hat soviel akustische Kraft wie ein Watusi-Hochzeitstanz. Sie ist sowohl diskontinuierlich als auch nichthomogen. Die schwingenden und sich gegenseitig durchdringenden Prozesse sind simultan ineinanderverwoben, besitzen überall Mittelpunkte und nirgendwo Grenzen.« 45 42 | Vgl. Michaela Ott: »Raum«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 113–149. 43 | Vgl. Georg W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik I, Frankfurt a. M. 1986 [1812], 113 f. 44 | Vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. 45 | Marshall McLuhan/Bruce R. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, Paderborn 1995 [engl. 1989], 74.
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Mit dieser Feststellung wird nicht nur der leibhaft-sinnliche Zugang der Mediengeschichte zur Raumthematik deutlich, sondern auch, dass unterschiedliche Raumtheorien selbst wieder historisch rückgebunden sind an Praktiken oder Kulturtechniken. Demnach wäre es verfehlt, nach einer überhistorisch gültigen Theorie des Raums zu suchen. Ohne hier bereits detailliert auf naturwissenschaftliche Modellierungen von Raum einzugehen, zeigt sich an der Gegenüberstellung von »unendlich, teilbar, dehnbar und ohne besondere Merkmale« und »überall Mittelpunkte und nirgendwo Grenzen«, dass es sich um Merkmale physikalischer oder kosmologischer Raumtheorien handelt, deren Herkunft in McLuhans Metaraumtheorie medienästhetisch reflektiert werden. McLuhan kann uneingeschränkt das Verdienst einer Popularisierung der Verschränkung von Praxis, Medium und Theorie zugerechnet werden. Seine besondere Sichtweise ist jedoch seinem Kollegen an der Universität Toronto, dem Wirtschaftswissenschaftler Harold A. Innis zu verdanken, der 1951 mit The Bias of Communication seine Schrift über die ›Veranlagungen‹ oder ›Tendenzen‹ (engl. bias) der Kommunikation veröffentlichte. Das zentrale Kapitel darin widmet sich dem Raum. Innis bezieht sich seinerseits auf eine Arbeit des englischen Altphilologen Francis M. Cornford über The Invention of Space von 1936,46 worin dieser wiederum eine zwei Jahre zuvor getätigte Aussage des Vorsitzenden der Britischen Gesellschaft zur Beförderung der Wissenschaft, James H. Jeans, aus einer Rede über The New World-Picture of Modern Physics aufgreift: »Raum und Zeit sowie ihr raumzeitliches Produkt besitzen lediglich als Gedankengebäude Gültigkeit, das wir uns selbst geschaffen haben.«47 Jeans setzt in seinem Vortrag seinerseits den wohl enigmatischsten Satz der modernen Physik in Klammern, insofern der Mathematiker Hermann Minkowski keine drei Jahrzehnte zuvor, am 21. September 1908 in seiner Rede vor der Deutschen Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte in Köln verkündet: »Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.«48 – Minkowski legt damit den Grundstein für die Entwicklung der sieben Jahre später durch Albert Einstein vorgestellten Allgemeinen Relativitätstheorie:49 Ihr zufolge bilden Raum und Zeit ein Kontinuum (die sogenann46 | Vgl. Francis MacDonald Cornford: »The Invention of Space«, in: Milič Čapek (Hg.): The Concepts of Space and Time. Their Structure and Their Development, Dordrecht/ Boston 1976, 3–16 [1936]. 47 | James H. Jeans zit. n. Harold A. Innis: »Das Problem des Raumes«, in: Ders.: Kreuzwege der Kommunikation, Wien/New York 1997, 147–181 [engl. 1951], hier 147. 48 | Hermann Minkowski: »Raum und Zeit«, in: Ders.: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, Leipzig/Berlin 1911, 100–113 [1909], hier 100. 49 | Vgl. Hermann Weyl: Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über Allgemeine Relativitätstheorie, Berlin 51923 [1918].
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te Minkowski-Welt), innerhalb dessen sich keine absoluten Raumkoordinaten der Materie oder die Zeitpunkte ihrer Veränderung mehr angeben lassen, sondern nur noch ›Ereignisse‹ entlang einer vierdimensional bestimmten ›Weltlinie‹. Für Einstein folgt daraus, dass das, was einmal Raum genannt wurde, in Wirklichkeit ein gekrümmtes (Gravitations-)›Feld‹ ist. Während Jeans noch ganz abseits kulturhistorischer Überlegungen die Relativierung der Realität von Raum und Zeit durch die moderne Physik ins Auge fasst, gibt nun Cornford zu bedenken, dass der durch Minkowski und Einstein ins Wanken gebrachte Raumbegriff selbst eine historische ›Erfindung‹ ist und auf Euklid im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückgeht. Durch ihn wird Raum im wahrsten Sinne des Wortes ›konstruiert‹ – nämlich als Geometrie der Fläche. Deren Grundsätze sind nach Euklid dieselben wie diejenigen der Raum- oder Stereometrie (von gr. stereos für ›fest‹): »Ein Körper ist, was Länge, Breite und Tiefe hat. Eines Körpers Grenze ist Fläche.«50 – Mit McLuhan wäre Euklid demnach ein Bewohner des visuellen Raums, der den Raum sozusagen vor sich hingestellt und losgelöst von seiner sonstigen sinnlichen Erfahrung betrachtet, während er als akustischer »nirgendwo Grenzen« hätte. Doch was ist der Grund für die Einführung einer Flächengeometrie, die dieser besonderen Ästhetik eignet? – Sie selbst geht auf eine Praxis zurück, auf deren Techniken Innis fokussiert, wenn er den Ursprung von Euklids Ansatz in der ägyptischen Landvermessung sieht, die jedes Mal, nachdem der Nil über seine Ufer getreten war, die Neueinrichtung der (teils dreieckig gehaltenen) Feldgrenzen nötig macht, in deren Zuge dann auch der Pythagoras zugeschriebene Beweis des geometrischen Grundsatzes – ›Geo-Metrie‹ (von gr. ge für ›Erde‹ und gr. metron für ›Maß‹ oder ›Takt‹) bedeutet wörtlich ›Landvermessung‹ – Anwendung findet: Mit Pflöcken und einem Seil können die Flächen im rechtwinkligen Dreieck insofern bestimmt werden, als die Summe der Quadrate, die durch die beiden kürzeren Seiten bestimmt werden, gleich der Fläche des Quadrats ist, das durch die längste Seite bestimmt wird. Entscheidend ist dabei, dass betreffende Räume gar nicht algebraisch berechnet werden, um faktisch erfasst zu sein. Nach Innis und McLuhan ist die entscheidende Folge der Geometrie aber die Ablösung des Raumwissens von dieser -praxis und damit die langfristige Erhebung der Flächenkonzeption zu einer universellen Raumvorstellung: Diese geht schließlich mit der Herausbildung des Berufsstands der Philosophen einher, denen fortan die (doppelte) Aufgabe zukommt, sowohl das Wesen der Natur (gr. physis) zu ergründen als auch nach dem Vorbild der Geometrie metaphysische Urteile – ›über‹ die Natur – zu fällen. Allein dieser kurze Einblick in die Historisierung von Raumkonzeptionen im Zuge einer Betrachtung des Verweltlichungsprozesses zeigt, wie komplex das Thema Raum ist, welche Bezüge es zu bedenken gilt und auch, warum es 50 | Euklid: Elemente, Halle 51824, 315.
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sich unter gegenwärtigen Bedingungen weder durch einen einzelnen Ansatz ergründen noch auf ein einzelnes Konzept zurückführen lässt. Raum als Thema hat sich als Zuspitzung vieler Entwicklungen den historischen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften nahegelegt, die im Gegensatz zu mathematischen und Teilen der philosophischen Raumtheorie nicht auf der Suche nach einer Wahrheit des Raums sind,51 sondern Raum als Methode zur Analyse von kulturgeschichtlichen Problemstellungen verwenden.52 Deshalb ist Räumlichkeit auch die transdisziplinäre Thematik schlechthin53 und nicht bloß ein ›Gegenstand‹, der interdisziplinär bearbeitet werden kann.54 Die eingangs gewählte Formulierung einer »Raumwende des akademischen Diskurses« ist sodann auch mit Absicht gewählt, denn ›Raum‹ ist nicht nur ein Thema neben anderen im Diskurs der Kulturwissenschaften, die sich wahlweise auch dem ›Akustischen‹, dem ›Visuellen‹, dem ›Postkolonialen‹ oder dem ›Performativen‹ zuwenden,55 sondern mit dem Spatial Turn werden die Grundlagen des gegenwärtigen Denkens selbst thematisch. Dieser wird in der Folge als bloß ein Teil dessen erkennbar, was Henri Lefebvre die ›Produktion des Raums‹ nennt, und dem sich der Hauptteil der vorliegenden Einführung widmet. Vor der Darstellung von Lefebvres weitreichenden Raumreflexionen erfolgt zunächst eine Erörterung dreier Antinomien des Raumdiskurses, aus denen sich die Notwendigkeit einer synthetisch-produktiven Auffassung von Raum ergibt: ›Antinomien‹ sind sich ausschließende Grundannahmen, die sowohl Ausdruck der disziplinären Vielfalt sind als zugleich auch verhindern, dass die Raumdebatte zielführend erfolgt; eben weil ›Raum‹ Unterschiedliches bedeuten kann, ohne dass entscheidbar wäre, welche Bedeutung die ›richtige‹ ist. Das zeigte sich bereits an den vier außerakademischen Gründen der Raumwende: Raum kann sich auf den immateriellen Bereich des Kommunikationserlebens ebenso beziehen wie auf ein politisch reklamiertes Gebiet, so dass Geopolitiker mit ›Raum‹ etwas anderes assoziieren als Medienhistoriker. Dennoch sind beide Räume real: nur ist der eine physisch, der andere virtuell. 51 | Vgl. Dieter Läpple: »Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept«, in: Hartmut Häußermann et al.: Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, 157–207, hier 164. 52 | Vgl. Gabriele Sturm: Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften, Opladen 2000. 53 | Vgl. Stephan Günzel: »Space and Cultural Geography«, in: Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.): Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin/Boston 2012, 307–320. 54 | Vgl. Barney Wharf/Santa Arias (Hg.): The Spatial Turn. Interdisciplinary Perspectives, London/New York 2009. 55 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 52014.
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Die drei Antinomien, an denen die Verwerfungslinien im Raumdiskurs deutlich werden, sind zum ersten die Behauptung eines Verschwindens von Raum im Gegensatz zu dessen Erstarken, zweitens die deterministische im Gegensatz zur possibilistischen Raumauffassung, und drittens der Gegensatz von ›Raum‹ und ›Ort‹. Wie es auch mehr als vier Gründe für die gegenwärtige Wende zum Raum gibt, so gibt es auch mehr als drei Antinomien, aber diese sind die markantesten und letztlich auch diejenigen, die eng miteinander verbunden sind: So geht die Annahme eines Verschwindens von Raum oftmals einher mit einer deterministischen Sichtweise und der Aufwertung des Ortsbegriffs – und umgekehrt geht die Annahme eines Erstarkens von Raum mit einer possibilistischen Sichtweise und einer Ablehnung des Ortsbegriffs einher. Zudem gibt es jeweils Affinitäten bestimmter Disziplinen oder ›Ideologien‹ zu einem Grundsatz der jeweiligen Antinomie, auch und gerade, wenn diese innerhalb des Faches nicht thematisiert wird. (In letzter Instanz können die drei Antinomien als das Gegenübertreten grundsätzlicher Positionen in unterschiedlicher Skalierung angesehen werden: Die erste Antinomie wäre demnach ein Gegensatz in globaler Makro-, die zweite Antinomie in sozialer Meso- und die dritte Antinomie in individueller Mikroperspektive.) Die antinomische Verfasstheit des Denkens hat erstmals Immanuel Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft herausgestellt und sie bereits anhand ihrer Relevanz für das Raumdenken aufgezeigt: So ist für ihn die kosmologische Annahme, dass die Welt einen Anfang (in Raum und Zeit) hat, gegenüber der Annahme, dass sie diesen nicht hat, eine Antinomie, die aus der Struktur des Denkens selbst resultiert und nicht aus der Natur der Sache.1 Die menschliche Vernunft extrapoliert nach Kant die Beobachtung physikalischer Wirkungszusammenhänge und schließt auf vorausliegende Ursachen zurück, um dann wahlweise einen Anfang der Kausalkette zu behaupten (etwa in Form des ›Urknalls‹) oder diese ins Unendliche zurückreichen zu lassen. Die widersprüch1 | Vgl. Stefan Mittelstedt: Kants ›erste Antinomie‹ unter besonderer Berücksichtigung der Raumtheorien von Newton, Leibniz und Kant, Köln 1992.
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lichen Deutungen entspringen jedoch nicht der beobachteten Wirklichkeit, sondern dem – nun selbst beobachteten – Denken. In einem solcherart antinomischen Diskurs kann nach Kant keine Entscheidung für eine der beiden Behauptungen getroffen werden, wohl aber kann er als unlösbar erkannt werden. Auf die Raumdebatte gewendet bedeutet die Einsicht in solche Widerstreite jedoch nicht die Unmöglichkeit einer Überwindung gegensätzlicher Aussagen. So erweitert Hegel die kantische Antinomienlehre im Sinne der oben bereits skizzierten Aufhebungsfigur dahingehend, dass er das Spannungsverhältnis als produktiv für den diskursiven Fortschritt und als Momente eines ›Durchgangs‹ oder der von ihm sogenannten Dialektik (von gr. dia für ›durch‹ und gr. logos für ›Denken‹) ansieht.2 Ganz im Sinne Hegels ist es auch das Ziel der folgenden Erörterungen gegenwärtiger Raumantinomien, auf eine Überwindung der Widerstreite in der Raumdebatte hinzuarbeiten. Dazu werden insbesondere im letzten Teil topologische Vorstellungen in Anschlag gebracht, mit Hilfe derer Raum als eine Struktur begreif bar wird, die sich in unterschiedlichen Weisen ausprägen können. Raum wäre dann etwa nicht mehr im antinomischen Gegensatz von ›physisch vs. virtuell‹ zu denken, sondern als deren gemeinsame Realität.
1. V erschwinden vs . E rstarken Innerhalb der ersten raumtheoretischen Antinomie stehen sich in erster Linie Kulturpessimisten und -optimisten gegenüber, die wahlweise ein Verschwinden von Raum oder dessen Erstarken im Zuge der technologischen und medialen Transformation der Welt postulieren. Erstere rekurrieren oftmals auf den französischen Stadtforscher und selbst ernannten Dromologen (von gr. dromos für ›Wettlauf‹ oder ›Korridor‹) Paul Virilio, der sich als ein Theoretiker der Geschwindigkeit oder Beschleunigung versteht. Als gelernter Architekt entwirft Virilio in den 1960er Jahren Häuser, die dem Prinzip der Schräge verpflichtet sind, um die Bewohner in Bewegung zu versetzen, deren Kommunikation untereinander zu befördern und den festen Raum zum Verschwinden zu bringen.3 Virilios – ebenfalls wie McLuhans an Karl Marx angelehnte – Grundthese kommt programmatisch in seiner Schrift L’espace critique zum Ausdruck,
2 | Vgl. Riccardo Pozzo: »Analysis, Synthesis and Dialectic. Hegel’s Answer to Aristotle, Newton and Kant«, in: Michael John Petry (Hg.): Hegel and Newtonianism, Dordrecht 1993, 27–39. 3 | Vgl. Paul Virilio: »Die Funktion der Schräge«, in: Ders./Claude Parent: architecture principe. 1966 und 1996, Besançon 2000, IVf. [frz. 1966].
I. Antinomien des Raums
worin das titelgebende Konzept aus der Sozialbiologie4 ummünzt auf den globalen Raum des Verkehrs und der Kommunikation: »Im Nu überall sein. Nicht mehr der Raum, sondern die Zeit wird bevölkert. An die Stelle einer beständigen Bewirtschaftung der Kontinente tritt heute die generelle Inkontinenz [d. h. Nichtbeherrschung, St. G.] der Beförderung und Übertragung: zu den 300 Millionen Touristen jährlich und den 100.000 Passagieren der Fluggesellschaften täglich kommen noch Hunderte von Millionen Autofahrern und Fernsehzuschauern und demnächst die ›Tele-Akteure‹ an ihren Übertragungsapparaten.« 5
Abb. 4: Verbindungen des Arpanet im Jahr 1971
Tatsächlich geht 1982 in Frankreich mit ›Minitel‹ ein elektronisches Informationssystem an den Start, das der Öffentlichkeit schon frühzeitige die Möglichkeit zur Online-Kommunikation gibt, lange bevor das aus dem 1968 entwickelten Arpanet (Abb. 4) hervorgegangenem Internet den weltweiten Emailverkehr und den Zugang zu Chat-Rooms über Telefonleitungen ermöglicht. So hat Virilio schon vor über drei Jahrzehnten die heute prägende Kommunikationstechnologie vor Augen, während die Diagnose McLuhans noch am Massenmedium des Fernsehens orientiert ist. Wie dieser interessiert sich Virilio für spezifische Raumformen und prophezeit im Zeichen des ›Netzes‹ die Ablösung »zentral[er]« zugunsten »nodal[er]« 6 Strukturen, also einem Ensemble von Knotenpunkten. Dennoch – und das lässt seine Theorie widersprüchlich 4 | Vgl. Wilhelm Schäfer: Der kritische Raum. Über den Bevölkerungsdruck bei Tier und Mensch, Frankfurt a. M. 1971. 5 | Paul Virilio: »Der kritische Raum«, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 7 (1983), 16–27, hier 17. 6 | Ebd.
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erscheinen – besteht er darauf, dass der »Raum […] sich zusammen[zieht] und verschwindet«, statt den Übergang in die andere Struktur »der weltweit vernetzten Technologien« 7 ebenfalls (wie McLuhan mit der Beschreibung ›globales Dorf‹) in einem räumlichen Sinne zu begreifen. Missverständlich erklärt Virilio daher den Raum schlechthin für tot, wenngleich er nur dessen neuzeitliche Zurichtung meint. (Sinnigerweise ist der Korridor, den dromos im Griechischen benennt, meist derjenige, der zu einer Grabkammer führt.) Für Virilios ›letale‹ Theorie spricht zunächst freilich, dass Menschen heute in Folge der Zunahme an Reisegeschwindigkeit ihren Trip nicht mehr an der Distanz in Kilometern oder Meilen festmachen, sondern nur noch an der Dauer des Übergangs von einem Ort zum anderen. In dieser Weise wird nach Virilio also die Zeit anstelle des Raums »bevölkert«. Doch nicht nur Virilios Diagnose netzartiger (oder topologischer) Strukturen der zukünftigen Welt spricht gegen das gänzliche Verschwinden von Raum, sondern auch der Umstand, dass Zeit selbst letztlich räumlich konfiguriert ist: Ein Indiz hierfür ist, dass es keine Zeitbeschreibungen gibt, die nicht eine räumliche Metapher ist – wie etwa das ›Vergehen‹ oder der ›Ablauf‹ – und auch das Wort ›Zeit‹ (ahd. zit) selbst bedeutete seiner indogermanischen Herkunft nach das ›Abgeteilte‹. Entsprechend entsteht Zeit durch die Teilung eines Raums (wie etwa dem Ziffernblatt einer Uhr). Zuletzt besteht schon die Idee der ›Metapher‹ (gr. meta für ›(hin-)über‹ und gr. phoreo für ›tragen‹) in einer originär räumlichen Operation.8 Traditionell wird die räumliche Metaphorizität der Zeit als Beleg dafür genommen, dass sie eine gegenüber dem Raum höherwertige Entität ist, der keine konkrete, ›äußere‹ Anschauung entspricht (etwa als Bewegung der Dinge durch den physischen Raum), sondern mit ihr das ›innere‹ Erleben des Subjekts zum Ausdruck kommt. Vor allem mit den Schriften des französischen Philosophen Henri Bergson wird die Aufwertung der Zeit zum Gemeinplatz: »[V]om Raume [entlehnt man notwendig] all die Bilder […], durch die man das Gefühl beschreibt, als das das reflektierte Bewußtsein von der Zeit […] hat: die reine Dauer muß also etwas andres sein.«9 – Bergsons Behauptung ist ein Beispiel für die im 19. Jahrhundert (im Nachgang zur geologischen Tieferlegung des Erdanfangs10) erfolgende Verzeitlichung aller 7 | Ders.: »Das dritte Intervall. Ein kritischer Übergang«, in: Edith Decker/Peter Weibel (Hg.): Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Köln 1990, 335– 346, hier 345. 8 | Vgl. Jacques Derrida: »Der Entzug der Metapher«, in: Volker Bohn (Hg.): Romantik. Internationale Beiträge zur Poetik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, 317–355 [frz. 1978]. 9 | Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 1994 [frz. 1889], 71; kursiv Verf. 10 | Vgl. Stephen J. Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München 1990 [engl. 1987].
I. Antinomien des Raums
Wissensbereiche.11 Argumentativ beruht die Behauptung einer raumunab hängigen Existenz der Zeit auf einem metaphysischen Taschenspielertrick, den schon der englische Sprachanalytiker John McTaggart 1908 mit seinem ›Irrealitätsbeweis der Zeit‹ entzaubert hat. In seiner Darlegung geht McTaggart davon aus, dass Zeit nur auf zweierlei Weise konzipiert werden kann:12 entweder durch die Unterscheidung von ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ (McTaggart nennt dies die B-Reihe) oder durch die Unterscheidung von ›vorher‹ und ›nachher‹ (A-Reihe). Sprachlich ist die B-Reihe der Zeit auf das Präsens angewiesen – Vergangenheit ist gewesen, Gegenwart ist, Zukunft wird sein –, so dass der Begriff der ›Dauer‹ (frz. durée), wie ihn Bergson im oben zitierten Essai sur les données immédiates de la conscience als Spezifikum des inneren Erlebens vorbringt, sich zwar aufdrängt, dieser aber gerade auf das Phänomen des (räumlichen) Anwesend-Sein verweist. Um eine eigene Realität der Zeit im Sinne des Aufeinanderfolgens zu behaupten, muss nach McTaggart daher auf die A-Reihe zurückgegriffen werden, die ihrerseits jedoch ein bloßes Ordnungsschema – ›Ereignis 1‹, ›Ereignis 2‹, ›Ereignis 3‹ … – ist. Von der Zeit bleibt also objektiv nur eine Relation von Vorkommnissen bestehen, die für sich selbst gesehen eine räumliche Struktur ist. (Wie später noch deutlich werden wird, handelt es sich dabei um ein topologisches Schema.) McTaggart vermeidet in seinem epochalen Beweis auch einen üblichen sprachphilosophischen Kurzschluss, wie ihn etwa wenige Zeit später Fritz Mauthner 1911 in seinem Wörterbuch der Philosophie vertritt: Demnach ist die Annahme einer Existenz des Raums bloß die Folge der Verwendung von Substantiven und diejenige der Existenz von Zeit die Folge des Gebrauchs von Verben. Von daher erklärt sich nach Mauthner die übliche Zuordnung in der (Meta-)Physik von ›fest‹ zu ›Raum‹ und ›fließend‹ zu ›Zeit‹ und legt der Philosophie nahe, die Suche nach verbindlichen Konzeptionen von Raum und Zeit aufzugeben.13 Nur wenige Jahre nach McTaggart und Mauthner zeigt der Kulturhistoriker Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes von 1918 noch eine dritte Möglichkeit auf, wie die strikte Gegenüberstellung von ›totem‹ Raum und ›lebendiger‹ Zeit aufgelöst oder vielmehr aufgehoben werden kann, indem er 11 | Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1976. 12 | Vgl. John McTaggart: »Die Irrealität der Zeit«, in: Walter Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 22007, 67–86 [engl. 1908]. 13 | Vgl. Fritz Mauthner: »Raum«, in: Ders.: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 2, Zürich 1980 [1911], 284–294.
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darauf hinweist, dass »der reine grenzenlose Raum« der von ihm sogenannten »faustische[n] Seele«14 in der Naturauffassung seit Goethe selbst als ›werdend‹ begriffen wird: Ein solches ›Raumwerden‹ entspringt der nur vermeintlich mit Breite und Höhe äquivalenten Dimension der Tiefe. Zu überwinden sei nach Spengler die euklidische Auffassung von Raum, in der die Ausdehung von Objekten entlang der drei Achsen zur Bestimmung ihrer Volumina quantitativ gleichwertig behandelt werden. Stattdessen entsteht Tiefe aus der leiblichen Erfahrung der Bewegung ›in den Raum hinein‹. (Von daher konfiguriert die Raumform des Weges oder der Straße denn auch als Symbol der Zukunft.15) Mit Spengler wird sowohl Mauthners Sprachkritik als auch McTaggarts Irrealitätsbeweis hinfällig. Mediengeschichtlich betrachtet ist der ›faustische Raum‹ jedoch ebenso (wenngleich ein spätes, romantisches) Kind der Gutenberggalaxis wie die Vorstellung von Zeit als linearer Geschichte, nur dass diese der Ordnung des Textes, jener der Perspektive des Bildes entspringt. Doch genau dieser Raum ist es, der nach McLuhan und Virilio durch neue Medientechnologien aufgehoben bzw. zum Verschwinden gebracht wird. In gewisser Weise ist Virilios Haltung aus dem Defätismus der ›Achtundsechziger‹ erklärlich, die eine umfassende politische Revolution anstrebte, um nach ihrem Scheitern oder Ausbleiben alles Kommende nur noch als Stagnation oder fatale Entwicklung auszugeben, so dass die indifferente Diagnose vom ›Verschwinden‹ von Raum ein Stück weit als Rhetorik begriffen werden muss. In der Tat ist Virilios Position ein Abziehbild der in jenen Jahren im Umlauf befindlichen Rede vom posthistoire, worin wiederum im Anschluss an Hegel ein ›Ende der Geschichte‹ verkündet wird. Hegel meint damit allerdings nur das Ende einer standortexklusiven Entwicklung – von Politik, Wirtschaft, Kultur etc. –; denkt also bereits gewissermaßen den Effekt der Globalisierung als ›Nachgeschichte‹, die für ihn in der weltweiten Verbreitung der Demokratie münden werde.16 Ohne den positiven Hegelianismus zu teilen, diagnostiziert auch Virilio, dass der allgemeine Verkehr (Handel und Reisen) zum »Verschwinden des Widerstandes der geographischen Beschaffenheit einer Nation« führt, »die immer schon dem Fortkommen der beweglichen Körper im Wege stand«.17 Dass sich eine bloße Annihilationsthese jedoch nicht aufrechterhalten lässt, hat im Blick auf den virtuellen Raum die Soziologin Saskia Sassen, Ver14 | Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, München 1972 [1918], 234. 15 | Vgl. Johannes Linschoten: »Die Straße und die unendliche Ferne. Teil 1: Die Straße als Ausdruck transzendierender Zielsetzung«, in: Situation 1 (1956), 235–260. 16 | Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992 [engl. 1992]. 17 | Paul Virilio: »Im Würgegriff der Zeit«, in: Die Zeit 46 (1994), 63.
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fasserin eines einflussreichen Buches über das ökonomische System der von ihr sogenannten Globalstädte,18 mit dem Terminus der ›Cyber-Segmentierung‹ markiert: Darunter versteht sie die in der Folge der Kommerzialisierung des World Wide Web ungleiche Verteilung der Zugänge zu (leistungsfähigen) Netzanschlüssen:19 Ganz gleich, wie sich das Erleben des virtuellen Raums darstellt, das Vorhandensein von Kommunikationskanälen reorganisiert den geographischen Raum unter topologischen Vorzeichen. Aus dem Freiheitstraum, der in den frühen Jahren des Internets virulent ist, wird so ein Machtalbtraum, gegen den vorzugehen heute gerade solche Unternehmen vorgeben, welche die größte Macht im elektronischen Netz besitzen: etwa Google, das mit dem Project Loon via Heißluftballons Internetzugangspunkte in entlegene Regionen der Erde bringen will. Vergleichbar mit Virilios These vom ›Verschwinden des Raums‹ – und ebenfalls auf seiner Seite der Antinomie angesiedelt – ist die Diagnose, welche der englische Sozialgeograph und Neomarxist David Harvey in seinem einflussreichen Buch The Condition of Postmodernity von 1989 stellt: Der Buchtitel spielt auf das zehn Jahre zuvor verfasste und 1984 auf Englisch erschienene Buch The Postmodern Condition von Jean-François Lyotard an. Darin adaptiert wird ein künstlerisch imprägnierter Begriff von Postmoderne als Zustand einer Relativität von Positionen, Haltungen oder Stilen, deren Regeln erst in der Ausführung gesetzt werden.20 Harvey will gegen diesen Denkstilrelativismus die Wirklichkeit der veränderten Welt stellen und klärt also über die Bedingungen der Epoche ›nach der Moderne‹ auf. Zu diesen Bedingungen gehört die ›Verdichtung von Raum‹, die Harvey – wie schon Virilio – an Veränderungen im Kommunikationsbereich festmacht, sie aber dezidiert vor einem ökonomischen Hintergrund sieht: »Das seit den frühen siebziger Jahren aufgebaute System der Satellitenkommunikation hat die Kommunikationskosten pro Einheit von der Entfernung unabhängig gemacht. Es kostet dasselbe, ob die Kommunikation via Satellit über eine Entfernung von 500 oder von 5000 km erfolgt.«21 Den Beginn dieser Entwicklung setzt Harvey eingedenk der (Vor-)Geschichte der Globalisierung jedoch früher an und lässt sie um 1500 beginnen, 18 | Vgl. Saskia Sassen: The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton/Oxford 1991. 19 | Vgl. Dies.: »Cyber-Segmentierungen. Elektronischer Raum und Macht«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Mythos Internet, Frankfurt a. M. 1997, 215–235. 20 | Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986 [frz. 1979]. 21 | David Harvey: »Die Verdichtung von Raum und Zeit«, in: Andreas Kuhlmann (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt a. M. 1994, 48–78 [engl. 1989], hier 59.
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also mit der Neuzeit, die im Englischen als modern history bezeichnet wird, so dass die Nachmoderne von Harvey nicht nur die Phase nach dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (also die ›Moderne‹ in der deutschen Nomenklatur oder modern times im Englischen) ist, sondern die Phase nach der Renaissance – also just der Epoche, mit welcher nach McLuhan der Eintritt in die Gutenberggalaxis erfolgt. In einer sprechenden – von Rhetorik ebenfalls nicht freien – Grafik (Abb. 5) wird die Verdichtung (engl. compression) des Raums augenfällig. Harvey setzt sich mit seinem Schema von einem unterkomplexen Ansatz der Zeitgeographie des schwedischen Geographen Torsten Hägerstrand ab, der die Veränderungen des Raums nur als Verschiebungen von Elementen in der Zeit gelten lässt, nicht aber als Veränderungen des Raums selbst.22 Dennoch hat auch die Position von Harvey Kritiker auf den Plan gerufen, welche die These der stetigen Schrumpfung des Raums nicht teilten, sondern von einer Intensivierung der Raumerfahrung ausgehen. Vorgedacht wird die Idee räumlichen ›Erstarkens‹ (engl. intensification) 1944 durch den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und seiner Annahme einer ›großen Umwälzung‹ der sich industrialisierenden Gesellschaft durch die Vermarktung der »Natur unter dem Titel Grund und Boden«.23 Die gegenteilige These oder antinomische Raumauffassung zu Harvey wird in den Arbeiten von Nigel Thrift über Spatial Formations vorgebracht,24 der damit das Ziel verfolgt, eine ›nicht-repräsentationalistische‹ Sozialgeographie zu etablieren, die von den verkörperlichten Praktiken ausgeht. Zur Verdeutlichung seiner Raumauffassung bedient sich Thrift einer Grafik aus der Reisemedizin (Abb. 6),25 mit der illustriert werden soll, wie sich aufgrund der erweiterten Reisemöglichkeiten (die aus medizinischer Sicht zu einer schnelleren Verbreitung von Krankheiten über den Globus führen) der Erlebensbereich vergrößert; also das, was als Verweltlichung aus Sicht der Einzelnen vor dem Hintergrund eines globalen (Reise-)Marktes erscheint: Während die Generation des Urgroßvaters um die vorletzte Jahrhundertwende in ihrer Reise(arbeits-)tätigkeit noch auf den kleinsten regionalen Bereich beschränkt 22 | Vgl. Torsten Hägerstrand: »Space, Time and Human Conditions«, in: Anders Karlqvist/Lars Lundqvist/Folke Snickars (Hg.): Dynamic Allocation of Urban Space, Lexington 1975, 3–14. 23 | Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M. 1978 [engl. 1944], 183. 24 | Vgl. Nigel Thrift: »›Strange Country‹. Meaning, Use and Style in Non-Representational Theories«, in: Ders.: Spatial Formations, London/Thousand Oakes/Neu Delhi 1996, 1–50 [1995], hier 42. 25 | Vgl. David J. Bradley: »The Scope of Travel Medicine«, in: Robert Steffen et al. (Hg.): Travel Medicine. Proceedings of the First Conference on International Travel Medicine, Berlin/Heidelberg 1988, 1–9, hier 2 f.
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Abb. 5: Verschwinden des Raums
Abb. 6: Erstarken des Raums
war, steht dessen Urenkeln zur letzten Jahrhundertwende die ganze Welt offen. Der (Erlebens-)Raum schrumpft also nicht, sondern wird im Gegenteil erweitert. – Die Einschätzungen von Harvey und Thrift können konträrer nicht sein: Raum verschwindet vs. Raum erstarkt. Aus einer kantischen Position heraus wäre an diesem Punkt zunächst die Aufklärungsarbeit beendet, da den Diskursteilnehmern gezeigt wird, dass sie mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen über den vermeintlich gleichen ›Gegenstand‹ sprechen: Während Harvey Raum in der Außensicht betrachtet, so rekurriert Thrift auf das individuelle Erleben, welches durch die Beschleunigung des Transports und den Ausbau von Reisewegen gegeben ist. Beide sprechen also von ›Raum‹, meinen aber Verschiedenes: einmal den ›objektiven‹ Raum zivilisatorischer Entwicklung, ein anderes Mal den ›subjektiven‹ Raum menschlichen Handelns. In hegelianischer Perspektive müssen die antinomischen Behauptungen jedoch keineswegs unvereinbar bleiben, sondern können als die beiden Seiten ein und derselben historischen Entwicklung gesehen werden. Im Sinne der dialektischen Aufhebung durchläuft der Raum eine Metamorphose, so dass sich seine Form verändert: Raum ist nicht mehr endlos ausgedehnt, sondern in seiner globale Ausbreitung kehrt die Gestalt des gyroskopischen Ortsbezugs als die miteinander verbundenen Schauplätze des Weltdorfs zurück.
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Abb. 7: Faltung des Raums
Wenn es eine treffende Darstellung für jene Raumaufhebung gibt, dann ist es eine Werbung mit dem Slogan der ägyptischen Tourismusbehörde: »Ägypten – näher als Sie denken« (Abb. 7). Die Fotomontage zeigt Mutter, Vater und Sohn, die durch eine Tür (deren Rahmen den Blick auf eine verschneite Stadt freigibt) hindurchgehen, um dann vor den Pyramiden zu stehen. Während die Frau sich noch mit ihrem Regenschirm an der Schwelle befindet, rennt der Junge bereits auf die Monumente zu und der Mann trägt, an einem fallengelassenen Schirm vorbeigehend, sein Jackett über dem Arm: »7:30 Uhr – Frühstück unter den Wolken. 12:30 – Mittagessen am Fuße der Pyramiden. Ägypten mit seinen fantastischen Stränden, seiner faszinierenden Kultur und seiner unvergesslichen Wüstenmystik, ist nur wenige Flugstunden entfernt. Das ist die wahre Magie Ägyptens.« Die ›Magie‹ des Landes besteht also nicht in der Orientalisierung seiner Kulturlandschaften (allein), sondern darin, dass es binnen eines Vormittags erreicht werden kann. Und in der Tat wäre dies für einen Menschen der Frühen Neuzeit wohl einem magischen Akt gleichgekommen, doch raumtheoretisch relevant ist daran jedoch die imaginierte Raumform: Die beiden Orte sind distanzlos miteinander verbunden und der Eintritt aus dem Norden in den Süden ist jederzeit möglich. Zugleich aber stehen die Kulturstätten als ein Erlebensraum offen, der wahlweise die Besucher tatsächlich faszinieren kann oder bei anderen allenfalls die Assoziation an einen Unterhaltungspark hervorruft. Formal gezeigt wird dabei eine Faltung: Raum ist hier nicht per se verschwunden, sondern wird als etwas aufgefasst, das selbst veränderlich ist, ohne dass es der individuellen Erfahrung entzogen wäre. Raumwissenschaft-
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lich gesehen, ist dieser Raum nicht mehr Gegenstand der Geometrie, sondern der Topologie, die nicht mit der Ausdehnung, sondern der Vernetzung befasst ist. – Anstelle von »Nicht mehr der Raum, sondern die Zeit wird bevölkert« hätte Virilio daher richtigerweise schreiben müssen: »Nicht mehr der geometrische, sondern der topologische Raum wird bevölkert«.
2. D e terminismus vs . P ossibilismus Die zweite Antinomie im gegenwärtigen Raumdiskurs besteht in der entgegengesetzten Behauptung der Wirkungsverhältnisse von Raum und Gesellschaft: Während deterministische Positionen die Sozialverhältnisse als unausweichlich durch die Natur bedingt ansehen, behaupten possibilistische Positionen eine Möglichkeit zur Formung des physischen Raums durch menschliche Kultur. Hierbei wird der Begriff des Territoriums zentral, das einmal im Sinne eines geographischen Naturausschnitts, dessen Wirkung Lebewesen passiv erleiden, ein anderes Mal im Sinne der aktiven Beherrschung desselben, verstanden werden kann. Die etymologische Herkunft von ›Territorium‹ ist dabei umstritten: Es lässt sich sowohl vom Wort terra (lat. für ›Erde‹) in einem deterministischen Sinne, als auch von terror (lat. für ›Schrecken‹) im possibilistischen Sinne ableiten. Doch gleich, welche Ableitung die ursprüngliche sein mag, Raum ist in politischer Hinsicht in diesem Spannungsverhältnis zu denken: Raum wird ›Land‹ (von mhd. lant für ›Feld‹) durch seine Beherrschung.26 Bereits Kant stellt an einer wenig beachteten Stelle seines Werkes die radikal possibilistische Behauptung auf, dass die Rede von einer ›Freiheit des Bodens‹ (wie es in seiner Zeit etwa für die Kolonialgebiete Amerikas diskutiert wird) paradox ist, insofern sich ein ›Boden‹ ja gerade dadurch auszeichnet, dass er in Besitz genommen wird.27 Schließlich wird der unerhörte Gedanke einer rechtmäßigen Inbesitznahme ›gegen die Natur‹ Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von dem bereits erwähnten Carl Schmitt aufgegriffen, dessen zentrales Raumkonzept dasjenige der ›Nahme‹ ist: Er überträgt damit das griechische Wort nomos für ›Gesetz‹ ins Deutsche, insofern er es auf das griechische Verb nemein zurückführt – das sowohl ›teilen‹ und ›verteilen‹ oder ›besitzen‹, ›beherrschen‹, ›weiden‹, und ›ausbeuten‹ oder ›bewohnen‹ und ›bebauen‹ bedeuten kann –, um damit sowohl den Gewaltaspekt der Gesetzgebung zu verdeutlichen als auch den Zusammenhang zur Gebietsaneignung. Schmitts Hauptschrift Der Nomos der Erde von 1950 widmet sich dann im Besonderen 26 | Vgl. Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 51965, 180–196. 27 | Vgl. Immanuel Kant: »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre«, in: Ders.: Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 1977, 309–499 [1797], hier 359 [§ 6].
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der politischen (Ein-)Nahme des Planeten durch Rechtsordnung der europäischen Völker. Wie ein zugehöriger, acht Jahre später veröffentlichter Text Schmitts verdeutlicht, folgt auf den Akt der Aneignung erst die Anwendung der Geometrie, bevor die eigentliche Raumpraxis der Sesshaften (Ackerbau) erfolgt: »Die Geschichte der Völker mit ihren Wanderungen, Kolonisierungen und Eroberungen ist eine Geschichte der Landnahme.«28 Schmitts Hinweis darauf, dass das Territorium also keineswegs statisch zu denken ist, sondern als Prozess, wird im französischen Poststrukturalismus von Gille Deleuze und Félix Guattari aufgegriffen und mit dem Grundbegriffspaar der ›De-‹ und ›Reterritorialisierung‹ näher bestimmt: Der als Psychiater tätige Guattari, auf den die Konzeption maßgeblich zurückgeht, lehnt sich dabei nicht allein an ein politisches Verständnis des Territoriums an, sondern entwickelt eine psychoanalytische Bedeutung von ›Territorialisierung‹ ausgehend von der freudschen Theorie ›erogener Zonen‹, wodurch der Körper als Multiplizität begreif bar wird, dessen Teile Verbindungen zu anderen Teilkörpern herstellen und auch wieder aufgeben können. Von hier aus prägen Deleuze und Guattari den affirmativen Begriff des ›Schizos‹ als einem besonderen Raumwesen, das nur aus »Spaltungen«29 besteht: So verbindet sich etwa die Hand des Kindes mit einem Ball, den es an den Mund führt, oder die Hand führt eine Flasche an den Mund. In diesen Fällen deterritorialisiert die Hand ein Objekt, das zunächst an der Hand und dann am Mund reterritorialisiert wird – für einen Moment also eine territoriale Einheit bildet, ohne dass dieses Territorium vermessbar wäre oder exakt bestimmt werden kann. Es definiert sich alleine durch den Vorgang. Guattari schreibt deshalb, dass das »Prozeßhafte […] eine andere Art von Logik« erfordert: die der »Intensitäten«.30 Untersucht wurde eine solche ›intensive‹ Raumlogik beispielsweise im Rahmen der sogenannten Proxemik (von lat. proximus für ›Nächste‹) durch Edward T. Hall, der 1966 in The Hidden Dimension die vier Distanzen von ›intim‹, ›persönlich‹, ›sozial‹ und ›öffentlich‹ unterscheidet.31 Auf zoologische Studien zum territorialen Raumverständnis von Tieren fußend32 und vorlau28 | Carl Schmitt: »Nehmen/Teilen/Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen«, in: Ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, 487–504 [1953], hier 493. 29 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. 1974 [frz. 1972], 51. 30 | Félix Guattari: Die drei Ökologien, Wien 1994 [frz. 1989], 37 f. 31 | Vgl. Edward T. Hall: Die Sprache des Raumes, Düsseldorf 1976 [engl. 1966], 119–133. 32 | Vgl. Heini Hediger: Wildtiere in Gefangenschaft. Ein Grundriss der Tiergartenbiologie, Basel 1942.
