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German Pages 284 [292] Year 1997
Wirtschaftssoziologie Herausgegeben von
Dr. phil. Gerd Reinhold in Zusammenarbeit mit Professor Dr. Eugen Büß Dr. Gerald Braun Professor Dr. Friedrich Fürstenberg Professor Dr. Klaus Heinemann Professor Dr. Horst Jürgen Helle Professor Dr. Karl-Heinz Hillmann Professor Dr. Thomas Kutsch Professor Dr. Wolfgang-Ulrich Prigge Professor Dr. Jürgen Rink Professor Dr. Günter Wiswede
Zweite, bearbeitete und erweiterte Auflage
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wirtschaftssoziologie / hrsg. von Gerd Reinhold. Iii Zusammenarbeit mit Eugen Buss ... - München ; Wien : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-24108-7 NE: Reinhold, Gerd [Hrsg.]; Buss, Eugen
© 1997 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24108-7
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
1
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
25
Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
45
1. 2. 3. 4.
Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel:
Soziologie des Marktes Geld und Geldkritik aus wirtschaftssoziologischer Sicht Soziologie des Haushalts Führung in wirtschaftlichen Organisationen
45 60 74 106
Teil IV: Wirtschaft und Staat
121
1. Kapitel: Staat und Verbände. Zur wirtschaftssoziologischen Analyse der Beziehungen zwischen dem politisch-administrativen System und den Tarifkoalitionen 2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel und politisch-administratives System 3. Kapitel: Wirtschaft und Staat in Japan
121 143 170
Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
189
1. Kapitel: Wirtschafts-und Arbeitswerte im Wandel 2. Kapitel: Leistungsprinzip und Leistungsmotivation in Wirtschaft und Gesellschaft
189 204
Teil VI: Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
221
Teil VII: Wirtschaftssoziologie in den neunziger Jahren
235
Literaturverzeichnis mit Anmerkungen zu den einzelnen Teilen und Kapiteln
257
Bibliographie (integriert)
270
Namen- und Sachregister
282
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Karl-Heinz Hillmann, Würzburg (Teil I) Direktor und Prof. Dr. Jürgen Rink, Düsseldorf (Teil II) Prof. Dr. Klaus Heinemann, Hamburg (Teil III, 1. Kapitel) Direktor und Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg, Bonn (Teil III, 2. Kapitel) Direktor und Prof. Dr.Thomas Kutsch, Stuttgart-Hohenheim (Teil III, 3. Kapitel) Prof. Dr. Günter Wiswede, Köln (Teil III, 4. Kapitel und Teil V, 2. Kapitel) Prof. Dr. Wolfgang-Ulrich Prigge, Mainz (Teil IV, 1. Kapitel) Dr. Gerald Braun, Freiburg i. Br. (Teil IV, 2. Kapitel) Dr. Gerd Reinhold, München (Teil IV, 3. Kapitel) Prof. Dr. Eugen Büß, Siegen (Teil V, 1. Kapitel) Prof. Dr. Horst Jürgen Helle, München (Teil VI) Prof. Dr. Karl-Heinz Hillmann (Teil VII)
Vorwort zur ersten und zweiten Auflage Obwohl Werner Sombart schon in seinem 1930 erschienenen Buch „Nationalökonomie und Soziologie" nachwies, daß Nationalökonomie immer Sozialwissenschaft ist, „weil ihr Gegenstand, die Wirtschaft, einen Teil der menschlichen Gesellschaft bildet", brachte Neil J. Smelser in seinem Buch „The Sociology of Economic Life" von 1963 noch einmal eine detaillierte Legitimierung der Erforschung der Wirtschaft eben aus sozialwissenschaftlicher Sicht, wie sie auch von der Wirtschaftssoziologie betrieben wird. Heute bedarf die Wirtschaftssoziologie keiner Rechtfertigung mehr: Das Bemühen, gesellschaftliche Bestimmungsfaktoren wirtschaftlichen Handelns beziehungsweise Wechselbeziehungen zwischen ökonomischen und sozialen (außerökonomischen) Variablen aufzuweisen,hat entscheidende Zusammenhänge aufgedeckt und wird durch anerkannte Einrichtungen für die systematische und kontinuierliche Forschung sowie Lehre gefördert. Die Erkenntnisse der wirtschaftssoziologischen Forschung finden Beachtung neben denjenigen der ,reinen' Wirtschaftswissenschaft, die sich im übrigen bemerkenswert gewandelt hat: Während die Wirtschaftswissenschaft bis zum Zweiten Weltkrieg im wesentlichen geisteswissenschaftlichen Charakter hatte, wurde sie danach als „exakte Wissenschaft", etwa nach dem Vorbild der theoretischen Physik, konzipiert. Die Wirtschaftssoziologie, die als wissenschaftliche Disziplin mindestens bis auf Adam Smith zurückgeht, also mindestens 200 Jahre alt ist, hat die gesellschaftliche Bedingtheit wirtschaftlichen Handelns beziehungsweise die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichem und gesellschaftlichem System zum Gegenstand und diese in teilweise umfassenden Darstellungen herausgearbeitet. Beispielhaft genannt seien die durch das Werk von Karl Marx inspirierten („klassischen") historischen Systemanalysen des Kapitalismus von Werner Sombart und Max Weber. Neben informationsreichen Einzelanalysen und Gesamtdarstellungen hat die deutsche Wirtschaftssoziologie Systematisierungen ihrer Fragestellungen, Methoden und Theorien vorgelegt (zuletzt Hillmann 1988,Kutsch/Wiswede 1986), welche Rechenschaft über den Stand dieses Faches ablegen. Die Wirtschaftssoziologie ist eine Teildisziplin innerhalb der Soziologie; neben ihr gibt es eine Anzahl weiterer spezieller Soziologien, die sich mit Problemen der Wirtschaft befassen: Industrieund Betriebssoziologie, Arbeits- und Berufssoziologie usw. Die Trennung der Wirtschaftssoziologie und der Nachbardisziplinen ist inhaltlich und methodisch gerechtfertigt, wenn auch zuweilen thematische Überschneidungen nicht zu vermeiden sind. Der vorliegende, in Gemeinschaftsarbeit entstandene Reader bietet durch die Abhandlung zentraler Themen Einblick in das wirtschaftssoziologische Denken und Arbeiten. Ganz im Gegensatz zum bisherigen Verständnis, wonach ein Buch idealerweise „aus einem Guß" zu sein habe, soll es für die Leser dieser WIRTSCHAFTSSOZIOLOGIE ein Vorteil sein, daß hier ein weites Spektrum von theoretischen und methodologischen Standpunkten beziehungsweise Vorgehensweisen zum Tragen kommt. Der als Ideal betrachtete „eine Guß" bedeutet ja oft nur die begrenzte Sicht durch „eine Brille". Hinsichtlich der behandelten Themen beansprucht das Buch keine Vollständigkeit; es soll der Ergänzung, Vertiefung sowie Erweiterung ähnlicher Publika-
tionen dienen, die zur Wirtschaftssoziologie hinführen möchten. In Zukunft wird die Wirtschaftssoziologie über die hier behandelten Fragestellungen hinaus vermehrt die Aspekte Technik, Umwelt, Weltwirtschaftssystem usw. zu behandeln haben; dies soll in einer Neuauflage berücksichtigt werden. Einstweilen bietet auch dieses Buch einen Einblick in die Leistungsfähigkeit und Wichtigkeit der nach moderner wissenschaftstheoretischer Erkenntnis, das heißt auf der Grundlage des theoretischen und methodologischen Pluralismus betriebenen Wirtschaftssoziologie. Der Herausgeber dankt den Autoren für ihre Mitarbeit und Herrn Professor Dr. Toni Pierenkemper, der wegen eines Auslandsaufenthaltes keinen Beitrag liefern konnte, für wertvolle bibliographische Hinweise. Die Bibliographie macht im übrigen deutlich, daß man viele Abhandlungen mit wirtschaftssoziologischer Perspektive auch außerhalb dieses Faches unter anderem Namen findet. Für trotz aller Sorgfalt verbliebene Fehler übernimmt der Herausgeber die Verantwortung. Gerd Reinhold
Teil I Geschichte der Wirtschaftssoziologie
Die Frühgeschichte des wirtschaftssoziologisch relevanten Denkens beginnt mit der Industrialisierung und der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der bedeutendste Pionier war der schottische Moralphilosoph Adam Smith (1723-1790), der zugleich als Begründer der Nationalökonomie gilt. In seinem wissenschaftlichen Gesamtwerk ist ökonomisches mit sozialphilosophischem bzw. soziologischem Denken verbunden. Er wird zugleich als ein Vorläufer der Soziologie angesehen. Die treibende Kraft in der Wirtschaftsgesellschaft ist nach Auffassung von Smith der „natürliche Hang" des einzelnen Menschen, seine eigene Lage zu verbessern. Dieses egoistische Streben nach individuellem Glück wird von mitmenschlichen Sympathiegefühlen und von „Spielregeln" der Gerechtigkeit eingegrenzt. Durch eine göttlich-natürliche „unsichtbare H a n d " („invisible hand") werden die aus dem Selbstinteresse resultierenden Handlungen der Individuen so gelenkt, daß sie zugleich die Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes und Fortschritts ermöglichen. Entscheidende institutionelle Voraussetzungen dieser Fortschrittsdynamik sind die sich zunehmend verfeinernde, produktivitätssteigernde Arbeitsteilung und der Markt, auf dem sich Angebot und Nachfrage automatisch ausgleichen. Der Markt ermöglicht somit die gegenseitige Abstimmung zwischen den Interessen und Bedürfnissen der Individuen. Der vom Staat möglichst wenig beeinflußte freie Wettbewerb führt zu einer ausgeglichenen Ordnung, die sich mit der prästabilierten, natürlichen, im voraus festgelegten Harmonie deckt. Die weitere Entfaltung der Nationalökonomie zu einer selbständigen Wissenschaft wurde großenteils von einer Auseinanderentwicklung des wirtschaftstheoretischen und des sozialphilosophisch-soziologischen Denkens begleitet. Smith ging noch vom konkreten Menschen aus, der sich in seinem Verhalten sowohl von der Vernunft wie auch von sittlichen Motiven leiten läßt. Allerdings zeigte sich bei Smith auch schon das Bestreben, ein vernünftiges, „normales" Durchschnittsverhalten des wirtschaftenden Menschen zu typisieren. Damit war zugleich der Grundstein für den homo oeconomicus, für das rationale Menschenbild und Verhaltensmodell der klassischen Nationalökonomie gelegt worden. David Ricardo (1772-1823) ging dann in seinem System der politischen Ökonomie von einem einseitig individualpsychologisch-utilitaristisch geprägten Men-
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Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
schenbild aus, das vorrangig das reine Selbstinteresse des Wirtschaftsmenschen betonte. Dieses ökonomisch-rationale Verhaltensmodell deckte sich bis zu einem gewissen G r a d e mit d e m Typ des englischen U n t e r n e h m e r s in der Frühphase der industriell-kapitalistischen Entwicklung, konnte aber ansonsten keine allgemeine und zeitlose Gültigkeit im anthropologisch-soziologischen Sinne beanspruchen. U m angesichts der Kritik am homo oeconomicus jenes Menschenbild als Voraussetzung für eine rationale Wirtschaftstheorie retten zu können, hat insbesond e r e lohn Stuart Mill ( 1 8 0 6 - 1 8 7 3 ) versucht, diesen Modellmenschen als eine fiktive Konstruktion zu interpretieren. Aus dem k o n k r e t e n Wirtschaftsmenschen war im Zuge dieser Theorieentwicklung schließlich ein abstrakt-formales Rationalprinzip geworden, auf dem sich theoretische Modellkonstruktionen mit teilweise hohen Mathematisierungsgraden errichten ließen. Der Nachteil war allerdings, daß sich dieses Theoriegebäude von dem tatsächlichen H a n d e l n konkreter Menschen im R a h m e n einer dem soziokulturellen Wandel unterworfenen U m welt weit entfernt hatte. Für die Frühgeschichte der Wirtschaftssoziologie ist bedeutsam, d a ß bereits der schweizerische N a t i o n a l ö k o n o m und Historiker Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi ( 1 7 7 3 - 1 8 4 2 ) nicht nur die bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung kritisierte, sondern auch die harmonistischen Theorien der englischen Klassiker, vor allem Ricardos. E r entwickelte zum ersten Male eine ökonomische Krisentheorie: Die eigentlichen Ursachen liegen in der ungleichen Einkommensverteilung, die durch das Versagen des Wettbewerbs und eine dadurch bedingte zu geringe E n t l o h n u n g der Arbeiter z u s t a n d e k o m m t ( U n t e r k o n s u m tionstheorie). Z u r Überwindung dieser Mißstände forderte er staatliche, insbesondere sozialpolitische Interventionen. Der durch solche Eingriffe nicht beschränkte Kapitalismus führt zu verschärften sozialen Spannungen. Ein weiterer wichtiger A n s t o ß zum wirtschaftssoziologisch relevanten D e n k e n ging von den frühen, vormarxistischen Sozialisten (Frühsozialisten) aus: François Noël Babeuf ( 1 7 6 0 - 1 7 9 7 ) interpretierte bereits die Geschichte als einen ständigen Klassenkampf zwischen Armen und Reichen. Auf der Grundlage eines radikalen Gleichheitsprinzips trat er f ü r einen rigorosen Kommunismus ein, wobei insbesondere alle Privilegien b e k ä m p f t werden sollten. Den M a r k t m e c h a nismus kritisierte er als ein „barbarisches, vom Kapital diktiertes Gesetz", das zur Monopolisierung, zu Krisen und zur Unterdrückung der Arbeiter, der „wirklichen E r z e u g e r " führe. E r forderte eine allgemeine Arbeitspflicht und „nationale G ü tergemeinschaft", eine weitgehend zentralisierte Steuerung des gesamten Wirtschaftsprozesses durch ein hierarchisch aufgebautes, der obersten Staatsverwaltung unterstehendes System von Leitungsinstitutionen, eine Verteilung der Konsumgüter gemäß des Gleichheitsprinzips, wobei der kollektive Konsum einen großen R a u m einnehmen soll. Diese radikalen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Veränderungen sollen auf diktatorischem Wege von einer revolutionären Minderheit mit Hilfe des aktivierten Proletariats erreicht werden. Im Gegensatz zu Babeuf setzte sich Claude Henry Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760—1825) f ü r eine Reformpolitik ein. Durch diese sollen die Probleme der sich herausbildenden modernen Gesellschaft, die Saint-Simon bereits als „Industriegesellschaft" charakterisierte, bewältigt werden. Auf der Grundlage einer völlig unabhängigen, positivistisch ausgerichteten Wissenschaft soll die gesell-
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schaftliche Entwicklung zu einer klassenlosen „industriellen" Gesellschaftsordnung hinführen. Das Feudalsystem soll beseitigt werden. An die Stelle der bisher herrschenden „unproduktiven" Klasse (Adel, Klerus und Militär) soll die produktive oder industrielle Klasse (Arbeiter, Handwerker, Bauern, Händler, Fabrikanten, Künstler und Gelehrte) rücken. Die Arbeiterfrage soll durch moralische E r neuerung der Gesellschaft gelöst werden. Saint-Simon hoffte, daß die Fabrikanten freiwillig auf die Ausbeutung der Arbeiter verzichten werden — nach der späteren Auffassung von Karl Marx und Friedrich Engels ein „utopischer Sozialismus". Im Rahmen einer allgemein bejahten kooperativen Hierarchie der neuen Gesellschaft sollen insbesondere die Intellektuellen die politische Führungsrolle bekleiden und die Unternehmer das Proletariat lenken. Vom historisch-realistischen Standpunkt aus kritisierte Saint-Simon bereits den abstrakten Charakter der sich damals entfaltenden klassischen Nationalökonomie. E r plädierte für eine kooperative Wirtschaftsordnung, unter Einschluß von Produktionsgenossenschaften, kooperativen Koordinationsmechanismen und einer planenden Wirtschaftslenkung. Umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollen die Arbeitslosigkeit beseitigen und den allgemeinen Lebensstandard anheben. François Marie Charles Fourier ( 1 7 7 2 — 1 8 3 7 ) ging von einer individualpsychologischen Trieblehre und einer naturwissenschaftlich ausgerichteten, optimistisch geprägten Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung aus. Das Glück der Menschen hängt von der Befriedigung der auf Sinne bezogenen, aber auch der gesellschaftlich orientierten Triebe (Freundschaft, Liebe, Ehrgeiz usw.) ab. D e m e n t sprechend soll sich eine harmonische Gesellschaft herausbilden, in der die Menschen konfliktfrei kooperieren und ihre Triebe befriedigen können. Durch Aufklärung und politische Aktion kann die Entwicklung zu einer neuen Gesellschaftsordnung der „ H a r m o n i e " , in der der „Höhepunkt des Glücks" erreicht wird, beschleunigt werden. In seiner Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems charakterisierte er den Wettbewerbsmechanismus als „anarchistische Konkurrenz" bzw. als „industrielle Anarchie", die den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, der Behinderung des technischen Fortschritts, der Konzentration des Kapitals und den periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen ursächlich zugrunde liege. Demgegenüber entwarf Fourier sehr detailliert eine sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, in deren Mittelpunkt ein System von Produktions- und Wohngenossenschaften steht, die er „Phalanges" nannte. Damit die Menschen in enger Beziehung zur Natur verbleiben, sollen diese kleinen, sich selbst genügenden Lebensgemeinschaften ihren Arbeitsschwerpunkt im landwirtschaftlichen Bereich haben. D a der Mensch „instinktmäßig ein Feind der Gleichheit" sei, sollen aufgrund der unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen G e n o s senschaftsmitglieder bewußt soziale Unterschiede der Arbeits- und Lebensbedingungen angestrebt werden. Für R o b e r t Owen (1771—1858), einem bedeutenden Vertreter des vormarxistischen Sozialismus in England, lag das Ziel des menschlichen Handelns im eigenen Glück, das allerdings bei Überwindung selbstsüchtigen Handelns vom „Glück der M i t m e n s c h e n " abhängig ist. Nachdem die bisherige menschliche Geschichte durch Irrationalität, selbstsüchtiges Handeln, Leiden und Elend gekennzeichnet war, können nun die gesellschaftlichen Strukturen und Lebensverhältnisse durch rationale Einsicht und soziale Reformen besser gestaltet werden. Die hierfür notwendige Aufklärung der Gesellschaft ist die Aufgabe einer kleinen Schicht aufgeklärter und sozialreformerisch tätiger „Praktiker". Die Arbeit soll wieder zum al-
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Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
leinigen Wertmaßstab gemacht werden. Die neue, sozialistische Gesellschaft soll sich aus Arbeits- und Siedlungsgemeinschaften zusammensetzen, die über einen hohen Grad der Selbstversorgung verfügen und somit weitgehend unabhängig voneinander sind. Es soll kein Privateigentum an Produktionsmitteln geben. Innerhalb der einzelnen Gemeinschaften soll zentral geplant und kollektiv gehandelt werden. Die Verteilung der Aufgaben und Güter soll nach dem Prinzip der Altershierarchie erfolgen. In dieser sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wären dann Geld, der Marktmechanismus und Handel überflüssig. Als weitere vormarxistische Sozialisten müssen wenigstens kurz erwähnt werden: In Frankreich Louis Blanc (1811-1882). Er forderte staatlich unterstützte Arbeiterproduktivgenossenschaften. Louis Auguste Blanqui (1805-1881) plädierte für einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung durch eine Elite von Berufsrevolutionären. Etienne Cabet (1788-1856) vertrat einen christlichen Kollektivismus, in dem durch Aufklärung das Privateigentum aufgehoben, eine allgemeine Gütergemeinschaft und soziale Gleichheit hergestellt werden. Die Verwirklichung seiner Ideale, die er seit 1848 in kommunistischen Gemeinden in Texas und in der Mormonenstadt Nauvoo anstrebte, mißlang. Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) wandte sich als Mitbegründer des Anarchismus gleichfalls gegen das Privateigentum sowie gegen staatliche Institutionen. Der Güteraustausch sollte sich unter Ausschaltung des Geldes auf der Grundlage des Arbeitswertprinzips vollziehen. Der irische Nationalökonom und Sozialreformer William Thompson (um 1785—1833) interpretierte die politische Ökonomie und inbesondere Arbeitswertlehre von D. Ricardo im Sinne des Sozialismus. Hierbei stand er unter dem Einfluß des Utilitarismus von Jeremy Bentham (1748—1832), der auf der Grundlage des Empirismus und Individualismus eine Sozialethik entwickelt hatte, die vom „Nützlichen" als Maßstab des sittlich-moralischen Verhaltens ausging und „auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" hinzielte. Thompson formulierte bereits vor Karl Marx eine Mehrwert- und Ausbeutungslehre: Wenn allein die Arbeit die Quelle der produzierten wirtschaftlichen Werte ist, dann ist der von den Kapitalisten angeeignete Mehrwert illegitim. Einen Ausweg aus dem Kapitalismus sah er in der Schaffung von Gemeinschaften im Sinne Owens. In Deutschland entwickelte Wilhelm Weitling (1808-1871) ein Programm, das auf dem Wege eines gewaltsamen Umsturzes die Aufhebung des Privateigentums, die Abschaffung des Geldes und die Einführung einer Zentralplanung vorsah. Moses Hess (1812-1875) strebte dagegen in Anlehnung an Proudhon einen herrschaftsfreien Kommunismus an, der durch Aufklärung und Erziehung erreicht werden soll. Wirtschaftssoziologisch ist bedeutsam, daß die Frühsozialisten mit ihfen von der Aufklärung und Sozialkritik beeinflußten utopischen Entwürfen idealer Gesellschaften mannigfaltige Gestaltungsmöglichkeiten der Wirtschaftsgesellschaft aufgewiesen haben, die für die nachfolgende Geschichte nicht folgenlos geblieben sind — bis hin zu gegenwärtigen alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftskonzepten. Bemerkenswert ist ferner, daß in diesen Denkmodellen auf der Grundlage bestimmter anthropologischer Annahmen und unter besonderer Berücksichti-
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gung des Entwicklungsgedankens gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und mitunter auch pädagogische Aspekte innig ineinander verschränkt sind. Viele Gedanken, Konzepte und Entwicklungsvorstellungen der Frühsozialisten sind in das umfangreiche, multidisziplinär angelegte theoretische System des „wissenschaftlichen Sozialismus" eingegangen, das Karl Marx (1818—1883) teilweise zusammen mit Friedrich Engels (1820—1895) erarbeitet hat. Dieses Werk nimmt auch innerhalb der Frühgeschichte der Wirtschaftssoziologie eine ebenso zentrale wie einflußreiche Stellung ein. Im folgenden können nur einige wirtschaftssoziologisch relevante Aspekte des sozialwissenschaftlichen Systems von Marx angedeutet werden: Marx sah in der Arbeit ein vorrangiges Wesensmerkmal des Menschen, den er als ein in Geschichte und Gesellschaft eingebundenes, konkretes, leibliches, sinnliches und aktives Naturwesen auffaßte. In Kooperation mit anderen (gesellschaftliche Arbeit) muß der Mensch die zum Leben notwendigen Güter produzieren. Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung durch Arbeit werden aber infolge geschichtlich entstandener Produktionsverhältnisse (Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, Fremdbestimmung und Ausbeutung) und Arbeitsbedingungen (Arbeitsteilung) weitgehend eingeschränkt. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist die wachsende Zahl der hinsichtlich der Produktionsmittel eigentumslosen Arbeiter (Proletarier) gezwungen, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt als Ware anzubieten und sich einer mannigfachen Entfremdung auszuliefern: 1) Entfremdung im Hinblick auf die eigene Tätigkeit, 2) Entfremdung hinsichtlich des Resultats der eigenen Tätigkeit, 3) Entfremdung bezüglich der menschlichen Gattung und damit insgesamt 4) Entfremdung von sich selbst. Somit verliert der Arbeiter als potentiell schöpferisch-aktives und kooperatives Wesen seine Menschlichkeit. Unter den Bedingungen dieser Gesellschaft werden auch die Kapitalisten und Grundbesitzer (Bourgeoisie) entfremdet, und zwar zu „Charaktermasken", zu „Personifikationen ökonomischer Kategorien" bzw. Verhältnisse. Im Gegensatz zur ohnmächtigen Klasse des Proletariats fühlt sich aber die Klasse der Eigentümer in ihrer Selbstentfremdung wohl und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz. Mit der Analyse der zusammenhängenden, aber gegenläufigen Prozesse der zunehmenden ökonomisierung und Entmenschlichung der modernen industriellkapitalistischen Gesellschaft ist durch Marx ein für die Wirtschaftssoziologie zentrales Problem herausgestellt worden: Während die „Sachenwelt" aufgewertet und einflußreicher wird, unterliegt die „Menschenwelt" einer fortschreitenden Entwertung. Produkte, Objekte, Sachen und Geld gewinnen immer mehr an Bedeutung. Es verstärken sich die Tendenzen zur „Entäußerung" und Vergegenständlichung. Der Gebrauchswert eines Produkts, der sich durch seinen Wert für die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung bestimmt, unterliegt der Verwandlung in den Tauschwert. Um einen Tauschwert zu erlangen, muß das Produkt durch das Herstellen einer Tauschbeziehung zu einem anderen Produkt zur Ware werden; es muß gegen ein anderes Produkt ausgetauscht werden können. Im Rahmen dieser Tauschbeziehungen fungiert Geld als Bewertungsmaßstab und allgemeines Tauschmittel. Bei dem zur Ware gewordenen Produkt sind der Gebrauchs- und Tauschwert voneinander getrennt. Der
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Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
Tauschwert eines Produkts wird durch die Gesetze des kapitalistischen Marktsystems bestimmt. In der kapitalistischen Gesellschaft und durch die kapitalistische Marktstruktur haben Waren eine beherrschende Bedeutung erlangt („Warenfetichismus"). Es besteht die Tendenz, daß alles in Waren umgewandelt und somit käuflich wird, „selbst D i n g e " wie „Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen usw." „ E s ist die Zeit der allgemeinen Korruption" und „der universellen Käuflichkeit", in der alles „als Handelswert auf den Markt gebracht wird" ( K . M a r x und F . E n g e l s : W e r k e , Gesamtausgabe, Bd. 4, Berlin 1 9 6 9 , S. 6 9 ) . Die scheinbar selbständig zirkulierenden Waren treten dem Menschen als fremde und feindliche Macht gegenüber. Die ökonomischen Gesetze, die das Marktsystem der kapitalistischen Gesellschaft bestimmen, erscheinen ihm als unpersönlich, objektiv und daher auch als unbeeinflußbar, unbeherrschbar und unwandelbar. Das Individuum empfindet sich vielmehr als eine Sache, als ein passives Objekt, das jenen Gesetzen machtlos ausgeliefert ist. E s versteht sich nicht mehr als ein aktives, die eigene Geschichte bewußt gestaltendes Subjekt. Wirtschaftssoziologisch ist die ideologiekritische Auseinandersetzung von Marx mit der klassischen Nationalökonomie von Smith und Ricardo besonders wichtig: E r kritisierte, daß die von den Klassikern entdeckten Gesetzmäßigkeiten, die das Marktgeschehen in der kapitalistischen Gesellschaft beherrschen und als gerecht erweisen sollen, unabhängig vom geschichtlichen Wandel als Naturgesetze Geltung beanspruchen. Die klassische nationalökonomische Theorie wird zur Ideologie und Unwahrheit, weil ihre Kategorien und Aussagen gegenüber der geschichtlichen Bewegung der Produktivkräfte (technisch-ökonomische Produktionsbedingungen) starr festgehalten werden. Zugleich enthüllte Marx diese Theorie als Legitimation der ökonomischen Macht der bürgerlichen Klasse. Die T h e o r i e der klassischen Nationalökonomie ist zwar eine richtige, aber zugleich unkritische Widerspiegelung einer „falschen", durch Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung bestimmten, durch politisches Handeln veränderbaren gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dadurch wird die mißliche Realität unkritisch verdoppelt. Die Ideologiekritik von Marx ist darauf ausgerichtet, die vergegenständlichten ökonomischen Formen auf ihren spezifisch menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Ursprung hin zu analysieren und die Wirklichkeit nach Maßgabe der ihr innewohnenden „vernünftigen" Möglichkeiten zu beurteilen. D e r Ideologiekritik von Marx liegt seine Basis - Überbau - Lehre zugrunde, die zu einem umstrittenen Modell innerhalb der theoretischen Analyse des sozialen Wandels und der sozioökonomischen Entwicklung geworden ist. Auf der Grundlage materieller Produktivkräfte bildet die Gesamtheit der Produktionsund Klassenverhältnisse die „ökonomische Struktur", die „reale B a s i s " der G e sellschaft. Darüber erhebt sich „ein juristischer und politischer Ü b e r b a u " , dem „bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen" (Religion, Philosophie, Ethik, Moral, Kunst, Wissenschaft u.a.). „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. E s ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt" (K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, hrsg. von Karl Kautsky, 2. Ausgabe, Stuttgart 1 9 0 7 , S. L V ) . Im Verlaufe der Geschichte bestimmt also die Basis den Uberbau.
T e i l I: G e s c h i c h t e d e r W i r t s c h a f t s s o z i o l o g i e
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V o r a l l e m E n g e l s l i e ß a b e r g e l t e n , d a ß d e r Ü b e r b a u bis zu e i n e m g e w i s s e n G r a d e a u f die B a s i s z u r ü c k w i r k t . S c h l i e ß l i c h ist f ü r die E n t f a l t u n g d e s w i r t s c h a f t s s o z i o l o g i s c h e n D e n k e n s die v o n M a r x geleistete A n a l y s e des K o n f l i k t c h a r a k t e r s der Wirtschaftsgesellschaft besonders wichtig geworden: D i e G e s c h i c h t e d e r G e s e l l s c h a f t w i r d v o r r a n g i g als A b f o l g e v o n K l a s s e n k ä m p f e n i n t e r p r e t i e r t . D a b e i strebt die h e r r s c h e n d e K l a s s e d e r P r o d u k t i o n s m i t t e l e i g e n t ü m e r und U n t e r d r ü c k e r die A u f r e c h t e r h a l t u n g der jeweils b e s t e h e n d e n ges e l l s c h a f t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e an, d i e b e h e r r s c h t e K l a s s e h i n g e g e n d i e V e r ä n d e r u n g d e r s e l b e n . D i e sich z u n e h m e n d v e r s c h ä r f e n d e n S p a n n u n g e n u n d W i d e r s p r ü c h e z w i s c h e n d e n sich e n t f a l t e n d e n P r o d u k t i v k r ä f t e n u n d d e n v e r f e s t i g t e n P r o duktionsverhältnissen führt schließlich zu einer neuen Gesellschaftsformation (Historischer Materialismus). In d e r b i s h e r i g e n g e s c h i c h t l i c h - g e s e l l s c h a f t l i c h e n E n t w i c k l u n g h a b e n d i e f o l genden Gesellschaftsformationen einander abgelöst: Urgemeinschaft (ohne A u s beutungsverhältnisse), Sklavenhaltergesellschaft (Hauptgegensatz zwischen Freien und Sklaven), Feudalgesellschaft (Hauptgegensatz zwischen Feudalherren und L e i b e i g e n e n ) und bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft (Hauptgegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern). Im Z e i t a l t e r d e s K a p i t a l i s m u s v o l l z i e h t sich e i n e V e r e i n f a c h u n g u n d Z u s p i t z u n g d e r K l a s s e n g e g e n s ä t z e . D i e G e s e l l s c h a f t spaltet sich z u n e h m e n d in z w e i sich feindlich g e g e n ü b e r stehende Klassen auf: die E i g e n t ü m e r der Produktionsmittel als h e r r s c h e n d e B o u r g e o i s i e u n d d i e N i c h t e i g e n t ü m e r als b e h e r r s c h t e s P r o l e t a riat. D i e b i s h e r i g e n M i t t e l s t ä n d e ( k l e i n e I n d u s t r i e l l e , K a u f l e u t e , R e n t i e r s , H a n d w e r k e r u n d B a u e r n ) s i n k e n in d a s P r o l e t a r i a t ab. I n f o l g e d e r z u n e h m e n d e n K o n k u r r e n z unter den z a h l e n m ä ß i g a n w a c h s e n d e n Lohnarbeitern (industrielle R e s e r v e a r m e e ) kann der Kapitalist bei sinkenden L ö h n e n und steigender P r o d u k t i o n e i n e n w a c h s e n d e n M e h r w e r t e r z i e l e n u n d f ü r die A u s w e i t u n g s e i n e s K a p i t a l e i g e n t u m s v e r w e r t e n ( K a p i t a l a k k u m u l a t i o n ) . D e r aus d e r A u s b e u t u n g d e r L o h n a r beiter durch den Kapitalisten resultierende M e h r w e r t umfaßt diejenigen wirts c h a f t l i c h e n W e r t e , die in j e n e m T e i l d e s A r b e i t s t a g e s p r o d u z i e r t w e r d e n , d e r über die zur R e p r o d u k t i o n der A r b e i t s k r a f t notwendigen Arbeitszeit hinausreicht. D i e Freisetzung von L o h n a r b e i t e r n durch neue arbeitssparende P r o d u k tionstechniken ( E r h ö h u n g der Arbeitsproduktivität durch technischen Fortschritt) und die z u n e h m e n d e A u s b e u t u n g durch M e h r w e r t e n t z u g verstärken die V e r e l e n d u n g ( P a u p e r i s i e r u n g ) u n d d a m i t z u g l e i c h d e n K l a s s e n a n t a g o n i s m u s . Infolge abnehmender Konsumtionskraft, steigender Produktivität, sinkender Profitrate,nachlassender Investitionsneigung und dadurch bedingter Wirtschaftsk r i s e n v e r s c h ä r f t sich d i e K o n k u r r e n z z w i s c h e n d e n K a p i t a l i s t e n z u g u n s t e n e i n e r fortschreitenden K o n z e n t r a t i o n des Kapitals, das schließlich nur noch von relativ w e n i g e n Großkapitalisten beherrscht wird. D e r Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher P r o d u k t i o n und privater A n e i g n u n g , ferner die E n t f r e m d u n g des M e n s c h e n haben dann ihren H ö h e p u n k t erreicht. M i t z u n e h m e n d e m B e w u ß t s e i n d e r e i g e n e n K l a s s e n l a g e b z w . -Situation ( K l a s senbewußtsein), der eigenen objektiven Interessen und der Veränderbarkeit ges e l l s c h a f t l i c h e r V e r h ä l t n i s s e v e r b l e i b t d a s P r o l e t a r i a t nicht m e h r im Z u s t a n d e i n e r r e s i g n i e r e n d e n „ K l a s s e an s i c h " . V i e l m e h r e n t w i c k e l t es sich u n t e r d e m b e s c h l e u -
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nigenden Einfluß bewußter Aufklärung und Mobilisierung zu einer politisch handlungsfähigen „Klasse für sich", die dann entsprechend einer geschichtlichobjektiven Gesetzmäßigkeit die revolutionäre Umgestaltung der antagonistischkrisenhaft zugespitzten Gesellschaftsformation zu leisten vermag. Nach der Enteignung der Kapitalisten („Expropriation der Expropriateure") und der Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftlich-staatliches Eigentum ist in einer sozialistischen Zwischenphase zur Beseitigung der Überreste der bürgerlichen Gesellschaft eine mit Staatsgewalt vorgehende „Diktatur des Proletariats" notwendig. Es soll gleicher Arbeitszwang für alle bestehen. Die Verteilung der Güter soll sich nach den Leistungen richten. Sind die Klassenunterschiede verschwunden und wird die gesamte Produktion von „assoziierten Individuen" verwaltet, dann kann der Staat absterben. Wenn schließlich auch noch die volle Entfaltung der Produktivkräfte und der Produktivität eine weitestgehende Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und eine Güterverteilung nach den Bedürfnissen des einzelnen ermöglicht, dann ist das Endziel der Geschichte erreicht: eine klassenlose Gesellschaft des Kommunismus, in der die Herrschaft von Menschen über Menschen sowie die Entfremdung überwunden sind und „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (K. Marx: Manifest der kommunistischen Partei, in: ders.: Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 548). Kritisch sei angemerkt: Trotz des zunächst eigenen kritischen Ansatzes ist Marx in seiner umfassenden Analyse der sozioökonomischen Entwicklung in eine philosophisch-eschatologische Denkweise zurückgefallen, in deren Mittelpunkt vermeintlich vorgegebene, auf einen gleichsam paradiesischen Endzustand der Geschichte ausgerichtete Entwicklungsgesetze stehen. Diese mit Tendenzen zum Dogmatismus und zur politischen Indoktrination verbundene Denkweise ist mit kritisch-rationaler Erfahrungswissenschaft unvereinbar. Dennoch hat das Lebenswerk von Marx eine große politische Wirkung erzielt und die Entfaltung der Sozialwissenschaften, insbesondere auch der Wirtschaftssoziologie stark beeinflußt. In den staatssozialistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts hat die Enteignung bzw. Verstaatlichung des Privateigentums an Produktionsmitteln bisher keineswegs zur Überwindung von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung geführt. Vielmehr sind in diesen staatssozialistisch-bürokratisch beherrschten Gesellschaften neue Klassen-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen entstanden, die das Wachstum der Wirtschaft und des Wohlstandes erheblich behindern. Da die Verwirklichung der Idee einer kommunistischen Gesellschaft ein starkes wirtschaftliches Wachstum voraussetzt, huldigen Marxisten einem ausgesprochenen Wachstumsfetichismus. Angesichts der inzwischen akut gewordenen ökologisch bedeutsamen Grenzen des Wirtschaftswachstums ist für marxistische Theoretiker der von Babeuf angestrebte asketisch-kommunistische, auf radikale Gleichheit ausgerichtete Verteilungsstaat aktuell geworden. Zu den Quellen der Wirtschaftssoziologie zählt auch die „Historische Schule" der Nationalökonomie, die in zwei Epochen eingeteilt wird: neben der „älteren" gab es gemäß der Bezeichnung von Adolph Wagner (1835-1917) eine „jüngere"
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Historische Schule. Vorläufer waren insbesondere Adam Müller ( 1 7 7 9 - 1 8 2 9 ) , ein bedeutender Vertreter der romantischen Schule der Nationalökonomie; ferner Friedrich List ( 1 7 8 9 - 1 8 4 6 ) , der sich neben seinem Einsatz für den Eisenbahnbau in Deutschland und für einen wirtschaftlichen Zusammenschluß der deutschen Staaten für ein nationales System der Volkswirtschaft sowie für eine realistisch-historische Methode innerhalb der Volkswirtschaftslehre aussprach. Wirtschaftssoziologisch ist besonders wichtig, daß List soziale Gruppen und Gemeinschaften als maßgebliche Handlungsträger der Volkswirtschaft erkannt hatte. Als Begründer der älteren Historischen Schule gilt Wilhelm Roscher (1817—1894), der die Volkswirtschaftslehre mit einer Fülle historischer Anmerkungen und „ A u s n a h m e n " bereicherte. Bruno Hildebrand (1812—1886) brach mit der nach allgemein gültigen Sätzen strebenden klassischen Wirtschaftstheorie, wobei er deren geschichtliches Eingebundensein in das Zeitalter des Rationalismus und Liberalismus erkannte. In seiner Stufenlehre unterschied er die Stufen der Natural-, der Geld- und der Kreditwirtschaft. Die Stufenlehre sozioökonomischer Entwicklung nahm generell innerhalb der Historischen Schule eine bedeutende Stellung ein. Unter dem Einfluß des Historismus wurde zugleich gefordert, daß jede Epoche an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden sollte. Ein weiterer Vertreter der älteren Historischen Schule war Karl Knies (1821—1878), der die Vorstellung von „Entwicklungsgesetzen" der Volkswirtschaft ablehnte. Der geistige Führer der jüngeren Historischen Schule war Gustav Schmoller (1838—1917). Er forderte den Verzicht auf vorschnelle Verallgemeinerungen im Sinne sogenannter „Gesetze". Stattdessen soll gründliche historische und wirklichkeitsnahe Forschung betrieben werden. Neben umfangreichem geschichtlichen Material dient die Statistik als vorrangiges Forschungsmittel. Auf dieser Grundlage sollen erst einmal genügend Spezialuntersuchungen durchgeführt werden, ehe man Entwicklungsgesetze des Wirtschaftslebens in allen ihren Folgen zu erkennen versucht. Die realistische Erforschung des Wirtschaftslebens erfordert zugleich die Untersuchung der Zusammenhänge wirtschaftlicher Entscheidungen mit der menschlichen Psyche. Damit wird neben der Geschichtswissenschaft auch die Psychologie zu einer wichtigen Nachbar- bzw. Hilfsdisziplin der Volkswirtschaftslehre. Unter dem Eindruck der Klassengegensätze und sozialen Probleme seiner Zeit trat Schmoller zugleich für ein aktives Eingreifen in das politisch-ökonomische Gegenwartsgeschehen ein. Mit dieser sozialpolitisch engagierten Auffassung zählte er neben Adolph Wagner und Lujo Brentano (1844—1931) zu jenen Kathedersozialisten, die 1872 den „Verein für Socialpolitik" gründeten. Die Kathedersozialisten - diese Bezeichnung stammte von liberalen Gegnern - waren keine Sozialisten, sondern Sozialreformer. Sie setzten sich für eine staatliche Sozialpolitik ein, um die Klassengegensätze bewältigen und den sozialen Aufstieg der Arbeiter ermöglichen zu können. Weitere bekannte Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie waren Georg Friedrich Knapp ( 1 8 4 2 - 1 9 2 6 ) , L. Brentano, Karl Bücher ( 1 8 4 7 - 1 9 3 0 ) und Heinrich Herkner ( 1 8 6 3 - 1 9 3 2 ) , der sich mit seinem zweibändigen Hauptwerk „Die Arbeiterfrage" (1894) hervortat. Die wirtschaftssoziologische Bedeutung der Historischen Schule der Nationalökonomie liegt insgesamt darin, daß sie die epochale Gebundenheit und somit die
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kulturelle Relativität der vermeintlich allgemein gültigen „ G e s e t z e " der klassischen Wirtschaftstheorie offenlegte, daß sie den geschichtlich-gesellschaftlichen R a h m e n des Wirtschaftslebens aufwies und für eine wirklichkeitsnahe, von breitem historischen und statistischen Material ausgehende Wirtschaftsforschung eintrat. U n t e r dem Einfluß der Historischen Schule, des Marxismus und der Evolutionslehre entfaltete sich um 1900 herum innerhalb der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Institutionalismus als eine wirtschaftssoziologisch bedeutsame Richtung der Volkswirtschaftslehre. Die hervorragenden Vertreter waren Thorstein Vehlen (1857—1929) und Wesley Clair Mitchell (1874-1946). Im Gegensatz zu der von wirklichkeitsfernen und konstanten Rationalitätsprämissen ausgehenden klassischen Wirtschaftstheorie wurde insbesondere von dem N a t i o n a l ö k o n o m e n und Soziologen Veblen betont, d a ß das jeweilige Wirtschaftsleben von sozialen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Institutionen bestimmt wird, die wiederum dem geschichtlich-gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. Die Institutionen bilden sich als gesellschaftlich vorherrschende Denkgewohnheiten und Verhaltensformen im Verlaufe der Auseinandersetzung des Menschen mit sich verändernden materiellen Umwelteinflüssen heraus. Die in einer bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Situation sich vollziehenden Prozesse der Arbeit und Lebensbewältigung ü b e r f o r m e n das instinktive Antriebsleben des Menschen und bestimmen insbesondere den M o d u s der Triebverwirklichung und das D e n k e n . Die Institutionen wurden nicht mehr als ethisch-moralisches Problem interpretiert, sondern aus sozialdarwinistisch-pragmatischer Sicht unter dem Aspekt ihrer Zweckmäßigkeit für die Lösung menschlicher Daseinsprobleme. Anpassung (adjustment) wurde somit zum zentralen Grundbegriff und Forschungsproblem des Institutionalismus. Als kritischer Sozialwissenschaftler analysierte Veblen das übersteigerte Prestigestreben und Rivalitätsverhalten der seinerzeitigen nordamerikanischen Oberklasse, insbesondere d e r Neureichen, das im demonstrativen bzw. augenfälligen Geltungskonsum (conspicuous consumption) und Müßiggang zum Ausdruck kam. Er zählte damit zu den Pionieren der Konsumsoziologie. Auch von den großen Klassikern der Soziologie während der Zeit der Herausbildung dieser Disziplin zu einer eigenständigen Wissenschaft gingen Impulse aus, die das wirtschaftssoziologische Denken bereichert h a b e n : Im multidisziplinär angelegten Werk des englischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer (1820—1903) ist vor allem der evolutionstheoretische Ansatz wirtschaftssoziologisch bedeutsam: Im organischen und gesellschaftlichen Bereich vollzieht sich die Evolution nach dem gleichen allgemeinen Entwicklungsgesetz: Die Entwicklung verläuft als ein Wandel von u n z u s a m m e n h ä n g e n d e r Gleichartigkeit zu zusammenhängender Verschiedenartigkeit (erstes „ G e s e t z der Evolution"). In der gesellschaftlichen Entwicklung äußert sich dieses Gesetz in einer fortschreitenden Differenzierung und in einem Prozeß der Ablösung kleiner Einheiten durch große. Da jede Gesellschaft auf der Grundlage des Z u s a m m e n wirkens (Kooperation) von Individuen als ein organisiertes Ganzes funktioniert, muß im Z u g e des Differenzierungsprozesses immer wieder ein neues Gleichge-
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wicht e r r e i c h t w e r d e n . D e r mit z u n e h m e n d e r A r b e i t s t e i l u n g v e r b u n d e n e P r o z e ß gesellschaftlicher Entwicklung beinhaltet V e r ä n d e r u n g e n der sozialen Organisation u n d d e r W e r t o r i e n t i e r u n g e n . E s b i l d e n sich s p e z i f i s c h e I n s t i t u t i o n e n h e r a u s . Kriegerische W e r t o r i e n t i e r u n g e n werden durch k o m m e r z i e l l e und industrielle a b g e l ö s t . D i e ü b e r k o m m e n e f e u d a l i s t i s c h - m i l i t ä r i s c h e G e s e l l s c h a f t wird d u r c h eine weltweite, nahezu staatsfreie Industrie- und Handelsgesellschaft („industrieller T y p u s " ) v e r d r ä n g t , in d e r die T ü c h t i g s t e n f ü h r e n . D e r H a n d l u n g s z u s a m m e n h a n g d i e s e r G e s e l l s c h a f t ist k o n t r a k t u e l l ( v e r t r a g l i c h ) b e g r ü n d e t , g e t r a g e n von den I n t e r e s s e n u n d r a t i o n a l e n E r w ä g u n g e n d e r G e s e l l s c h a f t s a n g e h ö r i g e n . D e r i t a l i e n i s c h e S o z i o l o g e und N a t i o n a l ö k o n o m V i l f r e d o P a r e t o ( 1 8 4 8 — 1 9 2 3 ) hat g l e i c h f a l l s als e i n e r d e r V o r l ä u f e r d e r s t r u k t u r e l l - f u n k t i o n a l e n T h e o r i e d i e G e s e l l s c h a f t als ein G l e i c h g e w i c h t s s y s t e m a u f g e f a ß t . W i r t s c h a f t s s o z i o l o g i s c h ist v o r a l l e m sein m o t i v a t i o n s t h e o r e t i s c h e r A n s a t z i n t e r e s s a n t : D i e G e s e l l s c h a f t ist ein A g g r e g a t v o n I n d i v i d u e n , die p r i m ä r N a t u r w e s e n sind und d e r e n V e r h a l t e n d e m e n t s p r e c h e n d i n s b e s o n d e r e von n a t ü r l i c h e n G e g e b e n h e i t e n g e s t e u e r t wird. P a r e to u n t e r s c h i e d z w i s c h e n „ l o g i s c h e n " ( z w e c k r a t i o n a l e n ) und „ n i c h t - l o g i s c h e n " (irr a t i o n a l e n ) H a n d l u n g e n . D a der M e n s c h v o r a l l e m v o n G e f ü h l e n u n d G l a u b e n s v o r s t e l l u n g e n b e s t i m m t wird, ü b e r w i e g e n die „ n i c h t - l o g i s c h e n " H a n d l u n g e n . U m d i e s e D o m i n a n z d e r i r r a t i o n a l e n H a n d l u n g e n e r k l ä r e n zu k ö n n e n , d i f f e r e n z i e r t e e r in s e i n e r T h e o r i e d e r M o t i v a t i o n z w i s c h e n R e s i d u e n und D e r i v a t i o n e n . D i e R e siduen sind r e l a t i v s t a b i l e A n t r i e b s k r ä f t e , die sich n u r w e n i g bzw. l a n g s a m v e r ä n dern u n d d e n K e r n d e r B e s t i m m u n g s g r ü n d e d e s V e r h a l t e n s b i l d e n . D e m g e g e n ü b e r sind d i e D e r i v a t i o n e n v a r i a b l e E r s c h e i n u n g e n , die als M e i n u n g e n , R a t i o n a l i s i e r u n g e n ( V o r g a b e r a t i o n a l a n m u t e n d e r E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e ) , T h e o r i e n und I d e o l o g i e n d e r V e r k l e i d u n g und T a r n u n g d e r d e n R e s i d u e n e n t s p r i n g e n d e n „ n i c h t - l o g i s c h e n " H a n d l u n g e n d i e n e n . D a s I n d i v i d u u m ist sich d i e s e r V e r h ü l l u n gen m e i s t nicht b e w u ß t und von d e r W a h r h e i t d e r ü b e r f o r m e n d e n S i n n g e b u n g e n und B e g r ü n d u n g e n ü b e r z e u g t . Die Prozesse fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung und Arbeitst e i l u n g s t e h e n im M i t t e l p u n k t d e r w i r t s c h a f t s s o z i o l o g i s c h b e d e u t s a m e n A n a l y s e n des g r o ß e n f r a n z ö s i s c h e n S o z i o l o g e n E m i l e D ü r k h e i m ( 1 8 5 8 - 1 9 1 7 ) : E i n e G r u n d v o r a u s s e t z u n g für das s o z i a l e Z u s a m m e n l e b e n v o n M e n s c h e n im R a h m e n e i n e r G e s e l l s c h a f t ist die von g e m e i n s a m e n A n s c h a u u n g e n u n d G e f ü h l e n getragene Solidarität. Diese kann je nach dem Entwicklungsniveau einer Gesellschaft u n t e r s c h i e d l i c h a u s g e p r ä g t s e i n : In d e n ä l t e r e n , s o g e n a n n t e n „ p r i m i t i v e n " , wenig gegliederten G e s e l l s c h a f t e n herrscht eine „ m e c h a n i s c h e S o l i d a r i t ä t " . D e r Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d e n M e n s c h e n wird d u r c h r e p r e s s i v e M e c h a n i s m e n d e r s o z i a l e n K o n t r o l l e u n d des ä u ß e r e n Z w a n g s g e w ä h r l e i s t e t . B e v ö l k e r u n g s w a c h s tum, eine z u n e h m e n d e Besiedlungsdichte sowie der damit verbundene steigende W e t t b e w e r b u m L e b e n s c h a n c e n e r z w i n g e n d e n Ü b e r g a n g zur „ o r g a n i s c h e n S o l i d a r i t ä t " . D i e s e resultiert aus funktionaler Spezialisierung, z u n e h m e n d e r A r b e i t s teilung, e n t s p r e c h e n d e m gegenseitigen A n g e w i e s e n s e i n und aus k o n t r a k t u e l l e r bzw. v e r t r a g s m ä ß i g e r Z u s a m m e n a r b e i t . H i n z u k o m m t e i n e f o r t s c h r e i t e n d e E n t faltung der Individualität der Gesellschaftsangehörigen. I m R a h m e n der sozialen K o n t r o l l e v e r l a g e r t sich d e r S c h w e r p u n k t v o n d e n ä u ß e r e n Z w a n g s m e c h a n i s m e n zu d e r i n n e r e n , i n d i v i d u a l p s y c h i s c h e n K o n t r o l l i n s t a n z . In d e n a r m e n , s t a t i s c h e n G e s e l l s c h a f t e n w u r d e d e r e i n z e l n e M e n s c h d u r c h allgemein akzeptierte Normen einer dauerhaften Reglementierung der Bedürfnis-
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Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
befriedigung vor der unterschwellig vorhandenen G e f a h r der Unersättlichkeit seiner Bedürfnisse, Wünsche und Begierden geschützt. In der m o d e r n e n Gesellschaft ist dagegen infolge der Industrialisierung, Wohlstandszunahme, Absatzw e r b u n g und wirtschaftlichen Schwankungen der gesellschaftlich-normativ regulierte Gleichgewichtszustand zwischen Bedürfnissen und Befriedigungsmöglichkeiten aufgesprengt worden. Die entfesselten Bedürfnisse, A n s p r ü c h e und E r wartungen schießen über die zuvor gültigen Regulierungen hinaus. Die ü b e r k o m m e n e n N o r m e n verlieren ihre Autorität. Die Orientierungsschwierigkeiten und Enttäuschungen werden größer. Der W e t t b e w e r b und der Kampf werden härter. Diesen Z u s t a n d der stark gestörten gesellschaftlich-normativen O r d n u n g bezeichnete D ü r k h e i m mit dem Begriff der A n o m i e . Die auf die A n o m i e insbesondere in den wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen z u r ü c k f ü h r b a r e moralische Krise der modernen Gesellschaft kann nach D ü r k h e i m s Einschätzung nur durch weitreichende institutionelle R e f o r m e n gebändigt werden. Neben dem Rechtsstaat sollen in einer berufsständisch-korporativ zu organisierenden Gesellschaft „ B e r u f s g r u p p e n " als intermediäre (zwischengeschaltete, vermittelnde) Sozialgebilde die notwendige moralische A u t o r i tät gegenüber den Individuen entwickeln und diese in die Gesellschaft integrieren. Nach K. Marx hat vor allem der Philosoph und Soziologe Georg Simmel ( 1 8 5 8 - 1 9 1 8 ) die zentrale Bedeutung des Geldes für die m o d e r n e Gesellschaft analysiert, und zwar ganz bewußt nicht aus ökonomischer Sicht. In seiner großenteils soziologisch ausgeprägten Studie „Philosophie des G e l d e s " (Leipzig 1900) ging es ihm vielmehr d a r u m , das Wesen der geschichtlichen Erscheinung des Geldes aus den allgemeinen Lebensverhältnissen heraus verständlich zu machen. Hierbei sind insbesondere psychische Faktoren, Wertgefühle, soziale Beziehungen zwischen Menschen und die Lebenspraxis im Z u s a m m e n h a n g mit Dingen maßgeblich. D a r ü b e r hinaus untersuchte er die Auswirkungen des Geldes auf das „Lebensgefühl der Individuen", auf den „Stil des Lebens", „auf die allgemeine Kultur". Z u den durch die entfaltete Geldwirtschaft vorangetriebenen V e r ä n d e rungen zählte Simmel die extreme Arbeitsteilung, das Vordringen der rationalistischen Einstellung, der Kalkulation und der Zweck-Mittel-Rationalität, wobei die Mittel teilweise die Qualität von Zwecken erlangen, z.B. Geld. Hinzu k o m m e n f e r n e r Prozesse der Entpersönlichung der Sozialbeziehungen und Herrschaftsformen — v e r b u n d e n mit einer befreienden Wirkung. Zugleich e r k a n n t e er aber auch die G e f a h r , daß der „vergegenständlichte" Geist der Gesellschaft, der sich in materiellen Schöpfungen und Organisationen darstellt, zunehmend in einen Widerspruch zu den Individuen gerät. Z u den großen Pionieren der Wirtschaftssoziologie zählt vor allem der Soziologe, Kultur- und Sozialwissenschaftler Max Weber ( 1 8 6 4 - 1 9 2 0 ) . Angesichts der Fülle seines umfangreichen multidisziplinären Werks können hier nur einige wirtschaftssoziologisch relevante Aspekte desselben angedeutet werden: In seiner wirtschafts- und sozialhistorischen Untersuchung „ D i e sozialen G r ü n d e des Untergangs der antiken K u l t u r " gelangte W e b e r zu dem Ergebnis, d a ß das römische Reich „nicht von außen her z e r s t ö r t " wurde. D e r Zerfall dieses Reiches war vielmehr die notwendige politische Folge der allmählichen V e r d r ä n gung der Verkehrs- durch die Naturalwirtschaft. Dadurch verfiel zugleich j e n e r Verwaltungsapparat und geldwirtschaftliche politische Ü b e r b a u , der dem naturalwirtschaftlichen U n t e r b a u nicht mehr angepaßt war.
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D e r ü b e r r a g e n d e Beitrag M. W e b e r s zur Entfaltung der Wirtschaftssoziologie kulminiert vor allem in seiner b e r ü h m t gewordenen Studie „ D i e protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" (1905, in: M. Weber: G e s a m m e l t e Aufsätze zur Religionssoziologie I, 5. Aufl., Tübingen 1963, S. 17—206): D e n Ausgangspunkt seiner Analyse der religiös-ethischen Wurzeln der Entstehungsgeschichte des modernen Industriekapitalismus westlicher Prägung bildeten empirische Daten über einen signifikanten Z u s a m m e n h a n g zwischen der Konfession und dem wirtschaftlichen Erfolg. So zeigte sich um 1900 im Land Baden, daß unter den wirtschaftlich erfolgreichen Persönlichkeiten die Protestanten weit überrepräsentiert waren. Im Zuge seiner historisch-religionssoziologischen Untersuchungen gelangte M. W e b e r zu dem Ergebnis, daß die auf eine bestimmte Lebensweise ausgerichtete Ethik des Protestantismus, vor allem des Calvinismus, in entscheidender Weise zur Herausbildung des modernen Kapitalismus beigetragen hat. W ä h r e n d Luther vor allem die Erfüllung der Berufsarbeit als göttlich bestimmte Pflicht herausstellte, steht im Calvinismus der wirtschaftliche Erfolg des Individuums - „zum R u h m e G o t t e s " - im Mittelpunkt der ökonomisch folgenreichen Ethik. Von grundlegender Bedeutung ist im Calvinismus das Dogma der Gnadenwahl bzw. die Prädestinationslehre: Schon seit Ewigkeit ist durch den Willensentschluß und Weltplan Gottes festgelegt, welche Menschen für die Seligkeit und welche für die V e r d a m m n i s vorherbestimmt sind (doppelte Prädestination). Gnadengewißheit wird allein durch den beruflich-wirtschaftlichen Erfolg des einzelnen im Diesseits angezeigt. U m durch größtmöglichen beruflich-wirtschaftlichen Erfolg des eigenen G n a denstandes gewiß zu sein, wurde im R a h m e n des Calvinismus und Puritanismus eine rational-methodische, asketische Lebensführung in höchstem M a ß e Persönlichkeits- und verhaltensbestimmend: harte, rastlose, stetige, systematische, weltliche Berufsarbeit als höchstes Mittel innerweltlicher Askese und als gottgewollter Lebenszweck, keine Zeitvergeudung und kein Müßiggang, kein unnötiger Aufwand, kein G e n i e ß e n des Besitzes und Reichtums, kein Luxuskonsum, kein „ A b e n t e u r e r - K a p i t a l i s m u s " , sondern vielmehr moralisch-prinzipienfestes, geschäftlich korrektes Verhalten, asketischer Sparzwang und ständige Kapitalbildung. Somit trug die Ethik des Protestantismus entscheidend zur G e b u r t des reinen Arbeits-, Fach-, Berufs- und Wirtschaftsmenschen bei, zur Herausbildung des kapitalistischen „Geistes", zur „Entfesselung des Erwerbsstrebens", zur geschichtlich einmaligen Entfaltung des m o d e r n e n Industriekapitalismus. Im Zuge fortschreitender Säkularisierung (Verweltlichung, A b k e h r insbesondere von jenseitsorientierter Religion) starb die religiöse Wurzel der kapitalistischen Arbeits- und Erfolgsethik langsam ab. Inzwischen hat sich aber der m o d e r ne Kapitalismus als ein „stahlhartes G e h ä u s e " technisch-ökonomischer Strukturen und Lebensverhältnisse herauskristallisiert, das „mit überwältigendem Z w a n g " den „Lebensstil aller E i n z e l n e n " bestimmt. Der „siegreiche", n u n m e h r „auf mechanischer G r u n d l a g e " r u h e n d e und die Menschen beherrschende mod e r n e Kapitalismus benötigte somit keine religiösen Glaubensinhalte mehr, um das individuelle Erwerbsstreben abzustützen und voranzutreiben. Mit seiner Herausarbeitung der protestantischen Ethik als einer entscheidenden Triebfeder der Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus hatte
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M. W e b e r nicht beabsichtigt, an die Stelle der von K. Marx bevorzugten einseitig „materialistischen" eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und G e schichtsdeutung zu setzen. E r wollte keineswegs das von Marx konzipierte BasisÜ b e r b a u - M o d e l l einfach umkehren und somit die Religion als eigenständige Basis und die Wirtschaft als abhängigen, bedingten Ü b e r b a u deuten. Es ging ihm vielmehr u m die Analyse der wechselseitigen Beeinflussungen und Abhängigkeiten von Wirtschaft und Religion. Dementsprechend deutete er sogar an, d a ß die E n t s t e h u n g der protestantischen Ethik ihrerseits durch die Gesamtheit der seinerzeit gesellschaftlich-ökonomischen Kulturbedingungen beeinflußt worden war. Die aus der protestantischen Askese g e b o r e n e rational-ökonomische Lebensf ü h r u n g war f ü r M. W e b e r nur die Teilerscheinung eines allgemeineren, weitaus umfassenderen Entwicklungsprozesses, der sich in weltgeschichtlich einmaliger Weise im Okzident ( A b e n d l a n d ) durchgesetzt hat: der alle Lebensbereiche des Menschen durchdringende Prozeß fortschreitender intellektualistischer Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik, die Beherrschung aller Dinge durch „technische Mittel und Berechnung", die Z u r ü c k drängung „magischer Mittel" zur vermeintlichen Beeinflussung geistiger Mächte, „die E n t z a u b e r u n g der Welt". D e r Prozeß okzidentaler Rationalisierung beinhaltet zugleich die Entfaltung rationaler Wissenschaft und Technik, ferner die Rationalisierung von Recht, Staat und bürokratischer Organisation. In der Entwicklung des modernen Kapitalismus verstärken sich die verschiedenen Rationalisierungsvorgänge gegenseitig. Die auf dem Prinzip der Kalkulation, der Berechenbarkeit aller Daten b e r u h e n d e kapitalistische Wirtschaft hat die Entwicklung des Rechts zu formaler Rationalität gefördert. Die formalen Qualitäten des modernen Rechts sowie eine effektiv, gerecht arbeitende Verwaltungsbürokratie schaffen einen hohen Grad der Berechenbarkeit von Rechtsvorgängen, der wiederum für das Funktionieren der m o d e r n e n Wirtschaft und für die Führung der U n t e r n e h m u n g e n unerläßlich ist. Trotz des Titels „Wirtschaft und Gesellschaft" ist das unvollendet gebliebene Spätwerk M. Webers (Tübingen 1922, 4. Aufl., Tübingen 1956) nicht nur mit einer bloßen Wirtschaftssoziologie identisch. D e r erste Teil dieses Werkes u m f a ß t eine auf konzise Begriffsdefinitionen und differenzierte Klassifikation ausgerichtete „Soziologische Kategorienlehre": „Soziologische G r u n d b e g r i f f e " , „Soziologische G r u n d k a t e g o r i e n des Wirtschaftens", „ D i e Typen der H e r r s c h a f t " , f e r n e r „ S t ä n d e u n d Klassen". D e r zweite, umfangreichere Teil beinhaltet eine sehr stark historisch angelegte Darstellung der Wirtschaft und der „gesellschaftlichen O r d nungen und M ä c h t e " . Hier wird zunächst die Wirtschaft in Verbindung mit der Rechtsordnung, mit verschiedenen Gemeinschaftsformen, mit unterschiedlichen „ T y p e n der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung" betrachtet. Es folgen grundlegende Ansätze einer Religions-, Rechts-, Herrschaft- u n d Staatssoziologie; schließlich noch ein A n h a n g über „ D i e rationalen und soziologischen G r u n d lagen der M u s i k " . In diesem thematisch sehr breit orientierten Spätwerk bediente sich M. W e b e r angesichts der Fülle des zu bewältigenden Stoffes teilweise seiner idealtypischen M e t h o d e : D e r Idealtypus ist eine gedankliche Konstruktion, die allerdings von dem G e d a n k e n des Seinsollenden, des Vorbildlichen fernzuhalten ist. Die Gewinnung eines Idealtypus im Hinblick auf einen bestimmten Ausschnitt des geschichtlich-soziokulturellen Lebenszusammenhanges erfordert zunächst die einseitige
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Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte, die jeweils konstitutiv sind. Sodann wird eine Fülle von unterschiedlich ausgeprägten und anzutreffenden Einzelerscheinungen, die sich den einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten zuordnen lassen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild zusammengefügt. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses G e d a n k e n b i l d in der Wirklichkeit nicht vorfindbar u n d insofern eine Utopie. Es eignet sich aber als ein wissenschaftlich-analytisches Ordnungsinstrument. Durch die Ermittlung des Maßes der A n n ä h e r u n g einer geschichtlichen Erscheinung bzw. eines konkreten Falles an einen oder m e h rere solcher Idealtypen können die mannigfaltigen P h ä n o m e n e eingeordnet und verstanden werden. Als zwei konträre Idealtypen der Wirtschaftsordnung hat M . W e b e r z.B. die Verkehrs- und die planwirtschaftliche Bedarfsdeckung herausgestellt. Für die Verkehrswirtschaft sind selbstgeleitete Einzelwirtschaften (Haushalte und E r werbsbetriebe), Interessenlage, Tausch- bzw. Marktchancen, Geld- bzw. Kapitalrechnung sowie Tausch grundlegend. Für die Planwirtschaft hingegen ist eine gesatzte materiale O r d n u n g und die Orientierung der Wirtschaftenden an den A n o r d n u n g e n des unentbehrlichen „Verwaltungsstabes" charakteristisch. Schließlich ist noch bemerkenswert, daß M. Weber auch zu den Pionieren der Industrie- und Betriebssoziologie zählt. So hat er zusammen mit seinem Bruder A l f r e d die ausgedehnten, empirisch angelegten Untersuchungen des „Vereins f ü r Socialpolitik" über „Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der A r b e i t e r in den verschiedenen Zweigen der G r o ß i n d u s t r i e " ( 1 9 0 8 - 1 9 1 5 ) angeregt. M. W e b e r selber hat hierzu die theoretische Grundlegung und methodologische Anleitung verfaßt, wobei neben sozialpsychologischen Fragestellungen noch die Psychophysik eine große Rolle spielte. Neben M. W e b e r zählt vor allem d e r Nationalökonom, Soziologe und Kulturphilosoph Werner Sombart ( 1 8 6 3 - 1 9 4 1 ) zu den Begründern der Wirtschaftssoziologie. Als Schüler von G . Schmoller war er in starkem M a ß e historisch und geisteswissenschaftlich orientiert: „ D i e Idee der Wirtschaft ist ein räum- und zeitloser Vernunftbegriff: sie erfaßt ungestalteten Geist" — ausgerichtet „auf die menschliche U n t e r h a l t s f ü r s o r g e " bzw. auf die ständigen Bemühungen um eine Bewältigung der Spannung zwischen der Bedürftigkeit des Menschen und den k n a p p e n natürlichen Befriedigungsmitteln. „ N u n ist aber ,Wirtschaft' im Sinne von Wirtschaftsleben ein räumlich u n d zeitlich gebundener Tatsachenkomplex. Alle Kultur, somit auch alle Wirtschaft, wenn sie wirklich ist, ist Geschichte. Die Idee der Wirtschaft konkretisiert sich also immer in bestimmten, historischen E r scheinungen: die Wirtschaft in der Geschichte nimmt stets Gestalt an; ist gestalteter G e i s t . . . so gibt es auch keine Wirtschaft in abstracto, sondern immer nur eine ganz bestimmt geartete, historisch b e s o n d e r e Wirtschaft" (W. Sombart: Wirtschaft, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.): H a n d w ö r t e r b u c h der Soziologie, Stuttgart 1959 (1931), S. 652f.). Die soziokulturellen Erscheinungen in ihrer geschichtlichen Besonderheit und Einmaligkeit — zugleich Ausdruck der Schöpfermacht des „Geistes" und des „freien Willens" des Menschen — lassen im Gegensatz zum strengen, naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsbegriff der Ermittlung von Regelmäßigkeiten oder gar „ G e s e t z e n " keinen R a u m . U n t e r Abgrenzung von materialistischen u n d positivistischen Auffassungen vertrat deshalb Sombart in A n l e h n u n g an die H e r meneutik von W. Dilthey sowie an die Phänomenologie die Auffassung, daß f ü r
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die Kultur- und Sozialwissenschaften die geisteswissenschaftlich-verstehende Methode das angemessene Erkenntnisinstrument sei. Sombart gliederte die Geschichte nach Kulturperioden, die jeweils einen individuellen Charakter aufweisen. Er unterschied zwischen Früh-, Hoch- und Spätepoche. Für die gesellschaftlichen Vorgänge ist das jeweilige „Wirtschaftssystem" einer Epoche grundlegend. Sein besonderes Interesse galt dem Kapitalismus und den zugehörigen sozialökonomischen Theorien. In seinem Hauptwerk „ D e r moderne Kapitalismus" (3 Bde., München und Leipzig 1 9 2 8 ) befaßte sich Sombart im Rahmen einer breiten kultur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Orientierung historisch-systematisch mit dem „gesamteuropäischen Wirtschaftsleben von seinen Anfängen bis zur Gegenwart". Nach einer Beschreibung der vorkapitalistischen Wirtschaft widmete er sich den historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus, wobei er insbesondere den Staat, die Technik, die Entstehung der Unternehmerschaft und des bürgerlichen Reichtums sowie Bedarfsänderungen würdigte. Im Zusammenhang mit der Epoche des Frühkapitalismus, die vornehmlich die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert umspannte, analysierte er u.a. die Wirtschaftsgesinnung („Idee des ehrenhaften Erwerbs", „Geschäftsstil"), Elemente der Marktbildung, das Verkehrswesen, Gütererzeugung und -Umsatz, die Anfänge der Großindustrie, „Arbeiterverhältnisse", internationale Wirtschaftsbeziehungen, Staat und Gesellschaft im Innern, aber auch Hemmungen der kapitalistischen Entwicklung. Schließlich betrachtete er mannigfaltige Aspekte der Epoche des Hochkapitalismus: „Die treibenden Kräfte" (die „neuen Führer", der „neue Menschentyp"), der moderne Staat, Wirtschaftspolitik, Imperialismus, Technik, Kapital, Arbeitskräfte, Absatz („Neue Käuferschichten"), Konkurrenz, Konjunktur, Rationalisierungsprozesse, Betriebe (u.a. die „Ausschließung der Seele aus dem Betrieb"), verschiedene Wirtschaftssysteme und abschließend Gedanken über das „Wirtschaftsleben der Zukunft". Während Sombart zunächst unter dem Eindruck des Lebenswerkes von K. Marx stand, wurde er später immer mehr zu einem entschiedenen Gegner des Marxismus. Er entwickelte ein eigenes Konzept des Sozialismus (Deutscher Sozialismus, Charlottenburg 1934), in dessen Mittelpunkt der Mensch steht, der keineswegs zum bloßen Mittel erniedrigt werden darf. Für die Konstitution der Wirtschaftssoziologie sind die Ausführungen von Sombart über das Verhältnis von Soziologie und Nationalökonomie besonders wichtig: „Das Wirtschaftsleben bildet einen Teil des menschlichen Zusammenlebens. Das soziale Moment im Wirtschaftsleben ist die Apriorie im Wirtschaftsdenken. Robinson ist ein unwirklicher Zwangsfall, überdies ist auch er außerhalb der Gesellschaft nicht denkbar: er konnte nur als Einzelner leben, weil er aus der G e sellschaft kam. Daß Gesellschaft notwendig für Wirtschaft ist, ist durch die einfache Tatsache zu erweisen, daß alle Wirtschaft, d.h. alle Unterhaltsfürsorge immer nur mit Notwendigkeit... ein Tun unter mehreren ist... Wenn nun Soziologie die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben ist, Wirtschaft aber menschliches Zusammenleben, so folgt daraus, daß die Wirtschaftswissenschaft Soziologie ist". Da Sombart „den Begriff der Soziologie auf die Theorie vom menschlichen Zusammenleben" einschränkt, ist für ihn „Wirtschaftssoziologie . . . gleichbedeutend mit Wirtschaftstheorie" bzw. „mit theoretischer Nationalökonomie" (W. Sombart: Wirtschaft, a.a.O., S . 6 5 8 f . ) .
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Die durch Sombart vorgenommene weitgesteckte Ortsbestimmung der Wirtschaftssoziologie, die im Falle ihrer Realisierung der Wirtschaftswissenschaft weitgehend den Boden entzogen hätte, ist später von dem Soziologen und Volkswirtschaftler Leopold von Wiese (1876—1969) auf ein konstruktives Mittelmaß zurückgeführt worden: Die Wirtschaftssoziologie und die Wirtschaftstheorie beruhen auf zwei sich ergänzenden, aber verschiedenen Schauweisen. G e m ä ß einer begrifflichen Trennung beschäftigt sich die Wirtschaftstheorie mit den „Mensch-Ding-Beziehungen", während sich die Wirtschaftssoziologie mit den ökonomisch relevanten „Mensch-Mensch-Beziehungen" zu befassen hat. In der Praxis des Wirtschaftens sind allerdings diese beiden Dimensionen miteinander verbunden. Die im Mittelpunkt des Wirtschaftens stehende „Lebensfürsorge ist seit Beginn menschlichen Daseins ein sozialer Vorgang". Dementsprechend bildet „die Frage: Wie verhalten sich die Menschen in der Lebensfürsorge zueinander? . . . das Kernproblem der Wirtschaftssoziologie". Es geht also „um die Erkenntnis, daß sich der größte Teil des Wirtschaftens in Zusammenhängen von Menschen abspielt und der Verlauf der Unterhaltsfürsorge in erheblichem G r a d e davon abhängt, wie Menschen auf Menschen wirken (L.v.Wiese: Wirtschaftssoziologie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12. Bd., Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1965, S. 247 ff.). Neben der Wirtschaftspsychologie, die sich mit den ökonomisch relevanten innerpsychischen Prozessen beschäftigt, hat die Wirtschaftssoziologie das „tatsächliche Verhalten der wirtschaftenden Menschen zu erfassen... Die Beobachtung der lebenden Menschen zeigt äußerst mannigfaltige Realtypen der Annäherung und der E n t f e r n u n g " von dem Idealtypus des „ H o m o oeconomicus... Der sparsame Haushalter, der rechnende Geschäftsmann, der Verschwender, der Menschenfreund, der Asket stehen sich fremd gegenüber. Doch alle diese Typen gehen die Wirtschaftssoziologie an; sie weichen mehr oder weniger vom konstruierten Bilde des H o m o oeconomicus a b " (L.v.Wiese: a.a.O., S. 248 f.). Ein stark beachteter Meilenstein in der Konstituierung der Wirtschaftssoziologie war die tiefgründige Untersuchung von Karl Mannheim „ Ü b e r das Wesen und die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens — Ein Beitrag zur Wirtschaftssoziologie" (in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 63, 1930): Den Ausgangspunkt bildete die Frage, wie die Wirtschaft durch das Erfolgsstreben hindurch auf den ganzen Menschen prägend einwirkt. Erfolg resultiert aus dem „Sichdurchsetzen" einer Leistung im Bereich des Sozialen. Der um der Leistung willen erreichte Erfolg ist stabiler als jener, der zur Erlangung von Anerkennung und Prestige angestrebt wird. Das „Dominierendwerden des Wirtschaftserfolges" in der modernen Gesellschaft hat den Zugang zu den Erfolgschancen geöffnet und überkommene ständische Sozialstrukturen aufgelöst. Die „ Ö k o n o m i sierung der Gesellschaft im Sinne des Kapitalismus" hat zu einem A b b a u aller ideologischen Elemente und des Gesinnungszwanges im Gefüge des Wirtschaftshandelns geführt. Die Voraussehbarkeit und Kalkulierbarkeit des Wirtschaftshandelns resultiert nicht mehr aus dem starren Reagieren von Menschen auf Ideologien und Traditionen, sondern immer mehr aus der wirtschaftlichen Zwangsläufigkeit, aus dem wohlverstandenen Eigeninteresse. Im Rahmen der Bürokratie hat sich als eigentümliche, weitgehend „ k a m p f e n t leerte" Form des Erfolges jene stabile Kette von rationierten, gestaffelten und
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überschaubaren Erfolgsgrößen herausgebildet, die in ihrer Einheit als Karriere bezeichnet wird. Im Erfolgsstreben wird der andere Mensch nicht in seiner Ganzheit, sondern nur als Mitläufer oder Gegenspieler gesehen. Der Mitmensch ist nur insoweit interessant, wie er in die eigenen Pläne und Berechnungen hineinpaßt. Auf der Grundlage gemeinsam geachteter Spielregeln und Verbindlichkeiten ist man gezwungen, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Der nach Erfolg strebende Mensch will das Scheitern nicht in passiv-ohnmächtiger Weise dem „Schicksal" überantworten. Vielmehr versucht er analytischvollzugsbedacht, die Situation zu beherrschen, Fehler bei sich zu suchen und stets zur Korrektur bereit zu sein. Es ist für das wirtschaftliche Erfolgsstreben charakteristisch, daß der erreichbare Erfolg meßbar und quantifizierbar ist. Das Streben nach Quantität im Wirtschaftsleben schaltet im Menschen den Sinn für qualitative Dimensionen des Lebens immer mehr aus. An die Stelle der Frage: wer ist er?, tritt jene: wieviel ist er wert? Das Erfolgsstreben hat die Tendenz, die Fraglichkeit des Lebens zu verdecken. Auf „der Ebene der ökonomischen Weltauslegung" entsteht sogar „der Schein, als wäre das Leben selbst meßbar". Der erfolgsorientierte Konkurrenzkampf im Wirtschaftsleben steigert nicht nur alle Fähigkeiten im Menschen, sondern erzeugt „auch eine rastlose Unruhe" im Menschen, „die radikalste Zersetzung jeglicher Kontemplativität". Deshalb haben alle Religionen, in denen die Kontemplativität hoch bewertet wurde, „das wirtschaftliche Erfolgsstreben verpönt". Das wirtschaftliche Erfolgsstreben wandelt sich im Zusammenhang mit dem jeweiligen historischen Wirtschaftssystem. Es ist darüber hinaus auch sozial differenziert. Die mit dieser Wandelbarkeit und Differenzierung gegebene Flexibilität des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens bedingt zugleich eine solche des entsprechenden Menschentyps. Indirekt ist auch der radikale ideologiekritisch-wissenssoziologische Ansatz von K. Mannheim für die Wirtschaftssoziologie bedeutsam, den er vor allem in seinem grundlegenden Werk „Ideologie und Utopie (1928, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1978) entfaltet hat. Die Breitenwirkung dieses Ansatzes hat zur Entstehung der wirtschaftssoziologisch zentralen Frage beigetragen, inwieweit die auf das Wirtschaftsleben ausgerichteten Weltanschauungen, Denkmodelle und Theorien Ausdruck der sozialen „Seinsverbundenheit" des menschlichen Bewußtseins, Erkennens und Denkens sind. Nach Auffassung von Mannheim sind das Denken und Wissen eines Menschen von seinem Standort im geschichtlich wandelbaren Sozialgefüge abhängig. Aus einer breiten interdisziplinären Orientierung heraus hat der österreichische, später amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Joseph Alois Schumpeter (1883—1950) wirtschaftssoziologisch höchst bedeutsame Entwicklungsprozesse analysiert, die aus dem Verflechtungszusammenhang von Individuum, Wirtschaft und Gesellschaft resultieren: Die im Kapitalismus zum Ausdruck kommende, zyklisch verlaufende wirtschaftliche Entwicklung stellt sich als ein „Prozeß der schöpferischen Zerstörung"
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dar. In diesem Wettbewerbskampf werden alte Produkte, Produktionsverfahren, M ä r k t e und Organisationsformen durch neue, qualitativ bessere bzw. effektivere ersetzt, z.B. die Pferdekutsche durch das A u t o , die M a n u f a k t u r durch die Fabrik. Im Z u g e der Entfaltung des Kapitalismus bildeten die dynamisch-innovativen Unternehmerpersönlichkeiten den M o t o r der wirtschaftlichen Entwicklung. Diese schöpferischen Persönlichkeiten, die f ü r Schumpeter den Inbegriff des U n t e r n e h m e r s verkörpern, setzen im Wirtschaftsleben Innovationen bzw. Neuerungen durch: 1) 2) 3) 4)
n e u e Produkte o d e r Produktqualitäten, E i n f ü h r u n g neuer Produktionsverfahren, Erschließung eines neuen Absatzmarktes, Erschließung eines neuen Beschaffungsmarktes (neue Bezugsquellen von Rohstoffen oder Halbfabrikaten); 5) Ä n d e r u n g der Organisation ( D u r c h f ü h r u n g einer Neuorganisation, wie Schaff u n g einer Monopolstellung oder Durchbrechen eines Monopols
D e r erfolgreiche P i o n i e r u n t e r n e h m e r erzielt einen zeitlich begrenzten Vorsprungsgewinn. D e n Gegentypus bildet der „Wirt schlechthin", der sich nur an gegebene Daten anpaßt und durch N a c h a h m u n g erfolgreicher U n t e r n e h m e r deren Gewinnsituation auszunutzen versucht. Ein großer technischer Innovationsstoß löst einen ganzen Schwärm von A n schlußinnovationen aus und führt zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung. Mit z u n e h m e n d e r ökonomischer Ausschöpfung der Neuerungen schwächt sich dieser Boom wieder ab und m ü n d e t in eine Rezession. Erst ein neuer großer Innovationsstoß führt wieder zu einem durchgreifenden konjunkturellen Aufschwung. Zwischen diesen wirtschaftlichen H ö h e - bzw. Tiefpunkten liegen etwa 50 bis 60 Jahre. Diese langen Konjunkturwellen, die schon der russische Ö k o n o m Nikolai Kondratieff erkannt hatte, gab Schumpeter die Bezeichnung „ K o n d r a t i e f f Z y k l e n " . Im Zuge der Industrialisierung sind große Aufschwünge durch die Ausbreitung der Eisenbahn, durch den Aufstieg der chemischen Industrie, durch die Nutzung der Elektrizität und durch die Entwicklung des Automobils zu einem Hauptverkehrsmittel erfolgt. Wirtschaftssoziologisch besonders interessant ist Schumpeters A u s e i n a n d e r setzung mit der Frage nach der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. In seinem soziologischen H a u p t w e r k „Capitalism, Socialism and D e m o cracy" (New York 1942, deutsche Ausgabe: „Kapitalismus, Sozialismus und D e m o k r a t i e " , Bern 1950) gelangte er zu d e m Ergebnis, d a ß dem kapitalistischen System aus seinen eigenen Erfolgen und Wirkungen heraus eine T e n d e n z zur Selbstzerstörung innewohnt: Die mit der Entfaltung des Kapitalismus verknüpfte fortschreitende Rationalisierung führt zu einem A b b a u von Traditionen und Institutionen. D a d u r c h entsteht aber keine neue O r d n u n g . Vielmehr werden Energien freigesetzt u n d eine A t m o s p h ä r e der Feindseligkeit geschaffen, die das System in seinem Bestand bedrohen. E s setzt sich immer mehr eine individualistisch-rationale Verhaltensorientierung und Lebensform durch, die die W e r t e des Familienlebens zum Verblassen bringen. In das Privatleben wird eine Art unausgesprochener Kostenrechnung eingeführt. Kinder sind dann nicht m e h r ein wirtschaftliches Aktivum. E s ergibt
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sich eine Auflösung der bürgerlichen Familie. Damit schrumpft der Zeithorizont des Geschäftsmannes auf seine eigene Lebenserwartung zusammen. Während in den stark familienorientierten oberen Schichten der Bourgeoisie in erster Linie gearbeitet wurde, um zugunsten der Familie und vor allem der Nachkommen zu sparen und zu investieren, tritt nun ein Typ des Geschäftsmannes im Sinne einer anderen Art des homo oeconomicus hervor, der nicht mehr vom Familienmotiv geleitet wird und sogar in eine Anti-Spar-Gesinnung hineingerät. Zu den folgenreichsten Eigentümlichkeiten der späteren Stadien der kapitalistischen Zivilisation zählt die starke Ausdehnung des Erziehungsapparates und insbesondere der höheren Bildungsmöglichkeiten. Dadurch wächst eine zunehmend größer werdende Schicht von Intellektuellen heran, die - verstärkt durch unbefriedigende Beschäftigungsmöglichkeiten - den Kapitalismus moralisch ablehnen und infolge ihrer Feindseligkeit gegen die kapitalistische Ordnung die A r beiter politisch mobilisieren. Im Zuge des Konkurrenzkampfes bilden sich marktbeherrschende Großunternehmungen heraus, deren bürokratisierte Organisationsform die innovative U n ternehmerpersönlichkeit entwertet. An die Stelle von spontaner Kreativität, Phantasie, persönlichem Erfindungsreichtum und kämpferischer Initiative treten Planungsverfahren, exakte Statistiken über Marktgegebenheiten, ferner Marktanalysen und Verbrauchertests. Der Führende wird zu einem „ B ü r o a r b e i t e r " . Mit der Verdrängung der Unternehmerpersönlichkeit durch den bürokratischen Planer verschwindet auch die zentrale Säule der oberen Schichten der B o u r geoisie, die bislang die kapitalistische Ordnung der Gesellschaft getragen haben. In Verbindung mit dem Abbau überkommener Traditionen und mit der Auflösung der bürgerlichen Familie sind dadurch jene sozialen Schichten dem Verfall ausgeliefert. Nach Schumpeter wirken die verschiedenen Veränderungsfaktoren auf die Entstehung einer sozialistischen Zivilisation hin. Insbesondere die staatliche Planwirtschaft ist nur „ein Schritt über die Großunternehmung hinaus". Überdies ist der Sozialismus aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge autoritärer Disziplin das einzige Mittel, um die soziale Disziplin wieder herzustellen. D e n noch war für Schumpeter der Sozialismus mit einer demokratischen Staatsform vereinbar. Die „demokratische Methode" definierte er als „diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes e r w e r b e n " (a.a.O., S . 4 2 8 ) . In der Folgezeit - bis hin zur Gegenwart - hat der Trend zum Großunternehmen tatsächlich angehalten, ist die Staatsquote am Sozialprodukt in vielen kapitalistischen Ländern erheblich gestiegen, sind soziale Wandlungsprozesse tendenziell in der von Schumpeter vorgezcichnctcn Richtung abgelaufen. Andererseits ist aber der Kapitalismus nicht in sich zusammengebrochen. E r hat sich vielmehr im Zusammenhang mit der Bewältigung zahlreicher Krisen und Probleme immer wieder als ein dynamisches sozioökonomisches System mit hoher Anpassungsund Entwicklungskapazität erhalten können. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht ist der Vorsprung der kapitalistischen gegenüber den staatssozialistischen Ländern größer geworden. Es sind sogar bewußt vorangetriebene Gegentendenzen zu erkennen: Großunternehmungen versuchen durch entsprechende organisatorische Maßnahmen (Dezentralisierung) und Führungsstile Kreativität, Innovatio-
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nen und Flexibilität zu fördern. In etlichen westlichen Industrieländern wird eine Senkung der Staatsquote angestrebt. In Wiederentdeckung des von Schumpeter herausgestellten innovativen U n t e r n e h m e r s werden zur Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung die Bedingungen für risikofreudiges U n t e r n e h m e r t u m verbessert. Auch durch Erfinder und Konstrukteure ist es wieder zur verstärkten G r ü n d u n g von U n t e r n e h m u n g e n gekommen. Auf der Grundlage wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Forschungen analysierte der englische Wirtschaftshistoriker und Soziologe Richard Henry Tawney (1880—1961) die kapitalistische Gesellschaft, insbesondere die Entstehung des Kapitalismus, die Klassenstruktur, die Ungleichheit des Eigentums und der C h a n cen. Nach seiner Auffassung hat Max W e b e r den Einfluß des calvinistischen Protestantismus auf den Frühkapitalismus überschätzt. Die Entstehung des Kapitalismus resultiert weitgehend daraus, daß im wirtschaftlichen Bereich Religiosität dem ökonomisch geprägten D e n k e n (Herrschaft des Prinzips der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit) weichen mußte. In der kapitalistischen „Erwerbsgesellschaft" begünstigen individuelles Recht und formelle Freiheit die ungerechte Verteilung des Privateigentums. D e m g e g e n ü b e r soll in einer „funktionalen Gesellschaft" die Belohnung individueller Leistungen davon abhängen, inwieweit sie zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen beitragen. John Maynard Keynes ( 1 8 8 3 - 1 9 4 6 ) , der mit seinem H a u p t w e r k „ G e n e r a l Theory of Employment, Interest and M o n e y " (1936, deutsche Ausgabe: „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des G e l d e s " , 5. Aufl., Berlin 1974) die Wirtschaftstheorie und -politik grundlegend beeinflußt hat, war in erster Linie Nationalökonom. Sein Werk beinhaltet aber auch eine wirtschaftssoziologische Dimension: U n t e r dem Eindruck der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg rückte er von der zentralen Auffassung der Klassiker der Wirtschaftstheorie ab, wonach sich das wirtschaftliche Geschehen immer wieder durch die Funktionsweise des Marktmechanismus selbstregulierend in ein Gleichgewicht bringe. Im Gegensatz zu diesem damals lebenspraktisch-politisch gescheiterten Vorstellungsbild von einem a u t o n o m und selbstregulativ funktionierenden System der Wirtschaft gelangte Keynes zu der Einsicht, daß der M a r k t m e chanismus durch eine aktive staatliche Steuerung wichtiger Wirtschaftsprozesse ergänzt werden muß. W e n n die Investitionen der U n t e r n e h m e r nicht ausreichen, um die Vollbeschäftigung herzustellen, dann m u ß der Staat durch geeignete Interventionen bzw. Eingriffe dafür sorgen, d a ß die Nachfragelücke geschlossen und Vollbeschäftigung erreicht wird. Geeignet sind M a ß n a h m e n staatlicher Finanzpolitik: V e r ä n d e r u n g von Steuersätzen, Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten f ü r unternehmerische Investitionen, ferner Subventionen. D a r ü b e r hinaus sollte der Staat zur A b w e n d u n g einer Beschäftigungskrise selbst Kredite a u f n e h men („deficit spending"), als Investor auftreten und zur Wirtschaftsbelebung A u f t r ä g e vergeben, z.B. für den Bau von Verkehrsanlagen u n d Bildungseinrichtungen. W e n n dann im folgenden Wirtschaftsaufschwung die Steuereinnahmen wieder wachsen, soll der Staat die Kredite zurückzahlen. Beachtenswert ist ferner, d a ß Keynes im Gegensatz zu rein ökonomischen V e r haltensmodellen soziologisch-sozialpsychologisch b e d e u t s a m e Prozesse berücksichtigte. So hat er eingesehen, d a ß die f ü r die Nachfrage und Beschäftigungslage wichtige Konsumneigung in starkem M a ß e von gesellschaftlich bestimmten W e r t -
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haltungen, Freizeitstilen und Zukunftserwartungen der Verbraucher getragen wird. D e r industrie- und betriebssoziologische Zweig innerhalb der Wirtschaftssoziologie e r f u h r vor allem durch den Psychologen und N a t i o n a l ö k o n o m e n Elton Mayo ( 1880—1949) einen entscheidenden Aufschwung. Im R a h m e n seiner empirischen Untersuchungen des Z u s a m m e n h a n g e s zwischen Arbeitsbedingungen und Arbeitsleistungen, die er zusammen mit F. Roethlisberger und W. Dickson von 1 9 2 7 - 1 9 3 2 in den H a w t h o r n e - W e r k e n der General Electric C o m p a n y in Chicago d u r c h f ü h r t e , wurde er zum Entdecker der informalen G r u p p e n s t r u k t u r des Industriebetriebes. Mit dem Nachweis der weitgehend gruppenbestimmten A r beitsleistung des einzelnen widerlegte er die „ H e r d e n h y p o t h e s e " („rabble hypothesis"), nach der der A r b e i t e r ein bloß materiell-egoistisch motiviertes Individuum sei. E. Mayo wurde zugleich zum Mitbegründer der Human-relations-Bewegung. In Deutschland ist d e r Aufstieg der Industrie- und Betriebssoziologie vor allem durch den Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Götz Briefs ( 1 8 8 9 - 1 9 7 4 ) vorangetrieben worden. Er beschäftigte sich mit der geschichtlichen Entwicklung der hierarchischen Betriebsstruktur, mit der Herausarbeitung einer historisch-soziologischen Typologie industrieller Führungsformen („patriarchalische", „wirtschaftsindividualistische" und „quasi-militärische A u t o r i t ä t " ) sowie mit dem Problem der „ F r e m d b e s t i m m u n g " des Arbeiters im Industriebetrieb. E r hatte wesentlichen Anteil an der 1928 erfolgten G r ü n d u n g des „Instituts f ü r Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre" an der Technischen Hochschule Berlin. Z u den großen Pionieren der Arbeits- und Industriesoziologie zählt auch der französische Sozialwissenschaftler Georges Friedmann ( 1 9 0 2 - 1 9 7 7 ) . Auf empirisch-multidisziplinärer Grundlage und zugleich mit philosophischer Orientierung hat er sich schwerpunktartig mit den menschlichen, psychologisch-physiologisch bedeutsamen Problemen der industriellen Arbeit auseinandergesetzt. Nach seiner Auffassung verlangt die Bewältigung dieser Probleme nicht nur eine V e r ä n d e r u n g der Betriebsorganisation, sondern auch der umfassenden Gesellschaftsstruktur. Ein großer Pionier der soziologischen Konsumforschung ist der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877—1945) gewesen. Auf der Grundlage von Statistiken und zugleich mit sozialpsychologischer Orientierung untersuchte er die Hierarchie der Bedürfnisse und der Ausgaben in Arbeiterhaushalten (Budgetforschung). Dabei stellte er fest, daß Konsumausgaben in starkem M a ß e von sozialen Faktoren, vor allem von Klassenverhältnissen abhängen. So geben z.B. Arbeiter im Durchschnitt weniger für die Wohnung aus als Beamte und Angestellte mit gleichem E i n k o m m e n . Z u v o r hatte schon der französische Sozialreformer Frédéric Le Play (1806—1882) streng empirisch, unter A n w e n d u n g statistisch-induktiver Methoden die Lebensverhältnisse einzelner Arbeiterfamilien in mehreren europäischen L ä n d e r n monographisch untersucht und dargestellt. Die Entfaltung einer breit angelegten Wirtschaftssoziologie ist auch durch ethnosoziologische Forschung bereichert worden, die sehr eng mit der Kultur- bzw. Sozialanthropologie und Ethnologie zusammenhängt. G r o ß e s Gewicht hat der österreichisch-deutsche Ethnologe und Soziologe Richard Thurnwald ( 1 8 6 9 - 1 9 5 4 ) , der vor allem im pazifischen R a u m und in Afrika
Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
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ethnologische Feldforschung durchgeführt hatte, dem Lebensbereich der Wirtschaft beigemessen. So hat er im R a h m e n seines fünfbändigen Hauptwerkes „ D i e menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen G r u n d l a g e n " (Berlin und Leipzig 1 9 3 1 - 1 9 3 5 ) den dritten Band allein dem Titel „ W e r d e n , Wandel und G e staltung der Wirtschaft im Lichte der Völkerforschung" (1932) gewidmet. U n t e r Verarbeitung eines umfangreichen ethnologischen und auch historischen Datenmaterials konnte Thurnwald die mannigfaltigen Ausprägungen der Wirtschaft und speziell der Wirtschaftsfunktionen (Handwerk, Handel, Verkehr, Verteilungsmacht der Wirtschaft u.a.) in verschiedenen älteren und sogenannten „primitiven" Kulturen aufweisen. Vor diesem Hintergrund ethnologischer Forschung zeigt sich erst, wie relativ die Wirtschaft und das wirtschaftliche Handeln in der m o d e r n e n Industriegesellschaft sind. Es offenbart sich zugleich, wie einseitig eingeengt auch jene theoretischen Verallgemeinerungen sind, die sich nur auf die Wirtschaft der modernen Industriegesellschaft beziehen, aber allgemeine Geltung beanspruchen. Thurnwald r ä u m t e ein, „ d a ß auch ein Mensch unter den Naturvölkern in erster Linie seinen Vorteil erstrebt — allerdings auf seine Weise". Er warnte aber davor, die „Bedürfnisse" sowie das „heutige rationalistische, wirtschaftlich-berechnende und zielbewußte D e n k e n " der „Mitglieder der modernen europäo-amerikanischen Kulturfamilie . . . in naiver Weise" den „Naturvölkern oder prähistorischen Primitiven" unterzuschieben (a.a.O., S. 113). Der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss ( 1 8 7 2 - 1 9 5 0 ) hat den Tausch als zentrale Dimension des sozialen Z u s a m m e n l e b e n s der Menschen hervorgehoben. Der Tausch bzw. das Austauschverhältnis beruht wiederum auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. In gewissen „primitiven" Gesellschaften wird das Z u s a m m e n l e b e n von drei Verpflichtungen beherrscht: dem Schenken, E m p f a n gen und Zurückgeben. Der polnisch-englische Kulturanthropologe Bronislaw Malinowski (1884—1942) ging in seinem theoretischen Ansatz des Funktionalismus von den Bedürfnissen des Menschen aus, wobei er zwischen Grundbedürfnissen (basic needs) und abgeleiteten Bedürfnissen (derived necds) unterschied. Die Kultur — zu der auch die Wirtschaft gehört — faßte er als einen „instrumenteilen A p p a r a t " auf, durch den der Mensch Probleme lösen und seine Bedürfnisse befriedigen kann. Die Institutionen einer Kultur sind dementsprechend mit den Bedürfnissen funktional verbunden, in vielen Fällen nur mit den abgeleiteten Bedürfnissen. Auch Malinowski k o n n t e aufgrund seiner Feldforschung die große Bedeutung des reziproken bzw. wechselseitigen Tausches in „primitiven" Kulturen bestätigen. Die an Moral, Sitten und Bräuche gebundenen reziproken Tauschprozesse festigen das Netz gegenseitiger Bindungen zwischen den Menschen, zwischen sozialen G r u p p e n und f ö r d e r n insgesamt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der aus Neuseeland s t a m m e n d e britische Ethnosoziologe und Kulturanthropologe Raymond William Firth (geb. 1901), ein Schüler von Malinowski, hat in seinen Feldforschungen im pazifischen R a u m und in seinen Veröffentlichungen die Wirtschaft verstärkt berücksichtigt. Dabei stellte er fest, d a ß in einzelnen „primitiven" Kulturen im R a h m e n von Austauschprozessen der Faktor der Zeit keine besondere Rolle spielt. Mitunter konnte eine längere Zeit vergehen, e h e ein Tauschvorgang durch Erbringung einer gleichwertigen Gegenleistung abgeschlossen wurde, d.h. ohne „ Z a h l u n g " eines „Zinses". In anderen Kulturen hingegen war bereits die Dimension der Zeit in das Tauschsystem integriert. Lag zwi-
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Teil I: Geschichte der Wirtschaftssoziologie
sehen Geben und Erwiderung (Gegenleistung) eine gewisse Zeit, dann mußte zugleich eine Art Zins entrichtet werden - in manchen Kulturen sogar schon gestaffelt, je nach der Länge der inzwischen verflossenen Zeit. Die Herausbildung der Wirtschaftssoziologie erlangte auf einem anspruchsvollen theoretischen Niveau einen Höhepunkt mit dem Buch „Economy and Society" (London 1956) von Talcott Parsons ( 1 9 0 2 - 1 9 7 9 ) und Neil J. Smelser (geb. 1930). Diese Studie widmeten sie Max Weber und dem englischen Ö k o n o m e n Alfred Marshall ( 1 8 4 2 - 1 9 2 4 ) , weil deren Werk bei zusammenfassender Betrachtung ein hohes Maß an Annäherung von Soziologie und Wirtschaftswissenschaft zum Ausdruck brachte. Besonders hervorgehoben wurde auch V. Pareto, der durch die Ü b e r n a h m e der Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts von dem französisch-schweizerischen Volkswirtschaftler Marie Esprit Léon Walras ( 1 8 3 4 - 1 9 1 9 ) zur Fundierung einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme beigetragen hatte. Nachdem sich in der Zeit nach dem Wirken jener großen synthetischen Geister die Wirtschaftswissenschaften einerseits und die Soziologie andererseits immer mehr auseinanderentwickelt hatten, wollten nun Parsons und Smelser den Versuch einer Wiederannäherung unternehmen. Dabei gingen sie von der Zielsetzung aus, die ökonomische Theorie mit der innerhalb der Soziologie entfalteten allgemeinen Theorie sozialer Systeme zu verknüpfen und eine Integration dieser beiden sozialwissenschaftlichen Theoriezweige zu erreichen. Dieses Bestreben stützten sie mit der Hauptthese ab, daß die ökonomische Theorie im logischen Sinne als ein spezieller Fall der allgemeinen Theorie sozialer Systeme behandelt werden kann. Für diese Hauptthese ist wiederum grundlegend, daß die Wirtschaft selber als ein soziales System angesehen werden kann. Bei umfassender Betrachtung stellt sich die Wirtschaft als ein Subsystem der Gesellschaft dar, und zwar als ein solches, das vorrangig der Anpassungsfunktion (adaptation, adaptive funetion) der Gesellschaft als einer Ganzheit zu dienen hat. G e r a d e in der modernen Gesellschaft bildet die Wirtschaft jenes Subsystem, das auf die Anpassungsfunktion der Gesellschaft spezialisiert ist. Die Anpassungsfunktion beinhaltet als eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Überleben der Gesellschaft die gestaltende Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt, die Gewinnung und den Einsatz von Ressourcen zur Herstellung von Gütern sowie zur Bereitstellung von Dienstleistungen, ausgerichtet auf die Befriedigung großenteils soziokulturell bestimmter Bedürfnisse und Wünsche des Menschen.
Teil II Wirtschaft und praktische Sozialforschung
Soziologie im Unternehmen, genauer gesagt: Wirtschaftssoziologie als Hilfsmittel der Unternehmensführung, noch genauer: Methoden der praktischen Sozialforschung zur Unterstützung unternehmerischer und innerbetrieblicher Entscheidungen - i s t dies schon selbstverständlicher Betriebsalltag oder auch am Ende der 80er Jahre noch Utopie? Der folgende Beitrag wird diese Frage nicht schlüssig beantworten können. Er will jedoch an praktischen Beispielen zeigen, wie und wo soziologische Untersuchungsmethoden und vielleicht auch soziologische Denkkategorien als betriebliche Abläufe und Entscheidungen mitbestimmende Faktoren Eingang gefunden haben in Bereichen, die ansonsten von technischen Überlegungen und wirtschaftlichem Kalkül beherrscht werden. Die Darstellungen werden sich in drei Abschnitte gliedern und dabei drei qualitativ unterschiedliche Aspekte behandeln: 1. Soziologische Entwicklungen als Entscheidungsgrößen unternehmerischer Überlegungen. 2. Soziologische Erkenntnisse als Maßstab personeller Planungen. 3. Soziologische Methoden im unmittelbaren Einsatz zur Gewinnung von Daten und Erkenntnissen für innerbetriebliche Entscheidungen.
1. Wirtschaftssoziologie und Unternehmensführung Drei Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland haben einen unmittelbaren Einfluß auf die Produktions- und damit die Investitionsmöglichkeiten von Handel und Industrie: 1. Die Veränderung der Alterspyramide infolge des Geburtenrückgangs; 2. die Strukturveränderungen aufgrund veränderter Produktionsbedingungen infolge des Einflusses der Mikroelektronik; 3. Bewußtseinsänderungen infolge anderer Einstellung zu Lebensbedingungen und Umwelt. Die Veränderungen der Alterspyramide wurden in ihren Auswirkungen später erkannt, als man dies rückblickend für möglich hält: Der Bau von Kindergärten
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
und Schulen, Hochschulen, Hallenbädern und Krankenhäusern wurde vergleichsweise spät, zu spät den veränderten quantitativen Anforderungen angepaßt. Auch die Industrie sah die voraussehbare Entwicklung in einem bemerkenswerten Zeitverzug: Die kalte Dusche „Zu wenig Ausbildungsplätze - Zu wenig Auszubildende" wird konsequent zur Eisbrause „Frühpensionierung — Zu wenig qualifizierte Mitarbeiter" führen. Die Konsumgüterindustrie hat sich unter dem Druck des veränderten Marktes schneller, aber auch unterschiedlich schnell angepaßt. Drei Beispiele: Von der Babynahrung zur Diätkost für Ubergewichtige = Hipp. Vom Schulbuch zur Fachzeitschrift für Studenten und Weiterbildung = Klett. Von der Federnuhr zur Quarzuhr, vom traditionellen Uhrenbau zur computerisierten Zeitmessung und zur Textverarbeitung =Kienzle. Marketing heißt zwar der Schlüssel zur richtigen Produktionsentscheidung. Soziologische Entwicklungen sind jedoch zumeist der vielfach langfristig zu erkennende Hintergrund. Und nun wie versprochen das erste praktische Beispiel aus der Industrie:
2. Praktische Sozialforschung und Personalplanung Von 1964 an ist die Gesamtbeschäftigtenzahl in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie rückläufig. Sie wurde bis heute mehr als halbiert. Während 1964 noch stolze 4 2 0 0 0 0 Stahlarbeiter und -angestellte an Rhein und Ruhr, Weser und Saar, Lenne und Donau tätig waren, sind es heute noch gerade 200000. Die Stahlkrise hatte vielfache Auswirkungen: Die großen Stahlunternehmen fusionierten, die kleinen verschwanden. Der Konzentrationsprozeß ließ die verbleibenden Anlagen gigantisch wachsen. Der „Gestelldurchmesser" der Hochöfen verdoppelte und verdreifachte sich. Die Konverter der Stahlwerke wurden größer und ließen den Stahl in Minuten kochen, während vorher in Stunden gerechnet wurde. Die Walzwerke wurden schneller und breiter. Das kontinuierliche Stranggießen wurde selbstverständlich und ließ die berühmten Kokillen außer Dienst treten. Die Steuerstände sind mit High-Tech und Bildschirmen vollgestopft. Das jüngste Kind: Die Conti-Durchlaufglühe in Dortmund scheint aus einer Computerzeitschrift zu stammen. Diese Entwicklung spiegelte sich in ständigem Auf und Ab in den Medien mit anderen Vorzeichen und Redewendungen: Stahlkrise, Subventionsstopp, Stillegung, Arbeitslosigkeit, Einstellungsstopp, Frühpensionierung, Sozialplan... Kein Wunder: Ingenieurstudenten bewarben sich bis zu 40 und 50 mal vergebens um einen Anfangsjob. Aus nichts kommt nichts. Hütteningenieur — ein chancenloser Beruf. Wer wollte schon das Schicksal arbeitsloser Pädagogen teilen?! Oder arbeitsloser Soziologen? Letztere waren hier gefragt! Was vordergründig wie ein Ingenieurkiller aussah, war in Wirklichkeit die Chance des Ingenieurs. Mehr noch: Es war die widersprüchliche Tatsache, daß Konzentration, größere und teurere Aggregate, höhere Technik, bessere Werkstoffe, kleinere Bedienungsmannschaften, größere Automatisierung nicht weniger, sondern mehr Ingenieure notwendig machen.
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
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Erste Untersuchungen ließen aufhorchen: Die Altersstruktur der Ingenieure eines Stahlunternehmens an der Saar wurde ermittelt und per Computer hochgerechnet. Die Stahlindustrie folgte dem Einzelbeispiel durch eine Gemeinschaftsuntersuchung. Das Ergebnis zeigen die nachstehenden Schaubilder:* Im Vergleich zur Altersstruktur der Beschäftigten insgesamt entwickelt sich die der Ingenieure mit einer bedrohlichen Wellenentwicklung in den höheren Altersgruppen. Nebeneffekt: Man stellte verblüfft fest, daß sich in 25 Jahren zwar die Beschäftigtenzahl halbiert hatte, nicht aber die Zahl der Ingenieure. Sie war mehr oder weniger bei 7000 stehengeblieben und wird nach Einschätzung der Werke aufgrund des Zwangs zu weiterer Rationalisierung, zur verstärkten Suche nach neuen, noch besseren Stahlqualitäten und zur Sicherstellung kontinuierlichen, störungsfreien Betriebes teurer Großaggregate eher noch zu- als abnehmen. Die aus heutiger Sicht unsinnigen Einstellungsstopps und die Krisenmeldungen als Ingenieurverpreller haben jedoch eine Altersstruktur entstehen lassen, die 1995 einen Fehlbestand von 2000 Ingenieuren und einen Verteilungskampf mit anderen Industrien prognostizieren läßt. Ein Umdenken hat inzwischen eingesetzt: Kontinuierliche Einstellungspraxis, Traineeprogramme, gezielte Studienförderung, flächendeckende Berufsinformation sollen helfen (Bilder 1, 2 und 3). Aber was wichtiger ist für unser Thema: Es wurden Untersuchungen in Gang gesetzt über a) Berufswahl und Studienförderung b) Anforderungen an Fach- und Führungskräfte c) Qualifizierter und quantifizierter Ingenieurnachwuchs.
o o o
400
300
200
100
1960
1988
Bild 1: Beschäftigte in der Eisen- und Stahlindustrie. Bei r ü c k g e h e n d e r Beschäftigtenzahl bleibt der Ingenieurbestand absolut gleich und nimmt relativ zu. * Vgl. Literaturhinweise 1, 3, 8, 12, 13 und 15.
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung 25
bis 3 0
31-35
36-40
41-45
46-50
51-55
56-60
61-65
Jahre
Bild 2: Altersstruktur aller Ingenieure in der Stahlindustrie. In drei untersuchten Jahren verschiebt sich die Altersstruktur wellenförmig nach rechts.
Ingenieure, deren Studienfach noch unbekannt ist
1500
1000
P l i i
V / / / A Ingenieure des Hüttenwesens (noch Studenten)
Ingenieure, die schon heute in der Stahlindustrie tätig sind
K \ Y 1 notwendige Neueinstellungen mit Berufserfahrung
500
I bis 3 0
31-35
36-40
41-45
46-50
51-55
56-60
61-65
Jahre
Bild 3: Ingenieure in der Stahlindustrie in 10 Jahren. In zehn Jahren werden auch bei günstiger Studienanfängerzahlentwicklung 2000 Ingenieure in der deutschen Stahlindustrie fehlen.
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
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Methoden der praktischen Sozialforschung wurden eingesetzt: Befragung, Beobachtung, Semantiktest. Mit Mitteln der Soziologie und der Sozialpsychologie wurden Daten gesammelt für personelle Entscheidungen in den Unternehmen und die Veränderung und Weiterentwicklung der Lehre an den Hochschulen. Hierfür nun einige konkrete Beispiele: a) Zu Berufswahl und Studienförderung: Gezielte Berufsinformation, d.h. die Unterrichtung über Chancen, Möglichkeiten und Wege eines Studienganges, ist nur dann sinnvoll und effektiv, wenn man die Zielgruppe richtig eingrenzen kann. In einer wissenschaftlichen Untersuchung wurde durch Befragung einer repräsentativen Stichprobe von Ingenieur- und Naturwissenschaftsstudenten mehrerer einschlägiger Hochschulen durch schriftliche Befragung ermittelt, wie die Studien- und Berufsentscheidung zustandegekommen ist, welche Informationsquellen den Ausschlag geben und ob und wie die Möglichkeiten der Studienförderung die Studienentscheidung beeinflussen können. Auch die Frage des Berufsprestiges wurde untersucht, und zwar durch vergleichende Betrachtung der Einschätzung durch Sekundärinformation und der Studierenden selbst. D.h.: Die vorliegenden Ergebnisse einer Berufsprestigeumfrage wurden der von Studenten aufgestellten Berufsprestigeskala gegenübergestellt, um auf diese Weise den zumeist unterschwelligen Einfluß der Berufseinschätzung durch die Medien aufzudecken. Dabei ergaben sich signifikante Unterschiede in der Betrachtung von Berufen zwischen Journalisten und Studenten, die Ingenieurwissenschaften studierten oder ein naturwissenschaftliches Studium gewählt haben. b) Anforderungen an Fach- und Führungskräfte: Studieninhalte sollen kein Zufall sein. D a ß sie gelegentlich die speziellen Forschungsgebiete des jeweiligen Lehrstuhlinhabers widerspiegeln, ist kein Widerspruch in einem Universitätskonstrukt, das Forschung und Lehre vereinigt. Dennoch läßt es sich nicht ausschließen, daß Anforderungen der Praxis und Studienplan auseinanderdriften, vor allem dann, wenn sich Entwicklungen der Praxis rasanter vollziehen, als der Wissensübergang zwischen Praxis und Lehre erfolgt, was zweifellos im Bereich der Technik häufiger geschieht. Nicht von ungefähr sind hier Kontaktstudien im Bereich der Weiterbildung entstanden, die von Praktikern ebenso als Informationsquelle geschätzt werden wie von Wissenschaftlern, die hier häufig wechselseitig referieren und diskutieren. Auch sogenannte Dozentenseminare, wie sie z.B. V D E h und V D E alljährlich veranstalten mit Industriebesichtigungen und Vorträgen der Praktiker bzw. der Mitarbeiter aus industriellen Forschungsinstituten, helfen eine Lücke zu schließen, die Fachliteratur und Fachtagungen aufgrund ihres häufig zu breit angelegten Wissensspektrums offenlassen. Dennoch: eine gezielte Ausrichtung der Lehr- und Studienpläne auf die A n f o r derungen der Praxis ist damit schwerlich optimal zu erreichen. Dies hat auch die Stahlindustrie erkannt und nun schon zweimal im Verlauf von 10 Jahren zwei großangelegte wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, die die A n f o r d e rungen der Praxis detailliert erfassen, häufig erst sichtbar machen konnten. Ziel dieser Untersuchungen: Welche Aufgaben sind in der Praxis zu erfüllen, welche Kenntnisse sind dafür erforderlich, woher stammen diese Kenntnisse und wo sollten sie vermittelt werden? Eine Befragung allein schien nicht ausreichend, um genaue, zuverlässige Aufschlüsse zu erhalten. Es wurde daher eine zweistufige Untersuchungsanlage gewählt. Eine repräsentative Zahl von Ingenieuren und Na-
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
turwissenschaftlern wurde aufgefordert, an einem über einen Zeitraum von drei Monaten zufällig gestreuten Tag möglichst exakt festzuhalten, welche Aufgaben im Ablauf des betreffenden Tages zu erfüllen waren, wie diese erfüllt wurden, welche Kenntnisse erforderlich waren und woher diese Kenntnisse stammten. Derselbe Personenkreis wurde dann in einer zweiten Stufe in Gruppen zusammengefaßt in schriftlicher Befragung mit standardisiertem Fragebogen und unter Aufsicht eines „Moderators" aufgefordert, nunmehr zu einer Reihe von Fragen zu eigener Ausbildung, zum tatsächlichen und empfohlenen Lernort (Studium, Berufserfahrung, Weiterbildung), zum Studieninhalt sowie zu den tatsächlichen und empfohlenen Wissensanteilen Stellung zu nehmen. Aus dem Doppelbild Selbstbeobachtung und Befragung ergab sich ein interessantes Mosaik der tatsächlichen Anforderungen an das fachliche, überfachliche und außerfachliche Wissen, das technische Führungskräfte in der Industrie vorzuhalten haben. Eine ähnliche Erhebung wurde in Form von Diplomarbeiten in Österreich mit vergleichbaren Ergebnissen durchgeführt. Wichtig: Die so dokumentierten Erkenntnisse haben tatsächlich die Studienplangestaltung nachhaltig beeinflußt. c) Qualifizierter und quantifizierter Ingenieurnachwuchs: Zehn Jahre später, nämlich 1985, wurde eine weitere Untersuchung, diesmal auf den Erkenntnissen der ersten Untersuchung aufbauend, mit neuen Überlegungen und zusätzlichen Varianten durchgeführt, die sich aus vier bzw. fünf Teilen zusammensetzte: 1. Schriftliche Befragung einer repräsentativen Stichprobe der persönlichen Mitglieder des V D E h 2. Schriftliche Befragung der sogenannten „Chefebene" der Hüttenwerke, d.h. Hochofenchefs, Stahlwerkchefs usw., und zwar namentlich unter Einschaltung der jeweiligen Vorstände 3. Schriftliche Befragung von „Experten", genauer gesagt, der Vorstände der Werke 4. Statistische Erhebung über den Bestand an Fach- und Führungskräften in den Werken der Eisen- und Stahlindustrie 5. Zusätzliche Erhebung in kleiner Stichprobe zu einer Spezialfrage (Fachliteratur). Die Erhebungen 1 bis 4 wurden von der Eisenhütte Österreich parallel und weitgehend gleichlautend durchgeführt. Abgesehen von der beabsichtigten und nach 10 Jahren sicher auch notwendigen „Fortschreibung" der ersten Untersuchung aus dem Jahre 1975/76 verfolgte die neue Untersuchung in allen Teilen einige zusätzliche Absichten: 1. Wie sehen typische Karriereverläufe aus und wodurch werden sie beeinflußt? 2. Inwieweit stimmt die Einschätzung der eigenen Anforderungen und der dafür benötigten Kenntnisse mit der Beurteilung durch die jeweiligen Vorgesetzten überein? 3. Wie wird die zukünftige Entwicklung sowohl im Hinblick auf die verschiedenen Verantwortungsbereiche wie auch bezüglich der erforderlichen Ingenieurqualifikation gesehen? 4. Wird der Altersstruktur-Entwicklung durch gezielte Personaleinstellungen entgegengewirkt? 5. Wird Weiterbildung durch Fachliteratur ergänzt oder ersetzt?
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T e i l II: W i r t s c h a f t u n d p r a k t i s c h e S o z i a l f o r s c h u n g
Als soziologische Hilfsmittel wurden eingesetzt: Standardisierter Fragebogen, Karteistichprobe, semantisches Differential. Beispiele aus den Untersuchungsergebnissen sollen zeigen, welche Aussagen möglich sind und in welchem Umfang soziologische Untersuchungen unmittelbar für die Praxis verwertbare Daten erbringen (Bilder 4 und 5). 50
Mathematik und Naturwissenschaften
Ingenieurwissenschaften
Nichttechnisches Wissen
40 -
30
20
10
6
5
4
3
2
1
6
5
4
3
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1
6
5
4
3
2
1
Hierarchische Ebene Bild 4: M i t t l e r e A n t e i l e d e r f ü r e r f o r d e r l i c h g e h a l t e n e n K e n n t n i s s e in d e n v e r s c h i e d e n e n E b e n e n 1985. Im U n t e r s c h i e d z u m J a h r e 1975 v e r l a n g e n a u c h die B e r u f s a n f ä n g e r m e h r nichttechnisches Wissen. Stichwort: Betriebliche Führungslehre.
3. Urteile und Entscheidungen im Betrieb auf der Grundlage praktischer Methoden der Soziologie Während die voraufgehenden Abschnitte Entscheidungen im Gesamtunternehmen vor dem Hintergrund soziologischer Untersuchungen gezeigt haben, treten wir nun ein in einen Bereich, der im Grenzgebiet zwischen Soziologie und Sozialpsychologie liegt. Wir werden an Beispielen zeigen, wie der Einsatz von Arbeitsgruppen verbessert und die Beurteilung von Mitarbeitern objektiviert werden können.* Vier Situationen im betrieblichen Alltag eines Vorgesetzten machen die Abgabe eines Urteils über Mitarbeiter unverzichtbar: bei der Einstellung, beim Einsatz, bei der Entwicklung und bei der Entlassung. Diese vier „ E " lassen sich sicherlich noch um weitere „Kann-Situationen" ergänzen; mir scheint jedoch, daß sie in ihrer Unverzichtbarkeit Monopolisten sind: Ohne ein Urteil über Kenntnisse und * vgl. Literaturhinweise 4, 5, 6, 7, 9, 10, und 11.
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
unwichtig
wichtig
naturwissenschaftliche/ technische Grundlagen beherrschen das Lernen gelernt haben Flexibilität für sich wandelnde Berufsfelder breit gefächerte Ausbildung praxisnahe Ausbildung zwei Fremdsprachen sprechen Grundlagenwissen von Management und Organisation Wirtschaftswissenschaftliches Aufbaustudium Spezialisierte Ausbildung Promotion Auslandserfahrung
Bild 5 : Einschätzung durch die C h e f e b e n e : A n f o r d e r u n g s p r o f i l an junge Ingenieure. Die C h e f e b e n e stellt bestimmte A n f o r d e r u n g e n an junge Ingenieure. Sie v e r k e n n t die B e d e u t u n g von wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen, P r o m o t i o n und Auslandserfahrung.
Fähigkeiten unter Berücksichtigung der Arbeitsplatzanforderungen wird sicherlich niemand neu eingestellt. Ohne ein Urteil über die Fähigkeit, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, wird niemand eingesetzt. Ohne Beurteilung der Leistung und des Leistungsvermögens wird niemand weiterentwickelt —sowohl bezüglich Fortbildung als auch Gehaltserhöhung. Ohne eine Beurteilung wird niemand aus einer Tätigkeit entlassen. Verschiedene Tests, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden können, zeigen jedoch, daß in alle Personenbeurteilungen höchst subjektive Vorstellungen mit eingehen, die in beträchtlichem Umfang bewußt oder unbewußt von den beurteilten Personen in ihrem Verhalten aufgefangen und einkalkuliert werden. Ein Beispiel mag genügen: Wer sich als Abteilungsleiter in einem Industrieunternehmen bewirbt, wird sich anders kleiden und präsentieren als jemand, der sich um die Aufnahme in einem Judo-Club bemüht. Wer Mitglied eines Golfclubs werden will, „verkauft" sich anders als der Bewerber um die Stelle eines Maurerpoliers. Kann die Soziologie, können Methoden praktischer Sozialforschung hier Servicefunktionen erfüllen? Einige Beispiele aus der Praxis sollen hier die vielfältigen Möglichkeiten sichtbar machen und Wege weisen für die betriebliche Praxis: Im
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
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Z e n t r u m u n s e r e r B e t r a c h t u n g e n s t e h e n eine klassische u n d eine n e u e r e M e t h o d e , die in e i n e m dritten Schritt in ihrer W i r k s a m k e i t durch V e r k n ü p f u n g zu gegenseitiger I n t e r p r e t a t i o n s h i l f e noch e r h ö h t w e r d e n . D a s Soziogramm: In der klassischen F o r m b e r u h t d a s S o z i o g r a m m , die A u f z e i c h n u n g einer G r u p p e n s t r u k t u r , auf B e f r a g u n g : Mit w e m möchtest D u a m liebsten Zusammensein? Diese V o r g e h e n s w e i s e ist bei S t u d e n t e n zu T e s t z w e c k e n möglich u n d üblich, im betrieblichen A l l t a g selbst bei a b s o l u t e r Sicherstellung d e r A n o n y m i t ä t ausgeschlossen. In d e r F ü h r u n g s a k a d e m i e d e r B u n d e s w e h r in H a m b u r g u n d in der K i n d e r g ä r t n e r a u s b i l d u n g spielt das S o z i o g r a m m als Mittel d e r B e o b a c h t u n g g r u p p e n d y n a m i s c h e r Prozesse eine nicht unwichtige Rolle. A b e r auch ein K o m p a n i e c h e f o d e r eine K i n d e r g ä r t n e r i n k ö n n e n k a u m eine B e f r a g u n g mit o b e n g e n a n n t e r Fragestellung starten. Sie w e r d e n im allgemeinen auf B e o b a c h t u n g angewiesen sein. In e i n e m Paralleltest h a b e ich schon Vorjahren die Möglichkeit der A u f s t e l l u n g von S o z i o g r a m m e n a u f g r u n d n i c h t t e i l n e h m e n d e r B e o b a c h t u n g erfolgreich g e t e stet u n d eine G r u p p e n s t r u k t u r e i n s c h ä t z u n g d u r c h V o r g e s e t z t e auch bei d e r B u n d e s w e h r d u r c h g e f ü h r t . Die E r g e b n i s s e lassen f o l g e n d e allgemeine Schlußfolger u n g e n zu: 1. E i n Vergleich f o r m e l l e r und i n f o r m e l l e r V e r b i n d u n g e n in A r b e i t s g r u p p e n ist möglich. 2. A u f z e i c h n u n g e n von G r u p p e n s t r u k t u r e n d u r c h V o r g e s e t z t e sind treffsicher. 3. V e r ä n d e r u n g e n in d e r Zeit lassen sich verfolgen u n d d a d u r c h Stör- bzw. E i n flußfaktoren erkennen. 4. S c h l u ß f o l g e r u n g e n u n d E n t s c h e i d u n g e n a u f g r u n d von S o z i o g r a m m e n sind bei entsprechender Absicherung denkbar. In H o c h s c h u l ü b u n g e n getestet e r g e b e n sich im allgemeinen f o l g e n d e vier F r a gestellungen: 1. 2. 3. 4.
Mit w e m will m a n bevorzugt z u s a m m e n a r b e i t e n ? (1. bis 3. Stelle) W e r hat die besten F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n ? (1. und 2. Stelle) W e r genießt das g r ö ß t e V e r t r a u e n ? (1. bis 3. Stelle) Mit w e m m ö c h t e m a n a m wenigsten gern z u s a m m e n a r b e i t e n ? ( V ö l k e r b a l l e f f e k t ) (1. bis 3. Stelle)
D i e s e vier G e s i c h t s p u n k t e berücksichtigen jeweils einen a n d e r e n A s p e k t b e trieblicher Z u s a m m e n a r b e i t und lassen sich in ihrem E r g e b n i s mit d e m F i e d l e r schen K o n t i n g e n z m o d e l l d e r Schwierigkeit von F ü h r u n g s s i t u a t i o n e n in V e r b i n d u n g bringen. F o l g e n d e V a r i a n t e n sind d e n k b a r : a) B e l i e b t h e i t hoch - F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n hoch - V e r t r a u e n s r o l l e hoch - U n beliebtheit (als C h e c k zu 1) klein b) B e l i e b t h e i t hoch - F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n gering - V e r t r a u e n s r o l l e h o c h - U n b e l i e b t h e i t klein c) B e l i e b t h e i t hoch - F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n gering - V e r t r a u e n s r o l l e gering — U n b e l i e b t h e i t gering d ) B e l i e b t h e i t gering — F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n hoch - V e r t r a u e n s r o l l e gering — U n b e l i e b t h e i t hoch e) B e l i e b t h e i t gering - F ü h r u n g s e i g e n s c h a f t e n gering - V e r t r a u e n s r o l l e gering — U n b e l i e b t h e i t hoch
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
Selbstverständlich sind außer diesen Standardtypen auch andere Kombinationen denkbar, in der Praxis aber selten. Am ehesten ist noch das Mauerblümchen denkbar und auch anzutreffen: f) Beliebtheit gering - Führungseigenschaften gering - Vertrauensrolle gering Unbeliebtheit gering Die oben erwähnten drei Untersuchungen Betrieb — Kindergarten — Bundeswehr zeigen, daß derartige Bilder als Ergebnis von Beobachtungen möglich sind. Welche Schlußfolgerungen aber ziehen wir daraus? Das Soziogramm ist ein nicht nur als Modell brauchbares Erkenntnismittel für das Funktionieren der Arbeit einer Gruppe. Wir erinnern uns, daß die Voraussetzungen für erfolgreiche Gruppenarbeit Gemeinsames Ziel, Wille zur Zusammenarbeit, Kommunikation, Anerkennung gefundener Lösungen und als mögliche, aber nicht unverzichtbare Voraussetzung der gemeinsame Führer sind. Letzterer, also der Vorgesetzte wiederum, ist das Bindeglied zu den Kategorien der Schwierigkeit einer Führungssituation, wie sie Fiedler in vielen Erhebungsschritten feststellt und definiert: Beliebtheit des Vorgesetzten, Klarheit der Aufgabe und Durchsetzungsvermögen aufgrund entsprechender Positionsmacht = Autorität, die persönlich, aber auch fachlich begründet sein kann. Das Soziogramm als Mittel, die sich ständig verändernden Konstellationen in einem gruppendynamischen Prozeß festzuhalten, ist von mehr oder weniger nur quantitativer Aussagekraft. Warum bestimmte Wahlentscheidungen getroffen werden, sagt uns das Soziogramm-Instrument nicht. Aber gerade das, nämlich zu wissen, warum jemand als Mitarbeiter und Kollege geschätzt wird, warum ihm Führungseigenschaften zugeschrieben werden, warum man zu ihm Vertrauen hat oder warum er als Kollege abgelehnt und vielleicht als Vorgesetzter akzeptiert wird — wäre wertvoll für die Zusammenstellung und Leitung von Arbeitsgruppen. Das jedoch sagt uns das Soziogramm nicht. Ein seit dem Ende des sechsten Jahrzehnts bekanntes und in der Markt- und Meinungsforschung längst etabliertes Diagnose-Instrument kann uns hier weiterhelfen: Gemeint ist das semantische Differential bzw. Polaritätenprofil und der semantische Raum nach Osgood und Hofstätter. Diese auf Erkenntnissen der zwanziger Jahre aufbauende Methode basiert auf folgenden Überlegungen: 1. Wir denken in den Worten unserer Sprache. 2. Urteile geben wir in ganz einfachen, in ihrer Zahl begrenzten Eigenschaftsbegriffen ab. 3. Wir machen jeweils eine Skala zwischen gegensätzlichen Eigenschaftsbegriffen auf. 4. Wir verwenden eine Mehrzahl von Eigenschaftsskalen zur Definition eines Profils. 5. Das so unbewußt erstellte Profil bildet unsere Vorstellungen zu Begriffen, Sachen und Personen. 6. Diese so entwickelten Vorstellungen führen in bestimmten Grenzen voraussagbar zu Handlungen. 7. Handlungen sind auf solche Vorstellungen zu zurückzuführen. 8. Durch Analyse der Profile können wir auf die dahinterliegenden Vorstellungen schließen. 9. Der Aufbau der Profile ist damit nachvollziehbar. 10. Das bewußte und unbewußte Denken der Menschen ist zu entschlüsseln.
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
D a r a u s ergeben sich drei Möglichkeiten a) ich kann voraussagen welche Vorstellungen zu welchen Handlungen führen* b) ich bin in der Lage, Vorstellungen zu erzeugen und dadurch Handlungen auszulösen** c) ich kann Vorstellungen als Erklärungshintergrund für Handlungen und E n t scheidungen heranziehen*** Damit habe ich im G r u n d e den Kreis geschlossen: Mit Hilfe des Semantiktestes kann ich erklären, w a r u m im Soziogramm niedergelegte Einzelentscheidungen so und nicht anders getroffen worden sind. Bevor wir nun diese Verbindungskette an Beispielen darstellen und darüberhinaus den Semantiktest in seiner Wirkungsweise als Personenbeurteilungsinstrument an Beispielen der betrieblichen Praxis kennenlernen, hier eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise: In einem Schema von 24 Eigenschaftswortpaaren, die jeweils in einer Skala' von 7 Distanzpunkten erfaßt sind, wird ein Begriff, ein Gegenstand, eine Person rein gefühlsmäßig durch Einkreisen oder A n k r e u z e n in alle 24 Skalen eingeordnet. Die Verbindung der jeweiligen Skalenpunkte ergibt ein Profil für den Testbegriff und kann nun mit a n d e r e n Profilen hinsichtlich Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit verglichen werden. Die Korrelationsrechnung vermittelt uns d a f ü r genaue Vergleichswerte. Ähnlichkeiten zeigen uns, welche Vorstellungen unbewußt mit den jeweiligen Testbegriffen verbunden werden (Bild 6). Z u r Vereinfachung dieser Vergleiche wurde mit Hilfe der Faktorenanalyse ein Maßsystem entwickelt, das über zwei Grundprofile, die zueinander indifferent stehen und daher bei U m r e c h n u n g in Korrelationswerte als Abszisse ( F l ) und O r dinate (F2) in einem Koordinatensystem verwendet werden können, die Profile in K o o r d i n a t e n p u n k t e umwandelt. Aus Nähe und Ferne zu anderen Begriffen wird in diesem „Semantischen R a u m " der Schluß auf dahinterstehende gleiche oder ungleiche Vorstellungen gezogen. In diesem zweidimensionalen Feld werden vor allem bei nicht am R a n d e liegenden P u n k t e n a n d e r e Einflußgrößen (Dimensionen) bewußt vernachlässigt. Sehr genaue mathematische Untersuchungen 2 haben gezeigt, daß die zusätzlichen Informationen bei Berechnung weiterer Dimensionen immer u n b e d e u t e n der werden. Lediglich die dritte, aber schon schwer e r f a ß b a r e Dimension bringt vor allem f ü r sehr stark im Zentrum liegende Begriffspunkte wichtige Hinweise, die jedoch auch aus dem Z u s a m m e n h a n g der Situation und aus dem Fundus ermittelter Begriffspunkte durch vernünftige Interpretation herausgefunden werden können. U n t e r Verfolgung des Zieles einfacher H a n d h a b u n g wollen wir es bei dem zweidimensionalen semantischen „ R a u m " belassen, der aus einfachen m a t h e m a tischen G r ü n d e n als Begrenzung einen Kreisbogen haben muß, denn eine voll* Marktforschung. ** Werbung. *** Meinungsforschung. ' Es ist uns bekannt, daß die Bandbreiten der Skalen unterschiedlich sein können. Auf diese Problematik hat vor allem Scheuch hingewiesen (vgl. Literaturhinweis 14). 2 vgl. Literaturhinweis.