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fende Studien zum situationsbezogenen Handeln quantifizierend,33 begreift Hall das Territorium nicht mehr als ein festes Herrschaftsgebiet, sondern als mobile Zone, die durch Flucht- und Angriffsdistanz bestimmt wird. Das Aufkommen einer Vorstellung beweglicher Territorien ist jedoch kein bloß auf Zoologie oder Soziologie beschränkter Paradigmenwechsel, sondern kann auf die Bekanntmachung der Entdeckung der geologischen Kontinentalverschiebung (Abb. 8) durch Alfred Wegener im Jahr 1915 zurückgeführt werden:34 Die scheinbare ›Feste‹ der Erdteile wird damit aufgelöst in eine vorgängige Deterri torialisierung, die von der (sich wiederum im All bewegenden) Erde selbst ausgeht. Wohl kaum eine andere wissenschaftliche Entdeckung seit der Abkehr vom geozentrischen Weltbild und der Akzeptanz der Evolutionstheorie hat eine derartig weitreichende Wirkung auf Raumkonzeptionen wie diese ›Mobilmachung‹ der Erde. Abb. 8: Kontinentalverschiebung
Weisen Deleuze und Guattaris Raumkonzeption bereits in die Richtung einer Überwindung der zweiten Antinomie der Raumtheorie, so wirkt dieser Widerstreit zunächst diskursstrukturierend für die Debatten um 1900 und führen zum Anfang der heute sogenannten Sozial- oder Humangeographie, die damals noch ›Anthropogeographie‹ genannt wird. Ihr Urheber auf deutscher Seite ist selbst promovierter Zoologe: Friedrich Ratzel, der 1882 sein gleichnamiges Buch mit dem erklärenden Untertitel Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte veröffentlicht. Ratzel überträgt darin die Sichtweise der (naturbezogenen) Geographie auf den (geschichtsfähigen) Menschen. 33 | Vgl. Erving Goffman: Interaktion im öffentlichen Raum, Frankfurt a. M./New York 2009 [engl. 1963]. 34 | Vgl. Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, Berlin/Stuttgart 2005 [1915/41929].
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Die existierende Geographie ist aber gerade eine, die für die ›geschichtslosen Wesen‹ – also Flora und Fauna – ersonnen wurde. Insofern bedeutet die Publikation Ratzels nicht nur den Befreiungsschlag der bis dahin nur als ›Hilfsfach‹ der Geschichtswissenschaft wahrgenommenen Geographie, sondern zielte auf die Umkehrung der Hierarchie zwischen beiden: Die Geographie hat nicht mehr nur zu sagen, wo Geschichte stattfindet, sondern kann auch Auskunft darüber geben, warum gerade dort. Ratzel steht in einer langen Reihe an deterministischen Theoretikern, die den Sozialraum durch ›äußere‹ Umstände bedingt sehen: Raum wird in dieser Tradition vor allem als Umweltbedingungen thematisch, die in vormodernen Gesellschaften hinreichende Bedingungen für die Gründung von Siedlungen sind. Bereits der griechische Arzt Hippokrates hat in seiner Schrift Peri aeron, hydaton, topon im ausgehenden fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung behauptet, dass es unter medizinischen Gesichtspunkten am gesündesten ist, sich in einem gemäßigten Klima (gr. klima für ›Neigung‹, in diesem Fall: des Sonnenwinkels) aufzuhalten, zu der in der Antike noch das damals stärker bewaldete Griechenland gehörte. Südlich davon ist es laut Hippokrates zu heiß, nördlich davon zu kalt. Das hippokratische Mittellagentheorem wird 1748 in der französischen Auf klärung von Montesquieu in De l’esprit des loix aufgegriffen, der die betreffende Breite nicht nur weiter nördlich verlegte (so dass sie mit Frankreich zur Deckung kommt), sondern sie mit einem juridischen Argument verbindet: In heißen Regionen der Erde sei es Menschen gar nicht möglich, ihr Gemüt zu kontrollieren, weshalb die Todesstrafe dort für schwere Straftaten angebracht ist, während es im gemäßigten Klima möglich ist, vernunftgemäß zu handeln. Hegel leitet dann schließlich daraus das »Prinzip des Nordens«35 ab, wonach die Kulturentwicklung selbst nur in der »gemäßigten Zone«,36 entlang des Sonnenlaufs von Osten (Asien) nach Westen (Europa) unter Aussparung des Südens (Afrika) stattgefunden haben konnte. (Fortführung findet das althergebrachte Klimadenken dann noch im zwanzigsten Jahrhundert in der deutschen Geopsychologie37 und dem japanischen Kulturnationalismus.38) 35 | Georg W. F. Hegel: »Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie«, in: Ders.: Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1986, 287–433 [1802], hier 289. 36 | Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23, Hamburg 1996, 92. 37 | Vgl. Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Stuttgart 61950 [1911]. 38 | Vgl. Tetsuro Watsuji: Fudo – Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur, Darmstadt 1992 [jap. 1935].
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Obwohl Ratzel ein Kritiker der idealistischen Geographie Hegels und seiner Vorläufer ist, folgt er grundsätzlich doch deren Klimadeterminismus, wenn er ›Lebensraum‹ wie folgt definiert: »Wenn die Natur eines Raumes sich umgestaltet, verändert er sich auch als Lebensraum.«39 – Tatsächlich macht das Konzept aus darwinistischer Sicht insofern Sinn, als Lebewesen dann entstehende ökologische Nischen besetzen, wobei sich gerade Arten behaupten können, die andernorts keine Überlebenschancen hätten. (Wie etwa farblich auffallende Vögel auf Inseln ohne natürliche Feinde.) Das Problematische am Lebensraumkonzept ist somit nicht dieses selbst, sondern die Übertragung auf Menschen, da hiermit nicht nur ein angestammter Aufenthaltsort gemeint sein kann, sondern auch das Anrecht auf die völkische (Ein-)Nahme eines Bodens, dem die Gruppe naturgemäß zugehöre:40 Ein Staat ist nach Ratzel folglich als ›bodenständiger Organismus‹ zu betrachten, insofern »jedes politische Gebilde die Verbindung mit dem Boden sucht«.41 Gerade die von rechtskonservativen Autoren des 19. Jahrhunderts vorgebrachte Metapher des Organismus gegen die linksrevolutionäre der Maschine verschafft dem Biologismus Ratzels Eingang in die Geopolitik des folgenden Jahrhunderts.42 So liegt es nicht am Wort, sondern an der spezifischen Konzeption, die den Begriff ›Lebensraum‹ rassistisch konnotiert. Nach Ratzel wird der Ausdruck etwa ganz gegenläufig durch die Psychologin Martha Muchow verwendet, wenn diese in Hamburg ab den 1920er Jahren Den Lebensraum des Großstadt kindes untersucht. Wörtlich gemeint ist damit nicht der natürliche ›Boden‹, sondern der »›gelebte Raum‹«.43 In ihrer Untersuchung weist Muchow damit besonders auf den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern in der Erfahrung etwa der Entladezone eines Schifffahrtskanals hin, den jene als Ort des Warentransports wahrnehmen, diese hingegen als Spielplatz. Das Konzept des ›gelebten Raums‹ selbst geht auf den Religionspsychologen Karlfried von Dürckheim zurück, der ihn folgendermaßen definiert: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium seiner leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze,
39 | Friedrich Ratzel: Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, Darmstadt 1966 [1901], 6. 40 | Vgl. Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. 41 | Friedrich Ratzel: Politische Geographie, München/Berlin 1897, 21. 42 | Vgl. Rudolf Kjellén: Der Staat als Lebensform, Berlin 41924 [schwed. 1916]. 43 | Martha Muchow/Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Weinheim/München 1998 [1935], 105.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner überdauernden und seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit.« 44
Zeitgleich wird auch in der französischen Psychopathologie vom gelebten Raum (frz. espace vécu) gesprochen: So leben dem Psychiater Eugène Minkowski zufolge schizophrene Menschen in einem ›schwarzen Raum‹, demgegenüber der ›Gesunde‹ einen ›hellen Raum‹ bewohnt. Dessen Helligkeit ist nach Minkowski die letztliche Grundlage des sozialen Raums der zwischenmenschlichen Begegnung. Dieser Raum besitzt gewissermaßen die Eigenschaften, welche in der Geometrie aufgrund ihres visuellen Primats dem Festkörperraum zugeschrieben werden und den McLuhan als ›gerichteten Raum‹ historisch der Gutenberggalaxis zuordnet. Demgegenüber besitzt der dunkle Raum Minkowski eine abgründige Tiefe (wonach dieser allein aus dem Aspekt besteht, der Spengler zufolge Raum allererst ›lebendig‹ sein lässt) und mutet – wie schon der archaische Raum nach McLuhan – ›rund‹ an: »Der helle Raum dehnt sich ganz weit vor mir aus. Ich sehe in diesem Raum Farben und Unterschiede der Lichtstärke selbstverständlich, aber ich sehe auch Objekte mit präzisen Konturen und ich sehe auch die Distanz, die sie voneinander trennt oder das ›Nebeneinander‹, das sie in engere Verbindung setzt, vom räumlichen Standpunkt aus. Ich sehe die Dinge, aber ich sehe zusätzlich den leeren Raum, den freien Raum, der sich zwischen ihnen befindet, und zwar sehe ich diesen Raum ebenso gut wie die Objekte, die sich darin befinden. Es gibt Ausdehnung, es gibt ›Raum‹, möchte ich sagen, in diesem hellen Raum. […] [Im schwarzen Raum] wird es im Gegensatz zum hellen Raum weder Distanz noch Benachbartes, noch Entfernung, noch Oberfläche, noch Ausdehnung geben, aber es wird etwas Räumliches an ihm sein, es wird Tiefe an ihm sein, aber keine Tiefe, die zur Breite und zur Höhe hinzukommen würde, sondern als einzige und alleinige Dimension, die sich von vornherein gerade als Tiefe aufdrängt; es ist wie eine undurchsichtige und unbegrenzte Sphäre, deren Radien alle ähnlich sind, da alle den gleichen Tiefencharakter haben. Und diese Tiefe bleibt schwarz und mysteriös.« 45
An der unterschiedlichen Begriffsbesetzung von ›Lebensraum‹ – als beherrschter oder gelebter Raum – wird die Umkehrung in der vorliegenden Raumantinomie deutlich: Für Ratzel prägt der Natur- den Lebensraum, für Muchow und Minkowski der Lebens- den Naturraum. Gegen die Unterordnung des Sozialen unter die Geographie wendet sich bereits kurz nach den Veröffentlichungen von Ratzels einschlägigen Texten 44 | Karlfried von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt a. M. 2005 [1932], 16. 45 | Eugène Minkowski: »Ansätze zu einer Psychopathologie des gelebten Raumes«, in: Ders.: Die gelebte Zeit, Bd. 2, Salzburg 1972 [frz. 1933], 232–267, hier 261 und 263.
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der Soziologe Georg Simmel: 1903 veröffentlicht er seinen Text Über räumliche Projektionen sozialer Formen, der dem Kerngedanken nach seiner fünf Jahre später erscheinenden Monographie zur Soziologie vorläuft, und macht sogleich deutlich, was seine Position ist: »Wenn man von den Beziehungen zwischen Raumgestaltungen und sozialen Vorgängen spricht, so pflegt es sich um die Wirkungen zu handeln, die von der Weite oder Enge des Gebietes, der Zerrissenheit oder Arrondierung der Grenzen, dem Flächen- oder Gebirgscharakter des Territoriums auf die Form und das Leben der gesellschaftlichen Gruppe ausgehen. Der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen ist, umgekehrt, die Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre sozialen Gestaltungen und Energien erfahren.« 46
Anders als deterministische Positionen, wie sie die zeitgenössische Geographie mit Ratzel vertritt, die von den besagten »Wirkungen […] des Gebietes […] auf […] das Leben der gesellschaftlichen Gruppe ausgeh[t]«, will Simmel gegenteilig die Wirkungen der sozialen Gruppe auf das Territorium untersuchen. Wie der Untertitel seines Hauptwerks von 1908 – Untersuchungen über die For men der Vergesellschaftung – zeigt, ist der Schlüssel zum Raumverständnis nach Simmel die ›Form‹: Raum ist demnach kein ›Naturding‹, sondern eine Gestalt, in der sich Gesellschaft ausdrückt. Eine solche Form wäre etwa die zentralistische Organisation einer Gesellschaft im Gegensatz zu einer dezentralen, wie sie Simmel zufolge in Deutschland gegenüber Frankreich und England anzutreffen ist: »Infolge der funktionellen Zentralisiertheit, die das Wesen des römischen Staates so gut wie später das des französischen und englischen bildete, konnte das römische Weltreich bis an sein Ende als von der Stadt abhängiges Gebiet und konnten in Frankreich und England Paris und London als die festen Sitze jener zentralisierenden Macht gelten. Den konsequentesten Ausdruck im Räumlichen gewinnt diese soziologische Form in dem tibetanischen Kirchenstaat: die Hauptstadt Lhassa hat genau in ihrem Mittelpunkt ein großes Kloster, auf das sämtliche Landstraßen zuführen, und in dem die Regierung ihren Sitz hat. Andrerseits nun: der germanische Staat konnte, als nach den Karolingern die Umbildung in einen föderativen Reichsverband entschieden war, überhaupt kein dinglich-räumliches Zentrum mehr haben, sondern nur ein labiles und persönliches.« 47
Will die Soziologie also Aufschluss über die Organisation einer Gesellschaft erhalten, muss sie sich nach Simmel weniger den klimatischen und vegetativen 46 | Georg Simmel: »Über räumliche Projektionen sozialer Formen«, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1995, 201–220 [1903], hier 201. 47 | Ebd., 207 f.
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Raumbedingungen zuwenden, als vielmehr die Infrastruktur betrachten, die von Menschen erschaffen wurde. Im Anschluss an den französischen Gegenspieler von Friedrich Ratzel, Paul Vidal de la Blache, kann die soziologische Position damit eine ›possibilistische‹ genannt werden, die davon ausgeht, dass prinzipiell die Möglichkeit gegeben ist, wonach Raum durch Gesellschaft geprägt werden kann und nicht alleine umgekehrt. Damit wird auch deutlich, inwiefern die Antinomie von Determinismus und Possibilismus sich deutlich Fachdisziplinen zuordnen kann: Die Geographie vertritt tendenziell eine naturdeterministische, die Soziologie eine kulturpossibilistische Auffassung von Raum. Die Humangeographie versucht insofern einen Spagat zwischen beiden Positionen, der aber im Falle von Ratzel dann doch zugunsten des Determinismus ausfällt. Anders liegt die Sache bei genanntem Vidal de la Blache: Dieser geht differenziert an die Frage der Bedingungsverhältnisse heran und vertritt zeitgleich mit Simmel im Eröffnungsband seines Grundlagenwerkes zur Geschichte Frankreichs die These, dass für dessen Entwicklung nicht die Naturbedingungen, sondern der Einfluss der Menschen entscheidend war.48 Erneut zeigt sich der antinomische Charakter der Auseinandersetzung, da ›Raum‹ für die jeweilige Position eine gegenläufige Bedeutung hat. Doch auch hier ist eine Vermittlung denkbar: Bereits Vidal de la Blache bezieht sich in seiner Untersuchung vor allem auf die jüngere Geschichte und klammert damit bereits frühe Epochen aus, in denen die technischen Möglichkeiten zur Formung von Raum weniger ausgebildet waren als in Zeiten der Industrialisierung. So ließe sich der Possibilismus als eine Herangehensweise begreifen, die vor allem für den (spät-)neuzeitlichen Raum – der nach Harvey einer fortwährenden Kompression ausgesetzt ist – zutrifft, während die deterministische Sichtweise eher für die antike Welt des Hippokrates Gültigkeit beanspruchen kann, aber von Ratzel und seinen Nachfolgern die Gegenwart (entmodernisierend) auf den geographischen Raum angewandt wird. Als zwei Positionen nach Ratzel, die sich mit der Antinomie seitens der Geschichtswissenschaft auseinandersetzen, kann für Frankreich Fernand Braudel und für Deutschland Karl Schlögel genannt werden. Beide sind Historiker und vertreten der Grundtendenz nach eine deterministische Sichtweise des Raums. Dennoch versuchen sich beide an einer Vermittlung mit dem Possibilismus: Braudel, welcher der nach ihrer Zeitschrift benannten Annales-Schule der französischen Historiker zugerechnet wird, verfasst in deutscher Kriegsgefangenschaft sein Hauptwerk über La Méditerranée. Die 1949 veröffentlichte Habilitationsschrift demonstriert die Anwendung von Braudels Methode einer ›Geogeschichte‹ (frz. géohistoire). Die drei Bände des Werkes stellen die historische Entwicklung des Mittelmeerraums in unterschiedlicher Skalierung dar: 48 | Vgl. Paul Vidal de la Blache: Tableau de la Géographie de la France, Paris 1903.
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Wie Braudel später auch in einer Methodenreflexion in dem Text La longue durée von 1958 darlegt, unterscheidet er dabei grundsätzlich eine Geschichtsschreibung der im Titel besagten ›langen Dauer‹ von der bis dahin üblichen Beschreibung einzelner Ereignisse (frz. événements) als Geschichte ›kurzer Dauer‹ (frz. courte durée).49 Zwischen diesen beiden findet die im mittleren Band beschriebene Wirtschafts- und Sozialgeschichte statt, deren Kernproblem die Beherrschung des ›Feindes Raum‹ ist. Alle drei Sichtweisen haben für Braudel ihre Berechtigung, weshalb er sich im Nachwort zu seiner Studie selbst als »geographischen Deterministen« bezeichnet, während er Ratzel einen »geographischen Fatalismus«50 unterstellt, der als solcher nur für die langwellige Geschichte zutrifft. Ist die possibilistische Sichtweise damit diejenige der kurzwelligen Ereignisgeschichte, bleibt die Frage, welche Sichtweise auf die mittlere Skalierung zutrifft. Während diese der Soziologie Simmels zufolge eindeutig possibilistisch zu begreifen wäre, betrachtet Braudel sie als maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit dem Naturraum bestimmt und daher deterministisch. Der Osteuropaforscher Karl Schlögel ist Ende der 1990er Jahre der erste, der sich im deutschsprachigen Diskurs für eine Wende zum Raum ausspricht, wobei er in erster Linie eine Notwendigkeit sah, das Studium historischer Texte, durch das des Stadtraums oder von Karten zu ergänzen. Leicht provokant fiel in diesem Zusammenhang jedoch die Benennung seiner diesbezüglichen Hauptschrift von 2003 aus,51 in deren Untertitel nicht nur ›Geopolitik‹ vorkam, sondern deren Titel auf einem Friedrich Ratzel zugeschriebenen Zitat beruht: »Im Raume lesen wir die Zeit.« – Der Satz lautet bei Ratzel selbst: »Wir lesen im Raum die Zeit«52 und ist seinerseits an Richard Wagners 1882 uraufgeführten Parsifal angelehnt, worin der Titelheld im ersten Aufzug zum Ritter Gurnemanz sagt: »Ich schreite kaum, – doch wähn’ ich mich schon weit«; und dieser antwortet: »Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.« Während der Satz bei Wagner auf den erlebten Raum bezogen ist, münzt Ratzel ihn auf das Verhältnis von Geschichte zu Geographie um, in deren Hinsicht auch Schlögel an ihn anschließen will.
49 | Fernand Braudel: »Geschichte und Sozialwissenschaften. Die ›longue durée‹«, in: Hans-Ulrich Walter (Hg.): Geschichte und Soziologie, Köln 1976, 189–215 [frz. 1958]. 50 | Ders.: »Géohistoire und geographischer Determinismus«, in: Matthias Middell/ Steffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ›Annales‹ in ihren Texten, Leipzig 1994, 233–246 [frz. 1949], hier 242. 51 | Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003. 52 | Friedrich Ratzel: »Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive«, in: Historische Zeitschrift 93 (1904), 1–46, hier 28.
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Ist Braudel ein (gemäßigter) Determinist, kann Schlögels Vorgehen als ›hermeneutisch‹ (von gr. hermeneuein für ›erklären‹ oder ›auslegen‹) charakterisiert werden: als Deutungsversuch von Geschichte durch die Beschäftigung mit Raum. Diesem Ansatz ist eigen, dass Vorannahmen gemacht werden, auf die sich eine nachfolgende Interpretation gründet. Auf diese Weise wird die historische Bedeutung letztlich ›in den Raum‹ hineingelegt. So zeigen Schlögels Studien, dass vor dem Aufsuchen der konkreten Orte das dort Gefundene bereits aus historischen Quellen bekannt sein muss, um erkannt werden zu können. (Etwa die Entdeckung eines vorrevolutionären Russlands unter der sowjetischen Schicht.53) Bezeichnenderweise kommt die heftigste Kritik der Annäherung an den (geographischen) Raum gegenwärtig aus derjenigen Disziplin, der Ratzel maßgeblich seine Eigenständigkeit zu verdanken hat: der Humangeographie. Ein namhafter Vertreter der heute auch sogenannten Sozialgeographie ist Benno Werlen, der 1993 am Beginn der gegenwärtigen Raumdebatte Hans Grimms Phrase vom ›Volk ohne Raum‹ ironisch wendet und für eine ›Geographie ohne Raum‹ eintritt.54 Die gewollt irritierende Formulierung soll zeigen, dass sich eine Fachgeographie, die sich für die Gesellschaft interessiert, nicht auf einen Raum beziehen kann, der unabhängig von dieser schon ›da‹ wäre. Raum wird nach Werlen vielmehr durch das Handeln von Menschen hervorgebracht, weshalb er auch von einem ›Geographie-Machen‹ spricht. Raumtheoretisch relevant ist an der sozialgeographischen Position aber nicht allein sein Possibilismus, mit dem er auf den alternativen Ursprung des Fachs mit Vidal de la Blaches verweist, sondern dass es nach Werlen eine Pluralität von Raumkonzeptionen gibt, die aufgrund unterschiedlicher Raumpraktiken zugleich in unterschiedlichen Lebenswelten bestehen können: Ein ›nodales‹ Raumverständnis im Sinne Virilios ist nach Werlen somit vor allem Stadtmenschen und Eingeborenen der Netzwelt eigen, während ein euklidisches oder deterministisches Raumbewusstsein besonders in bäuerlichen Lebenswelten anzutreffen ist.55 Verlagert Werlen damit zwar letztlich die Naturraumbedingtheit auf eine Art Sozialraumbedingtheit, so führt die Konfrontation der Lebensweltkonzeptionen geradewegs zur dritten und grundlegenden aller Antinomie: derjenigen von ›Raum‹ und ›Ort‹.
53 | Vgl. Karl Schlögel: Moskau lesen, München 2011 [1984]. 54 | Vgl. Benno Werlen: »Gibt es eine Geographie ohne Raum? Zum Verhältnis von traditioneller Geographie und zeitgenössischen Gesellschaften«, in: Erdkunde 47/4 (1993), 241–255. 55 | Vgl. Ders.: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Stuttgart 21999.
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3. R aum vs . O rt Der dritte Widerspruch im heutigen Raumdiskurs wird im Unterschied zu den ersten beiden offen debattiert und kann mithin als Leitdifferenz für die Rekonstruktion aller kosmologischen, physikalischen und soziologischen Raumbegrifflichkeiten angesehen werden. Scharf gemacht wird die Gegenüberstellung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Phänomenologie, deren Ansatz sich aus der Psychologie und Physiologie heraus entwickelt und die bestrebt ist, Erkenntnisse nur ausgehend von der Erfahrung zu gewinnen. Während frühe Phänomenologen um Edmund Husserl die Euklidizität des wahrgenommenen Raums nicht in Frage stellen, behaupten spätere Vertreter, wie vor allem Martin Heidegger, eine Vorrangigkeit des konkreten Orts. Ein Vordenker der Phänomenologie ist der österreichische Physiker Ernst Mach, dessen zentrale Schrift über Die Analyse der Empfindungen 1886 ein markantes Selbstporträt (Abb. 9) enthält: Es zeigt den Autor nicht von außen, sondern wie er selbst die Welt sieht. Als Bild wird dabei vor allem deren visuelle Empfindung dargestellt, die für Mach untrennbar mit dem Leib verbunden ist, der in der Darstellung auch das ist, was aus der Augenhöhle heraus vor sich selbst hingestreckt abgebildet wird. Über sein ›Selfie‹ schreibt der Urheber: »Mein Leib unterscheidet sich von den andern menschlichen Leibern […] dadurch, dass er nur teilweise und insbesondere ohne Kopf gesehen wird.«56 Abb. 9: Mach, »Selbstporträt«
56 | Ernst Mach: Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 91922 [1886], 15.
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So kann der auf der Chaiselongue liegende Mach also nicht wahrnehmen, dass es einen Gott oder die Seele gibt, wohl aber, dass die Besonderheit des Eigenleibes darin besteht, nicht in Gänze ansichtig zu sein. Abgelehnt wird damit der durch René Descartes in den Meditationes de prima philosophia von 1641 begründete Rationalismus als Grundlage einer Subjektphilosophie: Für Descartes existiert das Ich leiblos als reine Vernunftinstanz. Als wahr anzuerkennen ist daher nur, was mit dem Verstand erfasst werden kann. Alles sinnlich Vermittelte sei dagegen trügerisch. Am Raum kann demnach nur das erkannt werden, was an den Objekten gemessen wird, das heißt die von Euklid bestimmten Quantitäten der Körper: Länge, Breite und Tiefe. Dagegen tritt Mach dafür ein, ›Subjektivität‹ radikaler zu fassen und von den Empfindungen des Ichs auszugehen: Dem ›metrischen Raum‹ des Rationalismus stellt er dabei den ›physiologischen Raum‹ gegenüber und zeigt, dass dieser qualitativ variabel ist; je nachdem, durch welchen Sinn oder auch an welcher Stelle des Körpers wahrgenommen wird. Das Tastempfinden etwa ist an der Zunge und den Fingerspitzen am feinsten, so dass geringste Abstände erspürt werden können, während dagegen die Rezeptivität der Haut am Rücken am indifferentesten ist.57 Neben Machs Ansatz gab es jedoch auch Bestrebung in der Physiologie, den Rationalismus mit der Tatsache des empfindenden Körpers zu verbinden und hierüber am traditionellen Raumverständnis festzuhalten; in erster Linie an der Rechtwinkligkeit der Bestimmungsmomente geometrischer Körper: So konfrontiert Mach den russischen Physiologen Elias von Cyon, der die Behauptung aufstellt, dasjenige Organ gefunden zu haben, durch welches Raum natürlicherweise als dreidimensional empfunden wird. Für Cyon sind die drei halbkreisförmigen Bogengänge des Innenohrs nichts Geringeres als der Ursprung des Koordinatensystems.58 Zwar kann Mach durch Experimente belegen, dass der in Frage stehende, nichtauditive Teil allein Beschleunigungssensationen detektieren (also die Zunahme oder Abnahme von Geschwindigkeit), aber deren Dreizahl und die durch anatomische Darstellungen seither erfolgende Begradigung der Kanäle (Abb. 10) verleiht Cyons Annahme bis heute Überzeugungskraft. Zu den bekanntesten Anhängern von Cyons (Fehl-)Interpretation gehörte der Begründer der biologischen Umwelttheorie, Jakob von Uexküll,59 von dem 57 | Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zu einer Psychologie der Forschung, Leipzig 2 1906 [1905], 337–352. 58 | Vgl. Elias von Cyon: Das Ohrenlabyrinth als mathematische Sinne für Raum und Zeit, Berlin 1908. 59 | Vgl. Jakob von Uexküll: »Gedanken über die Entstehung des Raumes«, in: Ders.: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze, München 1913, 284–292.
I. Antinomien des Raums
Abb. 10: Bogengänge des Innenohrs
nicht nur die bereits genannte Martha Muchow in ihrer Lebensraum-Konzeption beeinflusst ist, sondern auf den sich auch die heutige Systemtheorie mit der Annahme bezieht, die Umwelt eines Organismus ist das Ergebnis einer ›Autopoiesis‹, das heißt: von diesem selbst erzeugt.60 Mit Cyon behauptet Uexküll, dass der menschliche Leib qua Innenohr den Raum als dreidimensionalen wahrnehmen muss, während Tiere mit weniger Bogengängen (wie etwa Fische der Art des Neunauges, die nur zwei Paare besitzen) in einem niederdimensionierten Raum oder einer entsprechend strukturierten Umwelt leben. In der Phänomenologie sind noch bis in die 1930er Jahre hinein Ableitungen anzutreffen, die zwar nicht direkt mit dem Innenohr argumentieren, aber auf vergleichbarem Weg versuchen, die euklidische Geometrie als natürlich auszugeben: So macht sich der Husserl-Schüler Oskar Becker in seiner Habilitationsschrift daran, einen endgültigen Beweis für die Dreidimensionalität des Raums zu erbringen.61 Er geht dabei zurück auf die vorgegebene ›Struktur des 60 | Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: »Autopoetische Systeme. Eine Bestimmung der lebendigen Organisation«, in: Humberto R. Maturana: Erkennen – Die Organisation und Verkörperung der Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig/Wiesbaden 21985, 170–235 [engl. 1973]. 61 | Vgl. Oskar Becker: Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung, Tübingen 21973 [1922].
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Anschauungsraumes‹62 und damit auf die Raumkonzeption aus der Kritik der reinen Vernunft, die er jedoch im Sinne der Phänomenologie verändert: Während Kant die ›Form‹ der räumlichen Anschauung zwar als apriori (lat. a priori für ›vom vorderen her‹) gegeben bestimmt, aber ihre Konkretion – als euklidisch oder nichteuklidisch – offen lässt,63 will Becker den Beweis dafür liefern, dass die klassische Geometrie die ursprüngliche und der menschlichen Wahrnehmung entsprechende ist. Becker folgt einer von Husserl entworfenen (und Ausführungen Spenglers vorwegnehmenden) Argumentation,64 wonach der Sehbereich des Menschen als sogenanntes okulomotorisches Feld zweidimensional strukturiert ist, Veränderungen darin aber durch die Leibbewegung hervorgerufen werden können, die von der Ausrichtung des Feldes abweichen und folglich die Existenz einer weiteren Dimension (der ›Tiefe‹) voraussetzen. Offenkundig beruht dieser philosophische Begründungsversuch auf einem Zirkelschluss; doch auch der empirische Ansatz Machs ist alles andere als voraussetzungsfrei: So ist sein Selbstporträt trotz der sensualistischen Relativierungen der Raumwahrnehmung zentralperspektivisch konstruiert und beerbet damit eine Darstellungskonvention, der die euklidische Raumauffassung zugrunde liegt. Ebenso wie Cyon und Becker stellt auch Mach die Apriorizität dieser Raumstruktur letztlich nicht in Frage. Beflügelt durch den Kubismus gerät die Zentralperspektive jedoch nur wenige Jahrzehnte nach den Auseinandersetzung der Physiologen und Phänomenologen in die Kritik:65 So gibt es in den 1920er Jahren durch den Priester Pawel Florenski das Bestreben,66 die in der russischen Ikonenmalerei angewandte ›umgekehrte Perspektive‹ im Rekurs auf die Nichteuklidische Geometrie als Alternative zur herrschenden Raumauffassung zu etablieren.67 Größte Bekanntheit erlangt jedoch die Kritik des Kunsthistorikers Erwin Panofsky, wie er sie in einem 1927 veröffentlichten Vortrag über Die Perspektive als ›sym bolische Form‹ dargelegt. Den hierbei entscheidenden Begriff der symbolischen 62 | Vgl. Ders.: »Die apriorische Struktur des Anschauungsraumes«, in: Philosophischer Anzeiger 4 (1929/30), 129–162. 63 | Vgl. Manfred Zahn: »Einführung in Kants Theorie des Raumes«, in: Venanz Schubert (Hg.): Der Raum. Raum des Menschen – Raum der Wissenschaft, St. Ottilien 1987, 45–100. 64 | Vgl. Edmund Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Hamburg 1991 [1973]. 65 | Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, 88–101. 66 | Vgl. Pawel Florenski: »Die umgekehrte Perspektive«, in: Ders.: Raum und Zeit, Berlin 1997, 13–96 [russ. 1920]. 67 | Vgl. Clemena Antonovoa: Space, Time, and Presence in the Icon. Seeing the World with the Eyes of God, Farnham/Burlington 2010.
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Form übernimmt Panofsky dabei von dem Kulturwissenschaftler Ernst Cassirer,68 der damit hervorheben will, dass die vermeintlich neutralen Formen der Anschauung keineswegs universell gültig sind, sondern dass an ihnen eine historische oder kulturelle Spezifik abgelesen werden kann. Cassirer selbst untersucht in seiner zwischen 1923 und 1929 erschienenen Philosophie der symbolischen Formen archaische Raumzeitstrukturen, die ihm zufolge von einer vergleichbaren Rationalität zeugen wie diejenigen, welche die modernen Naturwissenschaften beschreiben. In seinem einschlägigen Vortrag von 1930 über Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum behauptet er daher resümierend einen »Vorrang des Ordnungsbegriffs vor dem Seinsbe griff«.69 Unterscheidbar sind die drei im Titel genannten ›Räume‹ für Cassirer allein hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs: Die Gültigkeit des mythischen Raums ist absolut und steht (wie die Ordnung einer Götterwelt) nicht zur Disposition, während naturwissenschaftliche Erklärungen zwar ebenfalls Wahrheitsanspruch erheben, es aber konkurrierende Positionen (wie die von antiker und moderner Physik) geben kann. Eine ästhetisch konnotierte Raumform dagegen stellt ihre Relativität als solche aus. Auf die Zentralperspektive gewendet, bedeutet dies, dass sie keineswegs einem nur ästhetischen Raum entspricht und (trotz seiner geometrischen Konstruierbarkeit) auch kein bloß theoretischer Entwurf ist, sondern in erster Linie ein mythologisches Konzept, dessen Gültigkeit erst in der Moderne in Zweifel gezogen wird, in deren Folge das zentralperspektivische Bild erst zu einem ›ästhetischen Raum‹ wird. Als Darstellungsweise ist die Zentralperspektive schon in der Antike bekannt, wird aber mit wenigen Ausnahmen (wie etwa der Kulissen- oder Vasenmalerei) nicht verwendet.70 – Der Grund hierfür ist die Dominanz eines ›objektiven‹ Weltverständnisses, demzufolge die dreidimensionale Skulptur der verzerrenden Flächenprojektion vorzuziehen ist. Wenn überhaupt perspektivisch dargestellt wird, dann liegt eine »Ausdrucksperspektive« 71 vor, die sich am lebendigen Seheindruck einzelner Körper orientiert.72 Erst in der Renaissance wird die kohärente Raumperspektive als »Schnittfläche durch die 68 | Vgl. Babu Thaliath: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ von Ernst Cassirer, Würzburg 2005. 69 | Ernst Cassirer: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg 1985, 93–119 [1931], hier 95. 70 | Vgl. Bernhard Geyer: Scheinwelten. Die Geschichte der Perspektive, Leipzig 1994. 71 | Bernhard Schweitzer: Vom Sinn der Perspektive, Tübingen 1953, 14. 72 | Vgl. Miriam Schild Bunim: Space in Medieval Painting and the Forerunners of Perspective, New York 1940.
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Sehpyramide« 73 seitens des Architekten Leon Battista Alberti zur Grundlage der in der Folge dann sogenannten rechtmäßigen Konstruktion (ital. costruzione legittima) erhoben. Diese erlaubt nach Panofsky die »Gestaltung eines völlig rationalen, d. h. unendlichen, stetigen und homogenen Raumes« 74 und ist heute in technischen Bildmedien wie Fotografie,75 Film 76 und Computerspiel77 allgegenwärtig. Nach Alberti werden dessen Anweisungen von Jean Pèlerin 1505 in seiner Schrift De artificiali perspectiva mittels des sogenannten Distanzpunktverfahrens perfektioniert: Dabei wird ein weiterer Punkt auf der Horizontlinie des Fluchtpunktes definiert, durch dessen Verschieben der von den Betrachtern wahrnehmbare Abstand zum Bildraum variiert werden kann.78 Hierfür sind vom jeweiligen Distanzpunkt Geraden zu den gleichmäßig die untere Bildlinie unterteilenden Bodensegmenten zu ziehen. Entlang der Schnittpunkte mit denen von dort aus verlaufenden Fluchtlinien lassen sich die horizontalen Linien eintragen, so dass das sich ergebende Bodenmuster eine direkt proportionale Tiefenstaffelung aufweist (Abb. 11). Doch was genau ist die ›Bedeutung‹ der (zentral-)perspektivischen Form? – Verkürzt gesagt, besteht sie darin, dass das Subjekt im Zentrum steht. Die Folgen dieser Ausrichtung können zunächst baulich an der Organisation des neuzeitlichen Stadtraums festgemacht werden, in dem die Straßen so angelegt werden, dass eine geradlinige Durchsicht (von lat. perspicere für ›durchschauen‹) möglich ist.79 Die Zentralperspektive ist sodann auch eine Voraussetzung für die kopernikanische Raumrevolution, deren Urheber in Perspektivmalerei geschult ist. Entsprechende Kenntnisse ermöglichen es Kopernikus, sich bei seinen Beschreibungen der Planetenbewegung nicht mehr auf den gegebenen, irdischen Standpunkt beschränken zu müssen, sondern sie sich auch
73 | Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, Darmstadt 2002 [lat. 1435], 85. 74 | Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in: Ders.: Deutschsprachige Aufsätze, Bd. 2, Berlin 1998, 664–757 [1927], hier 666. 75 | Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996 [engl. 1990]. 76 | Vgl. Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideology‹, Heidelberg 1992. 77 | Vgl. Michael Nitsche: Video Game Spaces. Image, Play, and Structure in 3D Game Worlds, Cambridge/London 2008. 78 | Vgl. William M. Ivins: On the Rationalization of Sight. With an Examination of Three Renaissance Texts on Perspective, New York 1938. 79 | Vgl. Jürgen Pahl: Die Stadt im Aufbruch der perspektivischen Welt. Versuch über einen neuen Gestaltbegriff der Stadt, Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1963.
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Abb. 11: Distanzpunktverfahren
von der Sonne aus vorstellen zu können.80 Wie Maler beliebige ›Augpunkte‹ konstruieren können, ließ sich solcherart ein Bild der neuen Weltsicht geben. Kopernikus’ Virtualisierung der Betrachtungsposition führte schließend zu Isaac Newtons Behauptung einer Absolutheit des Raum, insofern der ›absolute Raum‹ die reine Denkmöglichkeit der Gesamtheit aller ›relativen Räume‹ oder Bezugssysteme und ihrer Standpunkte ist, von denen ausgehend die Bewegung (astronomischer) Körper beschrieben werden kann. Wie erwähnt, ist für die dritte Antinomie der Raumtheorie bezeichnend, dass sie nicht etwa zwischen verschiedenen Fächern ausgetragen wird (wie die unterschiedliche Auslegung von ›Lebensraum‹ in Geographie und Psychologie), sondern innerhalb einer Disziplin (der Phänomenologie) auftritt. Namentlich fällt Martin Heidegger als vormaliger Assistent Husserls in einer Rede auf einer Tagung mit dem Titel »Mensch und Raum« 81 das für den Raumdiskurs folgenreiche Urteil: »Räume [empfangen] ihr Wesen aus Orten und nicht 80 | Vgl. Leonhard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 1992, 79–111. 81 | Vgl. Otto Bartning (Hg.): Mensch und Raum, Braunschweig 1991 [1952].
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aus ›dem Raum‹.« 82 – Er artikuliert damit einen phänomenologischen ›Turn‹, welcher nicht so sehr eine Wende zum als vielmehr die Wende weg vom Raum ist, hin zum Ort. Erklärt werden kann die Grundidee anhand eines bekannten Entwurfs des französischen Architekten Étienne-Louis Boullée aus dem Jahr 1784 für ein 150 Meter hohes Grabmal, mit dem Newton gedacht werden soll (Abb. 12). Heutige Planetarien vorwegnehmend simuliert der Kenotaph in seinem Inneren den absoluten Raum als gestirnten Nachthimmel. Gleichwohl bedarf die (aus statischen Gründen seinerzeit nicht realisierte) Sphäre eines Orts, an dem sie errichtet wird und von dem her – so wäre mit Heidegger zu argumentieren – der spezifische Raum erst sein vermeintlich absolutes Wesen ›empfängt‹. Abb. 12: Boullée, »Kenotaph für Newton«
Was Heidegger unter ›Ort‹ genau versteht, ist zunächst weniger entscheidend als die Deutlichkeit, mit der eine Tradition des Raumdenkens verabschiedet wird,83 die von Euklid über Newton bis in die Phänomenologie selbst reicht: Der von Heidegger entthronte Raumbegriff ist kein geringerer als derjenige der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Ist für Newton eine Relativität von Räumen nur vor dem Hintergrund des Absoluten denkbar, so gründet das ›Wesen‹ jedes einzelnen Raums nach Heidegger in dessen Anwesen(heit); also in einer erfahrenen Gegenwart, die dem absolute Raum nicht eigen sei. Das Ortsprimat ist für Heidegger schon im deutschen Wort ›Raum‹ angelegt: Während Newton den lateinischen Ausdruck spatium (wovon sowohl engl. space wie auch frz. espace abgeleitet sind) verwendet, verweist Heidegger 82 | Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 139–156 [1952], hier 149. 83 | Vgl. Theodore R. Schatzki: Martin Heidegger. Theorist of Space, Stuttgart 2007.