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
37
männlich/rational
ständige Identität eines dritten Profils mit zwei untereinander indifferenten Profilen kann es qua definitione nicht geben (Bilder 7 und 8). Das mag als Hinweis auf die Errechnung des Punktes im semantischen Raum genügen. Nun zur Verbindung von Soziogramm und Semantiktest. In mehreren Versuchsreihen wurden Studenten (RWTH Aachen, Montanuniversität Leoben, Fachhochschule Düsseldorf 1986), Volkshochschulhörer (VHS Meerbusch 1985) und Seminarteilnehmer von Führungsseminaren (VDEh-Weiterbildung 1986) aufgefordert, sowohl die eingangs erwähnten Fragen nach Zusammenarbeit, Führerrolle, Vertrauensrolle und Nicht-Zusammenarbeit (Antipathie) zu beantworten, als auch für die jeweils exponierten Personen (1. Wahl) das Polaritätenprofil zu erstellen. Dabei ergaben sich verblüffende Interpretationsmöglichkeiten sowohl für die wählenden und die gewählten Personen wie für den Durchschnitt in bestimmter Weise gleich eingeschätzter, also vom Typ her identischer Personengruppen. Einige Beispiele sollen dies nachstehend verdeutlichen.
38
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung Mehr negativ
Mehr pessimistisch
Mehr positiv
Mehr optimistisch
Bild 8: Vereinfachtes Schema des „Semantischen Raumes", nach J. Rink 3 .
Unser erstes Beispiel: Bei einem Test mit Hörern eines Volkshochschulkurses (VHS Meerbusch, 1985) wurden die Personen A bis K aufgefordert, diejenigen Mithörer anzugeben, mit denen sie gern zusammenarbeiten, und diejenigen, mit denen sie am wenigsten gern zusammenarbeiten. Für die Zusammenarbeit wird A viermal gewählt und im semantischen Raum in der Mitte des rechten oberen Segments eingeordnet. Der dreimal abgelehnte E (Nicht-Zusammenarbeit) wird dagegen links unten verortet. Gänzlich anders werden C und H gesehen. Beide werden zweimal gewählt, aber wie H auch zweimal abgelehnt. Im semantischen Raum finden wir eine Erklärung dafür. Wir sehen eine relativ klare Einordnung der stark gewählten bzw. abgelehnten Personen und eine große Spielbreite der Pesonen mit unterschiedlichen Anhänger- bzw. Gegnerschaften. Wie sieht das Ganze nun aus, wenn wir auch die Einordnungen nach Führerrolle und Vertrauensrolle mit ins Spiel bringen. Hierzu liegen die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen, z.T. mit großer Beteiligtenzahl vor. Ein eigens dafür entwik-
Teil II: Wirtschaft u n d p r a k t i s c h e Sozialforschung
FH D / S S 1986 Soziogramm: Nicht-Zusammenarbeit (20)
FH D / SS 1986 Soziogramm: Zusammenarbeit (20)
12
12
11
11
10
10
9
9
8
8
7
7
6
6
5
5
4
4
3 A 2
O
C B
F
1
E
I
K
GH
3
R
2
P MN
Q
ST
0
1 0
Kennbuchstaben der gewählten Personen
B
D C
E
GH I
M
O
Q RS
- L —IM T Kennbuchstaben der gewählten Personen
FH D / S S 1986 Soziogramm: Vertrauensrolle (20)
FH D / S S 1986 Soziogramm: Führerrolle (20)
12
12 11
11
10
10
9
9
8
8
7
7
6
6
5
5
4
4
3
3
2
D
1 AB 0
39
I E FG
L
S M
P
H N O—Q T Kennbuchstaben der gewählten Personen
2 1 0
LM E F
O
ST
Hl
-B-NG Kennbuchstaben der gewählten Personen
Bild 9 : E r g e b n i s s e e i n e r U n t e r s u c h u n g an d e r F a c h h o c h s c h u l e D ü s s e l d o r f 1 9 8 6 : S o z i o g r a p h i s c h e E i n o r d n u n g n a c h vier K a t e g o r i e n .
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
keltes Programm für den C 64 läßt Matrix (Drucker) und Soziogramm (Plotter) entstehen, das uns zu Ergebnissen führt, die sich mit einiger Sicherheit verallgemeinern lassen. (Die Eingabedaten werden jeweils mit Hilfe des Zufallszahlengenerators automatisch verschlüsselt und damit für die Beteiligten unkenntlich gemacht.) Doch zunächst noch einmal zu unserem ersten Beispiel. Zweierlei ist auch hier schon erkennbar: 1. gewählte Personen landen in einem positiven Bereich des semantischen Raums, abgelehnte in einem negativen; 2. Wahl bzw. Ablehnung können höchst unterschiedliche Gründe haben. Das wollen wir an den folgenden Beispielen näher untersuchen. Unser zweites Beispiel mit 20 Beteiligten an der Fachhochschule Düsseldorf 1986: An der Spitze der Wahlen zur Zusammenarbeit steht L, die Führerrolle wird eindeutig C zuerkannt, der sich die Vertrauensrolle mit R teilt. J ist der Außenseiter, aber auch C und R werden je einmal abgelehnt (Bild 9). Wie sieht die semantische Einordnung aus? Wir haben alle genannten Personen aufgrund des Testes entsprechend der ersten Wahl semantisch ausgewertet. Im nachstehenden Bild 10 sind drei Beteiligte, die besonders häufig an erster Stel-
Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung
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le gewählt und damit auch semantisch beurteilt worden sind, im semantischen Raum eingeordnet. Und so sieht die Lage des Durchschnitts der jeweils bei Zusammenarbeit, Führerrolle, Vertrauensrolle und Antipathie genannten Personen aus (Bild 11). Es gibt offenbar typische Punktkonstellationen für Führungseigenschaften, Zusammenarbeit und Vertrauen, die man mit Begriffen wie Vernunft und Gerechtigkeit, Kameradschaft und Liebe, Vertrauen und gutes Betriebsklima bezeichnen kann. Bei der NichtZusammenarbeit schlagen schon eher unterschiedliche Vorstellungen von Lärm (Krach), Zerstörung, Sturheit, Angst, Langeweile und Faulheit durch. Von den typischen Punktkonstellationen abweichend, können einzelne Personen sehr unterschiedlich und individuell eingeordnet werden. Z.B. kann die Vertrauensrolle durchaus mit der Vorstellung guter Kamerad einhergehen und die Führerrolle mit Strenge und Disziplin. Ergebnisse weiterer Untersuchungen: Erkennbar werden die eindeutigen Ansichten über die Eigenschaften der verschiedenen Beteiligten auch bei großer Zahl. Es zeigt sich sogar, daß Personen, die von mehreren Beurteilern abgelehnt werden (Nicht-Zusammenarbeit = Antipathie) von anderen jedoch mit Führungseigenschaften versehen genannt werden, von beiden Beurteilergruppen dennoch etwa gleich gesehen werden. Das heißt: die gleichen Eigenschaften füh-
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Teil II: Wirtschaft u n d praktische Sozialforschung
ren zu unterschiedlichen Präferenzen, im Klartext: ein leistungsbezogener Vorgesetzter wird als Mitarbeiter und Kollege nicht sonderlich geschätzt, oder: dieselben Eigenschaften werden von dem einen geschätzt und von dem anderen nicht. Unabhängig von der Benutzung der Kombination Soziogramm und Semantiktest bei Beurteilung und Einsatz von Arbeitsgruppen (hier laufen zur Zeit weitere eingehende Untersuchungen) ist der Semantiktest interessant auch für Personalbeurteilungen z.B bei Einstellungsgesprächen. Er wird hierbei mit Erfolg eingesetzt, wobei eine Beurteilung durch mehrere Beurteiler zu sichereren Ergebnissen führt, obgleich ein guter Personalbeurteiler mit guten Trefferquoten im Vergleich zur Gruppenbeurteilung rechnen kann.*
Rationalisierung
Durchschnittsvorstellung
Bild 12: V o r s t e l l u n g e n v o n F ü h r u n g s k r ä f t e n d e r „ C h e f e b e n e " ü b e r die z u k ü n f t i g e E n t wicklung ihres Aufgabenbereichs. * D i e g r ö ß e r e T r e f f s i c h e r h e i t v o n G r u p p e n bei A u f g a b e n d e s S u c h e n s u n d F i n d e n s ist w i e d e r h o l t n a c h g e w i e s e n w o r d e n u n d k a n n z.B. a u c h d u r c h d e n „ G e o m e t r i e - T e s t " n a c h P o f f e n b e r g e r s e h r sinnfällig d a r g e s t e l l t w e r d e n . Vgl. L i t e r a t u r h i n w e i s 6.
Teil I I : W i r t s c h a f t und p r a k t i s c h e S o z i a l f o r s c h u n g
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Als weiteres Beispiel wollen wir hier die Praxis der Beurteilung von Stipendienbewerbern darstellen. Die Arbeit des Auswahlausschusses eines großen Studienfonds wird seit g e r a u m e r Zeit systematisch durch den Einsatz des Semantiktests vereinfacht und erleichert. W ä h r e n d in der Anfangszeit von jeweils zwei Gutachtern nach einem 15- bis 30minütigen Gespräch mit dem Bewerber im Plenum die Eignung oder Nichteignung auch nach „ W ü r d i g k e i t " und „Leistung" vielfach sehr wortreich vertreten werden mußte, um bei den übrigen Gutachtern das richtige und mit ihren eigenen Gutachten vergleichbare Bild zu entwerfen, wird nun schon seit zwei Jahren nach jedem Einzelgespräch die Beurteilung jedes Gutachters auch im Polaritätenprofil niedergelegt - mit dem Erfolg, daß im Plenum f ü r alle Kandidaten Semantikbilder vorliegen, die Vergleiche optisch eindeutig vor aller Augen ermöglichen. Wenn beide G u t a c h t e r sowohl beim konventionellen Gutachten wie mit ihren „ P u n k t e n " im semantischen R a u m übereinstimmen, ist eine ausführliche Begründung f ü r A n n a h m e oder Ablehnung unnötig, da alle anderen Gutachter augenblicklich eine Vorstellung von dem speziellen Gutachten im Vergleich zu ihrem eigenen über a n d e r e haben. Lediglich wenn die Gutachten der beiden Gutachter voneinander abweichen oder sich Grenzlagen ergeben, wird eine etwas längere Begründung notwendig. Diese Praxis hat sich so bewährt, daß auch zunächst skeptische Hochschullehrer aus dem Bereich der Ingenieurwissenschaft das Hilfsmittel Semantiktest nicht mehr entbehren möchten. Für das formale Vorgehen wurden inzwischen Richtlinien vereinbart. Der U m f a n g der Arbeit erlaubt es uns nicht, auf die übrigen Einsatzmöglichkeiten des Semantiktests z.B. in der Berufsinformation (Test der Wirksamkeit von Informationsmitteln) und der Weiterbildung (Beurteilung von Weiterbildungsveranstaltungen) einzugehen. Auch hier wurden bemerkenswerte Erfolge erzielt, die in verschiedenen Aufsätzen beschrieben wurden.* Ein Beispiel zum Schluß: Führungskräfte mit unterschiedlichen Karrieren verbinden auch unterschiedliche Vorstellungen mit ihrem Beruf (Bilder 12, 13 und 14).
2
0
45 Alter/Jahre
60
Bild 13: K a r r i e r e n in d e r S t a h l i n d u s t r i e . Im A l t e r von 6 0 J a h r e n h a b e n viele d i e E b e n e n 4 u n d 3 e r r e i c h t , w e n i g e die E b e n e n 2 u n d 1, u n d noch w e n i g e r b l e i b e n auf d e r E b e n e 6 s t e h e n .
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Teil II: Wirtschaft und praktische Sozialforschung +F2
bahn aus: Gruppe 1: Erfolg Gruppe 2: Selbstverwirklichung Gruppe 3: Ansehen im privaten Bereich
Mir war es in diesem Beitrag wichtig, deutlich zu machen, daß Methoden der Soziologie und Sozialpsychologie in die betriebliche Praxis Eingang gefunden haben und so ausgereift sind, daß sie gerade auch wegen der Einfachheit ihrer Anwendung selbstverständlich genutzt werden.
Teil III Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft 1. Kapitel Soziologie des Marktes 1. Vorbemerkungen Soziologen haben offenbar weitgehend die Annahme akzeptiert, daß Marktprozesse keinen geeigneten Gegenstand soziologischer Analyse darstellen. Sie seien im wesentlichen durch die „atomistischen", einzelwirtschaftlichen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte bestimmt, in denen soziale Einbindungen und Strukturen kaum eine Rolle spielen, so daß für eine soziologische Analyse wenig Raum bestehe. Selbst dort, wo eine soziologische Analyse von Marktprozessen unerläßlich wäre, wird sie vernachlässigt. Untersuchungen über Einkommen und Beschäftigung verzichten auf die Analyse von Marktprozessen, in denen sich Einkommens- und Beschäftigungschancen bilden und konzentrieren sich statt dessen auf Probleme, die mit den persönlichen Gegebenheiten der Betroffenen in Verbindung stehen (vgl. zur Kritik an dieser Einengung vor allem Granovetter 1985). Ebenso bleibt trotz der zentralen Bedeutung, die die Frage nach Investition und Kapitalkontrolle besitzt, „seit der Jahrhundertwende der Kapitalmarkt als Gegenstand soziologischer Analyse ausgeblendet" (Stears, 1982,5). Von dieser generellen Feststellung, daß der Markt bislang kaum Gegenstand soziologischer Analyse war, sind einige Ausnahmen zu machen. Dabei kann zum einen auf Untersuchungen aus der ökonomischen Anthropologie verwiesen werden, die Verteilungsmechanismen und die Entstehung von Märkten und ihre Funktionsweise in archaischen Gesellschaften zum Gegenstand haben (am ausführlichsten Bohanon, Dalton (1962), Polanyi (1957), Sahlins (1972), ein zusammenfassender Vergleich von Verteilungsmechanismen in archaischen und modernen Gesellschaften bei Heinemann, 1976). Zu erwähnen sind weiter Untersuchungen, die auf die sozialen Beziehungen und Einbindungen der Marktpartner eingehen, wie sie etwa Useem (1979) und Webster, Wind (1972) vorgelegt haben. Von Bedeutung für eine soziologische Analyse des Marktes sind ebenso Arbeiten, die sich mit Einzelaspekten des Marktgeschehens befassen, wie Marktmacht (wie
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
z.B. Gäfgen, 1967, Perroux, 1983). Z u nennen sind weiter A r b e i t e n , die die Funktionsweise des Marktes im Vergleich zu a n d e r e n Verteilungsmechanismen darstellen und relativieren, wie dies zunächst Polanyi (1957) und ausführlicher Solo (1967), neuerdings auch Lindblom (1983), der neben dem Markt und der zentralen Planung die persuasive Kommunikation (Überredung, Werbung, Indoktrination) behandelt und Büß (1983), der den Markt z u n e h m e n d durch eine k o m m u n i kative Marktöffentlichkeit verdrängt sieht, versuchen. Als wertvoller Ansatz einer Soziologie des Marktes kann schließlich die Arbeit von Wiswede (1983) genannt werden; allerdings ist ihr Nachteil, daß sie allzusehr auf die Analyse der Nachfrager, und hier wiederum beschränkt auf die K o n s u m e n t e n , eingeengt ist. Umfangreich sind allerdings Darstellungen der mangelnden Leistungsfähigkeit und der negativen Folgeerscheinungen des Marktes, die nicht nur von einer neomarxistisch orientierten politischen Ö k o n o m i e getragen werden, vielmehr auch z.B. Galbraith (1973), Hirsch (1980), Lindblom (1983). Die hier vorgelegte soziologische Analyse des Marktes knüpft an diese Vorarbeiten an und versucht, Struktur und Funktionsweise des Marktes als soziale Institution der Steuerung und Kontrolle wirtschaftlichen Verhaltens zu deuten. Sie versucht dabei soziologisch zu erklären, wie es über den Markt gelingt, die G r u n d fragen eines jeden Wirtschaftens, nämlich: was soll produziert werden? Wie soll produziert werden? und, f ü r wen soll produziert werden? zu bewältigen. Die Beantwortung dieser Fragen ergibt sich zum einen aus einer allgemeinen Charakteristik des Marktes, die im ersten Teil gegeben wird. Der zweite Teil befaßt sich mit den Struktur- und Funktionselementen des Marktes, aus denen deutlich wird, wie der Markt diese G r u n d p r o b l e m e löst. Dazu m u ß 1. bekannt sein, wer die E n t scheidungsträger sind, 2. untersucht werden, welche sozialen Beziehungen zwischen den Entscheidungsträgern bestehen und wie sie begründet werden; 3. festgestellt werden, wie Informationsbeschaffung u n d -Übermittlung über die Vielzahl der Präferenzen, A n g e b o t e , Kapazitäten etc. erfolgen; 4. muß der Mechanismus beschrieben werden, über den die Anpassung und Koordination der einzelwirtschaftlichen Pläne vorgenommen werden; weiter muß 5. berücksichtigt werden, auf welche G ü t e r und Dienste seine Wirksamkeit beschränkt ist und 6. welche spezifischen Handlungsorientierungen und Bewußtseinslagen der Markt erfordert; schließlich soll 7. auf Folgekosten des M a r k t e s eingegangen werden. Die Analyse ist also notwendigerweise begrenzt. Sie hat nicht einzelne Märkte zum Gegenstand (zu ersten Versuchen in dieser Richtung vgl. Parsons, Smelser 1956), auch nicht die E n t s t e h u n g und Effiziens von Märkten z.B. im Vergleich zu Organisationen (vgl. dazu Williamson 1975, White 1981, G r a n o v e t t e r 1985). Sie geht von der idealtypichen Konstruktion vollständiger Konkurrenz aus, vernachlässigt also z.B. das Problem der Marktmacht und Monopolbildung.
2. Charakteristik ökonomischer Steuerungsmechanismen Sofern in einer Gesellschaft nicht jeder produziert, was er benötigt, müssen G ü t e r und Dienste umverteilt werden. Eine solche Umverteilung setzt voraus, d a ß Wirtschaftssubjekte das Verhalten anderer beeinflussen und die gewünschte Verteilung der G ü t e r steuern k ö n n e n . Dies kann durch verschiedenartige Verteilungsmechanismen gesichert werden, so z.B.
1. Kapitel: Soziologie des Marktes
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1) durch (ökonomisch relevante) Reziprozitätsnormen, (vgl. z.B. Sahlins, 1972, 196 f) die vor allem die Verteilung in archaischen Gesellschaften bestimmen, aber auch heute noch als Austauschprinzip etwa in Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen gelten; 2) durch Redistribution z.B. durch staatliche oder anders begründete Macht oder 3) durch Marktmechanismen mit dem Medium des Geldes. Wir wollen uns zunächst Klarheit über diese Mechanismen verschaffen: 1. Reziprozität ist ein in bestehenden sozialen Beziehungen wirksames Prinzip des Gebens und Nehmens, des Austausches von Leistungen und Gegenleistungen aufgrund wechselseitiger, sozialer Verpflichtungen, durch das Austauschbeziehungen auch dann aufrecht erhalten werden, wenn Interessen und ungleiche Verteilung der Macht verhindern könnten, d a ß Leistungen und Gegenleistungen sich entsprechen. (Gouldner, i 9 6 0 ) . Reziprozitätsverpflichtungen sind dabei durch folgende Tatbestände bestimmt: a) Sie sind in bestehenden sozialen Beziehungen eingebunden, die z.B. durch Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft usw. begründet sind und damit durch das Vertrauen in die Stabilität dieser Beziehungen und in die Verläßlichkeit des Partners gesichert sind; b) Leistungen und G e genleistungen werden nicht jeweils ausgehandelt und genau festgelegt; wenn man eine Leistung erhält, etwa als nachbarschaftliche Hilfe, als Gastgeschenk, als U n terstützung für die Zahlung des Brautpreises, unterwirft man sich zunächst nur der Verpflichtung, d e m Partner ebenfalls behilflich zu sein, wenn er Unterstützung benötigt, ohne d a ß bereits Art, U m f a n g oder Zeitpunkt der Gegenleistung bestimmt wären. Reziprozitätsnormen beinhalten also zunächst lediglich wechselseitige Verpflichtungen und Rechte, deren inhaltliche Ausfüllung und Konkretisierung situationsspezifisch, also bezogen auf die jeweiligen Personen und die Art der (z.B. verwandtschaftlichen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen) Beziehungen und ihren Problemlagen, erfolgen. 2. Redistribution meint die Umverteilung von Gütern und Diensten etwa aufgrund staatlicher oder anders b e g r ü n d e t e r Gewalt durch (z.B. gesetzlich festgelegte) Abgabepflichten, aus denen keine Rechte auf eine direkte Gegenleistung ableitbar sind; umgekehrt erhält der E m p f ä n g e r ebenfalls (in der Regel auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen) Leistungen, ohne daß daraus Verpflichtungen erwachsen. 3. Im Markt erfolgt ein Tausch von Leistung und Gegenleistung aufgrund individueller V e r e i n b a r u n g der M a r k t p a r t n e r . Der Markt beinhaltet dabei ein Bündel von Spielregeln, das einen Interessenausgleich derart sicherstellen soll, d a ß bei reibungslosem Funktionieren f ü r eine möglichst große Zahl der Beteiligten ein möglichst großer Vorteil das Ergebnis ist; es bildet den R a h m e n für eine freie, individuelle Interessenverfolgung und für eine Ausnutzung von Interessenkonstellationen. ( H e i n e m a n n 1976). So bezeichnete bereits Max W e b e r (1956, 3 8 2 ) den Markt als (Arche-) Typus rationalen Gesellschaftshandelns. Allerdings ist die Rationalität des Marktes ebenso wie die Freiheit der M e n schen, die mit den Spielregeln des Marktes verwirklicht werden soll, nur formal. Die Regeln legen lediglich fest, wie die Auseinandersetzungen und Entscheidungen erfolgen sollen. Sie bestimmen weder, was Gegenstand und Ergebnis des Marktverhaltens ist, noch, welche Möglichkeiten und Chancen der einzelne besitzt, an diesen Entscheidungen teilzunehmen. So kann es in dem M o m e n t , in dem eine Marktrationalität in einer Gesellschaft verwirklicht wird, zu prinzipiellen Wi-
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dersprüchen kommen. Diese resultieren aus dem bereits von Max Weber beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen formaler und materialer Rationalität im Wirtschaftsgeschehen, aus der Tatsache also, daß eine durch den Markt bewirkte optimale Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten einerseits und eine sozial-ethisch wünschenswerte Versorgung andererseits „eben unvermeidlich weitgehend auseinanderfallen;" (Weber 1956, 58) es ist ein Spannungsverhältnis zwischen formalen Spielregeln und inhaltlicher Normierung wirtschaftlichen Handelns; es ist eine Widersprüchlichkeit zwischen der formalen Freiheit des Marktes, die lediglich durch Abwesenheit von Zwang gekennzeichnet ist, und einem materiell-inhaltlich normierten Freiheitsbegriff, der Freiheit als universelle Möglichkeit versteht. (Dahrendorf 1966, 9). Jeder dieser Verteilungsmechanismen - also die sozial normierte Reziprozität, die politisch begründete Redistribution und der ökonomisch-rational fundierte Markt — muß eine Steuerung des Verhaltens bewirken. Reziprozitätsnormen und Macht werden wirksam, indem die negativ sanktionierten, unangenehmen Alternativen ausgeschieden werden und damit reduzierte Handlungsvielfalt übertragen. (Luhmann 1970). Wenn man (z.B. mit einer Pistole) vor die Alternative „Geld oder Leben" oder (mit staatlicher Gewalt) vor die Alternative „Steuerzahlung oder Gefängnis" gestellt wird, entscheidet man sich für die Hingabe des ersten; wenn soziale Normen, die den einzelnen verpflichten, Verwandte oder Freunde zu unterstützen bei Nicht-Beachtung etwa mit sozialer Isolation oder Ausschluß aus reziproken Beziehungen drohen, ist man bereit, diesen Verpflichtungen zu folgen. Durch Macht bzw. Reziprozitätsnormen wird die Vielfalt der Alternativen reduziert und der einzelne zur Annahme einer Alternative motiviert, indem er die ungünstigeren Alternativen ausscheidet. Man hat und erhält nicht die unbeschränkte Freiheit der Wahl. Reziprozitätsnormen sind als Steuerungsmedien nur begrenzt wirksam. Sie basieren auf der Kenntnis und auf dem Vertrauen in die Person des Partners, sind also nicht generalisierbar, sondern abhängig von den sozialen Beziehungen, die außerhalb des Wirtschaftens begründet sind; sie besitzen eine geringe Flexibilität, sind stark situationsabhängig und oktroyieren eine vorgegebene Form der Bedürfnisbefriedigung, weil die (unbegrenzte) Freiheit der Wahl fehlt. Ähnliches gilt auch für die Redistribution. Sie schafft nicht Freiheit als universelle Möglichkeit (kann aber materiale Voraussetzungen ihrer Verwirklichung eröffnen).
3. Funktions- und Wirkungsweise des Marktes Nach der zunächst nur allgemeinen Charakteristik verschiedener ökonomischer Steuerungsmechanismen sollen im folgenden Gestaltungsform, Funktion und Wirksamkeit des Marktes in den bereits benannten sieben Punkten analysiert werden.
3.1 Entscheidungsträger Wer die Entscheidungen über die Grundprobleme einer jeden Wirtschaftsordnung fällen kann, war eine der zentralen Fragen, die in einer Wirtschaftsordnung
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beantwortet werden muß. Die Frage nach den Entscheidungsträgern m u ß in zwei Schritten beantwortet werden: 1. ist festzulegen, welche Personengruppe f ü r die Entscheidungen über die genannten G r u n d p r o b l e m e verantwortlich ist. Diese Frage beantwortet sich aus dem Funktionsmuster des Marktes. 2. ist zu prüfen, welche Qualitäten und Fähigkeiten die jeweiligen Entscheidungsträger besitzen müssen und wie Rekrutierung und Besetzung der einzelnen Entscheidungspositionen erfolgen. Z u 1. In einer marktwirtschaftlichen O r d n u n g erfolgen die Entscheidungen über die G r u n d p r o b l e m e des Wirtschaftens dezentral von allen Wirtschaftssubjekten (Haushalte, U n t e r n e h m e r , Staat); die Koordination der einzelnen E n t scheidungen erfolgt (ex-post) über den Markt- und Preismechanismus nach den Regeln der Wirtschaftlichkeit. Die Frage, welche G ü t e r produziert werden, wird durch die getroffene Wahl der Verbraucher beantwortet. Die Frage, wie die G ü t e r produziert werden sollen, wird durch den Wettbewerb der einzelnen Produzenten untereinander gelöst. Die Frage, für wen die G ü t e r produziert werden sollen, wird durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf den Produktionsfaktormärkten entschieden, und zwar durch die H ö h e der Lohnsätze, der B o d e n r e n t e und der U n t e r n e h m e r g e w i n n e , die das E i n k o m m e n jedes einzelnen bestimmen. Eine zentrale Koordination wirtschaftlicher Entscheidungen erfolgt nicht; sie k o m m t im Prozeß d e r gegenseitigen Anpassung im Tausch zustande. Im Markt entscheiden die H a n d e l n d e n für sich ohne Zwang, diese Entscheidung erklären oder gegenüber anderen verantworten zu müssen; die Bezugspunkte der E n t scheidungen sind die eigenen Interessen, Erfahrungen, Urteile, Neigungen und Wünsche. Ihre Entscheidungen müssen sie gegenüber anderen in einer Beziehung der Gleichrangigkeit durchzusetzen versuchen. Dabei werden die Faktoren, die von den einzelnen Wirtschaftssubjekten gegeneinander abgewogen werden, in dem gemeinsamen N e n n e r des Preises ausgedrückt, der den Vergleich von Leistung und Gegenleistung möglich macht. Der Preis standardisiert die Bedingungen, zu denen ein Austausch angeboten und durchgeführt wird. Die Vorstellung, d a ß individuelle, eigeninteressierte Handlungen „von einer unsichtbaren H a n d geleitet (werden), um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt h a t " (Smith 1978, 371), ist die zentrale theoretische Orientierung, die diese Konzeption des Marktes bestimmt. D e r einzelne nimmt an Interaktionen teil, die das Problem der Rcssourcenallokation und -Verwendung als ein N e b e n p r o d u k t seines eigenen privaten Problemlösungsverhaltens regelt; der M a r k t ist das Instrument dieser „ N e b e n p r o d u k t l ö s u n g " (Lindblom 1983, 404). E r läßt dem einzelnen einen breiten Spielraum in der Durchsetzung der eigenen Interessen und der Vernachlässigung ü b e r g e o r d n e t e r Ziele; in ihm gehen die einzelnen separaten Handlungen der beteiligten Wirtschaftssubjekte ein, und er bringt als Ergebnis im Z u s a m m e n w i r k e n individueller Bestrebungen ein ökonomisches G e s a m t m u s t e r hervor, und zwar nicht zufällig, sondern systematisch und als zu erwartendes Ergebnis. Eine ausdrückliche Berücksichtigung aller wirtschaftlichen Konsequenzen einzelner wirtschaftlicher Entscheidungen ist unmöglich und unnötig, weil erst im interaktiven Prozeß ein gesamtwirtschaftlich wünschenswertes Ergebnis erzielt wird; der Konsument bestimmt durch den Kauf oder Nicht-Kauf von Konsumgütern die Allokation der Ressourcen und entscheidet damit über die B e a n t w o r t u n g der G r u n d f r a g e n einer jeden Wirtschaft, aber er
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braucht dies nicht zu wissen, und er wird sich auch nicht verpflichtet fühlen, über die Allokation der Ressourcen nachzudenken, wenn er seine Kaufentscheidung fällt. Zu 2. Im Markt wird der Umfang der Entscheidungskompetenz durch den Umfang der Verfügungsrechte über Sachen bzw. über Geld festgelegt. Somit ist die Entscheidungskompetenz abhängig von der Fähigkeit, Verfügungsrechte über Sachen bzw. über Geld zu erwerben. Diese wiederum erwächst aus der Fähigkeit, die Leistungserwartungen anderer zu antizipieren und besser zu erfüllen als andere dies können, ergibt sich aus individueller Anstrengung, sinnvoller Investition, günstiger Kostengestaltung, effizienter Organisation. Ist man im Wettbewerb mit anderen erfolgreich, erhält man größere Verfügungsrechte und damit mehr Entscheidungskompetenz, ist man im Wettbewerb weniger erfolgreich, sinkt zugleich die Einflußchance im Markt. Jene Fähigkeiten, die der Markt testet und fördert, sind zugleich jene, die das Funktionieren des Marktes erfordern: Entsprechend den Änderungen in den Anforderungen, die der Markt stellt, ändern sich zugleich die Fähigkeiten, die sich im Markt einem Test unterziehen müssen.
3 . 2 Soziale Beziehungen im Markt Die Struktur ökonomischer Steuerungssysteme ist zunächst durch die Art der sozialen Beziehungen, die zwischen den Handelnden bestehen, charakterisiert. Die Beziehung von Marktpartnern kann mit der Formel: .Anbieter und Nachfrager stehen sich prinzipiell frei und gleichrangig gegenüber', beschrieben werden. Wir wollen uns Klarheit darüber verschaffen, welchen soziologischen Gehalt diese Formel besitzt: 1. Freiheit und Gleichrangigkeit der Beziehungen besagt, daß a) eine freie Austauschbarkeit sowohl von Sachen als auch von Personen möglich ist und damit b) der Markt die Möglichkeit der Ablehnung sowohl von Personen als auch von Sachen, die Freiheit der Wahl von Personen bzw. sozialen Beziehungen und Sachen also, beinhaltet. Dies wiederum setzt voraus, daß im Markt eine doppelte Vergleichbarkeit besteht, und zwar die Möglichkeit des Vergleichs einer Sache mit einer anderen Sache und die Möglichkeit des Vergleichs einer Person, die eine Sache zu bestimmten Bedingungen abgeben oder haben möchte, mit anderen Personen, die zu anderen Bedingungen diese Sache abgeben oder haben möchten. (Luhmann 1970, 206). Je größer die Zahl der Anbieter und Nachfrager, um so größer wird das Problem, die vielfältigen Vergleichsmöglichkeiten auszuschöpfen. Der Markt hat die Funktion, diese Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen oder offenzuhalten, ohne daß der einzelne dadurch übermäßig belastet wird. Die Freiheit des Marktes ist nur formal; sie ist lediglich durch Abwesenheit von Zwang gekennzeichnet. Reziprozität kann materiale Sicherheit durch persönliche Verbindung und Abhängigkeit, zentrale Planung durch (erzwungene) Umverteilung bieten. Der Markt sichert lediglich die Freiheit von Zwängen, die Reziprozität und zentrale Planung beinhalten, garantiert jedoch nicht — da seine Freiheit substanzlos ist — materiale Sicherheit. Freiheit des Marktes meint lediglich, daß man formal frei ist in der Wahl des Tauschpartners und d e r Tauschgegenstände. Wie weit man sie wahrnehmen kann,
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ist jedoch abhängig vom verfügbaren Einkommen und der Verteilung des Vermögens, und diese Verteilung ist historisch aufgrund vieler Kämpfe und Konflikte, keineswegs aber allein durch freie Entscheidungen aller zustande gekommen; sie schließt nicht ein, daß der einzelne die negativen Folgeerscheinungen der Marktfreiheit — über die noch im einzelnen gesprochen wird — in Kauf nehmen muß; sie ist nur eine Freiheit der Wahl, nicht aber eine Freiheit von ökonomischen Zwängen, etwa im Markt seinen Lebensunterhalt zu sichern, und sie schließt die Notwendigkeit nicht aus, sich dem Autoritätssystem, etwa eines Betriebes, unterzuordnen. 2. Die Vergleichsmöglichkeiten von Personen und Sachen, die im Markt geschaffen werden, müssen gleichzeitig von anderen Handlungszusammenhängen isoliert sein, d.h. sie dürfen nicht durchgängig für andere Handlungssituationen gelten und beachtet werden. In Geldgeschäften hört die Freundschaft auf; es ist gleichgültig, ob der Marktpartner Freund, Familienangehöriger, Parteimitglied usw. ist; Heirat erfolgt aus Liebe und ist nicht mehr zugleich ein ökonomischer Vertrag; der Beamte, der einem anderen sein Geld anvertraut, vertraut ihm nicht notwendigerweise, wenn es um Dienstgeheimnisse geht. Daß de facto diese A b straktionsleistungen nicht immer vollzogen und das Risko dieser Abstraktion nicht immer getragen wird, braucht nicht weiter diskutiert zu werden. Grundsätzlich nämlich gilt, daß die sozialen Beziehungen der Marktpartner in modernen Gesellschaften (in der Terminologie von Parsons) zunächst funktional-spezifisch, d.h. zielgerichtet und durch die konkreten Interessen begrenzt sind, die zum Tausch führen. Weiter sind die Beziehungen affektiv-neutral, d.h. sie sind nicht emotionalen und moralischen Bindungen unterworfen, sondern auf rationale, sachliche Interessenerwägungen begründet, letztlich sind sie selbst-orientiert, d.h. die Handelnden orientieren sich in ihren Entscheidungen einzig an ihren eigenen Interessen. Die Marktpartner kommen unter spezifischen, isolierten Gesichtspunkten zum Zweck des Tausches zusammen, der Kontrakt endet in dem Moment, in dem der Tausch beendet ist. Es erübrigen sich moralische Bewertungen und Kontrollen insbesondere aus anderen Bereichen, z.B. der Familie, der Politik, der Religion usw.
3.3 Informationsvermittlung im Markt Damit sich die einzelnen Wirtschaftssubjekte richtig entscheiden können, sind Informationen darüber nötig, wovon mehr, wovon weniger produziert werden soll, welche Produktionsmittel am günstigsten eingesetzt und mit welchem Produktionsverfahren sie am besten verwertet werden können. Angesichts der unübersehbaren Fülle der Präferenzen, der Produkte, der Produktionsmittel und Produktionsverfahren, die zur Verfügung stehen und verglichen werden müssen, entstehen offensichtlich ungeheure Informationsprobleme bei einer optimalen Entscheidungsfindung. In welcher Form also erhalten die Handelnden jene Informationen, die für eine für sie optimale Entscheidung vorhanden sein müssen? Die technische Form des wirtschaftlichen Tauschverkehrs schafft einen Bereich von Preisen, der weitgehend von seinem subjektiv-personalen Unterbau gelöst ist. Wenn auch die einzelnen zum Tausch nur bereit sind, weil sie Tauschgüter unterschiedlich schätzen und begehren, so kann sich dieses Begehren nur mit und an ei-
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nem Gegenstand ausdrücken, mit dem sie den Tausch zu vollziehen beabsichtigen: Der subjektive Vorgang der Bewertung führt zu einem sachlichen, überpersönlichen Verhältnis zwischen Gegenständen (Simmel 1958, 30ff.). Die zu einem Tausch führenden Wünsche und Schätzungen realisieren sich im Bewußtsein nur noch als Wertverhältnisse, deren Inhalt in den Dingen selbst liegt. Die Qualität der Güter zur Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen reduziert sich auf Quanten des einen Objekts, dessen Wert dem Quantum des anderen Objekts - in modernen Märkten in der Regel dem des Geldes - entspricht. Diese Wertrelationen stehen als gleichsam objektiv angemessen jenen persönlichen Motiven gegenüber, von denen sie ausgehen. So zirkulieren die Gegenstände nach Normen und Maßen, die festgelegt sind und die dem einzelnen als objektives Reich gegenüberstehen, „er kann an diesem teilhaben oder nicht, wenn er es aber will, so kann er es nur als Träger oder Ausführender dieser ihm jenseitigen Bestimmtheiten" (Simmel 1958, 30). Diese Interpretationen der Preisbildung von Simmel entsprechen jenem Konzept vollständiger Konkurrenz, nach dem sich die Werte (Preise) der Waren aus ihren Austauschverhältnissen bilden, wobei das einzelne Wirtschaftssubjekt diese Werte lediglich als Datum in seine einzelwirtschaftlichen Pläne einbezieht. In dieser Interpretation wird der Markt also zu einer in sich indifferenten und neutralen Regelungsform, die die zweckmäßige Abstimmung aller Teile zu einem funktional organisierten Ganzen ermöglicht. Im Rahmen dieses Koordinationsund Verteilungsprozesses erfolgt eine entpersönlichte, vergegenständlichte Festsetzung der sozialen, d.h. für alle Individuen gleichermaßen vorgegebenen, gültigen, von ihnen unabhängigen Geltung aller für den Markt erzeugten und über den Markt verteilten Produkte. Der Markt ist ein Raum, in dem aufgrund der oben behandelten sozialen Beziehungen und Verhältnisse die Gegenstände des Marktverkehrs eine faktische, von den Marktteilnehmern unabhängige, also soziale Geltung erhalten. Der Markt, so schreibt Siberski (1967, 130) ist demnach jener Ort, in dem soziale Geltung sozial, d.h. aufgrund der besonderen sozialen Verhältnisse und Interaktionen der Marktpartner, produziert wird; diese soziale Geltung ist nicht Ausdruck von den den Dingen anhaftender Merkmale, hat keine Beziehung zu Herstellungskosten u.ä., sondern ist Marktergebnis, Produkt eines sozialen Setzungsprozesses. Die Faktizität des in diesem sozialen Setzungsprozeß sich bildenden, von dem Handelnden als vorgegeben und von ihm unabhängig erfahrenen und wahrgenommenen sozial Geltenden weist dieses Phänomen als ein Beispiel jener sozialen Tatbestände aus, die seit Dürkheim zum zentralen Gegenstand der Soziologie geworden sind und bei dem in diesem Fall nicht nur Geltungsbereich und Wirksamkeit, sondern gleichzeitig Bildung, nicht nur Abhängigkeit, sondern auch Entstehung abgegrenzt werden können. Bereits nach dem bisher Gesagten sind die Merkmale dieses sozialen Tatbestandes offensichtlich: Er ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß auf die Objekte des Marktverkehrs bezogene Vor-Urteile und gleichzeitig spezifische soziale Beziehungen sich zu einem vergegenständlichten, sozialen Ordnungsgerüst umformen, das jenen wahrnehmbaren, objektiven Eigenschaften, durch die soziale Tatbestände zur Sache werden, äquivalent strukturiert ist, und daß dieser sich so bildende Tatbestand ,gilt', d.h. verhaltenswirksame Konsequenzen besitzt, daß sich also die ökonomischen Entscheidungen an diesem von persönlichem Erleben der Handelnden losgelösten Vorgegebenheiten zu orientieren haben. Das zweite Merkmal ergibt sich aus der Tatsache, daß dieser
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Bereich sozialer Geltung erst Realität wird und auch jederzeit änderbar ist durch den kommunikativen Austausch ökonomischer Intentionen, Bedürfnisse und Interessen, kurz: durch kaufwirksame, effektive Nachfrage, wobei im Endeffekt, wenn also auch nicht auf das einzelne Wirtschaftssubjekt bezogen, so doch in der Summe, die Stimme eines jeden einzelnen frei zum Tragen kommen kann. So gilt zwar für den einzelnen das sozial Geltende lediglich als Faktum, als Datum, insgesamt ist er im Rahmen kommunikativer, sozialer Aktionen Mit-Urheber; ihm bewußt ist lediglich die Abhängigkeit von diesen autonomen, sozialökonomischen Tatsachen, in der Analyse erweist er sich gleichzeitig als ihr Mit-Verursacher. Es ist demnach das Kennzeichen des Marktes in einem doppelten Sinne, der hier gegeben wird; der Markt ist zum einen der Ort, in dem eine Vielzahl subjektiver Orientierungen, Marktintentionen und Vorstellungen, die Eigenheiten von Produkten und ihre - z.T. gesellschaftlichen - Vorbewertungen, die verschiedenartigen Marktbeziehungen und Interaktionen gleichzeitig zum Tragen kommen. Zum anderen wird er als Raum umschrieben, in dem soziologische Tatbestände im Rahmen dieses sozialen Setzungsprozesses sich herauskristallisieren und soziale Geltung erhalten; Tatbestände also, die im Sinne von Dürkheim im Markt allgemein auftreten, „wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzen" (Dürkheim, 1963, 114). Ein neutraler und indifferenter Markt eröffnet die Möglichkeit der freien Teilnahme an diesem Setzungsprozeß, zwingt aber gleichzeitig zur Unterordnung unter die sich in diesem Prozeß bildenden sozial geltenden Tatbestände. Die Frage nach der Arbeitsweise des Marktes, die Frage also, wie der Markt seine Funktion der Koordination und Integration selbständiger einzelwirtschaftlicher Gebilde erfüllt, muß im Anschluß an diese Interpretation des sozial Geltenden der Gegenstände des Marktverkehrs und seines Setzungsprozesses beantwortet werden. Was sich in diesem Setzungsprozeß abspielt, ist, auf eine kurze Formel gebracht ein Vorgang, in dem die Ereignisfülle des Marktgeschehens, die Fülle der Marktvorgänge, Marktbeziehungen, Verkehrsformen, Bewertungen der Objekte, Ziele der Marktpartner usw., sofern sie für die Entscheidungen aller relevant sind, zu einer neuen Dimension, zu einem neuen, summarischen Informationsgehalt komprimiert werden. Die Definition des Preises als Knappheitsindex ist die, wenn auch nur blasse Umschreibung jenes Tatbestandes, daß sich in diesem Preissetzungsprozeß ein Informationsgerüst bildet, das den Marktteilnehmern die Möglichkeit einer objektiven Situationsorientierung bei gleichzeitiger Erfahrungsverkürzung ermöglicht. Dieses im Markt sich bildende Informationsgerüst erfüllt in seiner Entstehung alle Anforderungen einer sozial normierten, dauerhaften und für alle Marktteilnehmer gleichermaßen geltenden Situationsorientierung: Es bildet sich in einem institutionalisierten, in seiner Struktur stets gleichen (Markt-) Verfahren, ohne die Möglichkeit willkürlicher Einflußnahme durch einzelne Wirtschaftssubjekte, hat eine von den Individuen unabhängige Geltung und ist in — durch die Art der Käufer und Verkäufer - verschiedenartigen Situationen gleichermaßen gültige, formal dauerhafte, informative Handlungsorientierung, deren Identität und Eindeutigkeit in bezug auf Aussagewert und Bedeutungsinhalt institutionell sichergestellt sind. Da sich diese Handlungsorientierungen im Markt und damit aus den Wirtschaftsplänen und den Entscheidungen der einzelnen Marktpartner frei bilden,
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bedeutet faktisch das Ausrichten eigener Entscheidungen an diesen Orientierungspunkten ein Ausrichten an Plänen und Entscheidungen anderer. Die durch Rechtsordnung geschaffene Marktverfassung bedeutet gleichzeitig eine Institutionalisierung dieses Setzungsprozesses und damit eine Sicherung genereller Verwertbarkeit und Vergleichbarkeit der Marktdaten.
3 . 4 Finanzielle Kontrollen und Sanktionen im Markt In einem nächsten Schritt ist zu klären, wodurch die einzelnen Wirtschaftssubjekte veranlaßt werden, sich an Pläne und Entscheidungen anderer anzupassen. Die Antwort auf dieses Problem ergibt sich aus der Interpretation des Marktes als finanziellen Sanktionsmechanismus (Smelser 1963, 37ff, Albert 1964, 89ff), der ohne zentrale Führung, d.h. ohne hierarchische Strukturen und ohne Anweisungsbefugnis und Gehorsamspflichten, auf der Basis finanzieller Anreize und finanzieller Belohnungen die Steuerung sowohl der einzelnen sozialen Gebilde als auch des sozialen Subsystems Wirtschaft ermöglicht. Der Markt erscheint unter diesem Gesichtspunkt als eine Möglichkeit der Verhaltenssteuerung durch positive und negative Sanktionen — d.h. also durch Belohnung und Bestrafung in Form von Gewinnen und Verlusten, finanziellem Erfolg und Mißerfolg, durch Verdienstchancen oder die Gefahr der Unversorgtheit - als System gleichzeitig, das aus sich selbst heraus verhaltenswirksame Indikatoren nichtigen' oder .falschen' Entscheidens schafft und diese Entscheidungen damit auf ein gesamtwirtschaftlich erwartetes Verhalten ausrichtet. Gewinn, finanzieller Erfolg ist positive Sanktion, d.h. Belohnung einer gelungenen Anpassung an ,erwartetes' wirtschaftliches Verhalten und damit auch gelungene Koordination an die wirtschaftlichen Pläne anderer, Verlust, finanzieller Mißerfolg ist Folge einer Fehlanpassung, einer ungenügenden kommerziellen Kooperation. Damit ist gleichzeitig der Preis, d.h. der Geldausdruck einer Faktorleistung, eines Gutes oder einer Dienstleistung, den einer zu zahlen hat oder den man auf dem Markt verlangen oder realisieren kann und zu dem man seine Güter abzusetzen in der Lage ist, der aus dem System selbst erwachsene Indikator der Markterwartungen der Marktpartner und gleichzeitig Sanktion für nicht marktkonformes Verhalten. Dabei besitzt dieser finanzielle Sanktionsmechanismus auch dadurch den Charakter einer sozialen Verhaltensregelung, als diese finanziellen Sanktionen und Anreize zwar aus den Interaktionen der Individuen selbst entstehen, insofern aber objektiv sind, als der einzelne sie nicht zu beeinflussen vermag. Sie sind (bei vollständiger Konkurrenz) als Datum und nicht als Resultat der eigenen Entscheidung anzusehen und damit vom einzelnen Marktteilnehmer unabhängig und für alle ökonomischen Entscheidungen gleichermaßen relevant. Entsprechend der Abhängigkeit der Wirtschaftssubjekte von diesem Markt- und damit finanziellen Sanktionsmechanismus - z.B. also dem Grad der Institutionalisierung und dem gesellschaftlichen Gewicht des Erwerbsprinzips — ergibt sich die Wirksamkeit dieses Steuerungssystems und damit der Grad der Institutionalisierung und dem gesellschaftlichen Gewicht des Erwerbsprinzips — ergibt sich die Wirksamkeit dieses Steuerungssystems und damit der Kontrolle zweckorientierter Entscheidungen und das Risiko finanzieller Sanktionen, verbunden mit der Möglichkeit der Korrektur und Anpassung künftiger Entscheidungen, wobei systemimmanente, objektive Orientierungspunkte der wechselseitigen Koordination einzelwirtschaftlicher Handlungsfelder zugrundeliegen.
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Inwieweit es gerechtfertigt ist, dieses System ökonomischer Steuerung als eine kybernetische oder homöostatische Regelungsform zu interpretieren, soll nicht ausführlich diskutiert werden. Zumindest sind M e r k m a l e solcher Regelungsformen insoweit erfüllt, als hier Marktinformationen verarbeitet und im Hinblick auf eine Anpassung an eine Zielfunktion verwertet werden, indem an H a n d solcher Informationen der Erfolg oder Mißerfolg der Entscheidung geprüft wird, um aus den Ergebnissen Rückschlüsse für künftiges Verhalten im Hinblick auf die Zielerreichung ziehen zu k ö n n e n . Entsprechend ist diese Verhaltensform dadurch definiert, d a ß (1) ökonomisches Handeln auf sein Ergebnis hin geprüft wird und aufgrund der gesellschaftlichen Setzung des Erwerbsprinzips kontrolliert werden muß, wobei Erfolg oder Mißerfolg dieses Ergebnisses die zukünftigen Entscheidungen mitbeeinflußt und daß (2) systemimmanente Orientierungspunkte entstehen, an denen sich die ökonomischen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte ausrichten. Marktverhalten ist demnach „Handlungskreis, d.h. plastische, gesteuerte, am r ü c k e m p f u n d e n e n Erfolg oder Mißerfolg korrigierte und schließlich gewohnheitsmäßig automatisierte B e w e g u n g " (Gehlen 1957, 17).
3.5 Kaufbreite Im Markt ist festgelegt, welche Bedürfnisse und welche Mittel zu ihrer Befriedigung eingebracht werden dürfen, also welche Leistungen angeboten und welche Gegenleistungen als tauschfähig angesehen werden. Die Tauschbarkeit von Leistungen ist zumindest in einem R a h m e n strukturell vorgegeben. In modernen Gesellschaften können in der Regel auf M ä r k t e n nicht z.B. soziales Ansehen oder politische Macht erworben werden, gegen wirtschaftliche G ü t e r (z.B. auch gegen Geld) k ö n n e n (zumindest nach allgemein geltenden, wenn auch nicht immer anerk a n n t e m Codex) nicht akademische G r a d e , politischer Einfluß, Liebe, G e b o r g e n heit, Prestige etc. getauscht werden; ein Überschreiten der „ T a u s c h s p h ä r e n " wird zumindest moralisch mißbilligt oder sogar rechtlich sanktioniert (Bestechung, Korruption usw.). Einzelne, zweckspezifisch organisierte und rollenmäßig ausdifferenzierte Daseinsbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft entwickeln eigene Marktsysteme mit einer Abgrenzung tauschbarer Leistungen.
3.6 Verhaltensorientierungen und Bewußtseinsformen Die behandelten Strukturmerkmale des Marktes machen deutlich, d a ß mit ihrer Verwirklichung spezifische Verhaltensorientierungen und Bewußtseinslagen verb u n d e n sein müssen: 1. Der Markt setzt freie, individuelle z.B. durch ethische Normen nicht gebundene Interessenverfolgung und Ausnutzung von Interessenkonstellationen voraus. Preisbildende Märkte definieren Handlungssituationen, in denen die Logik rationalen Wahlhandelns gefordert ist. Rationalität und individuelle Interessenorientierung sind zugleich daran g e b u n d e n , daß Lebensverhältnisse als gestaltbar u n d veränderbar erscheinen. Mit einer interessenorientierten, rationalen Handlungsstruktur muß eine Mobilisierung verbunden sein und zwar nicht nur im Sinne einer Lösung z.B. der Produktionsfaktoren von sozialen und
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räumlichen Bindungen, sondern auch von Vorstellungen und Bewußtseinsinhalten etwa in dem Sinne, daß kulturelle Selbstverständlichkeiten ausgelöscht werden zugunsten einer neuen Selbstverständlichkeit, nämlich der des Wandels, der Veränderung, der beliebigen Verwertbarkeit, auch des Bildes der Gesellschaft als Potential vielfältiger Leistungschancen. Erst mit einem Bedeutungsverlust sozial-normativer Regelungen wirtschaftlichen Handelns, erst mit der Auflösung von gesellschaftlichen Verbänden, die umfassende Anforderungen an ihre Mitglieder stellen, eröffnet sich die Möglichkeit interessenorientierten Handelns, entstehen zugleich neue Formen des Bewußtseins, die sich im Markt widerspiegeln. 2. Märkte in modernen Gesellschaften verlangen hohe Abstraktionsleistungen, die Fähigkeit und Bereitschaft, soziale Beziehungen ebenso wie die Beziehung zu Sachen grundsätzlich zu negieren, die Fähigkeit, in offenen Situationen mit ständig wechselnden Handlungspartnern interagieren zu können. So ist die Fähigkeit der Distanzierung von Sachen und Umständen und der Identifizierung mit immer neuen Aspekten der Umwelt, die Möglichkeit, in einer sich ständig ändernden Welt wirksam und teilnehmend vorgehen zu können, sich in andere Situationen zu versetzen, die Gesellschaft als Potential von Möglichkeiten zu erkennen, eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Marktes. Fassen wir unter den bisher behandelten Gesichtspunkten zusammen, welche gesellschaftlichen Bedingungen das Funktionieren des Marktes voraussetzen. Märkte sind in Gesellschaften möglich, in denen - Individualismus, individuelle Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit gelten und individuell interessenorientierte Entscheidungen vor solidarischen Verpflichtungen z.B. für eine Gruppe den Vorrang haben und damit auch Gewinnorientierung positiv bewertet und handlungsbestimmend ist, - damit verbunden eine Ideologie der Gleichheit besteht, nach der (zumindest formal) jeder die gleichen Chancen und Möglichkeiten besitzt, an Marktentscheidungen teilzunehmen und in der die Freiheit als universelle Möglichkeit nicht notwendigerweise als universelle Wirklichkeit — verstanden wird, - die Vorstellung vorhanden ist, daß Gesellschaft ein Potential von Möglichkeiten ist, das von jedem ausgeschöpft werden kann; Gesellschaft erscheint als „großes Spiel", das von der Ungewißheit der Entscheidung und der grundsätzlichen Korrigierbarkeit aller Ergebnisse ausgeht, und in dem der Versuch zu gewinnen die Form des tentativen Lösungsverfahrens besitzt, des stets erneuten Versuchs und des möglichen Irrtums. Die Regeln, die sozial verbindlich festlegen, wie diese Auseinandersetzungen und Entscheidungen zur Verwirklichung der eigenen Interessen erfolgen sollen, gelten für alle gleichermaßen, wenn auch die Chancen und Möglichkeiten, in diesem Spiel aufgrund von Fähigkeiten und Zufälligkeiten erfolgreich zu sein, sehr unterschiedlich verteilt sein können, - ein hohes Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Stabilität des sozialen Systems Wirtschaft besteht. Merkmale dieses Systems sind die hohe funktionale Abhängigkeit der arbeitsteilig organisierten Mitglieder des Systems, somit also der Zwang, Leistungsbeiträge vieler, unbekannter Dritter antizipieren zu müssen, weiter die Notwendigkeit einer Erwartung in die Konstanz der Ereignisabläufe und Handlungsformen, die sich wiederum nur aus der Stabilität des Systems gewinnen läßt, so daß soziale Beziehungen emotionaler und funktionaler diffuser Art, die durch persönliche Erfahrungen und Anschauungen, durch tra-
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dierte Normen und Regeln gestützt und stabilisiert sind, an Gewicht verlieren müssen.
3.7 Soziale Kosten marktwirtschaftlicher Steuerung Abschließend soll auf Kosten und negative Folgeerscheinungen eingegangen werden, die Steuerung und Koordination wirtschaftlichen Verhaltens im Markt mit sich bringen. Auf die ökonomischen Probleme, wie sie in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur ausführlich behandelt sind, sollen dabei lediglich knappe Hinweise genügen: 1. Die Funktionsfähigkeit des Marktes wird durch mangelnde Rationalität der Wirtschaftssubjekte, durch eine ungenügende Information über das Güterangebot, durch mangelnde Kompetenzen in der Beurteilung der Qualität der Güter und durch eine ungenügende Kenntnis der eigenen Präferenzen geschwächt. 2. Die Wirkung des finanziellen Kontroll- und Sanktionsmechanismus ist ungewiß, zumindest kann verläßlich nicht gesagt werden, in welche Richtung wirtschaftliches Verhalten gelenkt wird: So können die Anreize der Gewinnerzielung so stark werden, daß Gesetze gebrochen oder allgemein gültige Grundwerte und Konventionen verletzt werden; so gehören „kaum verhüllte Formen der Beamtenbestechung, Produktfälschung, Irreführungen, Umweltzerstörung und die relativ skrupellose Vergewaltigung der Sensibilität junger Menschen durch Fernsehwerbung zur gängigen Praxis im Wirtschaftsleben" (Lindblom 1983, 132). 3. Es entstehen bei einer hohen Zahl dezentraler Entscheidungen mit einer kaum übersehbaren Vielzahl vertraglicher Vereinbarungen, mit denen Verfügungsrechte individuell ausgehandelt und Ansprüche geregelt werden, zunehmend Kosten, um diese Ansprüche und Verfügungsrechte durchzusetzen und zu verteidigen. Typisch für ein System dezentraler Entscheidungen mit individuellen, frei vereinbarten Verfügungs- bzw. Eigentumsrechten sind daher hohe Kosten für die Verteidigung und Durchsetzung von Rechtsansprüchen (mit entsprechend hohen Anwalts- und Gerichtskosten). 4. Märkte bedeuten - dies ist Grundlage ihres Funktionierens - Unstabilität und Unsicherheit. Unstabilität ergibt sich aus der Flexibilität der Preise (damit auch des Einkommens), die langfristige Planung erschwert und Erwartungen hinfällig machen kann, die mit der Chance, große Gewinne machen zu können, aber auch dem Risiko bedrohlicher Verluste verbunden ist. Es ist zugleich eine Unsicherheit in bezug auf Erwartungen, Interessen und Wünsche der Marktpartner und damit die Unsicherheit, o b die angebotene Ware auch einen A b n e h m e r findet; dies bedeutet für viele etwa auch die Unsicherheit des Arbeitsplatzes. 5. Eine Optimalsituation kann nur entstehen, wenn alle Kosten, die bei der Produktion von Gütern anfallen, auch in der jeweiligen Kostenrechnung verbucht und über den Preis weitergegeben werden und wenn zugleich der Nutzen nur jenen zugute kommt, die sich auch an den Kosten der Erstellung eines Gutes beteiligen. In marktwirtschaftlichen Ordnungen können nun Umverteilungen dadurch entstehen, daß Kosten bzw. Erträge der Produktion nicht über den Markt weitergegeben, sondern unmittelbar auf Dritte abgewälzt werden. Man spricht von externen Effekten, die dadurch gekennzeichnet sind, daß durch die
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
Produktion in einem Betrieb anderen Betrieben oder Haushalten Vor- o d e r Nachteile entstehen. Typisches Beispiel für diese externen E f f e k t e sind U m weltverschmutzungen. Ausführlicher sollen Folgeprobleme dargestellt werden, die aufgrund dezentraler, einzelwirtschaftlicher Entscheidung eintreten, aber in keiner Entscheidung in R e c h n u n g gestellt werden. Es wurde begründet, d a ß Märkten die Vorstellung zugrunde liegt, daß dann, wenn der einzelne seine Interessen und Bedürfnisse im A u g e hat und bestmöglich befriedigt, auch gesamtwirtschaftliche Ziele und Interessen am besten realisiert werden k ö n n e n . Die „invisible h a n d " war bereits f ü r A d a m Smith ein G a r a n t dafür, daß auch dann, wenn alle nur ihren eigenen Vorteil im A u g e haben und verwirklichen, das G e m e i n w o h l am besten gefördert wird. A b e r die „Tyrannei der kleinen Entscheidungen" kann diese H o f f n u n g —wie vor allem Hirsch ( 1 9 8 0 ) gezeigt hat - leicht zerstören. Sie kann bewirken, daß nicht nur gesamtwirtschaftliche Ziele vereitelt, sondern unvorhersehbare und u n b e r e chenbare Folgeerscheinungen auch die Befriedigung von Bedürfnissen des einzelnen verhindern, die er mit seiner Entscheidung zu befriedigen erhoffte. Die kollektiven Ergebnisse individueller Bemühungen dienen nicht allein dem G e m e i n wohl, sondern k ö n n e n ebensogut negative und von niemandem gewünschte Konsequenzen haben. Die G r e n z e n der individuellen Optimierung ergeben sich durch V e r ä n d e r u n gen, die eintreten, wenn auch andere ihre Wahl getroffen haben - nach der E r f a h rung, daß zwar derjenige, der in einem vollbesetzten Stadion besser sieht, wenn er aufsteht, diese Sicht für alle aber wieder gleich ist, wenn alle dies tun, nur mit d e m Unterschied, d a ß nun alle stehen müssen. So k ö n n e n Einzelentscheidungen, von allen gleichermaßen getroffen, in ihrer Gesamtheit zerstörerische Konsequenzen haben: Eine bessere Bildung anzustreben, um dadurch verbesserte Berufs- und Verdienstchancen zu erwerben, ist f ü r den einzelnen sinnvoll und erstrebenswert. Verfolgen jedoch alle diese Strategie, hebt sich d e r Effekt auf, da sich die Zahl der Positionen mit entsprechenden Qualifikationsanforderungen nicht automatisch e r h ö h e n wird. So steigen Selektionsdruck und individuelle Kosten und A n s t r e n gungen f ü r die Ausbildung, nicht jedoch die Karrierechancen. Wenn sich einzelne ein A u t o kaufen, um zügiger im Individualverkehr voranzukommen, wird nicht nur diese E r w a r t u n g durch Verkehrsstaus vereitelt, die eintreten, wenn viele sich so verhalten, es werden damit auch Wahlmöglichkeiten zerstört - nämlich die Alternative des öffentlichen Verkehrs. Wenn einzelne in Vororte ziehen, um in R u he in ländlicher U m g e b u n g kostengünstig w o h n e n zu können, kann diese Absicht durch gleichgerichtete Entscheidungen vieler a u f g e h o b e n werden. Wenn sich viele d a f ü r entscheiden, im billigeren Discountladen einzukaufen - was individuell rational sein kann — wird der Fachhandel mit seinen Leistungsvorteilen zerstört, o h n e d a ß der einzelne darüber, also über Alternativen von Wahlmöglichkeiten, mit entscheidet. Allgemein „die Wahl, der sich d e r einzelne bei einer markt- o d e r marktähnlichen Transaktion . . . gegenübersieht . . . , erscheint immer attraktiver als sie tatsächlich ist, was sich erst nach einer bestimmten Zeitspanne, während der auch a n d e r e ihre Wahl getroffen haben, herausstellt. Ein Bruch zwischen den Bedingungen der individuellen und gesellschaftlichen Wahl aufgrund von M a r k t chancen b e d e u t e t der klassischen Analyse zufolge ein Versagen des M a r k t e s . " (Hirsch 1980, 85) Eine weitere Konsequenz ergibt sich aus der Tatsache, daß die Art, wie P r o d u k t e e r w o r b e n werden, von entscheidender B e d e u t u n g sein kann. Sie verändert
1. Kapitel: Soziologie des Marktes
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die Eigenschaften und Qualitäten eines Produkts, sie beeinflußt den Inhalt sozialer Beziehungen und sozialen Verhaltens und bestimmt die R a h m e n b e d i n g u n g e n unseres Handelns (Hirsch 1980, 128 ff). Qualität und Eigenschaften eines Produkts hängen von der Grundlage ab, auf der es bereitgestellt wurde. In dem M a ß e etwa, in dem ärztliche Hilfe zur vertraglichen, auf G e l d e r w e r b ausgerichteteten Leistung und das Arzt-Patienten-Verhältnis unverbindlicher wird, sinkt zugleich das Vertrauensverhältnis mit der Konsequenz, daß es immer häufiger zu Klagen wegen falscher Behandlung und umgekehrt juristisch zu einer defensiven Behandlungspraxis k o m m t ; wenn Blut nicht m e h r gespendet, sondern gekauft wird, führt dies - wie R. Titmuss (1972) belegt hat - zu negativen Konsequenzen f ü r die Q u a lität eines Produkts und die Bereitschaft zu seiner Bereitstellung; wenn D e m o k r a tie zu einem System des Kaufs von Wählerstimmen wird, werden Parteispenden und Korruption zu seinen notwendigen Bestandteilen; wer Bedürfnisbefriedigung — etwa in der Liebe - als vertraglich gesichertes Recht des Verbrauchers beansprucht, verschließt sich die Möglichkeit geistig-seelischen Erlebens. Der Markt schränkt wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten ein, die ohne Geld erhältlich wären. Weiterhin führt V e r m a r k t u n g zu einer V e r ä n d e r u n g der Qualität sozialer Beziehungen und sozialer N o r m e n . In dem M a ß e nämlich, in dem Kommerzialisierung zu einer Privatisierung der Vorteile zwingt, werden Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Altruismus nicht mehr in dem U m f a n g bereitgestellt, d a ß j e d e r dies auch f ü r sich — langfristig - f ü r lohnend hält. Die soziale N o r m gegenseitiger Hilfe, auch der Idealismus freiwilliger Leistungen tritt mit einer Ökonomisierung der Leistungsbeziehungen in den Hintergrund. Schließlich kommt es zu Veränderungen in den R a h m e n b e d i n g u n g e n unseres Handelns. Dies zeigt sich etwa in der — zunächst paradox erscheinenden — Entwicklung, daß mit der z u n e h m e n d e n Freiheit, die der Markt formal eröffnet, die Zahl der Regelungen, Gesetze und Verordnungen zunimmt. Sie müssen Ansprüche garantieren, rechenhaft und einklagbar machen, die zuvor soziale Normen und das Vertrauen in soziale Beziehungen, wie dies f ü r Reziprozitätsnormen typisch ist, gesichert haben. Diese soziologische Analyse des Marktes ist nicht lediglich eine Neuformulierung dessen, was aus der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur über Struktur und Funktionsweise des Marktes bekannt ist. Vielmehr sollte deutlich werden, daß der Markt einen grundlegenden Steuerungs- und Koordinationsmechanismus wirtschaftlichen Verhaltens darstellt, der sich wesentlich von der sozialen Steuerung durch soziale N o r m oder Herrschaft unterscheidet. Insofern ist eine Soziologie des Marktes nicht nur für die Wirtschaftssoziologie von Bedeutung, sondern auch f ü r die grundlegende soziologische Erklärung der verschiedenen Formen menschlichen Handelns.