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auf eine durch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm verbürgte Etymologie, die auch heute im Wortgebrauch des Verbs ›räumen‹ durchscheint: Vom althochdeutschen Wort rum abgeleitet (das mit engl. room für ›Zimmer‹ verwandt ist) steht ›Raum‹ für einen (freien) ›Platz‹, während das spatium (von gr. stadion für das Längenmaß einer Rennstrecke von 600 Fuß) ein ›Zwischen‹ bezeichnet. ›Space‹ und ›Raum‹ sind damit keineswegs gleichbedeutend, sondern sind nach Heidegger füreinander das Gegenteil: Jener bezeichnet einen messbaren Abstand, dieser einen konkreten Ort. (Das Wort ›Ort‹ wiederum führt Heidegger in der germanischen Etymologie zunächst auf die ›Spitze‹ der Speers zurück, das dann im Althochdeutschen zunächst das ›äußerste Ende‹, dann aber auch besagten ›Platz‹ bedeutet.) »Ein Raum« ist nach Heidegger daher – im Sinne des ›Orts‹ – ein »Eingeräumtes« oder »Freigegebenes«, bei dem nicht wie in der euklidischen Denkweise die Oberflächen der Körper deren Raum ausmachen, sondern an deren »Grenze«, die durch das Räumen entsteht, »sein Wesen beginnt«.84 In seiner Abneigung gegen das lateinisch-romanische Vokabular des Kartesianismus hebt Heidegger weitergehend hervor, dass schon der ›Begriff‹ im Altgriechischen durch ein Wort bezeichnet wird, aus dem sich die Grenzfigur des ›Horizonts‹ ableitet: orismos. Denken ist für Heidegger demnach eine vergleichbare Tätigkeit wie diejenige des Rodens oder der Grenzziehung: »Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen.«85 Durch das Räumen entsteht folglich ein Ort, mit dem Etwas ins Sein tritt. Damit ist Heideggers phänomenologische Wende vollzogen: Raum wird nicht als ›Abstand‹ vom Absoluten, sondern als ›Ort‹ vom Besonderen her gedacht. Die mittelalterliche Philosophie hält für das ›Besondere‹ den Begriff der ›Diesheit‹ (lat. haecceitas) bereit. Heidegger, der sich mit einer Arbeit über den hierfür maßgeblichen Autor Duns Scotus habilitierte, rekurriert mit Ort folglich im Sinne der Diesheit auf einen ›Platz‹, der im Englischen mit place oder auch site wiedergegeben werden kann. Von hier aus liegt es nahe, moderne ›Kunsträume‹ als Ortsbildungen im Sinne Heideggers zu verstehen, wobei hier nicht an die eingangs erwähnten, regelrecht inflationär eingerichteten Ausstellungsräume zu denken ist, sondern an Kunstformen, bei denen die Gegebenheiten oder die ›Situation vor Ort‹ im Werk berücksichtigt wird oder gar erst dessen Anlass sind.86 Zu denken ist in erster Linie an die ›Land Art‹ Robert Smithsons (wie etwa Spiral Jetty von 1970 im Great Salt Lake in Utah), die ›Site Specific Art‹ Richard Serras (wie etwa Tilted Arch von 1981 auf dem Foley 84 | Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, a. a. O. [Anm. 82]. 85 | Ders.: »Die Kunst und der Raum«, in: Ders.: Aus der Erfahrung des Denkens. 1910– 1976, Frankfurt a. M. 1983, 203–210 [1969], hier 206. 86 | Vgl. Miwon Kwon: One Place after the Other. Site-Specific Art and Locational Identity, Cambridge/London 2002.
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Federal Plaza in New York), die Lichtraum-Installationen James Turrells (wie etwa die ›Shallow Space Construction‹ Ronin von 1968) oder die AußenraumSkulpturen Eduardo Chilidas (wie etwa die Windkämme von 1977 in der Bucht von San Sebastian). Heidegger selbst hat 1964 in einem Vortrag zur Eröffnung einer Ausstellung mit Werken des Bildhauers Bernhard Heiligers in St. Gallen die direkte Relevanz des Ortsprimats für die Kunst herausgestellt, indem er die werkbildende Tätigkeit überhaupt als eine »Auseinandersetzung mit dem Raum« 87 bezeichnet. Heiliger hatte just in dieser Zeit begonnen, neben den für ihn bis dahin typischen Büsten abstrakte Außenrauminstallationen anzufertigen, welche die Gegebenheiten der Aufstellungsorte berücksichtigen; so etwa im Jahr zuvor für den Vorplatz des Architekturgebäudes der Technischen-Universität in Berlin (Abb. 13). (Dass Heiliger ein Schüler Arno Brekers ist, dessen Arbeiten von den Nazis ob ihrer monumentalen Darstellung arischer Körper als ›deutsche Plastik unserer Zeit‹ geschätzt wurden und oftmals auch im öffentlichen Raum zur Aufstellung kamen, findet bei Heidegger allerdings keine Erwähnung …) Abb. 13: Heiliger, »Flamme«
Auch wenn in den philosophischen Raumdiskussionen nach Heidegger nicht alle Implikationen seiner Wortwahl ins Gewicht fallen, so besteht in der Phänomenologie seither die erkennbare Tendenz, ›Ort‹ gegen ›Raum‹ zu stellen. Markant ist an der begrifflichen Konfrontation, dass sie meist mit einem moralischen Impetus vorgetragen wird: Vereinfacht gesagt ist für heutige Phänomenologen der Ort zumeist ›gut‹, der Raum hingegen ›böse‹.88 Es liegt ein regelrechtes ›Space-Bashing‹ vor, das zuweilen derart reflexhaft betrieben 87 | Martin Heidegger: Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum (1964), St. Gallen 1996, 7. 88 | Vgl. Edward S. Casey: Getting back into Place. Toward a Renewed Understanding of the Place-World, Bloomington 1993.
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wird, dass von ›Theorie‹ nur noch in Anführungszeichen zu sprechen ist: Emmanuel Levinas, ein Student Husserls und Heideggers, nennt dies denn auch treffend den »Aberglaube[n] des Orts« 89 und schließt damit an die religionswissenschaftliche Einsicht an, dass sich »Heidentum definieren [lässt] als die Erhebung eines bestimmten Raumes zu letztgültigem Wert«.90 Heideggers philosophischer Paganismus, den er gerade in seinen späteren Texten nach 1945 ausbreitet, spart denn auch nicht mit Bildern einer heilen Welt, die vor der kartesischen Berechenbarmachung zu schützen sei. Levinas lässt viele der Schilderungen Heideggers Revue passieren: »Heidegger und die Heideggerianer […] möchten, daß der Mensch die Welt wiederfinde. Die Menschen hätten die Welt verloren. Sie kennen angeblich nur die vor sie gestellte, in gewisser Weise ihrer Freiheit entgegenstehende Materie, sie kennen nur Gegenstände. Die Welt wiederfinden heißt eine auf geheimnisvolle Weise in einem Ort zusammengekauerte Kindheit wiederfinden, sich dem Licht der großen Landschaften, der Faszination der Natur, den majestätischen hingelagerten Bergen öffnen; es heißt einen Pfad benutzen, der sich durch die Felder schlängelt; es heißt die Einheit spüren, die eine Brücke stiftet, indem sie die Ufer des Flusses und die Architektur der Bauten verbindet, die Gegenwart des Baums spüren, das Helldunkel der Wälder, das Geheimnis der Dinge, eines Krugs, der abgetretenen Schuhe einer Bäuerin, das Funkeln einer Weinkaraffe auf einem weißen Tischtuch. Das Sein des Realen selbst würde sich hinter diesen privilegierten Erfahrungen zeigen, sich der Obhut des Menschen anvertrauend. Und der Mensch, Bewahrer des Lebens, zöge aus dieser Gnade seine Existenz und seine Wahrheit.« 91
Alles in allem läuft Levinas’ Kritik darauf hinaus, Juri Gagarins Flug am 12. April 1961 mit der Wostok 1 als Beweis dafür zu nehmen, dass eine Existenz im newtonschen Raum möglich ist. Es geht Levinas dabei nicht um eine Kolonialisierung des Alls, sondern darum, die Ortsphänomenologie in ihrem Grundsatz Lügen zu strafen. Denn auch vom absoluten Raum her kann nun erwiesenermaßen ein Sein beginnen. (Oder um den unübertrefflichen Titel eines elf Jahre später entstandenen Films mit dem Jazzmusiker Sun Ra zu zitieren: Space Is the Place.) Levinas schreibt: »Die Technik beseitigt das Privileg dieser Verwurzelung und des Exils, das sich darauf beruft. Sie befreit von dieser Alternative. Es geht nicht darum, zum Nomadentum zu89 | Emmanuel Levinas: »Heidegger, Gagarin und wir«, in: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 1992, 173–176 [frz. 1961], hier 175. 90 | Paul Tillich: »Der Widerstreit von Zeit und Raum«, in: Ders.: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1963, 140–148 [engl. 1959], hier 141. 91 | Levinas: »Heidegger«, a. a. O. [Anm. 89], 174.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung rückzukehren, das ebenso unfähig ist wie das seßhafte Leben, einer Landschaft und einem Klima zu entrinnen. […] Von nun an zeigt sich eine Chance: die Menschen außerhalb der Situation wahrzunehmen, in der sie sich vorübergehend aufhalten […]. […] Bewundernswert an Gagarins Großtat ist gewiß […] nicht […] alle Höhen- und Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. […] [W]as […] zählt, ist die Tatsache, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Der Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raums.« 92
Levinas führt die Gegenüberstellung von ›Raum‹ und ›Ort‹ damit auf die Kontroverse von ›Fremde‹ und ›Heimat‹ zurück, die sich durch eine Ablehnung des Neuen oder Anderen in der Ortsphilosophie ausdrückt: »Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Verbundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungslos würde und kaum existiert – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde. Und in dieser Perspektive ist die Technik weniger gefährlich als die Geister des Orts.«93 Zurecht weist Levinas darauf hin, dass das xenophobe Raumdenken nicht allein auf Heidegger zurückgeht, sondern auch auf die ›Heideggerianer‹: In Deutschland etwa macht der Pädagoge Otto Bollnow in einem bis heute mehrfach aufgelegten und disziplinübergreifend wirkenden Buch ein Raumdenken populär, das dezidiert im Heimatbegriff gründet. Das Buch von 1963 trägt den gleichen Titel wie die Tagung, auf der Heidegger zwölf Jahre zuvor sein Raumverständnis vorträgt: Mensch und Raum. Im Kern enthält Bollnows Schrift aber die Gedanken eines 1935 publizierten Texts mit dem Titel Der Mensch und seine Heimat.94 Bollnow ist ein Schüler Eduard Sprangers, der an einer Begründung des bis heute zum Teil an Grundschulen noch unterrichteten Fachs ›Heimatkunde‹ arbeitet. Mit von ihm in den 1920er Jahren entwickelten sogenannten Heimatprinzip bestimmt Spranger Raum als konzentrisches Gefüge der Kreise ›Familie‹, ›Beruf‹, ›Nation‹ und ›Staat‹, die alle um einen Ort herum angeordnet sind. Diesen definiert er als »besonderen Fleck Erde, der für ihn [den Menschen] Geburtsort oder mindestens dauernder Wohnplatz ist«.95 Die Bindung zum Ort wird Spranger zufolge durch ›Liebe‹ hergestellt. Wie Bollnow später deutlich macht, ist darunter keine freischwebende Romantik zu verstehen, die etwa in 92 | Ebd., 175 f. 93 | Ebd., 175. 94 | Vgl. Otto F. Bollnow: »Der Mensch und seine Heimat«, in: Heimat-Kalender für Stadt und Kreis Anklam 30 (1935), 20–24. 95 | Eduard Spranger: »Der Bildungswert der Heimatkunde«, in: Ders.: Der Bildungswert der Heimatkunde. Mit einem Anhang ›Volkstum und Erziehung‹, Leipzig 1943, 5–46 [1923], hier 10.
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der Dichtung Rilkes zum Ausdruck kommt, wenn dieser schreibt, dass »[d]er Raum, den [die Liebenden] sich gegenseitig erzeugen, […] ihre Heimat [ist]«,96 sondern eine bodenständige Beziehung, die Goethe in die Worte fasst: »Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels und die Gärten nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort«.97 Bollnow schließt unmissverständlich: »Die Frage nach der räumlichen Ausdehnung ist dabei unerheblich, denn der Ort als Ort kann weder eng noch weit sein, er bezeichnet vielmehr die bestimmte, angebbare Stelle auf der Erde. Mit der Bindung an diesen bestimmten Ort beginnt dann die Begründung der Heimat.«98 – Während Heimat für Rilke ein allein durch die Partner definiertes Liebesterritorium ist, aus dem der ›Raum‹ resultiert (topos ebenso wie die lateinische Entsprechung locus bezeichnen anfänglich die weiblichen Geschlechtsteile »Vulva, Vagina, Uterus«99), kann für Bollnow wahre Heimat nach Goethe nur aus der Bindung an einen ›Ort‹ entstehen. Zur Konturierung der vorliegenden Variation der dritten Raumantinomie lässt sich der Heimat das Wohnen gegenübergestellen: ›Wohnen‹ (von ahd. ›wonen‹ für ›zufrieden sein‹, davon abgeleitet ›Wonne‹) heißt schlichtweg ›zufrieden sein‹ und ist der maßgebliche Aspekt im rilkeschen Raumverständnis. Dass Wohnen ohne (festen) Ortsbezug möglich ist, hat der jüdische Philosoph Vilém Flusser, der 1939 vor den Nazis aus Prag fliehen musste und für über drei Jahrzehnte im brasilianischen Exil lebte, pointiert beschrieben: »Man hält Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die Brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weise formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.«100 96 | Rainer M. Rilke zit. n. Otto F. Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart 1963, 264; kursiv, Verf. 97 | Johann W. von Goethe zit. n. ebd., 266; kursiv, Verf. 98 | Ebd. 99 | Michel Serres: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen?, Berlin 2009 [frz. 2008], 14. 100 | Vilém Flusser: »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit«, in: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Mannheim 1994, 15–30 [1992], hier 27.
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Die Deterritorialisierungsdenker Deleuze und Guattari bezeichnen in ihrem Buch Mille Plateaux die beiden konträren Vorstellungen als die ›nomadische‹ gegenüber der ›sesshaften‹ und die zugehörige Raumkonfiguration als das ›Glatte‹ (frz. lisse) bzw. das ›Gekerbte‹ (frz. strié, wörtlich ›Riefelung‹ für das Rillenmuster). Deleuze und Guattari beerben damit Minkowskis Unterscheidung des hellen ›Normalraums‹ vom schwarzen ›Schizoraum‹, beziehen die Differenz aber nicht auf Wahrnehmungsunterschiede allein, sondern auf kulturgeschichtliche Praktiken und Technologien: In der betreffenden Kapitelüberschrift geben sie mit der für ihr Buch typischen Voranstellung einer Jahreszahl – in diesem Fall ›1440‹ – dabei einen möglichen Hinweis auf die Erfindung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg, der im Resultat zwar (wie McLuhan zeigt) den linear-gekerbten Raum der Neuzeit konstituiert, aber als Technologie zunächst ein dynamischer Raum ist, den sie wie folgt definieren: »[D]er glatte Raum ist direktional und nicht dimensional oder metrisch. Der glatte Raum wird viel mehr von Ereignissen oder Heacceïtates als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. […] Es ist eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten. Intensives Spatium anstatt Extension.«101
Während mit der Sesshaftigkeit im Zuge eines Reterritorialisierungsprozesses Raum zum Ort wird – etwa zu Kontrollzwecken fixiert sowie durch Gebietsgrenzen und Straßen gekerbt wird –, erfährt dieser durch Deterritorialisierungsprozesse im Nomadentum eine Glättung: Wanderungsbewegungen erfolgen hier nicht entlang gesicherter Wege ›von Ort zu Ort‹, sondern in der Orientierung an Immaterialitäten wie Winde oder Strömungen. Dieser Raumpraxis setzt der Weltreisende Bruce Chatwin 1987 in seinem Buch über The Songlines ein Denkmal: Die darin beschriebenen ›Traumpfade‹ (engl. dreaming track) der australischen Aborigines sind Gesänge, die eine kartographische Funktion für deren Wanderungen (engl. walkabouts) haben, ohne dass das besungene Gebiet metrisiert wird.102 Passenderweise haben Deleuze und Guattari die Begrifflichkeit ›gekerbt‹ und ›glatt‹ von dem Musiker und Mathematiker Pierre Boulez übernommen, der damit zwei unterschiedliche Kompositionsprinzipien gegenüberstellen will: zum einen diejenige, die von einem gegebenen Takt aus die Noten notiert, und zum anderen diejenige, die von dem Tonereignis aus einen Rhythmus sich entfalten lässt.103 Dieser glatte, nautisch-nomadische Steuerungsraum tritt den 101 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992 [frz. 1980], 663 f. 102 | Vgl. Bruce Chatwin: Traumpfade, München/Wien 1990 [engl. 1987]. 103 | Vgl. Pierre Boulez: »Musikalische Technik«, in: Ders.: Musikdenken heute, Bd. 1, Mainz 1963, 29–123.
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Nutzern heute etwa in der textuellen Variante des Cyberspace entgegen, wo sich gewissermaßen erst die Beweglichkeit der gutenbergschen Lettern auf die Form des Schreibens auszuwirken beginnt: Durch Hyperlinks, die ihrerseits eine Kerbung des Glatten sind, wird die Fläche der Schrift zu einem Raum, der die Nutzer mobilisiert.104 Das musikologische Modell lässt sich sodann auf den geographischen Raum übertragen, wobei Deleuze und Guattari wiederum in Anlehnung an Carl Schmitt das Meer als glatten Raum vom Land als gekerbten Raum unterscheiden. Eine Vorherrschaft des Letzteren, der auch die Vermessung, metrisierte Navigation und das Einrichten von Schifffahrtsrouten umfasst, hat nach Deleuze und Guattari dazu geführt, dass die Geschichtsschreibung (die mit McLuhan ebenfalls als Resultat des gerichteten Raums zu betrachten ist) den Nomadismus zu einer historischen Vorstufe der Sesshaftigkeit erklärt hat. Ihr Befund trifft insofern zu, als der Eintritt ins Neolithikum tatsächlich nicht überall auf der Erde stattgefunden hat und es heute beispielsweise im Amazonasgebiet immer noch nomadisch lebende Gruppen gibt, die – auch das fügt sich in die These – zu Zwecken der Urbarmachung des Waldes im Auftrag von Zulieferern der Fleischindustrie vertrieben oder gar getötet werden. Die Diffamierung des Nomadischen hat dabei eine philosophische Tradition, die ihren prominentesten Ausdruck in der bereits schon angeführten Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft findet, worin Kant gegen die Philosophie der Skepsis wettert, die im 18. Jahrhundert einflussreich durch den schottischen Philosophen David Hume vertreten wird. Kurz gesagt, hatte dieser – der modernen Phänomenologie vorlaufend – an der Beweisbarkeit der Ichinstanz im Sinne Descartes’ gezweifelt und stattdessen für eine »geistige Geographie«105 (engl. mental geography) plädiert, welche nur die Existenz von Gedanken (engl. thoughts) oder sinnliche Eindrücke (engl. impressions) gelten lässt, so dass diese Bewusstseinsauffassung ohne ›kogitale Kerbung‹ auskommt. Hume als Denker des glatten Raums wird von Kant daher vorgehalten, als geistiger Kybernaut sein »Schiff« auf den »Strand [ge]setzt[]« zu haben, so dass es nun darum gehe, diesem »einen Piloten zu geben, der, nach sicheren Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt«.106 104 | Vgl. Jay David Bolter: Writing Space. Computers, Hypertext, and the Remediation of Print, Mahwah 22001. 105 | David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Frankfurt a. M. 2007 [engl. 1748], 21. 106 | Immanuel Kant: »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in: Ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, Frankfurt a. M. 1977, 109–264 [1783], hier 121.
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Dem nicht genug werden »Skeptiker« von Kant mit »Nomaden« gleichgesetzt, die sich in »völlige[r] Anarchie«107 – also: Ursprungslosigkeit – befänden. Anlass dieser Analogiebildung sind Untersuchungen des Kant-Schülers und gleichzeitigem Hume-Anhängers Christian Jakob Kraus, der mittels Feldstudien auf die schwierigen Lebensumstände der ›Zigeuner‹ in Preußen aufmerksam machen wollte:108 Diesen war unter Androhung der Todesstrafe der längere Aufenthalt an einem Ort verboten. Mit Deleuze und Guattari gesehen, zeichnet sich die Präferenz für ein philosophisches Raumprinzip, eine physikalische Auffassung oder eine allgemeine Form des Denkens somit gleichermaßen durch De- und Reterritorialisierungsvorgänge aus: Der nomadische Skeptizismus und die ichlose Geographie des Denkens lösen die Grenzen eines Territoriums auf; Kant, die sesshafte Vernunftkritik und das dualistische Denken dagegen hegen es ein.
4. D ie S chachtel als D enkhindernis Viele der Begrifflichkeiten, die an dem konzeptuellen Gegenübertreten von Ort und Raum anschließen, korrelieren mit zeitgeschichtsspezifischen Besonderheiten: So ist die Wiederaufnahme des Heimatbegriffs von Bollnow in den 1960er Jahre nicht ohne die ›Heimatvertriebenen‹ oder ›Heimkehrer‹ zu denken, die aus den ›Ostgebieten‹ in die Bundesrepublik Deutschland und nach Österreich kommen. Bei Deleuze und Guattari wiederum steht die Nobilitierung des Nomadentums in Beziehung zur Auseinandersetzung zwischen dem Staat Israel als Symbol der Sesshaftigkeit oder auch Raumnahme und den Lagerbewohnern im Westjordanland oder Gazastreifen als Symbol des (erzwungenen) Nomadismus. Perfiderweise hat sich die israelische Armee gerade durch das Konzept des ›glatten Raums‹ dazu inspirieren lassen, auf der Suche nach Hamas-Kämpfern nicht der Kerbungen der Straßen oder der Grenzen der Häuserwände zu halten, sondern diese schlichtweg zu überwinden bzw. zu durchbrechen, also den Raum zu glätten. Dass die israelische Armee sich für ihre Taktik auf Deleuze und Guattari stützen, bestätigt ein Brigadegeneral: »In der Armee benutzten wir oft den Ausdruck ›den Raum glätten‹, wenn wir uns auf eine Einsatzform in einem Raum beziehen, bei dem uns Begrenzungen nicht mehr interessieren. Die palästinensischen Gebiete könnte man tatsächlich als durch ›Einkerbungen‹
107 | Ders.: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1993 [1781/87], 6 [A IX]. 108 | Vgl. Kurt Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner, Heidelberg 1993.
I. Antinomien des Raums strukturiert bezeichnen, insofern sie durch Zäune, Mauern, Gräben, Straßensperren usw. umschlossen und abgetrennt sind.«109
Die Kritik von Levinas ist daher trotz seiner teilweise karikierenden Polemik gegen den Ortsaberglauben der ›Heideggerianer‹ von Weitsicht geprägt, wenn er sich gegen eine Rückkehr zum »Nomadentum« ausspricht, »das ebenso unfähig ist wie das seßhafte Leben, einer Landschaft und einem Klima zu entrinnen«. Doch letztlich ist auch die Sympathie, welche Levinas für die von Newton 1687 in den Philosophiæ naturalis principia mathematica veröffentlichten Raumtheorie bekundet, nicht voraussetzungsfrei, insofern das Konzept des absoluten Raums auf einer kabbalistischen Vorstellung beruht – genauer auf einem der hebräischen Namen Gottes: makom. Wörtlich kann dies zwar auch mit ›Ort‹ oder ›Platz‹ übersetzt werden, allerdings als ›überall‹-seiender, insofern »Gott der Ort der Welt«110 ist. Makom bezeichnet im Näheren aber auch den Umstand der ›Unteilbarkeit‹, die dem all-einen Gott als Eigenschaft zugesprochen wird. Newtons Lehrer in Cambridge, Henry More, vermittelt seinem Schüler die kosmologische Konsequenz dieser theologischen Annahme:111 Wenn Gott – als Chiffre für das Ganze oder ›All(es)‹ – nicht teilbar ist, muss von Anfang an nicht nur die Unendlichkeit gegeben sein (eine Behauptung, für die der italienische Philosoph Giordano Bruno 1600 in Rom noch verbrannt wurde), sondern auch gelten, dass der Raum sich auch nicht aus einzelnen Orten (gr. topoi) zusammensetzt. Dies war die Position der aristotelischen Naturlehre, die der katholischen Kirche bis in die Neuzeit hinein dazu dient, die Perfektion der Schöpfung als ›vollen‹ Raum zu rechtfertigen. Für Aristoteles ist die Luft nicht ›leer‹ oder ein Nichts, sondern ein Element, das ebenso einen Ort (gr. topos) hat wie Wasser oder Erde. Der ›Topos‹ ist nach Aristoteles eine Art relativer Raum oder ›behälterartig‹, so schreibt er ausdrücklich, »wie ein Gefäß (gr. aggeion)«,112 das weder der Stoff (gr. hyle) noch die Form (gr. morphe) eines Gegenstandes ist.113 Während Materie und Gestalt eines Objekts untrennbar mit ihm verbunden sind, kann ein Ort von diesem getrennt werden; oder anders gesagt: Dinge können die an sich un-
109 | Shimon Nahev zit. n. Eyal Weizman: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung, Hamburg 2008 [engl. 2007], 217. 110 | August Wünsche (Hg.): Bibliotheca Rabbinica. Eine Sammlung alter Midraschim, Teil 2, Leipzig 1880, 329. 111 | Vgl. Harro Heuser: Der Physiker Gottes. Isaac Newton oder Die Revolution des Denkens, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2005. 112 | Aristoteles: »Physik. Vorlesung über die Natur«, in: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 6, Hamburg 1995, 1–258, hier 78 [209b]. 113 | Vgl. Hans Günter Zekl: Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum, Hamburg 1990.
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veränderlichen Plätze tauschen.114 Raum im aristotelischen Sinne wäre demnach zu definieren als die Möglichkeit, »daß Objekte ihre Stellen verlassen« 115 können. Die antike Physik dient im Mittelalter zur Bewältigung der ›Angst vor der Leere‹ (lat. horror vacui): Hinter dieser Raumphobie steht die Befürchtung, der Glaube an Gottes Vollkommenheit könne durch den Existenzbeweis eines (luft-)leeren Raums nachhaltig erschüttert werden.116 Tatsächlich wird von daher noch gegen Newton der Vorwurf der Blasphemie erhoben: So weist der deutsche Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz 1706 auf eine (später getilgte)117 Stelle in der vierten Auflage von Newtons Schrift über das Licht hin, wo der Raum als »Organ Gottes« (lat. sensorium dei) bezeichnet wird.118 Raum wäre demzufolge ein Medium, durch das Gott mit seiner Schöpfung in Kontakt steht und folglich von ihr getrennt ist. – Wie Friedrich Nietzsche später pointiert formuliert, haben damit die neuzeitlichen »Physiker Gott aus der Welt geschafft«.119 Darin besteht denn auch das Sakrileg der kopernikanischen Wende: Die Erde verlässt ihre Mittelposition im Universum (wo sie sich in unmittelbarer Nähe zur Hölle befand) und rückt näher an den Rand heran;120 eben dorthin, wo sich im aristotelischen Weltbild der Sitz der Götter befindet. Mit Levinas gedacht, entpuppt sich Newtons absoluter Raumbegriff daher nicht nur als ein zutiefst humanistisches Konzept, sondern ist auch frei von anthropologischen Setzungen wie sie der Ortsphilosophie eigen sind. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass der gemeinhin gegen Newton erhobene Vorwurf, ein Behältermodell des Raums vorgebracht zu haben, nur bedingt zutrifft, sondern vor allem auf die aristotelische Ortsvorstellung anzuwenden wäre. Für Newton sind allein die relativen Räume ›Behälter‹ im Sinne eines Bezugssystems. Der Vorwurf des ›Containerraumdenkens‹ wird seitens der heutigen Raumsoziologie gegen naturdeterministische Positionen vorgebracht und geht wiederum auf Albert Einstein zurück, der Newtons Relativitäts-Konzept als eine – ob ihrer Anschaulichkeit – psychologische Hemmschwelle für die Anerkennung seiner eigenen Relativitätstheorie erachtet. So 114 | Vgl. Eugen Fink: Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, Den Haag 1957, 207–219. 115 | Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, 181. 116 | Vgl. Edward Grant: Much Ado about Nothing. Theories of Space and Vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution, Cambridge u. a. 1981. 117 | Vgl. Alexandre Koyré/I. Bernard Cohen: »The Case of the Missing Tanquam. Leibniz, Newton & Clarke«, in: Isis 52 (1961), 555–566. 118 | Vgl. Isaac Newton: Optik oder Abhandlung über Spiegelung, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, 2. und 3. Buch, Leipzig 1989 [lat. 1704], 145. 119 | Friedrich Nietzsche: Von Wille und Macht, Frankfurt a. M. 2004, 185. 120 | Vgl. Rémi Brague: »Geozentrismus als Demütigung des Menschen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1994), 1–25 [frz. 1990].
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bemüht Newton in seiner Hauptschrift die Analogie eines Schiffs, dessen Ladung Beispiel für den Inhalt eines relativen Raums genannt wird. Hinsichtlich des maritimen Transporters ist dieser unbewegt, in Bezug auf den absoluten Raum (des Meeres) aber bewegt. Die lateinische Formulierung für den »gesamten Inhalt«121 ist contentis universis. Verkürzend nennt Einstein Newtons Naturvorstellung daher eine des ›Containers‹, mit der Raum zur »Schachtel« oder zum »Behälter«122 wird. In sozialgeographischen Zusammenhängen wird im Anschluss an Einsteins Kritik etwa die Vorstellung der ›Nation‹ kritisiert, wie sie etwa in Formulierungen zu Tage tritt, wonach das Volk sich ›in Deutschland‹ befindet.123 Die Containervorstellung wird mithin auch als ›Reifikation‹ bezeichnet, das heißt als eine ›Verdinglichung‹. Zurück geht dieser Vorwurf auf die Begründer der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, welche die Ursachen für den Faschismus in einer (vernunftgesteuerten) Beherrschung des Menschen und Natur sehen. In diesem Zuge verhängen sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg das Verdikt: »Der Raum ist die ab solute Entfremdung.« 124 Von daher ist Raum für die Sozialwissenschaften fortan tabu und wird noch heute als Rückfall in eine alte Denkweise angesehen: In der Tat gibt es vor allem in populistischen Debatten der Gegenwart eine Konjunktur des Schachtelraums. In einem sehr prägnanten Fall kommt die Containervorstellung im Gewand des ›Kulturkreises‹ daher; ein Konzept, das bereits 1898 von dem deutschen Ethnologen Leo Frobenius ersonnen, von diesem selbst aber sogleich fallengelassen wird. Aufgegriffen wird das Konzept stattdessen in der von katholischen Missionaren begründeten ›Wiener Schule‹ der Völkerkunde um den Pater Wilhelm Schmidt. Dieser argumentiert in den 1930er Jahren mit dem Ziel einer Verwissenschaftlichung des biblischen Schöpfungsmythos gegen die evolutionstheoretische These einer Entstehung der (überlegenen) ›Rassen‹ aus einem gemeinsamen Ursprung. Stattdessen vertreten die Wiener Völkerkundler einen auf Friedrich Ratzel zurückgehenden Diffusionismus als Lehre der kulturellen Verbreitung, ausgehend von einem ›Urkulturkreis‹.125 121 | Isaac Newton: Die mathematischen Prinzipien der Physik, Berlin/New York 1999 [lat. 1687], 28. 122 | Albert Einstein: »Vorwort«, in: Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1960 [engl. 1954], XI-XV, hier XIII. 123 | Vgl. Antje Schlottmann: RaumSprache – Ost-West-Differenzen in der Berichterstattung zur deutschen Einheit. Eine sozialgeographische Theorie, Stuttgart 2005. 124 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969 [1947], 189; kursiv, Verf. 125 | Vgl. Ulrich Braukämper: »Kulturkreis«, in: Walter Hirschberg (Hg.): Wörterbuch der Völkerkunde, Berlin 22005, 223 f.
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Abb. 14: Braudel, »Zivilisationen, Kulturen und primitive Völker um 1500«
Lange Zeit sind von daher in den Atlanten und historisch-geographischen Abhandlungen Weltkarten zu finden, welche eine geographische ›Angestammtheit‹ der Ethnien oder Kulturstufen zeigen (Abb. 14). Ist es durch Einwirken kritischer Geographen letztendlich gelungen, diesen Kartentyp aus den Schulbüchern zu verbannen, kommt die Kulturkreisvorstellung heute durch die politische Vordertür zurück. Namentlich seitens der Sozialdemokratie, für die Gerhard Schröder 1999 noch mit dem Anticontainer-Slogan wirbt: »Geographisch gesehen ist Europa nur ein Kontinent. Realistisch gesehen ist es die Zukunft.« – Dagegen sind 2010 in der Schrift Deutschland schafft sich ab des ehemaligen Berliner SPD-Finanzsenators Thilo Sarrazin Sätze wie folgender zu lesen: »Ob Fußballfan, Parteimitglied, Familienmitglied, Bewohner einer Gemeinde, Angehöriger eines Berufsstandes, Mitarbeiter eines Unternehmens, Angehöriger einer Nation, einer Volksgruppe, eines Kulturkreises oder einer Religionsgemeinschaft: Überall wirkt der Gegensatz von ›Die‹ und ›Wir‹ und schafft Bindung und Solidarität durch Abgrenzung […].«126
126 | Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, 255; kursiv, Verf.
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Das Desaströse am Fall Sarrazin ist weniger der leicht zu dechiffrierende Rassismus (den er mit Rekurs auf genetische Unterschiede pflegt), sondern, dass das Wort ›Kulturkreis‹ – und damit das zugehörige Schachtelkonzept des Raums – wieder hoffähig geworden ist: Selbst Moderatoren öffentlich-rechtlicher Senderanstalten verwenden das Wort seither ungefiltert und verhelfen der impliziten Logik des Konzepts zur weiteren Durchsetzung. Die Unterscheidung von »›Die‹ und ›Wir‹«, welche Sarrazin für notwendig hält, ist nichts anderes als die »Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde«, vor welcher Levinas warnt. Fatalerweise taucht das Schachtelmodell gegenwärtig auch wieder im akademischen Diskurs auf. Anstelle von ›Kulturkreis‹ wird im Anschluss an den Anthropologen Clark Wisslers hier vom ›Kulturraum‹ (engl. cultural area) gesprochen.127 Anzutreffen ist diese Containerisierung – abseits der dezidierten Area Studies oder ›Regionalwissenschaften‹128 – vor allem in der Archäologie und der Geschichte, insofern sich jeweilige Fachvertreter über ihre Zuständigkeit für ein bestimmtes Untersuchungsgebiet definieren. Hinweise geben Unterteilungen wie »nördliches Schwarzmeergebiet« oder »oberes Mesopotamien« bzw. geographische Skalierungen wie »Universalgeschichte« oder »Landesgeschichte«,129 bei denen jedwede Aspekte der Verweltlichung oder gar Raumrevolution außer Acht bleiben. Um ein markantes Beispiel für die Rückkehr des Schachteldenkens zu nennen, können zwei Karten gegenübergestellt werden, die jeweils Grenzverläufe in Europa, vom Nordkap bis Montenegro, zeigen. Zwischen den Veröffentlichungen der Karten liegen sieben Jahrzehnte: Die erste (Abb. 15) wird 1922 veröffentlicht und basiert auf Daten des in Innsbruck lehrenden Osteuropa-Historikers Raimund F. Kaindl, der nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie auf eine Neukonstitution ›Mitteleuropas‹ hinarbeitete. In dieser Karte sind sprachliche, bauliche, religiöse und andere »Grenzen« – so der Kartentitel – »zwischen west- und osteuropäischer Kultur« übereinandergelegt. Die sich ergebende Mittelung kehrt in der zweiten Karte (Abb. 16) wieder, die der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington 1993 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Foreign Affairs verwendet.130 Die schon drei Jahre zuvor veröffentlichte Darstellung zeigt die Grenzen der Christianisierung um 1500.131 127 | Vgl. Alfred L. Kroeber: »The Cultural Area and Age Area Concepts of Clark Wissler«, in: R. Lee Lyman/Michael J. O’Brien/Robert C. Dunnell (Hg.): Americanist Culture History. Fundamentals of Time, Space, and Form, Chicago 1997, 121–138 [1931]. 128 | Vgl. Masao Miyoshi/Harry D. Harootunian (Hg.): Learning Places. The Afterlives of Area Studies, Durham/London 2002. 129 | Vgl. Michael Maurer (Hg.): Räume, Stuttgart 2001. 130 | Vgl. Samuel P. Huntington: »The Clash of Civilizations?«, in: Foreign Affairs 72/3 (1993), 22–49, hier 30. 131 | Vgl. William Wallace: The Transformation of Western Europe, London 1990, 18.
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Abb. 15 und 16: »West-« und »Osteuropa« 1922; »West-« und »Osteuropa« 1993
Nach Huntington markiert deren historischer Verlauf auch aktuell – in Anspielung auf das Gewebe der Kleidung geistlicher Würdenträger – den des ›samtenen Vorhangs‹, welcher ab 1989 an die Stelle des ›eisernen Vorhangs‹ getreten sei. Als ›Kulturräume‹ voneinander getrennt werden dadurch die ›aufgeklärte‹ und die ›orthodoxe‹ Welt. So schreibt Huntington in The Clash of Civilizations von 1996, dass sein »zentrale[s] Thema […] lautet: Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen (engl. civilization identities), prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt.«132
132 | Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996 [engl. 1996], 19; kursiv, Verf.
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Sinnigerweise wird Huntingtons Buch ins Deutsche als Kampf der Kulturen übertragen und ›zivilisatorische Identität‹ kurzerhand mit ›Kulturkreis‹ übersetzt. Dies macht umso deutlicher, dass es in der hiesigen Debatte – zum Teil noch von der symbolischen Raumform der deutschen ›Mauer‹ befördert133 – gerade nicht um die Frage der ›Bürgerschaft‹ (von lat. civis für ›Bürger‹) geht, sondern um den Bezug zum Boden, der im Begriff ›Kultur‹ (von lat. cultura für ›Ackerbau‹) enthalten ist. Huntington stellt als Berater des US-Außenministeriums den Zusammenprall zwar nicht als wünschenswert dar, die jüngsten Konflikte und Kriege in Europa (wie etwa die Auseinandersetzung um eine West- oder Ostausrichtung der Ukraine) orientieren sich gleichwohl an seinem geopolitischen Grundsatz und scheinen in der Folge die Gültigkeit eines davon abgeleiteten Kulturraumkonzepts zu belegen. Im Zuge Postkolonialer Studien wird die Konstruktion von Raumschachteln nicht nur frühzeitig angeprangert, sondern markiert die Kritik daran zugleich die Entstehung dieser Forschungsrichtung, als 1978 die Untersuchung Orientalism des aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftlers Edward W. Said erscheint. Darin untersucht er die Erschaffung des Orients seit dem 14. Jahrhundert, entscheidend aber im 19. Jahrhundert durch das Fach der ›Orientalistik‹. Das asiatische Morgenland oder der Orient (von lat. oriens für ›Osten‹ als wörtlichen ›Aufgangsort‹ der Sonne) gilt seither als ›das Andere‹ des europäischen Abendlandes oder des Okzidents (von lat. occidens für ›Westen‹ als wörtlichen ›Untergangsort‹ der Sonne): »Ein wissenschaftliches Spezialgebiet als geographisches ›Feld‹ anzusprechen ist gerade im Fall der Orientalistik ziemlich enthüllend, da sich sehr wahrscheinlich niemand ein analoges Feld namens ›Okzidentalistik‹ vorstellen konnte, was bereits die sonderbare, ja exzentrische Grundeinstellung der Orientalistik offenbart.«134
Ergänzend zur These der exklusiven Konstruktion durch ›den Westen‹ ist allerdings einzuwenden, dass zwar damals kein Fach namens ›Okzidentalistik‹ existiert, sich aber (zeitlich wie ideologisch) nach Said sehr wohl eine (anti-) okzidentalistische Haltung herausgebildet hat: Zum einen aufgrund des an die europäische Denktradition gerichteten Vorwurfs, sie hätte sich in Abgrenzung zum Orient ›erfunden‹ und ihren Ursprung in einem ›weißen Griechenland‹ kreiert;135 zum anderen wird seither vor allem durch islamistische Gruppen 133 | Vgl. Klaus Theweleit: »Von Mauer, Schild, Schirm und Spalt«, in: Ders.: Das Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst, München 1995, 11–39. 134 | Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt a. M. 2009 [engl. 1978], 65. 135 | Vgl. Martin Bernal: Schwarze Athene – Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike. Wie das klassische Griechenland ›erfunden‹ wurde, München 1992 [engl. 1987].
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an einer Festigung des Feindbilds ›Westen‹ gearbeitet. Dies zeigt sich etwa in der Ermordung des Religionsprovokateurs Theo van Gogh 2004 in Amsterdam durch einen islamischen Fundamentalisten, die den niederländischen Schriftsteller Ian Buruma und den israelischen Philosophen Avishai Margalit veranlasst, noch im selben Jahr ein Buch mit dem Titel Occidentalism zu veröffentlichen.136 Gegen jegliche Containerisierung – auch innerhalb der Postkolonialen Studien – wendete sich dann 1992 Mary L. Pratt in ihrer Monographie Imperial Eyes, worin sie eine Raumtheorie der Kontaktzone (engl. contact zone) vorlegt, die sie definiert als »social places where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination«.137 Für Pratt sind Grenzen als vermeintlich scharfe Ränder der Kulturschachteln gerade die Bereiche, an denen Identitätsvorstellungen verhandelt werden und sich verändern. Obwohl im Wort ›Grenze‹ angelegt, das sich vom slawischen ›Krajina‹ für eine (Grenz-)Landschaft ableitet und so auch das Gebiet der ›Ukraine‹ bezeichnet, wird zumeist vergessen, dass Grenzen seit jeher ausgedehnte und bevölkerte Zonen sind. Von Pratt umgewertet wird damit das negative Konzept des ›Grenzsaums‹ aus der frühen Anthropogeographie, der dessen Vorhandensein als ein Indikator für unzivilisierte Völkerschaften gilt, denen es in jedweder Hinsicht an Klarheit fehle. So steht bei Ratzel unmissverständlich zu lesen: »Im Wesen der Menschen aus tieferer Kulturstufe, die noch nicht scharf denken lernten, die vor allem noch nicht die Notwendigkeit fühlten, die politischen Begriffe auseinanderzuhalten und abzugrenzen, liegt es auch nicht, in scharfer Festlegung der Grenzlinie eine Staatsnotwendigkeit zu sehen.«138 Aus postkolonialer Sicht ist der Kontaktraum der Grenze hingegen Ort des Austauschs und gegenseitiger Kulturation.139 – Dies bedeutet nicht, dass es deshalb keine Konflikte gibt; doch diese bestehen auf der konkreten Ebene weniger im Zusammenprall zivilisatorischer Blöcke als vielmehr in der Bewältigung von Situationen. (Sehr eindrücklich zeigt dies für die Kontaktzone ›Frankfurt an der Oder-Słubice‹ der Film Lichter von Hans-Christian Schmid aus dem Jahr 2003 anhand der Begegnungen von Schmugglern, Flüchtlingen und Glücksrittern im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen.) 136 | Vgl. Ian Buruma/Avishai Margalit: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München/Wien 2005 [engl. 2004]. 137 | Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/ New York 22008, 7. 138 | Friedrich Ratzel: Anthropogeographie, Bd. 1: Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte, Stuttgart 31909 [1882], 174. 139 | Vgl. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985 [frz. 1982].
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Über implizite Schachtelmodelle der Kulturtheorie hinaus findet sich im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs auch eine explizite Affirmation des Containerraumdenkens: Diese erfolgt etwa mit dem sogenannten Cognitive Turn, der auf psychobiologische Erklärungen menschlichen Vorstellens und Handelns rekurriert. Zu den prominenten Referenzen der Schachtelbefürworter gehört die Studie Metaphors We Live by von George Lakoff und Mark Johnson aus dem Jahr 1980, worin »Gefäß-Metaphern«140 als unabdingbar für das menschliche (Sprach-)Bewusstsein angesehen werden. Kognitivistische Positionen erklären ›die Schachtel‹ von daher zu einer evolutionär gebildeten Vorstellung, zu der es keine Alternative gibt.141 Gegen diese Behauptung lassen sich jedoch linguistische Untersuchungen außereuropäischer Sprachen anführen, die keinerlei Gefäßmetaphern aufweisen.142 Neurologisch wie psychologisch festzustehen scheint alleine, dass es keinen Bewusstseinszustand (gleich ob Nahtoderfahrung143 oder Traum144) gibt, der nicht mit einem rudimentären Raumempfinden – zumeist einem Schweben im Offenen – einhergeht.
5. Ü berwindungsversuche Die Überwindung der dritten Antinomie stellt die Raumtheorie damit vor eine noch größere Herausforderung als die beiden vorhergehenden. An Versuchen mangelt es nicht: Zwei stammen von Husserl und Heidegger selbst, die beide in ihren Spätwerken ausdrücklich einen Turn verkünden, der in unmittelbarer Beziehung zum Raum steht: Heidegger bezeichnet 1949 seine oben bereits skizzierte Hinwendung zum Ort ausdrücklich als Die Kehre. Diese Wende ist als Selbstkritik zu verstehen, insofern Heidegger zur Überzeugung gelangt war, den Raumbegriff in seinem Frühwerk nicht radikal genug gefasst zu haben. So schreibt Heidegger 1927 in seinem Hauptwerk Sein und Zeit zwar, dass sich nicht »die Welt im Raum«, sondern »[d]er Raum […] ›in‹ der Welt«145 befindet, aber der zugehörige Gedanke ist für ihn retrospektiv nicht treffend artikuliert. 140 | Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 1998 [engl. 1980], 39. 141 | Vgl. Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes, Berlin/New York 2009, 59–67. 142 | Vgl. Benjamin Lee Whorf: »Über einige Beziehungen des gewohnheitsmäßigen Denkens und Verhaltens zur Sprache«, in: Ders.: Sprache Denken Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 1963, 74–101 [engl. 1941], hier 86 ff. 143 | Vgl. Pim van Lommel: Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Ostfildern 42011 [niederl. 2007]. 144 | Vgl. Rainer Schönhammer: Fliegen, Fallen, Flüchten. Psychologie intensiver Träume, Tübingen 2004. 145 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 171993 [1927], 111.
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Das zeigt sich auch schon daran, dass er die Präposition ›in‹ mit Anführungszeichen ausstattet; er also den Container sprachlich aufruft, ohne ihn meinen zu wollen. Heidegger geht es letztlich um etwas, das auch mit dem Lebensraum-Begriff bei Muchow ausgesagt ist, nämlich: dass der metrische Raum eine Struktur aufweist, die dem gelebten Raum erst nachträglich zugewiesen wird, von den Naturwissenschaften aber im Nachgang als primär erklärt wird. Stattdessen ist der Mensch für Heidegger als ›Da-sein‹ eine »Erstreckung« 146 zwischen Geburt und Tod. (Wobei dieses sogenannte Sein-zum-Tode sich etymologisch aus dem ›Hinstrecken‹ oder ›zur Strecke bringen‹ des Körpers ableitet und damit dem spatium eine morbide Konnotation verliehen wird.) Heideggers Kehre will sich von der Daseinszentrierung gänzlich lösen, mit der er letztlich noch die Subjektphilosophie Descartes’ beerbt, und den Raum von seinem eigentlichen Wesen her denken. Dieses bestehe darin, dass »der Raum räumt«,147 während die Technik eine »ortlose Ortschaft alles Anwesens«148 sei, die ›ent-fernt‹. In der heideggerschen Semantik bedeutet dies, dass das Erleben von Ferne getilgt wird, gerade indem das Ferne nahe gebracht wird. Der Gedanke fußt auf der Unterscheidung Ernst Jüngers, der zwischen dem dominierend technischen und dem widerständigen »romantischen Raum«149 unterscheidet. Letzterer verschwindet laut Jünger im Zuge medialer Welteroberung und zunehmendem Massentourismus. In diesem Sinne schreibt Heidegger – Harvey und McLuhan gleichermaßen vorwegnehmend: »Alle Entfernungen in der Zeit und im Raum schrumpfen ein. Wohin der Mensch vormals wochen- und monatelang unterwegs war, dahin gelangt er jetzt durch die Flugmaschine über Nacht. Wovon der Mensch früher erst nach Jahren oder überhaupt nie eine Kenntnis bekam, das erfährt er heute durch den Rundfunk stündlich im Nu. […] Den Gipfel der Beseitigung jeder Möglichkeit der Ferne erreicht die Fernsehapparatur, die bald das ganze Gestänge und Geschiebe des Verkehrs durchjagen und beherrschen wird. Der Mensch legt die längsten Strecken in der kürzesten Zeit zurück. Er bringt die größten Entfernungen hinter sich und bringt so alles auf die kleinste Entfernung vor sich. Allein das hastige Beseitigen aller Entfernung bringt keine Nähe; denn Nähe besteht nicht im geringen Maß der Entfernung. Was streckenmäßig in der geringsten Entfernung zu uns steht, durch das Bild im Film, durch den Ton im Funk, kann uns fern bleiben. […] Kleine Entfernung ist nicht schon Nähe. Große Entfernung ist nicht schon ferne.«150 146 | Ebd., 374. 147 | Ders.: Bemerkungen, a. a. O. [Anm. 87], 13. 148 | Ders.: »Die Kehre (1949)«, in: Ders.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 10 2002 [1962], 37–47, hier 42. 149 | Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982 [1932], 53. 150 | Martin Heidegger: »Das Ding«, in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, a. a. O. [Anm. 82], 157–175 [1951], hier 157.
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Abermals versucht Heidegger, die neuzeitliche Hierarchie zwischen ›Raum‹ und ›Ort‹ umzukehren. Wie abschließend noch diskutiert wird, rekurriert Heidegger dafür auf den antiken Ortsbegriff von Aristoteles, adaptiert aber auch die damit ursprünglich kritisierte Raumkonzeption dessen Lehrers Platon: chora (gr. für ›Gebiet‹). Damit wird weder ein ewiges Sein (Ideen) noch ein vergängliches Werden (Dinge) bezeichnet, sondern das, was den irdischen Dingen allererst ›Platz‹ verschafft. Platon beschreibt die Chora als »Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens«.151 In Anlehnung daran nennt Heidegger den Raum die »Ortschaft des Ortes«.152 Im Rekurs wiederum auf die antike Elemente-Lehre macht er in der ›Erde‹ dasjenige Element aus, in dem sich das ›Wahrheitsgeschehen‹ ereignet. Dieses ist für Heidegger selbst räumlich verfasst, insofern es in einem ›Entbergen‹ besteht, also darin, dass sich Wahrheit in den Phänomenen als Anwesenheit zeigt. Durch die im obigen Zitat beklagte ›Entfernung der Ferne‹ werde letztlich auch die Erdhaftigkeit ausgelöscht. Ein Refugium für das Wahrheitsgeschehen sieht Heidegger jedoch in der Dichtung (bei Georg Trakl) und der Malerei (bei Vincent van Gogh) gegeben, insofern Kunst die »Erde« als Grundlage von »Welt« 153 zum Vorschein bringen kann. Führt Heideggers Kehre solcherart auf ein zusehends kryptisches – um nicht zu sagen: geomantisches – Raumverständnis, lanciert Husserl mit seinem Turn ein anderes Erdverständnis: 1934 spricht er titelgebend in einer Notiz zur Umwendung der kopernikanischen Umwendung davon, dass die ›Ur-Arche‹ »Erde [sich nicht] bewegt«.154 Mit diesem Aperçu will Husserl eine Ansicht zurücknehmen, zu der sich die katholische Kirche erst 1992 durchringt, als sie den 1633 für seine Zustimmung zur kopernikanischen Lehre verurteilten Galileo Galilei rehabilitiert. In der Legendenbildung wird diesem angedichtet, um dem Schicksal Brunos zu entgehen, dass er Kopernikus zunächst abschwört, beim Verlassen des Tribunals aber die Worte spricht: »und sie bewegt sich doch« (ital. eppur si muove). Für Husserl dagegen ist die Erde schlechthin unbewegt. Dies meint er jedoch nicht im kosmologischen, sondern im phänomenologischen Sinn, insofern die Denkmöglichkeit physikalischer Bewegung in der Wahrnehmung ›gründet‹. Die Bedingung der Möglichkeit der Stereometrie Euklids ist nach Husserl die Erfahrung der (durch die Geometrie dann vermessenen) Erde selbst: 151 | Platon: »Timaios«, in: Ders.: Timaios und Kritias, Leipzig 1919, 1–187, hier 73 [49a]. 152 | Martin Heidegger: »Die Sprache im Gedicht (1952)«, in: Ders.: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt a. M. 1985 [1959], 31–78, hier 33. 153 | Ders.: »Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36)«, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a. M. 71994 [1950], 19. 154 | Edmund Husserl: »Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung (1934)«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 153–165, hier 157.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung »Wenn ich nun die Erde als bewegten Körper ›denke‹ – dann brauchte ich, um sie als das, ja überhaupt als einen Körper denken zu können, im ursprünglichsten Sinne, d. i. für sie eine mögliche Anschauung gewinnen zu können, in der ihre Möglichkeit des Seins als ein Körper direkt evident werden kann, einen Boden, auf den alle Körpererfahrung, und damit alle Erfahrung von Verharrend-Sein in Ruhe und Bewegung bezogen ist.«155
Die Erde, welche die neuzeitliche Kosmologie für bewegt erklärt, kann vom menschlichen Standpunkt aus nicht als um die Sonne kreisender Planet wahrgenommen werden, sondern jeder Körper ist zunächst wahrgenommen in Bezug auf die Erfahrung des ›Bodens‹. Wiederum ist dieser Begriff trotz der Nähe zu denen deterministischer Geographien nicht mit dem ›Blut-undBoden‹-Konzept zu verwechseln, das die Erdscholle als völkische Quasisubstanz fasst, sondern – wie Husserl unmissverständlich betont – als ›Form‹. Der Unterschied zum Formkonzept im Possibilismus eines Simmels liegt jedoch darin, dass Husserl nicht auf gesellschaftlich variierende Formen abzielt, sondern als Philosoph nach der einen ›Urform‹ des Raums sucht. Daher erklärt er die Erde (als ›Boden-Form‹) selbst zum Ursprung des Anfangs (gr. arche) und nennt sie ›Urarche‹ oder ›Urheimstätte‹. Die Assoziation des biblischen Rettungsschiffs ist intendiert, da Husserl im Verlauf seines Textes dahin kommt, die von Levinas zum Anlass seiner Kritik genommene Wirklichkeit des Weltraumflugs schon drei Jahrzehnte zuvor zu berücksichtigen: »Nehmen wir nun Sterne, nachdem wir uns klargemacht haben die Möglichkeit von fliegenden Archen […], die sich herausstellen [sic] in der ›Erfahrung‹ […] als bloße ›Luftschiffe‹, ›Raumschiffe‹ der Erde, von ihr ausgegangen und wieder zurückkehrend, von Menschen bewohnt und geführt, die nach ihrem […] Ursprung auf dem Erdboden als ihrer Arche beheimatet sind. […] Ich kann mir sehr gut denken, dass ich auf den Mondkörper versetzt würde. Warum kann ich mir nicht den Mond als so etwas wie eine Erde, als so etwas wie eine tierische Wohnstätte denken? Ja, von der Erde aus kann ich mich sehr wohl als Vogel, der auf einen weiten Körper hinfliegt, denken oder als Pilot eines Flugzeuges auffahren und dort landen. […] Aber nicht sagt das, dass ebensogut der Mond oder die Venus eine selbst eigene Urheimstätte sein könnte oder daß Erde und Venus als Urstätten in Urtrennung denkbar wären und es nur ein Faktum sei, dass für mich und unsere irdische Menschheit eben die Erde ist. Es gibt nur eine Menschheit und eine Erde […]. Aber wenn dem so ist, dürfen wir mit Galilei sagen: e pur si muove? Und nicht im Gegenteil, sie bewegt sich nicht? Freilich nicht so, dass sie im Raume ruht, obschon sie sich bewegen könnte, sondern wie wir es oben darzustellen versuchten: sie ist die Arche, die aller Bewegung erst Sinn ermöglicht und aller Ruhe als Modus einer Bewegung. Ihr Ruhen aber ist kein Modus der Bewegung.«156 155 | Ebd. 156 | Ebd., 159 und 163 f.
I. Antinomien des Raums
Menschen werden nach Husserl die Bodenform der ›Urheimat‹ Erde immer mit sich tragen. Tatsächlich ist sich die Weltraumforschung weitgehend einig, dass ein auf Dauer gestellter Aufenthalt in der Schwerelosigkeit physiologisch existenzgefährdend ist.157 Raumtheoretisch relevant ist, dass Husserl ein ›blutfreies‹, nicht-containerisierendes Raumkonzept des Bodens formuliert, welches einzig aus Wahrnehmungsstrukturen abgeleitet wird, die aber ihrerseits nicht auf die Egozentrik Machs hinauslaufen. Zudem bringt es eine Vorstellung von Heimat in Anschlag, die keinerlei (geographischen) Ortsbezug voraussetzt. Tatsächlich geht das germanische Wort heima auf indogermanisch kei für ›liegen‹ zurück und bezeichnet nicht einen angestammten (konkreten) Ort, sondern den (beliebigen) Platz, an dem sich Lebewesen schlafen legen, also ein ›Wohnen‹ im Sinne Vilém Flussers. Bevor es zur sesshaften ›Liegeform‹ des Bettes (das der germanischen Etymologie nach eine ausgehobene Lagerstelle bezeichnet) kommt, ist die Tätigkeit eine, die als Territorialisierungsweise verstanden werden muss: Selbst manche Fische legen sich zur Seite geneigt an einem geschützten Ort (etwa einer Felsspalte) schlafen und auch das obdachlose Wohnen von Menschen kennt einen Schlafplatz.158 So ist denn auch, wie Husserl am Ende des Zitats schreibt, das ›Ruhen‹ (auf) der Erde keine Negation von Bewegung, sondern allererst deren Ermöglichung.
157 | Vgl. Alexei A. Leonow/Wladimir I. Lebedew: Der Mensch im Weltall. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit im Kosmos, Leipzig/Jena/Berlin 1969 [russ. 1968]. 158 | Vgl. Jürgen Hasse: Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft, Bielefeld 2009.
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II. Produktion des Raums
Wie es scheint, führen die phänomenologische Kehre oder Umwendung nominell jeweils auf einen Raumbegriff zurück, von dem sie sich anfänglich distanzieren. Doch auch wenn das Wort gleich geblieben ist, so ist das Konzept doch ein anderes geworden: ›Raum‹ ist nach Heidegger nicht mehr der (menschen-)leere Newtons, sondern die Erde als Ermöglichungsbedingung von Ortschaften, und ›Boden‹ ist nach Husserl nicht mehr das nationalstaatliche Territorium, sondern die Erde als Ermöglichungsbedingung von leiblicher Bewegungserfahrung. Damit nähert sich die Philosophie erneut einem Vorgehen an, das Hegel bereits 1807 zur Grundlage seiner Phänomenologie des Geis tes macht: die dialektische Begriffsbildung, in der die Negation anfänglicher Bedeutung zu einem erweiterten Konzept führt. Für Hegel etwa ist der Begriff des (dreidimensionalen) Raumes aus einer ganzen Kaskade von Negationen gewonnen, die vom Punkt aus über die Linie zur Fläche und schließlich zur Vorstellung eines Volumens führen.1 Ebenso ist die hieraus resultierende naturwissenschaftliche Vorstellung von Raum durch Heideggers oder Husserls Erdvorstellung nicht obsolet geworden, sondern ist im neuen Raumbegriff aufgehoben. Der hegelsche Durchgang durch die ›Stadien‹ eines Begriffs wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch für neomarxistische Denker relevant: Retrospektiv wird deren Ansatz erstmals wörtlich als ›Spatial Turn‹ bezeichnet. Das Etikett verleiht 1989 der US-amerikanischen Sozialgeograph Edward Soja in seinem Buch Postmodern Geographies, welches im Untertitel eine »Wiederbehauptung des Raums in der kritischen Sozialtheorie« diagnostiziert. Der für die Kehre einschlägige Abschnitt zu »Uncovering Western Marxism’s Spatial Turn«2 schreibt die Neuausrichtung vor allem Henri Lefebvre zu.
1 | Vgl. Dieter Wandschneider: »Räumliche Extension und das Problem der Dreidimensionalität in Hegels Theorie des Raumes«, in: Hegel-Studien 10 (1975), 255–273. 2 | Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989, 39.
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1. D ialek tik des D rit tr aums Der bis zu Soja weitgehend vergessene Stadtsoziologe Lefebvre gehörte zu den publikationsstärksten Wissenschaftsautoren des 20. Jahrhunderts, der annähernd ein Buch pro Jahr veröffentlichte. Eines davon ist La production de l’espace von 1974, das jedoch bei seinem Erscheinen wenig Beachtung fand. Dies hatte – neben seinem hohen Ausstoß an Texten – verschiedene Gründe: Einer ist, dass ›espace‹ noch primär mit dem ›outer space‹ verbunden ist und eine ›Produktion des Weltraums‹ in den 1970er Jahren als ein merkwürdiges Thema erscheinen musste. Ein anderer Grund ist das Stigma, wonach dem Raum in der Soziologie durch die Kritische Theorie das Höchstmaß der Entfremdung angekreidet wird. Lefebvre hat mit ›espace‹ aber den Stadtraum vor Augen, der ihm zufolge gesellschaftlich hervorgebracht wird und keineswegs starr ist, sondern sich durch die Geschichte hindurch verändert. Wichtigen Einfluss auf Lefebvres Raumverständnis hat die 1957 gegründete Bewegung der Situationistischen Internationale um Guy Debord, welche mit dem Ansinnen einer ›Psychogeographie‹ die Architektur der Städte als Resultate von Ideologien begreift, die durch ihre Materialisierung wiederum auf das Verhalten der Menschen wirken. Neben Unternehmungen zur Kartierung mentaler Karten versuchten die Situationisten, gegebene Strukturen durch eine veränderte Performanz zu kritisieren, die sie durch ein nicht zielgerichtetes ›Umherschweifen‹ (frz. dérive) erzielen wollen,3 um der kapitalistischen Stadt einen anderen Raum entgegenzusetzen (Abb. 17). Abb. 17: Debord, »Psychogeographischer Reiseführer für Paris«
3 | Vgl. Guy Debord: »Theorie des Umherschweifens«, in: Pierre Gallissaires/Hanna Mittelstädt/Roberto Orth (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, 64–67 [frz. 1958].
II. Produktion des Raums
Die bislang nur in Form des Vorworts auf Deutsch veröffentlichte Produktion des Raums wird in Lefebvres Todesjahr 1991 auf Englisch übersetzt. Erst als The Production of Space avancierte es dann zur Bibel der neueren Raumtheorie. Maßgeblich hat daran wiederum Soja Anteil, da er fünf Jahre darauf in seinem neuen Buch Thirdspace eine detaillierte Deutung von Lefebvres Raumtheorie vorlegt,4 zu einem Zeitpunkt als die Formulierung ›Spatial Turn‹ bereits in aller Munde ist. Sojas Interpretation ist umstritten. Dies liegt zum Teil an der Übersetzung von Lefebvres Text, aber auch an Unachtsamkeiten Sojas: So charakterisiert er Lefebvres Theorie als ›Trialektik‹; womit er insinuiert, dass ›Dialektik‹ sich allein auf zwei Momente (wie in einer Antinomie) bezieht, während sie wörtlich einen ›Durchgang‹ (gr. ›dia‹) durch das Denken, die Sprache oder den Geist (gr. logos) bezeichnet, ohne eine Zahl der Stadien zu implizieren. (Die Verwechslung geht auf die Darstellung von Dialektik bei Platon zurück, in dessen Schriften zumeist zwei Gesprächspartner sich in Auseinandersetzung befinden.) Zudem wird Lefebvre zu einem Denker des im Buchtitel sogenannten Drittraums gemacht, das gerade kein dialektisches Konzept ist: ›Thirdspace‹ ist eine Wortschöpfung des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha, die im Zusammenhang mit Bücherverbrennungen von 1989 durch indische Muslime im englischen Bradford erfolgt. Auslöser für die Unruhen ist die Ausrufung eines Kopfgelds auf den Schriftsteller Salman Rushdie, dessen im gleichen Jahr erschienenen Satanic Verses schon dem Titel nach eine Provokation darstellen, da der Autor sich auf getilgte Passagen im Koran bezieht: In diesen gestattet der Prophet die Anbetung dreier Göttinnen (was weder mit der Geschlechtervorstellung noch dem Monotheismus des Islam vereinbar sei). Da beide Protagonisten von Rushdies Roman indische Muslime sind, die im heutigen England als Gottheit und Teufel agieren, werden zunächst Proteste aus Indien laut. (Sowohl der Muslim Rushdie wie auch der Parse Bhabha sind beide dort aufgewachsen und haben in Großbritannien studiert.) – In einem Interview stellt Bhabha die ›Hybridität‹ der kulturellen Situation heraus, aufgrund derer es nicht möglich sei »to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge. This third space displaces the histories that constitute it, and set up new structures of authority, new political initiatives, which are inadequately understood through received wisdom.« 5 4 | Vgl. Edward W. Soja: »Die Trialektik der Räumlichkeit«, in: Robert Stockhammer (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, 93–123 [engl. 1996]. 5 | Homi K. Bhabha: »The Third Space«, in: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, 207–221, hier 211.
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In den Protesten der Muslime in England treten sich so zwar unterschiedliche Positionen gegenüber. Diesen Konflikt jedoch auf die Traditionen von Islam und Christentum zurückzuführen (wie dies bei Huntington erfolgt) ist nach Bhabha verfehlt: Die postkoloniale Situation zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass beide bereits miteinander verweltlicht sind, also das Aufeinanderprallen innerhalb einer globalisierten Welt geschieht.6 Das ist insofern eine ›Anmaßung‹ (gr. hybris) als authentische Traditionen nicht mehr auszumachen sind. Die eigentliche Provokation Rushdies liegt so gesehen auch nicht in den vordergründigen Anspielungen auf den Islam, sondern in der Hybridität der postmodernistischen Erzählweise, welche die kulturelle Situation der Gegenwart spiegelt. Soja übernimmt das Wort von Bhabha, will ›Drittraum‹ aber mit Lefebvre eine dialektische Bedeutung geben, insofern Raum für ihn von dreifacher Art ist. Soja gibt den dialektischen Momenten die Ordnungsnamen ›Erst-‹, ›Zweit-‹ und ›Drittraum‹, deren Zusammenspiel eine ›Veranderung‹ (engl. othering) des Raums – im Sinne Bhabhas – bewirke. Lefebvre selbst unterscheidet zwischen ›Raumpraxis‹ (frz. pratique spatiale), ›Raumrepräsentationen‹ (frz. repré sentations de l’espace) und ›Repräsentationsräumen‹ oder wörtlich: ›Räumen der Repräsentation‹ (frz. espaces de représentation). Ihrer Modalität nach sind sie voneinander unterschieden als ›empfundener Raum‹ (frz. espace perçu), als ›konzipierter Raum‹ (frz. espace conçu) und – mit dem Begriff Eugène Minkowskis – als ›gelebter Raum‹ (frz. espace vécu). Abb. 18: Dialektik der Raumproduktion Referenz
Wahrnehmung
Kategorie
1 Raumpraxis [ frz. pratique spatiale]
empfunden [ frz. espace perçu]
subjektiv Natur/Erfahrung (›Raum‹)
2 Raumrepräsentationen [ frz. représentations de l’espace]
konzipiert [ frz. espace conçu]
objektiv Karte/Planung (›Topographie‹)
3 Repräsentationsräume [ frz. espaces de représentation]
gelebt [ frz. espace vécu]
kollektiv Kultur/Lebenswelt (›Topologie‹)
6 | Vgl. Ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [engl. 1994].
II. Produktion des Raums
Die beiden Triaden Lefebvres (Abb. 18) lassen sich als semiotische und phänomenologische Einteilung unterscheiden, so dass die Konstellation der drei Räumlichkeiten einmal über die Referenz oder Repräsentation, das andere Mal über deren Erscheinungs- oder Wahrnehmungsweise thematisiert wird. Beide Einteilungen haben Verwirrungspotential, das Lefebvre durchaus bewusst anlegt: So ist in der ersten Trias eine Verwechslung von Raumrepräsentation und Reprä sentationsräumen gegeben sowie in der zweiten die Zuordnung der gelebten Weise zur letzteren und nicht zur Raumpraxis, die nach Lefebvre ›perzipiert‹ oder ›empfunden‹ wird. Die sich ergebenden Verwechselungen können als Motor der Dialektik angesehen werden, so dass Lefebvre hier zwar eine ›zergliedernde‹ Analyse des Raums durch die betreffenden Kategorien vorstellt, aber zugleich unterstreicht, dass sie nur in der dialektischen Synthese anzutreffen sind. Es gibt keinen der drei Räume für sich, gleichwohl sie sich unterscheiden lassen: »a) Die räumliche Praxis: Sie umfasst die Produktion und Reproduktion, spezielle Orte und Gesamträume, die jeder sozialen Formation eigen sind, und sichert die Kontinuität in einem relativen Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt impliziert in Bezug auf den sozialen Raum und den Bezug jedes Mitglieds dieser Gesellschaft zu seinem Raum sowohl eine gewisse Kompetenz als auch eine bestimmte Performanz. b) Die Raumrepräsentationen: Sie sind mit den Produktionsverhältnissen verbunden, mit der ›Ordnung‹, die sie durchsetzen, und folglich auch mit Kenntnissen, Zeichen, Codes und ›frontalen‹ Beziehungen. c) Die Repräsentationsräume: Sie weisen (ob kodiert oder nicht) komplexe Symbolisierungen auf, sind mit der verborgenen und unterirdischen Seite des sozialen Lebens, aber auch mit der Kunst verbunden, die man möglicherweise nicht als Raumcode, sondern als Code der Repräsentationsräume auffassen kann.« 7
Der Erstraum ist damit eine subjektive Sichtweise des Raums, der Zweitraum eine objektive und der Drittraum eine kollektive. Alle drei bestehen zugleich: So erfolgt in der alltäglichen Praxis ein individuelles Erleben von Raum, während dieser in wissenschaftlichen Untersuchungen konzipiert und als kultureller schließlich gesellschaftlich gelebt wird. (Ohne dass Lefebvre auf die Raumtheorie Cassirers Bezug nimmt, besteht doch eine erkennbare Nähe zu dessen Dreiteilung: Erstes Moment entspricht dem ›ästhetischen‹, zweites dem ›theoretischen‹ und drittes dem ›mythischen‹ Raum; oder mit wissenschaftstheoretischen Termini gesprochen, handelt es sich um eine Unterscheidung von ›physischer‹, ›psychischer‹ und ›ideeller Welt‹.8) 7 | Henri Lefebvre: »Die Produktion des Raums«, in: Raumtheorie, a. a. O. [Kap. I, Anm. 154], 330–342 [frz. 1974], hier 333. 8 | Vgl. Gerhard Hard: »Über Räume reden. Zum Gebrauch des Wortes ›Raum‹ in sozialwissenschaftlichem Zusammenhang«, in: Ders.: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Bd. 1: Landschaft und Raum, Osnabrück 2002, 235–252 [1993].
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Um ein Beispiel zu nennen, kann das analytische Werkzeug Lefebvres auf die 1937 fertiggestellte Brücke am Golden Gate bei San Francisco angewendet werden: Als Erstraum wird sie tagtäglich von Pendlern benutzt, die sie zur Arbeit und zurück zum Wohnort überqueren. Die Fahrer besitzen die »Kompetenz«, ein Auto zu steuern, und tun dies in einer bestimmten Weise ihrer konkreten »Performanz«. Dabei erscheint der Raum aus einer individuellen (Handlungs-)Perspektive, welche sich zumeist dadurch auszeichnet, dass Raum als Wirklichkeit (die Materialität der Brücke) wahrgenommen wird. Als Zweitraum ist die Brücke ein planerisches Konstrukt des Architekten Joseph Strauss und existiert bereits als Imagination, bevor sie als Erstraum benutzt werden kann. Die zugehörigen Raumrepräsentationen sind nicht nur die Planungsskizzen mit fachspezifischen »Zeichen«, welche im Vorfeld angefertigt werden, sondern auch statische Berechnungen, oder weiteres Raumwissen, welches von den Konstrukteuren einbezogen wird, um die Geologie und Geographie des Planungsgebietes einschätzen zu können. Hierzu gehören ferner die notwendigen »Kenntnisse« für den sicheren Aufenthalt unter Wasser, um die Fundamente des südlichen Brückenpfeilers zu errichten. Als Drittraum oder »komplexe Symbolisierungen« schließlich ist die Brücke repräsentativ für die kulturelle Grenzraumauffassung der Vereinigten Staaten: Diese ist im Unterschied zu der auf das Festschreiben eines Territoriums gerichteten ›Kante‹ (engl. border) in Europa die ›Front‹ (engl. frontier).9 Die Siedler verschieben diese Grenze von Osten her kommend nach Westen, bis zum Goldenen Tor, wo die Brücke heute als Wahrzeichen der ›Überschreitung‹ und des ›Weiter‹ zu finden ist. Selbst das Raumfahrtprogramm der USA kann als eine Verschiebung der Front verstanden werden – zwar nicht mehr in der Horizontalen, wohl aber in der Vertikalen. Die Symbolisierungsleistung der Brücke ist dabei eine besondere Art von Repräsentation, die nicht wie diejenige des Zweitraums asymmetrisch ist, sondern symmetrisch:10 Während die Baupläne die Brücke repräsentieren (diese aber nicht die Baupläne), ist die Brücke selbst Teil der Menge aller Fronten, die sie repräsentiert: Sie ist ein Beispiel dieser besonderen Art von Grenze und ›exemplifiziert‹ diese kulturelle Form.
9 | Vgl. Frederick J. Turner: »Die Grenze. Ihre Bedeutung in der amerikanischen Geschichte«, in: Ders.: Die Grenze. Ihre Bedeutung in der amerikanischen Geschichte, Bremen 1947, 11–43 [engl. 1893]. 10 | Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 21998 [engl. 1968], 59 f.
II. Produktion des Raums
2. R epr äsentationsr äume Nach Lefebvre greifen alle drei Momente ineinander und produzieren Raum gleichermaßen, wobei es sich in vielen Fällen um eine Reproduktion handelt: So verändert die Frontiersymbolik der Brücke nicht die bestehende Raumauffassung, sondern perpetuiert sie. Anders sieht es mit einem der Selbstmörder aus, die auf der Brücke ihre ›Final Frontier‹ suchen: Deren Raumpraxis bringt einen neuen »Code« der Grenze hervor. Lefebvre selbst spricht von den (produktiv wirksamen) Repräsentationsräumen auch als ›klandestine‹ (von lat. clandestinus für ›heimlich‹) Räume, durch die sich Widerstand gegen etablierte Strukturen artikuliert. So kann die im Zuge der Finanzkrise aufkommende Besetzungsbewegung Occupy – am bekanntesten ist deren Einnahme eines Parks im New Yorker Finanzdistrikt im September 2011 – als die Produktion von (Gegen-)Repräsentationsräumen inmitten der Bürogebäude angesehen werden. In der Tat ist das Ziel der Bewegung, die zu diesem Zeitpunkt noch keine klare politische Ausrichtung hat, die Einrichtung eines machtfreien Bezirks, der Beispiel ist für eine andere, noch nicht verwirklichte Struktur. Für Lefebvre ist die revolutionäre Kraft auch an den Repräsentationsräumen der Literatur begreif bar, die beispielhaft für Alternativen zu einem bestehenden Gesellschaftsgefüge stehen. Zu denken ist in erster Linie an die aus England stammende Literaturgattung der Utopie (von gr. ou- für ›nicht‹ und gr. topos für Ort). Die negativen »Ortsbestimmungen«11 sind für sie insofern konstitutiv, als sich darin kommende, noch nicht existierende Zustände ausdrücken.12 So ist der (Nicht-)Ort in dem genreprägenden Utopia von Thomas Morus aus dem Jahr 1516 eine entlegene Insel, auf der demokratische Bedingungen herrschen und deren Bewohner kein Privateigentum kennen. Morus’ Schilderungen sind damit die Urfassungen aller kommunistischen Utopien, die das ›Irgendwann‹ als ›Irgendwo‹ beschreiben. Andere Inselromane, wie Daniel Defoes Robinson Crusoe von 1719, sind dagegen antiutopisch (oder mit Lefebvre ›reproduktiv‹) und berichten – zumeist im kapitalistischen Geist – von der Etablierung existierender Gesellschaftsverhältnisse an einem anderen Ort. Die wohl bemerkenswerteste Utopie ist jedoch Erewhon von Samuel Butler aus dem Jahr 1872, deren Titel sich aus einer Umkehrung von ›nowhere‹ ergibt: Der Roman berichtet nicht von einer Insel, sondern von einem Land hinter den Bergen, in dem die diesseits existierenden gesellschaftlichen Zustände auf den Kopf gestellt 11 | Ernst Bloch: »Topos Utopia«, in: Ders.: Abschied von der Utopie? Vorträge, Frankfurt a. M. 1980, 43–64, hier 43. 12 | Vgl. Louis Marin: Utopics. The Semiological Play of Textual Space, New York 1990 [frz. 1973].
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sind. Der ›heimliche Raum‹ Butlers kann als eine Kritik sich abzeichnender Entwicklungen angesehen werden: So werden Verbrecher in Erewhon zum Arzt geschickt, während Kranke bestraft werden. Butlers Raumbeschreibung rückt damit in die Nähe der Dystopie (von gr. dys- für ›un-‹) wie George Orwells Nineteen Eighty-Four von 1949, die vor dem Überwachungsstaat der Zukunft warnt. Literarische Repräsentationsräume müssen jedoch nicht im geographischen Sinn von Orten handeln, sondern können schlichtweg aus Schilderung von Interieurs bestehen. Ein Beispiel aus der französischen Literatur ist JeanFrançois de Bastides Roman La petite maison von 1785, worin detailliert ein Damenzimmer, das Boudoir, mit seinen Spiegeln, Kerzen und Verzierungen beschrieben wird. Solche Schilderungen ›heimlicher Zimmer‹ verschaffen Zutritt zu ansonsten (aufgrund von Geschlecht und Herkunft) unzugänglichen Räumen oder stellen sie auch allererst her.13 Eine Besonderheit der französischen Raumliteratur stellt Madeleine de Scudérys Clélie von 1654 dar, in dem eine von François Chauveau gestochene ›Karte von Tendre‹ – dem ›Land der Zärtlichkeit‹ – gezeigt wird (Abb. 19), deren Wege zum Herzen einer Frau führen (oder es verfehlen).14 Abb. 19: Chauveau, »Karte des Landes der Zärtlichkeit« (Detail)
In all den genannten Beispielen, vor allem aber bei de Bastide, findet etwas statt, dass der französische Wissenshistoriker Gaston Bachelards 1957 in La poétique de l’espace als konstitutiv für jedwede literarischen Beschreibungen beschreibt: Die im Titel genannte Erzeugung (von gr. poiein für ›machen‹) von Raum. Durch die 13 | Vgl. Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topgraphien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800, Würzburg 2004. 14 | Vgl. Doris Kolesch: »Kartographie der Emotionen«, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2003, 161–175.
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Beschreibungen von Raumformen, wie die des Hauses und seiner Teile (Keller und Dachboden oder Winkel und Ecken), über Möbel (wie Schublade, Truhe und Schrank) bis hin zu natürlichen Formen (wie dem Nest oder der Muschel), ist Literatur für Bachelard stets Raumpoetik. Das Besondere an seinem – Lefebvres Theorie der Raumproduktion gewissermaßen vorlaufendem Ansatz – ist, dass der Befund nicht nur für die Literatur gilt, sondern auch für Naturwissenschaften und Philosophie: So ist die von Einstein aufgewiesene ›Schachtel‹ ebenfalls eine poetische Raumform, auf welche die Physik zurückgreift. Bachelard selbst nennt als Beispiel die Vorstellung vom Raum als ›Schwamm‹, die im 18. Jahrhundert als Erklärung für die Fähigkeit der Luft zur Feuchtigkeitsaufnahme dient.15 Für die rationalistische Philosophie konstatiert Bachelard eine Dominanz der Unterscheidung von ›(dr)innen‹ und ›(dr)außen‹: Das paradigmatische Beispiel ist selbstredend Descartes’ Subjektvorstellung, wonach die Vernünftigkeit als ›denkende Sache‹ (lat. res cogitans) sich unausgedehnt im Menschen befinden soll, gegenüber der materiellen, vernunftfreien Welt als ›ausgedehnte Sache‹ (lat. res extensa). Noch Heideggers vermeintlich antikartesianische Konzeption des Menschen als Da-sein trennt nach Bachelards Beobachtung solcherart ein ›Hier‹ von einem ›Dort‹ und verortet damit den Ursprung der Welt im Raum, während er zugleich und gegenteilig behauptet, dass der Raum ›in‹ der Welt ist. Bachelard kommentiert daher lapidar: »Viele Metaphysiker benötigen einen Kartographen.«16 Tatsächlich hätte er treffender schreiben können: »Viele Metaphysiker benötigen einen Topologen«, denn die hier in Frage stehenden Aspekte sind gerade nicht solche der Topographie. Die topologische Kritik der Philosophie geht bis auf den Kant-Schüler Johann Gottfried Herder zurück, der die Vernunftkritik seines Lehrers hinsichtlich der verwendeten Vorwörter analysierte: In seiner Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft von 1799 zeigt er an Kants Unterscheidung der beiden Anschauungsformen auf, dass – wie wiederum schon bei Descartes – dem an sich nicht begrenzten Raum als ›äußere Form der Anschauung‹ ein Ort zugewiesen wird, gegenüber der Zeit als ›innere Form der Anschauung‹. Auch die weitergehende Behauptung, wonach die Anschauungsformen apriorisch sind, das heißt ›vor der Erfahrung‹ liegen und ihren Ursprung ›im Gemüt‹ des Menschen haben, wird von Herder selbst wieder räumlich reflektiert, insofern daran offensichtlich wird, dass die Metaphysik des Raums sich immer schon innerhalb der Topologie einer Erfahrungsräumlichkeit bewegt, die sprachliche in Präpositionen zum Ausdruck kommen, etwa als »vor, nach, zu, in, bei, über, unter«.17 15 | Vgl. Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beiträge zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1987 [frz. 1938], 127 ff. 16 | Ders.: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. 1987 [frz. 1957], 212. 17 | Johann G. Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1955 [1799], 59.