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2. Kapitel: Geld und Geldkritik aus wirtschaftssoziologischer Sicht Geld ist eine G r u n d b e d i n g u n g der arbeitsteiligen Tauschwirtschaft und damit des m o d e r n e n Gesellschaftslebens überhaupt. An die Stelle des Naturaltauschs tritt durch das Medium des Geldes eine Vermittlung d e r wertmäßigen G ü t e r - und Leistungsbewegungen, die deren fast unbegrenzte A u s d e h n u n g und Rationalisierung ermöglicht. Dies ist Folge der zwei konstitutiven Eigenschaften des Geldes: als konventionell oder rechtlich garantiertes Tausch- bzw. Zahlungsmittel und zugleich als Wertmesser zu gelten. Geld als Tauschmittel ermöglicht „unvollständige" Tauschhandlungen. A n b i e ter und Nachfrager von G ü t e r n und Leistungen k ö n n e n unter Einschaltung beliebiger Zwischenglieder den unmittelbaren Austausch zeitlich aufschieben und räumlich verlagern. In d e m Maße, in dem Geld als allgemeiner Liquiditätsträger, als Ausdruck der Zahlungfähigkeit akzeptiert wird, k ö n n e n komplexe Systeme gesellschaftlicher Arbeitsteilung entstehen, deren Teilnehmer an Handlungsspielraum gewinnen: „ D i e Z a h l der ohne Geld zu verbindenden Menschen ist gering, die Steigerung ihrer Leistung ist mäßig. Das Geld ist es, das größere Menschengruppen in Staat und G e m e i n d e viel leichter zum Z u s a m m e n w i r k e n und zur A r beitsteilung bringt, das der letzteren erst die volle D u r c h f ü h r u n g , ihre bedeutenden, ja riesenhaften Erfolge ermöglicht, das erst die lebendigen Märkte, den großen Handel und V e r k e h r schafft" (Schmoller 1904, 97). Als Wertmesser bietet Geld die Möglichkeit zur vergleichenden Nutzenabschätzung und damit zu einer rechenhaften Orientierung nicht nur im einzelnen Tauschakt, sondern in der Gesamtheit des Wirtschafthandelns. Dies ist eine Grundvoraussetzung seiner fortschreitenden Rationalisierung: „ N u r mit Geldwerten k o n n t e man R o h - und Reinertrag berechnen, durch die B u c h f ü h r u n g in Geld eine Kontrolle und Übersicht aller wirtschaftlichen Vorgänge schaffen; nur so k o n n t e man rationell kontrollieren, ob man mit Gewinn oder Verlust arbeite und wirtschafte, ob die A u f w e n d u n g e n dem Erfolge entsprächen. Die vollendet kluge und klare Rationalität alles Wirtschaftslebens ist nur mit und durch das Geld und durch die G e l d r e c h n u n g entstanden" (Schmoller 1904, 97). Geld erfüllt diese G r u n d f u n k t i o n e n allerdings nur unter der Voraussetzung seiner „ G e l t u n g " , d.h. der G a r a n t i e beliebiger Einlösbarkeit zu relativ stabilen Austauschrelationen. D e r V e r t r a g zwischen den Tauschpartnern m u ß gleichsam prolongierbar und ohne größeren Verlust in beliebig flexibilisierter Weise übertragbar sein. Dies setzt die Institutionalisierung von Erwartungen und Verpflichtungen voraus (Parsons 1976, 203), was in m o d e r n e n Gesellschaften in der Form eines staatlich b e g r ü n d e t e n und gewährleisteten Währungssystems geschieht. D a r a u s ist abgeleitet worden, daß Geld soziologisch gesehen keine Ware, sondern bloßes Kommunikationsmedium sei (Büß 1 9 8 5 , 8 3 ) . D e m ist entgegenzuhalten, d a ß die Liquiditätseigenschaft des Geldes seinen Eigenwert begründet. Bereits F. K. Savigny e r k a n n t e , daß Geld „den von ihm gemessenen Wert selbst in
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sich schließt, und so den Wert aller a n d e r e n Vermögensstücke vertritt. D a h e r verleiht das Eigentum des Geldes dieselbe Macht, welche die durch dasselbe gemessenen Vermögensstücke zu verleihen fähig sind, und es erscheint hierin das Geld als ein abstraktes Mittel zur Auflösung aller Vermögensstücke in bloße Quantitäten. Das Geld also gewährt seinem E i g e n t ü m e r eine allgemeine, auf alle G e g e n stände des freien privatrechtlichen V e r k e h r s a n w e n d b a r e Vermögensmacht, und es e r s c h e i n t . . . als selbständiger Träger dieser Macht, allen besonderen Bestandteilen des Vermögens zur Seite stehend, und mit denselben gleichberechtigt und gleich wirksam. Diese dem Gelde innewohnende Vermögensmacht hat daher auch das Eigentümliche, daß sie von individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen unabhängig ist, also für jeden und unter allen U m s t ä n d e n gleiche Brauchbarkeit h a t " (Savigny 1851, 405). Savignys „ V e r m ö g e n s m a c h t " ist mit der K a u f k r a f t identisch, die den eigentlichen Geldwert darstellt. Der durch den Gebrauch von Geld individuell aufschiebbare Austausch von G ü t e r n und Leistungen weist diesem eine zusätzliche Speicherfunktion zu. Geld ist sparfähige und ausleihbare K a u f k r a f t . So ist auch zu erklären, d a ß Geld sehr wohl eine Handelsware ist und daß f ü r die Bereitstellung von Geld ein Preis (Zins) zu entrichten ist. Bezahlt wir diese Verfügbarkeit von Kaufkraft (Liquidität) oder rein formal betrachtet: der E r w e r b von Zahlungsfähigkeit. G e r a d e diese Eigenschaft des Geldes, „absolutes Mittel" (Simmel) zu sein, auf das zeitliche V o r - und Rückgriffe möglich sind, begründet seinen Gebrauch als Macht- und Herrschaftsinstrument. Entwicklung des Geldes Die Entstehung des Geldes und die jeweilige Ausprägung seiner Funktionen sind Ausdruck des gesellschaftlichen Strukturwandels, insbesondere der Wert- und Normorientierung sozialen Handelns. In einer grundlegenden historischen U n t e r suchung kam Bernhard Laum zu d e m Ergebnis: „ D e r Ursprung des Geldes liegt im Kultus. Das p r o f a n e Austauschen bzw. Entgelten von G ü t e r n und Leistungen ist zunächst frei u n d ungebunden. Tauschen bzw. Entgelten zwischen G ö t t e r n und Menschen wird am frühesten durch bestimmte N o r m e n geregelt; die Kultordnung schafft normaltypische Entgeltungs- bzw. Tauschmittel. Definiert man Geld als ein in A r t und G r ö ß e bestimmtes Entgeltungsmittel, so ist der Kult Schöpfer des G e l d e s . . . Die Geschichte des Geldes ist letzten Endes die Geschichte der Säkularisation der kultlichen F o r m e n . " (Laum 1924, 158). Die wesentlichsten Veränderungen skizziert Wilhelm Gerloff wie folgt: „ D a s Geld, anfänglich und ursprünglich eine allgemeine soziale Kategorie, wird, indem es Erscheinungsform des Marktes, ein Mittel des Marktverkehrs wird, eine spezifisch ökonomische Kategorie, und weiterhin wird es — indem der Staat zum Träger der O r d n u n g des Geldwesens wird — eine juristische Kategorie, nämlich ein G e schöpf der R e c h t s o r d n u n g " (1952, 182). G e o r g Simmel hat die Entwicklung des Geldes als Bewegung von der Substanz zur Funktion gekennzeichnet. Ursprünglich war Geld als „dritte W a r e " ein qualitativ und quantitativ leicht bestimmbares Wirtschaftsgut. Dieses Warengeld (Vieh, Metallbarren, Salz, Leder, Muscheln usw.) diente neben der Funktion als Tauschmittel mannigfaltigen Zwecken: im Kultus und in der Rechtspflege ( O p fer- und Wergeid), sowie in der Repräsentation gesellschaftlicher Rangstellung (Schmuck- und Hortgeld). Eine entscheidende V e r ä n d e r u n g brachte die allmähli-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
che E i n f ü h r u n g des Münzgeldes, das durch symbolische Kennzeichnung mit dem O p f e r g u t o d e r d e m der Gottheit geweihten Sinnbild, später dann durch Darstellung weltlicher Herrschaftssymbolik auf sakrale und politische Funktionszusamm e n h ä n g e verweist. Durch die fixierte Relation zu einer Edelmetallbasis blieb das Münzgeld bis in die Gegenwart hinein immer noch auf einen substantiellen „ W a r e n w e r t " bezogen, wenn auch der staatlich gewährleistete A n n a h m e z w a n g letztlich ausschlaggebend wurde. Die Einführung von Papiergeld bringt die endgültige Ablösung vom substanzgebundenen Eigenwert und bereitet die V e r w e n d u n g von Geld als reine Rechengröße (Giralgeld) vor, deren Gebrauch im täglichen Leben lediglich eines Legitimationsnachweis (Scheckkarte, Kreditkarte) bedarf. In dieser Entmaterialisierung des Geldes bei gleichzeitiger Ausweitung und Differenzierung seiner Funktionen spiegelt sich das z u n e h m e n d abstrakter werdende, durch vielfältige Kommunikations- und Steuerungsmedien vermittelte Beziehungsgefüge m o d e r n e r Erwerbsgesellschaften wider, das personale Kontakte zum Spezialfall werden läßt. D e r G e b r a u c h des Geldes in allen seinen gegenwärtigen Erscheinungsformen ist zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden. Dennoch bleiben im U m g a n g mit und in der Einstellung zum Geld Überlieferungsreste, die an den ursprünglich numinosen, später lange noch exklusiven Umkreis des Geldgebrauchs erinnern. Hierzu gehören symbolische und zeremonielle Handlungen ebenso wie der nur zögernde Abschied von konkreten G e l d f o r m e n . Die ursprünglich keineswegs unumstrittene bargeldlose Lohnzahlung z.B. ist erst seit einer G e n e r a t i o n üblich, und der G e b r a u c h von Kreditkarten verbreitet sich in Mitteleuropa nur sehr zögernd. Die sozialen Wirkungen des Geldes Eine soziologische Wirkungsanalyse des Geldes begegnet ähnlichen Problemen wie die der Technik. In beiden Fällen handelt es sich ursprünglich um Ausdrucksformen einer wertorientierten Lebenspraxis, dann immer stärker um Hilfsmittel zur Erweiterung von Handlungspotentialen, schließlich aber zugleich auch um relativ a u t o n o m w e r d e n d e Handlungsfelder mit immanenter Teilrationalität. So werden soziale P h ä n o m e n e , die primär durch wert- bzw. zweckgesteuerte Funktionalität gekennzeichnet sind, auf dem Wege komplexer Wechselwirkungen selbst zu Wert- und Zweckträgern, die ihrerseits soziale Prozesse funktionalisieren. Der entscheidende Schritt in diesem Prozess ist die Institutionalisierung: die normative Einbindung in die sozialkulturelle R a h m e n o r d n u n g . So wird das Geld, das zunächst Hilfsmittel weltlicher Herrschaft ist, zu deren Symbol und die O r d nung des Geldwesens zu einem unabhängig von der N o t e n b a n k v o r z u n e h m e n d e n Verfassungsauftrag. So sehr die Geldverfassung Ausdruck einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist, so sehr erweist sie sich auch als Träger ihrer Umwandlung. Es soll nun anhand wichtiger Sekundärwirkungen des Geldes gezeigt werden, in welcher Weise und in welchem A u s m a ß soziale Prozesse in modernen Wirtschaftsgesellschaften geldabhängig sind. Geld ist, wie schon erwähnt, zugleich Rationalisierungsinstrument und Rationalisierungsnorm wirtschaftlicher Austauschprozesse. Dies wird möglich durch A u f h e b u n g sach-, räum-, zeit- und p e r s o n e n g e b u n d e n e r Beschränkungen (Vgl. W e b e r 1925, 41) und durch die Abwicklung der Tauschvorgänge a n h a n d rational vergleichbarer M e ß g r ö ß e n . Allerdings kann Geld nur zu dieser Wirksamkeit ge-
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langen, wenn eine entsprechend rationalisierte Marktorganisation entsteht. Je größer und einflußreicher der Kreis Geld verwendender Wirtschaftssubjekte wird, desto dringlicher wird die F o r d e r u n g nach A u f h e b u n g von Tauschbarrieren, nach einer marktwirtschaftlichen Organisation der Wirtschaftsgesellschaft. Wilhelm Gerloff hat diesen Z u s a m m e n h a n g ausführlich untersucht und darauf hingewiesen, d a ß sich „ K a u f m a c h t e n t f a l t u n g " des Geldes und Marktwirtschaft gegenseitig bedingen. K a u f m a c h t b e s c h r ä n k u n g des Geldes wirkt regressiv und hat eine entsprechende Entfunktionalisierung des Geldes zur Folge (vgl. Gerloff 1952, 205). Analog hängt die durch Geld berechenbare Bewegung von Güter- und Leistungsströmen von einer relativen Stabilität des Wertmaßstabs ab, was zur Forderung nach Geldwertstabilität führt. Diese wiederum ist nur erreichbar, wenn sie als vordringliches Ziel verfolgt wird, dem Geldmechanismus also eine relativ auton o m e Stellung im R a h m e n des Wirtschaftsgeschehens zugewiesen wird. Eine gegenüber dem realen G ü t e r - und Dienstleistungsangebot übermäßige Expansion (Inflation) oder Kontraktion (Deflation) der Geldmenge kann zu schweren R e gressionserscheinungen bis hin zur Rückbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf ein naturalwirtschaftliches Niveau führen. Indem es den Güteraustausch rationalisiert und auf die rein wirtschaftliche Funktion reduziert, wirkt Geld auch als soziales Emanzipationsinstrument. Der Tauschvorgang wird von seiner Einbindung in soziale Bräuche und Sitten ebenso wie von seinen statusbezogenen Verpflichtungen befreit und damit allgemein zugänglich, soweit Kaufkraft vorhanden ist. Rudolf von Ihering hat diesen Übergang von der gegenseitigen Verpflichtung zur bloß rechenhaften Entgeltlichkeit, d.h. die durch Geld mögliche Kommerzialisierung des Lebens als „Vorzug des Geldes vor der Unentgeltlichkeit" treffend charakterisiert: „ D i e Gefälligkeit hat viele Voraussetzungen, das Geld keine andere als sich selbst. Die Gefälligkeit will mit Schonung und Geschick angesprochen sein, sie hat ihre Stimmungen, ihre Launen und Antipathien, sie kehrt sich vielleicht gerade von demjenigen ab, der ihrer am meisten bedarf, oder zu der Zeit, in der Lage, wo sie ihm am nötigsten ist, und selbst wenn sie immer willig bliebe, so hat sie doch ihre eng bemessenen G r e n z e n . Von alledem weiß das Geld nichts. D a s Geld kennt kein Ansehen der Person, es leidet nicht an Launen, es hat keine Zeiten, wo es minder zugänglich wäre, es kennt keine Grenze, bei der seine Bereitwilligkeit endete . . . " (v. Ihering 1877, 128). Von den Zeitgenossen des sich entwickelnden Hochkapitalismus wurde also durchaus die durch Geld mögliche U m w a n d l u n g persönlicher Abhängigkeit in einen formalen Kaufakt als emanzipatorisch e m p f u n d e n . D e r gleiche Vorgang wurde später, wie noch zu zeigen sein wird, Anlaß zu heftiger Kritik an der durch die Geldwirtschaft herbeigeführten sozialen Beziehungslosigkeit. Dennoch bleibt die Tatsache, daß Gelderwerb und Geldeinsatz neue Formen der Selbständigkeit schaffen und die Partizipation an bisher verschlossenen Lebenskreisen ermöglichen. Ein typisches Beispiel aus der Gegenwart ist die B e d e u t u n g der eigenständigen Verfügung über Geld f ü r die Begründung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen: „ W e r Geld verdient, kann mitreden". Soziale Differenzierung und Integration werden mit Hilfe des Geldes zu einem von traditionalen Mustern abgelösten, die Markterfordernisse reflektierenden Vorgang, der rasche Anpassungen ermöglicht. Ein Beispiel hierfür ist der Wechsel vom Berufsstatus zum Funktionsstatus als Grundlage der Entlohnung in Leistungsorganisationen: An die Stelle eines Entlohnungsschemas auf der Grundlage der Kategorien U n g e l e r n t e r - A n g e l e r n t e r - G e l e r n t e r ist z u n e h m e n d eine differen-
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zierte Skala von in Geld ausdrückbaren und grundsätzlich variablen Punktwerten getreten, die der objektivierten Arbeitsschwierigkeit oder dem individuellen Leistungsvermögen entsprechen sollen. Den Grundfunktionen des Geldes entsprechend kann sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung nicht allein zwischen Produzent und Endverbraucher fast beliebig auffächern, sondern auch zur Herausbildung tertiärer Wirtschaftsbereiche (Handel, Banken, Versicherungen usw.) führen, deren Grundlage Geldtransaktionen sind. Gleichzeitig entstehen dadurch soziale Gebilde und Gruppierungen, die Interesse nicht allein an der unumschränkten Nutzung des Geldes, sondern auch an der allgemeinen A n e r k e n n u n g des damit geschaffenen Normensystems haben: Mit Hilfe des Kredits (Ausleihe von Kaufkraft) sind viele Wirtschaftsvorgänge steuerbar, aber das System funktioniert nur so lange, wie die Grundlagen des Kredits nicht manipuliert werden. Durch Geld ist die Mobilisierung und Dynamisierung des mit dem Wirtschaftsprozeß über zeitliche und räumliche Begrenzung hinweg verflochtenen Soziallebens möglich. Man kann z.B. Kapital in den Bau eines Hochhauses investieren, dessen Nutzungsdauer auf mindestens 50 Jahre bemessen wird, gleichzeitig aber bei Finanzierung über eine Aktiengesellschaft den jeweiligen Eigentümerkreis weitgehend flexibel halten, bzw. durch Gewährung von Lombardkrediten das eingesetzte Kapital bei Fortbestand der Eigentümerrechte anderweitig einsetzen. Oder es ist möglich, eine Produktionsanlage in ein Entwicklungsland zu liefern, deren Gegenwert erst in 30 Jahren zahlbar wird, durch Gewährung langfristiger Kredite aber dem Lieferanten sofort zur Verfügung steht. Ebenso ist es möglich, die Ernte des kommenden Jahres bereits jetzt zu verkaufen, sich durch Abschluß einer Lebensversicherung eine kaufkraftgesicherte Altersrente zu schaffen usw. Auch räumliche Bindungen werden mobilisiert. Mit Hilfe internationaler Finanztransaktionen können Produktionsstätten, Verkaufsorganisationen, aber auch Ferienkolonien an den zuvor entlegensten Orten der Erde geschaffen werden, wobei der Transfer von Sachgütern völlig getrennt bleiben kann. Alle diese Beispiele zeigen die grundlegende Bedeutung des Geldes als Steuerungsmittel von Wirtschaftsvorgängen, die damit zugleich an zweckrationale Strategien zur Optimierung des Mitteleinsatzes gekoppelt werden. Einerseits macht die durch Geldverwendung mögliche Ausdehnung der raumzeitlichen Perspektive von Wirtschaftshandlungen die betreffenden Entscheidungen zunehmend riskanter. In vielen Fällen muß der Staat als Bürge auftreten, was seine Rolle als Träger des bestehenden Währungssystems verstärkt. Andererseits wird Geld zunehmend auch zum Sicherungsmittel der Zukunft, das nach Luhmann gerade als Religionsersatz dient (vgl. Luhmann 1974, 214). Hierbei wird allerdings oft nicht realisiert, daß Zukunftsvorsorge durch Bildung von Geldkapital nur auf der Basis einer staatlich garantierten Solidarhaftung aller Wirtschaftssubjekte möglich ist, die sich an die Vereinbarung halten müssen, die bestehende Geldordnung, insbesondere den Geldwert relativ stabil zu halten bzw. bei erforderlichen Veränderungen zu haften. Wie illusorisch derartige Erwartungen sein können, zeigen die dramatischen Schwankungen des Außenwerts von Währungen, z.B. des Dollars und die immer wieder auftretenden (teils inflatorischen) Schwankungen ihres Binnenwerts. Diese Schwankungen sind zugleich ein Indikator dafür, daß modernes Geld als Geschöpf der Rechtsordnung auch abhängig von dem diese O r d n u n g gewährleistenden Herrschaftssystem ist und daher grundsätz-
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lieh machtorientiert manipuliert werden kann. Wirtschaftliche und politische Macht bedienen sich des Geldes zur Erweiterung ihrer Einflußsphäre, man denke z.B. an Wahlgeschenke und Subventionszahlungen. Reichen die verfügbaren Mittel nicht aus, besteht die Versuchung einer Geldwertmanipulation, zumal deren Folgen begrenzt aufschiebbar sind. Allerdings wird dadurch letztlich die Stabilität der Herrschaftsordnung aufs Spiel gesetzt. Ein großer Teil politischer Umwälzungen entwickelte sich aus Krisen des Staatshaushalts und aus Inflationsfolgen. Zurecht betont Gerloff: „Ein Gut ist nicht deshalb Geld, weil es durch ein Gesetz dazu erhoben worden ist, sondern kraft der Anerkennung, die es im Verkehr f i n d e t . . . Wenn Gütergebrauch und Rechtsordnung sich trennen, dann führt das durch staatlichen Befehl geschaffene Geld nur ein Schattendasein . . . " (1952, 187). So zeigt ein Uberblick über soziale Wirkungen des Geldes einerseits eine außerordentliche Ausweitung von Handlungspotentialen, die gleichzeitig durch Geld als Steuerungsinstrument wirksam koordiniert werden können. Das Ausmaß der hierbei erreichbaren Rationalität ist andererseits an die Einhaltung von Spielregeln gebunden, die die Funktionsfähigkeit des Geldes begründen. Werden diese Zusammenhänge mißachtet, kommt es zu einer Krise des Geldsystems, die sich angesichts seiner zentralen Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Austauschprozesse rasch auf alle sozialen Handlungsfelder ausdehnt. Die gesellschaftliche Organisation des Geldwesens In der Bundesrepublik Deutschland wird die Funktionsfähigkeit des Geldes institutionell gestützt durch eine staatlich garantierte Rahmenordnung für die Transaktionen, deren Träger ein hochdifferenziertes System von Geld- und Kreditinstituten ist. Im Kredit- und Versicherungssektor waren 1985 7 9 0 0 0 0 Beschäftigte tätig (1975: 690000). Rechtliche Grundlage ist das Gesetz über das Kreditwesen vom 10. Juli 1961, das eine ständige Beaufsichtigung der Banken, insbesondere durch das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen vorsieht, das dem Bundesminister für Finanzen unmittelbar unterstellt ist. Das Gesetz über die Deutsche Bundesbank vom 26. Juli 1957 bestimmt die Funktionen und Befugnisse der den Geldumlauf kontrollierenden Zentralnotenbank. Die Deutsche Bundesbank ist in ihrer Tätigkeit weitgehend autonom gegenüber der Bundesregierung und politischen Machtträgern. § 12 Bundesbankgesetz sieht vor, daß die Bundesbank die Bundesregierung zwar unterstützt, in Erfüllung ihrer Aufgabe jedoch unabhängig ist. Dies betrifft insbesondere die Regelung des Geldumlaufs und der Kreditversorgung der Wirtschaft. Getrennt hiervon operieren die verschiedenen Institute des Bankensystems, wobei insbesondere zwischen dem Kreditbanken-, Sparkassen- und Girozentralen- sowie dem Genossenschaftssektor zu unterscheiden ist. Grundfunktion der Bank ist die eines Zahlungsinstituts, das Geldeinlagen entgegennimmt (Passivgeschäft) und auf dieser Basis Kredite vermittelt (Aktivgeschäft), d.h. Liquidität verkauft. Wesentliche Einnahmequelle ist die Differenz zwischen dem als Preis für den Liquiditätsverzicht des Einlegers zu zahlenden Habenzins und dem vom Kreditnehmer als Preis für Liquiditätsbereitstellung zu zahlenden Debetzins. Ständig transformieren die Banken Geld in Kredit und umgekehrt, wobei auch die Fälligkeit der jeweiligen Forderungen herauf- oder herabgesetzt werden kann.
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Dies kann über die A u s g a b e von Wertpapieren (Aktien, Schuldverschreibungen) geschehen, die gesondert an der Börse gehandelt werden. Bei den nach dem Rentabilitätsprinzip wirtschaftenden Privatbanken ist in der Bundesrepublik Deutschland vom Geschäftsumfang her zwischen den drei G r o ß b a n k e n (Deutsche Bank, Dresdner Bank, C o m m e r z b a n k ) mit internationaler G e schäftsstruktur und den verschiedenen Regionalbanken zu unterscheiden. D e m gegenüber sollen Sparkassen und Genossenschaftsinstitute nicht gewinn- sondern aufgabenorientiert handeln, im ersten Fall zur Förderung k o m m u n a l e r Interessen, im letzteren Fall zur Mitgliederförderung. Insgesamt haben die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute vom Geschäftsvolumen her ein Übergewicht über den privaten Bankensektor, in dem allerdings die Konzentration nicht unerheblich ist, was die Position der K u n d e n ohne Verhandlungsmacht schwächt. Andererseits befindet sich der Kreditsektor in einem raschen Strukturwandel, der durch Internationalisierung und Universalisierung der Geschäftsabläufe gekennzeichnet wird. Hierdurch ergeben sich neue Wahlmöglichkeiten für den Kundenkreis. Die Tatsache, d a ß die Kreditinstitute eine für die Volkswirtschaft grundlegende Kapitallenkungsfunktion wahrnehmen, und zwar innerhalb der marktwirtschaftlichen O r d n u n g durch eine allerdings je nach dem Geschäftszweck strikt modifizierte Gewinnorientierung, hat immer wieder Forderungen nach einer Reform des Bankwesens bis hin zu seiner Verstaatlichung hervorgerufen. Hinzu kam das A r g u m e n t der Machtkonzen'tration u n d der nicht hinreichend kontrollierbaren Machtausübung durch Beteiligung an U n t e r n e h m u n g e n , A u s ü b u n g des Depotstimmrechts (aufgrund der von Kunden hinterlegten Aktien), personellen Einfluß, z.B. durch Aufsichtsratsmandate und selektive Kreditgewährung. Zweifellos vergrößert die Universalisierung des Bankengeschäfts bei entsprechendem G r ö ßenwachstum den Einfluß ihrer Manager. Die Einflußmöglichkeiten der B a n k e n werden aber auch überschätzt angesichts des erheblichen Wettbewerbs, auch auf internationaler Basis. In einer Untersuchung aus den J a h r e n 1972/73 stellten M. Hein und H. Flöter im Hinblick auf G r o ß u n t e r n e h m e n fest, daß der Anteil groß ist, bei dem Banken keinen eigentumsrechtlichen Einfluß haben und „ d a ß den Banken nur in Ausnahmefällen ein über ihre Beteiligungsquote hinausgehender Einfluß möglich ist, da in der Regel a n d e r e G r o ß a k t i o n ä r e vorhanden sind" (1975, 355). Entscheidender ist das Problem, wie die Funktionsfähigkeit des Geldes und des von ihm abgeleiteten Kredits gewährleistet werden kann, da hiervon die Planbarkeit und Berechenbarkeit wirtschaftlicher Handlungen abhängen. Neben schwer beeinflußbaren externen Einflüssen handelt es sich hierbei um die Aufrechterhaltung eines stabilisierenden bzw. wachstumsfördernden Verhältnisses von verfügbarer K a u f k r a f t und verfügbarer Menge von Gütern und Dienstleistungen. Somit liegt die Verantwortung sowohl bei den M a r k t k o n t r a h e n t e n auf G ü t e r - , Dienstleistungen- und Arbeitsmärkten, als auch bei der E i n n a h m e n - und Ausgabengeb a r u n g des Staates. Störgrößen sind übermäßige grenzüberschreitende Z u s t r ö m e bzw. Abflüsse von Liquidität. Die funktionale Organisation des Geldwesens mit ihren mannigfaltigen sozialen Aspekten ist weitgehend eine Frage d e r ökonomischen Rationalität und der politischen A k z e p t a n z und insofern ein Aktionsfeld wirtschaftspolitischer E x p e r ten, die sich um einen Interessenausgleich bemühen. Die B e d e u t u n g des Geldes und des Geldwesens für Struktur und Wirkungsweise sozialer Interaktionen führt
2. Kapitel: G e l d und Geldkritik aus wirtschaftssoziologischer Sicht
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aber zu noch grundsätzlicheren Fragestellungen, die die Integration von Wirtschaft und Gesellschaft und die dabei geltenden Wertvorstellungen betreffen. Dies soll nun in einer Darstellung der gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit dem G e l d p h ä n o m e n gezeigt werden. Geld als Gegenstand der Gesellschaftskritik Der Wert des Geldes und die Bewertung seiner Funktionen sind offensichtlich nicht bloßer Ausdruck rein ökonomischer Sachverhalte. Sie tangieren auch Grundüberzeugungen der Menschen, die mit fraglos hingenommenen Bindungen an verpflichtende Leitbilder menschlicher Existenz zusammenhängen. Zwar werden die G r ü n d e hierfür im Alltagsbewußtsein nur selten transparent, sie sind nichtsdestoweniger einleuchtend. Alle sozialen Beziehungen des Menschen und damit die Grundlage seiner gesellschaftlicher Existenz können auch als Austauschprozesse aufgefaßt werden. Das soziale Verhalten erscheint aus dieser Sicht als eigen- oder fremdgesteuerte Optimierungsstrategie hinsichtlich der Erweiterung des Tauschpotentials, der Bestimmung des Tauschwerts und der Nutzung des Tauschmediums. Der Austausch von Marktleistungen mit Hilfe des Geldes ist nur ein spezieller institutionell ausgesonderter Bereich, dessen allgemein sozialer Charakter aber selbst in der abstraktesten Form durchaus erhalten bleibt. Grundformen der Geldkritik Geld als Rationalisierungsinstrument wirtschaftlicher Austauschprozesse hat, wie schon erwähnt, einen Großteil sozialer Beziehungen aus der Kontrolle durch traditionale Wertorientierungen gelöst und sie gleichzeitig in versachlichte Austauschprozesse umgewandelt. Diese Erfahrung, die der Mensch im Zuge der Entwicklung einer modernen arbeitsteiligen Erwerbs- und Marktwirtschaft im Rahmen der Herausbildung kapitalistischer Wirtschaftsformen gemacht hat, brachte kaum zu überschätzende Konsequenzen für sein Selbstverständnis und seine Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. W e r sich deshalb kritisch mit der gesellschaftlichen Situation des modernen Menschen auseinandersetzt, wird f r ü h e r oder später auch eine ihrer Grundbedingungen: die Eigendynamik der Tauschmechanismen, d.h. die B e d e u t u n g des Geldes erfassen. So k o m m e n auch in der Kritik am Geld Reaktionen auf krisenhaften V e r ä n d e rungen der Gesellschaft zum Ausdruck. Ausgangspunkt ihrer Darstellung soll die These sein, d a ß eine Kritik des Geldes entweder auf naturrechtlichen bzw. dogmatischen Vorstellungen von den Wirkungsweisen und funktionalen Erfordernissen wirtschaftlicher Austauschprozesse oder auf der rein pragmatischen Einschätzung der Funktionalität dieser Austauschprozesse und ihrer Folgen beruht. In beiden Fällen handelt es sich u m die Bewertung von Strukturen und Abläufen mit wirtschaftsbezogenem Austauschcharakter. In ihrer allgemeinsten Form kann Kritik am Geld auftreten als A b l e h n u n g des Geldes als Symbol weltlicher Wertorientierungen. Geld erscheint aus dieser Sicht stellvertretend für die „ A v a r i t i a " (Erwerbsstreben), die als die Daseinswerte negierend, mindernd oder zumindest nicht fördernd interpretiert wird. Voraussetzung eines derart kritischen Standpunktes ist stets eine idealistische Weltsicht, die die reale B e d e u t u n g des Geldes als soziales Geltungs- und Machtmittel nicht anerkennt. Dies ist immer dann der Fall, wenn die den Bestand der Gesellschaft garan-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
tierenden Wertsysteme durch traditionale oder charismatische Sozialbindungen verfestigt wurden. In ganz besonderem M a ß e trifft dies auf feudale Agrargesellschaften zu. Die relative Statik teils kastenartig, teils ständisch hierarchisierter Sozialbindungen wird durch fortschreitende Geldwirtschaft in ihrem Bestand gefährdet. Geldkritik in dieser Phase des gesellschaftlichen Wandels läßt sich interpretieren als stabilisierende Dogmatisierung des Werthintergrundes traditionaler Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen und dessen Ü b e r h ö h u n g durch sozialethische Systeme. Die relative Minderschätzung weltlicher Wertorientierungen, für weite Perioden des A b e n d l a n d e s in dem Gegensatz zwischen civitas dei und civitas terrena manifestiert, ist allerdings an die Existenz sozialer G r u p p e n gebunden, deren D a seinsvorsorge gleichsam gesellschaftlich garantiert und institutionalisiert wurde. Dies trifft im b e s o n d e r e n M a ß e für den mittelalterlichen Klerus unter Einschluß des Mönchtums zu. Die unmittelbar im wirtschaftlichen Existenzkampf befindlichen sozialen G r u p p e n haben stets eine eher pragmatische Einstellung zu Geld gehabt. Analogien finden sich in der modernen Geldkritik. In dem Maße, in dem sich eine „ f r e i s c h w e b e n d e " , nicht mit dem Produktionsprozeß v e r b u n d e n e Intelligenzschicht etablieren konnte, wurde auch Geldkritik aus philosophisch-anthropologischer Sicht möglich. Grundlegend wurde hierbei die G e d a n k e n f ü h r u n g des jungen Marx: „ D a s Geld erniedrigt alle G ö t t e r des Menschen und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat d a h e r die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen e n t f r e m d e t e Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies f r e m d e Wesen beherrscht ihn, und er betet es a n " (1843, 43). Geld als absolutes Mittel kann aber auch sozialpsychologisch eine fast unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Zweckbestimmung erhalten, die schließlich durch vom Individuum her gesehen „transzendentale" Wertbestimmungen und Werttransformationen gesteuert wird. Georg Simmel hat daraufhingewiesen, d a ß hier eine von der Form her quasi-religiöse Beziehung entstehen kann: „ I n d e m das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller W e r te wird, erhebt es sich in abstrakter H ö h e über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, f r e m d e sten, fernsten Dinge ihre Gemeinsames finden und sich b e r ü h r e n ; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Z u t r a u e n in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrigere in j e d e m Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können. .. Die Feindseligkeit, mit der die religiöse und kirchliche Gesinnung oft dem Geldwesen gegenüber steht, mag auch auf den Instinkt f ü r diese psychologische Formähnlichkeit zwischen der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen Einheit zurückgehen und auch die erfahrene Gefährlichkeit der K o n k u r renz, die gerade das Geldinteresse dem religiösen Interesse bereitet - eine G e fährlichkeit, die sich nicht nur, wo die Substanz des Lebens eine ökonomische, sondern auch wo sie eine religiöse ist, gezeigt h a t " (1907, 240f.). Ein weiterer Ansatz der Kritik ist die Auffassung des Geldes als Zerstörer normativer Ordnungen. Die durch Geld mögliche Transformation von Individualwerten in abstrakte Rechenwerte und damit die Verwandlung persönlicher sozia-
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ler Beziehungen in rein funktionale Austauschprozesse stellt in der Tat eine Art kopernikanische W e n d e in der Ordnung des sozialen Lebens dar. In traditionalen Agrargesellschaften herrscht ein System wechselseitiger Verpflichtungen vor, das eng mit dem Fortbestand sozialer G r o ß g r u p p e n (Clans) verbunden ist. Diese Verpflichtungen lassen sich durch Geld mobilisieren, etwa durch die Ablöse von Frondiensten durch Geldzahlungen. Aus traditionalistischer Sicht ist dieser Prozeß ein Schritt in die soziale Bindungslosigkeit, in die Fungibilität sozialer Verhaltensweisen. Für die direkt Betroffenen kann er jedoch umgekehrt eine real erlebte Emanzipation bedeuten, die Auflösung ungewollter und nur geduldeter A b h ä n gigkeit. G e r a d e diese Verselbständigung des Individuums im wirtschaftlichen Austauschprozeß erscheint aber auch gleichzeitig in dem M a ß e als Entfremdung, als an die Stelle kontrollierter und damit auch vorhersehbarer bzw. gestaltbarer Sozialbeziehungen die Anarchie zufälliger Marktbeziehungen tritt. Eine interessante soziologische Analyse des W e n d e p u n k t s , zu dem eine traditionalistische Geldkritik seitens kirchlicher Autoritäten in eine liberalere Einstellung umschlägt, hat August Maria Knoll in seinem Aufsatz „Zins und G n a d e " vorgelegt (1934). W ä h r e n d für weite Bereiche des Mittelalters die von ihm als „ D o minikanismus" gekennzeichnete Bindung wirtschaftsethischer Aussagen an vorgegebene normative O r d n u n g e n vorherrschte, bildete sich in der Renaissancezeit eine als „Jesuitismus" bezeichnete kirchliche Denkrichtung heraus, die eine größere Freiheit im kulturell-wirtschaftlichen Leben einräumte. Dementsprechend fand auch die Funktion des Geldes im Frühkapitalismus eine verständnisvollere Würdigung. Man kann diesen Umschwung auch mit H a n s Gustav Müller als weltanschauliche Emanzipation der Avaritia bezeichnen (1969). Der Vorgang ist aber im eigentlichen Sinne beispielhaft für die Ersetzung einer bisherigen normativen O r d n u n g durch eine andere, in der das Geld als „generalisiertes symbolisches K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m " (Luhmann) eine zentrale Rolle einnimmt. In diesem Z u s a m m e n h a n g wäre es interessant, näher zu untersuchen, inwiefern auch im Kapitalismus nachweisbare Wandlungen der Geldfunktionen als Ausdruck von V e r ä n d e r u n g e n im G e f ü g e der normativen Gesellschaftsordnung kritische Einstellungen zum Geld entstehen, deren Basis weltanschaulicher Konservatismus ist. Besonders wichtig ist in diesem Z u s a m m e n h a n g wohl die Manipulation des Geldwertes, zunächst aus rein fiskalischen G r ü n d e n , seit der großen Weltwirtschaftskrise jedoch mit wohlfahrtspolitischen Zielsetzungen (Erhaltung der Vollbeschäftigung). Die Auseinandersetzungen über Toleranzgrenzen hinsichtlich des Inflationierungsgrades haben durchaus weltanschauliche Dimensionen und reflektieren unterschiedliche Ordnungsvorstellungen. Hierauf wird noch zurückzuk o m m e n sein. Ein dritter A n s a t z p u n k t für die Gesellschaftskritik am Geld besteht in seiner Eigenschaft als Indikator sozialer Ungleichheit. Unterschiedlicher Geldbesitz reflektiert auch unterschiedliche Verfügungsmacht über G ü t e r und Dienstleistungen. Insbesondere in der Phase des Hochkapitalismus, im R a h m e n der vollentwikkelten bürgerlichen Gesellschaft, richtete sich die Geldkritik im wesentlichen auf dessen „ K a p i t a l f u n k t i o n " : „ I n d e m das Geld Kapitalfunktion gewinnt und damit Mittel der Kapitalbildung wird, entfacht es aufs stärkste das Eigeninteresse und stellt diese in den Dienst der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung... Das Geld in seiner Kapitalfunktion ermöglicht die gesellschaftlichen F o r m e n der U n t e r n e h men und begünstigt das A u f k o m m e n und Überwiegen der Kapitalgesellschaften
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
in Produktion, Handel und V e r k e h r " (Gerloff 1952, 165ff.). Hierdurch entstehen auch V e r ä n d e r u n g e n in der Sozialstruktur, die in der „ U n t e r w e r f u n g immer weit e r e r Kreise der Bevölkerung unter die Geldmacht des Kapitals, in derBevölkerungsbewegung, die durch Kapitalinteressen bestimmt wird", ihren stärksten Ausdruck finden (Gerloff 1952, 166). W ä h r e n d die Kapitalfunktion des Geldes seitens der Kirchen letztlich ihre Billigung fand, indem das Zinsverbot aufgehoben wurde, werden die hierdurch geschaffenen und gefestigten Besitz- und Machtunterschiede von den Sozialisten, insbesondere von Karl Marx vehement kritisiert. W e n n das Kapitalverwertungsinteresse zum bestimmenden Interesse der kapitalistischen Wirtschaft wird, geraten andere Lebensinteressen in Abhängigkeit hiervon. Dieser Verlust an Selbstbestimmung bedingt Entfremdungserscheinungen, die einer nun rein säkular als Selbstbestimmung aufgefaßten humanitas entgegenstehen. „Institutionalisierte Reichtumstoleranz" als Basis des Geldmechanismus ( L u h m a n n 1972, 203) wird negiert. Vielmehr erscheint der Geldmechanismus als Bedingung sozialer Ungleichheit und damit als mittreibende Kraft bei der Entstehung von E n t f r e m d u n g . Grundlage dieser sozial-revolutionären Kritik des Geldes ist allerdings ein säkularisiertes und gleichzeitig utopisches Menschenbild. Anstelle der Ehrfurcht vor der Tradition tritt die freie Selbstbestimmung im Verein mit solidarischen Kollektivaktionen, die alles neu werden lassen soll. Dieser Wandel von der sozial-konservativen zur Sozialrevolutionären Kritik des Geldes spiegelt letztlich den großen U m b r u c h in der Geistesgeschichte E u r o pas wider, der als „Säkularisierung" Motivation und Zielbindung sozialen H a n delns in allen Lebensbereichen grundlegend veränderte. Moderne Tendenzen der Geldkritik Es ist nun zu fragen, wie sich in der entwickelten Industriegesellschaft, im Spätkapitalismus die Gesellschaftskritik am Geld darstellt. Die entscheidende Kontroverse, die hierbei zu beachten ist, betrifft das Ausmaß, in welchem d e m Geld und dem Geldsystem eine spezifische Eigengesetzlichkeit zugesprochen wird, die zu respektieren ist. Die m o d e r n e Kritik des Geldes richtet sich gegen eine rein f u n k tionalistische Sichtweise, die davon ausgeht, daß es gleichsam unantastbare konstituierende Sacherfordernisse gibt, die zu respektieren sind, damit das Geld als wirtschaftlicher Kommunikationsmechanismus funktionieren kann. Hiergegen wenden sich all jene, die gerade in der A u t o n o m i e des Geldsystems eine wirtschaftliche und soziale Störgröße sehen, die kontrollierbar gemacht werden muß. Ihrerseits wird häufig der Standpunkt vertreten, daß die Funktionsfähigkeit des Geldes gerade von seiner Einbindung in eine übergeordnete R a h m e n o r d n u n g abhängt. Ein rein wirtschaftsbezogenes Beispiel ist die Diskussion um die Vollbeschäftigung des Geldes durch Manipulation der wirksamen Nachfrage. A n z u m e r k e n sei, d a ß die gegenwärtig verbreitete Diskussion von „Sachzwäng e n " in der m o d e r n e n Gesellschaft einen ganz ähnlichen Hintergrund hat. A m eindruckvollsten hat wohl Herbert Marcuse diese Problematik dargestellt. Für ihn besteht in der m o d e r n e n Gesellschaft eine Abhängigkeit von der „objektiven O r d n u n g der Dinge", deren vorgebliche Rationalität allerdings begrenzt ist. „ A u ßerhalb dieser Rationalität lebt man in einer Welt von Werten, und Werte, die aus der objektiven Realität herausgelöst sind, werden subjektiv. Der einzige Weg, einige abstrakte und harmlose Gültigkeit f ü r sie zu retten, scheint eine metaphysische Sanktionierung (göttliches und Naturrecht) zu sein" (1962, 162). Folge die-
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ser „Entwirklichung" der Werte ist, daß in der objektiven Welt nur noch quantifizierbare Qualitäten bestehen bleiben. Obwohl Marcuse diese Thematik mit dem Hinblick auf die technische Gestaltung der Natur behandelt, so ergibt sich doch eine keineswegs nur formale Parallele zur Wirksamkeit des Geldmechanismus. Dies wird in der Darstellung des „Midas-Komplexes" bei Ernest Bornemann deutlich, der mit Marcuse die Affinität zur Psychoanalyse teilt. Bornemann argumentiert wie folgt: „Die tägliche, unabwendbare, unentrinnbare Transformation aller greifbaren Werte in ungreifbare, austauschbare Kategorien wie Ware, Geld, Preis und Lohn hat das Seelenleben des Menschen im Kapitalismus gegenüber der Feudalzeit völlig verändert. Die natürlichen, sinnlichen Bedürfnisse des Menschen sind zum großen Teil verdrängt worden. An ihre Stelle sind Geldverdienen, Arbeitsdisziplin und Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung g e t r e t e n . . . Der Motor dieser psychischen Prozesse ist aber durchweg das Geld, das sowohl abstrakt als auch maßlos ist — maßlos, weil es keinen konkreten, sinnlichen Bedarf befriedigt und sich deshalb der natürlichen Begrenzung aller anderen Bedürfnisse entzieht" (1977, 446f.). Der psychische Niederschlag dieser sozialen Phänomene wird von Bornemann „Midas-Komplex" genannt. Grundbedingung seines Entstehens ist wiederum die durch den Geldmechanismus wertfrei gemachte Wirklichkeit, deren Eigendynamik nicht mehr durch sozialethische Postulate steuerbar ist. Geldkritik in der modernen Gesellschaft hängt also letztlich mit der nachweisbaren Umwandlung der Abhängigkeit des Menschen von transzendentalen Systemen in eine Abhängigkeit von objektivierten soziotechnischen Systemen zusammen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß eine im Frühkapitalismus ursprünglich sozial-konservativ ausgerichtete Kritik des Geldes im Hochkapitalismus in sozial-liberale, anti-repressive allgemeine Kulturkritik einmündete. Diese Phasen zeigen auch einen Wandel von der totalen Ablehnung des Geldes bzw. des Geldsystems über eine partielle Duldung und Rechtfertigung im Rahmen von „Neutralisierungs"-Postulaten bis hin zu der Problematik einer neuen Sozial- und Wertbindung des Geldes in der modernen Gesellschaft. Es soll nun aufgrund dieser Übersicht versucht werden, noch einmal die Problematik des Geldes aus soziologischer Sicht grundsätzlich darzustellen und hieraus auch Ansatzpunkte für eine adäquate Einschätzung kritischer Haltungen und deren Berücksichtigung zu finden.
Institutionalisierung des Geldes als soziologisches Problem Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß sich eine Kritik am Geld sowohl auf den individuellen Umgang mit Geld als auch auf das gesamte System der Geldwirtschaft beziehen kann. Im Hintergrund steht hierbei entweder der Wunsch, wenn Geld überhaupt, dann gleichsam wertneutral bzw. neutralisiert wirken zu lassen oder aber die Geldfunktion von vornherein an ganz bestimmte Wertvorstellungen zu binden. In beiden Fällen erscheint ein hiervon in seiner Funktion und Verwendung losgelöstes Geld als „unsittlich", „illegitim", oder „entfremdend". Auch die Tatsachen, daß sich die Geldkritik häufig nur symbolisch am Geld orientiert, aber umfassendere wirtschaftliche und soziale Strukturen meint, verweist auf das nun zu behandelnde Grundproblem: die Institutionalisierbarkeit des Geldes. Den Vorgang der Institutionalisierung soll hierbei die gesellschaftlich wirksame, als
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse d e r Wirtschaft
sinnvoll e r k a n n t e bzw. erlebte Verhaltensbindung kennzeichnen. Von ihr hängt die Bestimmung des Autonomieinhalts (Funktionsspielraum) und des A u t o n o miegrads (Verhaltensspielraum) der handelnden Personen und G r u p p e n ab. Die Stabilisierung sozialer Beziehungen und Strukturen ist also wesentlich durch deren Institutionalisierungsgrad bestimmt. Verhaltensbindung ist eine Bindung an N o r m e n oder Werte und damit direkt bezogen auf eine entsprechende R a h m e n ordnung der Gesellschaft. In einer auf transzendentale Werte hin orientierten Gesellschaft kann der Verhaltensspielraum individualistisch durch konkrete G e b o t e fixiert werden, die im Verlauf des Erziehungsprozesses verinnerlicht werden. Der Funktionsspielraum hingegen wird sozialethisch durch Erwartungshorizonte und wechselseitige Verpflichtungen bestimmt. All dies findet seine Rechtfertigung in fraglos geglaubten G r u n d ü b e r z e u g u n g e n , die das jeweilige Menschen-, Gesellschafts- und Weltbild prägen. Eine in ihrem Werthorizont „ o f f e n e " , weitgehend säkulare Gesellschaft vermag demgegenüber nicht Verhaltens- und Funktionsspielräume durch Bezug auf eine verinnerlichte Ethik zu regulieren. Statt dessen erfolgt die Bindung durch rechtliche Normen, auf G r u n d von Verträgen oder in direkter Kooperation z.B. als Interessenausgleich. Verhaltensspielräume werden dementsprechend durch a n e r k a n n t e Spielregeln begrenzt, und Funktionsspielräume entstehen durch die Definition sozialer Mechanismen und entsprechender Gebrauchsvorschriften. Je stärker also Wertrationalität in einer Gesellschaft unmittelbar gesellschaftspolitisch wirksam wird, desto stärker erfolgt eine Institutionalisierung unter Bezug auf ethische A r g u m e n t e . Je weniger dies der Fall ist, desto stärker treten Verfahrensregeln in rationalisierter und bürokratisierter Form in Erscheinung. A n die Stelle der Sinnadäquanz tritt die Zieladäquanz, wobei allerdings die Sinndimension keineswegs verloren geht, aber eher in den Bereich individueller Stellungnahmen verschoben wird. Ein Teil der Institutionalisierungsproblematik wird also in den Freiraum persönlicher Entfaltung verlagert. Was bedeuten diese Überlegungen für die Institutionalisierbarkeit des Geldes? Betrachten wir zunächst die Verhaltensspielräume im U m g a n g mit Geld, so wird deutlich, d a ß sie zweifellos letztlich durch dessen Sinn- und Zweckbestimmung reguliert werden. Hierbei sind nun praktisch in allen Lebensbereichen Nutzenerwartungen dominant geworden, so d a ß das ökonomische Kalkül absoluten Vorrang besitzt. Insofern wird der Geldgcbrauch von Konventionen freigesetzt und im R a h m e n der bestehenden Rechtsordnung ethisch gleichsam neutralisiert. In diesem Bereich ist auch eine Institutionalisierung schwer denkbar, wenn man sich überlegt, d a ß die m o d e r n e Wirtschaft im wesentlichen darauf beruht, d a ß Gelddispositionen hochgradig flexibel sind. A n d e r s steht es mit dem Funktionsspielraum des Geldes. Das Geldsystem ist ein fortdauerndes, überpersönlich wirkendes P h ä n o m e n , ohne das eine G r u n d orientierung über den zweckmäßigen Mitteleinsatz in unserer Gesellschaft nicht möglich ist. Je nach seiner Beschaffenheit ermöglicht o d e r verhindert es individuelle und kollektive Verhaltensdispositionen, die nicht nur materiell determiniert sind, sondern durchaus einen direkten Bezug auf erstrebenswerte Ziele und Werte haben. Z u m Beispiel ist die Zukunftsorientierung des Menschen direkt abhängig von den Möglichkeiten, die das Geldsystem für die Akkumulation wertbeständigen Besitzes schafft. Angesichts des Problems der Institutionalisierung des Geld-
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systems zeigt sich nun der u n ü b e r s e h b a r e Wertpluralismus moderner Gesellschaften. Eine Vielzahl von Wünschen, Bedürfnissen und Interessen soll Berücksichtigung finden und gleichzeitig doch den Verhaltensspielraum der wirtschaftenden Menschen nicht zu sehr einengen. So sehr nämlich das m o d e r n e Geld als „ G e schöpf der R e c h t s o r d n u n g " (F. Knapp) anzusehen ist, so sehr sind doch wiederum die Träger geldlicher Austauschprozesse für eine unmittelbare, minutiöse Regelung unzugänglich. Hierzu trägt neben der unabsehbaren Fülle von teilweise auch grenzüberschreitenden Transaktionen insbesondere der Umstand bei, daß Geld nur insofern funktionsfähig ist, als eine Annahmebereitschaft seitens der Wirtschaftssubjekte besteht. Die Institutionalisierung des Geldsystems, insbesondere die Festlegung von Manipulationsgrenzen, hängt also letztlich vom erreichbaren Konsensus der Beteiligten ab. Hierin liegt nun allerdings auch die Chance, jene Dimensionen des Geldes zu berücksichtigen, die seine unmittelbare wirtschaftliche Funktion überschreiten. Wenn das Bewußtsein für die Bedeutung des Geldes als zentrales Kommunikations- und Bewertungsmittel der m o d e r n e n Wirtschaftsgesellschaft geweckt worden ist, dann kann man sich auch der H e r a u s f o r d e r u n g zu seiner sinnvollen, h u m a n e n Gestaltung nicht entziehen. Die Frage nach den konkreten Möglichkeiten hierfür ist existentiell für den Fortbestand der m o d e r n e n Wirtschaftsgesellschaft überhaupt.
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3. Kapitel Soziologie des Haushalts Es gibt soziale Existenzformen und Lebenslagen, die nur für ganz spezifische Teilpopulationen zutreffen und es gibt darauf bezogene spezielle Soziologien, welche sich die Darstellung und Analyse dieser Lagen zur Aufgabe gemacht haben. Entsprechend existiert z.B. eine Jugendsoziologie, eine Soziologie des Alters, eine Soziologie der Berufe, eine Soziologie von Minoritäten und Randgruppen u.s.f. Auf diesem Hintergrund des spezialisierten sozialwissenschaftlichen Interesses für Sonderlagen, die, quantitativ betrachtet, oft nur kleine Teilgruppen der Gesamtbevölkerung darstellen, erscheint es verwunderlich, daß aus soziologischer Sicht bislang eine Existenzform noch nicht in ähnlicher Weise aufgearbeitet worden ist, der so gut wie jedes Gesellschaftsmitglied in der einen oder anderen Weise zuzurechnen ist: gemeint ist der private Haushalt, und dementsprechend auch eine Soziologie des Haushalts. Nachdem die Wirtschaftswissenschaften diesen Bereich zuerst vernachlässigt, sich ihm in neuerer Zeit aber wieder verstärkt gewidmet haben, erscheint der Versuch reizvoll, aber auch überfällig, erste Ansätze zu einer Soziologie des Haushalts zu unternehmen. Insbesondere, wenn der vorgegebene theoretische Rahmen eine „Wirtschaftssoziologie" ist, steht zur Debatte, wie das Wirtschaften, „das Haushalten", als rationales Planen gehandhabt wird. Unsere Ausgangsthese ist die, daß die Übertragung eines ökonomisch-rationalen Kosten/Nutzenkalküls, wie es etwa mit bezug auf industrielle Produktionsbetriebe angewendet wird, keinesfalls in direkter Weise auf den Haushalt als „Produktionseinheit" übertragen werden kann, wenn die typischen Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie von den Haushaltsmitgliedern im Alltag empfunden und praktiziert werden, zur Erklärung anstehen. Bei der Bearbeitung dieses Themas „Soziologie des Haushalts" zum Anlaß dieses Buches: Wirtschaftssoziologie war und ist durchaus deutlich vor Augen, daß der hier vorgesehene Raum keine „erschöpfende Behandlung" ermöglicht, sondern vielmehr nur eine Bearbeitung ausgewählter, wenngleich durchaus zentraler Sektoren dieser umfangreichen Thematik zuläßt. Da vor kurzem unsere Wirtschaftssoziologie als Monographie erschienen ist (Kutsch/Wiswede 1986), in die wir auch ein Kapitel Haushaltssoziologie eingebracht haben 1 , war es das Bestreben, im vorliegenden Beitrag nicht etwa nur verbale Wiederholungen des dort Gesagten anzubieten, sondern hier vielmehr aufbauend und ergänzend zu argumentieren. Insofern wurden in dem Beitrag für dieses Buch z.B. weniger verschiedene Haushaltstypen im Sinne von divergierenden Haushaltsstrukturen nachgezeichnet und in ihrer Spezifität untersucht (z.B. Ein-Personen-Haushalte, Mehrpersonen-Haushalte, Haushalte mit heranwachsenden Kindern, usf.). Auch in der Z u 1
K u t s c h , , Th., Wiswede, G . : Wirtschaftssoziologie, Kapitel M: Soziologie des Haushalts, Stuttgart 1986, S. 2 3 5 - 2 5 3 .
3. Kapitel: S o z i o l o g i e des Haushalts
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sammenschau des ersten mit diesem vorliegenden Beitrag wird deutlich, d a ß mit guten Begründungen eine noch weitergehende Auffächerung möglich erscheint. So ließe sich außer einer systematischen Diskussion von Haushaltstypen etwa in der Logik von Lebenszyklus-Konzepten auch an eine Aufgliederung nach berufsspezifischen Haushaltsformen denken, wie es U. Planck vorschlägt, nachdem er dankenswerterweise dieses Manuskript gegengelesen und uns mit ergänzenden A n regungen versorgt hat. Auch ein solcher Ansatz erscheint uns durchaus plausibel und unterstützt eines unserer zentralen A r g u m e n t e , daß nämlich die relevante strukturelle ,,externe" U m g e b u n g des Haushalts bedeutsame Auswirkungen und Konsequenzen hat auf die „ i n t e r n e " Organisation eben dieses Haushalts und auf die Befindlichkeit seiner Mitglieder. Die Sachzwänge des Berufsalltags sind zentrale Vorgaben f ü r die Verhaltensspielräume, welche für die haushaltsinternen Funktionen verbleiben: Wer sein Geld als Schichtarbeiter verdient, wird offensichtlich seinen Haushalt in a n d e r e r Weise zu führen haben als ein Schalterbeamter, der regelmäßig zwischen 16 und 17 Uhr wieder zu Hause ist; der Haushalt zweier Berufstätiger wird anders aussehen als derjenige, in welchem ein Partner extern einer Berufstätigkeit nachgeht und der (die!) a n d e r e im Haushalt verbleibt und dort tätig ist. Wenn wir nach dem Kriterium „berufsspezifischer H a u s h a l t s f o r m e n " versuchsweise eine Sortierung nach modern vs. traditional angelegten Haushalten v o r n e h m e n , so würde sich in der Sicht von Planck , , . . . der Landhaushalt oder Bauernhaushalt anbieten als extremes Beispiel traditioneller Haushaltsführung". Solche Hinweise des Agrarsoziologen erscheinen interessant genug, um sie an dieser Stelle schon wenigstens programmatisch anzusprechen. Wenn wir hier den durchschnittlichen privaten Haushalt zum Z e n t r u m unserer Überlegungen machen, dann wären in weiterer Ergänzung auch Großhaushalte/ Anstaltshaushalte soziologisch zu untersuchen, die z.B. als Alten- und Pflegeheime große Bedeutung haben — in einer Gesellschaft mit schrumpfender G e b u r t e n rate und steigender Lebenserwartung sogar noch stark z u n e h m e n d e Bedeutung. Schließlich sind auch neuere Entwicklungen im A u g e zu behalten wie z.B. Wohngemeinschaften, die sich gerade bei jungen Leuten z u n e h m e n d e r Beliebtheit erfreuen. A u s Platzgründen m u ß es einer weiteren Bearbeitung vorbehalten bleiben, auch solchen Auffächerungen noch weiter nachzugehen.
1. Wirtschaftsführung und Budgetverwaltung Im Sinne der amtlichen Statistik wird der Haushalt als eine Personengemeinschaft verstanden, die dauerhaft zusammenwohnt und sich durch eine eigene Wirtschaftsführung auszeichnet. Egner 2 versteht unter Haushalt eine Einheit, welche auf die Sicherung der gemeinsamen Bedarfsdeckung einer Menschengruppe hin orientiert ist, und für Max Weber 3 ist der zentrale Aspekt des Haushalts in der kontinuierlichen Verwendung und Beschaffung von G ü t e r n begründet. Bei diesen 2
Egner, E.: D e r Haushalt. E i n e Darstellung seiner volkswirtschaftlichen Gestalt, Berlin 1976. W e b e r , M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der v e r s t e h e n d e n Soziologie. T ü b i n gen "1956. 2
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse d e r Wirtschaft
und bei weiteren Abgrenzungen wird als zentraler Punkt das gemeinsame Wirtschaften, wird eigene („haushälterische") Wirtschaftsführung hervorgehoben. Eigene Wirtschaftsführung hat eine Voraussetzung und eine Konsequenz: Die Voraussetzung besteht darin, daß systematisch Anstrengungen unternommen werden, das notwendige (Geld-)Einkommen zu sichern, und die Konsequenz besteht in einer je spezifischen Art der Einkommensverwendung, welche durch die Bedürfnisse und Konsumwünsche der Mitglieder des Haushaltes bestimmt ist. Im Sinne der amtlichen Statistik ist dieser Aspekt der Verfügung über Einkommen so zentral als Voraussetzung des eigenständigen Wirtschaftens eingestuft, daß wesentlich hiernach die drei für besonders typisch erachteten Haushaltsformen unterschieden werden. Der sogenannte Haushaltstyp 1 der offiziellen amtlichen Statistik wird definiert als 2-Personen-Haushalt von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen; der Haushaltstyp 2 wird charakterisiert als 4-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt mit mittlerem Einkommen; der Haushaltstyp 3 schließlich wird als 4-Personen-Haushalt von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen angegeben. Aus allen diesen Ansätzen wird deutlich, daß die Verfügung über Geldmittel und die Art und Weise ihrer Verausgabung als zentrales Spezifikum des Haushalts und des Haushaltens verstanden wird. Vom Haushalt her betrachtet, gewinnen somit mehrere Fragen besondere Bedeutung: erstens, wer den Zufluß der Geldmittel zum Haushalt sichert, zweitens, wer das Haushaltsbudget verwaltet und drittens, wie darüber befunden wird, welche Prioritäten bei den Ausgaben zu setzen sind. Für die haushaltsinterne Machtstruktur ist es zweifellos nicht belanglos, ob z.B. nur der E h e m a n n oder nur die Ehefrau oder ob beide — und gegebenenfalls auch in welcher Proportion - zum Haushaltseinkommen beitragen. Auch in dem Maße, wie die Kinder eines so betrachteten Durchschnittshaushalts heranwachsen und eigenes Einkommen erzielen, wird bedeutsam, in welchem Maße sie für einen Beitrag zum Haushaltsbudget herangezogen werden können und sollen. Im Sinne der Ressourcentheorie, die im Rahmen der Familiensoziologie entwickelt wurde, läßt sich als empirisch beobachtbarer Tatbestand erkennen, daß derjenige, der „eigenes Geld" einbringt, dementsprechend auch mehr Entscheidungsmacht und „Mitbestimmungsrecht" hat bezüglich der letztendlichen Verausgabung dieser Mittel. Wie empirische Studien hier auch verdeutlichen, ist die Verwaltung des Haushaltsbudgets sowohl gesellschaftsspezifisch als auch schichtenspezifisch durchaus unterschiedlich: so scheint in Unterschichtslagen das (vergleichsweise geringe) E i n k o m m e n typischerweise von der Hausfrau verwaltet zu werden — der Ehemann erhält ein Taschengeld; in den mittleren Lagen der Mittelschicht ist der Grad an gemeinsamer und gleichberechtigter Verfügung über das Haushaltseink o m m e n am stärksten ausgeprägt. In der oberen Mittelschicht und Oberschicht wird eine wiederum stärkere Dominanz des (gutverdienenden) Ehemannes deutlich. Somit ist also durch die Situation auf der „Einnahmenseite" schon einiges an solchen Rahmenbedingungen mit festgelegt, die Konsequenzen darstellen für die spezifischen Möglichkeiten der eigenen Wirtschaftsführung der Haushaltsmitglieder. Im Längsschnitt betrachtet ergibt sich für den Durchschnittshaushalt ein typisches Profil der Einkommensgewinnung im Zeitablauf seiner Existenz. Zu Beginn
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
77
der H a u s h a l t s g r ü n d u n g ist das E i n k o m m e n in d e r Regel bescheiden und gering — g e r a d e zu e i n e m Z e i t p u n k t also, wo b e s o n d e r s viele S t a r t - A n s c h a f f u n g e n zu tätigen sind. D e m e n t s p r e c h e n d ist in dieser P h a s e auch der G r a d der V e r s c h u l d u n g relativ a m h ö c h s t e n . H a n d e l t es sich u m einen H a u s h a l t , in d e m b e i d e P a r t n e r b e rufstätig sind, so verbessert sich die finanzielle Situation des H a u s h a l t s in d e m n a c h f o l g e n d e n Z e i t r a u m schnell und wesentlich. Sobald allerdings die „ R e p r o d u k t i o n s p h a s e " beginnt, wo also die E h e f r a u f ü r einen gewissen Z e i t r a u m typischerweise mit einer Berufstätigkeit ( u n d damit auch mit der Möglichkeit, eigenständig E i n k o m m e n zu erzielen) pausiert, erlebt d e r H a u s h a l t einerseits e i n e E i n k o m m e n s r e d u k t i o n und a n d e r e r s e i t s e i n e deutliche Steigerung auf Seiten d e r jetzt n o t w e n d i g g e w o r d e n e n A u s g a b e n . V o n diesem H a n d i k a p (im Vergleich zu kinderlosen H a u s h a l t e n ) erholt sich der H a u s h a l t mit K i n d e r n nur langsam. Z u d e m f o r t g e s c h r i t t e n e n Z e i t p u n k t , w o typischerweise die M ä n n e r den h ö c h sten P l a f o n d ihrer b e r u f l i c h e n K a r r i e r e erreicht h a b e n , w o sie d e m e n t s p r e c h e n d gut v e r d i e n e n und w o die K i n d e r schon w i e d e r aus d e m H a u s h a l t w e g t e n d i e r e n , ist das relativ h ö c h s t e E i n k o m m e n des H a u s h a l t e s gesichert — speziell d a n n , w e n n geg e b e n e n f a l l s auch die E h e f r a u zur Berufstätigkeit z u r ü c k g e k e h r t ist. E i n e V e r ä n d e r u n g der Situation tritt w i e d e r u m zu d e m Z e i t p u n k t ein, w o die P e n s i o n i e r u n g s g r e n z e erreicht w o r d e n ist u n d m a n als R e n t e n e m p f ä n g e r einen vergleichsweise geringeren B e t r a g zur V e r f ü g u n g hat als in den letzten J a h r e n d e r E r w e r b s t ä t i g k e i t ; eine weitere V e r ä n d e r u n g im Sinne e i n e r zusätzlichen R e d u k tion der v e r f ü g b a r e n Mittel ist d a n n g e g e b e n , w e n n ein P a r t n e r stirbt (speziell im Lichte d e r h e u t e noch üblichen R e g e l u n g d a n n , w e n n der E h e m a n n stirbt, d e r der H a u p t e r n ä h r e r der Familie war) und w e n n die E h e f r a u als Witwe ü b e r l e b t . Im Hinblick auf die A u s g a b e n s e i t e ist zu u n t e r s c h e i d e n zwischen den m o n a t l i chen V e r b r a u c h s a u s g a b e n der privaten H a u s h a l t e , der A n s c h a f f u n g langlebiger G e b r a u c h s g ü t e r u n d finanziellen E n t s c h e i d u n g e n , die im D u r c h s c h n i t t s h a u s h a l t typischerweise nur einmal f ü r das ganze L e b e n u n t e r n o m m e n w e r d e n , wie z.B. d e r Bau o d e r E r w e r b eines H a u s e s . V e r s c h i e d e n e empirische U n t e r s u c h u n g e n , welche auf d e n E r w e r b von t e u r e n und langlebigen G e b r a u c h s g ü t e r n a b h e b e n , m a chen deutlich, d a ß dieses zwar im E n d e f f e k t meist eine G e m e i n s c h a f t s e n t s c h e i d u n g ist, d a ß d a b e i a b e r auch e i n e gewisse Spezialisierung der Haushaltsmitglieder deutlich wird: So h a b e n Studien z u m A u t o k a u f verdeutlicht, d a ß E h e m ä n n e r e h e r in bezug auf die technischen Q u a l i t ä t e n , die M o t o r s t ä r k e , die R e p a r a t u r a n fälligkeit und W a r t u n g s f r e u n d l i c h k e i t des A u t o s K o m p e t e n z r e k l a m i e r e n ( u n d diese auch von den E h e f r a u e n z u g e s p r o c h e n b e k o m m e n ) , wohingegen die E h e f r a u e n ihre M e i n u n g stärker geltend m a c h e n in b e z u g auf das Dessin, die F a r b s t e l lung, d e n S i t z k o m f o r t etc. Beispiele dieser A r t m a c h e n deutlich, d a ß wir es i n n e r h a l b der H a u s h a l t e speziell bei t e u r e n u n d a u f w e n d i g e n G e b r a u c h s g ü t e r n mit d u r c h a u s k o m p l e x e n K a u f e n t s c h e i d u n g s p r o z e s s e n zu tun h a b e n . N a c h Engel, Kollat u n d Blackwell 4 lassen sich hierbei typischerweise fünf P h a s e n e r k e n n e n , die f o l g e n d e r m a ß e n b e n a n n t w e r d e n k ö n n e n (und bei d e n e n jeweils eine unterschiedliche A u f g a b e n t e i lung der H a u s h a l t s m i t g l i e d e r e r f o l g e n k a n n ) : 1. P r o b l e m e r k e n n u n g , 2. Suche, 3. A l t e r n a t i v b e w e r t u n g , 4. A u s w a h l , 5. E r g e b n i s . E v e n t u e l l ist als 6. Phase m e h r
4
Engel, J.F., Blackwell, R.D., Kollat, D.T.: Consumer Behavior, 3 Ed. Hinsdale 1978.