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Da philosophische Beschreibungen solcherart nicht ohne präpositionale Verräumlichung auskommen, will Bachelard den »geometrischen Krebswucherungen des sprachlichen Zellgewebes in der zeitgenössischen Philosophie«18 zumindest eine andere Raumform entgegensetzen, die von ihm so bezeichnete ›Phänomenologie des Runden‹. Bachelard beruft sich dabei auf einen Gegenspieler Heideggers, den Psychiater Karl Jaspers, der schreibt, dass »[j]edes Dasein […] in sich rund [scheint]«.19 Gemeint ist damit, dass die unmittelbar leibliche Wahrnehmung (zu denken ist an McLuhans Schilderung des akustischen Raums) weder eine ausgezeichnete Richtung kennt, noch die Unterscheidung zwischen innen und außen. Doch auch wenn es gerade Belege für die Figur des runden Raums in der Literatur gibt,20 schlägt Bachelards kritische Raumpoetik an dieser Stelle in eine präskriptive Anthropologie um, die wie schon die von Levinas kritisierten Philosophie der Heideggerianer den ›guten‹ Ort gegen den ›schlechten‹ Raum stellt. Der Rückfall in das antinomische Raumdenken führt gleichwohl zu einer Konjunktur dieser von Bachelard als ›Topophilie‹ bezeichneten Art von Phänomenologie: Diese findet sich zunächst in der angelsächsischen Humangeographie bei Yi-Fu Tuan,21 der damit im Unterschied zur ›Topophobie‹ die Ortsliebe eines Menschen oder auch die Begegnung mit einer Landschaft bezeichnet.22 In der gegenwärtigen Philosophie wiederum macht sich ab 1998 Peter Sloterdijk in seinem dreibändigen Werk Sphären für eine Anthropologie des Runden stark. Als phänomenologische Begründung führt er die Situation des Ungeborenen im Uterus an: Hier bestehe keine Differenz zwischen innen und außen (oder ›Ich‹ und ›Anderem‹). Der Schwebezustand im Fruchtwasser bedingt nach Sloterdijk vielmehr das Gefühl des Eins-Seins und begründet das phänomenologische Primat von Nähe: »Wo die Mutter zu denken gibt, ist alles innen.«23 Im Blick auf Lefebvre kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Raumbeschreibungen der Philosophie (gleich ob sie von der rationalistischen Trennung oder der anthropologischen Vereinigung ausgehen) als Repräsentationsräume anzusehen sind, die mit Raumpraktiken und Raumrepräsentationen im dialektischen Zusammenhang stehen. Die metaphysische Teilung 18 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a. a. O. [Anm. 16], 212. 19 | Karl Jaspers: Von der Wahrheit, München 1947, 54. 20 | Vgl. Georges Poulet: Metamorphosen des Kreises in der Dichtung, Frankfurt a. M. 1988 [frz. 1961]. 21 | Vgl. Yi-Fu Tuan: Space and Place. The Perspective of Experience, Minneapolis/ London 1977. 22 | Vgl. Ders.: »Topophilia, or Sudden Encounter with the Landscape«, in: Landscape 11/1 (1961), 29–32. 23 | Peter Sloterdijk: Sphären, Bd. 1: Blasen. Mikrosphärologie, Frankfurt a. M. 1998, 278.
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des Raums etwa erfolgt in einer Zeit als sich Descartes in den Niederlanden aufhält, wo eine bis heute nachwirkende Heeresreform durchgeführt wird: Zu den entscheidenden Neuerungen gehörte die Verwendung einer Befehlssprache, mit der vom Kommandostand aus über eine Befehlskette die Anweisung für bestimmte Bewegungen oder Handlungen in das vorderste Glied gelangt. Der kartesische Dualismus von Denk- und Ausdehnungssubstanz exemplifiziert diese Struktur: Der Befehlsstand entspricht dem (Selbst-)Bewusstsein, das den ausgedehnten, vernunftlosen Körper lenkt.24 Als Repräsentationsraum ist der Rationalismus somit das Produkt einer militärischen Raumpraxis, die ihrerseits in einer Raumrepräsentation gründet, insofern die Skizzen für den operativen Dualismus des niederländischen Heeres an die doppelte Buchführung der Renaissance angelehnt ist: Darin wird Soll und Haben auf einem T-Kontenblatt in getrennten Räumen verrechnet. Das graphische Prinzip der beiden Spalten ist mit Lefebvre gesprochen der ›Raumcode‹ und der kartesische Dualismus der ›Code der Repräsentationsräume‹.
3. M ächtigkeit Eingedenk dieser Komplexität der Erzeugung von Räumlichkeit, unternimmt Soja den Versuch, die Gesamtheit aller (poetisch-philosophisch-politischen) Repräsentationsräume als einen umfassenden Raum der Veranderung zu begreifen, welcher letztlich der ›Welt‹ entspricht. Hierzu rekurriert er auf die Erzählung El Aleph des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges von 1949, dessen titelgebendes Objekt darin wie folgt beschrieben wird: »Im Durchmesser mochte das Aleph zwei oder drei Zentimeter groß sein, aber der kosmische Raum war darin, ohne Minderung seines Umfangs. […] Ich sah das belebte Meer, ich sah Morgen- und Abendröte, ich sah die Menschenmassen Amerikas, ich sah ein silbriges Spinnennetz im Zentrum einer schwarzen Pyramide, sah ein aufgebrochenes Labyrinth (das war London), sah unzählige ganz nahe Augen, die sich in mir wie in einem Spiegel ergründeten […]. […] [I]ch sah die Nacht und den Tag gleichzeitig, sah einen Sonnenuntergang in Querétaro, der die Farben einer Rose in Bengalen widerzustrahlen schien, sah mein Schlafzimmer und niemand darin, […] sah Pferde mit zerstrudelter Mähne auf einem Strand am Kaspischen Meer in der Morgenfrühe […].« 25 24 | Vgl. Wolfgang Schäffner: »Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600«, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina WahrigSchmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, 63–90. 25 | Jorge Luis Borges: »Das Aleph«, in: Ders.: Das Aleph. Erzählungen 1944–1952, Frankfurt a. M. 1992, 131–148 [span. 1949], hier 144.
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Nach Soja ist diese Aleph als ›Welt in der Nussschale‹ der literarische Repräsentationsraum aller möglichen Repräsentationsräume. Borges’ Erzählung ist damit sowohl ein Text über eine Metatheorie des Raums (genau genommen also eine Metametaraumtheorie), als auch ein Aufweis der Grenzen von Raumtheorie: So ist אals Vorläufer des griechischen α und lateinischen A der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets. Der ursprünglich selbst nur in Verbindung mit anderen Buchstaben als Anlaut aussprechbare Buchstabe ist das Äquivalent der Zahl ›1‹ und damit Symbol des all-einen Gottes. In der mathematischen Mengenlehre wiederum steht er für die ›Mächtigkeit‹ einer Menge, das heißt für die Eigenschaften, welche die zu ihr zugehörigen Elemente besitzen. Damit kann eine Zahlenmenge topologisch beschrieben werden, ohne jedes ihrer Elemente anzuführen. Die Menge der ›natürlichen Zahlen‹ wird so anstelle der endlosen Aufzählung von 1, 2, 3 … über den Zahlenraum beschrieben: Er beginnt mit der ersten positiven Zahl, wobei die nächste jeweils durch die Addition mit der ersten bestimmt wird. Auch die Raumform der Front, welche durch die Golden Gate Bridge exemplifiziert wird, kann solcherart als Aleph und Mächtigkeitsbestimmung dieser Menge gelesen werden. Entsprechend wäre Soja dahingehend zu korrigieren, dass es nicht ein Aleph gibt, das alle Räume umfasst (dies wäre ein erneuter Rückfall in eine ausschließliche Wahrheitsbehauptung), sondern dass ein Aleph die spezifische Form einer Repräsentationsräumlichkeit beschreibt. Auch wenn Räumlichkeit für Lefebvre ein Mittel ist, den sozialen Raum in seinen verschiedenen Aspekten zu analysieren, ohne diesen dabei zu verdinglichen, besteht die Gefahr, gerade den erlebten Raum der räumlichen Praxis mit einem vorgefundenen, physischen Raum gleichzusetzen. So adaptiert etwa der Raumsoziologe Pierre Bourdieu – der, wie weiter unten gezeigt wird, anfänglich eine strikt topologische Raumauffassung vertritt – Lefebvre, indem er die Trias von ›physischem‹, ›sozialem‹ und ›angeeignetem physischen Raum‹ in Anschlag bringt.26 Damit erfolgt nichts Geringeres als eine Reterritorialisierung des Sozialen: Denn während für Lefebvre Raum stets das Ergebnis einer durch das Zusammenspiel von Raumrepräsentationen und Repräsentationsräumen konstituierten Praxis ist, veranschlagt Bourdieu einen Raum als ›Natur an sich‹, den es vor dessen sozialer Prägung oder wissenschaftlichen Interpretation gibt. Dass Raum für diese Herangehensweise keine ontologische Kategorie (des Sozialen) ist, sondern ein Mittel zur Kultur- und Gesellschaftsanalyse, wird auch bei einem anderen Neomarxisten deutlich: Frederic Jameson. Zumeist wird dieser nicht mit dem ›Spatial Turn‹, sondern mit dem ›Cultural Turn‹ in Verbindung gebracht.27 Jedoch hat dieser für ihn eine gänzlich unvermutete 26 | Pierre Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«, in: Martin Wenz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt a. M./New York 1991, 25–34. 27 | Vgl. Frederic Jameson: The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern 1983–1998, New York 1998.
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Bedeutung: Während heute damit innerakademisch zumeist eine Zuwendung vieler Disziplinen zu Fragen der Kultur bezeichnet wird, will Jameson auf die Wende des Kapitalismus zur Kultur aufmerksam machen. In seinem Text über The Logic of Late Capitalism von 1984 führt er entsprechend an, dass es besagtem Spätkapitalismus in Zeiten der ›Postmoderne‹ gelungen sei, sich in das Gewand von Kultur zu hüllen: So trinkt heute kaum mehr jemand einfach nur Kaffee, sondern nimmt Teil an – vorzugsweise – der italienischen Kultur in Form eines Espressos oder darauf aufbauender Kreationen. Doch die vermeintliche Teilhabe ist letztlich nur der Konsum einer durch den Kapitalismus vermarkteten Italienität als Fetischcharakter dieser Ware, jenseits ihres Gebrauchswerts; und eben diese Warenästhetik konfiguriert zusehends räumlich.28 Für die Raumtheorie relevant an Jameson ist in erster Linie, dass er zu Zwecken der Kapitalismuskritik die Analyse eines Raums unternimmt, den er im Sinne Lefebvres als Repräsentationsraum behandelt. Es handelt sich um den ›Bonaventure‹-Komplex der Westin-Kette in Los Angeles, welches seit seiner Erbauung zwischen 1974 und 1976 das größte Hotel der Stadt ist und auch heute noch zu den größten seiner Art weltweit zählt. Von außen mutet das Gebäude modern an (Abb. 20) und die Stahl-Glas-Konstruktion entspricht auf den ersten Blick dem Credo des Hochhauspioniers Louis Sullivan: ›Form Follows Function‹. Abb. 20: Bonaventure-Hotel von außen
Abb. 21: Bonaventure-Hotel von innen
28 | Vgl. Steven Miles: Spaces for Consumption. Pleasure and Placelessness in the Post-Industrial City, Los Angeles u. a. 2010.
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Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung eine Dysfunktionalität, insofern das Hotel keinen Eingang zu haben scheint. Wie schon die verspiegelte Fensterfront die Besucher visuell abweist, können sie körperlich nur über die Tiefgarage Zugang zur Lobby erhalten. Dort angekommen öffnet sich ein lichter Innenhof im Stile eines römischen Atriums (Abb. 21) – genau jener Bauweise, die heute fast in jeder Shopping Mall anzutreffen ist. Für Jameson tritt hiermit der Widerspruch zur modernen, ›geschichtslosen‹ Fassade deutlich zu Tage, da im Inneren des Gebäudes Geschichte in Form eines architektonischen Zitats evoziert wird. Dennoch können sich die Besucher ›verortet‹ fühlen, indem sie in Los Angeles Anteil an der europäischen Bautradition nehmen. Zur Spannung von Geschichtslosigkeit und Geschichtsinszenierung trägt das Element der Wendeltreppen bei, die zur Einkaufspassage des Hotels führt: Die Windungen geben an keiner Stelle den Blick frei auf die Gesamtheit des Raums. Viele Geschäfte mussten daher schließen, da die Kunden den Weg zum Laden nicht fanden. Spätestens hier wird das Gebäude für Jameson zum exemplarischen Repräsentationsraum der Nachmoderne: »Meine Hauptthese ist, daß es mit dieser neuesten Verwandlung von Räumlichkeit, daß es dem postmodernen Hyperraum gelungen ist, die Fähigkeit des individuellen menschlichen Körpers zu überschreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung zu strukturieren und kognitiv seine Position in einer vermeßbaren äußeren Welt durch Wahrnehmung und Erkenntnis zu bestimmen. Und so meine ich, dass die beunruhigende Diskrepanz zwischen dem Körper und seiner hergestellten Umwelt […] selbst als Symbol und Analogon für ein noch größeres Dilemma stehen kann: die Unfähigkeit unseres Bewußtseins […], das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.« 29
Wie sich für Simmel zentralistische Gesellschaften in ihren Stadtarchitekturen ausdrücken, so für Jameson die globale Unübersichtlichkeit im Bonaventure-Hotel.
29 | Frederic Jameson: »Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, 45–102 [engl. 1984], hier 89.
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4. O rtskonzep te Das Konzept des Drittraums nach Soja und Lefebvre wird in der Raumdiskussion häufig mit anderen Ansätzen verwechselt. Eine vermeintliche Nähe besteht vor allem zur Theorie des ›dritten Orts‹ nach Ray Oldenburg, die mithin dem Raumverständnis Lefebvres entgegengesetzt ist. Weniger in Europa als vielmehr in Nordamerika bekannt ist Oldenburgs 1989 erschienenes Buch The Great Good Place, worin er sich einer ganzen Ansammlung von Orten zuwendet, die allesamt das Kriterium des dritten Orts erfüllen: Cafés, Dorfläden, Gemeinschaftshäuser oder Bars. Die geringe Beachtung in Europa erklärt sich letztlich daraus, dass Oldenburg die Vorbilder zumeist von hier bezieht, wo er die Institutionen findet, welche einen Ausgleich zwischen dem ›ersten Ort‹ des (privaten) Zuhauses und dem ›zweiten Ort‹ des (öffentlichen) Arbeitsplatzes zu schaffen in der Lage sind. Dritte Orte dienen nach Oldenburg als ›Gleichmacher‹ (engl. leveler) sowohl zwischen den ersten beiden Orten als auch der sozialer oder ökonomischer Unterschiede. Das Medium der dritten Orte sei das persönliche Gespräch: »Third places exist on neutral ground and serve to level their guests to a condition of social equality. Within these places, conversation is the primary activity and the major vehicle for the display and appreciation of human personality and individuality. […] The character of a third place is determined most of all by its regular clientele and is marked by a playful mood, which contrasts with people’s more serious involvement in other spheres.« 30
Anders als die Ortskonzeptionen in den an Heidegger anschließenden Raumtheorien wird mit diesem intervenistischen Ansatz unter dem ›Ort‹ oder ›Platz‹ gerade keine geographisch fixierte Entität wie bei Bollnow verstanden, sondern ein Funktionsraum,31 dessen Lokalisierung sich allein dadurch bestimmt, dass er sich (verkehrstechnisch) zwischen dem ersten und dem zweiten Ort befindet. Oldenburgs Konzeption ergänzt damit vorlaufend eine weitere ortszentrierte Raumtheorie, die drei Jahre zuvor von dem französischen Ethnologen Marc Augé als ›Einführung in eine Anthropologie der Übermodernität‹ vorgelegt wird. Der Programmatik nach besteht eine Affinität zu Jamesons und Harveys Diagnosen des postmodernen Zustands, wobei Augé mit dem Begriff des ›Nicht-Orts‹ arbeitet. Im französischen Original heißen diese titelgebenden non-lieux. Für Augé hat der Ausdruck jedoch nicht die naheliegende Be30 | Ray Oldenburg: The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons and Other Hangouts at the Heart of a Community, Cambridge 1997 [1989], 42. 31 | Vgl. William H. Whyte: The Social Life of Small Urban Spaces, New York 2001 [1980].
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deutung von ›U-Topien‹, sondern er erklärt sich aus der klanglichen Nähe zu milieu: Das Wort Milieu, welches auch in der deutschen Sprache verwendet wird, hat zunächst die Bedeutung von ›Umwelt‹, was seinerseits aus dem dänischen Wort omverden für ›umgebendes Land‹ abgeleitet ist. Umwelt oder Milieu bezeichnen demzufolge kein territoriales Gebiet, sondern den Umstand des räumlichen Eingelassen-Seins.32 – Nicht-Orte sind nach Augé entsprechend das Gegenteil: An ihnen sind Menschen nicht unmittelbar anwesend, da sie weder ersten Orten des Heims noch zweiten Orten der Arbeit (im Sinne Oldenburgs) entsprechen. Vielmehr entsprechen sie dem Weg dazwischen. Es verwundert daher kaum, dass als »Nicht-Ort der Geschwindigkeit« schon 1975 von Virilio »die Transportmittel und die Transitstätte«33 ausgemacht werden. In diesem Sinne formuliert auch Augé: »[Die spektakuläre Beschleunigung der Verkehrsmittel] führt konkret zu beträchtlichen physischen Veränderungen: zur Verdichtung der Bevölkerung in den Städten, zu Wanderungsbewegungen und zur Vermehrung dessen, was wir als ›Nicht-Orte‹ bezeichnen […]. Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughafen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert.« 34
Konzeptionell vergleichbar sind die Menge der Nicht-Orte wiederum mit dem von dem spanischen Soziologen Manuel Castells 1996 so bezeichneten ›Raum der Ströme‹ (engl. space of flows) als Daseinsform der ›informationellen Gesellschaft‹. Deren Raum charakterisiert Castells – über Virilio hinausgehend – als zugleich ent- und verortet: erstens hinsichtlich der Mobilisierung von Waren, Menschen und Information, zweitens hinsichtlich der Besetzung. Nur ist aus dem Raum der Regionen ein »Kommunikationsnetzwerk« als »die grundlegende räumliche Konfiguration« geworden, in der »Orte [nicht] verschwinden […], aber ihre Logik und ihre Bedeutung […] im Netzwerk absorbiert [werden]«.35 Die Orte wiederum, die nach Castells absorbiert werden, charakterisiert Augé als ›anthropologisch‹:
32 | Vgl. Lenelis Kruse: Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie, Berlin/New York 1974. 33 | Paul Virilio: »Fahrzeug«, in: Ders.: Fahren, fahren, fahren …, Berlin 1978, 19–50 [frz. 1975], hier 32. 34 | Marc Augé: Ort und Nicht-Ort. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994 [frz. 1992], 44. 35 | Manuel Castells: Das Informationszeitalter, Bd. 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001 [engl. 1996], 468.
II. Produktion des Raums »[Der anthropologische Ort] läßt sich auf der Basis dreier einfacher räumlicher Formen fassen, die auf verschiedene institutionelle Dispositive anwendbar sind und in gewisser Weise die elementaren Formen des sozialen Raumes bilden. Geometrisch gesprochen handelt es sich um die Linie, das Schneiden von Linien und den Schnittpunkt. Konkret […] können wir einerseits von Bahnen, Achsen oder Wegen sprechen, die von einem Ort zu einem anderen führen […], andererseits von Kreuzungspunkten und Plätzen, […] die den Anforderungen des ökonomischen Austauschs genügen, und schließlich von den mehr oder weniger monumentalen Zentren religiöser oder politische Art, […] jenseits deren andere Menschen sich als andere definieren […].« 36
Im Unterschied zu Oldenburg gibt es bei Augé nun keinen alternativen, dritten Ort. Vielmehr müsse der sich anbahnende Zustand akzeptiert werden, ansonsten drohe ein Rückfall in den ortsfetischisierenden Nationalismus. Die im deutschen Buchtitel genannte ›Ethnologie der Einsamkeit‹ ist folglich die Konsequenz. Was dies bedeutet, hat Augé mit der Schilderung eines persönlichen Erlebnisses verdeutlicht: »Das erste Mal, als ich nach Japan kam, war mein Gepäck unterwegs verloren gegangen und ich fand mich in Tokio wieder, wo es damals noch keinerlei englische Hinweisschilder gab. […] Um mir die nötigen Kleidungsstücke zu kaufen, bin ich in einen Supermarkt gegangen. […] Endlich war ich, von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, wieder in meiner vertrauten Welt! Und die großen Hotelketten […] ähneln sich in der Tat, ganz egal, wohin man kommt. Sie sind der Ort der Ortlosen.« 37
Nicht nur Augé mit dem Konzept der Nicht-Orte oder Oldenburg mit dem Konzept der dritten Orte versuchen sich so unter Beibehaltung der Ortskategorie aus der Antinomie mit dem (absoluten) Raum zu befreien. Ein vorlaufender Versuch stammt aus der Schrift Arts de Faire des Historikers Michel de Certeau von 1980. Wie der Titel unmissverständlich zeigt, nimmt er eine possibilistische, handlungszentrierte Haltung betreffs ›Raum‹ (frz. espace) ein, dem wiederum der ›Ort‹ (frz. lieu) gegenübergestellt wird: »Ein Ort ist die Ordnung […], nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Hier gilt das Gesetz des ›Eigenen‹: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ›eigenen‹ und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, 36 | Augé: Ort und Nicht-Ort, a. a. O. [Anm. 34], 69 f. 37 | Ders.: »Der Tourismus ist möglicherweise die letzte Utopie«, in: Atopia 8 (2005), 1–6, hier 4.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […]. […] Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ›Eigenem‹. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.« 38
De Certeau vertritt damit insofern einen bemerkenswerten Ansatz, als er sich sowohl innerhalb wie auch außerhalb der dritten Antinomie des Raumdiskurses befindet. Seine Theorie lässt sich solcherart doppelt lesen: Zunächst perpetuiert er die distinkte Gegenüberstellung von ›Ort‹ und ›Raum‹ und versieht auch sie mit einer moralischen Konnotation, die ihn in die Nähe Heideggers rückt. Denn auch de Certeau versteht eine Seite als ›unmenschlich‹ oder rationalistisch; nur ist diese nicht diejenige des Raums, sondern des Orts – also genau der Aspekt, welcher nach Heidegger aus dem ›Räumen‹ resultiert. Anders als bei diesem liegt bei de Certeau kein überhöhter Ortsbegriff vor, sondern schlicht und ergreifend ein geometrisches Verständnis von ›Punkt‹: der Ort als Kreuzung von Linien, wie sie vor allem in neuzeitlichen Karten Verwendung finden und der also ein Modus des absoluten Raums ist. Entsprechend umgewertet wird bei de Certeau der »Nicht-Ort« als Ergebnis »einer Art des ›Vorübergehens‹«,39 vergleichbar dem situationistischen Umherstreifen nach Debord. Nach de Certeau ist es berechtigt zu sagen, der neuzeitliche Raum existiert nur als ›Toter‹. In einen (Orts-)Zombie verwandelt sich Raum damit um 1500. De Certeau sieht die Ursache der Verwandlung in einer veränderten Kartographie: Die heute mit dem Namen des Kartographen Gerhard Mercator verbundene Raumprojektion überführt nämlich jedes Gebiet der Erde (gleich ob Land oder Meer) in ein Raster von Orten,40 die durch Breiten- und Längengrade angebbar sind. Wie schon durch die Projektionsmethoden der Perspektivmalerei wird ein Raum konstruiert, welcher der Erfahrung vorausliegt; das heißt im Falle der Karte: der vor der Entdeckung der Gebiete bereits ›da‹ ist. Die Nähe kommt nicht von ungefähr, besteht doch eine tiefe Verwandtschaft zwischen Perspektivmalerei und Kartographie. Letztlich geht jene auf diese zurück, insofern Claudios Ptolemaios im zweiten Jahrhundert die perspektive Projektionsweise bereits zur Erstellung von Erdkarten auf Grund-
38 | Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988 [frz. 1980], 217. 39 | Ebd., 197. 40 | Vgl. Bernhard Siegert: »(Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik«, in: Thesis 3 (2003), 92–104.
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lage eines geometrischen Prinzips entwickelt.41 Im Florenz des 15. Jahrhunderts wird seine Geographia dann unter anderem von dem Architekten Filippo Brunelleschi gelesen, auf den das erste Experiment zur Belegung der Zentralperspektive als ›Sichtersatz‹ zurückgeht.42 Von nun an lösen Karten mit ptolemäischem Projektionsgrundsatz die mittelalterlichen Weltdarstellungen ab. Ein berühmtes Beispiel für die mittelalterliche Kartographie ist die Ebstorfer mappa mundi, in der die Erde reduziert ist auf die Ökumene (gr. oikou mene für das ›Bewohnte‹).43 Diese ist wiederum kreisförmig durch den Leib Christi eingefasst und um das Zentrum Jerusalem herum angeordnet und geostet, so dass das Paradies in der Nähe seines Kopfes lokalisiert ist (Abb. 22). Topographisch kann aus heutiger Warte keine Entsprechung mit dem abgebildeten Territorium festgestellt werden.44 Dies liegt daran, dass die Karte anstelle eines neuzeitlichen, raumrepräsentativen Anspruchs einen symbolischen verfolgt. Mit Lefebvre gesprochen ist diese Karte daher als Ausdruck der christlichen Weltvorstellung selbst ein Repräsentationsraum und nicht allein eine Raumrepräsentation. Abb. 22: Ebstorfer Weltkarte (Detail)
41 | Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, München 2002 [engl. 1975]. 42 | Vgl. Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Zürich/Berlin 2010 [frz. 1987]. 43 | Vgl. www.uni-lueneburg.de/hyperimage/EbsKart/start.html. 44 | Vgl. Hartmut Kugler (Hg.): Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte, Weinheim 1991.
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Abb. 23: Etzlaub, »Rom-Weg« (Detail)
Im Blick auf de Certeaus Raumtheorie einschlägig sind für das vorneuzeitliche Raumverständnis die seit der römischen Antike verwendeten Itinerare (von lat. iter für ›Weg‹): Zumeist waren sie als itineraria scripta in Textform gehalten und listeten die Stationen mit den Entfernungen zwischen ihnen auf. Diese praxisbezogene Art der Raumrepräsentation wird denn auch angeführt, um der Antike die Nutzung von Karten im Allgemeinen abzusprechen.45 In der Tat kommen itineraria picta vermehrt erst in der Neuzeit auf. Ein Beispiel ist die Pilgerkarte des Nürnberger Kartographen Erhard Etzlaub aus dem ›heiligen Jahr‹ 1500, in dem viele Gläubige auf der Via romea ihren Gang in die Hauptstadt des katholischen Christentums antreten (Abb. 23). Etzlaubs Romweg-Karte zeigt das Gebiet vom Baltischen Meer bis Mittelitalien in gesüdeter Ansicht, mit Rom im oberen Teil. Auch wenn die Gebietsdarstellungen bereits Ähnlichkeit mit einer neuzeitlichen Karte haben, so zeichnet sich das Itinerar doch dadurch aus, dass es durch die gepunkteten Linien Hinweise auf die Pilgerrouten gibt und die Abstände zwischen den Stationen abgelesen werden können. Der Gebrauchsaspekt seht somit im Vordergrund oder wie de Certeau schreibt: die »Umgangsweisen mit dem Raum (frz. prati que de l’espace)«.46 Schließlich entwickelt de Certeau aus der Gegenüberstellung von ›Ort‹ und ›Raum‹ die Differenz von ›Karte‹ (frz. map) und ›Reise‹ (frz. tour): Während Orte aus Karten hervorgehen und den Raum ›töten‹, wird der Raum durch 45 | Vgl. Kai Brodersen: Terra Cognita. Studien zur römischen Raumauffassung, Hildesheim 22003. 46 | De Certeau: Kunst des Handelns, a. a. O. [Anm. 38], 187.
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das Handeln der Menschen belebt oder tritt allererst ins Dasein. In der Soziologie wird neudeutsch hierfür auch von einem »Spacing«47 gesprochen. Doch nicht nur historisch, sondern auch anthropologisch ist die Unterscheidung von ›Karte‹ und ›Reise‹ gerechtfertigt: So bezieht sich de Certeau auf eine linguistische Untersuchung, im Zuge dessen Bewohner New Yorks gebeten werden, ihre Wohnungen zu beschreiben. Dabei fallen zwei räumliche Beschreibungsweisen auf:48 Eine, die über die Bewegung durch den Raum erfolgt (wie: »Geh den Gang hinunter und wende Dich nach links«), und eine andere, die über das Sehen von einem Ort aus erfolgt und einer Bildbeschreibung eignet (wie: »Hier ist x, dort ist y«). Die Verräumlichung von Orten ist demnach an die Bewegung oder antike ›Reise‹ des menschlichen Körpers gebunden, der Ort als Stillstellung des Raums an den Gesichtssinn oder die Bildbetrachtung und der neuzeitlichen Form der ›Karte‹ zugehörig. De Certeaus Raumtheorie gehört mit zu den am meisten rezipierten in der gegenwärtigen Raumdebatte und kann auf viele Bereiche des Raumhandelns angewandt werden. Damit lässt sich etwa die Raumpraxis des Parkour beschreiben, einem aus Frankreich stammenden Freizeitsport, dessen Zielstellung es ist, urbane Architektur auf eine andere Weise zu durchkreuzen, als es alltäglich üblich ist.49 Zumeist läuft es darauf hinaus, dass der ›Linienzieher‹ (frz. le traceur) eine Mauer oder einen Abgrund nicht umgeht, sondern in regelrecht euklidischer Manier den direkten, kürzesten Weg zwischen zwei Punkten sucht. Die durch ein bloß reproduzierendes Raumhandeln stillgestellten Orte werden damit im Sinne de Certeaus (wieder) verräumlicht. Kritisch kann eingewandt werden, dass der Vorwurf an die Mercatorprojektion letztlich so nicht haltbar ist, da auch sie einem praktischen Bedürfnis entspringt: Mit den daraus resultierenden Plänen ist es in der Seefahrt möglich, einen gewählten Kurs – als sogenannte geodätische Linie – auf dem Meer auch durch eine Gerade in der Karte einzuzeichnen.50 Nach Deleuze und Guattari ist genau das zwar der paradigmatische Fall einer Kerbung des glatten Raums, gleichwohl ist auch die neuzeitliche Seefahrt eine räumliche Praxis (wenn auch der Sesshaften).
47 | Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, 158. 48 | Vgl. Charlotte Linde/William Labov: »Spatial Networks as a Site for the Study of Language and Thought«, in: Language 52 (1975), 924–939. 49 | Vgl. Jeffrey L. Kidder: »Parkour. The Affective Appropriation of Urban Space, and the Real/Virtual Dialectic«, in: City & Community 11/3 (2012), 229–253. 50 | Vgl. Mark Monmonier: Rhumb Lines and Map Wars. A Social History of the Mercator Projection, Chicago/London 2004.
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Abb. 24: Mercator, »Große Weltkarte« (Detail)
Zwischen der ersten Karte Mercators (Abb. 24) aus dem Jahr 156951 und dem Einsatz des daraus resultierenden Projektionstyps vergingen allerdings nochmals zweihundert Jahre, bis ab 1750 verbesserte Chronometer eine exakte Längengradbestimmung ermöglichen. Die Entscheidung zu einer solchen ›winkeltreuen‹ Projektion des Erdkörpers auf die Bildfläche ist gleichwohl schwerwiegend, als damit die Möglichkeit der Abstandstreue (wie sie bei Etzlaub gegeben ist) und noch mehr der Flächentreue aufgegeben wird: Zum Tragen kommt das geodätische Prinzip fortan nämlich nicht mehr nur bei nautischen Karten, sondern auch bei den übrigen Weltkarten, die in anderen Zusammenhängen genutzt werden. Mercators Projektionslogik zufolge werden Gebiete zu den Polen hin größer dargestellt als am Äquator, so dass die in der Karte zumeist nicht mehr abgebildeten Pole auf die Größe der Grundlinie anwachsen. In Folge dessen erscheinen die in den mittleren Breitegraden der nördlichen Hemisphäre angesiedelten Industriestaaten ausgedehnter als etwa der afrikanische Kontinent. Grönland wiederum nimmt dieselbe Fläche ein wie Indien etc. Vor allem durch die Initiative des Kartographen Arno Peters, der 1973 eine flächentreue Erdkarte – auf Grundlage einer schon 1855 entwickelten Projektion – vorlegte (Abb. 25),52 wird Mercators Darstellungsgrundsatz sukzessive zurückgedrängt.53
51 | Vgl. gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b7200344k/f1.item. 52 | Vgl. Arno Peters: Die neue Kartographie, Klagenfurt 1983. 53 | Vgl. www.hot-map.com/de/peters-world-map.
II. Produktion des Raums
Abb. 25: »Orthogonale Weltkarte«
Ihren Anwendungskontext belegt Mercators ursprüngliche Karte zuletzt dadurch, dass sie noch keine orthogonale Rasterung aufweist, sondern Linien entlang von Teilwinkeln (Rumben). Diese sind charakteristisch für Karten der zeitgenössischen Seefahrt, die ihrerseits Verbildlichungen antiker Seeroutenbeschreibungen zur Küstenfahrt (gr. periplous) waren. Die sogenannten Portolane verzeichnen neben dem Küstenverlauf nur Häfen (lat. portus) und eben die sich sternförmig ausbreitenden Linienbüschel. Navigiert wird ausgehend von einem Hafen oder einer Landmarke sowie dem gewünschten Zielort. Aus der daraus hervorgehenden Linie wird die Parallele in der Karte gesucht und mit Hilfe des Kompasses die betreffende Himmelsrichtung gesucht, um das Schiff bis zum nächsten Abgleichungspunkt zu bringen.
5. H e terotopologie Ein Ortskonzept, dessen Bekanntheit das de Certeaus oder Augés übertrifft und in seiner Relevanz für den Raumdiskurs demjenigen Heideggers ebenbürtig ist, wird Ende der 1960er Jahre von dem Wissenshistoriker Michel Foucault in dem Aufsatz Des espace autres formuliert. Dieser am 14. März 1967 als Vortrag vor Architekten gehaltene und auszugsweise im Jahr darauf veröffentlichte Text54 kommt erst in Foucaults Todesjahr 1984 als letzter von ihm freigegebene Text zur endgültigen Veröffentlichung.55 – Im zeitgenössischen 54 | Vgl. Michel Foucault: »Des espaces autres«, in: l’Architettura 13 (1968), 822 f. 55 | Vgl. Ders.: »Des espaces autres. Une conférence inédite de Michel Foucault«, in: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (1984), 46–49.
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Zusammenhang der außerakademischen Hinwendungen zum Raum setzt er letztlich den akademischen Spatial Turn in den deutsch- und französischsprachigen Kulturwissenschaften überhaupt in Gang. Foucaults zentraler Raumbegriff ist die ›Heterotopie‹ – was sich übertragen lässt als ›Andersort‹ oder schlicht ›anderer Ort‹. Der Ausdruck kommt ursprünglich aus der Medizin und bezeichnet das Vorhandensein von (gesundem) Gewebe an unüblicher Stelle.56 Lefebvre etwa definiert sie 1970 in seiner thematischen Vorgängerschrift zur Theorie der Raumproduktion über La révolution urbaine in Abgrenzung zur ›Isotopie‹ als das, was sich »in Bezug auf den ursprünglich untersuchten Ort einen Platz anweist.«57 Foucault stellt sein Verständnis von Heterotopie erstmals am 7. Dezember 1966 im Rahmen eines Beitrags für Radio France in der Sendung Culture française vor:58 Der zugrundeliegende Text mit dem Titel Les hétérotopies wird dann später zum Hauptteil seiner Publikation von 1984. Nicht das Konzept der Heterotopie im Speziellen, als vielmehr die Tatsache, dass bei Foucault die Auseinandersetzung mit Raum zugleich Anfang und Ende seines Forschens bildet, hebt seinen Ansatz gegenüber vielen anderen im Laufe dieser Einführung vorgestellten Positionen hervor. Inspiriert ist Foucault von dem surrealistischen Philosophen Georges Bataille, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Projekt einer ›Heterologie‹ verfolgt, mit dem Kultur von dem her verstanden werden soll, was diese ausgrenzt oder tabuisiert, wie beispielsweise den Exzess oder das Verbrechen: »Die Heterologie ist die Wissenschaft vom Heterogenen, das heißt die Wissenschaft vom ausgeschlossenen Teil (oder zumindest von der Art der Ausschließung, die diesen Teil hervorbringt.«59 – »Professoren« etwa, die über Raum nachdenken, empfiehlt Bataille, »im Gefängnis einzusperren, um ihnen beizubringen, was das ist, der Raum.«60 Foucault definiert Kultur oder Gesellschaften nun entsprechend dadurch, dass sie sich durch eine heterogene Raumkonfiguration auszeichnet, durch die Auseinandersetzung mit dem, was sie aus- oder einschließt: »Der Raum, in dem wir leben und der uns anzieht, so dass wir aus uns selbst heraustreten, der Raum, in dem die eigentliche Erosion unseres 56 | Vgl. Sigurd F. Lax: »›Heterotopie‹ aus Sicht der Biologie und Humanmedizin«, in: Roland Ritter/Bernd Knaller-Vlay (Hg.): Other Spaces. Die Affäre der Heterotopie, Wien 1998, 114–123. 57 | Lefebvre: Revolution der Städte, a. a. O. [Kap. Einleitung, Anm. 18], 45. 58 | Vgl. Michel Foucault: »Die Heterotopien«, in: Ders.: Die Heterotopien – Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M. 2005, 7–22. 59 | George Bataille: »Die Heterologie. Definition«, in: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung 3 (2014), 57 [frz. 2011]. 60 | Ders.: »Raum«, in: Rainer M. Kiesow/Henning Schmidgen (Hg.): Kritisches Wörterbuch, Berlin 2005, 47 [frz. 1930].
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Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte stattfindet, dieser Raum, der uns zerfrisst und auswäscht, ist seinerseits heterogen.«61 Foucault proklamiert gar eine eigene Methode zur Untersuchung von Raum, eine »Heterotopologie«,62 nach der sich seine gesamten weiteren Arbeiten ausrichten werden. Zunächst bestimmt er die Raumform der Heterotopie jedoch negativ, indem er sagt, wovon seine Arbeiten nicht handeln. Schon im Vorfeld grenzt sie Foucault ab: »Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang chimärisch ist. Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich, weil sie heimlich die Sprache unterminieren […]. […] Sie lösen die Mythen auf […].« 63
Gleichwohl helfe ein utopischer Sonderfall zu verstehen, was eine Heterotopie ist: der Spiegel, der zwar materiell vorhanden ist, aber einen Ort zeigt, der nicht existiert. In bildtheoretischen Termini gesprochen ist der Spiegel eine Utopie in Bezug auf die Bilderscheinung (engl. image), eine Heterotopie aber in Bezug auf den Bildträger (engl. picture): »Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt es sich um eine Heterotopie, insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.« 64
61 | Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2005, 931–942 [frz. 1984], hier 934. 62 | Ebd., 936. 63 | Ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt a. M. 1974 [frz. 1966], 20. 64 | Ders.: »Von anderen Räumen«, a. a. O. [Anm. 61], 935 f.
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An die Abgrenzung von der Utopie schließen sich sodann sechs ›Grundsätze‹ oder Merkmale an, wobei nach Foucault nicht alle Grundsätze auf alle Heterotopien zutreffen müssen. Einzige Ausnahme bildet das erste Axiom, wonach jede Kultur andere Gegenorte hervorbringt und es sich dabei entweder um eine Krise- oder um eine Abweichungsheterotopie handelt. Erste ist vor allem ›primitiven‹ oder frühen Gesellschaften eigen, letztere vor allem den modernen. Da ›Krise‹ schlichtweg ›Entscheidung‹ (gr. krisis) bedeutet, ist eine solche Heterotopie überall dort anzutreffen, wo der Fortgang eines Lebenswegs die Richtung ändern kann.65 So ist die Hochzeitsreise und noch mehr das Hochzeitsbett als Ort der Defloration eine Heterotopie. Beispiel für eine Abweichungsheterotopie ist dagegen das von Foucault später eingehend untersuchte Gefängnis. Der zweite Grundsatz handelt davon, dass die anderen Orte einen Funktionswandel durchlaufen können. Foucaults Bestimmung wirkt an dieser Stelle ungenau, da er schreibt, dass eine Heterotopie selbst ihre Funktion ändert. Sein Beispiel steigert die Verwirrung dann nochmal, da er zunächst eine Verlegung des Ortes beschreibt und nicht die eigentliche Veränderung der Heterotopie: So sei der Friedhof mit Beginn des 19. Jahrhunderts aus von der Kirche weg verlagert worden, hinaus vor die Stadtgrenzen. Der Funktionswandel ist jedoch der, dass die Toten zuvor in der Nähe der Auferstehungsstelle sein sollten, später aber als potentielle Krankheitsherde angesehen wurden.66 Streng genommen handelt es sich also um die Abfolge zweier Heterotopien (zunächst um eine Krisen-, sodann um eine Abweichungsheterotopie), nicht um einen bloßen Funktionswandel. Der dritte Grundsatz ist der raumtheoretisch entscheidende, da er im eigentlichen Sinne auf spatiale Konfigurationen eingeht, welche die Heterotopie in die Nähe der repräsentationsräumlichen Deutung des Alephs durch Soja (der Foucaults Konzept in Thirdspace ein eigenes Kapitel widmete) rückt: »Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen. So bringt das Theater auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind. Und das Kino ist ein sehr sonderbarer rechteckiger Saal, an dessen Ende man auf eine zweidimensionale Leinwand einen dreidimensionalen Raum projiziert. Aber das älteste Beispiel einer Heterotopie aus widersprüchlichen Orten dürfte der Garten sein. Wir sollten nicht vergessen, dass der Garten, diese erstaunliche, jahrtausendealte Schöpfung, im Orient sehr tiefe Bedeutungen besaß, die einander gleichsam überlagerten. Der traditionelle Garten der Perser 65 | Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970. 66 | Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München 1980 [frz. 1978].
II. Produktion des Raums war ein heiliger Raum, dessen viergeteiltes Rechteck für die vier Teile der Welt stand, wobei sich im Zentrum ein Raum befand, der noch heiliger war als die anderen und den Nabel der Welt darstellte (dort stand die Brunnenschale mit dem Wasserspeier). Und die ganze Vegetation des Gartens verteilte sich auf diesen Raum, der gleichsam einen Mikrokosmos bildete. Die Teppiche waren ursprünglich Nachbildungen des Gartens. Der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt in symbolischer Vollkommenheit erscheint, und der Teppich ist gewissermaßen der im Raum bewegliche Garten. Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und zugleich ist er die ganze Welt. Der Garten ist seit der frühesten Antike eine geglückte, universalisierende Heterotopie (dort liegt der Ursprung unserer zoologischen Gärten).« 67
Als viertes Axiom nennt Foucault, dass Heterotopien ›heterochron‹ sein können, wie Archive und Museen, die Vergangenes (von verschiedenen Orten) in der Gegenwart (an einem gemeinsamen Ort) versammeln. (In Nähe zu dieser Annahme steht das 1937/38 entwickelte Konzept des ›Chronotopos‹ nach Michail Bachtin, wonach Orten eine jeweils andere Zeitlichkeit eigen sein kann.68) Als fünfter Grundsatz sodann, dass Heterotopien ›geschlossen‹ wie das Gefängnis oder ›offen‹ wie ein Gastzimmer sein können. Das letzte Merkmal ist schließlich das der Heterogenität selbst oder vielmehr der Gegensätzlichkeit des heterogenen Orts zum Raum, von dem er abgegrenzt ist. Denkbare Beispiele sind dabei auf einer Skala von ›illusionär‹ bis ›wirklich‹ aufgereiht und umfassen das Kino, in dem Bilder einer Wunschwelt gezeigt werden, ebenso wie das Bordell, in dem die Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft umgekehrt sind und Promiskuität zur Regel wird. Der Grundriss zur Heterotopologie endet schließlich mit einem Bataille würdigen Plädoyer für das ›Außen-Sein‹, indem sich Foucault erneut einem Hybriden aus Utopie und Heterotopie zuwendet: Ebenso wie der Spiegel sei das Schiff ein »Ort[] ohne Ort«, insofern es »letztlich ein Stück schwimmenden Raumes«69 ist. Foucault eignet sich damit die für Newton zentrale Figur des relativen Raums an und widmet sie kulturgeschichtlich um: »Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der Freibeuter die Polizei.« 70 Der Schluss gehört nicht nur zu den kitschigsten Formulierungen Foucaults, sondern zeigt auch, weshalb schon gegen seinen Vorgänger Bataille 67 | Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, a. a. O. [Anm. 61], 938 f. 68 | Vgl. Michail M. Bachtin: »Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik«, in: Ders.: Chronotops, Frankfurt a. M. 2008, 7–199 [russ. 1975]. 69 | Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, a. a. O. [Anm. 61], 942. 70 | Ebd.
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große Vorbehalte seitens der deutschen Sozialwissenschaften – namentlich durch Walter Benjamin und Adorno – bestanden: Die Vertreter der Kritischen Theorie unterstellen einer derart verklärenden Theorie, dem Faschismus in die Hände zu arbeiten.71 So erwiesen sich insbesondere die im Umfeld von Batailles entwickelten Überlegungen zur Wiedereinführung von Menschenopfern für den deutsch-französischen Dialog der linken Intellektuellen nachhaltig als kontraproduktiv. Obendrein unterstützte Foucault die islamische Revolution, in deren Folge der Ajatollah Chomeini ab 1979 ein ebenso repressives System etablierte, wie das durch es abgelöste des Schahs Pahlavi, und so zur Radikalisierung des Islam beiträgt. Zuletzt ist die von Foucault glorifizierte Piraterie heute alles andere als ein freibeuterisches Abenteuer, sondern Ergebnis der Verzweiflung von Globalisierungsverlierern. Dennoch diskreditiert Foucaults Nachsatz nicht sein heterologisches Raumkonzept; es läuft allenfalls Gefahr durch die rückhaltlose Rezeption, welche es nach seiner Publikation erfuhr, an analytischem Wert zu verlieren. So gibt es mittlerweile fast keinen Ort mehr, der von der Raumforschung nicht als Heterotopie identifiziert ist. Einkaufszentren, Vergnügungsparks, Parkhäuser – alles Heterotopien.72 Es stellt sich daher die Frage: Was ist keine Heterotopie? Womöglich sind die Nicht-Orte nach Augé die Räume, welche den Gegenpol zur Heterotopie bilden? Damit würden sie aber in der Konsequenz zum ›anthropologischen Ort‹. Tatsächlich bezieht sich Foucault anfangs seines Aufsatzes explizit auf Bachelard, um zu erklären, dass er dessen Projekt einer Analyse des »inneren Raum[s]« auf den »äußeren Raum« 73 erweitern möchte. Die Heterotopologie geht also ebenso wie die Topophilie von einer räumlichen Konstante aus – nur in kultureller Skalierung. Foucault reiht sich damit ein in Raumtheorien der Ethnologie seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die auch diesseits der surrealistischen Rezeption in der Aufmerksamkeit auf das Ritual als räumlicher Praxis bestanden. Namentlich ist hierbei zunächst der Volkskundler Arnold van Gennep zu nennen, der in seinem Buch Les rites de passage von 1909 die Ergebnisse seiner Forschung zu den titelgebenden ›Übergangsriten‹ vorlegte. Van Gennep klassifiziert darin die drei Schritte eines Brauchs (lat. ritus), die sich räumlich als ›Ablösung‹, ›Übergang‹ und ›Integration‹ vollziehen. Den Momenten entsprechen die ›Trennungsriten‹ (frz. rites de séperation), die ›Schwellen-‹ oder ›Umwandlungsriten‹ (frz. rites de marge) bzw. die ›Angliederungsriten‹ (frz. rites d’agrégation). Wie später Foucault führt van Gennep dazu biographisch signifikante Riten des Übergangs an, also Erwachsenwerden, Heirat oder Sterben. 71 | Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 6, Frankfurt a. M. 2000, 92 f. 72 | Vgl. Jürgen Hasse: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007. 73 | Foucault: »Von anderen Räumen«, a. a. O. [Anm. 61], 934.
II. Produktion des Raums
Die umfassende Raumform des Ritus ist nach van Gennep die ›Schwelle‹, mit der er letztlich auf die Raumform des (schon von Ratzel beschriebenen) Grenzsaums rekurriert: »Bei uns berührt heute ein Land das andere; aber früher, als noch der christliche Boden nur einen Teil Europas ausmachte, war das keineswegs so. Jedes Land war von einem neutralen Streifen umgeben, der in der Praxis in Abschnitte, die sogenannten Marken aufgeteilt war. Diese Marken sind mit der Zeit verschwunden, doch die Bezeichnung ›Markbrief‹ (frz. lettre de marque) hat die Bedeutung eines Passierscheins behalten, der es gestattete, die neutrale Zone zu überqueren, um von einem Territorium in das andere zu gelangen. Derartige Zonen waren in der klassischen Antike, vor allem in Griechenland, von großer Bedeutung; sie wurden als Marktplätze und Schlachtfelder benutzt. Bei den Halbzivilisierten findet man dasselbe System neutraler Zonen, nur sind die Grenzen weniger genau definiert, weil die Zahl der beanspruchten Territorien geringer ist und diese nicht so dicht besiedelt sind. Solche Zonen sind gewöhnlich Wüstengebiete, Sümpfe, häufig unberührte Wälder, in denen jedermann gleichermaßen sich aufhalten und jagen kann. Infolge der Relativität des Sakralen gehören für den, der sich in der neutralen Zone befindet, die beiden angrenzenden Territorien der sakralen Sphäre an, für die Bewohner dieser beiden Gebiete aber ist das Niemandsland sakral. Jeder, der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten. Diese Situation bezeichne ich als Schwellenphase […].« 74
Innerhalb der Ethnologie schließen viele Raumtheoretiker (explizit oder implizit) an van Gennep an: Explizit geschieht dies bei Victor Turner, der 1969 in The Ritual Process eine Theorie der »Liminalität« 75 entwickelt, die den ›Grenzgänger‹ als Schwellenperson zur primären Raumfigur erhebt. Ein eigenes Unterkapitel ist darin gar zeitgeistig den Hippies gewidmet, durch die er archaische Formen ›primitiver‹ Rituale wiederkehren sieht. Ohne van Gennep zu erwähnen, sich aber der gleichen Raumform bedienend, greift der Niederländer Johan Huizinga in Homo Ludens von 1938 den Ritualbestandteil jenes »›magischen Kreises‹« 76 auf: Die von Huizinga »Zauberzirkel« 77 (niederl. tovercirkel) genannte Einkreisung ist Teil des Hexenrituals, bei dem eine Grenze zwischen einem geschützten Bereich und seinem Außen gezogen wird. Wie schon zuvor van Gennep und später Foucault will Huizinga anhand der spezifischen Räum74 | Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a. M./New York 32005 [frz. 1909], 27. 75 | Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M./New York 2005 [frz. 1969], 95. 76 | Van Gennep: Übergangsriten, a. a. O. [Anm. 74], 23. 77 | Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1956 [niederl. 1938], 27.
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lichkeit das Entstehungsmoment von Kultur begreifen. Nach Huizinga ist dieses im Spiel zu finden: Das Spiel(en) sei sogar älter als die menschliche Kultur, insofern auch Tieren Probehandlungen ausführen. Da der Spielvollzug durch seine Wiederholbarkeit das Regelhafte mit sich bringt, sei das Spiel ein Muster all derjenigen Institutionen, durch die Lebewesen zu Gesellschaftswesen werden: »Jedes Spiel bewegt sich innerhalb seines Spielraums, seines Spielplatzes, der materiell oder nur ideell, absichtlich oder wie selbstverständlich im voraus [sic] abgesteckt worden ist. Wie der Form nach kein Unterschied zwischen einem Spiel und einer geweihten Handlung besteht, d. h. wie die heilige Handlung sich in denselben Formen wie ein Spiel bewegt, so ist auch der geweihte Platz formell nicht von einem Spielplatz zu unterscheiden. Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d. h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere eigene Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen. Innerhalb des Spielplatzes herrscht eine eigene und unbedingte Ordnung. Hier sieht man also noch einen neuen, noch positiveren Zug des Spiels. Es schafft Ordnung, ja es ist Ordnung. In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit. Das Spiel fordert unbedingte Ordnung.« 78
In Bezug auf Foucault festzuhalten ist, dass das Spiel (als die von ihm überraschenderweise nicht erwähnte Kulturform) damit ebenfalls eine heterotope Funktion hat, insofern es eine Ordnung stiftet, deren Perfektionsgrad außerhalb desselben nicht zu finden ist.79 So gesehen dient das Spiel nicht der Aufrechterhaltung einer im Außen bestehenden Ordnung, sondern der Aufrechterhaltung einer Illusion (von lat. illusio, von ludere für ›spielen‹) möglicher Ordnung. Mit dem deutlichsten Raumbezug sticht innerhalb der Ethnologie jedoch der rumänische Religionssoziologe Mircea Eliade als Vorläufer einer Konzeption des ›anderen Orts‹ heraus: Sein zuerst 1957 in deutscher Übersetzung, dann 1965 im französischen Original erschienenes Buch La sacré et le profane verdeutlicht die heterogene Spannung von ›Andersort‹ und ›Normalraum‹ anhand der Gegenüberstellung von ›heilig‹ und ›profan‹ (von lat. profanus für ›ruchlos‹). Letzteres ist dabei eine dezidiert räumliche Bestimmung, welche sich aus der Lokalisierung ›vor‹ dem Heiligtum (lat. fanum für ›heiliger Ort‹) ableitet und die darauf Bezug nimmt, dass das Haus der antiken Gottheit von den Menschen nicht betreten werden wird, sondern diese vor dem Tempel (lat. templum, von gr. temenos für ›abgegrenztes Land‹) beten. 78 | Ebd., 17. 79 | Vgl. Jesper Juul: Half-Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds, Cambridge/London 2005.
II. Produktion des Raums
Eliade steht seinerseits in der Tradition des Religionsphilosophen Rudolf Otto, der dem ›Heiligen‹ 1917 eine eigene Untersuchung widmete und dessen Wesen dieser im ›Numinosen‹ (von lat. numen für ›Geheiß‹) erkennt. Darunter versteht Otto das schlechthin irrationale, weil unerklärliche Eingreifen Gottes in die Welt des Menschen. Für Eliade ist das Göttliche dagegen nicht per se ›irrational‹, sondern tritt als eine andere Raumordnung in Erscheinung, die dem Menschen externe Orientierungs- oder Haltepunkte gibt. Dies sind in der antiken Welt vor allem Achsen, die ein Zentrum der Welt markieren, aber auch spezielle Stätten wie die des Orakels von Delphi als ›Nabel‹ (gr. omphalos) der Welt. Eliade nennt dies zuvor schon die ›Hierophanie‹ (von gr. hieros für ›heilig‹ und gr. phainein für ›enthüllen‹) als das ›Aufscheinen des Heiligen im Profanen‹: »Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. […] Es gibt also einen heiligen, d. h. ›starken‹, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind. Mehr noch: diese Inhomogenität des Raumes erlebt der religiöse Mensch als einen Gegensatz zwischen dem heiligen, d. h. dem allein wirklichen, wirklich existierenden Raum und allem übrigen, was ihn als formlose Weite umgibt. […] Erst dieser im Raum entstandene Bruch ermöglicht die Konstituierung der Welt, denn erst er schafft den ›festen Punkt‹, die Mittelachse, von der jede künftige Orientierung ausgeht. Da sich das Heilige durch eine Hierophanie manifestiert, kommt es nicht nur zu einem Bruch in der Homogenität des Raums, sondern darüber hinaus zur Offenbarung einer absoluten Wirklichkeit, die sich der Nicht-Wirklichkeit der unendlichen Weite ringsum entgegenstellt. Durch die Manifestierung des Heiligen wird ontologisch die Welt gegründet. In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen, in dem keine Orientierung möglich ist, enthüllt die Hierophanie einen absoluten ›festen Punkt‹, ein ›Zentrum‹.« 80
Bei Eliade zeigt sich letztlich der latente Antisemitismus eines christlich-ortho dox voreingestellten Ortsdenkens, gegen die sich Levinas in seiner Verteidigung des absoluten Raums wendet und von dem auch Ethnologen wie Augé Abstand nehmen. So hat sich denn auch in Alternative zu Eliade eine historische Raumforschung etabliert, die auf den Ort nicht als magischer Pendant zur Apologie des homogenen Raums rekurriert, sondern Orte als Resultat kultureller Erinnerungsarbeit begreift. Diesen bezeichnet der 1945 im Konzentrationslager Buchenwald verstorbene französische Soziologe Maurice Halbwachs in seinem gleichnamigen Buch von 1939 als ›kollektives Gedächtnis‹ (frz. mémoire collective): Er selbst untersuchte so etwa in seiner letzten Arbeit die Konstitution und gleichfalls Erzeugung der neutestamentlichen Städten 80 | Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1984 [1957], 23.
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in der christlichen Überlieferung (wie ›Bethlehem‹, ›Der Ölberg‹, ›Nazareth‹ oder ›Der See Genezareth‹) und der stetigen Aktualisierung durch den rituellen Rückbezug als Erinnerungskultur.81 Nach Halbwachs ist es dann vor allem der französische Historiker Pierre Nora, der sich der Erinnerung als Modus der Raumproduktion zuwendet, wobei er die von ihm sogenannten Gedächtnisorte (frz. lieux de mémoire) als ein spezifisch modernes Phänomen ansieht, insofern durch die Umwälzungen der industriellen Revolution die ›Umwelt des Gedächtnisses‹ (frz. milieux de mémoire) – gleichsam als kollektiver Raum des Erinnerns – verloren gegangen sei. Orte können nach Nora dabei in drei unterschiedlichen, zumeist zusammen auftretenden Hinsichten zu solchen des ›Andenkens‹ werden, das heißt: Teil eines Rituals werden: Der Ort kann wie ein Archiv materiell an einem bestimmten Platz vorhanden oder als funktionaler Ort an sich mobil sein (Nora nennt als Beispiel den Text eines Schulbuchs); in jedem Fall aber ist ein Gedächtnisort von ›symbolischer‹ Art und kann topographisch unbestimmt bleiben (etwa in Form der ›Schweigeminute‹).82 Nora veröffentlicht ab 1984 sieben Bände über Les lieux de mémoire, in denen er beispielhafte Gedächtnisorte Frankreichs untersuchte. Etwas verwirrend wird in der deutschen Übersetzung seines Hauptwerks und ebenfalls in einem an Nora anschließenden Projekt für Deutsche Erinnerungsorte nicht mehr von ›Gedächtnisorten‹ gesprochen. (Stattdessen setzt sich dieser Begriff hierzulande als Bezeichnung für personenbezogene Kulturstätten durch, die 2001 im Auftrag der Bundesregierung in den neuen Bundesländern identifiziert werden.83) Darin behandelte Orte sind etwa ›Weimar‹, ›Die Mauer‹, ›Der Sozialstaat‹ oder ›Beethovens Neunte‹.84 Der gemeinsame Nenner all dieser ›Orte‹ ist zunächst die Kollektivität, in der sich auf sie bezogen wird.
81 | Vgl. Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 [frz. 1941]. 82 | Vgl. Pierre Nora: »Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte«, in: Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, 11–33 [frz. 1984], hier 26. 83 | Vgl. www.kulturelle-gedaechtnisorte.de. 84 | Vgl. Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2009 [2001/02].
III. Wenden zum Raum
Nachdem eingangs die Gründe für die Wende zum Raum als eine kulturelle Kehre genannt und die Hauptantinomien des Raumdiskurses dargelegt sind, stellt der zweite Teil die daraus folgende Notwendigkeit für ein dialektischdynamisches Verständnis von Raum anhand von Lefebvre als dem zentralen Protagonisten des Spatial Turn dar. Der letzte Teil geht der doppelten Frage nach, was es zum einen mit den einzelnen ›Binnenkehren‹ auf sich hat, die im Raumdiskurs verhandelt werden, und zum anderen, welche methodischen Konsequenzen sich aus der Wende für die Raumforschung ergeben.
1. F rühe K ehren Die Rede von ›Wenden‹ oder auch ›Kehren‹ ist in der Philosophie seit der Neuzeit üblich: Sie findet sich erstmals in Kants Formulierung einer »Revolution der Denkart«1 aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787. Diese Formulierung wird oft falsch auf eine Kant nachträglich zugeschriebene ›Kopernikanische Wende‹ bezogen.2 Jene ist diesem nicht ganz fremd, besagte ›Revolution‹ wird von Kant aber nicht auf Kopernikus, sondern auf die antike Geometrie bezogen, die von der Empirie der Feldvermessung auf ein axiomatisches Beweissystem umstellt. Tatsächlich referiert Kant in seiner Vorrede auch auf Kopernikus, aber in einem anderen Zusammenhang: Der Wechsel zum heliozentrischen Weltbild ist Kants konkretes Vorbild für eine Umstellung der Erkenntnistheorie, in der sich nicht mehr ein Subjekt nach den Objekten ›richten‹ soll, sondern diese nach dem Subjekt. Descartes hatte eine solche ›Wende zum Bewusstsein‹ vorgezeichnet, aber Kant verfeinert sie im Blick auf das, was er das ›transzendentale Subjekt‹ nennt, als die Strukturen der Erkenntnis, die jedem Menschen 1 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a. a. O. [Kap. I, Anm. 107], 16 [B XI]. 2 | Vgl. Friedrich Kaulbach: »Die Copernikanische Denkfigur bei Kant«, in: Kant-Studien 64/1 (1973), 30–48.
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qua seines ›Gemüts‹ – die heutige Philosophie nennt dies ›Geist‹ (engl. mind) – eigen sind. Hierzu gehören neben den Anschauungsformen von ›Raum‹ und ›Zeit‹ die Möglichkeit, ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ in Beziehung zu setzen. Solche Formen bzw. Kategorien können nach Kant nicht aus der Objektbeobachtung genommen sein, sondern sind dem Verstand inhärent. Mit Kopernikus gesprochen, wird der Mensch damit zur Sonne, der von den Objekten als ihren Planeten umkreist wird.3 Dass ›Revolution‹ und ›Kopernikus‹ in der Kantrezeption in einem Atemzug genannt werden, hat seinen Grund darin, dass der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn sein Buch The Copernican Revolution von 1957 an dem Astronomen exemplarisch das beschreibt, was er später ›Paradigmenwechsel‹ nennt.4 (Als ein solcher kann die Umstellung der Philosophie auf die transzendentale Denkweise nach Kant bewertet werden.) Ausdrücklich als ein ›Turn‹ annonciert wird ein Paradigmenwechsel erstmals 1952 durch den über die Fachgrenzen hinaus kaum bekannten Philosophen Gustav Bergmann, der im Blick auf den frühen Ludwig Wittgenstein eine »Wende zur Sprache (engl. linguistic turn)« 5 verkündet. Diesem zufolge lassen sich philosophische Problemstellungen – wie etwa auch Konzepte von ›Raum‹ im Sinne Mauthners oder der ›Zeit‹ im Sinne McTaggarts) – als reine Probleme der Sprache erkennen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass derjenige, der Bergmanns Stichwort überhaupt erst populär machte, auch die falsche Radikalität des Ansatzes benennt: Als Wunderkind der analytischen Philosophie hat nämlich Richard Rorty 1967 zunächst einen, Bergmanns Aufsatz enthaltenden Reader mit dem Titel The Linguistic Turn herausgegeben, fordert dann aber mit dem späten Wittgenstein eine weitergehende »pragmatische Wende (engl. pragmatic turn)« 6 der Philosophie ein, wonach Sprache ihrerseits allein durch ihre Verwendung in konkreten Zusammenhängen zu bestimmen sei. Die Rede von ›Turns‹ ging nach Rorty dann in den Bereich der heute sogenannten Bildwissenschaften über, die aus der ehedem ›Kunstwissenschaft‹ genannten Abspaltung von der Kunstgeschichte im deutschsprachigen und den Visual Studies im englischsprachigen Bereich entstanden: Namentlich finden sich dezidierte Formulierungen bei Thomas Mitchell, der 1992 einen Aufsatz 3 | Vgl. Hans Blumenberg: Die kopernikanische Wende, Frankfurt a. M. 1965. 4 | Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 2 1976 [engl. 1962]. 5 | Gustav Bergmann: »Logischer Positivismus, Sprache und Rekonstruktion der Metaphysik«, in: Arend Kulenkampff (Hg.): Methodologien der Philosophie, Darmstadt 1979, 69–113 [engl. 1953], hier 69. 6 | Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 1987 [engl. 1979], 168.
III. Wenden zum Raum
mit dem Titel The Pictorial Turn publiziert, bzw. bei Gottfried Boehm, der zwei Jahre später in einem Vorwort zu einer Anthologie mit bildtheoretischen Texten von einer »ikonischen Wendung« 7 spricht. Boehm datiert diese später auch ›iconic turn‹ genannte Wende zurück auf die Entstehung der Kunstwissenschaft im späten 19. Jahrhundert und liegt dem Linguistic Turn demzufolge voraus. Boehm sieht die heutige Relevanz der Bildwende darin, gegen die verheerenden Folgen der Wende zur Sprache vorzugehen; konkret: gegen eine Reduktion auch von Bildern auf Sprache. Der ›pictorial turn‹ nach Mitchell hingegen bezieht sich auch auf das vermehrte Auftreten von Bildern in der heutigen Populärkultur (analog dem Cultural Turn im Sinne Jamesons).8 Mit der bereits eingeführten Unterscheidung von image (lat. icon, von gr. eikon) und picture (lat. pictura, von gr. pinakos) lassen sich die beiden Bildwenden als letztlich dahingehend differenzieren, dass es bei dem Iconic Turn vor allem um die Erscheinungsweise und Eigenart von Bildern geht, bei dem Pictorial Turn um deren Materialität und Verbreitung.9 Während die Wende zum Bild für die Philosophie eine Herausforderung darstellt,10 wird die Relevanz eines Spatial Turn von ihr nicht erkannt: Diese Wende wird allenfalls mit den Hinweisen abgetan, dass Philosophie sich schon immer mit Raum beschäftigt habe, oder dass eine dezidierte Raumphilosophie die Kategorie der Zeit vernachlässigt.11 Eine wichtige Ausnahme in der Philosophie ist daher Jacques Derrida, dessen dekonstruktivistischen Überlegungen es unter anderem zu verdanken ist, dass die heutige Philosophie sich der medialen Bedingungen des Denkens bewusst geworden ist. Hierzu gehört an erster Stelle die Schrift, in der nach Derrida schon eine Tendenz zur »Verräum lichung (frz. spatialisation)«12 angelegt ist, insofern Bedeutung in einem Text notwendig ›zerstreut‹ ist, während die mündliche Rede ihn an den aktuellen Sprechakt zu binden sucht.
7 | Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, 11–38, hier 13. 8 | Vgl. W. J. Thomas Mitchell: »Pictorial Turn«, in: Ders.: Bildtheorie, Berlin 2008, 101– 135 [engl. 1992]. 9 | Vgl. Gottfried Boehm/Ders.: »Briefwechsel«, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, 26–46. 10 | Vgl. Karlheinz Lüdeking: »Was unterscheidet den pictorial turn vom linguistic turn?«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaften zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, 122–131. 11 | Vgl. Bernhard Waldenfels: »Vorwort«, in: Ders.: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt 2009, 9–14. 12 | Jacques Derrida: »Die différance«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 2 1999, 31–56 [frz. 1968], hier 39.
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Nimmt Derrida solcherart bereits in den 1960er Jahren eine räumliche Wende der Philosophie vorweg,13 so wird deren Notwendigkeit erst im Zuge neuerer kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen offenkundig.14 Zum Teil liegt die fehlende Kenntnisnahme der Raumwende seitens der Philosophie auch darin begründet, dass Soja in seinem Rückgriff auf Lefebvre einschränkend vorausschickt, Raum sei letztlich nur eine Möglichkeit, das ›Ganze des Seins‹ zu begreifen: Die historische und soziale Perspektive verlören nicht an Berechtigung, nur müsse der Vernachlässigung des Räumlichen entgegengewirkt werden. – Auf diese Weise relativiert Soja das ursprüngliche Anliegen Lefebvres und nimmt der Raumwende ein Teil ihrer Wirkung, bevor sie sich entfalten kann.
2. S patial , Topogr aphical und Topological Turn Im Windschatten von Sojas Lefebvre-Interpretation werden in der deutschsprachigen Debatte im ›Jahr 1‹ nach dem ›11. September‹ zeitgleich drei räumliche Turns namhaft: Ein Spatial Turn, ein Topographical Turn und ein Topological Turn. Ersteren vertritt 2002 der bereits erwähnte Karl Schlögel. Für ihn besteht der spatial turn zunächst schlichtweg in einer »gesteigerte[n] Aufmerksamkeit für räumliches Denken«.15 Drei Jahre zuvor bereits diagnostiziert er anlässlich des ihm verliehenen Preises des Berliner Wissenschaftskollegs Die Wiederkehr des Raumes in den Kultur- und Geschichtswissenschaften. (Für letztere schlägt zwar schon der Schlussvortrag von Reinhardt Koselleck auf dem Historikertag 1986 in Trier eine Schneise, der Text wird aber erst nach Schlögels Vortrag publiziert.16) Der mit einem Literaturbericht des Historikers Jürgen Osterhammel identische Titel von Schlögels Vortrag von 1999 befördert Missverständnisse, zumal darin – vorlaufend zur Monographie Im Raume lesen wir die Zeit – eine (von Osterhammel gerade zurückgewiesene) Rehabilitierung Ratzels versucht wird.17 Der Sache nach entscheidender ist jedoch, dass Schlögel das von Virilio behauptete ›Verschwinden des Raums‹ in seinem Text als eine eurozentrische Sichtweise entlarvt, da es schlichtweg der hegemoniale Raum der ehemaligen Kolonial13 | Vgl. Dirk Quadflieg: Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida, Bielefeld 2007. 14 | Vgl. Suzana Alpsancar/Petra Gehring/Marc Rölli (Hg.): Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011. 15 | Karl Schlögel: »Kartenlesen, Raumdenken. Von einer Erneuerung der Geschichtsschreibung«, in: Merkur 56/4 (2002), 308–318, hier 309. 16 | Vgl. Reinhart Koselleck: »Raum und Geschichte«, in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, 78–96. 17 | Jürgen Osterhammel: »Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie«, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), 374–397.
III. Wenden zum Raum
mächte sei, dessen Ende zu beobachten sei. So bezieht Schlögel die ›Wiederkehr des Raums‹ denn auch nicht auf ein bestimmtes (deterministisches) Konzept desselben, sondern – unter dem Stichwort ›Neue Topographien‹ – auf eine (westliche) Wiederentdeckung der Städte, die bis 1989 auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs liegen: »Die alten Zentren Europas, die zur Bühne dieses atemberaubenden Wandels geworden waren – Prag, Warschau, Danzig, Wilna, Moskau, Bukarest, Dresden, Budapest –, waren ins Bewußtsein ganz Europas zurückgekehrt. Das Relief eines neuen Europas war ans Tageslicht getreten.«18 Hieran schließt sich sein Plädoyer für eine »Archäologie der Örter«19 an, die es für Historiker anstelle von Textzeugen fortan als ›Dokumente‹ zu lesen gelte. Als Vorbild nimmt sich Schlögel mit Walter Benjamin den schillerndsten Vertreter der ansonsten raumfernen Kritischen Theorie: Benjamin arbeitet von 1927 bis kurz vor seinem Tod 1940 an seinem Passagen-Werk, das erst 1982 postum zur Veröffentlichung kommt. Mit den titelgebenden ›Durchgängen‹ sind die signifikanten Raumformen der überdachten Einkaufsstraßen im Paris des 19. Jahrhunderts gemeint. Diesem historischen Ort gilt Benjamins Interesse, da er hier den Ursprung der Moderne zu finden meint, welcher sich nicht nur durch architektonische Eingriffe wie die weltweit einflussreiche Neugestaltung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann in Form breit angelegter Hauptstraßen ausdrückt, sondern auch in der neuen Medientechnik der Fotografie oder in den Weltausstellungen, die seit 1855 auch wiederholt in Frankreich stattfanden. Die moderne Raumkonfiguration verdichtet sich für Benjamin in der Figur des Flaneurs (von frz. flaner für ›umherstreifen‹), der Charles Baudelaire 1857 in seinem Gedichtband Fleur de mal ein Denkmal setzt, und die auch für den bereits genannten Situationismus Vorbild ist. Benjamins Methode wird deshalb als ›archäologisch‹ bezeichnet, weil er einerseits nach dem ›Anfang‹ sucht, sein Vorgehen andererseits aber einer Archäologie entspricht, die nicht nur in der Tiefe nach frühen Schichten sucht, sondern sich auch durch Begehung einen ›Überblick‹ (engl. survey) verschafft.20 Nach Schlögel müsse sich die Ortsarchäologie – so zeigt der programmatische Aufsatztitel Kartenlesen, Raumdenken von 2002 – auch raumdarstellenden Medien zuwenden. Deren ganz zeitgenössische Rückkehr macht er unter anderem am Ereignis ›9/11‹ fest: So komme keine Nachrichtensendung ohne eine kartographische Darstellung aus, welche den Weg der Flugzeuge zum World Trade Center oder Pentagon zeigen. Gegen eine ›semiotische‹ Deutung der Attentate, wie sie etwa Baudrillard vorbringt, wendet Schlögel ein: 18 | Karl Schlögel: »Die Wiederkehr des Raumes«, in: Ders.: Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München 2001, 29–40 [1999], hier 31. 19 | Ebd., 39. 20 | Vgl. Franziska Lang: »Archäologie«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009, 30–45.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung »Wir sind daran erinnert worden, daß es Örter gibt: Örter, also nicht bloß Symbole, Zeichen, Repräsentationen von etwas, die man tilgen, löschen, unsichtbar machen kann. Städte, die getroffen, Türme die zum Einsturz gebracht werden können, Treppen, die in Rauch gehüllt, zu tödlichen Fallen werden, Konstruktionen und Fassaden, unter denen man lebendig begraben werden kann.« 21
Versteht Schlögel Karten als Zugänge zu den (historischen) Orten, denen es in der Geschichtswissenschaft wieder zu ihrem Recht zu verhelfen gelte, spricht die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel parallel dazu von einem topogra phical turn der Kulturwissenschaften. Die Diagnose steht im Zusammenhang mit einer Tagung, die 2002 am Zentrum für Literaturforschung in Berlin stattfindet, wo im Rekurs auf Benjamin und Foucault »Andere Räume der Moderne« ausfindig gemacht werden sollen. Im Untertitel der Tagung steht schlicht »Topographien«. Das Wort hat im literaturwissenschaftlichen Kontext jedoch eine andere Bedeutung als in der Kartographie, die ein Gelände anhand der in geographischer Länge und Breite verteilten Höhenlagen (frz. relief ) abbildet. Die Beiträge der Berliner Tagung dagegen verstehen ›Graphie‹ (von gr. graphe für ›Schrift‹) nicht als nachträgliche Vermessung – wie sie Schlögel als Historiker im Sinn hat –, sondern vielmehr als Akt der räumliche ›Einschreibung‹ von Text (im weitesten Sinne). Erst so wird ›Topographie‹ zu einem spezifischen Aufgabengebiet der Literaturwissenschaft.22 Weigel beginnt ihren Beitrag denn auch mit einer geographischen Weltkarte von 1507, deren letztes bekanntes Exemplar 2001 aus deutschem Privatbesitz unter Umgehung des Kulturschutzgesetzes für zehn Millionen US-Dollar an die Kongressbibliothek verkauft wird. Die Erklärung für den bis heute teuersten Kartenerwerb der Geschichte steckt in einem Detail des aus zwölf Blättern besehenden Werks: Letztlich hätte den Käufern auch das unterste Segment der linken Seite genügen können, ist dort doch zum ersten Mal nachweisbar der Name ›America‹ eingetragen (Abb. 26). In Washington ist die Karte seit 2007 unter Hochsicherheitsbedingungen in einer Vitrine ausgestellt, über der steht: »America’s Birth Certificate«. Zurück geht diese Einschreibung auf den Philologen Matthias Ringmann, der mit dem Kartografen Martin Waldseemüller in Freiburg an dem Werk arbeitet und der Auffassung ist, dass der florentinische Seefahrer Amerigo Vespucci erstmals den neuen Kontinent entdeckt hat. Christoph Kolumbus sei dagegen nur auf die vorgelagerten ›westindischen Inseln‹ der Karibik getroffen. (Ansonsten würde Amerika heute ›Kolumbien‹ heißen.)
21 | Karl Schlögel: »Kartenlesen«, a. a. O. [Anm. 15], 308. 22 | Vgl. Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar 2005.
III. Wenden zum Raum
Abb. 26: Waldseemüller/Ringmann, »Weltkarte« (Detail)23
An der Karte sind verschiedene Momente raumrelevant: In erster Linie, dass der Waldseemüller-Karte die ptolemäische Projektionsform zugrunde liegt; sodann aber, dass der in Frage stehende Name nicht dem nördlichen, sondern dem südlichen Teil des Kontinents eingeschrieben wird. Von hier aus ließe sich in postkolonialer Perspektive die nachträglich Nahme der bereits schon durch Spanier und Portugiesen in die damaligen Weltreiche einverleibten Gebiete durch die Vereinigten Staaten thematisieren. Für Weigel ist ein solcher Aufweis denn auch ein Spezifikum der ›politisch‹ geprägten, englischsprachigen Cultural Studies, für die etwa Bhabha und Pratt stehen (und wo auch die alternative Bezeichnung geographical turn Verwendung findet):24 »Es handelt sich beim ›topographical turn‹ in den Cultural Studies […] um eine Transformation ›klassischer‹ diskurshistorischer Kritik in den präskriptiven Entwurf für eine Theorie. Diese gründet in der Erfahrung eines Bruchs mit der Gleichung von kultureller Identität und nationalstaatlichem Territorium und verdichtet sich in der Figur des ›displacement‹, die an Stelle konventioneller Migrationskonzepte wie ›Exil‹ oder ›Diaspora‹ getreten ist. Das Verfahren des ›mapping‹ und der Diskurs der ›spaces‹ sind dabei zu Topoi im eigentlichen Wortsinn geworden: Gemeinplätze der Cultural Studies, die die Ersetzung eines historiographischen Narrativs durch ethnologische Perspektiven anzeigen.« 25
23 | Vgl. www.loc.gov/resource/g3200.ct000725C. 24 | Vgl. Ian Cook et al.: Cultural Turns/Geographical Turns. Perspectives on Cultural Geography, Harlow 2000. 25 | Sigrid Weigel: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2 (2002), 151–165, hier 156.
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung
Die deutschsprachige Kulturwissenschaft (welche um die Jahrtausendwende einen Abgrenzungsdiskurs gegen die Kulturwissenschaften führt) interessiert sich für die technische Erzeugung von Raum. Technik (gr. techne für ›Handwerk‹) wird dabei zumeist im Rückgang auf Heidegger als eine ›Hervorbringung‹ verstanden, in diesem Fall: die Entstehung des Repräsentationsparadigmas um 1500, mit dem allererst die »Welt zum Bild wird«.26 Die Karte ist damit zwar ein Dokument der Kolonisierung der Erde, aber auch deren apriorischer Metrisierung.27 Carl Schmitt beschreibt diese Raumrevolution als »globale[s] Liniendenken« 28 und macht dieses am Vertrag von Tordesillas fest: 1494 einigten sich die damaligen Weltmächte Portugal und Spanien auf die Teilung der Erde entlang der geographischen Festlegung einer Nord-Süd-Linie westlich der Kapverdischen Inseln. Mit der sogenannten Molukkenlinie erfolgt 1529 eine Abgrenzung (span. demarcación) auch auf der pazifischen Seite. Obgleich der neue Kontinent zu dieser Zeit noch keineswegs in seinen Ausmaßen erfasst ist, separiert die Demarkationslinie bereits die Herrschaftsräume der beiden Seefahrtnationen und nimmt damit die sprachliche Teilung des südlichen Amerikas vorweg. Die dritte Raumkehre des Jahres 2002 wird schließlich in Form der Tagung »Transforming Spaces – The Topological Turn in Techno Sciences« in Darmstadt verkündet, also in jener Stadt, in der Heidegger seinen folgenreichen Raumvortrag hielt. Überraschenderweise wird in der Einführung durch die Veranstalter jedoch nicht darauf eingegangen, was mit einem topo logical turn gemeint sein soll, sondern nur erwähnt, dass Technik zur ›zweiten Natur‹ des Menschen geworden ist und sich dies auch auf den Raum auswirkt.29 – Angesichts der dezidierten Setzung stellt sich daher die Frage: Was könnte die topologische Wende bedeuten, wenn sie nicht wie in diesem Fall vielleicht bloß auf der nominellen Verwechslung mit einem der beiden anderen Turns beruht? Eine Möglichkeit wäre, sie in Betonung von ›topologisch‹ zu verstehen. Sie würde damit in die Nähe der ›topischen Wende‹ der japanischen Philosophie in den 1920er Jahren rücken, die dem von Husserl
26 | Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes (1938)«, in: Ders.: Holzwege, a. a. O. [Kap. I, Anm. 153], 75–113 [1950], hier 890. 27 | Vgl. Christof Dipper/Ute Scheider (Hg.): Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006. 28 | Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, 55. 29 | Vgl. Mikael Hård/Andreas Lösch/Dirk Verdicchio: »Introduction to Transforming Space«, in: Dies.: Transforming Space. The Topological Turn in Technology Studies, 2003, www.ifs.tu-darmstadt.de/fileadmin/gradkoll//Publikationen/space-folder/pdf/Intro duction.pdf.
III. Wenden zum Raum
und Heidegger gleichermaßen beeinflussten Kitaro Nishida zugeschrieben wird.30 Abb. 27: Zen-Garten des Ryōan-ji in Kyōto
Im Japanischen gibt es wie im Deutschen die Wortdifferenz von ›Raum‹ und ›Ort‹, in Form von ma und ba (oder auch basho). Übersetzt wird ma zumeist mit ›Intervall‹ und bezeichnet das Zwischen als eine Art negativen Raum oder ›Lücke‹ (während ku dagegen die ›Leere‹ bezeichnet). Im japanischen Kontext finden sich Intervalle unter anderem in der (Garten-)Architektur (Abb. 27) und Landschaftsmalerei, in welchen gleichermaßen die Objekte in hintereinander gestaffelten Ebenen voneinander getrennt platziert sind.31 Ba(sho) wiederum lässt sich nicht nur mit ›Ort‹, sondern auch mit ›Feld‹ übertragen. Nishida etwa zieht zur Erläuterung seines Ortsverständnisses 1926 selbst den deutschen Terminus »Kraftfeld«32 heran, den er dem Elektromagnetismus als Grundlage der Relativitätstheorie entnimmt. Wie Einstein erläutert, ist der gänzlich relative Raum nicht mehr eine Schachtel im absoluten Raum, sondern Raum ist an jedem ›Ort‹ als Feld relativ (zur Masse oder Gravitation), so dass es – so Einstein – keinen »feld-leeren«33 Raum geben kann. Die ›topische Kehre‹ zielt damit jedoch noch auf die Etablierung einer ›wahren‹ Raumtheorie (Raum als relatives ›Feld‹) und nicht auf eine ›Logik‹ 30 | Vgl. Thomas Latka: Topisches Sozialsystem. Die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme, Heidelberg 2003. 31 | Vgl. Günter Nitschke: »The Japanese Sense of ›Place‹ in Old and New Architecture and Planning«, in: Architectural Design 36/3 (1966), 116–156. 32 | Kitaro Nishida: »Ort«, in: Ders.: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, Darmstadt, 1999, 72–139 [jap. 1926], hier 80. 33 | Vgl. Albert Einstein: »Relativität und Raumproblem«, in: Ders.: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Berlin u. a. 231988, 91–109 [1954], hier 107.