78
Teil III: Institutionen, S t r u k t u r e n , Prozesse der Wirtschaft
o d e r minder regelmäßig noch die einer nachträglichen Rechtfertigung (Rationalisierung) zu erkennen. F r ü h e r e familiensoziologische Ansätze versuchten, generelle Klassifikationen, die speziell auf die hierarchische Struktur innerhalb der Familie abhoben, auf die Verhaltensdimension des Kaufentscheidungsprozesses anzuwenden. W e n n etwa Familien als „matriarchalisch", als „patriarchalisch" oder als „partnerschaftlich" geprägt angesehen wurden, so versuchte man solche „ G r u n d t e n d e n z e n " auch im Kaufverhalten wieder zu identifizieren. A n d e r e Ansätze versuchten, generelle Rollenaufteilungen für Familien hier auch wieder im Detail zu entdecken, etwa in der Art, d a ß die M ä n n e r eine instrumentelle und die Frauen eine expressive Rolle innehätten. Wie neuere Untersuchungen jedoch immer deutlicher machen, ist es mit einer solchen globalen Aufteilung nicht getan, und es scheint von vielen Dimensionen abzuhängen (etwa von der jeweiligen Phase im Lebenszyklus dieses Personenverbundes, oder von den jeweils zur D e b a t t e stehenden P r o d u k t g r u p p e n o d e r von dem allgemeinen Zeitbudget des Familienhaushalts), wie sich Z u s t ä n digkeiten und Rollenaufteilungen tatsächlich darstellen und in welchem M a ß e „ m ä n n l i c h e " Einflußbereiche bzw. „weibliche" Einflußbereiche bzw. „gemeinsam e " Bereiche beobachtbar sind. Im Sinne eines so verstandenen differenzierten Rollenkonzepts im Kaufentscheidungsprozeß von Familien werden nicht nur mehr dichotomisch oder trichotomisch angelegte Aufteilungen angesprochen, sondern hier erscheinen sehr differenzierte Rollen-Schemata angemessen, welche viel genauer die entsprechenden Teilfunktionen und Zuständigkeiten widergeben. So unterscheidet z.B. Dahlhoff in seiner empirischen Untersuchung zum T h e m a : „Kaufentscheidungsprozesse in Familien" 5 15 (!) Teil-Rollen-Elemente im Kaufentscheidungsprozeß. In d e r Zusammenstellung auf S. 79 ist auf der linken Seite das jeweils relevante theoretische Stichwort notiert, und auf der rechten Seite ist die Umsetzung in eine Forschungsfrage vorgenommen. Es wird sichtbar, daß je nach Verfügbarkeit und auch nach K o m p e t e n z keineswegs von vornherein festliegt, welches Mitglied des Haushaltes für den jeweiligen Entscheidungsschritt „verantwortlich zeichnet". Ergänzend zu dieser Ausdifferenzierung werden bei Dahlhoff des weiteren die folgenden zentralen Phasen im Entwicklungsgang des Kaufentscheidungsprozesses unterschieden: 1. Anregung, 2. Legitimation, 3. Suche, 4. A u s w a h l / B e w e r tung, 5. Konzentration, 6. Kauf bzw. Bestellung, 7. evtl. Nachkauf. Wir wissen aus der Familiensoziologie, d a ß sich die Entscheidungsprozesse im Haushalt mit z u n e h m e n d e r Dauer der gemeinsamen Existenz als Eheleute oder Familie o d e r schlicht als Personenverbund sukzessive anders darstellen. So ist es evident, d a ß bei jungen Eheleuten sehr viel mehr gemeinsame Überlegungen im Sinne expliziter Diskussion angestellt werden, was über den konkreten Entscheidungsprozeß und die konkrete Meinungsbildung hinaus auch die zusätzliche Funktion und B e d e u t u n g hat, sich gegenseitig in den jeweiligen Vorlieben und Vorstellungen noch besser kennenzulernen bzw. auch, Kompetenzbereiche und Zuständigkeiten abzustecken. Bei länger verheirateten E h e p a a r e n - dies ist eine weitere mögliche Generalisierung - läßt sich ein größerer Grad von Rollenteilung b e o b a c h t e n . Bei einer umfassenden Betrachtung der Sachlage allerdings wir man auch dort zu der Feststellung gelangen, daß eine sehr große Zahl verschiedenarti5
Dahlhoff, H . - D . : Kaufentscheidungsprozesse in Familien. Empirische U n t e r s u c h u n g zur Beteiligung von Mann und Frau an der Kaufentscheidung. F r a n k f u r t / M . 1980, S. 41.
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
79
Rollenelemente im Kauf-Entscheidungsprozeß Rollenelement:
Umsetzung in Forschungsfrage:
1. 2. 3. 4. 5.
Produkt-Interessent Kaufinitiator Produkt-Experte Empfehler Informationssucher
-
6. 7. 8. 9.
Informationsverarbeiter Alternativen-Einenger Budgetierer Kaufentscheider
-
Kauflegitimator Käufer Kaufbegleiter Verbraucher/Nutzer Prozeßvalidator
-
10. 11. 12. 13. 14.
15. Erfahrungssammler
-
Wer interessiert sich für das Produkt? Wer hatte die erste Idee? Wer kennt sich am besten mit dem Produkt aus? Wer hat Stil und Marke empfohlen? Wer hat Informationen über das Produkt gesucht? (persönliche und unpersönliche Quellen) Wer hat die Informationen geprüft und beurteilt? Wer hat gesagt, welche Produkte in Frage k o m m e n ? Wer hat die Ausgabenhöhe fixiert? Wer hat über einzelne Merkmale (Qualität, Marke etc.) entschieden? Wer hat bestimmt, daß überhaupt gekauft werden sollte? Wer hat den Kauf im Geschäft (Abschluß) getätigt? Wer war beim Kaufakt dabei? Wer braucht bzw. verbraucht das Produkt? Wer beurteilt die getroffene Entscheidung und den Prozeß? Wer sammelt die Informationen und Erfahrungen für zukünftige Käufe?
ger D e t e r m i n a n t e n den familialen K a u f e n t s c h e i d u n g s p r o z e ß beeinflussen — von familieninternen Konstellationen bis hin zu e x t e r n e n R a n d b e d i n g u n g e n wie der gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftslage, der K o n j u n k t u r , der V e r m u t u n g ü b e r z u k ü n f t i g e globale wirtschaftliche u n d politische E n t w i c k l u n g e n etc. Die A u f g a b e n t e i l u n g und R o l l e n d i f f e r e n z i e r u n g bei der B u d g e t v e r w a l t u n g u n d bei den K a u f e n t s c h e i d u n g e n d ü r f t e a m g r ö ß t e n bei den A u s g a b e n sein, welche u n t e r der Ü b e r s c h r i f t „ m o n a t l i c h e V e r b r a u c h s a u s g a b e n " subsumiert w e r d e n k ö n n e n . Z u m a l , w e n n es sich um regelmäßig w i e d e r k e h r e n d e W i e d e r h o l u n g s bzw. N a c h k ä u f e handelt, sind hier ü b e r w i e g e n d G r u n d s a t z e n t s c h e i d u n g e n a b g e stimmt w o r d e n , u n d die P r ä f e r e n z e n u n d N o t w e n d i g k e i t e n aller H a u s h a l t s m i t glieder sind v e r t r a u t e R a h m e n b e d i n g u n g e n . Traditionell ist es in vielen H a u s h a l t e n so, d a ß f ü r r o u t i n e m ä ß i g u n d alltäglich imm e r w i e d e r k e h r e n d e A u s g a b e p o s t e n insgesamt ein f e s t e r Betrag reserviert wird. E s ist eine weit v e r b r e i t e t e Ü b u n g , d a ß die H a u s f r a u ü b e r s o g e n a n n t e s H a u s h a l t s geld verfügt, mit d e m sie solche A u s g a b e n zu bestreiten hat, die wesentlich von ihr getätigt w e r d e n . D a b e i ist interessant u n d b e m e r k e n s w e r t , d a ß einerseits d a s Haushaltsgeld d e n meisten M e n s c h e n als Begriff u n d Realität v e r t r a u t ist, d a ß a n dererseits a b e r n i r g e n d w o eine e x a k t e D e f i n i t i o n einer solchen B u d g e t k a t e g o r i e v e r f ü g b a r ist, etwa gar im Sinne e i n e r juristisch festgelegten ( u n d damit e i n k l a g b a ren) G r ö ß e n o r d n u n g . 6 D i e „ I n s t i t u t i o n des H a u s h a l t s g e l d e s " scheint empirisch 6
Insoweit es diesbezüglich gesetzliche Normen bzw. gesellschaftlich genormtes G e w o h n heitsrecht gibt, sind die folgenden Quellen hilfreich: a) siehe Familienrecht, § 1353 ff. B G B b) vgl. u.a. Eva Marie von Münch, Das neue Ehe- und Familienrecht von A - Z , 7. Aufl., Beck 1980, insbesondere die Stichworte „Eheliche Lebensgemeinschaft", „Erwerbstätigkeit von E h e g a t t e n " , „Haushaltsführung", und „Schlüsselgewalt".
80
Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
am häufigsten etabliert zu sein bezüglich solcher Ausgaben, welche mit Regelmäßigkeit in kurzen Zeitabständen immer wieder zu tätigen sind, wie etwa die Ausgaben für Ernährung. (Hierbei ist festzustellen, daß der Statistik nach für Arbeitnehmerhaushalte mit mittlerem Einkommen der Ernährungsbereich deutlich der größte Posten innerhalb der monatlichen Ausgaben ist). Schon weniger Übereinstimmung scheint es dahingehend zu geben, ob etwa die Anschaffung eines Sommerkleides oder eines Wintermantels aus dem monatlichen Haushaltsgeld zu bestreiten ist oder ob dies eine Sonderausgabe darstellt, die anders finanziert wird, ohne das Haushaltsgeld anzutasten. Aus diversen Statistiken geht hervor, daß häufig unter Haushaltsgeld, das „monatlich verfügbare Einkommen" der Haushalte verstanden wird; in dem Maße also, wie ein Objekt nicht mehr aus den laufenden Einkünften bezahlt werden kann, ist dies ein Posten jenseits des Haushaltsgeldes, der angespart oder in Raten abbezahlt werden muß. Wie sich die monatlichen Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte in den letzten 25 Jahren entwickelt haben, wird aus der folgenden Tabelle deutlich (zugrundegelegt ist hier ein 4-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt mit mittlerem Einkommen in der Bundesrepublik Deutschland):
Monatliche Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte 1 1950 1960 Gesamtausgaben für den priv. Verbrauch (in D M ) 294
1965 1970 1975
1980 1982 1983 1984
1985
642
881
1098 1801 2 4 4 3 2691 2 8 3 7 2 8 4 9 2 8 6 5
50,7 13,2 10,2 5,3
43,5 13,1 9,9 4,5
40,0 11,9 11,2 4,5
35,3 10,8 15,5 4,7
29,8 9,9 15,5 5,1
28,1 9,3 16,4 6,5
26,9 8,5 16,5 7,0
26,1 8,1 17,3 6,7
26,0 8,1 18,5 6,6
25,7 8,2 19,6 7,3
4,5 2,1
7,9 4,7
10,0 9,7
9,0 10,8
9,9 13,8
9,4 14,0
9,5 15,2
10,2 15,9
8,5 16,3
8,0 14,8
4,2 7,0
4,8 8,4
3,4 6,5
3,6 7,3
3,0 8,8
3,0 8,6
3,3 8,8
3,4 8,7
3,2 8,6
3,2 9,0
2,9
3,2
2,8
3,0
4,2
4,8
4,2
3,7
4,3
4,1
8,0 2,6
9,3 3,0
11,1 4,7
11,3 5,4
11,3 4,6
11,4 4,1
11,3 4,1
11,7 4,6
10,7
12,3
15,7
16,6
15,9
15,4
15,4
16,2
davon (in %) Nahrungs- und Genußmittel Kleidung, Schuhe Wohnungsmieten Strom, Gas, Brennstoffe Sonstige Güter für den Haushalt Verkehr, Nachrichten Körper- und Gesundheitspflege Bildung u. Unterhaltung Persönl. Ausstattung, Sonstiges darunter: Aufwendungen f. Freizeitgüter (ohne Urlaub) Aufwendungen f. Urlaub Aufwendungen f. Freizeitgüter u. Url., insges.
Vier-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt mit mittlerem Einkommen. 7
Institut der Deutschen Wirtschaft (Hg.): 1986, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Tab. 23.
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
81
Hieraus können wir einige Schlüsse ziehen und folgende Erkenntnisse ableiten: Wenn wir 1985 als Bezugsjahr nehmen, dann ist der größte Posten der Bereich Ausgaben für Nahrungs- und Genußmittel, gefolgt von der Wohnungsmiete, den A u f w e n d u n g e n f ü r Verkehr und Nachrichten, dann schon gefolgt (als Einzelposten) von den A u f w e n d u n g e n f ü r Freizeitgüter. Diese Position: A u f w e n d u n g e n f ü r Freizeitgüter läge in der Rangfolge sogar schon an dritter Stelle, wenn wir die A u f w e n d u n g e n f ü r den Urlaub mit einschließen! Wir können des weiteren feststellen, d a ß sich die dramatischste V e r ä n d e r u n g über Zeit im Bereich Nahrungs- und G e n u ß m i t t e l ergeben hat: von einem Anteil um die 5 0 % im J a h r e 1950 hat sich dieser Anteil bis 1985 a n n ä h e r n d halbiert. Ausgaben für Wohnungsmiete sind gestiegen, wie auch die Ausgaben f ü r Verkehr und Nachrichten. Eine fallende T e n d e n z hatten Ausgaben f ü r Kleidung und Schuhe, eher konstant geblieben sind die Ausgaben f ü r Körper- und Gesundheitspflege, sowie für Bildung und Unterhaltung. Mit Bezug auf das Konsumcntenverhalten sind Hinweise in der empirisch/sozialwissenschaftlichen Literatur zahlreich, daß das Lebenszyklusmodell ein besserer Prädikator für spezifisches Konsumentenverhalten ist als etwa die Bezugnahme auf einzelne Variablen wie z.B. E i n k o m m e n , Alter oder Schulbildung. Früher war es üblich, daß vor der Eheschließung eine Aussteuer erspart u n d erarbeitet und in die E h e eingebracht wurde, während heute das Z u s a m m e n l e b e n eines Paares mit einer gemeinsamen Einrichtungsphase zu beginnen pflegt. In einer ersten G r ü n d u n g s p h a s e des Haushalts werden also wesentliche Anteile des Budgets für die Einrichtung verausgabt. Typischerweise werden hier langlebige Gebrauchsgüter angeschafft, die nach den üblichen Standards zu der notwendigen Grundausstattung gehören. Nachdem in dieser Phase das verfügbare E i n k o m m e n durchweg noch nicht besonders hoch ist, ist dieses entsprechend auch die Phase, in der relativ am meisten Schulden gemacht werden. K o m m e n Kinder hinzu, dann findet eine nennenswerte Umgewichtung innerhalb des Budgets und der Ausgabenstrukturen statt, und zwar in m e h r f a c h e r Hinsicht: zum einen wird schlagartig mehr W o h n r a u m notwendig, zum a n d e r e n geht es hier sowohl um Ergänzungen des Mobiliars wie auch um Ausgaben f ü r Kinderkleidung, was insbesondere deswegen beachtliche Posten sind, da die Kinder in der Phase des Heranwachsens kurzfristig u n d häufig ihre Kleidergröße verändern. Mit dem H i n z u k o m m e n von Kindern werden nachhaltig auch a n d e r e weitergehende Präferenzen entwickelt: nicht nur, d a ß durchweg eine größere Wohnung notwendig wird - es verstärkt sich auch die Tendenz, eine andere W o h n g e g e n d für angemessen zu halten: es werden W o h n q u a r t i e r e am Stadtrand bevorzugt, W o h n lagen mit geringerer Verkehrsfrequenz, wo Straßen eher den Charakter einer Spielstraße haben, Viertel, in denen auch andere Familien mit Kindern wohnen, einmal, um den eigenen Kindern Spielkameraden zu ermöglichen und zum anderen auch, um wechselseitig Verständnis für die spezielle Geräuschkulisse in einem Haushalt mit Kindern voraussetzen zu können: ein ähnliches soziales W o h n u m feld verringert u.a. die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Schließlich legt man bei der Wahl des Wohnstandortes auch Wert auf einen s t a n d e s g e m ä ß e n ' , ebenbürtigen Umgang f ü r die Kinder und auf den Zugang zu bestimmten Schulen seiner Wahl. W e n n der typische Durchschnittshaushalt im L a u f e seiner Existenz beobachtet wird, so fallen insbesondere zwei charakteristische Dinge auf: zum einen ist zu
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Teil III: Institutionen, S t r u k t u r e n , Prozesse der Wirtschaft
vermerken, d a ß der Haushalt, von der Mitgliederzahl her betrachtet, in einer ersten Phase eine Z u n a h m e ausweist, in einer zweiten Phase eine mehr oder minder d a u e r h a f t e stabile Phase mit größter Mitgliederzahl erlebt, und in einer dritten Phase wiederum auf ein kleineres Format schrumpft. Z u m zweiten ist festzustellen, d a ß in diesem Verlauf und bei noch feinerer Unterteilung typische Phasen und relativ stabile Stadien zu erkennen sind, welche die R a h m e n b e d i n g u n g e n abgeben f ü r entsprechende, hier jeweils zugeordnete Einstellungen und typische Verhaltensweisen, die sich f ü r jede Phase relativ deutlich unterscheiden lassen gegenüber den jeweils anderen Phasen. In der sozialökonomischen Literatur spricht man entsprechend vom Familienzyklus oder allgemeiner: vom Lebenszyklus, um auch solche Lebensgemeinschaften bzw. W o h n f o r m e n einzubeziehen, die nicht in der traditionellen Weise als „Familie" zu charakterisieren sind. In der bisherigen theoretischen Diskussion und in empirischen Forschungsproj e k t e n sind dementsprechend verschiedene Modelle diskutiert und eingesetzt worden. E s ist festzustellen, daß hier keine vollständige Einheitlichkeit besteht — d a ß diese aber auch nicht bestehen kann, da bei genauerer Betrachtung deutlich wird, daß eine spezielle Phaseneinteilung und eine bestimmte Definition der Schnittstellen und Schwellenwerte je nach Erklärungsbereich unterschiedlich angemessen erscheint. Wenn der Erklärungsbereich z.B. lautet: die relative B e d e u tung des einen oder anderen Ehepartners als Sozialisationsagent der Kinder, dann wird eine a n d e r e Phaseneinteilung sinnvoll sein, als wenn wir typische F o r m e n des Konsumverhaltens oder des relativen Gewichts bei Kaufentscheidungsprozessen zu diskutieren haben. Als neuere Phaseneinteilung, welche für eine Mehrzahl wesentlicher Erklärungsbereiche passend erscheint und die neben dem traditionell typischen Familienhaushalt auch a n d e r e Haushaltsformen angemessen einbezieht, kann das folgende Tableau von Gilly und Enis angesehen werden, das bei Kroeber-Riel in der folgenden Fassung dargestellt ist 8 (s. S. 83): Nach dieser Darstellung ergibt sich, daß mit sozialwissenschaftlicher Relevanz mindestens 10 verschiedene Haushalts-Existenzformen unterschieden werden k ö n n e n - wenn nicht gar 13 Formen. Es gibt eine Vielzahl von Hinweisen darauf, d a ß diesen jeweiligen Phasen bedeutsame Unterschiede des Wirtschaftens entsprechen.
2. Rollenübernahme und Arbeitsteilung In seinem W e r k zum Konsumentenverhalten konstatiert Kroeber-Riel: „ D i e Familie unterscheidet sich von anderen Primärgruppen insbesondere durch eine von der jeweiligen Kultur festgelegte und relativ formelle Rollenstruktur (Tätigkeitsaufteilung f ü r Mann, Frau und Kinder), a u ß e r d e m durch die Qualität der gefühlsmäßigen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern . . . beispielsweise ist die K o m m u n i k a t i o n oft emotionaler und durch die langjährigen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern oft subtiler als in anderen G r u p p e n " (KroeberRiel 1984, S . 4 4 0 ) . 8
Kroeber-Riel, W.: Konsumentenverhalten. M ü n c h e n ' 1 9 8 4 , S. 445 sowie: Gilly, M.C., Enis, B.M.: Recycling the family life cycle: a proposal f o r r e d e f i n i t i o n . In: Mitchell, A . A . (ed.): A d v a n c e s in c o n s u m e r research, 9. A n n A r b o r 1982.
83
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts Neue Fassung des Familienzyklus nach Gilly und Enis Gliederungskriterien
Alter
Erwachsenenzahl und Hinzukommen von Kindern
unter 3 5 Jahre
Haushalt mit einem Erwachsenen
über 6 4 Jahre
3 5 - 6 4 Jahre
Ledige I
Ledige I
Ledige II
-r i t
Haushalt mit zwei Erwachsenen
junges Paar
>
Paar o h n e Kinder
>
älteres Paar
1 verzögertes volles Nest Haushalt mit zwei Erwachsenen und Kindern
Haushalt mit einem Erwachsenen und Kindern
rn
volles Nest I
volles Nest 11
einzelner Elternteil
einzelner Elternteil
I
II
volles Nest I I I
einzelner Elternteil III
Anmerkung: Durch spaltenweises Lesen findet man die Hauptphasen. In den Phasen volles Nest I und verzögertes volles Nest sind die Kinder unter sechs Jahren, in volles Nest II und III über sechs Jahre. Weitere Erklärungen im Text. Zeichenerklärung: Heirat —.—.-.-.-.-.-.-. Tod oder Scheidung Kinder hinzu oder weg Alterung Quelle: Gilly und Enis (1982. S. 274).
Dieses ist zweifellos eine angemessene Beschreibung der besonderen Konfiguration von Arbeitsteilung und wechselseitiger Orientierung im Haushalt, bedarf unserer Ansicht nach jedoch weiterer Qualifikationen und Ergänzungen. So ist es wichtig, die Frage zu stellen, als wie „selbstverständlich" solche Festschreibungen empfunden wurden und werden; die Definitionen einer angemessenen Rollenverteilung variieren durchaus über Zeit — zwischen den verschiedenen Kulturkreisen und Gesellschaften, aber durchaus auch in der Abfolge der Generationen in einund derselben Gesellschaft. Ergänzend wäre auch der Blick in die Zukunft zu rieh-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
ten u n d zu p r ü f e n , inwieweit sich auf d e m H i n t e r g r u n d v e r ä n d e r t e r R a h m e n b e d i n g u n g e n e i n e N e u g e w i c h t u n g und eine n e u e Mischung d e r A u f g a b e n v e r t e i l u n g im H a u s h a l t abzeichnet. Historisch b e t r a c h t e t , war in der vorindustriellen Zeit d e r Anteil von g e m e i n s a m e n A k t i v i t ä t e n im Vergleich zur Situation hochindustrialisierter G e s e l l s c h a f t e n deutlich g r ö ß e r — z u m i n d e s t d e r Anteil solcher Aktivitäten, die „in S i c h t w e i t e " der jeweils a n d e r e n Haushaltsmitglieder verrichtet w e r d e n k o n n t e n . Natürlich ist es richtig, d a ß sogar in archaischen G e s e l l s c h a f t e n u n d s o g e n a n n ten „primitiven K u l t u r e n " eine - meist geschlechtsspezifische - A r b e i t s t e i l u n g s t a t t g e f u n d e n hat und stattfindet. D a ß dies a b e r in solcher Regelhaftigkeit, so d a u e r h a f t u n d so mit System geschieht, d a ß die M ä n n e r den H a u s h a l t m o r g e n s verlassen u n d erst a b e n d s dorthin z u r ü c k k e h r e n , dieses ist ein Spezifikum d e r h o c h e n t w i c k e l t e n Industriegesellschaften. W i r sind uns bei dieser Kennzeichnung d u r c h a u s der T a t s a c h e b e w u ß t , d a ß auch der A n t e i l b e r u f s t ä t i g e r F r a u e n beträchtlich ist; a n d e r e r s e i t s ist zu sehen, d a ß hier deutlich p h a s e n e i n g e g r e n z t e F o r m e n von Berufstätigkeit typisch sind. So c h a r a k terisiert H e l g e P r o ß a u f g r u n d ihrer r e p r ä s e n t a t i v e n E r h e b u n g ( „ D i e Wirklichkeit der H a u s f r a u " ) ' ' die D u r c h s c h n i t t s h a u s f r a u wie folgt: Sie war vor der E h e s c h l i e ß u n g einige J a h r e berufstätig, u m d a n n nach d e r E h e s c h l i e ß u n g diesen Tätigkeitsbereich mit d e m n e u e n A u f g a b e n k r e i s des eigenen H a u s h a l t s zu tauschen. A u s dieser Situation e r g e b e n sich eine ganze R e i h e von K o n s e q u e n z e n : A u s der P e r s p e k t i v e d e s H a u s h a l t s zuerst einmal die, d a ß t a g s ü b e r meist nur die F r a u ( „ d i e H a u s f r a u " ) im H a u s h a l t anwesend ist und die d o r t n o t w e n d i g e n V e r r i c h t u n gen d u r c h f ü h r t . Schon a u f g r u n d dieses T a t b e s t a n d e s ergibt sich ein ganz spezifisches M u s t e r von Z u s t ä n d i g k e i t und K o m p e t e n z . D e s weiteren ist eine Folge, daß die „ P e r s o n e n s ä t z e " , welche einerseits d e r E h e m a n n u n d a n d e r e r s e i t s die E h e f r a u in i h r e m Alltag erleben, mit d e n e n sie Allt a g s e r f a h r u n g e n a u s t a u s c h e n und entwickeln, wesentlich unterschiedlich sind (vgl. S c h e u c h / K u t s c h 2 1 9 7 5 , S. 1 1 8 f f ) l ü . Mit gewisser V e r e i n f a c h u n g gesagt: das „ r e l e v a n t e P u b l i k u m " des M a n n e s sind seine ( g l e i c h g e o r d n e t e n ) Berufskollegen, a b e r auch seine V o r g e s e t z t e n und seine U n t e r g e b e n e n . D a s „ r e l e v a n t e Publik u m " der E h e f r a u ist die eine oder a n d e r e N a c h b a r i n , sind g e g e b e n e n f a l l s die K i n d e r , sind der B r i e f t r ä g e r , die V e r k ä u f e r i n im S u p e r m a r k t , sowie B e k a n n t e u n d V e r w a n d t e , die m a n telefonisch erreichen k a n n . D i e A l l t a g s e r f a h r u n g prägt zweifellos d a s Bewußtsein. D a s E m p f i n d e n , a b e n d s w i e d e r „ n a c h H a u s e " zu k o m m e n (mit allen K o n n o t a t i o n e n von Freizeit und E n t lastung von B e r u f s s t r e ß ) ist sicher sehr viel typischer f ü r den M a n n als f ü r die H a u s f r a u : diese ist d u r c h w e g zu H a u s e ; f ü r sie w ü r d e das gleiche E m p f i n d e n e h e r g e g e b e n sein, w e n n sie ihrerseits einmal d e n H a u s h a l t „ h i n t e r sich lassen" k ö n n t e . In welchem U m f a n g die a u ß e r h ä u s l i c h e / b e r u f l i c h e A l l t a g s e r f a h r u n g auch das V e r h a l t e n „ z u H a u s e " m i t p r ä g t und b e e i n f l u ß t , wird u n t e r a n d e r e m d u r c h e i n e U n t e r s u c h u n g von Mc Kinley (1964) deutlich, welche besagt, d a ß V ä t e r , d e r e n b e r u f l i c h e r Alltag von M o n o t o n i e u n d F r e m d k o n t r o l l e d e r Arbeitsvollzüge b e s t i m m t ist, diese F r u s t r a t i o n e n der B e r u f s w e l t d u r c h a u t o r i t ä r e s und aggressives 9 10
Pross, H.: Die Wirklichkeit der Hausfrau. Reinbek 1975. Scheuch, E.K., Kutsch, Th.: Grundbegriffe der Soziologie, Bd. 1, Stuttgart 1975.
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
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V e r h a l t e n zu H a u s e w i e d e r k o m p e n s i e r e n . " Berufliche V e r s a g u n g e n , beruflicher S t r e ß und d e r relative S t a n d o r t in der b e r u f l i c h e n Hierarchie wirken sich somit o f fensichtlich nachhaltig auf die Motivation u n d d a s k o n k r e t e V e r h a l t e n im H a u s halt aus. Die A r t der R o l l e n ü b e r n a h m e im H a u s h a l t wird nicht erst von d e n b e r u f l i c h e n u n d gesamtgesellschaftlichen R a h m e n b e d i n g u n g e n h e r m i t b e s t i m m t . Wesentlich ist hier schon der P r o z e ß der Sozialisation, der weit vor der G r ü n d u n g eines eigenen H a u s h a l t s die P e r s o n f ü r b e s t i m m t e Z u s t ä n d i g k e i t e n „ k o n d i t i o n i e r t " . So ist es bislang eine übliche E r f a h r u n g , d a ß M ü t t e r ihre T ö c h t e r f ü r haushaltstypische V e r r i c h t u n g e n s t ä r k e r h e r a n z i e h e n , d a ß T ö c h t e r mit P u p p e n h a u s u n d P u p p e n k ü che spielen, mit a n d e r e n W o r t e n : d a ß sie sich spielerisch u n d ,,en m i n i a t u r e " mit d e m A u f g a b e n k r e i s d e r H a u s h a l t s f ü h r u n g v e r t r a u t m a c h e n - bzw. damit v e r t r a u t g e m a c h t w e r d e n . Viele solche A k t i v i t ä t e n sind als „ u n m ä n n l i c h " besetzt — S ö h n e w e r d e n bislang k a u m ermutigt, im kindlichen Spiel gleichfalls Interesse an solchen A k t i v i t ä t e n zu entwickeln. E i n e ganze R e i h e von Indizien s p r e c h e n d a f ü r , d a ß „ g e l e r n t e R o l l e n " u n d internalisierte F o r m e n von haushaltsspezifischer A r b e i t s t e i l u n g sich nicht kurzfristig v e r ä n d e r n lassen und d a ß dies sogar möglicherweise von d e m s t ä r k e r belasteten P a r t n e r her g e s e h e n kurzfristig auch k a u m vorstellbar erscheint u n d situationsspezifisch e i n g e f o r d e r t wird 1 2 . E s spricht einiges d a f ü r , d a ß V e r ä n d e r u n g e n in dieser Hinsicht, sofern sie gewünscht w e r d e n , sehr viel frühzeitiger anzusetzen h a b e n . L a n g e b e v o r d e r eigene H a u s h a l t g e g r ü n d e t wird, scheint schon in d e r vorgängigen Sozialisation d e r G r u n d s t o c k einerseits an K o m p e t e n z und a n d e r e r s e i t s an Motivation u n d Bereitschaft gelegt w o r d e n zu sein, d e r letztendlich die faktische F o r m d e r A r b e i t s t e i l u n g im eigenen H a u s h a l t d a n n m i t b e s t i m m t . U n d dabei scheint i n s b e s o n d e r e das M o d e l l - L e r n e n , das L e r n e n a m Vorbild, eine wesentliche V o r a u s s e t z u n g zu sein. So lesen wir z.B. in einer Studie des Instituts f ü r D e m o s k o p i e A l l e n s b a c h : „Nicht die Situation, die B e l a s t u n g e n d e r M u t t e r p r ä g e n die Einstellung d e r J u g e n d l i c h e n zu häuslicher A u f g a b e n t e i l u n g , s o n d e r n das V e r h a l t e n d e s V a t e r s . V o n J u g e n d l i c h e n , d e r e n V a t e r h ä u f i g im H a u s h a l t hilft, arbeiten selbst 4 6 % g e r n e zu H a u s e mit, von J u g e n d l i c h e n , d e r e n V a t e r nie hilft, lediglich 1 8 % . " 1 3 E i n e d y n a m i s c h e B e t r a c h t u n g der Existenz eines H a u s h a l t e s ü b e r Z e i t m a c h t deutlich, d a ß eine generelle B e w e r t u n g „ d e r " H a u s f r a u e n r o l l e keineswegs a n g e bracht ist. In d e r A b f o l g e typischer P h a s e n e r g e b e n sich typische A u f g a b e n k o n stellationen, die sich deutlich v o n e i n a n d e r u n t e r s c h e i d e n u n d absetzen (u.a. in d e m Sinne, d a ß sie eine unterschiedliche Bilanz von B e l o h n u n g e n u n d V e r s a g u n gen b e i n h a l t e n ) . So ist z.B. das P r o b l e m , k e i n e Z e i t f ü r e i g e n e I n t e r e s s e n zu h a b e n o d e r an d a s H a u s gefesselt zu sein, deutlich g r ö ß e r in d e r Phase: „ j u n g e r H a u s h a l te mit kleinen K i n d e r n " als in P h a s e n d a n a c h . D i e V o r s t e l l u n g e n d a r ü b e r , wie e i n e „ g e r e c h t e " V e r t e i l u n g der R e c h t e u n d Pflichten im H a u s h a l t a u s z u s e h e n h a b e , h a b e n in der A b f o l g e d e r G e n e r a t i o n e n 11 12
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McKinley, D.G.: Social Class and Family Life, New York 1964. Vgl. Bernd van Deenen und Christa Kossen-Knirim: Landfrauen in Betrieb, Haushalt und Familie. Bonn 1981 ( = Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie H. 260), insbesondere S. 60 ff. Institut für Demoskopie Allensbach: Die Situation der Frau in Baden-Württemberg. Karlsruhe 1983 S. 34 ff.
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Teil III: Institutionen, S t r u k t u r e n , Prozesse der Wirtschaft
einen deutlichen Wandel erfahren u n d variieren auch in der Biographie des einzelnen Haushalts in der Abfolge der typischen Phasen. Hinsichtlich der Rollenverteilung im Haushalt stellt Scherhorn fest: „Wenig untersucht ist die Verteilung der hauswirtschaftlichen Tätigkeit auf die Haushaltsmitglieder und im Zeitbudget des Haushalts, unzulänglich geklärt ist die soziale Bewertung der den Haushaltsrollen zugewiesenen Pflichten und K o m p e t e n z e n " (1977, S.277). 1 4 Bei dieser Fragestellung erscheint eine mehrfache Sortierung angebracht: So gibt es einmal Rollenelemente, die z.B. für einen Rollentausch nicht zur Disposition stehen (wie die Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern; in der Frühphase der kindlichen Existenz ist die mütterliche Fürsorge wegen der intensiven Bindung zwischen Mutter und Kind nicht beliebig ersetzbar). Z u m zweiten gibt es Rollenelemente, bezüglich derer die vorausgehende Sozialisation deutliche K o m petenzvorsprünge eines Partners bewirkt hat und wo von daher eine bestimmte Form der Arbeitsteilung „naheliegend" erscheint. Wenn dieses verändert werden soll, muß entsprechend schon in der Vor-Haushalts-Phase, im Prozeß der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, an eine V e r ä n d e r u n g der Vorgaben und V e r haltensmuster gedacht werden. Zum dritten gibt es Rollenelemente, die als attraktiv und von der Sache her als positiv e m p f u n d e n werden oder aufgrund der Tatsache, d a ß damit Macht und Kompetenz verbunden sind (wie z.B. die Verwaltung des Haushaltsbudgets). Schließlich gibt es Rollenelemente, die jedes Haushaltsmitglied eher als lästig empfindet und deren Weitergabe dementsprechend am ehesten als wirkliche Entlastung e m p f u n d e n wird (es sind gerade diese Tätigkeiten, die immer wieder apostrophiert werden, wenn es um eine „ g e r e c h t e r e " A u f t e i lung der A u f g a b e n im Haushalt geht!). Es ist zweifellos so, d a ß die unterschiedlichen Funktionsbereiche, die typischerweise in einem Haushalt anfallen, von den Haushaltsmitgliedern als unterschiedlich attraktiv e m p f u n d e n werden, und daß über solche Rangfolgen durchaus eine ähnliche Perspektive besteht bei befragten Frauen wie bei befragten Männern. In einer repräsentativen Befragung des Sample-Instituts wird z.B. deutlich, d a ß Fensterputzen sowohl bei Frauen als auch bei M ä n n e r n als unbeliebteste Hausarbeit gilt: „ 4 2 % der befragten Frauen und 2 6 % der M ä n n e r graulen sich vor d e m Fens t e r p u t z e n " (Wohnmedizin 6 (1986), S.9). 1 5 Wie wird nun die Hausfrauenrolle von ihren Trägerinnen bewertet? G a n z offensichtlich stellt diese Rolle ein mixtum compositum aus positiv und negativ e m p f u n d e n e n E l e m e n t e n dar. Einerseits ist das Sozialprestige dieser Rolle in der Ö f fentlichkeit gering; die häufig zu hörende Antwort weiblicher Teilnehmer auf die Frage des Quizmasters nach dem Beruf: „ich bin nur H a u s f r a u " ist ein Indiz dafür, daß sich die Frauen dieses (problematischen) Rollenimages durchaus bewußt sind. Auf der anderen Seite ist dies ein Tätigkeitsfeld mit oft mehr Selbstgestaltungsmöglichkeiten und mehr zeitlichen und sachlichen Spielräumen, als es in der „offiziellen Berufswelt" möglich ist. Entsprechend ambivalent ist häufig die Bewertung dieser Rolle durch ihre Träger. Wenn wir von verschiedenen empirischen Untersuchungen über die Rolle der Hausfrau ausgehen (z.B. von der schon erwähnten repräsentativen Untersuchung 14
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Scherhorn, G.: Konsum. In: König, R. (Hg.), H a n d b u c h der empirischen Sozialforschung, Bd. 11, Freizeit, Konsum, Stuttgart 1977, S. 227. W o h n m e d i z i n 6 ( 1 9 8 6 ) S. 9.
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
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von H. Proß), dann ist zu sehen, daß das in den Feuilletons verbreitete Bild der Abneigung der Frau gegen die Rolle als Hausfrau so pointiert nicht zu finden ist, oder, anders ausgedrückt: Bei der Abwägung von Pro und Contra überwiegt in solchen repräsentativen Untersuchungen durchweg ein positiver Saldo in der Gesamtbewertung ihrer Lage durch die Hausfrauen. 1 6 Bei genauerer Analyse wird sichtbar, d a ß etliche Aktivitäten dieses Funktionskreises abgelehnt bzw. als lästig und mühsam e m p f u n d e n werden, daß jedoch andere Aktivitäten demgegenüber positiv e m p f u n d e n , ja sogar geschätzt werden : so wird z.B. am häufigsten das Saubermachen abgelehnt, während z.B. das Einkaufen, das Spiel mit den Kindern, die Zubereitung besonderer Gerichte als positiv e m p f u n d e n werden. Das Einkaufen hat je nach Phase im Lebenszyklus eine spezifische Zusatzbedeutung: in der Frühphase junger Familien mit Kleinkindern etwa ist das Einkaufen häufig die einzige Möglichkeit, unter Leute zu kommen, andere Menschen zu treffen, eben: A u ß e n k o n t a k t e zu pflegen. Ein wesentliches Kriterium in leistungsorientierten Gesellschaften besteht darin, daß mit Bezug auf spezifische Leistungen regelmäßig eine différentielle Belohnung erwartet wird — sei es in Form von Lohn, von Sozialprestige oder von sonstiger formeller A n e r k e n n u n g irgendwelcher Art. Die Rolle der Hausfrau ist u.a. deswegen so prekär, weil solche E l e m e n t e der Bestätigung und Belohnung in diesem Funktionskreis besonders nachhaltig fehlen und entsprechend vermißt werden. Hinzu kommt, daß die H a u s f r a u e n ihre Situation z u n e h m e n d an Alternativen messen und bewerten können, die ihnen sonst noch zur Verfügung stünden. Je m e h r „sonstige Fähigkeiten" sie noch erworben haben, desto größer wird f ü r sie die Diskrepanz zwischen den im Haushalt möglichen relativen Erfolgserlebnissen und Belohnungselementen einerseits und der Spannbreite der erworbenen Fähigkeiten (und damit möglichen E n t l o h n u n g e n ) andererseits, die in dieser Lage nicht angewandt und erwartet werden können. Zusätzliche Fähigkeiten, welche das Eintrittsbillett für attraktive Positionen darstellen, die mit E i n k o m m e n , mit „öffentlicher A n e r k e n n u n g " und mit Sozialprestige verbunden sind, werden insbesondere über weitergehende Bildung erworben. Somit läßt sich folgern: je h ö h e r die Bildung, desto stärker ist das Ressentiment der Frauen, daß es ihnen in der Existenz „ N u r - H a u s f r a u " verwehrt sei, ihre différentielle Leistungsfähigkeit auszuleben und ihren Anteil an öffentlicher Ane r k e n n u n g zu gewinnen. Die demographische Entwicklung der letzten Jahrzehnte macht deutlich, in welcher Richtung bei vielen Frauen die Entscheidung gefallen ist: der drastische Rückgang der G e b u r t e n r a t e hat sicher auch mit der Entschlossenheit vieler Frauen zu tun, nach einer sehr kurzen R e p r o d u k t i o n s p h a s e wieder in das Berufsleben zurückzukehren. Eine Untersuchung 1 7 bei 2 0 6 6 Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland aus dem J a h r e 1983 zeigt auch, welche Konsequenzen diese bildungsmäßige Umschichtung bei den Mädchen und jungen Frauen auf die Rollendefinition im Haushalt hat: Ein zentrales Ergebnis dieser Studie ist, daß für die heutige Mädchengeneration, die wie noch keine Generation vor ihr w e i t e r f ü h r e n d e Bildungs16
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Diese T e n d e n z findet sich bestätigt auch bei Planck: Landjugendliche w e r d e n Erwachsene. Die N a c h j u g e n d p h a s e im ländlichen Westdeutschland im Generationenvergleich 1955 und 1980. H o h e n h e i m 1983, S. 9 8 ff. Allerbeck, K., H o a g , W . : Jugend o h n e Z u k u n f t ? M ü n c h e n 1985.
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
einrichtungen besucht hat, Berufstätigkeit selbstverständlich ist. Hieraus ergibt sich bei diesen Mädchen und jungen Frauen die Vorstellung, d a ß der Haushalt ein notwendiges Übel sei und daß dementsprechend die anfallenden Tätigkeiten von M a n n und Frau „zu gleichen Teilen" zu erledigen seien. Nachdem eine solche Vorstellung bei den männlichen Befragten nicht in gleicher Weise vorhanden ist, folgern die A u t o r e n für die Z u k u n f t eine Z u n a h m e von Konflikten und Diskussionen über eine angemessene Form der R o l l e n ü b e r n a h m e und Arbeitsteilung in den Haushalten. Eine Entschärfung solcher Konfliktlagen erscheint prinzipiell in dem M a ß e denkbar, wie durch die weiter Realität w e r d e n d e Freizeitgesellschaft, durch die Verkürzung der Arbeitszeit die Männer zu Hause wieder verfügbarer werden, wie durch die weitere Ausstattung der Haushalte mit arbeitskraftsparender Technologie der A u f w a n d an Arbeitskraft abnimmt, wie durch flexible Arbeitszeiten-Regelungen, durch job sharing und Teilzeitarbeitsmöglichkeiten sowohl für die M ä n ner als auch f ü r die F r a u e n wieder mehr Spielraum entsteht, sowohl am Berufsleben teilzunehmen als auch einen Anteil am Haushalt zu ü b e r n e h m e n . Schließlich bleibt auch abzuwarten, ob der Rollentausch: Hausfrau — H a u s m a n n , der z.Zt. eher noch Seltenheitswert hat, in Z u k u n f t mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung erfährt und damit zu einer etwas selbstverständlicheren Alternative wird. Arbeitsteilung im Haushalt, wobei „jeder seine 5 0 % ü b e r n i m m t " - dies hat weitreichende Voraussetzungen und Konsequenzen. G e h e n wir von einem 4 - P e r sonen-Durchschnittshaushalt aus: Wenn nicht unterstellt wird, d a ß alle notwendigen Dienstleistungen gekauft werden (Putzfrau, Kindermädchen, regelmäßiges Essen im Restaurant etc.) dann können in der Regel nicht beide erwachsenen Partner einer ganztägigen Berufstätigkeit nachgehen. Eine wesentliche strukturelle Voraussetzung bestünde dementsprechend in viel größerer Verfügbarkeit von Halbtagsstellen, Möglichkeiten zu Job-Sharing etc. sowohl für M ä n n e r als auch für F r a u e n ; ein solches breit gefächertes A n g e b o t ist z.Zt. aber weder verfügbar noch in der weiteren Z u k u n f t absehbar. In einer A n f a n g 1987 vorgelegten Analyse wird f ü r die Bundesrepublik Deutschland diesbezüglich berichtet: „ O b w o h l Job-Sharing allgemein b e k a n n t ist, zählt man nur 17 private Firmen und 25 öffentlich-rechtliche Stellen in der Bundesrepublik, in d e n e n es Fälle von Arbeitsplatzteilung gibt. Dispositive Jobs werden nur im öffentlichen Bereich geteilt und bei Stellenausschreibungen werden geteilte Arbeitsplätze kaum berücksichtigt." 1 8 Eine weitere Voraussetzung wäre auch darin zu sehen, d a ß der Dienstleistungsm a r k t überhaupt genügend qualifiziertes Personal zur Verfügung stellt, um für einen solchen Wachstumsmarkt von Haushaltsdienstleistungen ein ausreichendes Angebot zu gewährleisten. D a s Dienstmädchen f r ü h e r e r Zeiten, welches f ü r einen relativ bescheidenen Lohn vielseitig einsetzbar war, ist als Berufskategorie vollständig aus dem A n g e b o t verschwunden. Ein Dienstmädchen der 80er J a h r e würde wahrscheinlich d e n größeren Teil des E i n k o m m e n s eines der berufstätigen Haushaltsmitglieder wieder „aufzehren". Somit könnte eine Motivation zur Berufstätigkeit bei diesem Haushaltsmitglied nur darin bestehen, nicht vom Verdienst her, sondern von der Sache her an der außerhäuslichen Tätigkeit engagiert zu sein: aus Interesse an der qualifizierten Tätigkeit, wegen des damit verbunde18
Rationelle Hauswirtschaft XXIV, Heft 1/87, S. 23.
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nen Sozialprestiges, aus G r ü n d e n der „Selbstverwirklichung", wegen des R e n t e n anspruchs. Die Umsetzung einer solchen Haushaltsphilosophie und Strategie der Arbeitsteilung erscheint allerdings als nicht einfach; bei einer „fifty-fifty"-Aufteilung ergibt sich das Problem der Gewichtung und Sortierung: W e r macht was? Ist „jeder für alles zuständig", oder bleibt es bei einer Form p e r m a n e n t e r Arbeitsteilung? (Muster A: wechselweise - ist also erst der eine für eine spezifische Funktion zuständig und dann der a n d e r e (Wechsel in welchem Rhythmus?)? O d e r Muster B: Person A ist immer zuständig für Funktion X, Person B immer zuständig für Funktion Y?). G e r a d e im letztgenannten Fall ist ein „ M ü h s a l - G e f ä l l e " wahrscheinlich: der „ W a r e n k o r b " haushaltstypischer Funktionsbereiche ist durchaus unterschiedlich attraktiv zusammengesetzt im Sinne von Mühewaltung einerseits und daraus abzuleitender Befriedigung andererseits, so d a ß hier eine als „gerecht" e m p f u n d e n e Aufteilung nur schwer realisierbar erscheint. Eine weitere Konsequenz: Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, daß beide Partner mit Bezug auf bestimmte Funktionsbereiche in gleichem U m f a n g Kompetenz reklamieren; wenn etwa die Kochkünste des einen aus der Perspektive des anderen fachmännisch und kritisch betrachtet werden können, dann ergeben sich zusätzlich Probleme von letztendlicher K o m p e t e n z und auch von Konkurrenz — also eine V e r m e h r u n g von Konflikt-Anlässen. Im übrigen: Sind Kinder im Haushalt, und betrachten wir den Haushalt im Längsschnitt, so ergeben sich hier phasentypisch jeweils wechselnde Mischungen von Arbeitsschwerpunkten und wechselnde H ä u f u n g e n von Arbeitsanfall, die ihrerseits wiederum eine bestimmte A u f g a b e n teilung nahelegen und insofern keine wirklich „ f r e i " wählbaren Aufteilungen ermöglichen. A u c h dieses ist zu sehen: D a u e r h a f t e Arbeitsteilung hat durchaus auch entlastende Qualitäten. Dies wird deutlich, wenn wir an Haushalte denken, wo die ehemals berufstätigen E h e m ä n n e r nach der Pensionierung wieder ganztägig zu Hause verfügbar sind; hier wird keineswegs immer nur die Möglichkeit der Entlastung und einer neuen Aufteilung des Arbeitsanfalls gesehen, sondern es ergeben sich durchaus auch Probleme, bestimmte Kompetenzbereiche wieder abgeben zu müssen. In ähnlicher Weise lassen sich auch die folgenden, auf den_ersten Blick verblüffenden Ergebnisse einer Umfrage interpretieren: Nach einer U m f r a g e aus dem Jahre 1983 in 930 Haushalten stellt sich heraus, d a ß bei erwerbslosen E h e m ä n n e r n nur eine Arbeitszeit von gut 3 Stunden p r o Tag im Haushalt zu verzeichnen ist.' 9 Dieses auf den ersten Blick erstaunliche Ergebnis könnte sich so erklären lassen, daß es haushaltsbezogen offensichtlich sehr verfestigte Rollendefinitionen und Verhaltensmuster gibt, die sich auch dann nicht o h n e weiteres ändern lassen, wenn bei einem Haushaltsmitglied auf einmal deutlich mehr Zeit zur Verfügung steht als bisher üblich. Dieses läßt sich durchaus „erk l ä r e n " : Häufig ist das Anlernen aufwendiger als das Selbermachen; zum zweiten hat das Verändern von Routinen bei allen Beteiligten seine geistigen und sachlichen Kosten, und weiterhin gehen die Beteiligten vermutlich auch davon aus, daß dieser Zustand (der Arbeitslosigkeit) nur vorübergehend ist, eine langfristige Form der Rollenveränderung demnach also nicht zur D e b a t t e steht. 19
Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Studien zu Umfang und Zusammensetzung der Arbeitszeit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Vgl. F A Z 5.3.1985, S. 7.
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
D i e spezifische haushaltstypische Flexibilität d ü r f t e in den meisten Haushalten darin bestehen, d a ß einerseits eine prinzipielle Arbeitsteilung erfolgt und andererseits bei dem jeweiligen Partner, der f ü r den jeweiligen Funktionskreis nicht „ h a u p t a m t l i c h " zuständig ist, gleichwohl doch fakultative Reserve-Kompetenzen vorliegen und im Bedarfsfalle abrufbar sind. So kann in den meisten Fällen der männliche Partner durchaus mit einer Grundausstattung an Kochkünsten aufwarten, wenn etwa die H a u s f r a u krankheitshalber ausfällt. Schwierig und p r o b l e m a tisch würde die Arbeitsteilung vermutlich erst bei grundsätzlicher Rollenteilung — w e n n also eine zentrale Funktion von nur einem Haushaltsmitglied beherrscht wird und der/die andere in keiner Weise über solche R e s e r v e - K o m p e t e n z e n verfügt.
3. Technikverwendung im Haushalt D e r Haushalt stellt eine Lebenseinheit dar, die, gemessen an dem Grad der A r beitsteilung, wie er in der „offiziellen Wirtschaftsgesellschaft" praktiziert wird, einen bemerkenswerten G r a d an Allround-Fähigkeiten und -fertigkeiten erfordert. In vielerlei Hinsicht sind dabei die Standards anders: bezogen auf die S u m m e aller zu leistenden Teilfunktionen ist der G r a d der jeweils angewandten Professionalität durchweg geringer, meist scheint „umfassendes Halbwissen" ausreichend bzw. die K o m p e t e n z eines begabten Amateurs. Es ist nun unsere These, daß im Verlauf der letzten Jahrzehnte der G r a d und der U m f a n g , zu dem technikbezogene Fertigkeiten und Kenntnisse Standard geworden sind, deutlich zugenommen haben. G a n z generell betrachtet, hat in den hochindustrialisierten Wohlstandsgesellschaften Zahl und Art der sogenannten Kulturtechniken z u g e n o m m e n : Die F ä higkeiten des Lesens und Schreibens sind mittlerweile allgemein verbreitet. Weitere Fertigkeiten, welche die Art und Weise der Organisation des Alltags und der Kommunikation nachhaltig verändert haben, sind etwa aus der stärkeren Verbreitung und Verfügbarkeit von PKWs o d e r auch des Telefons abzuleiten. Die generelle Frage nach den Kulturtechniken (man ist versucht zu sagen: nach den „Alltagskultur-Techniken") und ihre Verbreitung läßt sich auf den Haushalt konzentrieren. Wir könnten entsprechend fragen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten hier beobachtbar sind bzw. in diesem Z u s a m m e n h a n g z u n e h m e n d vorausgesetzt werden. W e n n wir in diesem Sinneauch die,,Haushaltstechnik" ansprechen, so meinen wir damit entsprechend mehr als etwa nur den Einsatz von technischen Hilfsmitteln u n d Geräten. H i e r u n t e r verstehen wir das ganze Bündel von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche einen in die Lage versetzen, den Haushalt technisch funktionell nach den Standards der Jetzt-Zeit erfolgreich zu führen. Es ist offensichtlich, d a ß sich die Kenntnisse bezüglich der Funktionsweise, der Einsatzmöglichkeiten und auch der W a r t u n g von technischen Haushaltsgeräten in den letzten Jahren stark verbreitet haben. D a s Sortiment solcher Geräte ist größer geworden, bei deren Benutzung zumindest technisches Mitdenken erforderlich geworden ist. Der U m g a n g mit Technik ist also zu einem wachsenden Bereich zu e r l e r n e n d e r Fertigkeiten geworden. Damit ist aber das Spektrum dieses Bereichs z u n e h m e n d e r „haushaltsspezifischer Kulturtechniken" noch keineswegs erschöpft: hier ist gleichfalls zu denken an Fertigkeiten wie diejenigen, den A n t r a g auf Lohn- oder Einkommenssteuerausgleich in den d a f ü r vorgesehenen Formularen sachgerecht auszufüllen und vorzutragen, den z u n e h m e n d unbar stattfinden-
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
91
den Geldverkehr zu organisieren und zu überwachen, Fahrpläne richtig lesen zu können, und zu wissen, bei welchen Ä m t e r n und Behörden man gegebenenfalls welche Art von Informationen abrufen kann. Der Umfang von in dieser Hinsicht zunehmend als allgemein bekannt vorausgesetzten Sachverhalten ist in den letzten Jahrzehnten beachtlich gewachsen, und wer hier Defizite aufweist, erlebt entsprechend eine neuartige Form von Benachteiligung durch eine solche neue und spezielle Art von modernem Analphabetismus. Die Ausstattung der Haushalte mit technischem Gerät und mit technischen Hilfsmitteln war in der Vergangenheit über Generationen hinweg mehr oder minder konstant und einfach. Erst in diesem Jahrhundert — vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg — hat diesbezüglich die Entwicklung rapide zugenommen. Die folgende Tabelle (S. 92) zeigt, wie die Ausstattung privater Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland mit langlebigen Gebrauchsgütern in dem Zeitraum von annähernd nur 20 Jahren seit 1965 bis zur Mitte der achtziger Jahre mit zunehmender Beschleunigung stattgefunden hat. Aus dieser Tabelle wird auch ersichtlich, daß die Geschwindigkeit, mit der diese Gegenstände in die Haushalte kommen, keineswegs einheitlich ist, wenn wir im statistiküblichen Sinne Haushaltstypen nach verfügbarem Einkommen unterscheiden. Andererseits ist festzustellen, daß sich die Anschaffung nicht nur als eine vom Preis des Objekts bzw. vom Einkommen des Haushalts abhängige Angelegenheit darstellt: Bestimmte Gegenstände „lohn e n " sich z.B. erst ab einer größeren Personenzahl. Es ist nun unserer Ansicht nach davon auszugehen, daß der Einsatz technischer Hilfsmittel im privaten Haushalt bedeutsame Voraussetzungen, Auswirkungen und Konsequenzen hat —einmal im gesamtgesellschaftlichen Maßstab, dann auch im sozialen Umfeld des Haushalts, wie schließlich auch haushaltsintern. Zum gesamtgesellschaftlichen Kontext: Der Wirkungsgrad des Haushalts ist vermindert, wenn die technologischen Voraussetzungen mangelhaft sind, d.h., wenn die „Logistik des Umfeldes" ungenügend ist. So nützt der beste PKW nichts, wenn das umgebende Verkehrsnetz nicht genügend ausgebaut ist. So hilft die Anschaffung eines Telefons nicht entscheidend weiter, wenn die relevanten Kontaktpersonen nicht ebenfalls ein Telefon besitzen. So lohnt sich die Anschaffung eines kabelgeeigneten Fernsehgerätes erst, wenn die ganze Region, in welcher sich der Haushalt befindet, entsprechend angeschlossen ist. Dieses alles sind also makrogesellschaftliche Voraussetzungen dafür, daß eine spezifische Ausstattung des Haushalts mit technischen Hilfsmitteln einen größtmöglichen Wirkungsgrad hat und damit auch erstrebenswert erscheint. Andererseits sind auch makro-gesellschaftliche Konsequenzen zu registrieren: die weite Verbreitung des PKW-Besitzes hat ein verändertes Wohnverhalten möglich gemacht (z.B. der Trend zu den Stadträndern hat ein anderes Einkaufsverhalten möglich gemacht (leichteres Aufsuchen des preisgünstigen Supermarktes auf der grünen Wiese; Schwerpunkteinkäufe ein- bis zweimal in der Woche, A b b a u des täglichen Einkaufens), und hieraus wiederum haben sich weitere Sekundäreffekte ergeben, wie z.B. das Sterben der „ T a n t e - E m m a - L ä d e n " . In der Folge solcher Entwicklungen haben sich im übrigen neuartige Probleme ergeben f ü r alle die Haushalte, die nicht über einen P K W verfügen, und für welche der althergebrachte Typ von Ladengeschäft zusätzliche Bedeutung hatte, z.B. als Kommunikationszentrum (Beispiel: Rentnerhaushalte oder Alleinstehende jenseits der Erwerbstätigkeitsphase): Sie erleben entsprechend eine ganz neuartige Form von relativer Benachteiligung.
92
Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
Ausstattung privater Haushalte mit langlebigen Gebrauchsgütern
Gebrauchsgut
Haushaltstyp l 1
Haushaltstyp 2 1
Haushaltstyp 3'
1965
1965
1984
1965
1975
1984
76,4 1,4 66,2 62,1
92,3 6,0 90,2 80,9 31,6
91,6
96,7
55,9 25,3
78,7 60,5
96,6 11,2 11,2 32,9
96,6 2,5
97,4 26,3 22,5 63,2 67,0 4,5 97,8 58,9
2,5 12,9 47,2 43,3
39,5 32,8 38,0 74,6
97,4 8,7 100,0 57,2 85,2 12,0 85,6 54,8 51,8 73,2 33,4 86,6 99,1 38,6 35,3 60,7 89,6 4,9 84,0 76,7 26,1 72,7 45,6 47,1 81,9
10,1 42,4 96,1
21,3 60,0 98,8 46,4
23,8 72,2 99,8 66,4
1975
1984
1975 in %
Personenkraftwagen Motorrad Telefon Schwarzweißfernsehgerät Farbfernsehgerät Video-Recorder Rundfunkgerät Stereo-Rundfunkgerät Stereo-Kompaktanlage Plattenspieler Tonbandgerät Cassetten-Recorder Photoapparat Schmalfilmkamera Schmalfilmprojektor Diaprojektor Schreibmaschine Wohnwagen Kühlschrank Tiefkühltruhe, -schrank Kühlgefrierkombination Geschirrspülmaschine Elektrogrillgerät Küchenmaschine Nähmaschine Elektrische Bügelmaschine (Heimbügler) Waschvollautomat Staubsauger Elektrischer Heimwerker
1,5 2,9 37,5
5,7 8,3 27,4 76,4 17,8
0,6 15,9 14,6 21,7
25,3 1,9 88,0 38,6 72,8 1,3 81,0 18,4 12,0 35,4 9,5 29,7 61,4 5,1 3,8 18,4 53,2 1,3 83,5 39,2 18,4 3,2 36,1 32,3 38,0
3,8 30,6 92,4 6,4
15,2 70,9 95,6 17,7
83,1
87,3
19,6 1,5
15,9 12,7
19,9
31,2 0,6 0,6 1,9 27,4
0,7 2,2
33,1
0,7 9,6 2,2 1,5 1,5 60,3
92,4 15,3
30,2 3,7 8,3 69,0
74,3 7,7 46,8 81,5 29,3
92,2
93,6
38,2 14,4
65,8 57,8
77,9 2,9 4,6 16,4
85,6 2,0
95,6 16,7 17,0 38,3 51,9 2,6 98,7 52,3
1,1 4,0 19,5 25,9
9,5 29,8 27,0 62,7
90,2 10,6 91,7 41,9 87,6 14,7 79,6 45,5 45,5 56,1 29,7 75,7 95,9 24,3 25,3 44,7 70,8 2,8 82,2 66,4 22,5 34,1 50,1 38,5 73,1
3,7 19,8 90,2
15,9 57,6 97,9 32,6
17,1 74,7 97,9 42,6
' Haushaltstyp 1: Zwei-Personen-Haushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen; Haushaltstyp 2: Vicr-Pcrsoncn-Arbcitnehmerhaushaltc mit mittlerem Einkommen, Haushaltstyp 3: Vier-Personen-Haushalte von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen.
D i e Ausstattung der Haushalte mit technischen Hilfsmitteln hat allerdings auch mikro-soziale Voraussetzungen und Konsequenzen. Eine Voraussetzung hatten wir schon erwähnt: das nötige Einkommen zur Anschaffung solcher Geräte. A l s weitere Voraussetzung kommt hier allerdings auch die Bereitschaft hinzu, solche Geräte zu nutzen sowie das technische Verständnis, das zunehmend notwendig geworden ist bei der Bedienung solcher Hilfsmittel. 2(1
Institut der Deutschen Wirtschaft (Hg.): 1986. Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Tab. 24.