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der Raumanalyse. Worin eine solche bestehen könnte, lässt sich im Zuge der vier Jahre nach der Darmstädter Tagung erfolgten Gründung des dortigen Graduiertenkollegs »Topologie der Technik« lesen: »Raum ist nicht eine absolute Größe oder unabhängige Variable, sondern eine Struktur: ein Komplex von Relationen und Relationstypen zwischen möglichen Gegenstands- oder Ereignisklassen, der diese zum einen festlegt, zum anderen aber durch Praxis seinerseits auch wieder verändert wird.«34 Wenngleich das »ist« in Bezug auf ›Struktur‹ als eine ontologische Behauptung fehlverstanden werden könnte, so sind vor allem die an Lefebvre erinnernden Hinweise auf die Veränderung von Raum durch »Praxis« und die Hervorhebung von »Relationstypen« – das heißt, der in Repräsentationsräumen exemplifizierten Struktur (von lat. structura für ›Gefüge‹) – entscheidend für ein methodisches Verständnis des Topological Turn. (Letztlich sind literarische Topographien auch gar nicht ohne deren topologisches Moment zu begreifen.35) Somit besteht der Gewinn für den Raumdiskurs und die heutige Raumforschung nicht darin, zum Ort zurückzukehren oder die Relativitätstheorie auf das Soziale zu stülpen, sondern Räumlichkeit als Mittel für die Beschreibung medial voreingestellter, historisch kontingenter Kultur zu nutzen.36
3. R el ationales R aumverständnis Auch wenn mit der Topologie als kulturwissenschaftlicher Methode keine Frage nach dem Wesen des Raums verbunden sein muss, so hat das Vorgehen seinen Ursprung dennoch in zum Teil vehement geführten Auseinandersetzungen über die richtige Konzeption desselben: So liegen in der Entwicklungspsychologie dafür vor, dass das menschliche Raumbewusstsein anfänglich immer ein topologisches ist, bevor es im Laufe der Kindheit durch ein geometrisches und schließlich durch ein perspektivisches abgelöst wird.37 Entsprechend gibt es Ansätze einer Geometrie der ›ursprünglichen‹ Raumauffassung, die von ›vagen‹, aber dennoch vergleichbaren Formen der (erfahrbaren) Körper ausgeht.38 In der neueren Physik wiederum finden sich Ansätze, die von einer 34 | www.ifs.tu-darmstadt.de/index.php?id=gradkoll-tdt. 35 | Vgl. Vittoria Borsò/Reinhold Görling (Hg.): Kulturelle Topografien, Stuttgart/Weimar 2004. 36 | Vgl. Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007. 37 | Vgl. Jean Piaget/Bärbel Inhelder: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, Stuttgart 1971 [frz. 1948]. 38 | Vgl. Peter Janich: »Zur Protophysik des Raumes«, in: Gernot Böhme (Hg.): Protophysik, Frankfurt a. M. 1976, 83–130.
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der raumzeitlichen Wirklichkeit vorausliegenden Struktur ausgehen.39 Studien zur mentalen Kartographie deuten sodann darauf hin, dass Raumorientierung nicht notwendigerweise leibzentrisch sein muss, sondern auch in einem allgemeinen Relationsgefüge von Landmarken oder Grenzlinien erfolgen kann.40 Abb. 28: »Tabula Peutingeriana« (Detail)
Schon in der Antike finden sich kartographische Darstellungen, die keinem topographischen, sondern einem topologischen Prinzip verpflichtet sind: Während jene einem wissenschaftlichen Anspruch der Raumdarstellung folgen,41 gründen diese in einer spezifischen Raumpraxis. Das bekannteste Beispiel ist die mittelalterliche ›Peutinger-Tafel‹ (Abb. 28),42 die auf eine römischer Vorlage aus dem vierten Jahrhundert zurückgeht und das Territorium des römischen Weltreichs auf das Format der Pergamentrolle ›staucht‹.43 Schmitts Vermutung aufgreifend, das »Raum und Rom dasselbe Wort«44 ist, belegt die Darstellung, dass im konkreten Zusammenhang keine Notwendigkeit bestand, die Ausdehnung des Weltreichs darzustellen. Vielmehr ist Rom die ganze (bekannte oder relevante) Welt. Entscheidender ist das Straßennetz, welches 39 | Vgl. Roger Penrose: Der Weg zur Wirklichkeit, Heidelberg 2010 [engl. 2004]. 40 | Vgl. Kevin Lynch: Das Bild der Stadt, Berlin/Frankfurt a. M./Wien 1965 [engl. 1960]. 41 | Vgl. Hans-Joachim Gehrke: »Die Geburt der Erdkunde aus dem Geist der Geometrie. Überlegungen zur Entstehung und zur Frühgeschichte der wissenschaftlichen Geographie bei den Griechen«, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998, 163–192. 42 | Vgl. www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost03/Tabula/tab_intr.html. 43 | Vgl. Michael Rathmann: »Die Tabula Peutingeriana und die antike Kartographie«, in: Justus Cobert (Hg.): Weltwissen vor Columbus, Berlin 2013, 92–120. 44 | Carl Schmitt: »Recht und Raum«, in: Johann Daniel Achelis et al.: Tymbos für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch, Berlin 1951, 241–251, hier 241.
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den ökonomischen Bestand und die militärische Kontrolle des Weltreiches ermöglicht. ›Korrekt‹ bildet die Karte Raum weder hinsichtlich Winkel, Fläche oder Abstand ab, sondern – heutige U-Bahn-Karten vorwegnehmend – allein hinsichtlich der in der Praxis nutzbaren Verbindungen. Ist die topologische Raumvorstellung damit tief in einer Praxis des ›gelebten Raums‹ verwurzelt, das den Menschen zu einem »Netzwesen (frz. être de réseau)«45 macht, verwundert es kaum, dass sie auch in Naturwissenschaft und Mathematik vorgebracht wird, wenngleich sie dort nicht als ein Begriff der Erfahrung verhandelt wird: So wendet sich Aristoteles mit dem Konzept des Topos ausdrücklich gegen das der Chora Platons. Der Rückgriff auf dieses durch den Physiker Newton (via More) stößt wiederum auf Kritik bei dem Leibniz, dessen eigene Raumkonzeption später als erste Form mathematischer Topologie gelten wird.46 Wie Leibniz 1693 in De analysi situ darlegt, kann Raum ohne Rücksicht auf Ausdehnung und Distanz beschrieben werden, sondern benötige allein Relationsangaben, so dass auch die Notwendigkeit eines kartesischen Koordinatensystems mit dezidiertem Nullpunkt entfällt. Der bisherigen Geometrie wirft Leibniz in diesem Zuge vor, der »Ähnlichkeit keinen genügenden Gebrauch gemacht [zu] haben«47 und im Zuge dessen auch den Aspekt der ›Form‹ unterbestimmt gelassen zu haben: »Es genügt daher nicht, als ›ähnlich‹ Gegenstände zu bezeichnen, die dieselbe Form haben, wenn man nicht wiederum im Besitze eines allgemeinen Begriffs der Form ist. Ich bin nun durch eine Erklärung der Qualität oder Form, die ich aufstellte, zu der Bestimmung gekommen, daß ähnlich das ist, was für sich beobachtet nicht voneinander unterschieden werden kann.« 48
Was Leibniz damit meint, schildert er sogleich mit einem Gedankenexperiment: Topologisch müssen zwei unterschiedlich große Versionen einer Architektur (etwa das Modell und der ausgeführte Bau) als identisch gelten, wenn sie nicht über ein drittes miteinander verglichen werden können, das als Maßstab fungiert. Beide sind ›ähnlich‹ hinsichtlich der Relation ihrer Teile, solange der Beobachter etwa seinen Körper nicht in den Vergleich einbezieht (sondern etwa eine 3D-Simulation zur Begehung nutzen würde). Zurückgewendet auf das Beispiel der Golden Gate Bridge als Repräsentationsraum im Sinne Lefebvres, ist 45 | Fernand Deligny: Ein Floß in den Bergen, Berlin 1980 [frz. 1975], 38. 46 | Vgl. Marie-Luise Heuser: »Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ›Topologie‹. Leibniz und Listing«, in: Kurt Maute (Hg.): Topologie-Workshop. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen, Stuttgart 1994, 1–13. 47 | Gottfried W. Leibniz: »Zur Analysis der Lage (1693)«, in: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1996, 49–55 [lat. 1858], hier 51. 48 | Ebd.
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die Brücke ihrer grundlegenden Form nach also ähnlich einer Westverschiebung der Siedlungsfront, wenngleich die beiden unterschiedlich skaliert sind. In Leibniz’ Text übersetzt wird das lateinische Wort situs (von dem engl. site abgeleitet ist) im Deutschen richtigerweise nicht mit ›Ort‹ (lat. locus), sondern mit ›Lage‹. Hinzuzufügen wäre: ›Lage (der Örter) zueinander‹, so dass die Hinwendung zur Topologie überspitzt auch als ›situlogische Kehre‹ der Mathematik bezeichnet werden kann. Namhaft wird der neue Ansatz erst 1847 (elf Jahre vor der Erstveröffentlichung von Leibniz’ Text) mit Johan Benedict Listings Vorstudien zur Topologie, der Sache nach erfuhr die neue Geometrie aber schon bald eine eindrückliche Anwendung: Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler publiziert 1736 einen Text über die ›Geometrie der Lage‹ (lat. geometriam situs).49 Darin geht er auf das später sogenannte Königsberger Brückenproblem ein, von dem er (nahezu erblindet) in Sankt Peterburg erfährt: In Kants Kindheit überspannten noch sieben Brücken den Fluss Pregel seiner Heimatstadt Königsberg. Die Bewohner setzten es sich in einem öffentlichen Gesellschaftsspiel zum Ziel, alle Brücken je einmal zu benutzen und am (beliebigen) Ausgangspunkt wieder anzulangen. Da dies niemandem auf empirische Weise gelingt, will Euler eine grundsätzliche Antwort finden und liefert gewissermaßen vorlaufend zu Kants Idee einer ›vor der Erfahrung‹ liegenden Raumform die apriorische Lösung des Brückenproblems. Abb. 29: Euler, »Königsberger Brückenproblem«
49 | Vgl. Leonhard Euler: »Lösung eines Problems, das zum Bereich der Geometrie der Lage gehört«, in: Wladimir Velminski (Hg.): Die Geburt der Graphentheorie, Berlin 2009, 11–23 [lat. 1736].
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Zur Lösung des Problems geht Euler in einer Skizze (Abb. 29) von der Topographie der Stadt über zur Topologie ihres Wegesystems und vollzieht damit also bereits eine Raumwende, indem er nur die Relationen der Brücken zueinander berücksichtigt (unabhängig von deren baulicher Ausdehnung oder der Distanz zwischen ihnen). In der hiermit von Euler begründeten Variante von Topologie – die später sogenannte Graphentheorie – werden die Verbindungen als ›Kanten‹ bezeichnet, die mit den ›Knoten‹ des Wegesystems den namensgebenden ›Graphen‹ bilden, der als Strukturmodell auch die Grundlage des Internets ist. Eulers Beweis beruht, wie in der Mathematik üblich, auf der Zerlegung des Problems in seine Bestandteile, die einzeln gelöst werden. Die Punkte A und B sowie zwischen A und D sind jeweils durch zwei Wege miteinander verbunden, so dass das Hin- und Zurückgehen auf diesen Teilstrecken möglich ist, während von C aus Verbindungen zu A, B und D bestehen. So ist zwar ein Umweg über zwei der Orte (bspw. über A und B) möglich, jedoch kann der dritte Ort (in diesem Fall D) eingedenk des Wiederholungsverbots in der Aufgabenstellung nur ohne Rückkehr betreten werden. – Das Brückenproblem ist also apriori unlösbar. Freilich lässt sich einwenden, dass der sehgeschwächte Euler für die Überlegung seine Sinnlichkeit ausschaltet (und auch Leibniz spricht in seinem von einem Menschen, der die Architekturen mit verschlossenen Augen erfährt), aber in der Topologie geht es zunächst darum, sich auf andere Arten der Sinnlichkeit zu verlassen, denn auf das Sehen oder die Eigenleibbewegung. Tatsächlich ist das (blinde) Tasten eine historisch wirkmächtige Metapher der Geometrie, die seit jeher die ›primären‹ Eigenschaften der Objekte – wie vor allem die von Euklid bestimmten Ausmaße der Objekte in drei Dimensionen – in den Vordergrund stellt, und ›sekundäre‹ Merkmale, wie Farben, als unzuverlässige Informationen vernachlässigt.50 In dieser Hinsicht gehören die Denkweisen von Descartes und Leibniz trotz der Gegensätzlichkeit hinsichtlich der Raumvorstellung dem taktilen Paradigma an. Entscheidend ist jedoch, dass mit Leibniz und Euler ein antinewtonsches Raumkonzept vorgebracht wird, das als ›relationaler Raum‹ bezeichnet werden kann. Topologie tritt nach Leibniz in unterschiedlichen Varianten auf: Eine für die Methode der Raumforschung zentrale ist die von Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts begründete Mengenlehre (und deren Beschreibung in Form von ›Mächtigkeiten‹).51 Wie die Topologie in den zwei Jahrhunderten zuvor, werden hier nicht einzelne Elemente für sich beschrieben, sondern deren relationaler bzw. struktureller Zusammenhang. Im Fall Cantors sind es die Eigenschaften der Elemente, die einer Gruppe zugehören. Historisch zwischen Graphentheorie und Mengenlehre angesiedelt, vertritt auch die Nichteuklidische Geometrie eine topologische 50 | Vgl. Peter Bexte: Blinde Seher. Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, Amsterdam/Dresden 1999. 51 | Vgl. Oliver Deiser: Einführung in die Mengenlehre. Die Mengenlehre Georg Cantors und ihre Axiomatisierung durch Ernst Zermelo, Heidelberg u. a. 32010.
III. Wenden zum Raum
Sichtweise: Bekannt sind vor allem die Anstrengungen von Carl Friedrich Gauß Anfang des 19. Jahrhunderts, Belege dafür zu finden, dass der physische Raum im kosmischen Maßstab gekrümmt sein könnte.52 Die Flächengeometrie wäre demnach nur der Spezialfall einer allgemeineren Raumgeometrie. So behauptet das vierte geometrische Axiom Euklids die Parallelität von Linien (in der Fläche), insofern diese sich nicht, allenfalls in der Unendlichkeit, berühren. Im gekrümmten Raum, etwa auf einer Kugeloberfläche wie der Erde, schneiden sich Parallelen jedoch sehr wohl, wie etwa die Längengrade an den beiden Polen. Zur Plausibilisierung von Gauß’ Ansatz wird oftmals auf ein Gedankenexperiment zurückgegriffen, deren bekannteste Variante die Erzählung der »Flächenwesen«53 nach Hermann von Helmholtz ist. Diese leben in einer zweidimensionalen Lebenswelt, können jedoch durch das Überqueren einer Kugeloberfläche davon überzeugt werden, dass der Raum in Wahrheit eine Dimension mehr hat. Nämlich dann, wenn sie sich in gegenläufige Richtungen voneinander entfernen und dennoch wieder begegnen. Entsprechend ist die Erdoberfläche mathematisch gesehen endlos, aber der Erdraum physikalisch begrenzt. Später greift Vilém Flusser in seinem letzten Vortrag nochmals auf das helmoltzsche Bild zurück, um zu erklären, warum es zumeist schwer fällt, den Raum topologisch zu begreifen. Dazu reduziert er die Lebenswelt der Flächenwesen nochmals um eine Dimension auf das Erleben von ›Würmern‹, welche gewissermaßen die Bewohner der monodirektionalen Gutenberggalaxis sind: »[D]er Raum der […] am Boden kleben gebliebenen Würmer […] ist Tausende von Kilometern lang und breit, aber seine Höhe übertrifft kaum einige Meter. Diese lange und breite, aber niedrige Kiste teilen unsere Raumgestalter in Unterräume auf, etwa in den Arbeits-, den Freizeit- und den Wohnraum. Bei der Niedrigkeit der Kiste ist es nicht zu verwundern, daß diese Gestalter nicht eigentlich räumlich (topologisch), sondern flächenartig (geometrisch) denken, und daß sie die Zeit in Funktion des Kriechens von Unterraum zu Unterraum betrachten. Die Raumgestalter sind eigentlich Feldmesser (Geometer), und sie teilen das Feld in Flächen, die hintereinander (chronologisch) aufgesucht werden. Gegenwärtig jedoch beginnt sich unter dem Einfluß der im Weltraum und im virtuellen Raum gewonnenen Erkenntnisse der Deckel des Lebensraums aufzulösen, und wir beginnen, mitten im Lebensraum obdachlos zu werden.« 54 52 | Vgl. Marvin Jay Greenberg: Euclidean and Non-Euclidean Geometries. Development and History, New York 42008. 53 | Hermann von Helmholtz: »Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome (1870)«, in: Ders.: Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien/New York 1998, 14–39 [1876], hier 19. 54 | Vilém Flusser: »Räume«, in: Heidemarie Seblatnig (Hg.): außen räume innen räume. Der Wandel des Raumbegriffs im Zeitalter der elektronischen Medien, Wien 1991, 75–83, hier 78 f.
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Zeitgenössisch popularisiert werden Helmholtz’ Flächenwesen durch Edwin A. Abbotts dystopischen Roman Flatland von 1884: Darin wird von den flachen Wesen (wie Dreiecken, Quadraten oder Kreisen) berichtet, zu denen auch der Erzähler ›Square‹ gehört. Als dieser eines Tages zunächst im Traum sowohl in die eindimensionale Linien- als auch die nulldimensionale Punktwelt reist, bevor er schließlich Besuch von einer Kugel bekommt, die ihm Flächenland von oben zeigt, beginnt er über noch höher dimensionierte Welten zu spekulieren. Von Abbott aufgerufen wie zugleich ironisiert wird die an die Nichteuklidische Geometrie anschließende Theorie eines vierdimensionalen Raums (Abb. 30), die zur vorletzten Jahrhundertwende unter anderem weitreichenden Einfluss auf die moderne Kunst – so etwa auf Pablo Picasso – hat.55 Die Grundidee ist hierbei, dass Zeit letztlich nur eine weitere räumliche Dimension ist, in der sich als räumlicher Zustand das zeigt, was in der dreidimensionalen Welt als Bewegung wahrgenommen wird. Abb. 30: Abwicklungen von Quadrat, Würfel und Tesserakt
55 | Vgl. Linda Dalrymple Henderson: The Fourth Dimension and Non-Euclidian Geometry in Modern Art, Cambridge/London 22013.
III. Wenden zum Raum
Auch wenn eine Mehrdimensionalität des Raums in der heutigen Physik mit der Annahme eines aus vielen ›Fäden‹ (engl. strings) bestehenden Universums erneut vertreten wird,56 soll im Blick auf Flussers irritierende Kritik der Lebenswelt abermals nicht auf eine Wahrheit des Raums hingearbeitet werden, sondern an den Varianten wissenschaftlicher Topologie lässt sich ein Verständnis der Methode zur Beschreibung von Räumlichkeit jenseits der diskursdominierenden Gegenüberstellung von ›Ort vs. Raum‹ erlangen.
4. Topologie als M e thode Wenn auch erst nachträglich als Topological Turn bezeichnet, wird die methodische Einsicht sowohl von deutschsprachigen Kulturwissenschaftlern bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wie auch danach seitens des französischen Strukturalismus geteilt. Nur wird Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht von einer ›Struktur‹ des Raums gesprochen, sondern von räumlichen ›Formen‹. Wie schon Leibniz betont, ist das Formverständnis jedoch Voraussetzung der topologischen Raumbeschreibung, da es ein erster Schritt der Abstraktion von der physischen ›Stofflichkeit‹ des Raums ist. Zur eigentlichen Topologie wird die Beschreibung dann durch eine Reduktion der formalen Ähnlichkeit auf bloße ›Nachbarschaft‹ (wie die der durch ›Kanten‹ im ›Graphen‹ verbundenen ›Knoten‹ nach Euler).57 Topologie wird mithin auch als eine ›Gummihaut-Geometrie‹ (engl. rub ber-sheet geometry) bezeichnet, da Räume hierbei so lange als ›identisch‹ gelten, wie die Relationen ihrer formbestimmenden Örter erhalten bleiben: Ein Luftballon beispielsweise kann also mehr oder weniger aufgeblasen werden, er darf aber nicht reißen, damit seine grundsätzliche Form erhalten bleibt. Topologisch gesehen ändert sich der Raum nicht, nur dem Volumen nach. Zu einem anderen Raum wird er erst durch einen ›Riss‹, der das Nachbarschaftsgefüge verändert. Doch nicht nur in seinen verschiedenen Ausdehnungszuständen bleit er gleich, sondern er hat topologisch gesehen auch dieselbe Form wie eine Flasche oder ein Glas (nämlich die Anzahl ›1‹ an Öffnungen einer ansonsten geschlossenen Fläche). Relationale Ähnlichkeitsbeziehungen werden seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auch als ›Diagramme‹ (von gr. diagramma für ›Umriss‹) bezeichnet, deren Funktion der Philosoph Charles S. Peirce darin sieht, »Relationen der Teile eines Dings durch analoge Relationen ihrer eigenen Teile dar[zu] 56 | Vgl. Lisa Randall: Verborgene Universen. Eine Reise in den extradimensionalen Raum, Frankfurt a. M. 2006 [engl. 2005]. 57 | Vgl. Bradford H. Arnold: Elementare Topologie. Anschauliche Probleme und grundlegende Begriffe, Göttingen 31974 [engl. 1962].
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stellen«:58 So hat eine Fieberkurve zwar keine erscheinungshafte Ähnlichkeit mit dem Fieber, wohl aber strukturelle Ähnlichkeit mit dem Verlauf der gemessenen Körpererhitzung. Diagrammatische Analysen kennzeichnen nun die Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts insofern sie sich von einem geographischphysischen Konzept des Raums emanzipiert. Zu erinnern ist an Simmels Verbindung von sozialem mit architektonischem Raum sowie an Panofskys Kritik der Zentralperspektive als ›symbolischer Form‹. Vor allem aber ist an Cassirers Verständnis von ›Anschauungsformen‹ zu denken, wodurch sich verschiedene kulturelle Ordnungen miteinander vergleichen lassen. Cassirer steht denn auch mit dem Strukturalismus in direkter Verbindung: So hält er 1945 in New York einen Vortrag im Kreis des russischen Formalisten Roman Jakobson,59 dem auch der französische Ethnologe und spätere Hauptvertreter des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, angehört. Wie kein anderer hat Lévi-Strauss Kulturen vom »reinen spatium«60 einer Struktur ausgehend untersucht, um aufzuzeigen, dass diese hinsichtlich ihres ausgebildeten Sinngefüges nicht weniger ›rational‹ sind, als moderne Kulturen. Einschlägig ist seine topologische Interpretation des Inzestverbots in dem Erstlingswerk Structures élémentaires de la parenté von 1949, worin Lévi-Strauss zeigt, dass es zwar unterschiedliche Besetzungen der Positionen in der Relation verbotener Partnerschaften geben kann (etwa Beziehungen zwischen Cousin und Cousine anstelle von Bruder und Schwester), das Vorhandensein ähnlicher Beziehungen – das heißt, dieser identischen Struktur – ist aber kulturübergreifend gegeben.61 Lévi-Strauss leitet daraus seine, an Batailles Heterologiegrundsatz erinnernde Generalthese ab, dass sich Kultur stets durch die Ausgrenzung von etwas definiert, das ihr als ›Natur‹ gegenübergestellt ist. Die Funktion ist im Falle des Inzestverbots die Affirmation der Differenz durch Tabuisierung. In seiner für den Raum einschlägigsten Interpretation einer nordamerikanischen Sage hat Lévi-Strauss entsprechend aufgezeigt, wie ein Mythos die vermeintlich deterministischen Elemente geographischer Gegebenheiten in der kulturellen Struktur aufheben kann.62 58 | Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M. 1983, 157. 59 | Vgl. Ernst Cassirer: »Structuralism in Modern Linguistics«, in: Ders.: Aufsätze und kleinere Schriften (1941–1946), Hamburg 2007, 299–320 [1945]. 60 | Gilles Deleuze: »Woran erkennt man den Strukturalismus?«, in: Ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, Frankfurt a. M. 2003, 248–281 [frz. 1972], hier 253. 61 | Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1981 [frz. 1949]. 62 | Vgl. Ders.: »Die Geschichte von Asdiwal«, in: Edmund Leach (Hg.): Mythos und Totemismus. Beiträge zur Kritik der strukturalen Analyse, Frankfurt a. M. 1964, 27–81 [frz. 1958].
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Gemeinhin wird dem Strukturalismus eine Starrheit der unterstellten Relationssysteme vorgeworfen, so dass sich der nachfolgende Poststrukturalismus mit der 1968er-Bewegung für ein dynamisches Verständnis von Strukturen einsetzt. Hinsichtlich des Strukturverständnisses trifft diese Kritik jedoch nicht den topologischen Methodenbegriff: Nicht nur, weil für die betreffende Generation (staatliche) ›Strukturen‹ allemal unter Generalverdacht stehen, sondern weil ganz gegenteilig eine Veränderung derselben voraussetzt, Strukturen zu identifizieren und nicht allein deren physische Ausprägung, sprich: deren ›Topographie‹. Vielmehr gilt, dass eine topologische Veränderung sich topographisch selbst nicht auswirken muss und nicht jede topographische Veränderung eine andere Topologie zur Folge hat. Für die Literatur zeigt etwa der Formalist Juri Lotman, dass Romane nur dann ›Inhalt‹ oder ein ›Sujet‹ haben, wenn sie neben der physischen Raumbewegung (wie die Reisen des Odysseus) eine Veränderung im sozialen oder mythischen Relationsraum (wenn Odysseus das Reich der Toten besucht) aufweisen.63 Letztere können nun auch an Ort und Stelle erfolgen (etwa als Übergang von ›lebendig‹ zu ›tot‹); in der Sprache der GummihautGeometrie: wenn ein Riss im Gefüge entsteht; oder heterologisch gewendet: wenn ein Übertritt in das Ausgeschlossene erfolgt. Ansonsten wäre Literatur topologisch ereignislos und von bloßen Fahrplänen nicht unterschieden. Relationales Raumdenken findet sich jedoch nicht nur bei formalistischen und strukturalistischen Ansätzen, sondern auch in der politischen Philosophie: So etwa bei der Philosophin Hannah Arendt, die Demokratien über die räumliche Differenz von ›privat‹ und ›öffentlich‹ definiert.64 – Abermals ist dies keine topographische, sondern eine topologische Unterscheidung, die an beliebigen Orten auftreten oder an einem zusammenfallen kann: Arendt hat vor allem den staatlichen Zugriff nazistischer und sozialistischer Diktaturen auf die Privatsphäre vor Augen. In neoliberalen Systemen wiederum vollzieht sich eine gegenläufige Privatisierung des Öffentlichen: So haben Menschen gemeinhin den Eindruck, sich beim Gang durch Innenstädte topographisch auf öffentlichem Grund zu bewegen. Tatsächlich werden viele Plätze aber von einem Wachschutz nach Maßgaben der Hausordnung ihres Besitzers kontrolliert, so dass sie sich topologisch gesehen auf Privatgrund befinden. Darüber hinausgehend werden zunehmend Sonderzonen eingerichtet (in den Vereinigten Staaten besonders die ›Drug Free Zones‹), in denen Menschen ohne begründeten Anfangsverdacht von der Polizei kontrolliert werden können. 63 | Vgl. Jurij M. Lotman: »Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen«, in: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg Ts. 1974, 338–377 [1969]. 64 | Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002 [engl. 1958], 33–97.
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Wie oben im Nachgang zu Lefebvre mit Bachelard dargestellt, können philosophische Konzeptionen selbst als Repräsentationsräume verstanden werden, denen eine topologische Struktur eigen ist. Bei Descartes ist es die grundsätzliche Dualität von Bewusstsein ›innen‹ und Materie ›außen‹, in der Zuspitzung bei Mach wird dies zu einem perspektivischen Weltentwurf, ausgehend vom Körper des wahrnehmenden Subjekts. Die Diagrammatik dieses Raums wird wiederum 1934 von dem Sprachforscher Karl Bühler aufgezeigt und gleichsam weiterentwickelt, wenn er die origo (lat. für ›Ursprung‹) des von ihm sogenannten Zeigfeldes mit einem Strukturbild (Abb. 31) verdeutlicht, in dem an die Stelle des Egoleibs ein dreifaches Artikulationsmoment getreten ist: »Zwei Striche auf dem Papier, die sich senkrecht schneiden, sollen uns ein Koordinatensystem andeuten, O die Origo, den Koordinatenausgangspunkt: Ich behaupte, daß drei Zeigwörter an die Stelle von O gesetzt werden müssen, wenn dies Schema das Zeigfeld der menschlichen Sprache repräsentieren soll, nämlich die Zeigwörter hier, jetzt und ich.« 65
Abb. 31: Bühler, »Origo des Zeigfeldes«
Weitere Beispiele für diagrammatische oder strukturelle Beschreibungen finden sich in der ausdrücklich so benannten Topologischen Psychologie des Cassirer-Schülers Kurt Lewins: Als einer der außergewöhnlichsten Raumtheoretiker des 20. Jahrhunderts verdankt er das psychologische Raumkonzept seinen Fronterfahrungen im Ersten Weltkrieg. Bereits in seinem ersten, noch 1917 im Lazarett verfassten Text über die Kriegslandschaft führt er aus, was später einmal als psychologische ›Feldtheorie‹ bekannt werden sollte:66 Wie Nishida nimmt Lewin dabei Anleihen in der modernen Physik, relativiert die phäno65 | Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1978 [1934], 102. 66 | Vgl. Harald Mey: Studien zur Anwendung des Feldbegriffs in den Sozialwissenschaften, München 1965.
III. Wenden zum Raum
menologische Beschreibung aber zugunsten einer ›Gleichgültigkeit‹ unterschiedlicher Räume. Der kurze Text läuft auf die einfache, aber bahnbrechende Idee hinaus, dass der Raum im Krieg eine andere Form (oder topologische Struktur) aufweist als in Friedenszeiten: »Wenn man […] sich […] wieder der Front nähert, so erlebt man eine eigentümliche Umformung des Landschaftsbildes. Mag man auch schon weiter zurück hin und wieder auf zerstörte Häuser und andere Kriegsspuren gestoßen sein, so hatte man sich doch in gewissem Sinne in einer reinen Friedenslandschaft befunden: Die Gegend schien sich nach allen Seiten hin ungefähr gleichmäßig ins Unendliche zu erstrecken. Denn für gewöhnlich erlebt man die Landschaft auf diese Weise: Sie erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus […]; und diese Ausdehnung, – das ist wesentlich für die Friedenslandschaft – geht nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche, wenn sie auch je nach der Formation und dem Gelände in den verschiedenen Richtungen verschieden schnell und leicht fortschreiten kann. Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten. Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt.« 67
Ohne dass Lewin es ausdrücklich thematisiert, legt er hiermit die lebensweltlichen Voraussetzungen der Ortsphänomenologie frei: Jaspers’ Idee, dass das Dasein ›rund‹ ist, Sloterdijks Behauptung einer ursprünglichen Sphärik, die konzentrischen Lebenskreise der Heimat nach Spranger, letztlich noch der McLuhans Beschreibung des archaischen Kommunikationsraums, entsprechen sich als Topologie einer friedlichen Welt. Lewin lehnt diese nicht als Erfahrungsräumlichkeit ab, sondern stellt beide Möglichkeiten in ihrer strukturellen Differenz gegenüber: rund (Frieden) vs. gerichtet (Krieg). Dennoch inspirierte die Gerichtetheit des (Kriegs-)Raums Lewin zu einer weitergehenden, vektoriellen Beschreibung des Lebensraums als einen ›hodologischen‹ (von gr. hodos für ›Weg‹). Raum wird demzufolge seine ›Erreichbarkeit‹ erfahren. Ein Ort kann im euklidischen Raum durchaus nahe sein – wie der Bereich hinter der gegnerischen Front oder einer Barriere im Stadtraum – hodologisch bleibt er fern oder gar unerreichbar (Abb. 32).
67 | Kurt Lewin: »Kriegslandschaft«, in: Ders.: Feldtheorie, Bern/Stuttgart 1982, 315– 325 [1917], hier 316.
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Abb. 32: Lewin, »Hodologischer Raum«
Lewins Raumverständnis wird bereits zu seinen Lebzeiten über die Psychologie hinaus rezipiert: So hält der existentialistische Philosoph Jean-Paul Sartre den hodologischen Ansatz für geeignet, den »realen Raum der Welt« zu erfassen, da er beide Seiten, die subjektive wie auch die objektive zugleich beschreibbar werden lässt: »Der Mensch und die Welt sind relative Wesen, und das Prinzip ihres Seins ist die Relation.«68 Dies fügt sich in Sartres dialektisches Verständnis von Subjektivität, die nur dann ausgebildet werden könne, wenn die Blicke des Ichs auch von anderen erwidert werden. Nicht gesehen zu werden, bedeutet für Sartre – so legt er 1943 in L’être et le néant dar –, kein relationales Wesen und damit inexistent zu sein. Sartres Bemerkungen laufen der wohl bekanntesten topologischen Analyse einer kulturellen Raumform vor: Diese geht abermals auf Foucault zurück und findet sich als zentrales Kapitel in seiner bekanntesten Untersuchung Surveil ler et punir von 1975. Hier macht Foucault mit seiner Idee einer ›Heterotopologie‹ ernst, indem er darin die Betonung für sein gesamtes Werk wegweisend von der Heterotopie auf die Topologie verschiebt.69 In dem Band widmet sich Foucault dem Wandel einer Heterotopie vom Ort der Krise zum Ort der Abweichung: Es geht, wie der an Nietzsche angelehnte Untertitel sagt, um La naissance de la prison. – Hinzuzufügen wäre: ›aus dem Geiste des Klosters‹, da nach Foucault das Gefängnis (als Abweichungsheterotopie) diesem (als Krisenheterotopie) entstammt. Während die Insassen des Klosters mehr oder 68 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 10 2004 [frz. 1943], 547. 69 | Vgl. Gilles Deleuze: »Topologie. ›Anders denken‹«, in: Ders.: Foucault, Frankfurt a. M. 1987 [frz. 1986], 69–172.
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minder freiwillig den Dialog mit Gott suchen, werden die des Gefängnisses gezwungen, sich ein ›Gewissen‹ zu verschaffen. Moderne Haftanstalten sind so nur auf den ersten Blick eine Errungenschaft des Humanismus, verlegen die Folter jedoch nur vom Körper auf den Geist. Besagtes Kapitel in Foucaults Schrift handelt dabei von einer Gefängnisbauweise, die auf den englischen Philosophen Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert zurückgeht: Als Utilitarist oder Nützlichkeitsdenker entwickelt dieser zur Steigerung des Allgemeinwohls eine Architektur, die er in Anlehnung an den hundertäugigen und daher ›all-sehenden‹ Giganten der griechischen Mythologie, Panoptes, das ›Panopticon‹ nennt. Der Bauweise des zeitgleich in England aufkommenden Panoramas verwandt, zeichnet es sich durch die kreisförmige Anordnung der einzelnen Zellen aus (Abb. 33). Der Standort des Betrachters – im Falle des Gefängnisses: der Aufseher – ist ein zentraler Turm. Der Clou der von Bentham zusammen mit dem Architekten Willey Reveley 1791 entwickelten Konstruktion ist, dass die Zellen von Tageslicht durchflutet werden, der Turm aber nur kleine Fenster hat, so dass es den Wärtern zwar möglich ist, die voneinander isolierten Gefangenen zu beobachten, für diese es aber nicht auszumachen ist, ob sich dort tatsächlich Personen befinden. Die Gewissensbildung erfolgt dabei insofern der aktuell-vergängliche Wächter zu einem virtuell-dauerhaften wird: Straftäter sollen sich auch nach ihrer Entlassung weiterhin unter Beobachtung fühlen. Abb. 33: Reveley, »Aufriss, Schnitt und Grundriss von Jeremy Benthams panoptischer Haftanstalt«
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Foucault nennt Benthams Erfindung »eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentrum sieht man alles, ohne je gesehen zu werden«.70 Foucault deckt damit nichts Geringeres auf, als die historische Wurzel von Sartres relationaler Phänomenologie, wenn dieser behauptet, dass das »Erfassen des Anderen in der Welt als wahrscheinlich ein Mensch seiend« zugleich bedeutet, dass die »permanente Möglichkeit« besteht »von-ihm-gesehen-zu-werden«.71 (Inter-)Subjektivität nach Sartre ist letztlich Bewusstsein unter Beobachtung. Damit erfüllt Foucaults Raumanalyse den Auftrag Batailles, ›die Professoren‹ ins Gefängnis zu stecken, um ihnen beizubringen, was Raum ist. Gleichwohl ist das Entscheidende für Foucault nicht der ohnehin nur wenige Male nach Benthams Plan verwirklichte Bau als solcher, sondern seine strukturelle Beispielhaftigkeit für einen umfassenden Panoptismus.72 Ausdrücklich spricht Foucault daher von einem »Diagramm« (also einem Strukturbild) des Panopticons als einen »auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus«.73 Als ›Form‹ ist das Gefängnis der Repräsentationsraum eines auf Optimierung der Arbeitsleistung zielenden Industriezeitalters und seiner Subjekte; kurz: Topographisch gesehen ist das Gefängnis nur ein Gebäude, to pologisch betrachtet ist es soziale Realität. Zu denken ist heute an die gerade im Lande Benthams und Orwells weitgehend akzeptierte Closed Circuit Television: Es gibt im Vereinigten Königreich kaum noch einen öffentlichen Platz im Stadtraum ohne ›CCTV‹. Wie das Reformgefängnis sind die Überwachungsanlagen mit Kameras und Monitoren panoptisch, weil die Menschen sich nicht sicher sein können, ob sie vom Sicherheitspersonal am Bildschirm beobachtet (oder durch eine Gesichtserkennungssoftware identifiziert) werden.74 Gleichwohl befinden sie sich in der Struktur des ›Gesehen-Werdens ohne selbst sehen zu können‹ und richten ihr Verhalten in situ danach aus: Die »Teletopologie« 75 der Videoüberwachung ist mit der des Panopticons insofern identisch als beide das »Zuaugensein« 76 ermöglichen. 70 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977 [frz. 1975], 259. 71 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a. a. O. [Anm. 68], 464. 72 | Vgl. Petra Gehring: »Paradigma einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken von M. Foucault und M. Serres«, in: Dies. et al. (Hg.): Diagrammatik und Philosophie, Amsterdam/Atlanta 1988, 89–105. 73 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 70], 264. 74 | Vgl. Thomas Y. Levin/Ursula Frohne/Peter Weibel (Hg.): CTRL [Space]. Rhetorik der Überwachung von Bentham bis Big Brother, Karlsruhe 2002. 75 | Paul Virilio: Die Sehmaschine, Berlin 1989 [frz. 1988], 26. 76 | Jörg Metelmann: »Kontroll-Raum. In-der-Medienwelt-Sein und die zwei Topologien der Videoüberwachung«, in: Leon Hempel/Ders. (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Video-
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Foucault begreift die Herausbildung der Moderne daher nicht als Ergebnis einer Fortschrittsgeschichte, sondern als einen spontanen Strukturwandel. An historischen Raumkonzepten lässt sich dieser besonders gut ablesen, da sie selbst Momente der Raumproduktion sind, in dem sich die jeweilige Struktur (im Sinne eines Repräsentationsraums) verdichtet. Daher beginnt Foucault seinen Text über Heterotopologie mit einer Geschichte des Raumdenkens, die in den drei Schritten vom ›Ort‹ über den ›Raum‹ zur ›Lage‹ erfolgt und denen der historischen Raumaufhebung nach McLuhan (archaisches Dorf, Gutenberggalaxis und globales Dorf) entsprechen. Für Foucault besteht die erste Struktur bis in das der aristotelischen Physik verpflichtete Mittelalter und entspricht einem »Raum der Lokalisierung«.77 Wie bereits Eliade aufzeigt, ist diese Welt in heilige und profane Segmente unterteilt. Deren Unterschiede werden in der darauf folgenden Struktur des neuzeitlichen Ausdehnungsraums mit Galilei nivelliert, bevor es in der Moderne zu einer Wiederannährung an das Ortsdenken kommt: Jedoch ist die gegenwärtige Struktur nach Foucault nicht die lokaler Ortschaften, sondern einer (globalen) »Lage«, welche sich »durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen« auszeichnet, »die man formal als mathematische Reihen, Bäume oder Gitter beschreiben kann«.78 Die Topologie Eulers ist demzufolge das zeitgenössische Pendant des Panoptismus, wenn mit diesem »[d]er Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen.« 79 Fortgeführt werden Foucaults Raumanalysen durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, unter anderem 1995 in einer Studie über den ›heiligen Menschen‹ (lat. homo sacer). Darin wird die Position geächteter Personen im Rechtsraum untersucht. Agamben rekurriert dabei zugleich auf das topologische Demokratieverständnis von Hannah Arendt wie auch auf den dazu konträr erscheinenden Carl Schmitt. Er passt jedoch insofern zu Arendts Diagnose als er durch die für ihn zentrale Figur des Souveräns jenes Strukturmoment beschreibt, das Arendt als diktatorisch ausweist: die Ununterscheidbarkeit von ›öffentlich‹ und ›privat‹. Mit Schmitt lassen sich die beiden Zustände als ›Gesetz‹ und ›Willkür‹ gegenüberstellen: Der politische Herrscher kann seiner Definition nach »über den Ausnahmezustand entscheide[n]«;80 also Gesetze jederzeit außer Kraft setzen. Ausdruck findet die dem Souverän zugesprochene Willkür im Repräsentationsraum und regelrechten überwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a. M. 2005, 174–188, hier 181. 77 | Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, a. a. O. [Kap. II, Anm. 61], 932. 78 | Ebd. 79 | Ders.: Überwachen und Strafen, a. a. O. [Anm. 70], 251. 80 | Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 61993 [1922], 13.