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
93
Eine Voraussetzung zur Anschaffung technischer Hilfsmittel im Haushalt ist auch darin zu sehen, inwieweit diese Anschaffungen nach subjektiven u n d / o d e r objektiven Maßstäben sinnvoll erscheinen. Der Ausstattungsgrad wird geringer sein als faktisch möglich, wenn z.B. wegen kleiner Personenzahl der manuelle A u f w a n d bisher relativ gering war (z.B. Ein-Personen-Haushalte) und damit z.B. die Anschaffung eines Geschirrspülautomaten weniger „zwingend" erscheint. Mit einer relativen Unterversorgung mit technischen Hilfsmitteln ist ferner auch dann zu rechnen, wenn die Personen sich in die neue Technik nicht m e h r „ h i n e i n d e n k e n " können, wenn etwa älteren Menschen die Bedienungsanleitung zu kompliziert erscheint, wenn Ängste und Vorbehalte existieren (der D a m p f drucktopf könnte platzen), wenn die bisher manuell durchgeführte Verrichtung ein „lieb gewordenes R i t u a l " geworden ist, wenn man keine anderen Handlungspräferenzen hat, für die man zusätzlich zeitliche Spielräume gewinnen müßte und schließlich, auch wenn es sich bei bestimmten Geräten und den damit realisierbaren Funktionen und Abläufen nach Sicht der Personen um „künstlich erzeugte Bedürfnisse" handelt, die nicht einem wirklich e m p f u n d e n e n Bedarf entsprechen. Mikro-soziale Konsequenzen solch veränderter Ausstattung des Haushalts sind an erster Stelle zu sehen in der Erleichterung der Hausarbeit als einer direkten Folge; indirekte Konsequenzen ergeben sich durch mehr freie Zeit, durch mehr Freisetzung von Arbeitsmühsal, durch ein schnelleres Erledigen der notwendigen Abläufe und Prozesse. Weitere mikro-soziale Konsequenzen aufgrund eines höheren Ausstattungsgrades mit technischen Hilfsmitteln sind vielfältig absehbar: Die Etablierung eines Telefons verändert zweifelsohne die K o m m u n i k a tionsformen; die Ausstattung eines Haushaltes mit einem Fernsehgerät kann die Konsequenz haben, d a ß man weniger ausgeht, d a ß weniger Kinobesuche stattfinden, daß der Anteil von verbaler Kommunikation mit den anderen Haushaltspartnern geringer wird. A u c h können hierdurch Handlungsverläufe und Fixpunkte des Tages verändert werden; so wird das Abendessen häufig vor oder nach der Tagesschau plaziert, und es gehört zum guten Ton im Fernsehzeitalter, nicht etwa zu Zeiten der Abend-Nachrichten in anderen Haushalten anzurufen. Eine Ausstattung des Haushalts mit einem Geschirrspülautomaten mag bedeuten, daß f r ü h e r etablierte kommunikative Rituale (nach dem Muster „ D u spülst, ich trockne a b " ) wegfallen. Andererseits kann wiederum vermutet werden, d a ß mit einem höheren G r a d an Technikausstattung die Bereitschaft der M ä n n e r wächst, Arbeiten im Haushalt zu ü b e r n e h m e n . Die technische Verfügbarkeit eines neuen G e r ä t e s bzw. die Ausstattung mit bestimmten G e r ä t e n macht einerseits bestimmte vorbereitende Handlungen notwendig und legt die Person in bestimmter Weise auf weitere Handlungsschritte fest - bzw. lädt andererseits auch zu Handlungen ein, die davor weniger naheliegend schienen. Die A n s c h a f f u n g eines Mikrowellengerätes etwa legt das V o r k o chen und das Einfrieren kleiner Portionen nahe, ermöglicht andererseits ein flexibleres Versorgen von Einzelmitgliedern des Haushalts mit warmem Essen, auch wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten nach H a u s e k o m m e n , macht einen Tiefkühlschrank zusätzlich „sinnvoll", verändert die Eßgewohnheiten. Die Anschaffung einer Küchenmaschine mit Rührwerk lädt dazu ein, auch einmal einen Knetteig u n d sonstige B a c k u n t e r n e h m u n g e n zu versuchen, die bisher wegen des manuellen A u f w a n d s gescheut wurden. Insofern können wir durchaus Linde 2 1 beipflichten, der in solchen Z u s a m m e n h ä n g e n von der Sachdominanz gesprochen hat. 21
Linde, H.: Sachdominanz in Sozialstrukturen. Tübingen 1972.
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
D a ß die Ausstattung der Haushalte mit technischen Hilfsmitteln sehr nachhaltige Konsequenzen hat, sei im folgenden an dem Beispiel des Ernährungsverhaltens aufgezeigt; hier ist an die technische Ausstattung sowohl im Bereich der Vorbereitung und Vorratshaltung, als auch im Bereich der Zubereitung, wie schließlich auch im Bereich der Nachbereitung und des Aufräumens („Entsorgung") zu denken. Ein unterschiedlicher Ausstattungsgrad in diesen Teilbereichen hat unmittelbare Auswirkungen auf den Speisezettel des Haushalts: Für die Phase der Vorbereitung: Ohne die Möglichkeit, Tiefkühlkost im Haushalt aufzubewahren, läßt sich entsprechend wenig davon bevorraten, ist mehr A r beitszeit einzusetzen für die Selbstzubereitung von Speisen, kann weniger saisonunabhängig gekocht werden, ist mehr zu Tagespreisen zu kaufen, kann entsprechend weniger auf günstige Sonderangebote reagiert werden. Für die Phase der Zubereitung: Ohne Küchenmaschine ist der Arbeitsaufwand höher, traut man sich auch weniger an Gerichte heran, bei denen viel gerührt, geknetet, gemixt werden muß, ist mehr Zeiteinsatz notwendig, weicht man aus auf weniger arbeitsintensive Gerichte, ist der Anteil von selbstzubereiteten Speisen und Gerichten geringer, ist der Anteil von industriell vorgefertigten, also gekauften Speisen größer. Für die Phase der Nachbereitung und „Entsorgung": Wenn in einem 4-Personen-Durchschnittshaushalt immer von Hand gespült werden muß, wird die Hausfrau es sich zweimal überlegen, ob sie Gerichte auf den Tisch bringt, die z.B. in mehreren Gängen serviert werden und dementsprechend viel Geschirreinsatz notwendig machen. Pointiert gesagt: Antizipiertes Von-Hand-Spülen-Müssen kann in personenstärkeren Haushalten ein erhöhtes Angebot von Eintopfgerichten oder sonstigen Tellergerichten und ein selteneres Angebot von Gerichten „in G ä n g e n " zur Folge haben. Beim Einsatz von Technologie im Haushalt sind zwei grundlegende Dimensionen zu sehen: Einmal kann es sich darum handeln, daß der bisher manuell getätigte Handlungsablauf von einem Gerät ersetzt wird - hier handelt es sich also um den Fall der Substitution (bisher: Hand + Küchenmesser—jetzt: Küchenmaschine mit Schnitzelwerk). Zum anderen kann es sich hier durch den Einsatz neuartiger G e r ä t e auch um eine echte Ergänzung der bisherigen Verrichtungsmöglichkeiten handeln. Wenn ein Mehr möglich geworden ist gegenüber dem, was bisher getan werden konnte, dann hat diese Anschaffung komplementären Charakter (bisher: handschriftliche Notizen oder auch nur Festhalten in der Erinnerung — jetzt: Aufzeichnung von Informationen mit einem Video-Gerät). G e r a d e in letztgenannter Hinsicht ist durch das Mehr an Technologie ein Zuwachs an Handlungsspielräumen möglich geworden. Z u unterscheiden ist schließlich auch zwischen Geräten, die technisch „spezifisch" sind (z.B. Kaffeemaschine) und solchen, die technisch diffus, d.h. vielseitig einsetzbar sind (z.B. Heimwerker). Gerade die technisch vielseitig einsetzbaren G e r ä t e machen den revolutionären Charakter der neueren technologischen Ausstattungswelle der Haushalte aus. Durch die Multifunktionalität solcher Ausrüstungen hat sich die Flexibilität der Haushalte wesentlich erhöht und damit der Grad, zu dem sie sich von externen Serviceleistungen unabhängig gemacht haben. Dieser Zugewinn hat allerdings in anderer Hinsicht neue Abhängigkeiten geschaffen: hier ist zu denken an die Probleme von Wartung und Service, an die Re-
3. Kapitel: Soziologie des Haushalts
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paraturanfälligkeit von G e r ä t e n , an die A b h ä n g i g k e i t von g e r ä t e b e z o g e n e n Dienstleistungen. A u s d e m bisher G e s a g t e n e r g e b e n sich i n t e r e s s a n t e u n d w e i t r e i c h e n d e Folgef r a g e n : In den H a u s h a l t e n h a b e n — wie wir feststellen k o n n t e n — viele G e r ä t e E i n zug gehalten, die im Prinzip viele bisher m a n u e l l — m ü h s a m e u n d z e i t a u f w e n d i g e A r b e i t s s c h r i t t e a b l ö s b a r g e m a c h t h a b e n . M a n k ö n n t e nun a n n e h m e n , d a ß d a d u r c h in d e r S u m m e eine s p ü r b a r e F r e i s e t z u n g bzw. ein s p ü r b a r e r Z e i t g e w i n n e r zielt w e r d e n k o n n t e . In d e n Gesellschaftlichen D a t e n 1982, h e r a u s g e g e b e n v o m B u n d e s p r e s s e a m t 2 2 , ist mit Bezug auf E r g e b n i s s e d e r Institute Allensbach u n d I n f r a t e s t dargestellt, d a ß f ü r die 16 J a h r e zwischen 1 9 6 5 - 1 9 8 1 bzw. 1 9 6 4 - 1 9 8 0 eine Z u n a h m e d e r „ o b j e k t i v " d e f i n i e r t e n f r e i e n Zeit u m durchschnittlich 1,8 Std. p r o Tag ausgewiesen wird. Hierzu heißt es in w e i t e r e r D i f f e r e n z i e r u n g : „ D i e Z u n a h m e d e r freien Z e i t um 1,8 Std. im Durchschnittstagesverlauf resultierte . . . zu nicht ganz e i n e m Drittel aus einer V e r k ü r z u n g der Hausarbeitszeit . . . " . ( a . a . O . , S. 156). E i n e hier mögliche F o l g e f r a g e ist, wie die somit g e w o n n e n e Z e i t eingesetzt und genutzt wird — bzw. in w e l c h e m U m f a n g ein solcher Z e i t g e w i n n f ü r dringlich a n g e s e h e n wird; es m a g schließlich ja auch H a u s h a l t e geben, in d e n e n solche beachtlichen Z u g e w i n n e an Z e i t die n e u e V e r l e g e n h e i t p r o d u z i e r e n , solche F r e i r ä u m e auch sinnvoll gestalten und ausfüllen zu m ü s s e n . O b h i e r d u r c h also ein Stück m e h r Freizeitgesellschaft möglich g e w o r d e n ist, inwiefern d a d u r c h die V o r aussetzung g e s c h a f f e n w o r d e n ist, sich v e r m e h r t freigewählten Tätigkeiten zu widm e n , d e m wäre noch weiter n a c h z u g e h e n . Die T h e s e , d a ß d e r Z u w a c h s an t e c h n i s c h e m G e r ä t in den H a u s h a l t e n zu Z e i t gewinn g e f ü h r t hat, erscheint einerseits zwar plausibel, bleibt a b e r a n d e r e r s e i t s nicht u n w i d e r s p r o c h e n . So wird A n f a n g 1987 von e i n e m Symposium der A r b e i t s stelle F r a u e n f o r s c h u n g u n d des Instituts f ü r A r b e i t s l e h r e der Technischen U n i v e r sität Berlin berichtet, d a ß sogar eine g e g e n l ä u f i g e T e n d e n z gesehen w e r d e n k ö n ne: trotz v e r s t ä r k t e r Möglichkeiten, sich die H a u s a r b e i t zu erleichtern, steige d e r Z e i t b e d a r f des F a m i l i e n h a u s h a l t s e h e r an. 2 3 D i e G r ü n d e d a f ü r lassen sich wie folgt sehen: - h ö h e r e s A n s p r u c h s n i v e a u z.B. d a h i n g e h e n d , häufiger die W ä s c h e zu wechseln, - gestiegene E i g e n p r o d u k t i o n in diversen T e i l b e r e i c h e n , - G e r ä t e h a b e n A u f f o r d e r u n g s c h a r a k t e r : Kapitaleinsatz soll sich l o h n e n , - der A u f w a n d f ü r V o r - und N a c h b e r e i t u n g des Maschineneinsatzes wird oft u n terschätzt, - die V e r l a g e r u n g von S c h w e r p u n k t a k t i v i t ä t e n zu „ Z w i s c h e n d u r c h h a n d l u n g e n " (statt e i n e m W a s c h t a g je W o c h e W a s c h e n in Teilpartien) m a c h t den A r b e i t s aufwand undeutlicher, - durch f ü r die H a u s f r a u v e r f ü g b a r e „ t e c h n i s c h e E r l e i c h t e r u n g e n " wird d e r „moralische D r u c k " auf M ä n n e r u n d K i n d e r zur Mithilfe geringer, - die Möglichkeit d e r Mithilfe von K i n d e r n wird reduziert d u r c h technische G e räte, die f ü r die B e d i e n u n g d u r c h E r w a c h s e n e k o n s t r u i e r t w u r d e n , - technische A b l ä u f e w e r d e n m e n s c h l i c h e n B e l a n g e n u n t e r g e o r d n e t ; in d e m M a ße, wie hier die B e d ü r f n i s s e gestiegen sind, w e r d e n f u n k t i o n a l e A b l ä u f e u n t e r b r o c h e n , verlegt, portioniert, n a c h v e r l a g e r t u n d zeitlich g e d e h n t . 22
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Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Gesellschaftliche Daten 1982, Bonn 1982. Weidenbach, S.: Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau. Bericht vom Symposium an der TU Berlin. Stuttgarter Zeitung 17.1.1987, S. 51.
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Die technologische Durchrationalisierung des Haushalts scheint somit also auch ihre sozialen Grenzen zu haben. Es sind in der Vergangenheit immer wieder Versuche unternommen und Vorschläge gemacht worden, bewährte Organisationsmuster aus dem Bereich der betrieblichen Fertigung auf den Haushalt zu übertragen. Dieses ist bisher aus gutem G r u n d regelmäßig gescheitert. So wird z.B. seit längerem von der Computerindustrie der Versuch unternommen, analog zu der Verbreitung von Klein-Computern in Betrieben auch in die Haushalte „ H o m e - C o m p u t e r " einzuführen. Dies stellt uns vor die Frage: zu welchem Grad und in welchem Umfang erscheint mittlerweile eine „betriebswirtschaftlich rationale" Form der Organisation in privaten Haushalten als verbreitet — bzw. wird von den Haushaltsmitgliedern als erstrebenswert betrachtet? Bisher sind im Prinzip hierfür konzipierte Geräte in einer ersten Neugierwelle erst von einigen Haushalten angeschafft worden — zu weiten Teilen allerdings vorrangig, um Computer-Spiele zu betreiben, und keineswegs etwa als Organisationsinstrumente zur Koordination haushaltsspezifischer Ablaufmuster, zum A u f b a u und zur Pflege haushaltsspezifischer Dateien, für Adressenverwaltung, für Terminorganisation und Buchführung. Sogar in einer Selbstdarstellung des z.Zt. in Deutschland wohl am weitesten verbreiteten Produkts dieser Art (Commodore C 6 4 ) wird dargestellt, daß die Hauptabnehmergruppe Haushalte mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sind. Der Schwerpunkt scheint also insbesondere bei Computer-Spielen zu liegen - was auch durch die weitere Kennzeichnung dieser Produktionssparte als „Hobby-Computer-Linie" signalisiert wird. In einer weiteren Argumentation wird „der oft gehörte Einwand", der H e i m - C o m p u t e r sei doch nur etwas zum Spielen, von den Produzenten mit dem Einstein-Wort „entkräftet", dieses sei schließlich nichts Schlechtes - das Spielen sei Ursprung und Training f ü r die menschliche Kreativität. Auch aus dieser Aussage läßt sich allerdings ableiten, daß von den Produzenten selbst hier ein Schwerpunkt im spielerischen Bereich gesehen wird, also weniger im .ernsthaften' Bereich der Organisation und Koordination haushaltsspezifischer Abläufe. Bei dem „hoffnungsvollen" Gedanken, den Haushalten Heimcomputer für alle denkbaren haushaltsspezifischen Funktionen anbieten zu können, haben die Hersteller solcher Hilfsmittel ein Mehrfaches übersehen: Betriebliche Lagerhaltung und betrieblicher Materialfluß sind nicht mit den Routinen und Praktiken zu vergleichen, wie sie z.B. bezüglich der Vorratshaltung in einem durchschnittlichen Privathaushalt realisiert werden. Gerade in dem Konsumbereich, für den im Alltag am häufigsten Kaufakte stattfinden — im Ernährungsbereich — ist der Anteil an Spontankäufen, bei denen man als Marktteilnehmer direkt auf das Angebot reagiert, seine Wahl also erst in der direkten Konfrontation mit dem Angebot ungeplant trifft, besonders groß. Studien der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Studien anderer Institutionen weisen nach, wie gering der Anteil von Haushalten ist, in denen im Sinne des Vorschlags des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten eine ausgewogene, systematisch geplante Vorratshaltung praktiziert wird, etwa unter der Vorgabe, hierdurch für Katastrophenfälle auf die Dauer von ca. 14 Tagen die Ernährung der Familie sichern zu können. Eine solche Planung und Vorratshaltung wird in heutigen Haushalten oft schon durch fehlende räumliche und klimatische Voraussetzungen verhindert. Ein besonderer Einsatzbereich eines PC im industriellen Betrieb ist die Pflege einer Kundenkartei. Was wäre das Analogon im Haushalt? Anzahl und U m f a n g der Kontaktpersonen, mit denen man es hier regelmäßig zu tun hat, lassen sich
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leicht abzählen: Fragen nach guten Freunden oder Bekannten in verschiedenen Umfragen haben regelmäßig ergeben, daß die Zahl hier recht überschaubar bleibt. Daß die Zahl der Verwandten sukzessive abgenommen hat, wird direkt aus der demographischen Entwicklung seit der Jahrhundertwende absehbar: Wenn über Generationen die Geburtenrate geschrumpft ist, dann ist entsprechend evident, daß damit die Schnittstellen für Kontakte in diesem Bereich ebenfalls geschrumpft sind. Und auch dieser Unterschied ist festzuhalten: während die Kontakte eines Betriebes mit seiner Kundschaft monothematisch sind - hier interessiert nur, welche Ware wie oft geliefert wurde und wie entsprechend der Zahlungsverkehr abgewickelt wird - sind die Kontakte im Privatbereich mit Bekannten, Freunden und Verwandten typischerweise durch multithematische, diffus orientierte Anlässe bestimmt, die sich entsprechend gering auch standardisieren und damit programmieren lassen. Nehmen wir ein letztes Beispiel in diesem Zusammenhang: Die Verwaltung der Finanzen und die haushaltsbezogene Buchführung. Zum ersten ist es für die meisten Haushalte nicht typisch, daß eine Vielzahl von Konten gleichzeitig gehalten wird, die nicht mehr ohne weiteres übersehen werden könnten. Für objektbezogene mittelfristige Sparziele ist mit großem Abstand die Geldanlage auf einem Sparbuch typisch (1984 z.B. rd. 7 0 % ) , und andere langfristige Anlagen wie Prämiensparen, Bausparverträge und Lebensversicherungen liegen deutlich darunter (mit ca. 23 % bis 25 %). Mit Bezug auf die laufenden monatlichen Ausgaben sind einerseits Daueraufträge typisch (etwa für Miete, Strom etc.). Für direkt haushaltsbezogene monatliche Routineausgaben ist die Institution des „Haushaltsgeldes" verbreitet. Gerade hierbei, beim Haushaltsgeld, erscheint es typisch, daß die meisten Hausfrauen es sich zugute halten, die notwendigen Ausgaben „im K o p f " zu haben. Haushalte, die explizit ein Haushaltsbuch führen, sind ausgesprochen selten. Entsprechend muß das Statistische Bundesamt, wenn es für seine WarenkorbBerechnungen durchschnittliche Haushalte sucht, welche ihre Ausgaben über Zeit systematisch aufzeichnen, diese erstens mühsam suchen und zum zweiten mit einem entsprechenden Honorar für einen solchen Mehraufwand zusätzlich motivieren und belohnen. Sehr viel typischer als eine „doppelte Buchführung" f ü r die Geldbewegungen im Rahmen der routinemäßig und regelmäßig wiederkehrenden Ausgabenkategorien des privaten Haushalts ist der eher freihändige Verbrauch der Mittel nach Erfahrungswerten. Insofern und im Zusammenfassen solcher Ergebnisse erscheint das Wort von der „Halb-Orgamsation" im privaten Haushalt angebracht.
4. Der Haushalt als Privatraum Für vorindustrielle Zeiten und in Agrargesellschaften, z.T. aber auch noch in frühindustrieller Zeit war es charakteristisch, daß der eigene Haushalt der Ort war, an dem alle Aktivitäten, die zur Existenzsicherung notwendig waren, stattfanden. Erst die in den Industriegesellschaften typisch gewordene Arbeitsteilung, die Konzentration von Arbeitskräften in Manufakturen und Betrieben, hat einen Prozeß in Gang gebracht, der zu einer heute als selbstverständlich erscheinenden Trennung in Öffentlichkeit einerseits und Privatheit andererseits geführt hat. Die-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
se Aufteilung fand im Zuge des Prozesses statt, daß vormals im Haushalt erfüllte Funktionen nach außen hin delegiert, also außerhalb des Haushalts von dafür sich formierenden und sich darauf spezialisierenden Einheiten und Berufsgruppen ü b e r n o m m e n und professionell bedient wurden. Mit Bezug auf den Haushalt bedeutet dies also, daß er einerseits Funktionen abgegeben hat; dieser Prozeß wird in der Literatur mit „Ausdifferenzierung von F u n k t i o n e n " gekennzeichnet. Es wäre nun verfehlt, hier etwa von dem Bild einer zunehmenden Funktionsentleerung auszugehen. Richtig ist vielmehr festzuhalten, wie parallel zu diesem Prozeß eine Umwidmung von Zeit, Aufmerksamkeit und Kräfteeinsatz in den Haushalten erfolgt ist. Auch ist zu vermerken, daß manche Funktionsbereiche nach der Externalisierung, im Prozeß der systematischen Verankerung bei spezialisierten Institutionen, erst richtig ausgebaut wurden: Die Etablierung von Schulen und die Einführung des Schulzwangs sind hier ein Beispiel. Im Zuge dieses Wandels und dieses Umwidmungsprozesses hat auch eine Sortierung derart stattgefunden, daß die beiden Lebensräume: öffentlichkeitsbereich und Privatbereich weitgehend als wechselseitig exklusiv behandelt werden. Dies gilt speziell in der Weise, daß nach Allgemeinverständnis das „Privatleben" möglichst gegen Einblicke aus dem Öffentlichkeitsbereich abgeschirmt werden sollte. Umgekehrt wird dann auch als störend empfunden, wenn zu viel „Privates" in die Betriebe hineingetragen wird. Die Trennung zwischen diesen beiden Bereichen ist somit institutionalisiert, verfestigt, jedermann vertraut und bestimmt das Denken und die Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder. Nachdem Aktivitäten zur Existenzsicherung, also die meisten Formen von Erwerbstätigkeit, typischerweise „nach a u ß e n " verlagert worden sind, nachdem der Erwerb von Konsumgütern auf Märkten außerhalb des Haushalts stattfindet, hat dieser einen neuen Charakter angenommen: dies ist der Raum und der Bereich, der als Refugium von der Außenwelt aufgefaßt und gehandhabt wird, als Reservat, in das man sich zurückziehen kann und wo man gegenüber der Außenwelt nicht mehr auskunftspflichtig ist. Dies ist entsprechend auch der Raum der „Sozialhygiene": während man in den formalen Strukturen beruflicher Arbeitsteiligkeit mit Personen verkoppelt ist, die man sich nicht selbst und freiwillig ausgesucht hat, wo Kommunikation durchweg zweckgerichtet stattfindet mit Bezug auf das zentrale Betriebsziel und unter Berücksichtigung des eigenen Status in der betrieblichen Hierarchie, sind im privaten Bereich des eigenen Haushalts und seines Umfeldes sehr viel mehr frei gewählte Formen der Kommunikation mit Partnern der eigenen Wahl möglich. Dementsprechend ist auch gerade der Privatraum deutlich emotional geprägt und von emotionalen Erwartungen der Personen aneinander bestimmt. Generell herrscht die Erwartung vor, daß hier offen, vertrauensvoll und nicht „strategisch" kommuniziert werden kann. Bemerkenswert erscheint, in welchem Maße die beiden Bereiche: Öffentlichkeitsraum/Privatbereich im Zeitverlauf in der Bevölkerung unterschiedliche, wechselnde Bewertung erfahren haben, wie also die „Berufswelt" gegenüber dem Privatbereich als Raum der „Selbstverwirklichung" bewertet wird. Langzeitstudien von Meinungsforschungsinstituten wie dem Institut für Demoskopie Allensbach und von anderen Instituten haben ergeben, daß über die letzten 10 bis 15 Jahre hinweg, aber in letzter Zeit vermehrt, eine „emotionale Ernüchterung" bezüglich der Berufswelt zu verzeichnen ist und daß entsprechend eine emotionale
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Z u w e n d u n g zum Privatbereich stattfindet. Das hat sicher mehrere G r ü n d e : Einmal ist die Berufswelt generell unsicherer geworden, die Umschlagsgeschwindigkeit erzwungener beruflicher Umorientierungen hat für viele zugenommen. So ist es eine verständliche psychische Reaktion, d a ß man emotionale Sicherheit und Geborgenheit vermehrt in dem Bereich erhofft u n d anstrebt, der mehr P e r m a n e n z ausweist, der einen R u h e p u n k t darstellt und in dem man die Dinge aktiv selbst gestalten kann, anstatt nur passiv die neuesten, häufig frustrierenden Entwicklungen zur Kenntnis nehmen zu müssen. Hinzu k o m m t , zumal in reifen Industriegesellschaften, d a ß die privaten Haushalte mit allgemein steigendem Wohlstand immer mehr ausgebaut und immer komfortabler eingerichtet worden sind. Dies haben übrigens auch Planer von öffentlichen Freizeiteinrichtungen zu spüren b e k o m m e n , die zunehmend zu registrieren haben, daß die Menschen wählerischer geworden sind und häufig die Freizeitgestaltung im privaten oder halbprivaten R a u m (Clubs, Vereine), wo sie selektiver „ p a s s e n d e " Personenkreise vorfinden, den „öffentlichen" Angeboten vorziehen, solchen A n g e b o t e n also, die im Prinzip j e d e r m a n n offenstehen und wo das Publikum entsprechend „gemischt" ist. Diese T e n d e n z zur Entmischung und entsprechend zur Konzentration auf die eigenen Sozialkreise verstärkt wiederum die B e d e u t u n g des eigenen Wohnquartiers im allgemeinen und des eigenen Privathaushalts im besonderen. Schließlich ist auch zu vermerken, d a ß im Z u g e der in den letzten Jahrzehnten realisierten Arbeitszeitverkürzung und damit im Zuge der zunehmend stattfindenden Freizeitgesellschaft die Zeitanteile größer geworden sind, die „privat" verbracht und gestaltet werden können. A u c h hierdurch ist eine zusätzliche Schwerpunktverlagerung hin zum Privathaushalt vorgezeichnet und begründet. In dem Maße, wie der Außenbereich der R a u m für Existenzsicherung, Beruf, Geldverdienen etc. geworden ist und der Binnenraum des Privathaushalts der R a u m f ü r „Sozialhygiene", haben sich die A n f o r d e r u n g e n gewandelt, welche Menschen hier aneinander richten. Z u Hause hat man wechselseitig die E r w a r tung aneinander, d a ß man einander zuhört, d a ß man Zeit hat füreinander, daß man es sich „ b e q u e m " machen kann — d a ß m a n also z.B. nicht die Wohlverhaltenskodizes praktizieren muß, welche das Berufsleben häufig genug anstrengend machen. Man erwartet, sich ungeschminkt geben zu können. Man erlebt den Partner auch unrasiert bzw. mit Lockenwicklern im Haar, kurz, um mit Erving G o f f man zu sprechen: Das offizielle Verhalten, das man auf der „ V o r d e r b ü h n e " des öffentlichen, sichtbaren Lebens (z.B. im Berufsalltag) praktiziert, wird durch Verhaltensweisen abgelöst, die er als typisch f ü r die „ H i n t e r b ü h n e " kennzeichnet. 2 4 Dieses alles hat nun Konsequenzen f ü r die Gestaltung der Abläufe und des Alltags in privaten Haushalten: funktionale Sachnotwendigkeiten werden vermischt bzw. stehen z.T. sogar in Konkurrenz zu emotionalen Erfordernissen. Die Notwendigkeit, die Erfordernisse, Interessen und Belange eines jeden Haushaltsmitglieds täglich mit den Vorstellungen eines jeden anderen Haushaltsmitglieds in einen praktikablen K o m p r o m i ß umzusetzen, macht die besondere Flexibilität (und damit auch begrenzte Planbarkeit) eines jeden Haushalts aus - macht vermutlich aber auch gerade die besondere Stärke dieser Einheit aus und verdeutlicht den besonderen emotionalen Bezug der Mitglieder zu ihrem jeweiligen Haushalt. 24
Goffman, E.: Wir alle spielen Theater. München 1969.
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Die Erkenntnis, daß im Laufe des Industrialisierungsprozesses eine verstärkte Polarisierung zwischen einerseits Öffentlichkeitsraum und andererseits Privatbereich stattgefunden hat, k ö n n t e dazu verleiten, von dem Bild auszugehen, d a ß die Familienmitglieder bzw. die Mitglieder des Haushalts sich hier als „geschlossene E i n h e i t " von der Außenwelt absetzen. Dieses Bild wäre irreführend. G e r a d e in einer so „gemischten" G r u p p e , wie es eine durchschnittliche Familie darstellt, sind die sachlichen Voraussetzungen, die Interessenkonstellationen und Bedürfnisse sowie die Erwartungen auch der Personen aneinander durchaus heterogen: von den E r w a c h s e n e n mag der eine nach einer hektischen Berufswoche ein ausgeprägtes R u h e b e d ü r f n i s haben, der/die a n d e r e ein Bedürfnis nach Aussprache; ein Kind mag Abgeschiedenheit suchen, um sich auf seine A u f g a b e n zu konzentrieren, ein anderes sucht einen Spielgefährten. E n t s p r e c h e n d sind permanent unterschiedliche Präferenzen der einzelnen Haushaltsmitglieder auf einen tragfähigen K o m p r o m i ß hin zu kanalisieren. A m Beispiel des Fernsehens läßt sich dieses D i l e m m a besonders gut illustrieren: der/ die eine hat Präferenzen f ü r Sportübertragung, der/die andere für die „Familienserie" Dallas, der/die dritte für eine Pop-Sendung oder der/die vierte hat überh a u p t eine Präferenz für R u h e , also dafür, daß das Gerät ausgeschaltet bleibt. In diesem Dilemma gibt es nun m e h r e r e Möglichkeiten: entweder man sucht Koalitionen, und eine Mehrheit setzt sich durch, die eine (und eben nicht die a n d e re) Sendung zu sehen, oder, eine Person spielt Macht aus und bestimmt, was eingeschaltet wird. ( Z u n e h m e n d wird sogar eine Strategie der Konfliktvermeidung in der Weise beobachtbar, d a ß mehrere Fernsehgeräte angeschafft werden!). Insoweit es bei solchen „ K o m p r o m i s s e n " immer eine Minorität gibt, welche mit ihrer eigentlichen Präferenz nicht zum Zuge k o m m t , besteht für diese nur die Alternative, sich in den K o m p r o m i ß zu fügen oder ihrerseits nach „Privatraum im Privatr a u m " zu suchen, um ungestörter den eigenen Interessen nachzugehen. Damit wird dieses Problem auch zu einem Raumproblem. Es ist hier eine grundsätzliche Schwierigkeit zu lösen: Wie m u ß (sollte) ein Haushalt, eine W o h nung, angelegt sein, um Menschen, die einerseits unterschiedliche P r ä f e r e n z e n haben, die andererseits aber auch wieder (partiell) Dinge gemeinsam tun wollen, j e nach Präferenz einmal das eine und dann wiederum auch das andere zu ermöglichen? G a n z offensichtlich m u ß die W o h n u n g beides erlauben: als Person sich auch einmal zurückziehen zu können, dann aber auch wieder, mit den a n d e r e n k o m m u nizieren und Zusammensein zu können. Insofern gibt es Anlässe und R ä u m e f ü r gemeinsames Tun und f ü r Kommunikation (Wohnzimmer, Küche, Flur . . . bzw.: gemeinsames Essen, gemeinsame Unterhaltung), und es gibt andererseits den nachhaltigen Wunsch nach personaler Privatheit - noch einmal innerhalb des Privatbereichs „eigener H a u s h a l t " (beide A s p e k t e sind nur bei einem Ein-Person e n - H a u s h a l t wirklich identisch!). G e r a d e diese letztgenannte Motivation erscheint als stärkste Antriebskraft dafür, d a ß die Nachfrage nach W o h n r a u m immer noch zunimmt, obwohl man - rein statistisch betrachtet — von „ausreichender A u s s t a t t u n g " mit W o h n r a u m ausgehen k ö n n t e (nach dem Muster: die Versorgung mit x qm W o h n r a u m p r o Kopf in der Bundesrepublik Deutschland erscheint weltweit schon als „Spitzenversorgung"). Ein P h ä n o m e n erscheint uns in diesem Z u s a m m e n h a n g noch als besonders symptomatisch: Seit den 6 0 e r Jahren verzeichnen wir in der Bundesrepublik Deutschland einerseits einen Rückgang der Bevölkerungszahl (der noch deutli-
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eher sichtbar wird, wenn wir bei dieser Betrachtung Ausländer und Gastarbeiter ausklammern). Als gegenläufige Entwicklung ist jedoch andererseits zu beobachten, daß sich seither die Zahl der Haushalte p e r m a n e n t erhöht hat! Dieses schlägt sich insbesondere nieder in dem stark wachsenden Anteil an E i n - P e r s o n e n - H a u s halten. Bei genauerer Betrachtung ist festzustellen, daß Ein-Personen-Haushalte etwa zur einen Hälfte aus jungen und zur anderen Hälfte aus älteren Personen bestehen. G e r a d e bei jungen „Haushaltsvorständen" liegt die T e n d e n z auf der H a n d : man will sich nicht mehr so lange, wie dies früher der Fall war, im elterlichen Haushalt einfügen, sondern möglichst bald seinen eigenen, ungestörten Privatraum begründen! Die also in den Wohnpräferenzen schon in mehrfacher Weise ablesbare T e n denz, möglichst ungestört zu sein, wird in einer weiteren Hinsicht deutlich, in einer Verhaltensweise, die mit „Entmischung" charakterisiert werden kann: je m e h r man sich mit „Seinesgleichen" z u s a m m e n t u t , desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Konflikten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Interessen, geteilter Weltsicht und ähnlicher Organisation des Alltags. Wenn es der W o h n u n g s m a r k t in der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit zun e h m e n d „hergibt", daß man sich die Nachbarschaft aussuchen kann, in der man wohnen möchte, so ist es nicht verwunderlich, d a ß Mobilität im Sinne einer H o mogenisierung stattfindet: entsprechend finden sich in Stadtrandsiedlungen hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern und bilden dort z.T. ein relativ h o m o genes „ G h e t t o " , bei denen der Wunsch nach preiswertem W o h n r a u m , nach viel W o h n r a u m , nach Spielstraßen und nach Spielkameraden f ü r die eigenen Kinder sich zu einer solchen regionalen Präferenz verdichten. In ähnlicher Weise finden sich G r u p p e n anderen Lebenszuschnitts in anderen Nachbarschaften in diesbezüglich wieder anders homogener Weise zusammen. Dies ist ein Prozeß, der z.B. in den U S A schon sehr viel weiter fortgeschritten ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Zwei G r ü n d e erscheinen d a f ü r naheliegend: zum einen ist der Nachholbedarf in der W i e d e r a u f b a u p h a s e in Deutschland größer gewesen — zum anderen ist die Mobilitätsbereitschaft der Bürger in den U S A deutlich größer als in der Bundesrepublik Deutschland und der Wohnungsmarkt unbeschränkter. Solche Prozesse der Entmischung sind aus der Sicht und Perspektive des einzelnen Haushalts nachvollziehbar — vielleicht auch verständlich. A u s makro-soziologischer und speziell gesellschafts-politischer Sicht allerdings erscheint eine solche Entwickung als nicht unbedenklich: sicher wird der Alltag für den einzelnen Haushalt und seine Mitglieder hierdurch erst einmal unproblematischer: wenn die eigenen Kinder toben und wenn es auch die Nachbarskinder tun, dann „hebt sich das gegenseitig auf", dann kann z.B. keiner dem anderen ruhestörenden Lärm vorwerfen. W e n n allerdings dieser Sortierungsprozeß so weit geht, wie er in den U S A schon stattgefunden hat, d a ß sich W o h n q u a r t i e r e nach H a u t f a r b e , nach ethnischer Zugehörigkeit, nach Einkommenslagen und nach Glaubenszugehörigkeit segregieren, dann wird zwar einerseits der Konflikt „an die R ä n d e r verlagert", es erhöht sich aber andererseits die Gefahr, d a ß man die Vielfalt der Existenzen nicht m e h r im Detail erlebt und entsprechend vermehrt zu einer kategorialen und stereotypen Kennzeichnung und Klassifikation „der a n d e r e n " kommt, was in der Konsequenz den Grad an Hostilität und Animosität steigert. Das Beispiel des „ T ü r k e n - V i e r t e l s " Berlin-Kreuzberg macht deutlich, daß wir diesbezüglich keineswegs nur auf amerikanische Beispiele angewiesen sind. Die Präferenz zur Plazierung des eigenen Haushalts in einer „angemessenen U m g e b u n g " erscheint so-
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mit als ein Aspekt, welcher sich zusätzlich als Beleg für eine Tendenz nach noch mehr Privatheit und Ungestörtheit verstehen läßt. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist noch eine weitere T e n d e n z anzusprechen — die Z u n a h m e an Freizeit. Auf den Haushalt bezogen, hat diese Entwicklung m e h r e r e Konsequenzen. Schon immer war es in unserer Klimazone so, daß der größte Teil der jährlich verfügbaren Freizeit innerhalb der eigenen vier Wände verbracht und gestaltet wurde (eine Sondersituation ist nur bei den 2 0 - 3 0 j ä h r i g e n gegeben, die ihre Freizeit mit sehr viel größerem Anteil „aushäusig" verbringen). In d e m Maße, wie die Wohlstandsgesellschaft Wirklichkeit geworden ist, wie die W o h n u n g e n größer, komfortabler und immer besser ausgestattet worden sind, hat hier sogar noch ein deutlicher Funktionszuwachs stattgefunden (der, wie gesagt, auch durch die Z u n a h m e an Freizeit zeitlich eine Erweiterung erfahren hat). Dies haben, wie schon angesprochen, auch die Planer öffentlicher Freizeit-Anlagen zu spüren bek o m m e n . Auch hier sind Prozesse der Entmischung und Privatisierung in M e h r zahl beobachtbar geworden. Offensichtlich zieht es eine z u n e h m e n d e Zahl von Bürgern vor, sich nicht in öffentlichen Einrichtungen einem bunten und heterogenen Publikum auszusetzen, sondern in solchen Formen und Konstellationen seine Freizeit zu verbringen, wo das weitere Publikum kalkulierbarer ist und mehr den eigenen Präferenzen entspricht. Durch diese T e n d e n z - mehr Freizeit = wieder m e h r zu Hause verbrachte Zeit - findet im übrigen etwas statt, das man als Entdifferenzierung der Funktionen des Haushaltes kennzeichnen kann: Der T r e n d , Funktionen nach außen abzugeben, erscheint gestoppt —z.T. u m g e k e h r t - a u f einmal gibt es wieder von Funktionen zu berichten, die zum Haushalt zurückwandern (do-it-yourself-,,Bewegung"), bzw. die ihm zusätzlich zufließen ( Z u n a h m e diverser Freizeit-Aktivitäten). Im Verlauf der sich entwickelnden Industriegesellschaft hat also einerseits die T e n d e n z z u g e n o m m e n , den Haushalt als Privatbereich zu reservieren, ihn gegen unerwünschte Einflüsse und Einblicke ,von außen' abzuschotten. Interessant und bemerkenswert bleibt hier festzustellen, inwiefern es gleichwohl einer sozialen U m g e b u n g gelingt, auf den jeweiligen Haushalt soziale Kontrolle auszuüben: J e m e h r eine Einheit abgeschottet wird, desto mehr steigt demgegenüber die Neugier und das Interesse der sozialen Umgebung, über diese Einheit etwas in E r f a h r u n g zu bringen. Untersuchungen in Nachbarschaftsbezügen geben interessante A u f schlüsse darüber, wieviel Detailkenntnis etwa H a u s f r a u e n über benachbarte andere Haushalte und den Arbeitsrhythmus anderer Hausfrauen haben, wie von speziellen Details und Indikatoren, wie Weggehen und W i e d e r k o m m e n , das Mitbringen eingekaufter Gegenstände, die A r t und Weise der Kleidung zu bestimmten Tageszeiten, vom Zeitpunkt des Putzens von Fenstern, des A u f h ä n g e n s von Wäsche im G a r t e n , des Mähens von Rasen, dem Lüften von Betten auf der Fensterbrüstung und von a n d e r e n beobachtbaren Sachverhalten ausgehend darauf geschlossen wird, ob dieses ein „ordentlicher" Haushalt ist oder nicht. Andererseits: In d e m Maße, wie, familiensoziologisch gesprochen, die K e r n f a milie zum Regelfall einer Haushaltsgruppe geworden ist, wie sich also die Haushalte aus dem Verwandtschaftsverbund losgelöst und damit verselbständigt haben, haben die externen Einflüsse auf den Haushalt etwa seitens der E l t e r n - G e n e ration oder seitens sonstiger Verwandter, wie O n k e l oder Tanten, deutlich abgen o m m e n . Interessant erscheint die Aussage, die sich aus einer Allensbacher Langzeitstudie (1981) ablesen läßt und die auch bei Kroeber-Riel zu finden ist, d a ß
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d e m g e g e n ü b e r die sozialen Einflüsse auf die Familienmitglieder, die von außerhalb der Familie k o m m e n , erheblich z u g e n o m m e n hätten. In den Worten von Kroeber-Riel: „ E s ist weniger die Mutter oder die T a n t e als die Freundin, welche das Verhalten der H a u s f r a u b e e i n f l u ß t " . . . „soziale Sanktionen, die das Verhalten steuern, k o m m e n mehr und mehr aus der Umwelt außerhalb der Familie, insbesondere von anderen Bezugsgruppen wie Freundeskreis und Arbeitskollegen." (Kroeber-Riel 1984, S.441). Die Beweisführung in dieser Hinsicht erscheint allerdings nicht ganz überzeugend, denn, so heißt es bei Kroeber-Riel mit Bezugn a h m e auf die Allensbacher Langzeitstudie: „ D a n a c h wurden im Jahre 1953 Freund oder Freundin durchschnittlich von nur 5 % der Bevölkerung über 18 Jahre als engste V e r t r a u t e genannt. Im Jahre 1979 waren es bereits 1 2 % . (KroeberRiel, a.a.O.). Hier wäre festzustellen, d a ß die Z a h l von 12% gegenüber den „restlichen" 8 8 % immer noch gering erscheint. Z u m zweiten ist eine Prozentpunktdifferenz von 7 % zwar schon bemerkenswert, a b e r u.E. noch nicht beachtlich groß. Z u m dritten kann man bei einer so kleinen Ausgangsbasis, wie es die Zahl von 5 % darstellt, schlechterdings noch nicht das A r g u m e n t herausstellen, d a ß sich die Zahl etwa „ m e h r als v e r d o p p e l t " habe. Im übrigen, so scheint es, wird hier in nicht zwingender Weise in einem „ N u l l s u m m e n m o d e H " gedacht: W e n n Kontrolle seitens der Verwandtschaft wegfällt, steigt damit nicht notwendigerweise die Kontrolle von sonstigen G r u p p e n . Ein wesentlicher Unterschied scheint uns bleibend darin zu bestehen, d a ß eine „ Ö f f n u n g " des Haushalts für Berufskollegen oder auch für sonstige Bekannte sehr viel selektiver und gezielter möglich ist, als für Verwandte. U n d schließlich: während Verwandte sich z.T. eben aufgrund d e r verwandtschaftlichen Verbindung „das Recht n e h m e n " , in sehr nachhaltiger Weise Einfluß zu nehmen, können gute Bekannte allenfalls nur einen „guten R a t " geben und werden auch nur selektiver zugelassen; im übrigen erscheint durch die Tatsache, daß es sich eben um Freunde oder gute B e k a n n t e handelt, gewährleistet, daß es sich um weitgehend gleichgesinnte Personen handelt, deren Gesinnung man e b e n teilt. Die Q u a lität der gegebenenfalls stattfindenden E i n f l u ß n a h m e ist hier somit eher die einer Bestätigung dessen, was man selbst gutheißt.
5. Zusammenfassung Im Unterschied zum Wirtschaftsbetrieb ist bei den Mitgliedern eines durchschnittlichen privaten Haushalts die Vorbildung wie auch die Praxis der Wirtschaftsführung und Budgetverwaltung die von (mehr oder minder) begabten A m a teuren. Der Produktionsplaner und Wirtschaftsmanager im Industriebetrieb hat seine Stelle b e k o m m e n , weil er eine exakte Ausbildung f ü r diesen Funktionsbereich vorweisen konnte und wahrscheinlich sogar noch gute Examensnoten zum Abschluß einer solchen Ausbildung. D e r E h e p a r t n e r ist ausgewählt worden nach Sympathie und Zuneigung - einem ziemlich diffusen Kriterium, aus dem Blickwinkel von funktionalen Notwendigkeiten des Haushalts her betrachtet. D e r Fall, d a ß man seinen Partner/seine Partnerin ehelicht an erster Stelle, weil er/sie Hauswirtschaftsmeister/in ist, d ü r f t e absolut untypisch sein. Hieraus folgt, d a ß die Wirtschaftsführung und Budgetverwaltung im Vergleich der Privathaushalte in sehr großer Variationsbreite stattfindet, daß es zum guten Teil ein ,lear-
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ning on the j o b ' ist, welches diesbezüglich stattfindet, und d a ß d e r G r a d an ration a l e r P l a n u n g hier deutlich geringer ist, als in d e m o b e n e r w ä h n t e n industriellen Wirtschaftsbetrieb. E i n e r r a t i o n a l e n P l a n u n g sind allerdings auch d a d u r c h G r e n z e n gesetzt, d a ß die Z i e l s t r u k t u r des H a u s h a l t s vielfältiger u n d diffuser ist als die des W i r t s c h a f t s b e t r i e b e s : in l e t z t e r e m Falle ist das e i n d e u t i g e H a u p t z i e l das d e r r a t i o n a l e n P r o d u k tion, e i n e r M a x i m i e r u n g des Outputs bei möglich k n a p p kalkuliertem i n p u t . W e n n d e m g e g e n ü b e r ein — s e h r viel diffuseres — H a u p t z i e l d e r H a u s h a l t s m i t g l i e d e r ist, sich in diesem g e m e i n s a m e n R e f u g i u m w o h l z u f ü h l e n , d a n n k a n n d a s vielerlei H a n d l u n g s k o n s e q u e n z e n h a b e n - j e n a c h d e m auch, sich aus rein ö k o n o m i s c h e r Sicht a u s g e s p r o c h e n irrational zu v e r h a l t e n . R o l l e n ü b e r n a h m e u n d Arbeitsteilung stehen gleichfalls im K o n t r a s t z u m W i r t s c h a f t s b e t r i e b . W i e schon die Partnerwahl typischerweise keineswegs an e r s t e r Stelle nach d e m K r i t e r i u m d e r hauswirtschaftlichen F u n k t i o n a l i t ä t erfolgt, steht a u c h die R e k r u t i e r u n g w e i t e r e n „ P e r s o n a l s " u n t e r a n d e r e m V o r z e i c h e n : d e r Ind u s t r i e b e t r i e b wird einen o d e r m e h r e r e Lehrlinge anstellen, die v i e l v e r s p r e c h e n d sind, e b e n „ a n s t e l l i g " im Sinne des klar u m r i s s e n e n Betriebsziels. Im P r i v a t h a u s halt k o m m e n im w e i t e r e n Verlauf seiner Existenz z.B. K i n d e r dazu, w e l c h e ü b e r langé J a h r e nicht n u r keinen n e n n e n s w e r t e n Beitrag leisten im Sinne d e r zentralen F u n k t i o n s b e r e i c h e im H a u s h a l t , s o n d e r n welche die A b l ä u f e durch ihr D a s e i n schlicht noch weiter komplizieren. Talcott P a r s o n s hat d e n Unterschied zwischen vorindustrieller Zeit u n d I n d u striegesellschaft e i n m a l mit d e n zwei Begriffen charakterisiert: ascription versus a c h i e v e m e n t , also Z u s c h r e i b u n g einerseits, Leistung andererseits. H i e r m i t wollte e r z u m A u s d r u c k b r i n g e n : charakteristisch f ü r die industrielle Situation sei die P o s i t i o n s e i n n a h m e nach L e i s t u n g (achievement), charakteristisch f ü r die v o r i n d u strielle Situation die P o s i t i o n s e i n n a h m e nach Z u s c h r e i b u n g (ascription). Im letzt e r e n Falle der Z u s c h r e i b u n g nimmt m a n einfach seinen Platz ein, weil m a n d a z u g e h ö r t , weil m a n d a h i n g e h ö r t . Dieses scheint eine a n g e m e s s e n e K e n n z e i c h n u n g f ü r die M i t g l i e d e r k o m b i n a t i o n im privaten H a u s h a l t zu sein. Insofern ist das R e k r u t i e r u n g s m u s t e r des H a u s h a l t s vorindustriell — o d e r zeitlos. D e r I n d u s t r i e b e t r i e b , der hinsichtlich der T e c h n i k v e r w e n d u n g nicht jeweils d e n n e u e s t e n S t a n d ausweist, k o m m t ins H i n t e r t r e f f e n g e g e n ü b e r d e r K o n k u r renz. Insofern b e s t e h t Z u g z w a n g u n d g r o ß e r H a n d l u n g s b e d a r f , auf d e m jeweils n e u e s t e n Stand d e r T e c h n i k zu sein, zumindest, was den K e n n t n i s s t a n d a n g e h t u n d vielfältig auch hinsichtlich der Ü b e r n a h m e u n d d e s E i n s a t z e s f ü r die eigene P r o d u k t i o n . In d e m hier a n g e s p r o c h e n e n Sinne nun steht der Haushalt keineswegs in K o n k u r r e n z zu a n d e r e n H a u s h a l t e n . Insoweit eine solche D i m e n s i o n ü b e r h a u p t existiert, besteht sie allenfalls auf der E b e n e des Prestiges: in einer N a c h b a r s c h a f t die erste H a u s f r a u zu sein, die über einen M i k r o w e l l e n h e r d v e r f ü g t , gibt ein schön e s G e f ü h l , fortschrittlich zu sein und bringt somit einen P r e s t i g e v o r s p r u n g - a b e r d a s ist es d a n n auch. In existenzielle Schwierigkeiten bringt dies die a n d e r e n H a u s halte nicht. Schließlich b e w e r t e n I n d u s t r i e b e t r i e b e auch die eingesetzten technischen Hilfsmittel a n d e r s . Diese w e r d e n ü b e r einen klar d e f i n i e r t e n N u t z u n g s z e i t r a u m a b g e s c h r i e b e n , d e r Z e i t p u n k t der Reinvestition ist prinzipiell schon bei der E t a b lierung einer b e s t i m m t e n technischen E i n r i c h t u n g klar definiert u n d in Sicht.
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Demgegenüber ist die Perspektive im Haushalt erst einmal die, daß jedes technische Hilfsmittel möglichst lange funktionieren sollte. Es ist ausgesprochen untypisch, daß ein Herd, ein Kühlschrank, eine Küchenmaschine nur deswegen ausrangiert wird, weil ein leistungsfähigeres Produkt auf den Markt gekommen ist. Insofern erscheint als typischer Ablauf, daß die Haushalte in ihrer Gründungsphase relativ nach dem neuesten Stand der dann verfügbaren Technik ausgestattet werden, daß sie dann aber irgendwann das Stadium erreichen, wo sie „aufgefüllt" sind; in der Folge ,veralten' sie sukzessive. Vieles von dem in dieser Zusammenfassung Gesagten läßt sich mit dem speziellen Charakter des Haushalts als Privatraum in Verbindung bringen. Der Charakter des speziellen Refugiums dieses Ortes, die Tatsache, hier informell handeln zu können und nicht mehr unter der sozialen Kontrolle einer generellen .Öffentlichkeit' zu stehen, der besondere Grad an emotioneller Bindung an die anderen Mitglieder dieser Einheit, an den Ort als solchen (Heimat ! bzw. „symbolische Ortsbezogenheit" nach Treinen), sowie auch an die Ausstattung gibt häufig den Ansatz zur Erklärung von Handlungsweisen, welche nach strikt ökonomisch/rationaler Perspektive als unangemessen erscheinen mögen. Wenn das subjektive Wohlbefinden eine zentrale Zielgröße ist, dann haben objektiv-rationale Planvorgaben einen schweren Stand.
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Teil III: Institutionen, Strukturen, P r o z e s s e der Wirtschaft
4. Kapitel Führung in wirtschaftlichen Organisationen Einleitung U n t e r Führung in Organisationen verstehen wir die zielorientierte soziale Einflußnahme zur Erfüllung von Aufgaben in mehr oder weniger strukturierten A r beitssituationen. Dabei wird unterschieden: informelle/formelle Führung (hier wird die Frage problematisiert, ob und inwieweit F ü h r u n g institutionalisiert und formal, z.B. durch den Organisationsplan abgesichert ist), „leadership" und „ h e a d s h i p " (wobei im ersteren Fall die Legitimierung für die Führungsposition von der G r u p p e ausgeht, im zweiten Fall dagegen von einer externen Quelle, z.B. der Geschäftsleitung, dem Eigentümer der Organisation), potentielle und faktische Führung (wobei die erstere die Positionsmacht aufgrund der Verfügung über Sanktionen beschreibt, letztere dagegen die tatsächlich ausgeübten Führungsaktivitäten zum Gegenstand hat). In folgendem Beitrag wird der gegenwärtige empirische und theoretische Stand der Führungsforschung kurz skizziert. Dabei sind jedoch im R a h m e n einer wirtschaftssoziologischen und wirtschaftspsychologischen Diskussion der Personalf ü h r u n g in Betrieben die folgenden Defizite aufzuarbeiten: 1) Die Führungsthematik ist bisher zu eng an kaum hinterfragten Effizienzkriterien festgemacht worden. Das ganze Führungsproblem wird damit reduziert auf die Erlangung von Beeinflussungswissen im Sinne des Managements. 2) Die Führungsthematik ist häufig personalisiert worden, d.h. daß die Einflußmöglichkeiten bestimmter Personen, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften maßlos überschätzt wurden. 3) Die Führungsthematik ist angesichts vorherrschender situationistischer A n s ä t ze gleichfalls sehr stark auf den Führer und dessen situationsgerechte Entscheidung konzentriert gewesen, wobei das Verhalten der G e f ü h r t e n im Sinne eines Interaktionsgeschehens zwischen Führer und Gefolgschaft vernachlässigt wurde. 4) Die Führungsforschung hat durch die vorherrschende sozialpsychologische Perspektive die relevanten Kontextvariablen der Technostruktur und der O r ganisationsstruktur kaum explizit in die Analyse einbezogen, weil sie zu sehr auf die b e s o n d e r e Situation der Kleingruppenforschung zugeschnitten war. 5) Die Führungsforschung ist meist von der Voraussetzung ausgegangen, d a ß Führung funktional notwendig sei, ohne zu sehen, daß Stellenwert und B e d e u tung von Führungsfunktionen situational und im gesellschaftlichen Wandel stark wechseln können. 6) Die Führungsforschung neigte in b e s o n d e r e m M a ß e dazu, G r u n d s ä t z e der partizipativen und demokratischen F ü h r u n g als besonders erstrebenswert herauszustellen. Die Verquickung normativer (oder ideologischer) Gesichtspunkte und deskriptiv-empirischer Aspekte hat sich f ü r die Erforschung des Führungsverhaltens ungünstig ausgewirkt (vgl. N E U B E R G E R 1984; W I S W E D E 1980, 1981).
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Der folgende Beitrag versucht eine Darstellung der Führungsproblematik im wirtschaftlichen Kontext unter besonderer Bezugnahme auf die angeführten Defizite.
1. Führung als personales Problem 1.1 Führungsfunktionen und Führungsprinzipien Uber die wichtigsten Funktionen von Führung existieren zahlreiche Auflistungen, die von der Zielbestimmung bis hin zur Koordination von Ergebnissen, von der Ideengenerierung bis hin zur Kontrolle der Durchführung reichen. Auf einer allgemeineren Ebene greift man in der Literatur zur Führung häufig auf eine Unterscheidung von L E W I N zurück, die als wichtigste Führungsfunktionen die der Lokomotion und die der Kohäsion ansieht. Unter Lokomotion versteht man alle Kräfte, die der Zielerreichung dienen. Da Gruppen mehr oder weniger aufgabenorientiert sein können - im Wirtschaftsleben sind sie in aller Regel stark instrumenten geprägt — bleibt diese instrumentelle Funktion für die meisten ökonomischen Gruppierungen durchaus von ausschlaggebender Bedeutung. Davon unberührt sind weitere Differenzierungen dieser Funktion, etwa nach Zielbestimmung, Aufgabenvorbereitung und -durchführung, Koordination, Kontrolle, Korrektur usw. Von Bedeutung ist, daß sowohl die instrumentelle Dimension als ganze, wie auch ihre Teilbereiche je nach Situation z.B. sozio-ökonomische Bedingungen, Merkmale der Geführten, Art der Aufgabe — stärker oder schwächer in Erscheinung treten können. Unter Kohäsion versteht man alle Kräfte, die den Zusammenhalt, die Kohäsion der Gruppe fördern, also gewissermaßen das Gruppenklima (d.h. die affektive Besetzung der Beziehung zwischen Führer und Geführten sowie der Geführten untereinander) funktional beeinflussen. Diese Funktion ist auch dann von erheblicher Bedeutung, wenn die Bewältigung einer spezifischen Aufgabe im Vordergrund steht, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß gerade durch die besondere Betonung der Aufgabenorientierung Reibungsflächen sichtbar werden, Konkurrenzund Rivalitätsdenken entsteht und das Denken im kooperativen-solidarischen Kategorien gewissermaßen im Gegenzug gefördert werden muß. Es ist vielleicht von besonderem Interesse, daß die hier bei L E W I N entlehnte Funktionsaufteilung in vielerlei Metamorphosen in der Führungsforschung wiederkehrt: So etwa bei BALES in der von ihm beobachteten Rollendifferenzierung in instrumentelle und sozial-emotionale Führerschaft (vgl. B A L E S / S L A T E R 1955), und weiter in den Studien zur Führungsstilforschung, sei dies in den Ohiooder Michigan-Studien oder sei dies im Kontingenzmodell von F I E D L E R (1967) oder anderen situativen Konzepten. Die bisherige Betrachtung legt wohl zu einseitig das Schwergewicht auf das „interne System" ( H O M A N S ) . Auch im externen Bereich sind wichtige Führungsfunktionen wahrzunehmen, zumindest die Repräsentationsfunktion nach außen sowie die Funktion der Interessenvertretung gegenüber anderen Gruppierungen (z.B. Abteilungen, Firmen, Verbänden, politischen Instanzen usw.). Ob und inwieweit diese Funktionen wichtig - im Sinne der funktionalistischen Schule eu-
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funktional — sind oder ob sie lediglich marginale Bedeutung haben, ist wiederum eine Frage der vorliegenden empirischen Bedingungen (z.B. Art und Grad externer Verflechtung, Kontingenzen zwischen Umwelt und innerem System, funktionaler Beitrag für das externe System, Grad der Abhängigkeit von externen Instanzen, die Absicht, externe Systeme zu beeinflussen usw.). An den Grenzen zwischen der Problematik der Führungsfunktionen und Führungseigenschaften werden gelegentlich sogenannte Führungsprinzipien im Hinblick auf erfolgreiche Führung diskutiert und in Managementkursen verbreitet. Diese Konzepte haben häufig bloßen Rezeptcharakter und sind wissenschaftlich kaum ausgewiesen. Eine gewisse Ausnahme bildet der Regelkatalog von H O MANS, der aus seiner Theorie der sozialen Gruppe abgeleitet wurde (1950). Seine „Prinzipien erfolgreicher Führung" lauten sinngemäß: — Ein Führer muß seine eigene Stellung aufrecht erhalten (Beibehaltung der Autorität). — Ein Führer muß die Normen seiner Gruppe einhalten (allerdings verfügt er über einen Idiosynkrasie-Kredit, um die Gruppe anpassungsfähig zu halten). — Ein Führer muß führen (jede unterlassene Führungsleistung kann als Schwäche ausgelegt werden). — Ein Führer darf keine Befehle geben, die nicht befolgt werden (er muß sich also vorher überlegen, ob die Folgeleistung realistisch ist). — Bei Erteilung seiner Befehle muß ein Führer schon vorhandene Kanäle benutzen (er sollte sich also nicht informeller Kommunikationskanäle bedienen). — Ein Führer darf sich bei sozialen Anlässen seinen Leuten nicht aufdrängen (der allzu kumpanhafte Führer verliert an Kredit; eine gewisse Distanz ist also anzuraten). — Ein Führer darf ein Gruppenmitglied vor anderen Mitgliedern nicht tadeln und im allgemeinen auch nicht loben (generell ist wohl belohnungsorientierte Führung vorzuziehen, da bestrafungsorientierte Führung bedeutende Kosten externer Kontrolle verschlingt und lediglich zu Vermeidungslernen führt). — Ein Führer muß die Gesamtsituation in Betracht ziehen (er muß kurzfristige und langfristige Ziele ins Auge fassen und spezielle von allgemeinen Problemen unterscheiden lernen). — Zur Erhaltung der Disziplin muß sich ein Führer weniger mit der Verhängung von Strafen als mit der Schaffung von Bedingungen befassen, unter denen die Gruppe sich selbst disziplinieren kann (Selbstregulierung oder innere Kontrolle). — Ein Führer muß zuhören können (nur so erhält er die notwendigen Informationen) und Zeit haben (ein Führer, der nie Zeit hat, zeigt daß er kein Führer ist). — Ein Führer muß Selbsterkenntnis besitzen (Selbsterkenntnis bedeutet zugleich auch Selbstbeherrschung). Hier handelt es sich um heuristische Regeln, die je nach Gruppenzusammensetzung und Aufgabenstruktur von höchst unterschiedlicher Bedeutung sind. Auch sollte betont werden, daß Führungsprinzipien der genannten Art nicht ohne Beachtung der jeweilig historischen sozio-kulturellen Situation formuliert werden sollten. Angesichts der wachsenden Komplexität betrieblicher Zusammenhänge wäre sicherlich besonders herauszustellen, daß Führungskräfte in der Lage sein sollten, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden und alle Aktivitäten nur auf diese wesentlichen Dinge zu konzentrieren.
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1.2 Führungseigenschaften und Fiihrungsattributionen Eine persönlichkeitpsychologische Variante der Führungsforschung suchte lange Zeit nach den charakteristischen „Eigenschaften" von Führern, die diese angeblich von Nicht-Führern unterscheiden sollten. Insgesamt war diesem „eigenschaftstheoretischen" Forschungsansatz wenig Erfolg beschieden, was insbesondere mit der Tatsache zusammenhängt, daß bestimmte Eigenschaften (z.B. Dominanz, Intelligenz, Maskulinität) hier kaum diskriminierten. IRLE (1975, S.490f.) hat mit Recht daraufhingewiesen, daß damit zwar die Annahme der Universalität von Führungseigenschaften als erledigt zu betrachten ist, daß jedoch eine differenziertere Vorgehensweise - z.B. die Koppelung von Eigenschaften mit bestimmten Situationsklassen, die Interaktion mehrerer Eigenschaften usw. - den Weg weiterer Forschung auf diesem Felde keineswegs versperren würde. Im übrigen hat die im wesentlichen gescheiterte Suche nach den „universellen" situationsübergreifenden Führungseigenschaften auch einen ideologischen Hintergrund. So folgt z.B. die Eignungsdiagnostik trotz neuerer Ansätze (z.B. situationsorientierte Assessment-Centers) zumindest implizit einer Art eigenschaftstheoretischer Konzeption. Auch haben quer durch die gesamte Sozialwissenschaft — sei es im ökonomischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Raum oder sei es in historischen Bezügen — Ideologien der Personalisierung („great man theory") in periodischen Abständen Konjunktur. Auch neigt man im Alltagsverständnis allzu leicht dazu, Sachverhalte (z.B. defizitäre Leistungen) zu personalisieren, also Erfolg/Mißerfolg bestimmten Personen anzulasten. Dies lenkt unseren Blick auf einen Umstand, der die Eigenschaftstheorie der Führung gewissermaßen „durch die Hintertür" wieder ins Spiel bringt. Gedacht ist hierbei an neuere attributionstheoretische Vorstellungen, die davon ausgehen, daß bestimmten Personen gewisse Eigenschaften oder Merkmale zugeschrieben (attribuiert) werden. Auf diese Weise wird z.B. verständlich, daß das Merkmal Körpergröße mit der Wahrscheinlichkeit, Führungsperson zu sein, positiv korreliert: weil und insofern Bewerbern für Führungspositionen durch imposante Körpergröße Führungseigenschaften zugeordnet werden, haben sie eine größere Chance, in den Auswahlprozeß einbezogen zu werden. In einer attributionstheoretischen Version der Führung versucht CALDER (1977) seine zentrale These zu stützen, daß Führung nicht in objektiven Prozessen sich vollzieht, sondern lediglich als Wahrnehmungs- und Zuschreibungsphänomen (umgekehrt lassen sich auch die Zuschreibungsprozesse des Führers gegenüber den Mitarbeitern analysieren; vgl. GREEN/MITCHELL 1979). Die Neigung des Menschen, unter bestimmten Umständen Sachverhalte und Ereignisse dem kausalen Einfluß der beteiligten Personen — nicht etwa ökonomischen Konstellationen — zuzuschreiben, kennzeichnet ganz gut jenen Prozeß, den wir hier einmal als „Tendenz zur Überpersonalisierung" ansprechen wollen: für auftretende Ereignisse bestimmte Personen verantwortlich zu machen. Auch besteht für Ego ein tendenzielles Interesse, bei vorliegendem Erfolg sich selbst als Verursacher darzustellen, für negative Ereignisse jedoch andere Personen (z.B. die dummen Mitarbeiter, die befremdlichen Entscheidungen der Geschäftsleitung) oder aber besondere Umstände (z.B. Marktsättigung, Konkurrenzdruck, das politische System usw.) verantwortlich zu machen.