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»Ab-Ort«81 des Lagers: Es ist die Konkretion des modernen Raumparadigmas der Lage, in der Menschen keine Rechtssicherheit mehr haben, sondern der straffreien Tötung ausgesetzt sind.82 Da auch Demokratien aus einem Akt der Willkür hervorgegangen sind (insofern sie – teils blutig – den Feudalismus beenden), tendieren sie nach Agamben stets dazu, von der Ausnahme souveränen Gebrauch zu machen und bewirken langfristig eine »juridisch-politische Entortung«.83 Beispiele für Ausnahmen sind etwa die Deklarierung von Kampfeinsätzen als ›humanitäre Hilfe‹ in Krisengebieten (seitens der Bundesrepublik Deutschland ab 1992) oder die zwischenzeitliche ›Verwaltung‹ von Staaten durch das Militär (wiederholt in Ägypten oder Thailand). Anzuführen sind auch die US-Gefangenenlager auf Kuba, wo bereits 1896 die spanische Kolonialregierung das erste Konzentrationslager der Moderne einrichtete: In der Bucht von Guantánamo ist eine rechtliche wie territoriale Ausnahmenzone für das internationale Kriegsrecht geschaffen. Abb. 34: Agamben, »Gesetz und Willkür«
Zur diagrammatischen Beschreibung der Ununterscheidbarkeit verwendet Agamben die 1881 durch den Mathematiker John Venn eingeführte Notationsweise von Mengen (Abb. 34): Damit zeigt er in drei Schritten, wie sich Gesetz und Willkür zunächst als getrennte Sphären gegenüberstehen (1); diese dann in der Ausnahme von jener eingeschlossen wird (2); bevor sie voneinander nicht mehr unterscheidbar sind (3). Mit van Gennep und Turner gesprochen, ist letztes Verhältnis ein ›Schwellenzustand‹ bzw. ein ›liminaler Raum‹, der jedoch nicht mehr als Übergang dient, sondern zum Dauerzustand geworden ist. Die Diagramme bilden daher nicht die Topographie eines zerfallenden Staates ab, sondern das topologische Verhältnis zweier Mengen, deren Beschreibung Agamben in seinem Text denn auch mit dem mathematischen Zeichen אfür deren Mächtigkeit versieht. 81 | Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt, Berlin 2011, 14. 82 | Vgl. Ludger Schwarte (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, Bielefeld 2007. 83 | Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002 [ital. 1995], 49.
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5. Topo -L ogik Dass topologisches Denken vor allem der Einübung einer neuen Sichtweise bedarf, legt 1969 der wohl außergewöhnlichste Logiker des 20. Jahrhunderts, George Spencer Brown, in The Laws of Form dar. Das Buch ist nicht nur die konsequenteste Kritik des räumlichen Schachteldenkens, sondern zugleich die reduzierteste Variante einer topologischen Beschreibungsweise, durch welche eine seit zweieinhalb Jahrtausenden bestehende Tradition der westlichen Philosophie reformiert werden soll: das Denken der Identität. Aufgrund der Größe dieser Aufgabe vermittelt Spencer Brown seinen Ansatz denn auch nicht rein argumentativ, sondern durch die Aufforderung »Lasse e(twa)s sein«. Damit ist wie schon in dem im gleichen Jahr von den Beatles aufgenommenen Song Let It Be nicht ein ›Aufgeben‹ gemeint, sondern ein ›ins-Sein-Lassen‹: Lasst uns die Welt so sehen! Wie? – Topologisch. Das ›E(twa)s‹ kennzeichnet Spencer Brown mit einem m für ›Markierung‹ (engl. mark, von lat. margo für ›Grenze‹ oder ›Rand‹). Er will damit die reine Form der Unterscheidung hervorheben, durch die eine topologische Trennung (Einschluss und Ausschluss) erfolgt. Das Identitätsdenken gründet dagegen in einer containerräumlichen Annahme, die sich bereits bei Aristoteles findet,84 wenn dieser behauptet, dass nicht »zwei Körper zugleich in demselben [Orte] sein«85 können. Daraus ergibt sich für die Logik, dass beispielsweise ein Apfel keine Birne sein kann: A ≠ B. Innerhalb des physischen Ortskonzepts erscheint dieser Gedanke denn auch plausibel, jedoch nicht für den der Raumpraxis. Daher betont Spencer Brown am Akt der vermeintlichen Identifizierung die dabei erfolgende Grenzziehung, durch die ein ›markierter Raum‹ (engl. marked space) von einem ›unmarkierten Raum‹ (engl. unmarked space) getrennt wird. Ein Identifizieren von Etwas definiert folglich zugleich sein Gegenteil (als es Selbst). ›Nicht-A‹ kann somit gar nicht anders bestimmt werden als durch ›A‹, weil die Menge ›B‹ alles das ist, was ›A‹ nicht ist. Daher lässt Spencer Brown die Markierung m sowohl das Innen wie das Außen einer Unterscheidung bezeichnen (Abb. 35).86 Aristoteles’ Ortsvorstellung wird hiermit nicht gänzlich obsolet, wohl aber wird Topos nicht mehr in Anlehnung an den (umfassten) Inhalt begriffen, sondern ausgehend von seiner (reinen) Form: der Grenzen. Darüber wird Spencer Browns Vorschlag zu einem Kalkül,87 mittels dessen – etwa die von ethnologischen Beschreibungen ritueller Ein- oder Ausgrenzungshandlungen implizierte – Räumlichkeit strukturell fassbar ist. 84 | Vgl. Luce Irigaray: »Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles Physik IV, 2–5«, in: Dies.: Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt a. M. 1991 [frz. 1984], 46–70. 85 | Aristoteles: Über die Seele, Hamburg 1995, 99 [418b]. 86 | Vgl. George Spencer Brown: Gesetze der Form, Lübeck 1997 [engl. 1969], 60–66. 87 | Vgl. Tatjana Schönwälder-Kuntze/Katrin Wille/Thomas Hölscher: George Spencer Brown. Eine Einführung in die ›Laws of Form‹, Wiesbaden 22009.
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Abb. 35: Spencer Brown, »Markierter und unmarkierter Raum«
Um für den radikalen Konstruktivismus Spencer Browns ein Beispiel zu nennen, kann auf die feministische Theorie verwiesen werden, in der mit Judith Butler davon ausgegangen wird, dass durch (sprachliche) Unterscheidungen Gewalt ausgeübt und Sexualität ›performt‹ wird:88 Dies geschieht, wenn das biologische Geschlecht (engl. sex) einer Person durch wiederholte Erwähnung des sozialen Geschlechtes (engl. gender) zu einem Distinktionsmerkmal wird.89 In diesem Fall wird die Wirklichkeit der Geschlechter als eine beidseitige Markierung diskursiv erzeugt, von denen zwar jeweils immer nur eine Seite beobachtet wird, aber deren unmarkierter Raum (das andere Geschlecht) in der Unterscheidung mit erzeugt ist. Daher ist die Einführung von Unisextoiletten zur Abschaffung der an den Raumschleusen zumeist piktographisch manifestierten Differenz nicht hoch genug zu bewerten: So merkt der – selbst wie kaum ein anderer Strukturalist von mathematischer Topologie beeinflusste90 – Psychoanalytiker Jacques Lacan schon 1957 an, dass »zwei […] Türen […] den Imperativ symbolisieren […], der […] [des Menschen] öffentliches Leben den Gesetzen der urinalen Segregation unterwirft.«91 Für die kritische Sozialgeographie hat Doreen Massey seit 1984 wiederholt auf die der Moderne (oder für sie: des postindustriellen Kapitalismus) eigene 88 | Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 2003 [engl. 1990]. 89 | Vgl. Gayle Rubin: »The Traffic in Women. Notes on the ›Political Economy‹ of Sex«, in: Rayna R. Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women, New York/London 1975, 157–210. 90 | Vgl. Walter Seitter et al.: »Der Analytiker und die visuellen Künste. Jacques Lacan«, in: Gerhard Fischer et.al.(Hg.): daedalus. Die Erfindung der Gegenwart, Basel/Frankfurt a. M. 1990, 275–307. 91 | Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957)«, in: Ders.: Schriften II, Olten 31991 [frz. 1966], 15–55, hier 24 f.
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Geschlechterdifferenzierung hingewiesen:92 Eine Spaltung drückt sich hier insofern räumlich aus, als die topographische Trennung von Wohn- und Arbeitswelt durch die Topologie des Kapitals bedingt ist: Dies betrifft sowohl die Teilung der Arbeitswelt in Männer- und Frauenberufe als auch die generelle Unterscheidung von Lohnarbeit (für Männer) und unbezahlter Hausarbeit (für Frauen). Die gemeinhin erhobene Klage über den zusehenden Wegfall einer deutlichen Grenzziehung zwischen dem Raum der Arbeit (im Büro) und dem der Freizeit (zu Hause) – gegen den Oldenburg einen ›dritten Ort‹ in Anschlag bringt –, ist für Massey denn auch nur die Perspektive der Männer, für welche der Unterschied ökonomisch tatsächlich besteht, während Frauen seit jeher zu Hause arbeiten.93 (Im Sinne der Raumdialektik kann diese repräsentationsräumliche Trennung dann wiederum Auswirkungen auf die räumliche Praxis haben.94) Mit einer topologischen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse95 am weitesten gegangen ist jedoch der Soziologe Pierre Bourdieu, der 1979 in seinem Hauptwerk über Die feinen Unterschiede – im Original schlicht ›La distinction‹ betitelt – eine Kartierung der französischen Gesellschaft unternimmt.96 Bourdieu, der seine Ergebnisse stets auch durch Diagramme verdeutlicht (Abb. 36), löst damit einen regelrechten Skandal aus, da er die scheinbar wohlbegründete politische Spaltung in ›links‹ und ›rechts‹ zwar auch am Niveau des ökonomischen und kulturellen Kapitals (›Geld‹ bzw. ›Bildung‹) festmacht, die stabile Korrelation mit dem Wahlverhalten aber an geschmacklicher Orientierung (wie Getränkevorlieben und Freizeitverhalten): Gleich wie nahe sich die einzelnen Menschen topographisch auch sein mögen, zwischen Nachbarn, die reiten und Champagner trinken und denen, die Fußball spielen und Bier trinken, ist die Distanz im Sozialraum nach Bourdieu schier unüberbrückbar. Eine solche Sozialraumbeschreibung entgeht von vornherein der Gefahr, die soziale Position mit einer geometrischen zu verwechseln.97 92 | Vgl. Doreen Massey: Spatial Division of Labour. Social Structures and the Geography of Production, New York 21995 [1984]. 93 | Vgl. Dies.: »Place, Space and Gender«, in: Dies.: Place, Space, and Gender, London/Minneapolis 1994, 185–190 [1992]. 94 | Vgl. Iris Marion Young: »Werfen wie ein Mädchen. Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/4 (1993), 707–725 [engl. 1990]. 95 | Vgl. Nina Baur et al.: »Theory and Methods in Spatial Analysis. Towards Integrating Qualitative, Quantitative and Cartographic Approaches in the Social Sciences and Humanities«, in: Historical Social Research 39/2 (2014), 7–50. 96 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987 [frz. 1979], 212 f. 97 | Vgl. Pitirim A. Sorokin: Sociocultural Causality, Space, Time. A Study of Referential Principals of Sociological Science, New York 1964, 113–122.
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Abb. 36: Bourdieu, »Raum der sozialen Positionen«
Im Nachgang zu Lotmans topologischer Textanalyse hat Bourdieus Diagrammatik zuletzt Einzug in die Literaturwissenschaften gehalten:98 Namentlich verfolgt Franco Moretti ein Kartierungsprojekt des europäischen Romans, im Zuge dessen er zunächst auf verschiedenen Ebenen die Topographien der Literatur erfasst, sodann aber auch deren Topologien. Zu erstem gehören zunächst die Orte der Verlage und Autoren, dann vor allem die Geographie der Handlungsorte; zu zweitem gehören die sozialen Relationen und Mengen oder Gruppen(-übertritte), die in den Erzählungen verhandelt werden.99 Topographisch 98 | Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009 [ital. 2005]. 99 | Vgl. Ders.: Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln 1999 [ital. 1997].
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wird hierüber deutlich, dass bestimmte Orte – wie London und Paris als Wohnstätten der meisten Autoren – recht häufig repräsentiert werden, während sich topologisch die These Lotmans bestätigt, dass ein Roman erst dann sujethaltig wird, wenn der Übertritt im sozialen Raum (etwa von ›arm‹ nach ›reich‹) erfolgt. Wie Spencer Brown begreifen genannte Autoren die beiden Seiten einer Unterscheidung als Momente derselben Markierung: ›männlich/weiblich‹, ›rechts/links‹, ›arm/reich‹ sind allesamt Unterscheidungen die sich in ihrer Beidseitigkeit stabilisieren. Ein solches Denken hat seine Wurzeln in der östlichen Antike und findet sich etwa in den hinduistischen Upanischaden,100 die von der westlichen Philosophie jedoch erst im 19. Jahrhundert rezipiert werden und dann auch auf deren Logik Einfluss auszuüben beginnen. (Von hier aus erklären sich zum Teil auch die Schwierigkeiten im Verständnis von Lefebvres Raumtheorie, wenn dieser etwa eine Straße als »Schnitt-Naht« 101 bezeichnet, das heißt: als ein ›Trennend-Verbindendes‹.) Rückblickend wird so auch erkannt, dass bereits Platons Konzept der cho ra als Zwischen von ›Sein‹ und ›Werden‹ eine Distinktionsvorstellung ist. Entsprechend hat sich Derrida dafür eingesetzt, das Wort nicht mit ›Raum‹ zu übertragen (wodurch Platon zum Vordenker Newtons wird), sondern es unübersetzt zu lassen.102 – Derrida hätte durchaus vorschlagen können, chora mit ›Differenz‹ wiederzugeben: Hierfür spricht auch, dass Platon sich sehr wahrscheinlich an ein Konzept des Vorsokratikers Hesiod anlehnt, demzufolge der Anfang allen Seins chaos ist.103 Im Altgriechischen bezeichnet das Wort insofern die damit im Deutschen assoziierte ›Un-Ordnung‹ als es sich mit ›Klaffendes‹ oder ›Offen-Stehendes‹ übersetzen lässt. Als solches umfasst chaos die Möglichkeit von Ordnung durch deren Negation. Das chaos ist ein Grund ›ohne Boden‹ oder wie Heidegger es im Blick auf den Raum formuliert, ist »[d]er Abgrund […] die ursprüngliche Wesung des Grundes. […] Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das Offene, nämlich in das erst Offene jener Leere, die damit eine bestimmte ist.«104 Weniger mystisch als Heidegger stellt der französische Dichter Georges Perec in seinem Buch Espèces d’espaces über ›Arten von Räumen‹ aus dem Jahr des Erscheinens von Lefebvres Theorie der Raumproduktion sein Projekt vor: »Das Thema dieses Buches ist nicht eigentlich die Leere, sondern vielmehr 100 | Vgl. Raimon Panikkar: »There Is No Outer without Inner Space«, in: Kapila Vatsyayan (Hg.): Concepts of Space Ancient and Modern, Neu Delhi 1991, 7–38. 101 | Henri Lefebvre: Revolution der Städte, a. a. O. [Kap. II, Anm. 57], 44. 102 | Vgl. Jacques Derrida: Chora, Wien 1990 [frz. 1987], 17. 103 | Vgl. Thomas Kratzert: Die Entdeckung des Raums. Vom hesiodischen ›cháos‹ zur platonischen ›chóra‹, Amsterdam/Philadelphia 1998. 104 | Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989, 379 f.
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das, was drum herum oder darin ist.«105 Darauf verweist auch eine Darstellung, die er seinem Text voranstellt und die der Ballade The Hunting of the Snark des Schriftstellers Lewis Carroll von 1876 entnommen ist: Es handelt sich dabei um eine Seekarte, die außer eines beschrifteten Rahmens nur Leere zeigt (Abb. 37). Sie ist nicht nur eine visuelle Kritik am Kartenbild in der Tradition Mercators, mit dem der glatte Raum des Meeres gekerbt wird, sondern zeigt Raum als potentiell differenzierbaren. Abb. 37: Carroll, »Ozean-Karte«
Differenzlogische Beschreibungen finden sich auch in monotheistischen Schöpfungsberichten, wie der biblischen Genesis, der zufolge die erste Schöpfungshandlung in der Teilung von Himmel und Erde besteht, durch die erst mit dem ›Tohuwabohu‹ (von hebr. tohu für ›wüst‹ und vavohu für ›leer‹) der (leere) Raum entsteht. Hesiod nimmt dagegen umgekehrt die Erde (symbolisiert durch die Göttin Gaia) als aus dem Chaos hervorgegangen an: »Zuallererst wahrlich entstand das Chaos, aber dann die breitbrüstige Gaia, der niemals wankende Sitz.«106 In der Forschung wird die Auffassung vertreten, dass mit 105 | Georges Perec: Träume von Räumen, Frankfurt a. M. 1990 [frz. 1974], 10. 106 | Hesiod: Theogonie, Sankt Augustin 51993, 53.
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diesem Satz die Emanzipation vom mythisch-theologischen Denken erfolgt, da mit chaos keine Gottheit mehr angesprochen wird, sondern ein Prinzip. So gesehen könnte Gaia als »niemals wankender Sitz« auch ganz säkular als die ›Boden-Form‹ der Erde nach Husserl interpretiert werden, die als Ur-Arche der menschlichen Existenz diese vor dem abgründigen Raum bewahrt. Tatsächlich besteht an dieser Stelle die Versuchung, doch einen ›wahren‹ Begriff des Raums zu postulieren, nämlich einen solchen, in dem Chora und Topos als (chaotische-abgründige) Differenz verbunden sind. ›Orte‹ wären demnach die markierte Seite der Unterscheidung ›Raum‹, auf deren unmarkierter Seite sich alle ›Nicht-Orte‹ befinden. Doch eingedenk Lefebvres Dialektik ist jedwede ontologische Annäherung wiederum ein Beitrag zur Raumproduktion, der sich diesem Prozess nicht entziehen kann. Daher geht es in einer reflektierten Raumtheorie darum, eine möglichst transdisziplinäre Methode zur Anwendung zu bringen, mit der eine Analyse räumlicher Formen möglich ist. Wie die Debatten um ›Turns‹, aber auch die raumanalytischen Beiträge in Kultur- und Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, besteht diese in der topologischen Beschreibung. Gar lässt sich die voraussetzungsreiche Ortsontologie Heideggers – von ihm selbst einmal als »Topologie des Seyns«107 bezeichnet – für eine Analyse der Strukturen von Repräsentationsräumen nutzen: In seinem Darmstädter Vortrag führt Heidegger ein zentrales architektonisches Beispiel an, das auch in der Kritik von Levinas Erwähnung findet. Nach Flusser ist es der Wohnort der Clochards und für Euler Anlass zur Erprobung topologischen Denkens. Wenn das Schiff als Container für die Theorien von Newton und Husserl das zentrale Bild der festen Bodenform im absoluten Raum ist, so expliziert Heidegger sein besonderes Ortsverständnis an der Brücke: »Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort.«108
So denkt Heidegger das topologische Wesen des Orts ›Brücke‹ als eine konkrete Form – oder in den Worten Lefebvres: als Repräsentationsraum, der wie beispielsweise die Golden Gate Bridge sich an einer besonderen Stelle befindet, aber von diagrammatischem Charakter bezüglich der darin zum Ausdruck kommenden, allgemeinen Räumlichkeit ist. Zuletzt analysiert Heidegger so 107 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (1947), Stuttgart 8 2005 [1954], 23. 108 | Ders.: »Bauen Wohnen Denken«, a. a. O. [Kap. I, Anm. 82], 148.
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auch die dem aristotelischen Ortsdenken zugrundeliegende Gefäßvorstellung selbst nochmals topologisch, indem er sie an deren praktische Form – einen Krug, mit dem eingeschenkt wird – rückbindet, um auf seine Weise die Differenz von (konkretem) Ort und (leerem) Raum zu versöhnen: »Worin beruht das Krughafte des Kruges? […] Wie fasst die Leere des Kruges? Sie faßt, indem sie das Aufgenommene behält. Die Leere faßt in zwiefacher Weise: nehmend und behaltend. Das Nehmen von Einguß und das Einbehalten des Gusses gehören jedoch zusammen. Ihre Einheit aber wird vom Ausgießen her bestimmt, worauf der Krug als Krug abgestimmt ist. […] Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes.«109
Heideggers topologische Beschreibung umfasst damit sowohl eine räumliche Praxis wie auch Form (hier: der ursprünglichen Gefäßgestalt). Seine Analyse unterscheidet sich von derjenigen Foucaults zwar deutlich im Duktus und freilich durch die Beispiele, nicht aber dem grundsätzlichen Raumverständnis nach:110 Es ist ein umfassend relationales. – Sofern die heutigen Kulturwissenschaften die eingangs genannte Veränderung der Welt ernst nehmen wollen und sich der Analyse von Raum zuwenden, empfiehlt es sich daher die Produktion desselben nicht allein über die alltäglichen Praktiken und wissensbasierten Repräsentationen zu untersuchen, sondern deren Verdichtungen zu Repräsentationsräumen. Diese sind die ›Orte‹, wie sie in einer topologischen Analyse zum Gegenstand werden. Sie sind konkret und allgemein zugleich; ohne abstrakt zu sein, erfolgt ihre Beschreibung als strukturelle; oder dialektisch gesprochen: Der durch den Raum negierte Ort ist in der Topologie aufgehoben.
109 | Ders.: »Das Ding«, a. a. O. [Kap. I, Anm. 150], 163 f. 110 | Vgl. Stuart Elden: Mapping the Present. Heidegger, Foucault and the Project of a Spatial History, London/New York 2001.
Nachbemerkung
Diese Einführung zum Raum erscheint genau zehn Jahre nach dem Sammelband zur Topologie, den herauszugeben ich 2007 im transcript Verlag die Möglichkeit hatte. Anlass war die Konfrontation unterschiedlicher Ansätze zur Raumanalyse in den Sozial- und Kulturwissenschaften, nach deren Vermittlung bis heute gesucht wird. Dies konnte ich unter anderem anhand der Vortragseinladungen erkennen, die mir Gelegenheit gaben, die Vielfalt raumtheoretischer Ansätze mit einem Publikum unterschiedlicher fachlicher Hintergründe zu diskutieren. Diese 2015 geschriebene Einführung stellt die Summe der seither oder auch schon im Vorfeld erfolgten Lektüren und Diskussionen dar, die insbesondere auch im Rahmen von Gastprofessuren für Raumwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und im HistorischKulturwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Trier sowie in Seminaren an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und im Masterstudiengang Mediale Räume der Berliner Technischen Kunsthochschule erfolgten. Auf diesem Weg möchte ich allen beteiligten Studierenden, KollegInnen und Institutionen für die Kritik, ihre Hinweise und den Austausch danken. Vorarbeiten und vertiefende Darstellungen zu einzelnen Aspekten finden sich in folgenden Veröffentlichungen: Einl.: »Medialer Raum. Bilder – Zeichen – Cyberspace«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, 219–233; »Medienkulturgeschichte am Leitfaden des Raums«, in: Regine Buschauer/Katharine S. Willis (Hg.): Locative Media – Medialität und Räumlichkeit. Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien, Bielefeld 2013, 105–120. I.1: »Zeit. Philosophisches Scheinproblem und räumliche Figuration«, in: Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano (Hg.): Figurationen des Tem poralen. Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit, Göttingen 2013, 65–75. I.2: »Geographie der Aufklärung. Klimapolitik von Montesquieu zu Kant«, in: Auf klärung und Kritik 22 (2004), 66–91.
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I.3: »Medienästhetik des Raums«, in: Melanie Sachs/Sabine Sander (Hg.): Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden 2009, 217–229, »Bildtheorie«, in: Verf. (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009, 61–76; »Heimat und Raum. Die Herkunft des Ortsprimats im Raumdiskurs aus der Heimatkunde«, in: Jenny Bauer/Claudia Gremler/Niels Penke (Hg.): Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative, Berlin 2014, 27–43; »Die philosophische Geographie Kants«, in: Volker Gerhard/RolfPeter Horstmann/Ralf Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Auf klä rung, Bd. 4, Berlin/New York 2001, 529–537. I.4: »Physik und Metaphysik des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaf ten, Frankfurt a. M. 2006, 19–43. I.5: »Phänomenologie der Räumlichkeit«, in: Ebd., 105–128; »Zur Archäologie des Raumes«, in: Michaela Ott/Elke Uhl (Hg.): Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung, Münster 2005, 24–38. II.2: »Raum«, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar 2012, 365–371. II.5: »Der reine Raum des Spiels. Zur Kritik des Magic Circle«, in: Mattias Fuchs/Ernst Strouhal (Hg.): Das Spiel und seine Grenzen. Passagen des Spiels II, Wien 2010, 187–200. III.1: »Kopernikanische Wende«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdis ziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, 77–89. III.2: »Spatial turn – topographical turn – topological turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaf ten, Bielefeld 2008, 219–237. III.3: »Das Medium Karte zwischen Bild und Diagramm« mit Lars Nowak, in: Stephan Günzel/Ders. (Hg.): KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, Wiesbaden 2012, 1–32. III.4: »Kurt Lewin und die Topologie des Sozialraums«, in: Fabien Kessl/Christian Reutlinger (Hg.): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Traditions linien in Text und Kontexten, Wiesbaden 2008, 94–114. III.5: »Raumteilungen. Logik und Phänomen der Grenze«, in: Anna Heinze/ Sebastian Möckel/Werner Röcke (Hg.): Grenzen der Antike. Die Produk tivität von Grenzen in Transformationsprozessen, Berlin/New York 2014, 15–26; »Vom Ort zum Raum – und zurück«, in: Annika Schlitte et al. (Hg.): Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozialund Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, 25–43.
Auswahlbibliographie
Hinweise auf neuere Überblicksdarstellungen, Anthologien, Sammelbände und enzyklopädische Hilfsmittel zur Raumthematik mit zumeist fächerübergreifendem Anspruch sowie Hinweise auf herausragende Einzeluntersuchungen, soweit nicht bereits in den Anmerkungen genannt. Aertsen, Jan A./Speer, Andreas (Hg.): Raum und Raumvorstellungen im Mittel alter, Berlin/New York 1998. (Umfassender Tagungsband mit Beiträgen zu Physik, Philosophie, Theologie und Geographie des Mittelalters.) Agnew, John/Livingstone, David N./Rogers, Alisdair (Hg.): Human Geography. An Essential Anthology, Malden u. a. 1996. (Klassische Texte der modernen Raumdebatte aus Ethnologie, Geographie, Geopolitik, Ökonomie, Postkolonialismus und Soziologie.) Asendorf, Christopher: Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien/New York 1997. (Mustergültige kulturwissenschaftliche Untersuchung der Veränderung von Raumstrukturen im 20. Jahrhundert.) Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. (Zentrale Monographie zur Räumlichkeit von Medien, literarischen Schilderungen und Archiven im Ausgang von Maurice Halbwachs und Pierre Nora.) Atkinson, David et al. (Hg.): Cultural Geography. A Critical Dictionary of Key Concepts, London/New York 2005. (Handbuch mit Einträgen zu den zentralen Themen der gegenwärtigen Raumdebatte.) Bieger, Laura: Ästhetik der Immersion – Raumerleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007. (Studien zur Rauminszenierung durch Themenarchitektur.) DOI: https://doi.org/10.14361/978 3839407363 Borries, Friedrich von/Walz, Steffen P./Böttger, Matthias (Hg.): Space Time Play – Games, Architecture, and Urbanism. The Next Level, Basel/Boston/ Berlin 2007. (Exemplarisch interdisziplinäres Handbuch zur Räumlich-
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Personenregister
A Abbott, Edwin Abbott 122 Adorno, Theodor Wiesengrund 63, 102 Agamben, Giorgio 131 f. Alberti, Leon Battista 50 Arendt, Hannah 125, 131 Aristoteles 61 f., 71, 118, 133, 140 Augé, Marc 89–91, 97, 102, 105
B Bachelard, Gaston 82–84, 102, 126 Bachtin, Michail Michailowitsch 101 Bastide, Jean-François de 82 Bataille, Georges 98, 101 f., 124, 130 Baudelaire, Charles 1 11 Baudrillard, Jean 17 f., 111 Becker, Oskar 47 f. Beethoven, Ludwig van 106 Benjamin, Walter 102 Benjamin, Walter Bendix Schoenfließ 1 11 f. Bentham, Jeremy 129 f. Bergmann, Gustav 108 Bergson, Henri-Louis 28 f. Bhabha, Homi K. 7 7 f., 113 Blount, Herman (Sun Ra) 55 Boehm, Gottfried 109 Bollnow, Otto Friedrich 56 f., 60, 89
Borges Acevedo, Jorge Francisco Isidoro Luis 85 f. Boulez, Pierre 58 Boullée, Étienne-Louis 52 Bourdieu, Pierre 86, 135 f. Brand, Stewart 10 Braudel, Fernand 42–44, 64 Breker, Arno 54 Brunelleschi, Filippo 93 Bruno, Giordano 61, 71 Bühler, Karl 126 Buruma, Ian 68 Butler, Judith 134 Butler, Samuel 81 f.
C Cantor, Georg 120 Carroll, Lewis 138 Cassirer, Ernst 49, 79, 124, 126 Castells Oliván, Manuel 90 Certeau S.J., Michel de 91 f., 94 f., 97 Chatwin, Bruce 58 Chauveau, François 82 Chilida, Eduardo 54 Chomeini, Ruhollah al-Musawi 102 Cornford, Francis Macdonald 21 f. Cyon, Elias von 46–48
D Darwin, Charles 39 Debord, Guy-Ernest 76, 92
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Defoe, Daniel 81 Deleuze, Gilles 36, f., 58 f., 60, 95 Derrida, Jacques 109 f., 137 Descartes, René 46, 53, 55, 59, 70, 83, 85, 107, 118, 120, 126 Duns Scotus, Johannes 53 Dürckheim, Karlfried von 39 Dutschke, Rudi 1 4
E Einstein, Albert 21 f., 62 f., 83, 115 Eliade, Mircea 104 f., 131 Etzlaub, Erhard 94, 96 Euklid von Alexandria 22, 30, 44, 46–48, 52 f., 71, 95, 120 f., 127 Euler, Leonhard 1 19 f., 123, 131, 139
F Florenski, Pawel 48 Flusser, Vilém 57, 73, 121, 123, 139 Foucault, Paul-Michel 97–104, 112, 128–131, 140 Freud, Sigmund 36 Frobenius, Leo 63
G Gagarin, Juri Alexejewitsch 55 f. Galilei, Galileo 7 1 f., 131 Gauß, Carl Friedrich 121 Gennep, Arnold van 102 f., 132 Gensfleisch, Johannes (Gutenberg) 19 f., 30, 32, 40, 58 f., 121, 131 Gibson, William 7 f. Goethe, Johann Wolfgang von 30, 57 Gogh, Theodoor van 68 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 11 Grimm, Hans 12, 44 Guattari, Félix 36 f., 58–60, 95
H Hägerstrand, Torsten 32 Halbwachs, Maurice 105 f. Hall, Edward Twitchell 36 f. Harvey, David 31–33, 42, 70, 89 Haussmann, Georges-Eugène 1 11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20, 26, 30, 33, 38 f., 75 Heidegger, Martin 45, 51–56, 69–71, 75, 83 f., 89, 92, 97, 114 f., 137, 139 f. Heiliger, Bernhard 54 Helmholtz, Hermann von 121 f. Herder, Johann Gottfried 83 Hesiod 137, 138 Hippokrates von Kos 38, 42 Horkheimer, Max 63 Huizinga, Johan 103 f. Hume, David 59 f. Huntington, Samuel Phillips 65–67, 78 Husserl, Edmund Gustav Albrecht 45, 47 f., 51, 55, 69, 71–73, 75, 114, 139 Huxley, Aldous Leonard 9
I Innis, Harold Adam 21 f.
J Jakobson, Roman Ossipowitsch 124 Jameson, Frederic R. 86–89, 109 Jaspers, Karl 84, 127 Jeans, James Hopwood 21 f. Jesus von Nazareth (Christus) 93 Johnson, Mark 69 Jünger, Ernst 70
K Kaindl, Raimund Friedrich 65 Kant, Immanuel 25 f., 33, 35, 48, 59 f., 83, 107 f., 119 Kapp, Ernst 18
Personenregister
Kolumbus, Christoph 16, 112 Kopernikus, Nikolaus 15 f., 50 f., 62, 71, 107 f. Koselleck, Reinhardt 1 10 Kraus, Christian Jakob 60 Kuhn, Thomas S. 108
L Lacan, Jacques 134 Lakoff, George 69 Lefebvre, Henri 18, 23, 75–81, 83–87, 89, 93, 98, 107, 110, 116, 118, 126, 137, 139 Leibniz, Gottfried Wilhelm 62, 118–120, 123 Lessing, Gotthold Ephraim 19 Levinas, Emmanuel 55 f., 61 f., 65, 72, 84, 105, 139 Lévi-Strauss, Claude 124 Lewin, Kurt Tsadek 126–128 Lotman, Juri Michailowitsch 125, 136 f. Lyotard, Jean-François 31
M Mach, Ernst 126 Mach, Ernst Walfried Josef Wenzel 45 f., 48, 73 Margalit, Avishai 68 Marx, Karl 19 f., 26, 75 Massey, Doreen 134 f. Mauthner, Fritz 29 f., 108 McLuhan, Herbert Marshall 18–22, 26–28, 30, 32, 40, 58 f., 70, 84, 127, 131 McTaggart Ellis McTaggart, John 29 f., 108 Mercator, Gerhard 92, 96 f., 138 Minkowski, Eugène 40, 58, 78 Minkowski, Hermann 21 f. Mitchell, William John Thomas 108 f.
Montesquieu (Baron de La Brède et de), Charles-Louis de Secondat 38 More, Henry 61, 118 More, Sir Thomas 81 Moretti, Franco 136 Muchow, Martha 39 f., 47, 70
N Newton, Sir Isaac 51 f., 55, 61–63, 75, 101, 118, 120, 137, 139 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 62, 128 Nishida, Kitaro 1 15, 126 Nora, Pierre 106
O Oldenburg, Ray 89–91, 135 Orwell, George 82, 130 Osterhammel, Jürgen 1 10 Otto, Rudolf 105
P Pahlavi Schahanschah, Mohammad Reza Schah 102 Panofsky, Erwin 48–50, 124 Peirce, Charles Sanders 123 Pèlerin, Jean (Viator) 50 Perec, Georges 137 Peters, Arno 96 Picasso, Pablo Ruiz 122 Platon 7 1, 77, 118, 137 Polanyi, Karl 32 Pratt, Mary Louise 68, 113 Ptolemaios, Claudios 92, 113 Pythagoras von Samos 22
R Ratzel, Friedrich 37–44, 63, 68, 103, 110 Reveley, Willey 129
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung
Rilke, René Karl Wilhelm Johann Josef Maria (Rainer Maria) 57 Ringmann, Matthias 1 12 Rorty, Richard 108 Rushdie, Sir Achmed Salman 7 7 f.
S Said, Edward William 67 Sarrazin, Thilo 64 f. Sartre, Jean-Paul 128, 130 Sassen, Saskia 30 Schlögel, Karl 42–44, 110–112 Schmid, Hans-Christian 68 Schmidt, Wilhelm 63 Schmitt, Carl 16, 18, 35 f., 59, 114, 117, 131 Schröder, Gerhard 64 Scudéry, Madeleine de 82 Serra, Richard 53 Simmel, Georg 41–43, 72, 88, 124 Sloterdijk, Peter 84, 127 Smithson, Robert 53 Soja, Edward William 75–78, 85 f., 89, 100, 110 Spencer Brown, George 133 f., 137 Spengler, Oswald 29 f., 40, 48 Spranger, Eduard 56, 127 Strauss, Joseph Baermann 80 Sullivan, Louis Henry 87 Sutherland, Ivan Edward 9
T Thrift, Nigel 32 f. Trakl, Georg 7 1 Tuan, Yi-Fu 84 Turner, Victor Witter 103, 132 Turrell, James 54
U Uexküll, Jakob Johann von 46 f.
V van Gogh, Vincent Willem 7 1 Venn, John 132 Vespucci, Amerigo 1 12 Vidal de la Blache, Paul 42, 44 Virilio, Paul 26–28, 30 f., 35, 44, 90, 110
W Wagner, Richard 43 Waldseemüller, Martin 1 12 f. Wegener, Alfred Lothar 37 Weigel, Sigrid 1 12 f. Werlen, Benno 4 4 Wissler, Clark David 65 Wittgenstein, Ludwig 108
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: www.filfre.net/wp-content/uploads/2013/12/battlezone.png Abb. 2: www.e-flux.com/journal/45/60114/the-whole-earth-in-conversation-withdiedrich-diederichsen-and-anselm-franke Abb. 3: www.zeit.de/wissen/umwelt/2016-04/tschernobyl-gau-wolke-1986-deutsch land Abb. 4: som.csudh.edu/fac/lpress/history/arpamaps/ Abb. 5: Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern/Stuttgart/Wien 2 2000, 24 Abb. 6: ebd., 25 Abb. 7: aus dem Archiv des Autors Abb. 8: Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, Braunschweig 4 1929 [1915], 18 Abb. 9: Ernst Mach: Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 91922 [1886], 15 Abb. 10: J. Richard Ewald: Physiologische Untersuchungen über das Endorgan des Nervus octavus, Wiesbaden 1892, 78 Abb. 11: John Hyman: The Objective Eye. Colour, Form and Reality in the Theory of Art, Chicago/London 2006, 218 Abb. 12: www.archdaily.com/544946/ad-classics-cenotaph-for-newton-etiennelouis-boullee Abb. 13: herta-hammerbacher.blogspot.de/2012/06/campus-der-technischen-uni versitat.html Abb. 14: Fernand Braudel: Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert, München 1971 [frz. 1967], 681 Abb. 15: Johannes Wütschke: Der Kampf um den Erdball. Politisch-geographische und geopolitische Betrachtungen zu den Machtfragen der Gegenwart und nahen Zukunft, München/Berlin 21935 [1922], 77 Abb. 16: Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996 [engl. 1996], 253 Abb. 17: Guy Debord: Guide psychogéographique de Paris. Discours sur les passions de l’amour, Paris, Paris 1957
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Raum. Eine kultur wissenschaf tliche Einführung
Abb. 18: eigene Tabelle Abb. 19: http://www06.zkm.de/zkmarchive/www02_konversationskunst/html/ index.php/texte/21-eske-madeleine-de-scudery-und-die-carte-de-tendre.html Abb. 20: upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fd/Westin_Bonaventure_ Hotel-1.jpg Abb. 21: walknridela.com/wordpress/wp-content/uploads/2010/12/WestinBona venture10.jpg Abb. 22: de.wikipedia.org/wiki/Ebstorfer_Weltkarte#/media/File:Ebstorfer-stich 2.jpg Abb. 23: de.wikipedia.org/wiki/Erhard_Etzlaub#/media/File:Rompilger-Karte_ %28Erhard_Etzlaub%29.jpg Abb. 24: gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b7200344k/f1.item Abb. 25: www.heliheyn.de/Maps/Pictures/Tafel_D.jpg Abb. 26: de.wikipedia.org/wiki/Martin_Waldseem%C3%BCller#/media/File: Waldseemuller_map_closeup_with_America.jpg Abb. 27: Günter Nitschke: »MA. Place, Space, Void«, in: Ders.: From Shinto to Ando. Studies in Architectural Anhtropology in Japan, London 1993, 48–61, hier 60 Abb. 28: www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost03/Tabula/tab_pe0 6.html Abb. 29: Wladimir Velminski, »Zwischen Gedankenbrücken und Erfindungsufern. Leonhard Eulers Poetologie des Raums«, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, 171–182, hier 174 Abb. 30: Claude Bragdon: A Primer of Higher Space. The Fourth Dimension, New York 1913, 27 Abb. 31: Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978 [1934], 102 Abb. 32: Kurt Lewin: »Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum«, in: Psychologische Forschung 19/3–4 (1934), 249–299, hier 266 Abb. 33: en.wikipedia.org/wiki/Panopticon#/media/File:Panopticon.jpg Abb. 34: Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002 [ital. 1995], 49 Abb. 35: George Spencer Brown: Gesetze der Form, Lübeck 1997 [engl. 1969], 63 Abb. 36: Pierre Bourdieu: »Sozialer Raum, Symbolischer Raum«, in: Raum theorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 354–368 [frz. 1994], hier 357 Abb. 37: https://de.wikipedia.org/wiki/The_Hunting_of_the_Snark#/media/ File:Lewis_Carroll_-_Henry_Holiday_-_Hunting_of_the_Snark_-_Plate_ 4.jpg
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6
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