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Zwar macht die attributionstheoretische Sicht deutlich, d a ß die starke Betonung der Wirkung von Führung unser A u g e n m e r k zu sehr auf die personale K o m p o n e n t e lenkt und von wichtigen anderen Einflußgrößen ablenkt. Andererseits läuft eine solche attributionstheoretische Sicht immer G e f a h r , einem totalen Subjektivismus zu verfallen und Führung lediglich als W a h r n e h m u n g s p h ä n o m e n zu marginalisieren. Führung hat — wenn auch in systembedingten G r e n z e n und immer auch durch das Filter der interaktiv B e t r o f f e n e n — durchaus objektive Wirkungen, so d a ß es voreilig wäre, Forschungsergebnisse über die tatsächlichen A u s wirkungen bestimmter Führungsformen o d e r Führungsstile zu verabschieden.
1.3 Führungsrollen und Führungsanforderungen Faßt man den Begriff der Führungsrolle im spezifisch rollentheoretischen Sinn (vgl. zur Rollentheorie W I S W E D E 1977), so läßt sich die Führungsrolle als K o m plex von normativen Erwartungen auffassen, der mit der jeweiligen Führungsposition verknüpft ist. Auf diese Weise läßt sich auch ein eigenschaftstheoretischer sowie ein attributionstheoretischer Ansatz in rollenanalytischer Sprache r e f o r m u lieren: weil und insofern an den Führer bestimmte Erwartungen gestellt werden, besteht eine T e n d e n z , d a ß die jeweils b e t r o f f e n e n Personen diese „Eigenschaft e n " entwickeln (vgl. hierzu bereits K O R M A N 1968). Wie man sieht, wird hier die Kausalkette u m g e k e h r t ; Führungseigenschaften sind nach dieser Sicht das E r gebnis eines Sozialisationsprozesses im R a h m e n der Führungsaufgabe. Es ist klar, d a ß die Erwartungen, die an einen Führer gestellt werden, situationsspezifisch variieren. So werden z.B. in Krisensituationen andere Erwartungsmuster formuliert als in den Zeiten hervorragenden Geschäftsgangs. In der A u f bauphase eines U n t e r n e h m e n s bestehen andere A n f o r d e r u n g e n als in einer Phase der Konsolidierung, in der die W a h r n e h m u n g administrativer Funktionen zu den wichtigsten A u f g a b e n gehört. Zum Teil sind sie auch abhängig von Erwartungsmustern, die aus E r f a h r u n g e n resultieren (z.B. mit der bisherigen Führung). O f t jedoch werden Erwartungen bewußt in Kontra-Position zu bisherigen (schlechten) E r f a h r u n g e n formuliert: Vom neuen Positionsinhaber wird z.B. erwartet, d a ß er endlich das tut, was der Vorgänger versäumt hat. Auch ist bei jeder Führungsposition der Rollenkonflikt vorprogrammiert. Die Vorgesetzten des Führers (z.B. die Geschäftsleitung) haben bestimmte Erwartungen, die Kollegen andere, die untergebenen Mitarbeiter wieder andere. Auch sind die Erwartungen etwa der Mitarbeiter keineswegs homogen; einige erhoffen sich mitarbeiterorientierte, menschenfreundliche Führung, andere dagegen erwarten ein striktes „ D u r c h g r e i f e n " (meist zu Lasten der anderen, die sich im Urteil des B e t r o f f e n e n zuviel „ h e r a u s n e h m e n " ) . Die Erwartungen, die sich um eine Führungsposition ranken, sind immer auch Gegenstand von Überlegungen, die die Eignung bestimmter Personen für die jeweilige Führungsaufgabe feststellen wollen. Die Praxis arbeitet hier häufig mit sogenannten Anforderungsprofilen für Führungskräfte. Soweit dies nicht auf f u n dierter wissenschaftlicher Grundlage geschieht, wird hierbei meist auf die Definition sehr allgemeiner Anforderungen zurückgegriffen, die man an die Inhaber von Führungspositionen zu stellen glaubt: „ D y n a m i k " , „ E n t s c h e i d u n g s f r e u d e " , „ D u r c h s e t z u n g s v e r m ö g e n " usw. Soziologen (z.B. Z E I D L E R 1972) haben diesen
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Fragenkomplex anhand der tatsächlich realisierten Erwartungsprofile untersucht, die an Führungskräfte herangetragen werden und von denen man glaubt, daß sie die Führungseffizienz begünstigen. Auf diese Weise lassen sich die Bedingungen des Karriereerfolgs von Führungskräften analysieren. Solche allgemeinen Rollenerwartungen sind jedoch meist nicht sehr aussagekräftig, weil sie oftmals sehr stereotype Vorstellungen über Führung beinhalten, und weil wir bisher über keine verläßliche Klassifizierung und Effektivitätskriterien f ü r erfolgreiche Führung verfügen. Der bedeutsamste Punkt ist jedoch, daß solche Erwartungs- und Anforderungsprofile zu sehr einer personalistischen Version von Führung anhängen und im Prinzip von einer Art Eigenschaftstheorie auszugehen scheinen, in Wahrheit jedoch nichts anderes darstellen, als Attributionen auf Laienebene.
2. Führungsstile und Führungskonzepte 2.1 Führung als idealtypisches Verhalten Führungsstil ist im Sinne W E B E R s ein idealtypisches Verhalten, sofern es nach einigermaßen konsistenten Gesichtspunkten beschreibbar ist. Im Gegensatz zum realen Führungsverhalten ist demnach der Führungsstil durch eine typische und relativ stabile Konfiguration von Führungsakten gekennzeichnet ( F I E D L E R 1967; S C H R E Y Ö G G 1977). Bei der Darstellung solcher Führungsstile bedient man sich oftmals ad hoc aufgestellter Typologien (z.B. kooperativer, konsultativer, leistungsorientierter oder delegativer Führungsstil), häufig aber auch dichotomer Kategorien (autokratisch vs. demokratisch; mitarbeiterbezogen vs. produktionsbezogen; aufgabenorientiert vs. personenorientiert; bestrafungsorientiert vs. belohnungsorientiert). Dabei ist die Konsistenzvoraussetzung—z.B. situationsübergreifend, zeitunabhängig, nicht mitarbeiterspezifisch — durchaus ein empirisches Problem: Starke Inkonsistenzen in dieser Richtung ergeben einen erratischen Führungsstil, der keineswegs in das idealtypische Muster paßt. Obgleich gelegentlich komplexere Führungsstil-Modelle konzipiert werden (vgl. etwa B O W E R S / S E A S H O R E 1966, die von vier Dimensionen ausgehen), orientiert sich die Führungsstilforschung hauptsächlich an den genannten dichotomen Führungskonzepten. Dabei sind zwei verschiedene Forschungstraditionen besonders einflußreich gewesen. Die erste Forschungstradition knüpft an den frühen Experimenten von L E W I N an ( W H I T E / L I P P I T T 1953). Dabei wurde zwischen demokratischem, autokratischem und ,,laissez-faire"-Führungsstil unterschieden. Die zweite Forschungstradition knüpft an B A L E S ' Studien zur Ausdifferenzierung von Führungsrollen in Kleingruppen an. Diese Tradition vereinigt im übrigen Strömungen, wie sie vor allem auch die soziologische Forschung (vgl. bei Theodor G E I G E R ) interessierte, die davon ausging, daß Führung verschiedene Funktionen zu erfüllen habe. Im Rahmen der industriepsychologischen Untersuchungen der sog. Ohio-Schule und der Michigan-Schule wird im Sinne dieser Tradition unterschieden zwischen „initiating structure" (aufgabenorientierte Führung) und „consideration" (mitarbeiterbezogene Führung). Die letztgenannte Unterscheidung ist — mit sprachlichen, jedoch kaum inhaltlichen Abwandlungen — auch der Bezugspunkt der meisten empirischen Untersuchungen und auch der populären Modellvorstellungen in diesem Bereich.
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Beide Forschungstraditionen standen zunächst unter dem Eindruck, daß genauere empirische Analysen die Überlegenheit eines dieser Führungsstile ausweisen müßten. So hatte z.B. bereits die Forschergruppe um L E W I N die Vorstellung entwickelt, daß ein demokratisch-partizipativer Führungsstil sowohl die Leistung wie auch die Zufriedenheit der Beteiligten erhöhe. A b e r abgesehen von der wichtigen Frage nach der jeweiligen Situation, in der Führung wirksam wird, macht es wohl einen Unterschied, ob ein autokratischer Führungsstil als Zerrbild (schroffautokratisch) oder aber in einer abgemilderten bzw. patriarchalischen Form in E r scheinung tritt (sanft-autokratisch). In ähnlicher Weise sind auch die Plädoyers für mitarbeiterbezogenen oder kooperativen Führungsstil oftmals Ausdruck eines ideologisch durchsetzten Wunschbildes, aber jenseits einer durchaus verdienstvollen humanistischen A b sicht empirisch kaum einzulösen. Auf diese Weise wurde es notwendig, Führungsstilkonzeptionen situationsspezifisch zu differenzieren, also angemessenes Führungsverhalten qua Situation neu zu problematisieren.
2 . 2 Führung und Situation Eine der wesentlichsten Antworten auf das Scheitern von Eigenschaftstheorien sowie von Vorstellungen über den „one-best-way" des Führungsstils war die Überlegung, daß ein bestimmtes Führungsverhalten nur dann die (gewünschten) Auswirkungen (z.B. Effizenz, Zufriedenheit) hat, wenn bestimmte situative Bedingungen vorliegen. Die Rede von situativen Bedingungen oder vom situativen Kontext bleibt allerdings ebenso vage wie die allgemeine Feststellung, daß menschliches Verhalten u.a. auch situationsabhängig, resp. daß es der jeweiligen Situation anzupassen sei. Hier gilt es aufzupassen: Die erstgenannte Problemstellung gilt einer empirischen Aussage, die zweite Version ist in gewisser Weise normativ; hier wird die Frage problematisiert, welcher Führungsstil bei welcher Situation „anzuraten" sei. Dieses „ A n r a t e n " beinhaltet in ökonomischer Sinngebung mehr oder weniger explizit eine Zielvorstellung von „Effizienz". Die meisten situativen Führungsstilkonzepte führen insofern ein mehr oder weniger fragwürdiges, selten jedoch hinterfragtes Effizienzkriterium ein (z.B. Leistungssteigerung), bleiben insofern also im R a h m e n einer semi-normativen Fragestellung und betriebswirtschaftlichen Praxisorientierung — Bereitstellung von Beeinflussungswissen für Führende — eingegrenzt. Effizienz - was könnte dies genau heißen? Zunächst könnte Effizienz in rein ökonomischen Kategorien definiert bleiben (z.B. höhere Quantität/Qualität der Produktion). Daneben stehen psycho-soziale Kriterien (z.B. motivationale Entfaltung der Mitarbeiter, Verbesserung des Betriebsklimas, der Arbeitszufriedenheit usw.; vgl. hierzu: Y U K L 1971). Effizienzkriterien können ferner kurzfristig, mittelfristig oder langfristig festgelegt werden; nicht immer ist der „schnelle" E r folg „in the long r u n " auch der bestmögliche, und häufig sind Maßnahmen im Führungsbereich (z.B. die Einführung partizipativer Stile) erst langfristig in Mark und Pfennig umsetzbar. Und schließlich — um ein weiteres différentielles Effizienzkriterium zu nennen — werden erhebliche Ressourcen durch Zwecke der Systemer-
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haltung absorbiert, die also nur mittelbar und höchstens langfristig mit dem „Output" des Systems zu tun haben. Ähnliche Unsicherheit besteht hinsichtlich der relevanten Situationen, die die Effizienz von Führung beeinträchtigen. Eine erste Unterscheidung wäre zwischen systeminternen und systemexternen Kontextbedingungen zu treffen. Externe Bedingungen sind insbesondere: die Marktlage, die Konkurrenzsituation, die konjunkturelle Lage, technologische Voraussetzungen, politische Bedingungen, die rechtliche Situation usw. Diese Faktoren, die von den Kontingenztheoretikern (z.B. L A W R E N C E / L O R S C H 1969) meist mit bestimmten Organisationserfordernissen in Verbindung gebracht werden, beeinflussen sicherlich auch den Führungsstil eines Unternehmens. Besteht z.B. erhebliche Turbulenz der Umwelt (etwa im Absatzmarkt), so sind flexiblere Führungsmuster und größere Handlungsspielräume der organisationalen Abläufe notwendig, als bei statischen und sicheren Umweltbedingungen. Auch dürfte bei starken externen Verflechtungen und Abhängigkeiten die Funktion der Interessenvertretung nach außen stärker in den Vordergrund treten. D i e Führungsstilforschung hat sich allerdings vornehmlich mit situativen Bedingungen des organisationalen Binnensystems beschäftigt. So unterscheidet z.B. F I E D L E R ( 1 9 6 7 ) drei Situationsvariablen, die er im Rahmen seiner Führungstheorie für besonders relevant hält: D i e Aufgabenstruktur (strukturiert/unstrukturiert), die Führer-Mitarbeiter-Beziehungen (gut/schlecht) sowie die Positionsmacht des Führers (hoch/niedrig). Situative Bedingungen mit strukturierten A u f gaben, guten Beziehungen und hoher Positionsmacht sind für den Führer „günstig", im umgekehrten Fall sind sie „ungünstig". F I E D L E R s Kernthese läuft darauf hinaus, daß bei sehr günstigen und sehr ungünstigen Konstellationen ein aufgabenorientierter Führungsstil effizienter sei, während sich bei Situationen „mittlerer Günstigkeit" ein mitarbeiterorientierter Führungsstil empfehle. Gleichwohl solle man nicht versuchen, den Stil des Führungspersonals zu ändern, sondern Führungspersonen selektiv so einzusetzen, daß sie in den jeweiligen Situationen erfolgreich sind. Auch sei es u.U. leichter, die Situationen zu ändern, als den Menschen in seinem jeweiligen Verhaltensstil. Diese Führungstheorie, die insbesondere die Managementpraxis in den U S A stark beeindruckt hat, ist empirisch außerordentlich fragwürdig. D i e Kritik richtet sich insbesondere auf die abermals stereotype Verwendung der Lieblings-Dichotomie „Mitarbeiterorientierung" vs. „Aufgabenorientierung" - als gäbe es nur diese Stildimensionen! - die noch dazu in recht exotischer Weise operationalisiert wurde, ließe sich jedoch auch auf die Auswahl der angeblich allein relevanten Situationsvariablen (die überdies nicht als variate Begriffe auftauchen) beziehen, die nach vielen Gesichtspunkten einer Erweiterung bedürften. So thematisieren z.B. V R O O M / Y E T T O N ( 1 9 7 3 ) in ihrem Entscheidungsbaumverfahren eine A n zahl von Entscheidungsbedingungen (z.B. Dringlichkeit der Entscheidung, Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz, Strukturiertheit des Problems usw.) und gelangen zur Formulierung von Eliminationsregeln, bei denen ganz bestimmte Führungsstile ausscheiden, andere dagegen selegiert werden. Auch ist beispielsweise die M o tivation der geführten Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung: Besteht eine hohe Leistungsmotivation, so kann sich der Führer auf die Funktionen der Kohäsion und Koordination beschränken. Eine weitere wichtige Variable ist das Qualifikationsniveau der Mitarbeiter. Insofern versucht eine andere „situative Füh-
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rungstheorie" ( ( H E R S E Y / B L A N C H A R D 1977) den „effizienten" und damit angebrachten Führungsstil in Abhängigkeit vom „Reifegrad der G e f ü h r t e n " zu sehen. Je nach Reifegrad empfehle sich ein Führungsstil, der an einem Ende des Kontinuums bloßes „Anweisen" enthält, am anderen Ende - bei hohem Reifegrad—die Möglichkeit des „Delegierens" eröffnet. Allerdings kennt diese „Theorie" nur diese eine Situationsvariable. Diese und andere situativen Konzepte kranken daran, daß sie die Auswahl der relevanten Situationen wenig theoriegeleitet vornehmen und den strukturellen Kontext der Organisation zu wenig thematisieren. Auch bleibt offen, ob und inwieweit die Interaktionsbeziehungen zwischen Führern und Geführten gleichfalls als Situationsvariable behandelt werden soll. Problematisch schließlich bleibt auch der semi-normative Charakter dieses Forschungsbereichs: der Bezug auf ein weitgehend ungeklärtes Effizienzkritierium, unter dem sich Ö k o n o m e n , Soziologen oder Psychologen jeweils Unterschiedliches vorzustellen vermögen. Jenseits der normativ-entscheidungsorientierten Fragestellung bleibt das eigentlich situationistische Problem eher randständig: die Frage nämlich, ob Vorgesetzte sich faktisch situationsspezifisch oder gar situationsgerecht verhalten, d.h. ob sie in der Regel das tun, was sie auch tun sollten (Dies bejahen Y E T T O N et al. 1978 für das Entscheidungsbaum-Modell). Auch berücksichtigen situative Ansätze bisher zu wenig den Umstand, daß das Führungsverhalten nicht nur die Folge situativer Gegebenheiten oder Veränderungen ist, sondern auch die Ursache für Situationsänderungen (Vgl. hierzu: K A T Z / K A H N 1978), die dann rückwirkend wiederum das Führungsverhalten beeinflussen.
2 . 3 Führung und Interaktion Wenn man berücksichtigt, daß das Verhalten des Führers und der Geführten interaktiv aufeinander abgestimmt ist, so erscheint Führung als ein sich wechselseitig steuernder Interaktionsprozeß. Dieser Hinweis auf die Wechselwirkung zwischen den am Führungsprozeß beteiligten Parteien und die gleichzeitig betonte Einbettung des Führungsprozesses in einen je spezifischen Gruppen- bzw. Organisationskontext — richtungweisend schon bei G E I G E R und H O M A N S — verschiebt den Fokus der Betrachtung von der Führungsperson hin zum Verhalten der Geführten. Die Interaktionstheorie der Führung versucht zunächst, vier Variablengruppen zu unterscheiden, die zur Erklärung des Führungsverhaltens und seiner Konsequenzen notwendig sind (vgl. GIBB 1954; L U K A S C Z Y K 1960): — die Persönlichkeit des Führers mit ihren angeborenen Begabungen, Fähigkeiten, Erfahrungen, Interessen und Motiven — die Persönlichkeitsstruktur der Geführten mit ihren individuellen Einstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen im Hinblick auf die Person des Führers und auf die jeweilig vorliegende Situation. — die Struktur und Situation der G r u p p e als differenziertes und integriertes System von Rollenbeziehungen und gemeinsamen Normen. — die spezifische Situation, in der sich die G r u p p e befindet, insbesondere die Art der Aufgaben und die äußeren Bedingungen.
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Diese Auflistung relevanter Variablengruppen ist allerdings zunächst eher programmatisch. Auch ist nicht ganz klar, in welchem Sinne hier von Interaktion die R e d e ist. Handelt es sich um die Interaktion von Variablengruppen (dies läßt sich z.B. bei L U K A S Z Y K vermuten) o d e r handelt es sich um soziale Interaktionen im Sinne einer wechselseitigen Steuerung des Verhaltens durch die beteiligten Individuen (wie es etwa in neueren Interaktionstheorien zur Führung der Fall ist; vgl. etwa M A C H A R Z I N A 1977, T Ü R K 1981). Auch innerhalb der eigentlichen sozialwissenschaftlichen Interaktionsmodelle k ö n n t e n paradigmatische Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden. Interaktion mag zum einen im Sinne wechselseitiger Kontingenz normativer Erwartungen interpretiert werden. Diese normativen Erwartungen richten sich einmal an den Vorgesetzten; umgekehrt hegt der Führer bestimmte Erwartungen im Hinblick auf seine Mitarbeiter. Die hierbei relevanten Erwartungen sind einmal situationsspezifisch ( „ W a s soll der Führer in dieser Situation tun? Was wird in dieser Situation von den Mitarbeitern e r w a r t e t ? " ) oder rollenspezifisch („Welche Erwartungen sollte der Führer in seiner Führungseigenschaft erfüllen? Welche Erwartungen bestehen hinsichtlich der Mitarbeiter in ihrer Eigenschaft als Abhängige, als U n t e r g e b e n e ? " ) . Dabei sollte deutlich werden, daß die a u f t r e t e n d e n Erwartungen nicht nur aufgabenbezogen, also leistungsorientiert sind, sondern auch das nicht leistungsbezogene Verhalten einbegreifen (z.B. Loyalität, Freundlichkeit, Kooperation, Pünktlichkeit etc.). Konkrete Lösungsmuster solch erwartungsgesteuerter Interaktionsprozesse könnten dann durch Theorien und B e f u n de aus den Bereichen „ K o n f o r m i t ä t s f o r s c h u n g " sowie „ R o l l e n t h e o r i e " bereitgestellt werden. Ein zweiter paradigmatischer Ansatz könnte soziale Interaktion im Sinne besonderer „sozialer Fertigkeiten" ( A R G Y L E ) interpretieren. Hier geht es d a r u m , wechselseitige Beeinflussung zu steuern und durch soziale K o m p e t e n z (oder soziale Intelligenz) die tatsächlichen Verhaltensweisen des G e g e n ü b e r genau wahrz u n e h m e n , angemessen zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Dabei ist es häufig nötig, sich gedanklich in die Rolle des a n d e r e n zu versetzen, also einfühlend mutmaßliche Reaktionen des anderen vorauszusehen und darauf abgestimmtes Handeln zu steuern. Dieser Forschungsansatz berührt sich mit dem Paradigma des „symbolischen Interaktionismus", der insbesondere den Aspekt der Entstehung relativ ü b e r d a u e r n d e r Interaktionsmuster unter dem Einfluß von Deutungs- und Interpretationsschemata zu analysieren sucht. Ein dritter Ansatz zum Verständnis menschlicher Interaktionen unterversucht Interaktionen als Austauschprozeß zu verstehen (vgl. z.B. T H I B A U T / K E L L E Y 1959). Dieser Ansatz ist in der organisationssoziologischen und organisationspsychologischen Literatur häufig als Anreiz-Beitrags-Theorie verstanden worden: Gleichgewicht sei erreicht, wenn die Interaktionspartner eine ausgeglichene Kosten-Nutzen-Bilanz aufweisen. Für die G e f ü h r t e n bedeutet dies etwa, daß die Interaktion solange positiv bewertet und durch Akzeptanz oder Fügsamkeit beibehalten wird, wie die besagte Bilanz einen positiven Saldo ausweist. Ähnliche G e d a n k e n g ä n g e verfolgt der sogenannte Weg-Ziel-Ansatz (vgl. H O U S E 1973), bei dem u.a. unterstellt wird, d a ß ein bestimmter Führungsstil um so eher akzeptiert wird, je eher dieser Stil für das Erreichen bestimmter Zielvorstellungen (Motive/Valenzen) des Einzelnen instrumenteil ist. Dies ist natürlich nur ein sehr allgemeines R a h m e n k o n zept, und seine praktische Verwirklichung erscheint prinzipiell nur d a n n möglich, wenn die betroffenen Mitglieder durchweg ähnliche Motivationsstrukturen
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T e i l I I I : Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
(oder Sozialisationserfahrungen) aufweisen. Ein Führungsstil, der sich in einer ganz bestimmten homogenen Umwelt bewährt (z.B. im Rahmen einer Verkaufsabteilung), mag für ein anderes Subsystem (z.B. die Finanzabteilung) ungeeignet sein. Ebenso kann ein Führungskonzept, das bei I B M erfolgversprechend ist, bei M A N scheitern. Einen vernachlässigten Aspekt interaktionistischer Konzepte greift der „vertical-dyad-linkage"-Ansatz (vgl. G R E E N / S C H I E M A N N 1978) auf. Hier wird der impliziten A n n a h m e widersprochen, der Führer verhalte sich allen Gruppenmitgliedern gegenüber gleich. In Wahrheit ist diese Homogenitätsannahme eine starke Vereinfachung. Führer verhalten sich zur gleichen Zeit gegenüber bestimmten Subgruppen oder Einzelpersonen höchst unterschiedlich (z.B. unterstützend/fördernd im Hinblick auf in-group-members; kritisch/distanziert im Hinblick auf Gruppenmitglieder, mit denen wenig kommuniziert wird und die nicht weiter beachtet werden). Dieser Ansatz legt nahe, daß die bisher betriebene Führungsstilforschung ein konsistentes Führungsmuster dort unterstellte, wo in Wirklichkeit j e nach kognitiver und/oder affektiver Bewertung différentielle Verhaltensweisen auftreten. Ähnliches gilt auch für die Einstellung der Gruppenmitglieder gegenüber dem Führer; auch sie verhalten sich gegenüber dem Führenden sowie in bezug auf Führungsaktivitäten höchst unterschiedlich, was sicherlich wiederum auf dem Hintergrund der jeweiligen Kosten/Nutzen-Relationen zu sehen ist. In einer lerntheoretischen Version des Interaktionsgeschehens (z.B. H O M A N S 1958) werden Nutzenkategorien (Erträge/Kosten) durch Belohnungen und Strafreize ersetzt. Das Austauschgeschehen zwischen Führern und Geführten entspricht dann einer ständigen gegenseitigen Emission von Belohnungen und Bestrafungen, wobei der Führer durch seine Positionsmacht gewissermaßen „ a m längeren H e b e l " sitzt: D i e Interaktionssituation ist asymmetrisch, der Führer verfügt über die gewichtigeren Verstärker. Durch dieses Konzept wird es möglich, Führungsverhalten als Lernprozeß zu begreifen, der sowohl den Vorgesetzten wie den Untergebenen betrifft: Der Führer lernt, welches Verhalten (z.B. welcher Stil) in welchen Situationen (diskriminative Stimuli) positive Konsequenzen (z.B. Gehorsam, Akzeptanz, Leistungserhöhung, Verbesserung der Kohäsion, Steigerung seines Ansehens oder seiner Beliebtheit) nach sich zieht. U n d die Untergebenen lernen den Umgang mit dem entsprechenden Führungsverhalten, einmal im Sinne des Austauschs von Sanktionen, durch Vermeidungslernen, durch Erwartungslernen (welche Konsequenzen hat ein bestimmtes Arbeitsverhalten beim Vorgesetzten?), durch Diskriminationslernen (in welchen Situationen sollte man dies oder jenes tun oder nicht tun?) usw. Eine Lerntheorie des Führungsverhaltens ist programmatisch zu fordern; sie wäre allerdings nur dann fruchtbar, wenn es gelingt, soziale Kontextvariablen in die Lernmechanismen einzubeziehen. Erste Ansätze zu einer Lerntheorie der Führung (z.B. M A W H I N N E Y / F O R D 1977) scheinen dies allerdings noch nicht zu leisten.
4. K a p i t e l : F ü h r u n g in w i r t s c h a f t l i c h e n O r g a n i s a t i o n e n
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3. Führung in sozio-technischen Systemen 3.1 Führung und Organisationsstruktur Die bisherige Führungsforschung ist u.E. zu sehr unter Aspekten der Kleingruppenforschung entstanden: Dort sind z.B. die wichtigsten Befunde über Führungsstile, über Führungsinteraktionen und über Normen angemessener Führung entwickelt worden. Die Übertragung dieser Befunde aus der Kleingruppenforschung in den Kontext organisationaler Großeinheiten ist sicherlich nicht immer bruchlos möglich; zumindest sind zahlreiche Modifizierungen angebracht. Insbesondere geht es um den Sachverhalt, daß Führung in modernen Großorganisationen in einem ganz anderen strukturellen Kontext stattfindet, der in das mögliche und tatsächlich praktizierbare Führungsverhalten drastisch eingreift. Diesem Umstand kann nicht allein dadurch Rechnung getragen werden, daß man betont, Führungsverhalten sei u.a. auch vom strukturellen Kontext abhängig; vielmehr erscheint es uns notwendig, diese Kontextvariablen näher zu beschreiben und in ihren Auswirkungen auf das Führungsverhalten genauer zu untersuchen. Soziologen, die in der WEBER-Tradition stehen, haben verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, daß in modernen, formalisierten Organisationen und Verwaltungsbürokratien eine zunehmende De-Personalisierung von Abläufen stattfindet, gleichsam eine Ausdünnung menschlichcr Mitwirkung im organisationalen Geschehen. So betont etwa B L A U (1967/68) die Entwicklung unpersönlicher Kontrollmechanismen durch die Ausweitung technisch-organisatorischer Steuerung: nicht mehr die persönliche Steuerung von Abläufen durch kommunikative Prozesse, sondern die strukturelle Steuerung durch Fließbänder, Automation, Regelungssysteme, formale Mechanismen. Kontrolle und Macht wird also nicht mehr ausschließlich als soziale Kontrolle oder soziale Macht ausgeübt, sondern mehr und mehr ersetzt durch formale bzw. strukturelle Kontrolle und Macht. In ständig stärkerem Maße kommt es zur Verwendung indirekter Kontrollmechanismen, die soziale Kontrolle Zusehens durch strukturelle Kontrolle ersetzt (vgl. hierzu auch L U H M A N N 1964). B L A U / S C H O E N H E R R (1971) erblicken in diesen Mechanismen indirekter Kontrolle gar eine Gefahr für die demokratische Gesellschaft: Die Organisation erhalte dadurch einen demokratischen Anschein, indem keine sichtbare Herrschaft durch Personen mehr stattfinde, während sie in Wahrheit durch ihre strukturellen Zwänge auf den Menschen repressiv einwirke. Ganz gleich, ob man diese Bewertung teilt oder nicht, eines ist sicherlich zutreffend: Zahlreiche Führungs- und Kontrollfunktionen sind heute weitgehend überflüssig, weil diese vielfach den formalen Abläufen und den strukturellen Gesetzlichkeiten überantwortet sind. Jenseits dieser etwas pauschalen Überlegung muß freilich die differenzierte Frage beantwortet werden, welche (veränderten) Kontextbedingungen denn nun tatsächlich welche Auswirkungen auf Führungsfunktionen und Führungsverhalten in modernen Großorganisationen haben (vgl. hierzu: L I N K E 1982; T Ü R K 1981). Hierbei wären erst einmal die relevanten Kontextvariablen der Organisationsstruktur zu identifizieren und in ihrem mutmaßlichen Einfluß auf das Führungsverhalten zu thematisieren. Dabei handelt es sich um strukturelle Variablen, die z.T. in der allgemeinen Organisationstheorie, zum anderen in der Industrie- und Organisationssoziologie als relevant angesehen werden. Ein neuerer Versuch, sol-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, Prozesse der Wirtschaft
che Kontextvariablen zum Führungsverhalten in Beziehung zu setzen, ist von T Ü R K (1981) unternommen worden. In A n k n ü p f u n g an einschlägige Untersuchungen (z.B. von F R I C K E , OFFE, K E R N / S C H U M A N N , M E R G N E R u.a.) unterscheidet T Ü R K (S. 114ff.): — den Grad organisationaler Vorbestimmtheit der Arbeitsvollzüge: Diese Vorabregelungen bewirken eine ständige Einengung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. — den Routinierungsgrad durch kurzzyklische Wiederholungen gleicher Arbeitsvollzüge: Mit steigender Routinisierung werden Steuerungs- und Gestaltungsprozesse überflüssig; regulativ sind reine Vollzugsnormen. — den Kontrollierbarkeitsgrad im Sinne einer direkten Zurechenbarkeit von Handlungen: Mit Abnehmen der Kontrollierbarkeit steigt die Abhängigkeit des Führenden von der Gefolgschaft, auf deren Loyalität und Zielinduktion man sich verlassen muß. — den Professionalisierungsgrad als erforderliches Niveau berufs-spezialisierter Qualifikationen: Auch hier wird letztlich die Kontrollierbarkeit der „Professionals", erschwert; autokratische Führungsmuster sind in Anbetracht der gesteigerten Positions- und Expertenmacht der Mitarbeiter nicht angezeigt. — den Grad der strategischen Relevanz der Arbeitsvollzüge: Hier wird davon auszugehen sein, daß an bestimmten Relais-Stellen strukturelle Handlungsspielräume bestehen (müssen), die die Anpassung an neue und/oder schwierige Situationen ermöglichen. — den Grad der Einflußmöglichkeiten initiativer, partizipativer und machtausübender Art: Mit steigenden Einflußmöglichkeiten nehmen strukturelle Handlungsspielräume zu, so daß Qualitäts- und Gestaltungsnormen sowie das Ausmaß an Leistungsmotivation zunehmende Bedeutung erlangen. — den Grad der erforderlichen Kooperation, d.h. das Ausmaß, in dem die interpersonale Abstimmung von Arbeitsvollzügen nicht technisch-organisatorisch vorprogrammiert ist: Hier obliegt der Führung eine entsprechende kooperative Funktion, die z.T. allerdings bereits durch die Gefolgschaft bereitgestellt werden muß. In dem Maße, in dem kooperative und solidarische Einstellungen bereits auf dieser Ebene Platz greifen, entsteht seitens der Führung lediglich ein gewisser Zusatzbedarf kooperativer und integrativer Leistungen.
3 . 2 Führung und Machtverlagerung Obgleich die Machtverteilung in Organisationen nach wie vor eine oligarchische Struktur aufweisen dürfte (vgl. T A N N E N B A U M 1968), zeigt sich im Ausmaß zunehmender Größe und Komplexität von Organisationen deutlich, daß Führung keineswegs ein Alles-oder-Nichts-Sachverhalt ist, sondern als Variable des Mehroder-Weniger-Führens aufgefaßt werden kann. Nach dieser Vorstellung ist Führung in Organisationen „partikelweise" vorfindbar und tritt nach verschiedenen Dimensionen, Ebenen und Positionen formell und informell abgestuft in Erscheinung. Auch sollte beachtet werden, daß Einflußverhältnisse im Sinne des interaktiven Paradigmas stets zweiseitig sind. Mit zunehmender G r ö ß e und Komplexisierung von Organisationen steigt auch die Notwendigkeit, Führungsaufgaben zu delegieren, und dort, wo dies nicht ge-
4. Kapitel: Führung in wirtschaftlichen Organisationen
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schieht, zeigt sich dies deutlich an einer Überlastung der Zentralinstanzen, verbunden meist mit sinkender K o m p e t e n z für sachgerechte Entscheidungen. Im A u s m a ß der Delegation jedoch wächst Gegenmacht von unten, schrumpft die A b hängigkeit der Gefolgschaft von den Führungsinstanzen. G e r a d e durch die Professionalisierung und Technisierung von Arbeitsvollzügen akkumuliert sich Expertenwissen auf den jeweils untergeordneten E b e n e n , gleichsam wie kleine Stabsabteilungen oder Stabsstellen, die an verschiedenen Positionen der betrieblichen Hierarchie erwachsen. W I E N D I E C K (1987) hat insbesondere darauf hingewiesen, d a ß durch hochtechnisierte A b l ä u f e die untergebenen Mitarbeiter unverzichtbares Expertenwissen entwickeln, das sich der Kontrolle des Führers weitgehend entzieht und das zugleich dessen Machtposition abschwächt. In diesem Falle ist der Vorgesetzte weitgehend auf „interne Kontrolle" (d.h. deren Leistungsmotivation, deren Loyalität, deren Identifikation mit den Unternehmenszielen) der Mitarbeiter angewiesen. Auch der im vorigen Abschnitt diskutierte Aspekt struktureller Kontrolle durch Technostruktur und Organisationsstruktur trägt tendenziell zu einer Aushöhlung der Machtbasis der Führungsinstanzen bei. In dem Maße, in d e m auf externe Kontrolle verzichtet werden kann (oder verzichtet werden m u ß ) — sei es, weil interne Kontrolle oder weil strukturelle Kontrolle Platz greift - wird Führung zum marginalen P h ä n o m e n : Führung als Restgröße ( L U H M A N N ) , die nur noch Spalten, Lücken oder Leerstellen formaler Regelungen auszufüllen vermag. Diese „funktionale Stabilisierung" ( L U H M A N N ) mit ihrer betont instrumenteilen Ausrichtung bedarf nun einer kompensatorischen K o m p o n e n t e , die T Ü R K als „emotionale Stabilisierung" bezeichnet (1981, S. 150; vgl. auch R O S S E L 1970). D i e formalisierten Zwänge m o d e r n e r organisationaler Systeme vermögen o f f e n b a r bestimmte expressiv-emotionale K o m p o n e n t e n menschlicher Bedürfnisse nicht aufzufangen, so daß neben der „funktionalen A u t o r i t ä t " eine Art „emotionale A u t o r i t ä t " ( T Ü R K ) an B e d e u t u n g gewinnt. Dies dürfte im übrigen auch der Hintergrund f ü r die oftmals kaum hinterfragte Feststellung sein, wonach der „zeitgemäße" Führungsstil im Prinzip mitarbeiterorientiert sein solle. Ein V e r t r e t e r von F I E D L E R S Kontingenzkonzept würde dies so b e g r ü n d e n : weil eben die realen situativen Bedingungen f ü r die Führung heute weder besonders günstig noch besonders ungünstig sind.
3.3 Führung als „constrained choice" D i e hier aufgezeigten Kontextbedingungen wirken als „constraints" auf das jeweilige Führungsverhalten ein. Interpretiert man die „constraints" unter dem A s p e k t sozialen Wandels, so scheinen die meisten soziologischen Studien — von B A H R D T bis T Ü R K und von F R I C K E bis K E R N / S C H U M A N N - darauf hinzudeuten, daß die Verhaltens- und Entscheidungsspielräume angesichts enger w e r d e n d e r struktureller L e e r r ä u m e gleichfalls geringer werden. Im Sinne des „constrained choice"-Ansatzes in der Soziologie (vgl. E L S T E R 1979; W I S W E D E 1985) werden durch strukturelle Selektion die Möglichkeitsspielräume für Führungsverhalten und f ü r Entscheidungsalternativen erheblich reduziert. D a f ü r sprechen die bereits erwähnten T e n d e n z e n : Versachlichung der VorgesetztenUnterstellten-Beziehung; Verrechtlichung betrieblicher Sachverhalte; Technisie-
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Teil III: Institutionen, Strukturen, P r o z e s s e der Wirtschaft
rung betrieblicher Abläufe; Standardisierung organisationaler Praktiken; Autonomisierung und Verselbständigung der Kontrollbereiche; Verlagerung der Machtbereiche auf die strukturelle Ebene usw. Wenn man von Grundsatz-Entscheidungen und „Weichenstellungen" einmal absieht - hierbei bestimmen die Konsequenzen sicherlich das weitere Schicksal der Organisation — und sich auf den Aspekt der Personalführung konzentriert, so führt dies zweifellos zu einer Funktionsverlagerung und zu einem Funktionsverlust auf der Führungsebene. Führung wird dann in der Tat zu einem Restphänomen, zum Lückenbüßer. Verbleibende Funktionen sind dann vor allem: potentielles Eingreifen in Stör- und Krisensituationen, Implementation von Neuerungen, Koordinations- und Integrationsleistungen, sowie kompensatorische Funktionen auf der sozio-emotionalen Ebene. Auch die Möglichkeit, „rationale", „richtige", „effiziente" oder „interessengerechte" Entscheidungen zu treffen, werden in erheblichem Maße durch normative und institutionelle Zwänge eingeengt (z.B. durch Gesetzesvorschriften, Gegenmacht der Gewerkschaften oder Betriebsräte, Haltung der Arbeitnehmer, strukturell-organisationale Zwänge), so daß vielfach die Hauptaufgabe der Führung darin bestehen mag, schöpferische Kompromisse zu schließen und für denjenigen Fall vorzusorgen, in denen die strukturellen Regelungen nicht greifen, versagen oder dysfunktional werden. Gerade im Hinblick auf die mögliche Dysfunktionalität von Strukturen sollten wir aufgrund der vorangegangenen Überlegungen jedoch nicht in einen strukturellen Determinismus verfallen. Insbesondere haben wir im Auge zu behalten, daß auch strukturelle Zwänge — seien sie technischer, ökonomischer oder sozialer Art — Menschenwerk sind und daß Strukturen gelegentlich aufgebrochen werden müssen, um sinnvollere Regelungen zu schaffen. Die Forderung nach Eröffnung von Handlungsspielräumen mag in diese Richtung wirken, nämlich der Gefahr einer Überstrukturierung vorzubeugen. Insofern sollten wir einseitige Perspektiven, z.B. die eingangs skizzierte Tendenz zur „Überpersonalisierung" des Führungsgeschehens, nicht durch das entgegengesetzte Extrem ersetzen: nämlich durch eine Ideologie der „Überdeterminierung" durch Strukturgesetzlichkeiten. Denn vielfach dient das Wort von den „Sach- und Systemzwängen" lediglich als Alibi einer konservativen Haltung, Strukturen als unveränderbar und sakrosankt zu betrachten.
Teil IV Wirtschaft und Staat 1. Kapitel Staat und Verbände Zur wirtschaftssoziologischen Analyse der Beziehungen zwischen d e m politisch-administrativen System und den Tarifkoalitionen.
1. Einleitung und Problemstellung. Die Themenstellung steht im Schnittpunkt verschiedener einzelwissenschaftlicher Ansätze. Sie ist Gegenstand rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Analysen, ohne d a ß bisher ein interdisziplinärer Forschungsansatz entwickelt werden konnte. Dies sollte allerdings nicht dazu f ü h r e n , d a ß einzelwissenschaftliche Fragestellungen unabhängig von Forschungsansätzen und B e f u n d e n der Nachbarwissenschaften gestellt und beantwortet werden. Vielmehr sind die vorliegenden Begriffsbestimmungen und Theoriekonzeptionen daraufhin zu überprüfen, o b sie nicht übergreifend verwendet werden können. In einer soziologischen Analyse wird untersucht, welche Interessenlagen welcher Wirtschaftssubjekte zu Verbandszielen werden und welche Strukturen der Erfüllung dieser Ziele dienen. In entwickelten Industriegesellschaften bestehen Wechselbeziehungen zwischen wirtschaftlichem und staatlichem Handeln, wirtschaftliche Kalküle werden durch rechtliche Normierungen beeinflußt und wirken ihrerseits auf diese ein. Auf dem Arbeitsmarkt werden wirtschaftliche Interessen durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände (Gewerkschaften) aggregiert. Für die Analyse der Beziehungen dieser V e r b ä n d e zum Staat eignet sich der rechtswissenschaftliche Koalitionsbegriff. Dieser Begriff bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Interessenvereinigungen rechtlich a n e r k a n n t werden und als Tarifkoalitionen die A u f g a b e der Regelung kollektiver Arbeitsbeziehungen übernehmen können. Die rechtswissenschaftliche Begriffsbestimmung soll hier mit einer organisationssoziologischen Perspektive verbunden werden. Arbeitgeberverbände und
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
Gewerkschaften w e r d e n als organisierte Sozialsysteme begriffen. Die inner- und zwischenverbandlichen Beziehungen erscheinen als Intra- bzw. Interorganisationsbeziehungen in einer Umwelt, zu der auch das politisch-administrative System zu zählen ist. Der organisationssoziologischen Perspektive wird also zugetraut, die Besonderheiten der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in ihrem Verhältnis zu den Verbandsmitgliedern ebenso aufbereiten zu können, wie die Besonderheiten, die sich durch die Beziehungen zum jeweiligen Gegenverband und zu den staatlichen Institutionen ergeben. Im folgenden soll zunächst dargestellt werden, wie sich die Koalitionen in Deutschland entwickelten und welche Bedingungen ihre Entwicklung beeinflußt haben. Gibt es so etwas wie ein Deutsches Modell des Zusammenspiels der Koalitionen und wenn ja, welchen Anteil hatte der Staat an seinem Z u s t a n d e k o m m e n ? Anschließend sollen die Koalitionsformen in der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden. Im Vordergrund stehen hierbei Problemstellungen, die im R a h m e n der Korporativismusdiskussion aufgeworfen wurden und sich auf die Gegenwart und unmittelbare Z u k u n f t der Tarifautonomie beziehen. Einer soziologischen Analyse ist es nicht gestattet, aus dieser Bezeichnung lediglich abzuleiten, d a ß den Tarifkoalitionen Handlungsfreiheit gewährt wird. Vielmehr m u ß ermittelt werden, in welchem A u s m a ß Handlungsspielräume bestehen und tatsächlich genutzt werden.
2. Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen für Tarifkoalitionen in Deutschland. Im D e n k e n der vor- und frühindustriellen Gesellschaft fanden Verbandsbildungen keine A n e r k e n n u n g . So begriff etwa Adam Smith die Gesellschaft als Wettbewerbswirtschaft, deren Steuerung durch einen Selbstregelungsmechanismus erfolgte. Als wichtigste Antriebskraft für wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln wurden das egoistische Streben der Menschen, ihre eigennützigen individuellen H a n d l u n g e n angesehen. Eine Integration dieser Handlungen erfolgte nicht etwa durch staatliche Institutionen, sondern durch den Markt. Dieses G e sellschaftsmodell f o r d e r t e dazu auf, wirtschaftliche Handlungen von ständischen Bindungen zu emanzipieren. Nur so konnten die Vorteile des freien Tauschs in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft w a h r g e n o m m e n werden. Diesem Gesellschaftsmodell entsprach also eine Ablehnung staatlicher und gesellschaftlicher W e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k u n g e n . Als solche aber hätten Wirtschaftsverbände diesem Gesellschaftsbild nur gelten können. Allmählich wurde deutlich, daß a u t o n o m e Marktbeziehungen zwar gewaltige wirtschaftliche Expansionen ermöglichten, zugleich aber dazu beitrugen, neue soziale Ungleichheiten zu schaffen. Diese legten es nahe, die Mitglieder von Industriegesellschaften nicht nur als autonome Wirtschaftssubjekte zueinander in Beziehung zu setzen, sondern nach Kriterien zu fragen, nach denen eine überindividuelle Interessenvereinheitlichung erfolgen konnte. Kollektive Interessenvereinigungen sind somit Ausdruck einer „Selbsthilfe der (von ständischen Bindungen) Befreiten gegen das M o d e l l , W e t t b e w e r b ' " . 1 Sobald allerdings Wirtschafts- und 1
Krüger, Herbert: Allgemeine Staatslehre. Stuttgart 1964, S. 3 9 3
1. Kapitel: Staat und Verbände
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Gesellschaftsbeziehungen nicht mehr sich selbst überlassen blieben, wurde auch zur D e b a t t e gestellt, ob und in welcher Weise der Staat n u n m e h r aufgefordert war, zu kollektiven Interessenverbindungen mit Hilfe rechtlicher Normierungen Stellung zu nehmen. Die A n f ä n g e der Koalitionsbildung in Deutschland liegen in den G e w e r k schaftsgründungen des 19. Jahrhunderts. Bereits vor der Revolution der Jahre 1848/49 wurden Berufsverbände der Buchdrucker und Tabakarbeiter gegründet, deren A u f g a b e es sein sollte, einen durch die industrielle Produktionsweise drohenden Statusverlust dieser G r u p p e n abzuwehren. Hierzu dienten M a ß n a h m e n zur Kontrolle des fachspezifischen Arbeitsmarkts sowie Selbsthilfetätigkeiten im Bereich des Unterstützungswesens und der beruflichen Weiterbildung. Für das staatliche Handeln allerdings waren solche Entwicklungsformen kollektiver Interessenvertretung prinzipiell suspekt. Noch 1845 verbot das preußische Vereingesetz entsprechende Zusammenschlüsse. Diese Koalitionsverbote wurden erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts a u f g e h o b e n : 1861 in Sachsen, 1867 in Preußen und 1869 durch die Reichsgewerbeordnung für das Gebiet des N o r d d e u t schen Bundes. Diese Reichsgewerbeordnung galt ab 1872 f ü r das gesamte D e u t sche Reich. Allerdings wurde die Koalitionsfreiheit zunächst auf g e w e r b e t r e i bende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeiter' beschränkt und blieb damit den Arbeitern in Staat und G e m e i n d e n , im Bergbau und in der Landwirtschaft ebenso vorenthalten wie den Angestellten. Für die nachfolgende Entwicklung der Koalitionen war die W a h r n e h m u n g der tarifpolitischen Aufgabenstellungen von entscheidender Bedeutung. Die Wahrn e h m u n g tarifpolitischer Aufgabenstellungen, einer Tariffunktion, b e d e u t e t e für die Gewerkschaften, d a ß im Interesse höherer L ö h n e und besserer Arbeitsbedingungen Verhandlungen geführt werden mußten, um einheitliche und möglichst verbindliche Normierungen zu erzielen. Eine erfolgversprechende Verhandlungsf ü h r u n g setzte voraus, d a ß die Gewerkschaften in der Lage waren, Arbeitskämpfe durchzuführen oder zumindest glaubhaft anzudrohen. Der Arbeitskampf als Instrument kollektiver Interessenvertretung wurde allerdings nur bedingt durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung anerkannt. Das staatliche Handeln bewahrte repressive Züge, indem es sich dem Leitbild eines autonomen Wirtschaftssubjekts verpflichtet fühlte, dessen Verhaltensspielräume durch M a ß n a h m e n kollektiver Interessenvertretung nicht eingeschränkt werden durften. Insbesondere die Rechtsprechung war darum bemüht, die individuellen Rücktrittsmöglichkeiten von Koalitionen rechtlich abzusichern und durch eine extensive Auslegung der Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs Beleidigungen, Nötigungen und vor allem Erpressungen im Verlauf von A r b e i t s k ä m p f e n festzustellen und damit eine wirksame kollektive Interessenvertretung zu erschweren. Betroffen aber waren nicht nur Gewerkschaften, sondern auch die Vereinbarungen, die sie mit den Arbeitgebern und deren V e r b ä n d e n geschlossen hatten. .Tarifgemeinschaften' wurden den Koalitionen rechtlich gleichgestellt, d.h. sie blieben rechtsunverbindlich. Erst die Rechtsprechung des beginnenden 20. J a h r h u n d e r t s korrigierte diese A u f fassung, ohne daß sich hieraus allerdings bis zum 1. Weltkrieg eine staatliche Förderung der Tarifbeziehungen entwickelte. Eine Institutionalisierung des industriellen Konflikts wurde allenfalls geduldet. Z w a r setzte sich staatliches Handeln ebenfalls zum Ziel, eine Politisierung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung zu vermeiden, doch wurde nicht erkannt, d a ß die W a h r n e h m u n g der Tariffunktion hierzu eine entscheidende Hilfestellung bieten konnte und dementspre-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
chend eine staatliche Förderung,verdient' hätte. In der innergewerkschaftlichenAuseinandersetzung galten nämlich Tarifvereinbarungen als Belege dafür, daß eine erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit der Gewerkschaften möglich war. Der Abschluß von Tarifvereinbarungen legitimierte damit auch eine tatsächliche Distanz zur revolutionären Klassenkampfidee. Die Wahrnehmung der Tariffunktion f ü h r t e weiterhin zu einer innerorganisatorischen Spezialisierung, die die Entwicklung der Gewerkschaften zu zentralisierten und bürokratisierten Großorganisationen begünstigte. Zwar fehlte es nicht an Warnungen vor kurzsichtiger ,Gewerkschaftsmentalität' von,Gewerkschaftsbeamten', doch wurde für die maßgeblichen Gewerkschaftsführer und wohl auch für die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder die mit dem Abschluß von Tarifvereinbarungen erreichte wirtschaftliche Besserstellung und Anerkennung gesellschaftlicher Gleichberechtigung immer wichtiger. Die Wahrnehmung der Tariffunktion durch die Gewerkschaften setzte nicht allein staatliche Duldung und wirtschaftsbezogene Aktivitäten voraus, sondern erforderte weiterhin eine Kooperationsbereitschaft der Unternehmer. G e r a d e hieran aber mangelte es zunächst. Die Geschichte offizieller kollektiver Interessenvertretung der Unternehmer begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der G r ü n d u n g von territorial gegliederten Handelskammern und kaufmännischen Korporationen. Im Zuge fortschreitender industrieller Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde deutlich, daß neben einer territorialen Interessenaggregation weitere Interessenvertretungsformen der U n t e r n e h m e r notwendig sind, in denen branchenspezifische Unterschiede hervortreten können. Während U n t e r n e h m e r in Handelskammern den A u f b a u und die Verbesserung von Verkehrsnetzen oder die Vereinheitlichung eines Währungsraums gegenüber dem Staat durchsetzen konnten, bedurfte es besonderer Wirtschaftsfachverbände, um die branchenspezifischen Interessenlagen an bestimmten handelspolitischen Maßnahmen des Staates vereinheitlichen zu können. Die Bedeutung der Wirtschaftsfachverbände des 19. Jahrhunderts ergab sich vor allem daraus, daß die wirtschaftlichen Interessen an Freihandel- oder Schutzzöllen mit allgemeineren innen- und außenpolitischen Interessen Verbindungen eingingen und als Bausteine auf dem Weg zur Reichsgründung galten. Warum allerdings konnten sich nun neben solchen Wirtschaftsfachverbänden noch besondere Arbeitgeberverbände ausdifferenzieren? Zunächst erfolgte eine Verbandsvertretung von Arbeitgeberinteressen in der Absicht, einzelunternehmerische Autonomie dadurch zu bewahren, daß Maßnahmen kollektiver Interessenvertretung der Arbeitnehmer unwirksam gemacht werden sollten. Es zeigte sich aber, daß Gewerkschaften Bestand hatten und die Unternehmer auf Dauer mit einer organisierten Arbeitskampfbereitschaft der Arbeitnehmer zu rechnen hatten. Streikmaßnahmen zentralisierter Gewerkschaftsorganisationen sollten durch adäquate Aussperrungen beantwortet werden, die nur von entsprechenden Arbeitgebervereinigungen organisiert werden konnten. Es zeigte sich immer mehr, daß Arbeitgeberinteressen nicht vorwiegend von Wirtschaftsfachverbänden mitvertreten werden konnten, sondern separate Arbeitgeberverbände eine Existenzberechtigung bekamen. Indem die Arbeitgeberverbände nun ihre ursprüngliche Zwecksetzung, nämlich die Vernichtung der Gewerkschaften verfehlten, konnten sie — so der paradoxe Effekt - ihren langfristigen Bestandsinteressen Ausdruck verleihen und einen Strukturaufbau erreichen, der durch den Bezug zum Gegenverband, zur Gewerkschaft also, bestimmt wurde. Der gegenseitige Strukturbezug, die Notwendigkeit, gleiche
1. Kapitel: Staat und Verbände
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Branchen auf gleicher E b e n e mit zumindest ähnlichen Organisationsformen zusammenzufassen, wurde noch dringlicher als die Arbeitgeber- und A r b e i t n e h m e r koalitionen ihre vorrangige A u f g a b e nicht m e h r in der D u r c h f ü h r u n g eines Arbeitskampfs sahen, sondern in der erfolgreichen D u r c h f ü h r u n g von Kollektivverhandlungen. Die Institutionalisierung des industriellen Konflikts erfolgte, indem bilaterale kollektive Arbeitsbeziehungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen reguliert wurden. Als Maßstab für den Erfolg einer solchen Institutionalisierung konnte der Abschluß d a u e r h a f t e r Tarifvereinbarungen gelten. Die n e u e r e sozialgeschichtliche Forschung hat auf die Voraussetzungen hingewiesen, die erfüllt sein mußten, um zwischen den frühen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen Interorganisationsbeziehungen entstehen zu lassen und Tarifvereinbarungen Geltung zu verschaffen. Solche Voraussetzungen lagen vor allem in den branchenspezifischen Produktions- und Berufsstrukturen. So k o n n t e im J a h r e 1906 zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft im Buchdruckgewerbe ein .Organisationsvertrag' abgeschlossen werden, der u.a. vorschrieb, d a ß die Mitgliedsfirmen des Arbeitgeberverbands nur Mitglieder der Buchdruckergewerkschaft beschäftigen und d a ß die Gewerkschaftsmitglieder nur in U n t e r n e h m e n arbeiten durften, die Mitglieder im Arbeitgeberverband waren. Z u den besonderen ,tariffreundlichen' Voraussetzungen des Druckgewerbes gehörte, d a ß zwischen den Betrieben dieser Branche lebhafte Konkurrenzbeziehungen herrschten und ein hoher Anteil der Produktionskosten auf die Lohnkosten entfiel. D e r Produktionsablauf k o n n t e durch A r b e i t s k a m p f m a ß n a h m e n besonders nachteilig beeinflußt werden, da die Produkte aktuell bereitgestellt werden mußten. In den berufsbezogenen gegliederten Gewerkschaften waren hochqualifizierte Facharbeiter und H a n d w e r k e r organisiert, die bestrebt waren, ihre spezifischen Statusinteressen abzusichern und hierzu für eine pragmatisch-reformerische Form der Interessenvertretung zu gewinnen waren. Durch Tarifvereinbarungen konnten Lehrzeiten verlängert und Lehrlingszahlen vermindert werden. Für die U n t e r n e h m e r bewährten sich Tarifvereinbarungen als Grundlagen für eine stabile Kalkulation, als Abwehrmittel gegen ,Schmutzkonkurrenz' und ,Preisdrückerei' auf dem Arbeitsmarkt und als Sicherheiten vor Arbeitsniederlegungen. Z u den Funktionen solcher Tarifvereinbarungen zählte letztlich auch die Möglichkeit, ihre Inhalte in die Waagschale zu werfen, wenn auf die Vorteile einer Mitgliedschaft im V e r b a n d hingewiesen werden sollte. Tarifvereinbarungen befestigten nicht nur eine pragmatische Orientierung der Koalitionen, sie sorgten auch dann für hohe Mitgliederzahlen, wenn kein ,Organisationsvertrag' abgeschlossen worden war. Die Aussage, d a ß bestimmte branchenspezifische Voraussetzungen den A b schluß von Tarifvereinbarungen erleichterten, wird auch dadurch bestätigt, d a ß in anders strukturierten Branchen Tarifvereinbarungen nicht zustande kamen. Die U n t e r n e h m e r in den Großbetrieben der Montan-, Textil- und Metallindustrie standen dem Abschluß von Tarifvereinbarungen überwiegend negativ gegenüber. Bilaterale Verhandlungen und paritätische Konfliktregelungen mit außerbetrieblichen R e p r ä s e n t a n t e n der A r b e i t n e h m e r wurden abgelehnt, der Übergang zur industriellen Massenproduktion sollte durchgesetzt werden, ohne daß u n t e r n e h m e rische K o m p e t e n z durch Gewerkschaften eingeschränkt wurde. Die G e w e r k schaften b e k ä m p f t e n diese Einstellung, es fehlte ihnen allerdings an den organisatorischen Voraussetzungen, um die geringer qualifizierten A r b e i t n e h m e r der
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
schwerindustriellen Großbetriebe in gleicher Weise zu erfassen, wie es den Berufsgewerkschaften in den Klein- und Mittelbetrieben des D r u c k - und Baugewerbes gelungen war. 2
3. Koalitionsautonomie oder Staatsintervention. Die Entwicklung der Koalitionsbeziehungen bis zum 2. Weltkrieg. Die Besonderheiten der Koalitionsbeziehungen in den nachfolgenden Jahrzehnten liegen in der spezifischen Art und Weise, mit der die Institutionen des politisch-administrativen Systems auf die Koalitionsbeziehungen einwirkten. Die Koalitionsbeziehungen der nachfolgenden Jahrzehnte wurden gekennzeichnet durch das besondere Mischungsverhältnis zwischen staatlicher Intervention und Freisetzung von Koalitionsbeziehungen, durch die besondere Form der Verschränkung politischer und industrieller Konfliktlinien. Kurz vor dem 1. Weltkrieg standen noch 2 / 3 aller Beschäftigten außerhalb gewerkschaftlicher Organisationen, f ü r 4 / 5 der Arbeitnehmerschaft galten noch keine kollektivvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen. Es bedurfte der Ereignisse u n d Folgen des 1. Weltkriegs, um eine U m k e h r einzuleiten und eine gegenläufige Entwicklung zu beschleunigen. Allerdings war auch hier nicht der Krieg der Vater aller Dinge. Wichtig war vor allem, d a ß revolutionäre Bedrohungen unternehmerische A b wehrstrategien aufweichten und Konzeptionen einer staatlich reglementierten Koalitionsautonomie auf ein gewerkschaftliches Staatsverständnis trafen, welches u n t e r bestimmten Bedingungen in staatlichen Rechtsnormen G a r a n t e n für eine Befestigung der Arbeitnehmerkoalitionen sehen konnte. Die B e m ü h u n g e n der f r ü h e n Arbeitsrechtswissenschaft waren darauf gerichtet, die Rechtsnormen an die soziale Wirklichkeit geltender Tarifvereinbarungen anzupassen und auf diese Weise zu einer A u s d e h n u n g des Tarifvertragswesens beizutragen. Sinzheimer ordnete dem Tarifvertrag die normative Funktion zu, die Inhalte des einzelnen Arbeitsvertrages vorrangig zu bestimmen. Einer obligatorischen Funktion entsprechend gingen vom Tarifvertrag Wirkungen aus, die die gegenseitige Bindung der Tarifkoalitionen an die Vertragsinhalte sicherstellen sollte, also insbesondere der Arbeitnehmerseite den Verzicht auf A r b e i t s k a m p f m a ß n a h m e n während der Geltungsdauer des Vertrags abverlangte. Zusätzlich sollte dem Tarifvertrag eine sozialrechtliche Funktion z u k o m m e n , die das Innenverhältnis der Koalitionen betraf. Hierfür war das Prinzip der ,Selbstexekution' maßgeb e n d : Die Vertragsparteien übernahmen die Verpflichtung, die T a r i f n o r m e n innerhalb ihres Repräsentationsbereichs durchzusetzen. Für die Koalitionsorganisation b e d e u t e t e dies, d a ß den Verbandsmitgliedern mit dem Hinweis auf die Verbindlichkeit von Rechtsnormen G e h o r s a m gegenüber Vereinbarungen abverlangt werden konnte, die von den Organisationsleitungen beschlossen wurden. D e m politisch-administrativen System wurde die A u f g a b e zugewiesen, auf dem 2
vgl. hierzu insbesondere: Volkmann, Heinrich: Organisation und Konflikt. G e w e r k schaften, A r b e i t g e b e r v e r b ä n d e und die Entwicklung des Arbeitskonflikts im späten Kaiserreich. In: W. Conze und U . Engelhardt (Hrsg.): A r b e i t e r im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1979
1. Kapitel: Staat und V e r b ä n d e
127
Wege einer Rahmenordnung eine ,Friedensordnung' herzustellen, innerhalb der den Koalitionen eine regulierte Freiheit gewährt wurde. Das politisch-administrative System sollte sich zur Anerkennung einer sozialen Selbstbestimmung bereit finden, gleichzeitig aber die Bedingungen des Wirkens festlegen, unter denen es den ,sozialen Kräften' möglich sein sollte, ihrerseits Recht zu schaffen: „Auf diese Weise wahrt der Staat seine Herrschaft auch über die soziale Rechtsbildung, ohne daß er ihren Inhalt bestimmt" 3 . Eine Analyse der Besonderheiten deutscher Koalitionsbeziehungen hat den Hinweis darauf zu enthalten, daß die Gewerkschaften bei allem Widerstand gegen den Wilhelminischen Obrigkeitsstaat eine solche staatliche Rahmenordnung der Koalitionsbeziehungen nicht grundsätzlich ablehnten. A m Scheideweg zwischen der Konzeption eines permanenten Klassenkampfs gegen unternehmerische Ausbeutung und politische Unterdrückung und der Konzeption regulierter Arbeitskämpfe, die durchTarifverträge beendet werden konnten, setzte sich innerhalb der maßgeblichen ,freien', d.h. sozialistischen Gewerkschaften die Überzeugung durch, daß der Herstellung und Aufrechterhaltung dauerhafter Tarifbeziehungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen der Vorzug zu geben sei. Dauerhafte Koalitionsbeziehungen setzten die Anerkennung der Gewerkschaften durch die Arbeitgeber voraus, sie gewährleisteten paritätische Beteiligung an der tarifpolitischen Willensbildung. Rechtsnormen, die zur Verwirklichung dieser Zielsetzung beitragen konnten, wurde die Anerkennung nicht grundsätzlich verweigert. A n e r k e n n u n g und paritätische Beteiligung wurde den Gewerkschaften unter den Bedingungen des 1. Weltkriegs zuteil. Ihre Bereitschaft zum B u r g f r i e d e n ' wurde belohnt. Einer nationbezogenen Gewerkschaftsorientierung war es wichtig zu dokumentieren, daß von Seiten der Arbeitnehmer keine Störung des Wirtschaftslebens beabsichtigt war. Das politisch-administrative System gewährte im Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst' (1916) die Anerkennung der Gewerkschaften sowie die Einrichtung betrieblicher Arbeiter- und Angestelltenausschüsse mit paritätischen Schlichtungsorganen. Mit Hilfe dieser Rechtsnormen wurde eine Integration der Gewerkschaften beabsichtigt. Um die Unternehmerschaft zur Anerkennung gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu veranlassen, bedurfte es erst einer Bedrohung der privatwirtschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Erst gegen Ende des 1. Weltkriegs (15.11.1918) kam eine ,Zentralarbeitsgemeinschaft' zustande, in der die Gewerkschaftsvertreter als .berufene Vertreter der Arbeiterschaft' von den Unternehmern anerkannt wurden und bilaterale kollektive Arbeitsbeziehungen zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in der gesamten gewerblichen Wirtschaft vorgesehen waren. Die Zentralarbeitsgemeinschaft war ein Ergebnis freiwilliger Kooperation. Sie diente der Institutionalisierung des industriellen Konflikts durch die grundsätzliche Anerkennung autonomer Gewerkschaften und dem Vorrang kollektiver Konfliktregelung. Im Weimarer Staat allerdings ging es darüber hinaus um die rechtliche Befestigung solcher Regelungsformen. Die Weimarer Reichsverfassungschrieb in Artikel 159 Koalitionsfreiheit als Grundrecht fest. Die „beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen" wurden in der Verfassung anerkannt und Arbeiter und Angestellte „dazu berufen, in gleichberechtigter Gemein3
Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz. Die I d e e der sozialen Selbstbestimmung im Recht. M ü n c h e n und Leipzig 1916. S. 191 f.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
schaft mit den U n t e r n e h m e r n an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven K r ä f t e mitzuwirken" (Art. 165). V o r h e r h a t t e n bereits andere wichtige Bestandteile des Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommens eine rechtliche Befestigung erfahren. Die Unabdingbarkeit der kollektiv vereinbarten N o r m e n wurde rechtlich vorgeschrieben, d.h. Vereinbarungen zwischen Koalitionen über L ö h n e und Arbeitsbedingungen durften auf betrieblicher E b e n e nicht unterschritten werden. Hinzu kam die gesetzliche Regelung einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, d.h. der Möglichkeit, kollektiv vereinbarte Tarifinhalte auch f ü r diejenigen verbindlich zu machen, die nicht Mitglieder der Koalitionen waren, zwischen denen Tarifverträge abgeschlossen wurden. Für die Beziehungen zwischen dem W e i m a r e r Staat und den Koalitionen war die rechtliche Regelung der S c h l i c h t u n g von Arbeitsstreitigkeiten' von besonderer Bedeutung. Die Analyse der darauf bezogenen Rechtsnormen ergibt, daß den staatlichen Institutionen eine immer weitergehende Befugnis zum Eingriff in die K o m p e t e n z übertragen wurde, T a r i f n o r m e n a u t o n o m zu vereinbaren. Die Schlichtungsverordnung von 1923 normierte eine staatliche Zwangsschlichtung, indem staatliche Institutionen ihre Vorstellungen ü b e r die Inhalte von Tarifverträgen auch dann durchsetzen konnten, wenn diese nicht von den Tarifkoalitionen angenommen worden waren. W e i t e r g e h e n d e Interventionen konnten zum E n d e der Weimarer Republik durch Notverordnungen durchgesetzt werden. Z u m Gesamtbild des Beziehungsgeflechts zwischen Staat und Verbänden in der Weimarer Republik gehört auch die Kenntnis d e r Wirklichkeit einer Betriebsverfassung, wie sie durch das Betriebsrätegesetz von 1920 strukturiert wurde. Dieses Gesetz konzipierte a u t o n o m e Betriebsräte als R e p r ä s e n t a n t e n der gesamten Arbeitnehmerschaft eines Betriebs, flankierte diese Rechtsnormen aber mit Bestimmungen, welche tatsächlich eine ,Vergewerkschaftlichung des Betriebsrätewesens' einleiteten. D e r R a h m e n einer später als ,duales System' gekennzeichneten Form der Interessenvertretung wurde durch eine tatsächliche Verschränkung der betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungsebene ausgefüllt. Eine betriebsbezogene Friedenspflicht gewährte den Gewerkschaften ein Streikmonopol, das den Vorrang der überbetrieblichen vor der betrieblichen Interessenvertretungsebene u n t e r m a u e r te. In Beurteilungen der Beziehungen zwischen dem politisch-administrativen System und den Tarifkoalitionen in der Weimarer Republik wird zu Recht auf die ,turbulente Umwelt' hingewiesen, der die Koalitionen damals ausgesetzt waren. Den vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Belastungen war der a u t o n o m e Konsens der Zentralarbeitsgemeinschaft ebenso wenig gewachsen, wie der anfängliche V e r s u c h , , T a r i f a u t o n o m i e ' rechtlich zu fixieren. Es fehlt allerdings auch nicht an Stimmen, die Kritik am Verhalten der Koalitionen üben und insbesondere die unzureichende Grenzziehung zwischen staatlichem Einflußbereich und dem Bereich industrieller Arbeitsbeziehungen bemängeln, also ein Defizit a n , T a r i f a u tonomie' f ü r das E n d e der kollektiven Verhandlungs- und Vertragsfreiheit mit dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltausübung verantwortlich machen. Die A r b e i t g e b e r und ihre Koalitionen akzeptierten auf der Grundlage einer von Sinzheimer als ,kollektiver Liberalismus' apostrophierten Einstellungshaltung rechtliche Interventionen zur Stabilisierung der Arbeitsbeziehungen nur widerwillig und versuchten, in wirtschaftlichen Krisenzeiten Rechtsnormen außer Kraft zu setzen, die im Interesse einer Befestigung kollektiver Arbeitsbeziehungen kon-
1. Kapitel: Staat und Verbände
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zipiert waren. Den Gewerkschaften wird vorgeworfen, allzu große Hoffnungen in eine .Politisierung des Arbeitsrechts' gesetzt zu haben und es an Mut gefehlt haben zu lassen, ihre Eigenständigkeit zu verteidigen. Sie vertrauten demnach eher auf die Möglichkeit, gewerkschaftlichen Interessen durch die staatlichen Institutionen hindurch Ausdruck verleihen zu können als darauf, autonome Verfahren der Konfliktregelierung mit ihrer Kampfkraft zu verteidigen. Der Vorsatz, staatliche Interventionen für gewerkschaftliche Zielsetzungen zu instrumentalisieren, war langfristig ebenso wenig zu verwirklichen, wie die Hoffnung, hiermit eine Transformation einer kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft einzuleiten. Statt dessen wurden die Eingriffsrechte des Staates vom nationalsozialistischen Regime mißbraucht und in einer Gleichschaltung' der Koalitionen, d.h. in einer Zerstörung jeglicher Verbandsautonomie fortgeschrieben.
4. Tarifkoalitionen und Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland 4.1. Tarifautonomie — Leitbild in einer pluralistischen Gesellschaft. Tarifkoalitionen nach dem 2. Weltkrieg Die rechtlichen Rahmenbedingungen f ü r das Koalitionshandeln in der Bundesrepublik Deutschland wurden unter dem Eindruck der Geschehnisse in der Weimarer Republik konzipiert. Es sollte eine Tarifautonomie gewährt werden. Mit Hilfe von Rechtsnormen sollte also den Koalitionen ein staatsfreier Handlungsspielraum eingeräumt werden, ohne daß die Trennung von politischem und industriellem Konflikt aufgehoben wurde. Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer Strategie der Pluralisierung der Konfliktverläufe war die verfassungsrechtliche Garantie der Koalitionsfreiheit sowie die Normierung eines Tarifvertragsgesetzes, das wiederum wichtige Weichenstellungen für das Handeln innerhalb und zwischen den Koalitionen vornahm. Tarifverträge begründeten schuldrechtliche Verpflichtungen, sie waren zugunsten der Arbeitnehmer unabdingbar und hatten unmittelbare Wirkung auf einzelvertragliche Regelungen. Ebenso konnten die Normen des Tarifvertrags über die Verbandsbereiche hinaus für allgemein verbindlich erklärt werden. Einem Leitbild der Tarifautonomie zu entsprechen, bedeutete vor allem aber, einen Konsens darüber zu erzielen, daß die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie einem Verbot staatlicher Zwangsschlichtung gleichkam. Inhalte von Tarifnormen sollten der Regelungskompetenz des politisch-administrativen Systems entzogen sein. Die Tarifautonomie hatte sich auch in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines dualen Systems der Interessenrepräsentation zu bewähren. Der Gesetzgeber grenzte mit Hilfe von Rechtsnormen einen Regelungsbereich aus der Kompetenz der Koalitionen aus, um ihn betriebs- und unternehmensbezogenen Positionen zu übertragen. In die Rollen von Betriebsräten, von Arbeitsdirektoren in der Montanindustrie sowie von Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten wurden Arbeitnehmerinteressen eingebracht, die von Rechts wegen mit Erwartungen zum Ausgleich gebracht werden mußten, welche aus betriebs- und unternehmensspezifischen Wirtschaftlichkeitserwägungen verbindlich gestellt waren. Die in der Weimarer Republik gemachten Erfahrungen bestimmten auch die Diskussion über den Aufbau der Ge-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
werkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Schließlich folgten die Arbeitnehmer in ihrer überwiegenden Mehrheit Industriegewerkschaften, die sich als föderative Einheitsgewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund ( D G B ) zusammenschlössen. Die Industriegewerkschaften haben es übernommen, die tarifpolitischen Aufgabenstellungen zu erfüllen. In den Industriegewerkschaften sollen Arbeitnehmer mit verschiedenen politischen Auffassungen auf der Grundlage unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen Mitglieder werden können. H e u t e sind im D G B 17 Industriegewerkschaften zusammengeschlossen. Daneben besteht noch eine Deutsche Angestelltengewerkschaft ( D A G ) , die eine zentrale Einheitsgewerkschaft darstellt, sowie der Deutsche Beamtenbund (DBB) und der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) als Zusammenschlüsse von Verbänden der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bzw. von Berufsverbänden, in denen Mitglieder organisiert sind, die einer Christlichen Richtungsgewerkschaft den Vorzug geben. Auf der Arbeitgeberseite bestehen 46 Fachspitzenverbände, die in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ( B D A ) zusammengeschlossen sind. Sie fungieren teils auf regionaler, teils auf zentraler E b e n e als Tarifkoalitionen. Die erwähnten V e r b ä n d e übernehmen auch Dienstleistungsfunktionen für ihre Mitglieder und bemühen sich — besonders auf der Ebene des Dachverbands — um Einflußnahme auf die Institutionen des politisch-administrativen Systems und die öffentliche Meinung. In der Bundesrepublik Deutschland wurde bereits in den fünfziger Jahren eine intensive Diskussion über die Einflußverteilung zwischen Staat und Verbänden geführt. Auf der einen Seite wurde eine ,Herrschaft der Verbände' über den Staat nicht nur befürchtet, sondern als in Ansätzen bereits gegeben diagnostiziert. Auf der anderen Seite meinte eine Pluralismustheorie, einen gerechten Interessenausgleich als Ergebnis eines freien Spiels der kollektiven Kräfte annehmen zu können. Pluralismustheorie knüpfte damit eng an die mit der Konzeption der Tarifautonomie offiziell verbundene Strategie staatsfreier Konfliktregelung an. Allerdings machte eine Pluralismuskritik deutlich, daß entsprechende Konzeptionen nur dann der Wirklichkeit entsprachen, wenn die widerstreitenden organisierten Interessen die gleiche Stärke hatten. War dies nicht der Fall, konnte das Ziel des gerechten Interessenausgleichs verfehlt werden. Damit war auch die Frage nach den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in den Tarifbeziehungen gestellt. Es lag weiterhin nahe zu ermitteln, ob und in welcher Form der Staat in das Kräfteverhältnis der Koalitionen zueinander tatsächlich eingriff. Gegenstand der Analyse mußte die ,Verrechtlichung' der Koalitionsbeziehungen und Koalitionsstrukturen werden. Es kam aber darauf an, Verrechtlichung nicht mit Vergesetzlichung' gleichzusetzen. Verrechtlichung konnte auch ,Verrichterlichung' (Justizialisierung) sein. Letztere bot sich als eine wirksame Strategie an, weil sie Einflußmöglichkeiten eröffnete, ohne die Vorteile einer offiziellen Abstinenz des politischadministrativen Systems einzubüßen: Der Gesetzgeber konnte sich aus der Konfliktzone heraushalten, die Verrechtlichung fand aber doch statt.
1. Kapitel: Staat und Verbände
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4.2. Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie. D i e organisationssoziologische Perspektive im gesamtgesellschaftlichen Bezug. Für die Analyse der Tarifkoalitionen hatte die Untersuchung von Weitbrecht zur Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie wegweisende Bedeutung 4 . Weitbrecht versuchte, eine Erklärung für die Stabilität der Tarifautonomie zu geben. Die Wirkungsgeschichte dieser Untersuchung zeigt, daß insbesondere die Analyse der internen Funktionsweise der Tarifautonomie rezipiert und in ihrem Ergebnis bestätigt wurde. Weitbrecht ging es allerdings vor allem um die Darstellung und Erklärung von Wechselwirkungen zwischen der internen Funktionsweise und den Rahmenbedingungen der Tarifautonomie: „Was nach außen als Autonomie erscheint, ist wesentlich abhängig von der Art der internen Institutionalisierung und umgekehrt bestimmen die Rahmenbedingungen der Autonomie die interne Institutionalisierung des Konflikts mit" (S. 36). Die Organisationsstrukturen der Tarifkoalitionen sind — so stellte Weitbrecht am Beispiel der metallverarbeitenden Industrie fest - so auszugestalten, daß sich das gesamte System der Konfliktregelung als kompromißfähig und in diesem Sinne als effektiv erweist. Gleichzeitig aber müssen die Verfahren der Kompromißfindung von den Koalitionsmitgliedern anerkannt werden. Sie müssen ihren Vorstellungen von der Legitimität des Verfahrens entsprechen, sich also als verpflichtungsfähig erweisen. Sowohl die interne Effektivität, also die Kompromißfähigkeit als auch die interne Legitimität, also die Verpflichtungsfähigkeit gehören zu den Funktionsvoraussetzungen der Tarifautonomie. Wer allerdings beiden Zielsetzungen gleichzeitig entsprechen will, gerät zunächst in einen Zielkonflikt. Das Dilemma von Legitimität und Effektivität ergibt sich daraus, daß die Kompromißfähigkeit eine weitgehende ,Verhandlungsfreiheit' der Organisationsleitungen voraussetzt, die mit einer realen Partizipation der Verbandsmitglieder unvereinbar ist. U m dennoch einen Legitimitätsglauben zu ermöglichen und Kompromißfähigkeit nicht zu gefährden, werden Organisationsstrukturen eingerichtet, die die Entscheidungs- und Beteiligungsprozesse in der subjektiven Vorstellung der Koalitionsmitglieder integrieren, obwohl sie tatsächlich nebeneinander herlaufen. Als Lösungsstrategie des Zielkonflikts entdeckte Weitbrecht eine Trennung der Entscheidungsprozesse von den Prozessen, die primär der Mitgliederverpflichtung dienen: „Entscheidungsprozessen mit quasi-demokratischer Beteiligung auf der einen Seite müssen also demokratische Beteiligungsprozesse mit Quasi-Entscheidungen auf der anderen Seite entsprechen" (S. 92). Die Tarifautonomie wurde auch im Hinblick auf ihre externe Effektivität und Legitimität untersucht. Externe Effektivität sah Weitbrecht insoweit als gegeben an, wie die Tarifautonomie ihre interne Funktionsfähigkeit bewahrte, also die übernommene Aufgabe der Konfliktregelung gelöst wurde. Externe Legitimität erreicht die Tarifautonomie durch ihre Einbindung in die Wertordnung der Gesamtgesellschaft und durch den immer wieder neu zu erbringenden Nachweis ihrer Überlegenheit gegenüber alternativen Regelungsformen. Die externe Legitimität der Tarifautonomie muß zunächst unter dem Gesichtspunkt ihrer verfassungsmäßigen Legalität beurteilt werden. Weitbrecht hat daraufhingewiesen, daß 4
Weitbrecht, Hansjörg: Effektivität und Legitimität der T a r i f a u t o n o m i e . E i n e soziologische U n t e r s u c h u n g a m Beispiel der deutschen Metallindustrie. Berlin 1969.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
dem Staat im verfassungsrechtlichen Rahmen Eingriffsmöglichkeiten in die Tarifstrukturen zur Verfügung stehen, mit denen er öffentlichen Erwartungen nachkommen kann. Solche,drohenden' Eingriffe können von den Tarifkoalitionen antizipiert werden und somit zu Strukturveränderungen führen. Staatliche Eingriffsmöglichkeiten können also einen , Anpassungszwang' der Koalitionen bewirken, um eine erhöhte Kompromißfähigkeit der Interorganisationsstrukturen etwa durch den Abschluß von Schlichtungsvereinbarungen herbeizuführen. Weitbrecht ging es nicht darum, angesichts staatlicher Eingriffsmöglichkeiten eine,Ultrastabilität' der Tarifautonomie zu behaupten. Er hielt weitergehende Staatseingriffe mit dem Ziel der Veränderung von Tarifstrukturen für denkbar und wies darauf hin, daß die Erfolgskriterien für eine funktionsfähige Tarifautonomie im Zeitablauf variieren. Eine ,gerechte' Einkommensverteilung unterliegt ebenso variablen Angemessenheitsdefinitionen wie die Anforderung, gesamtwirtschaftlich ,richtige' Ergebnisse ohne offenen Konflikt zu erzielen. Die Untersuchung von Weitbrecht ist einmal in der Weise fortgesetzt worden, daß versucht wurde, die mit dem Dilemma von internen Effektivität und Legitimität aufgeworfene Fragestellung auf gesamtgesellschaftliche ,Systemprobleme' zu beziehen. Ebenso wurden Systematisierungen besondere Beachtung geschenkt, die die Koalitionen innerhalb einer Soziologie organisierter Sozialsysteme einzuordnen versuchten und sie als freiwillige Organisationen kennzeichneten. Weiterhin haben die Ausführungen zu den Bedingungen externer Effektivität und Legitimität dadurch eine Fortsetzung erfahren, daß den staatlichen Steuerungsabsichten ebenso differenziert nachgegangen wurde wie den Steuerungsfolgen. Hierdurch wurden Aussagen möglich, die über die Pluralismustheorie hinausgingen. In kritischen Rezeptionen der Befunde über die internen Funktionsbedingungen der Tarifautonomie haben nachfolgende Autoren nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß der Legitimitätsglaube der Koalitionsmitglieder auf einer falschen Einschätzung der Bedeutung ihrer tatsächlichen Beteiligungsrechte beruhte. Es wurde auf die prekäre Grundlage des Legitimitätsglaubens hingewiesen und festgestellt, daß es sich eigentlich um eine ,Legitimation durch Täuschung' handelte. Es ging darum, eine Krise der Tarifautonomie zu entdecken und diese als Systemkrise zu interpretieren. Im Unterschied dazu plädierte Teubner für eine erweiterte Operationalisierung tarifpolitischer Effektivität und Legitimität im Interesse einer stärkeren Berücksichtigung von Mitgliederinteressen 5 . Effektivität müsse zusätzlich als Fähigkeit zur Durchsetzung von Mitgliederintcrcsscn und Legitimität zusätzlich als Fähigkeit definiert werden, in der Interaktion zwischen Mitgliedschaft und Führung Konsens zu erzeugen. Funktionsprobleme der Tarifautonomie werden also hiernach nur adäquat beschrieben, wenn der von Weitbrecht beschriebene Zielkonflikt verdoppelt wird, also Kompromiß- und Verpflichtungsfähigkeit einerseits und Interessendurchsetzungs- und Konsensfähigkeit andererseits als Anforderungen an Organisationsstrukturen von Tarifkoalitionen gestellt werden. Nicht mehr Legitimation durch Täuschung' sondern L e gitimation durch Entscheidungsbeteiligung' heißt dann das geforderte Organisationsprinzip. Vorstellbar ist eine ,Sonderlegitimation der Tarifwillensbildung' et-
5
Teubner, Gunter: Organisationsdemokratie u n d Verbandsverfassung. Rechtsmodelle f ü r politisch relevante V e r b ä n d e . Tübingen 1978.
1. Kapitel: Staat und Verbände
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wa dadurch, daß bisher nur b e r a t e n d e G r e m i e n an der tarifpolitischen Willensbildung maßgeblich beteiligt werden.
4.3. Tarifkoalitionen als freiwillige Organisationen. In der neueren systemtheoretisch orientierten Organisationssoziologie wurden die Tarifkoalitionen als freiwillige Vereinigungen' bzw. als freiwillige Organisationen' eingeordnet 6 , weil die Mitgliedschaft in ihnen - etwa im Unterschied zu den Industrie- und H a n d e l s k a m m e r n — prinzipiell freiwillig ist. Das besondere freiwilliger Vereinigungen besteht darin, d a ß sie einerseits zwar eine ,formale O r ganisation' ausbilden, also durch Mitgliedschaftsrollen verbindliche Erwartungen definieren, d a ß eine solche Rollendifferenzierung die Organisationsleitung aber nicht dazu ermächtigt, die Mitglieder zielindifferent zu motivieren. Vielmehr sind freiwillige Vereinigungen auf Ressourcen angewiesen, die gemeinhin nur bereitgestellt werden, wenn zielbezogen motiviert wird und den Mitgliedern durch demokratische Willensbildungsstrukturen Kontrollbefugnisse eingeräumt werden. Zur freiwilligen Vereinigung gehört ein ehrenamtliches Element. Die Organisationsleitung kann nicht darauf verzichten, daß die Mitglieder bestimmte Ressourcen freiwillig und unentgeltlich zur Verfügung stellen. Allerdings haben sich auch freiwillige Vereinigungen in einer komplexen Umwelt zu behaupten. Dies gelingt zumeist nicht ohne besondere Verwaltungsstäbe, ohne Spezialisierung und Professionalisierung. So benötigen auch Tarifkoalitionen Experten, um L o h n f o r d e rungen begründen bzw. ablehnen zu können, um f ü r den Arbeitskampf bestimmte Gelder wirtschaftlich verwalten und kurzfristig liquidieren zu können, um überhaupt Tarifverhandlungen p r o f e s s i o n e l l ' zu führen. Freiwillige Vereinigungen sind ,gegenstrukturell' organisiert. Formalisierung und Bürokratisierung auf der einen, zielabhängige Motivation und demokratische Willensbildung auf der anderen Seite stehen in einem Spannungsverhältnis. Es ist unentschieden, ob beide Strukturausprägungen koexistieren, oder ob ein Strukturmerkmal auf Kosten des anderen an Bedeutung gewinnt. Auf ähnliche Spannungsverhältnisse wird hingewiesen, wenn Tarifkoalitionen als .freiwillige Organisationen' begriffen werden. Sie erscheinen dann als Mischform aus Merkmalen einer sozialen Bewegung einerseits und einer Arbeitsorganisation andererseits. Soziale Bewegungen gelten als Handlungseinheiten o h n e spezialisierte Koordinationsstrukturen mit normativen personenbezogenen Kontrollmechanismen. In ihnen sind die Interaktionen durch Offenheit und Regelfremdheit gekennzeichnet. Die Arbeitsorganisationen hingegen konstituieren sich nach den Merkmalen .bürokratischer Herrschaft': Die Strukturen sind zweckgerichtet. Die Formalisierung von Verhaltenserwartungen schaltet persönliche Anteilnahme und Spontanietät aus. Die freiwilligen Organisationen kennzeichnet nun eine dualistische Rollenstruktur: Sie bestehen sowohl aus freiwilligen Mitgliedern als auch aus einer Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter, die einen ,Stab', also eine nach bürokratischen Regeln strukturierte Arbeitsorganisation in6
vgl. Horch, Hans-Dieter: S t r u k t u r b e s o n d e r h e i t e n freiwilliger Organisationen: Analyse und U n t e r s u c h u n g einer alternativen Form menschlichen Z u s a m m e n l e b e n s . F r a n k f u r t / M. 1983 sowie Streeck, Wolfgang: Gewerkschaftliche Organisationsprobleme in der sozialstaatlichen D e m o k r a t i e . Königstein/T. 1981.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
nerhalb der freiwilligen Organisation darstellen. Auch in der Rollenstruktur freiwilliger Organisationen ist das Mischungsverhältnis wiederzuerkennen. Die Mitgliederrollen sind stärker formalisiert als die der Anhänger einer sozialen Bewegung, die Funktionärsrollen hingegen enthalten mehr normativ-informelle Elemente als die Rollen der Beamten bzw. Manager einer Arbeitsorganisation. Freiwillige Organisationen benötigen sowohl Beteiligung', d.h. nicht kontraktuell festgelegte Arbeit als auch ,Berufsarbeit' wie sie in typischen Arbeitsorganisationen erbracht wird. Insoweit Beteiligung essentiell ist, sind auch besondere Beteiligungsinstitutionen notwendig: Über die Besetzung von Positionen muß auch durch Wahl entschieden werden. Die oben beschriebenen Dilemmata und Dualismen von Effektivität und Legitimität, von Demokratie und Bürokratie, kehren hier in ähnlicher Form als ,Systemprobleme freiwilliger Organisationen' wieder: Formelle und informelle Strukturen treten gleichzeitig auf, ohne daß ein Strukturprinzip dem anderen von vornherein überlegen ist: „Diese systematische Koexistenz widersprüchlicher Strukturprinzipien und die Notwendigkeit, zwischen ihnen ein stets gefährdetes und ständig revisionsbedürftiges Gleichgewicht zu etablieren, bestimmen den Charakter von Struktur und Prozeß freiwilliger Organisationen" (Streeck, S. 39). Die .Integration von untereinander unverträglichen Strukturformen' ist eine Daueraufgabe, die es innerhalb freiwilliger Organisationen jeweils neu zu lösen gilt.
4.4. Tarifkoalitionen im liberalen Korporativismus. Von besonderer Bedeutung für die moderne sozialwissenschaftliche Analyse der Tarifkoalitionen ist nunmehr, daß Streeck in seiner Analyse den Zusammenhang zwischen den Integrationsproblemen freiwilliger Organisationen und den Formbestimmungen politischer Systeme wieder herzustellen sucht, also an das Weitbrechtsche Postulat eines Zusammenhangs zwischen Verbandsstrukturen und gesellschaftlichen (und staatlichen) Rahmenbedingungen anzuschließen versucht. Die organisationssoziologische Analyse wird mit den Fragestellungen und Befunden einer politischen Soziologie verbunden. Streeck geht es um die Beziehung zwischen den Stabilitätsproblemen des politisch-administrativen Systems und den Integrationsproblemen der Tarifkoalitionen, insbesondere der Gewerkschaften. Es geht ihm darum zu zeigen, wie die Verbände eine gesellschaftliche ,Ordnungsfunktion' erfüllen, indem sie Interessen ausgleichen und Konsens herstellen, ohne gegen übergeordnete Sach- und Systemzwänge zu verstoßen. In der Bundesrepublik Deutschland ist die positive und negative Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert. Die Möglichkeit, in Koalitionen Interessen zu vertreten, ist gewährleistet, allerdings darf niemand gezwungen werden, sich Koalitionen anzuschließen. Eine soziologische Betrachtung ist nun allerdings vor die Aufgabe gestellt, eine solche Freiwilligkeit differenzierter zu erfassen. Welche Beitrittsmotive bestehen, welcher Erfolg ist Mobilisierungsstrategien beschieden? Zu Recht wird auf Modernisierungstendenzen hingewiesen, die die Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich in Gewerkschaften zu organisieren, schwächer werden lassen. In dem Maße, in dem die Grenzen zwischen der Arbeitnehmerschaft und der übrigen Gesellschaft verwischt werden, die Binnendifferenzierungen innerhalb der Arbeitnehmerschaft aber deutlichere Konturen annehmen, verschwinden auch subkulturelle Selbstverständlichkeiten und informelle Gruppenzwänge
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mitsamt ihrer positiven Wirkung für die Organisationsbereitschaft der Arbeitnehmer: Moderne Kommunikations- und Verkehrsmittel erleichtern eine Differenzierung der Lebensräume Arbeit, Wohnen und Freizeit. Wechselnde Kontaktchancen führen zu wechselnden Bezugs- und Kontrollgruppen, die die Voraussetzungen für quasi-selbstverständliche Verbandsmitgliedschaften nicht mehr herstellen können. Sollten Arbeitnehmer in Zukunft zunehmend ,Teleheimarbeit' ausführen, wird sich diese Tendenz sicherlich noch verstärken. Eine gestiegene interkulturelle Mobilität legt außerdem Solidarisierungen nahe, an die die Verbandsorganisation nicht mehr unmittelbar anknüpfen kann. Ein Beispiel hierfür sind Gruppenbildungen entlang ethnischer Merkmale, wie sie für ausländische Arbeitnehmer typisch sind. Uberhaupt findet innerhalb der soziologischen Ungleichheitsforschung neuerdings die These Zustimmung, daß sich Solidarisierungen zunehmend an zugewiesenen' Merkmalen wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Alter orientieren und weniger an erworbenen Merkmalen wie Einkommen und Vermögen. Trifft dies zu, würde es auch Tarifkoalitionen schwerer fallen, Mitglieder zu rekrutieren. Vor allem aber ist auf die Auswirkungen eines technischen und ökonomischen Wandels hinzuweisen, der zu einer neuen Topographie der Arbeit führt. Der technische Wandel gefährdet den Bestand von Berufspositionen, denen eine klassische Affinität zur Arbeiterbewegung nachgesagt wird (Drucker). Der technische Wandel führt weiterhin zu einer größeren Heterogenität der Arbeitnehmerschaft, zu ihrer Polarisierung, ja sogar Segmentierung: Während in den industriellen Kernsektoren der Automobilindustrie, des Werkzeugmaschinenbaus sowie der Chemieindustrie neue Produktionskonzepte Arbeitnehmer zu Produktionsfacharbeitern und Instandhaltungsspezialisten aufsteigen lassen, werden andere Arbeitnehmer in denselben Branchen durch Kollektivvereinbarungen kaum vor sozialem Abstieg geschützt. Vor allem aber gibt es in krisenbestimmten Branchen eindeutige Rationalisierungsverlierer, die durch Betriebsstillegungen nachteilig betroffen sind. Sofern berufliche Mobilität einen Ausweg darstellt, können solche ,Berufspositionen im Transfer' kaum noch gemeinschaftsbildend wirken und Verbandssolidarität nahelegen. Gefordert ist ja gerade eine Mobilitätsbereitschaft,die eine Distanz zur konkreten Berufstätigkeit voraussetzt. In dem Maße, in dem die Bereitschaft, sich Verbänden anzuschließen aus Traditionen entlassen wird und ihr nicht Affekte oder Gefühlslagen zur Verfügung stehen, unterliegt sie zunehmend einem rationalen Kalkül: Die Leistungen von Verbänden werden als Güter angesehen, die es nur zu erwerben lohnt, wenn der mit ihnen verbundene Nutzen die Kosten übersteigt, die der Erwerb dieser Güter verursacht. Unter dieser Perspektive werden nun die Verbandsleistungen daraufhin geprüft, ob sie Nicht-Mitgliedern vorenthalten bleiben oder ob sie — in der Terminologie von Olson —,Kollektivgüter' werden. In diesem Fall stehen sie auch denen zur Verfügung, die vom Verband repräsentiert werden könnten, tatsächlich aber keine Verbandsmitglieder sind. Kollektivgüter stellen keinen Nutzen dar, der exklusiv an Verbandsmitgliedschaft gebunden ist. Von ökonomischen Kalkülen geleitetes Handeln wird nur dann an der Produktion eines kollektiven Gutes durch Verbandsmitgliedschaft mitwirken, wenn es tatsächlich einen Unterschied macht, ob die Beteiligung eines Einzelnen erfolgt oder nicht. Ist die Zahl derer, die zur Verwirklichung eines Verbandsziels beitragen, sehr groß, so ist der Nutzen,
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der durch die zusätzliche Beteiligung eines weiteren Verbandsmitglieds entstehen könnte, nicht e r k e n n b a r . Es wäre unvernünftig, sich einem Verband anzuschließen und d a f ü r O p f e r zu bringen. Wer einem solchen individualistischen Rationalitätskalkül folgt, bleibt ,Trittbrettfahrer', d.h. er vermeidet es, Verbandsmitglied zu werden. Die V e r b ä n d e versuchen deshalb, potentiellen Mitgliedern selektive Anreize zu bieten, um ihnen etwa mit exklusiven Dienstleistungen die Mitgliedschaft schmackhaft zu machen 7 . In der m o d e r n e n Verbandsforschung wird die These vertreten, d a ß G e w e r k schaften in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften dem Problem ausgesetzt sind, d a ß die A r b e i t n e h m e r zwar ihre Arbeit weitgehend unterstützen, es ihnen aber an Bereitschaft dazu fehlt, Mitglieder zu werden, weil die Gewerkschaften in h o h e m M a ß e Kollektivgüter produzieren. Die Gewerkschaften versuchen nun, d r o h e n d e n Organisationskrisen durch Mitgliederverluste und ein zu geringes Beit r a g s a u f k o m m e n vor allem dadurch zu entgehen, daß sie staatliche Organisationshilfen nachfragen. D e m entspricht das politisch-administrative System, da es sich insbesondere von den Arbeitnehmerverbänden eine bessere Durchsetzung der eigenen Interessen verspricht. Wenn etwa als Lohnleitlinien formulierte einkommenspolitische Zielgrößen zu Tarifnormen werden, können diese entlang der Strukturen einer freiwilligen Organisation in der Regel besser durchgesetzt werden als dies f ü r Rechtsnormen gilt, hinter denen ausschließlich staatliche Zwangsmittel stehen. Eine solche liberal-korporativistische Kooperation hat also zunächst zur Voraussetzung, daß beide Seiten sich von einem solchen Kompensationsgeschäft Vorteile versprechen. W e n n ein solches Tauschverhältnis auf D a u e r gestellt w e r d e n soll, sind besondere A n f o r d e r u n g e n an die Verbandsstrukturen gestellt. Die V e r b ä n d e müssen sich auf ihre intermediäre Funktion strukturell ausrichten: Sie müssen von Mitgliederinteressen soweit unabhängig sein, d a ß ihnen die Durchsetzung systemspezifischer Stabilitätsbedürfnisse gelingt. Dies setzt eine zentralisierte Entscheidungsstruktur und einen stark professionalisierten Verbandsstab voraus. Gleichzeitig aber müssen V e r b ä n d e weiterhin in der Lage sein, Konsens zu beschaffen, damit Lohnleitlinien als Tarifnormen tatsächlich Geltung erfahren. Die These von der liberal-korporativistischen Kooperation lenkt den Blick zunächst auf staatliche Maßnahmen, die Einfluß auf die Entscheidung für oder gegen den Verbandsbeitritt haben. Zunächst ist festzustellen, daß Rechtsnormen Einfluß darauf n e h m e n , ob Verbandsleistungen den Mitgliedern vorbehalten bleiben oder zu Kollektivgütern werden. So ist die Möglichkeit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifabschlüsse eine wichtige Voraussetzung dafür, d a ß die unabdingbaren Tarifnormen auch für diejenigen Geltung b e k o m m e n konnten, die keine Verbandsmitgliedschaft a u f g e n o m m e n haben. Ü b e r h a u p t stellt die Entwicklung der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zu Tarifpartnern eine V e r m i n d e r u n g der Beitrittsanreize dar, weil Arbeitskämpfe seltener werden und auch die D a u e r der Zeiten abnimmt, in denen die Arbeitgeber und A r b e i t n e h m e r davon profitieren können, d a ß ein Teil ihrer Beitragszahlun7
Olson, M a n c u r : Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie d e r G r u p p e n . Tübingen 1968. w e i t e r f ü h r e n d hierzu: Keller, Berndt: Individualistische Sozialwissenschaft. Z u r Relevanz einer Theoriediskussion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. H. 1 1983. S. 6 0 - 8 2
1. Kapitel: Staat und Verbände
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gen in Arbeitskampffonds eingezahlt wurde, aus denen dann im Streik- bzw. Aussperrungsfall ihr Lebensunterhalt bestritten wird. In der Bundesrepublik Deutschland haben insbesondere die richterrechtlichen Eingriffe in die Arbeitskampftätigkeit dazu beigetragen, daß die Streikhäufigkeit gering blieb. Mit einem Arbeitskampf dürfen ausschließlich tariflich regelbare Ziele verfolgt werden, politische Streiks sind also verboten. Arbeitskämpfe sollen auch nur dann stattfinden, wenn alle anderen Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Sie sollen die ,ultima ratio' in der Auseinandersetzung darstellen. Seit dem Beginn der siebziger Jahre bestimmt zudem das Gebot der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) die richterrechtliche Normierung der Arbeitskampftätigkeit. Dadurch wurde die Reichweite der Arbeitskampfmaßnahmen weiter eingeschränkt. Die Versuche der Gewerkschaften, ihre tarifpolitischen Leistungen selektiv auf Mitglieder zu begrenzen, sind auf den Widerstand der Rechtssprechung gestoßen. Tarifvertragliche Vereinbarungen, die Gewerkschaftsmitglieder gegenüber unorganisierten Arbeitnehmern besser stellen wollten, wurden als rechtswidrig eingestuft, weil sie ,Differenzierungsklauseln' enthielten, die nach Meinung der Rechtsprechung dem Prinzip der negativen Koalitionsfreiheit widersprechen. Während solchen Rechtnormen also die Wirkung zugesprochen werden kann, daß sie vor allem die gewerkschaftlichen Organisationsbedingungen erschwert haben, lassen sich anderen Rechtsnormen gegenteilige Wirkungen zuschreiben. Diese Rechtsnormen haben dann auch dazu geführt, daß sich in der Verbandsforschung ein Paradigmenwechsel von der Pluralismustheorie zu neo-korporativistischen Konzeptionen vollzog. Um diese Rechtsnormen angemessen würdigen zu können, ist zunächst zu betonen, daß Koalitionen besondere Voraussetzungen erfüllen müssen, um zu tariffähigen Koalitionen zu werden. In der Weimarer Republik definierte das Reichsarbeitsgericht im Jahre 1928 bereits solche unerläßlichen Voraussetzungen für Arbeitnehmerverbände: Koalitionen mußten eine dauerhafte organisatorische Einheit darstellen. Sie mußten von der Arbeitgeberseite finanziell unabhängig sein und eine reine Arbeitnehmerorganisation darstellen. Zudem mußte ihre Zielsetzung allein auf die Vertretung wirtschaftlicher Mitgliederinteressen ausgerichtet sein. In der Bundesrepublik Deutschland hat die Rechtsprechung diese Kriterien als Voraussetzung für die Tariffähigkeit aufgegriffen und Gegnerfreiheit, Gegnerunabhängigkeit sowie Überbetrieblichkeit als notwendige Bedingungen dafür formuliert, daß freiwillige Verbände Tarifkoalitionen werden konnten. Hinzu kam allerdings das Anforderungsmerkmal einer sozialen Mächtigkeit'. Als Tarifkoalitionen anerkannte Arbeitnehmerverbände sollten also in der Lage sein, einen wirksamen Druck auf die Gegenseite auszuüben. Die Wirkung dieses Anforderungsmerkmals besteht aber sicherlich auch darin, daß am Arbeitsmarkt etablierte Verbände davor bewahrt werden, durch spontane Neugründungen Konkurrenz zu bekommen, oder sich mit solchen Verbänden auseinandersetzen zu müssen, die zwar Tradition haben, denen es aber an Mitgliedern fehlt, um gegenüber der Rechtsprechung ,Mächtigkeit' nachzuweisen. In der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften im D G B und den Christlichen Gewerkschaften hat die Barriere der sozialen Mächtigkeit eine erhebliche Rolle gespielt. Hinzu kommt, daß der Gesetzgeber im Rahmen der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 die Befugnisse des Betriebsrats bei der Einstellung von Arbeitnehmern erweiterte. Da im dualen System der Interessenvertretung die Be-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
triebsräte tatsächlich zumeist ,vergewerkschaftlicht' sind, nehmen diese ihre erweiterten Befugnisse häufig zum Anlaß, die negative Koalitionsfreiheit tatsächlich einzuschränken und im Interesse gewerkschaftlicher Organisationssicherung den A r b e i t n e h m e r n n a h e zu legen, Verbandsmitgliedschaft parallel mit d e m Eintritt in den Betrieb aufzunehmen. Im Sinne einer Bevorzugung etablierter D G B G e w e r k s c h a f t e n wirkt auch die Vorschrift des § 14 B e t r V G , indem vorgeschrieben wird, d a ß Wahlvorschläge zum Betriebsrat von mindestens 1/10 der wahlberechtigten Gruppenangehörigen unterzeichnet sein müssen. W e r d e n nun alle Belegschaftsangehörigen nachdrücklich aufgefordert, einen bestimmten Wahlvorschlag zu unterzeichnen, entfällt die Möglichkeit weiterer Kandidaturen, sobald m e h r als 9 0 % der wahlberechtigten A r b e i t n e h m e r einem entsprechenden Vorschlag zugestimmt haben. Auch die gesetzlich verfügte E r h ö h u n g der Anzahl der freigestellten Betriebsräte kommt durch die rechtlich normierten Wahlverfahren in erster Linie den Betriebsräten zugute, die Mitglieder der im D G B zusammengefaßten Industriegewerkschaften sind. Die Kompensationsgeschäfte zwischen dem politisch-administrativen System und den G e w e r k s c h a f t e n werden dem liberal-korporativistischen Erklärungsansatz zufolge, auch von den Arbeitgebern und ihren Verbänden begrüßt, f ö r d e r n sie doch die Effektivität der Tarifautonomie. Werden einkommenspolitische Zielsetzungen mit Hilfe neo-korporativistischer Strukturen erreicht, sind geringere Lohnzuwächse und vor allem ein Verzicht auf A r b e i t s k a m p f m a ß n a h m e n zu erwarten. D e r These einer Etablierung liberal-korporativistischer Strukturen wird dann b e s o n d e r e Plausibilität zugesprochen, wenn auf gesetzlicher Grundlage G r e m i e n eingerichtet werden, die einem Interessenausgleich zwischen dem politisch-administrativen System und den Verbänden dienen sollen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft aus d e m Jahre 1967 eine k o n z e r t i e r t e A k t i o n ' gebildet. Diese sollte der Verhaltensabstimmung zwischen staatlichen Instanzen und den V e r b ä n d e n dienen. Wurden Übereinstimmungen erzielt, waren diese allerdings o h n e formale Verbindlichkeit f ü r die rechtsgültigen Tarifabschlüsse. Die tatsächliche Wirksamkeit der konzertierten Aktion wird unterschiedlich beurteilt. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß sich ihr Einfluß auf das wirtschaftliche H a n d e l n nicht isolieren läßt. Vor allem ist selbstverständlich auch unbekannt, wie die wirtschaftliche Entwicklung ohne die konzertierte Aktion verlaufen wäre. Allerdings zeigt die Entwicklung der tarifpolitischen Auseinandersetzungen am E n d e der sechziger Jahre, daß Lohnabschlüsse, die hinter dem zurück bleiben, was G e w e r k schaften beim vollen Einsatz ihrer K a m p f k r a f t dem Tarifgegner hätten abtrotzen können, Legitimationsprobleme aufgeben. Verzögerungen der Anpassung der A r b e i t n e h m e r e i n k o m m e n an Gewinnsteigerungen folgten im Herbst 1969 spontane A r b e i t s k a m p f m a ß n a h m e n mit dem Ziel, Lohnrückstände auf Betriebsebene aufzuholen. Solche ,wilden Streiks' verdeutlichen, daß die A r b e i t n e h m e r nur schwer davon zu überzeugen sind, d a ß es richtig ist, wenn ihre Interessenvertreter bei Tarifverhandlungen maßvolle Lohnabschlüsse akzeptieren, weil es ein G e meinwohl' verlangt und Rechtsnormen in Aussicht stehen, die den V e r b ä n d e n die Organisationssicherung erleichtern.
1. Kapitel: Staat und Verbände
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4.5. Von der Korporativismuskritik zum Abschied von der Tarifautonomie? Diejenigen Argumentationsformen, die die Beziehungen zwischen d e m politischadministrativen System und den Tarifkoalitionen in der Bundesrepublik Deutschland mit d e m Korporativismusbegriff erklären wollen, behalten Thesencharakter. O b zeitgleiche Normierungen — maßvolle Tarifabschlüsse und organisationsfreundliche Rechtsnormen — tatsächlich Ergebnisse von Kompensationsgeschäften waren, denen möglicherweise sogar Verhandlungen voraus gingen, bleibt offen. Solche methodischen Bedenken zum Trotz erhielt das korporativistische Deutungsmuster der Beziehungen zwischen dem politisch-administrativen System und den Verbänden Bestätigung, allerdings in anderer Absicht, als dies ursprünglich der Fall war. W ä h r e n d das Korporativismusparadigma der sozialwissenschaftlichen Verbandsanalyse zunächst dazu gedient hatte, die Leistungsfähigkeit eines Steuerungsverbunds zwischen Staat und V e r b ä n d e n zu betonen, verkehrte sich diese Absicht n u n m e h r in ihr Gegenteil. Ein grundlegender technologischer Wandel verhalf in den siebziger Jahren Rationalisierungskonzeptionen zur Durchsetzung, denen eine d a u e r h a f t e Beschäftigungskrise folgte. Allerdings waren die A r b e i t n e h m e r hiervon unterschiedlich betroffen. Es zeigten sich insbesondere Trennungslinien zwischen einer gewerkschaftlich gut organisierten und entsprechend durchsetzungsfähigen Kern- bzw. Stammbelegschaft, den weniger einflußreichen disponiblen Randarbeitern und schließlich den zahlenmäßig zun e h m e n d e n arbeitsfähigen Personen ohne Erwerbstätigkeit. Diese Entwicklung gab A n l a ß dazu, einen ,selektiven' bzw. ,segmentären' Korporatismus aufzuspüren, durch den sich also Kernbelegschaften auf Kosten anderer A r b e i t n e h m e r gruppen gegen Benachteiligungen abzuschotten versuchten. Die Frage nach der Effektivität der Tarifautonomie wurde mit Hilfe eines kritisch gewendeten Korporatismusbegriffs neu gestellt, wobei es nahe lag, externe und interne Effektivität in Z u s a m m e n h a n g zu bringen, also auch die herkömmlichen Verbands- und Verhandlungsstrukturen der Tarifkoalitionen zu problematisieren 8 . Nicht allein .kritische' Sozialwissenschaftler griffen den Korporativismusbegriff auf, um dem politisch-administrativen System und den etablierten Tarifkoalitionen Verantwortlichkeiten für unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungen aufzubürden. Marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftswissenschaftler klagten einen .defensiven' Korporativismus an, indem Tarifkoalitionen zu Kartellen, ja zu Z ü n f t e n erstarrt seien und Arbeitslose keine echten Sachwalter hätten 9 . Rechtswissenschaftler beobachten einen „Funktionswandel in der Tarifautonomie" 1 0 oder fordern sogar einen „Abschied von der T a r i f a u t o n o m i e " ' 1 , um den Vorteilen
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Esser, Josef: G e w e r k s c h a f t e n in d e r Krise. Die Anpassung der deutschen G e w e r k s c h a f ten an n e u e W e l t m a r k t b e d i n g u n g e n . F r a n k f u r t / M . 1982 sowie Brandt, G. u. O. Jacobi u. W. Miiller-Jentsch: A n p a s s u n g an die Krise: G e w e r k s c h a f t e n in den siebziger J a h r e n . F r a n k f u r t / N e w York 1982 Giersch, Herbert: Die C h a n c e des Korporativismus. In: Wirtschaftswoche Nr. 37, 1985, S. 36 Rüthers, Bernd: Funktionswandel in der T a r i f a u t o n o m i e . In: Die Z u k u n f t der sozialen Partnerschaft. Veröffentlichungen der W a l t e r - R a y m o n d - S t i f t u n g Bd. 24. Köln 1985, S. 43-66 Adomeit, Klaus: Abschied von d e r Tarifautonomie. In: Ders.: D a s Arbeitsrecht und unsere wirtschaftliche Z u k u n f t . München 1985. S. 32—39
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des Preissystems unbehindert durch rechtliche Normierungen zur Durchsetzung zu verhelfen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern also zu erlauben, Marktchancen zu ergreifen, anstatt es einem kollektiven Verhandlungssystems zu erlauben, einen Teil von ihnen auszugrenzen. Letztlich werde es zur Bestandsbedingung der Tarifautonomie, der Forderung nach Differenzierung und Flexibilisierung nachzukommen, da sich ansonsten der Bereich der Schattenwirtschaft immer weiter ausdehne und den Geltungsbereich der Tarifautonomie verkleinere. Zusätzlich wird auch auf die ambivalente Wirkung von Arbeitsrechts- und Tarifnormen hingewiesen, die Arbeitsschutz gewährleisten sollen. Kündigungsschutzbestimmungen erschweren die Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Beschäftigten, verringern aber damit zugleich die Beschäftigungschancen derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben. Hinzu kommt, daß solche Schutznormen konzentrationsfördernde Wirkung haben, da es Klein- und Mittelbetrieben häufig nicht möglich ist, die Kosten arbeits- und tarifrechtlicher Interventionen aufzufangen. Rechtsnormen, die geschaffen wurden, um die nachteiligen Folgen abhängiger Beschäftigung zu begrenzen, schufen damit Voraussetzungen für eine Marktstruktur, aus der neue Abhängigkeiten resultierten 12 . Rechtsnormen sollen nicht nur dazu beitragen, Ausgrenzungseffekte von Tarifnormen vermeiden zu helfen und paradoxe Wirkungen von Schutznormen zu unterbinden, sie werden darüber hinaus auch für geeignet gehalten, wirtschaftlich nachteilige Wirkungen von Arbeitskämpfen abzuschwächen. Eine Reihe von Vorschlägen ist darauf gerichtet, tradierte Verfahrensnormen der Tarifautonomie außer Kraft zu setzen: Tarifnormen sollen aufhören, unabdingbare Wirkungen zu haben; die Möglichkeit mit Hilfe der Allgemeinverbindlichkeitserklärung Tarifnormen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer außerhalb des Tarifbereichs auszudehnen, soll ausgeschlossen werden. Andere Empfehlungen richten sich auf den Inhalt der Tarifvereinbarungen, durch den Eingangslöhne herabgesetzt bzw. kleine und mittlere Betriebe besonders berücksichtigt werden. Grundsätzlich werden Öffnungsklauseln für geeignet gehalten, Tariflohnsätze nach Branchen, Regionen, Qualifikationsgruppen oder Betriebsgrößen zu differenzieren. Vorschläge, die sich auf eine ,Hebung der Streikschwelle' richten, sind besonders an ausländischen Vorbildern orientiert: So wird etwa nach dem Vorbild eines Abkommens in der Schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie die Einrichtung von paritätisch besetzten Schlichtungsstellen gefordert, die einen Schiedsspruch fällen können, unter den zu unterwerfen sich die Tarifpartner vorher vertraglich verpflichten. Ein Anrufungs- und Einlassungszwang soll also mit einem vertraglich vereinbarten Unterwerfungszwang gekoppelt werden. Noch weiter geht ein Vorschlag, der den Tarifpartnern nach dem Vorbild entsprechender Rechtsnormen in den USA eine , Abkühlungsphase' rechtlich vorschreiben will, durch die dann laufende Arbeitskämpfe unterbrochen werden und von den Verhandlungspartnern zu Schlichtungsversuchen genutzt werden können. Ebenfalls dem nordamerikanischen Vorbild entlehnt sind Vorstellungen, die ein tatsächlich bestehendes Vertretungsmonopol .mächtiger' Verbände nur hinnehmen wollen, wenn diese einer Konstitutionalisierung unterworfen werden. Dem rechtlich sanktionierten Repräsentations- und Verhandlungsmonopol sei eine ,duty of fair representation' an die 12
Simitis, Spiros: Zur Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen. In: Friedrich Kübler (Hrsg.): Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität. Baden-Baden 1984, S. 7 2 - 1 6 5
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Seite zu stellen, demokratische Verbandsstrukturen seien rechtlich verbindlich zu machen. Noch weiter gehen Vorschläge, die die Kartellanalogie bei der Beschreibung der Wirkung von Tarifkoalitionen aufgreifen, um eine staatliche Kontrolle eines vermeintlichen Kartellmißbrauchs zu fordern. Allerdings: Solche Rechtsnormen haben wenig Chancen, gegen den Willen der Tarifkoalitionen durchgesetzt werden zu können. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß nicht nur die Gewerkschaften rechtlichen Interventionen zur Veränderung der Tarifstrukturen ablehnend gegenüberstehen. Auch die Vertreter von Arbeitgeberverbänden warnen vor einer ,Atomisierung der Tarifpolitik' und betonen, daß Tarifverträge ihre Ordnungsfunktion nur ausüben könnten, wenn das geltende Tarifrecht erhalten bleibe. Sie warnen vor dem Schaden, den eine permanente Lohndiskussion und eine Aufsplitterung der Koalitionen anrichten könnte. Die Diskussion über Veränderungen in den Tarifstrukturen, die vom politischadministrativen System ausgehen, und geeignet sein können, eine nach-korporativistische W e n d e einzuleiten, sind insbesondere auf die Wirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes und des § 116 A F G gerichtet. Insbesondere werden die behaupteten Wirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes in Zweifel gezogen und diesen Rechtsnormen unterstellt, lediglich eine Beendigung des für den Arbeitnehmerstatus unentbehrlichen Normalarbeitsverhältnisses betreiben zu wollen 13 . Die Neufassung des A F G schließt lediglich aus, daß Arbeitslosengeld an mittelbar betroffene Arbeitnehmer außerhalb des räumlichen, aber innerhalb des fachlichen Bereichs des umkämpften Tarifvertrags gezahlt wird, wenn für den räumlichen Geltungsbereich eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang annähernd gleich ist. Ob sich hieraus eine stärkere Diversifikation der gewerkschaftlichen Tarifforderungen ergeben wird bleibt fraglich, ebensowenig können regional differenzierte Verhandlungsergebnisse erwartet werden. Die aufwendige Diskussion über diese Gesetzesbestimmungen hat von Veränderungen abgelenkt, die auf dem Wege richterrechtlicher Normierungen erfolgten. Die Rechtsprechung scheint nunmehr eher bereit zu sein, einen Pluralismus tariffähiger Gewerkschaften zuzulassen und das Mächtigkeitskriterium als Voraussetzung für die Tariffähigkeit zu relativieren. Hiervon profitierte bereits ein Verband leitender Angestellter sowie eine Christliche Gewerkschaft. Ob und inwieweit hierdurch Veränderungen in den Tarifstrukturen eingeleitet werden, die durch einen stärkeren Minderheitenschutz auf dem Wege einer beabsichtigten Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes flankiert werden könnten, bleibt abzuwarten. Allerdings fällt es schwer, dem Argument, im Falle eines Gewerkschaftspluralismus drohe Überbietungskonkurrenz, bedingungslos zuzustimmen, wenn man berücksichtigt, daß die Forderungen der zu Tarifverhandlungen neu zugelassenen Gewerkschaften nach Art und H ö h e zumeist näher bei den Angeboten der Arbeitgeberverbände liegen als dies bei DGB-Gewerkschaften der Fall ist. Flexibilisierung und Differenzierung müssen also vor allem von den Tarifkoalitionen bzw. ihren Mitgliedern selbst herbeigeführt werden. Hierbei ist es aller' 3 Mückenberger, Ulrich: Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses - Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft? In: Zeitschrift für Sozialreform. H. 7 u. 8. 1985, S. 4 1 5 - 4 3 4 u. 4 5 7 - 4 7 5
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dings von Bedeutung, ob Flexibilisierung und Dezentralisierung vermieden werden, weil Verbandsleitungen einen Kompetenztransfer auf die Betriebsebene fürchten. Die wirtschaftliche und sozialpolitische Dimension der Auseinandersetzung um die Inhalte von Tarifnormen wird durch eine Auseinandersetzung um die richtige Regelungsebene ergänzt, in der sich innerorganisatorische Autoritätsprobleme wiederspiegeln. Es bleibt abzuwarten, ob Veränderungen ausbleiben, weil erfolgreich auf die jeweilige .Ubermacht' der Gegenseite hingewiesen wird, um damit zentralisierte Herrschaftsstrukturen auf Dauer zu stellen.
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2. Kapitel Wirtschaftlicher Wandel und politisch-administratives System 1. Auf dem Weg in die Postmoderne: Zwischen heiler Welt und Apokalypse Im Jahre 1967 veröffentlichten die amerikanischen Zukunftsforscher Herman Kahn und Anthony J. Wiener ein Buch mit dem beziehungsreichen Titel: ,Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahr 2 0 0 0 ' I n ihrer umfangreichen Arbeit kommen die Forscher unter anderem zu folgenden Ergebnissen: (1) Die hochindustrialisierten Nationen stehen am Beginn einer Epoche allgemeiner wirtschaftlicher und politischer Stabilität. (2) Das internationale Wirtschaftssystem wird durch erfolgreiche Weltorganisationen bestimmt, die für Fortschritt und Wohlfahrt arbeiten. Merkmale einer künftigen integrierten Welt „sind erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit, ein allgemeines Gefühl des Fortschritts und eine gelungene Unterordnung der Politik unter die Wirtschaft und die Werte der Vernunft und Menschlichkeit." 2 Nur fünf Jahre später kommt die erste Studie des Club of Rome, ,Die Grenzen des Wachstums' 3 , zu ziemlich genau dem gegenteiligen Ergebnis: Der globale Entwicklungs- und Industrialisierungsprozeß wird zum Ende des Jahrhunderts an absolute Wachstumsgrenzen stoßen und damit gleichsam den Kollaps des Weltsystems auslösen. (1) Der Zusammenbruch des Weltsystems wird zwangsläufig erfolgen - und er ist eine Konsequenz des technisch-ökonomischen Fortschritts. Das exponentielle Wachstum kann deshalb nicht unbegrenzt weitergehen. (2) Der Kollaps läßt sich nur durch bewußten Übergang zu einem Zustand weltweiten Gleichgewichts verhindern. Rückbesinnung auf die Begrenztheit des .Raumschiffs Erde' enthält keine Verheißung mehr auf ein nahes Zeitalter des Massenkonsums für die Menschheit. Im Gegenteil: Gefordert werden weltweite Askese, Rationierung, Planung und Steuerung, damit über kurz oder lang ein menschenwürdiges Dasein überhaupt noch möglich sein wird. Bereits heute erscheinen die — optimistischen oder pessimistischen - Visionen der Futurologen merkwürdig veraltet und überholt. Der Grund: Neue, in der Gegenwart noch nicht angelegte Entwicklungen können aus systemimmanenten
' Kahn, H.; Wiener, A.J.: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Reinbek b. Hamburg 1971 (deutsche Ausgabe). 2 Ebenda, S. 141. 3 Meadows, D. u.a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of R o m e zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. Zu den verschiedenen Folgestudien vgl. Grün, J., Wiener, D., Global denken - vor Ort handeln, Freiburg i. Br. 1984.
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Gründen nicht in die Zukunftsprognosen einbezogen werden. Die Zukunftsforschung erscheint so in der Phantasielosigkeit ihrer Visionen als große Apologetik der jeweiligen Gegenwart.
2. Zur Dynamik der spätindustriellen Gesellschaft Da unsere Phantasie der Zukunft gegenüber versagt, müssen wir uns darauf beschränken, einige Entwicklungslinien der Gegenwart herauszuarbeiten. Zunächst und vor allem: Die spätindustrielle oder—je nach Erkenntnisinteresse — spätkapitalistische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Wandel und Expansion. „Der Kapitalismus ist . . . von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung und ist nicht nur nie stationär, sondern kann es auch nicht sein." 4 • Kapitalismus meint zunächst und vor allem die Institutionalisierung eines spezifischen Wertesystems, in dem Sekundärtugenden wie ,Sachlichkeit', L e i stung' und ,Effizienz' vorherrschen. Der „Geist des Kapitalismus" (M. Weber) ist geprägt durch wissenschaftlich-technische Zweckrationalität, die zum Motor einer ständigen Revolutionierung des Wirtschaftsprozesses wird. Die Wirtschaft erscheint dabei als ein in sich werthafter Bereich mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. • Der ständige Zwang zur Rationalisierung, Kostensenkung und Expansion manifestiert sich im Einsatz einer fortwährend autonomeren Technologie bei der Gütererzeugung. Auf die Werkstattmaschine folgt das Fließband. Die nächste technische Generation ist der Automat, die sich selbst steuernde Maschine im Zuge der dritten industriellen Revolution. • Unter Einsatz wachsender Kapitalmassen wird menschliche Arbeitskraft von der Agrar- und Industriewirtschaft in den Dienstleistungssektor verlagert - ein Prozeß, der bisweilen als „große Hoffnung des 20. Jahrhunderts" 5 betrachtet wird. So stieg der Anteil der Erwerbstätigen im tertiären (Dienstleistungs-) Sektor in der Bundesrepublik von 33 Prozent (1950) auf 50 Prozent (1985) fi . • Die Entlastung der Gesellschaft durch Maschinenautomaten dokumentiert sich in bis dahin ungeahnten Steigerungen des Lebensstandards und wachsender Freizeit. In Zahlen: Von 1870 bis 1945 wächst das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland real von 1.552 DM auf 4.167 DM. In der Nachkriegszeit hingegen explodiert es förmlich von 4.167 (1945) auf 15.463 D M (1985) - bei erheblichem Rückgang der Wochenarbeitszeit 7 . • Die Kehrseite der Medaille: Erzwungene Mobilität und Freisetzung von Arbeitskräften; sprich technologische Arbeitslosigkeit. Drohende soziale Abstiegsprozesse sollen durch flexible Anpassung menschlicher Arbeitsqualifikation an einen unbefragten technisch-ökonomischen Fortschritt aufgefangen
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S c h u m p e t e r , J.: Kapitalismus, Sozialismus und D e m o k r a t i e , 2. Aufl., Bern 1950, S. 136. Fourastie, J.: D i e g r o ß e H o f f n u n g des zwanzigsten J a h r h u n d e r t s , 2. Aufl., Köln 1969. Vgl. Floren, F.J.: G r u n d k u r s Wirtschaftspolitik, P a d e r b o r n 1986, S. 85. Vgl. Maddison, A.: P e r Capita O u t p u t in t h e Long R u n , in: Kyklos, Vol. 32, 1979, S. 4 2 5 ff. u n d J a h r e s g u t a c h t e n 1986/87 des Sachverständigenrates zur B e g u t a c h t u n g der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, B T - D r u c k s a c h e 1 0 / 6 5 6 2 , Bonn 1986, S. 226 (umg e r e c h n e t auf D M zu Preisen von 1970).
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werden. Dennoch bleibt wahr: Die spätindustrielle Gesellschaft kann bei der Produktion ihres materiellen Reichtums auf 7—10 Prozent ihrer Arbeitskräfte verzichten 8 . Die fortlaufende Expansion und Automatisierung der Produktion weiten den betrieblichen Bestand an Maschinenkapital enorm aus. Die Folgen: Eine wachsende Unternehmenskonzentration in nahezu allen Wirtschaftsbereichen und die Entstehung großer Konzerne, die zunehmend transnationale Aktivitäten entfalten. Die Umsätze der neuen „Elefanten der Weltwirtschaft" (H. Arndt) übersteigen die staatlichen Etats ihrer ,Mutterländer' bisweilen beträchtlich von den Budgets der Gastländer ganz zu schweigen 9 . Anders ausgedrückt: Das goldene Zeitalter des Konkurrenzkapitalismus (von dem unter Wirtschaftshistorikern umstritten ist, ob es je existierte) wird zunehmend abgelöst durch einen organisierten Kapitalismus, dem die Existenz relativ weniger Oligopolunternehmen den Stempel aufdrückt. Die Folgen dieser Entwicklung liegen auf der Hand. Nach außen zwingt der steigende Kapitaleinsatz automatisierter Fertigungsverfahren die Großunternehmen zur konstanten Auslastung ihrer Kapazitäten. Um die Risiken verlustreicher Absatz- und Beschäftigungseinbrüche möglichst auszuschalten, sind Großkonzerne gezwungen, sich von den eher zufälligen Schwankungen der Nachfrage und der Preise auf Konkurrenzmärkten zu emanzipieren': Planung der Preise und der Investitionen sowie der gezielte Einsatz eines wachsenden Werbeapparats werden zu unverzichtbaren Bedingungen des Überlebens. In der internen Machtstruktur des Großunternehmens schließlich wird der bürgerliche dynamische Unternehmer abgelöst durch kollektive Führungsgremien, besetzt mit einer angestellten Managerklasse. Egal, o b nun „Unternehmen mit Herz" (C. Kaysen) oder „kapitalistische Krisenmacher" (R.J. Barnet), die Verfügungsmacht über große Kapitalmassen und zahlreiche Arbeitskräfte führt dazu, daß große Konzerne nicht mehr als rein private Veranstaltung begriffen werden. Die unzulängliche Fähigkeit großer Unternehmen, sich an nachhaltige Nachfrageeinbrüche anzupassen, zwingt den Staat zur wirtschaftspolitischen Intervention. In spätindustriellen Gesellschaften (möglicherweise auch des realen Sozialismus) wird die Legitimation des Regierungsapparats von der staatlichen Garantie wirtschaftlicher Stabilität abhängig. Im Zeichen einer erstarkten Arbeiterschaft werden Wirtschaftskrisen mit dem Entzug politischer Unterstützung sanktioniert; die Regierung muß, um zu überleben, die partikularen Interessen organisierter Wählergruppen befriedigen und den Wirtschaftsprozeß auf hohem Niveau stabilisieren. Damit wird die historisch überkommene Trennung von Wirtschaft und Politik immer fragwürdiger. So steigt der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt schubweise von 8,7Prozent (1881) über 20,6 Prozent (1925) auf 32,7 Prozent (1985) 1 0 . Mittlerweile gehört die Subventionierung notleidender Wirtschaftszweige ebenso zum bereits klassischen Aufgabenbereich des Staates wie die
Vgl. auch Bonß, W.; Heinze, H.G. (Hrsg.): Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main 1984. Vgl. Braun, G.: Nord-Süd-Konflikt und Entwicklungspolitik, Opladen 1985, S. 161ff. Ohne Sozialversicherungsausgaben. Vgl. Recktenwald, H.G.: Staatswirtschaft in säkularer Entwicklung, in: Hamburger Jb. für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 15. Jahr, 1970, S. 137. Jahresgutachten 1986/87 des Sachverständigenrates ..., a.a.O., S. 222ff.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
öffentliche Förderung privater Forschungs- und Entwicklungsprojekte (Big Science). Auf dem expandierenden Sondermarkt öffentlicher Aufträge scheinen privates Gewinnmotiv und Interesse des Staatsapparats eine Symbiose einzugehen, die sich in Begriffen wie ,militärisch-industrieller' oder .medizinisch-industrieller' Komplex niederschlägt. Der Staat interveniert zugunsten unterprivilegierter Gruppen und beeinflußt über sein sozial- und bildungspolitisches Distributionssystem zunehmend die Verteilung individueller Lebenslagen. Kurz: Der Nachtwächterstaat des liberalen Zeitalters wird abgelöst durch den modernen Interventionsstaat. „Die Bürokratie des modernen Interventionsstaates ist damit unverkennbar in die Stellung einer Generalagentur der kapitalistischen Wirtschaft gerückt, übernimmt Planungs-, Lenkungsund Kontrollaufgaben."" • Die staatsbürokratische Steuerung von Teilen des Wirtschaftsapparats führt zu einer Verlagerung von effektiven Entscheidungskompetenzen in das politischadministrative System — und damit zu einem Funktionsverlust parlamentarischer Gremien. Die Parlamente geraten scheinbar zwangsläufig in den Windschatten einer professionalisierten Ministerialbürokratie, die mit spezialisierter Kompetenz und Herrschaftswissen plant und entscheidet. • Gemeinsam ist den privaten und staatlichen Großorganisationen des spätindustriellen Zeitalters zweierlei: Die Existenz einer neuen technokratischen Herrschaftselite mit Autonomieanspruch — hier Manager, dort Politbürokraten — und die wachsende Bürokratisierung beider Bereiche. Bei Vergrößerung ihrer Aufgaben müssen Organisationen zu verbindlichen Vorschriften übergehen. Eine hierarchische Autoritätsstruktur muß aufgebaut werden, geregelte Kompetenzen und Kommunikationsbeziehungen. Kurz: Eine bürokratisch-zentralistische (Super-)Struktur entsteht. In jüngster Zeit scheint die spätindustriellen Gesellschaften immanente Dynamik die Expansion des Güterausstoßes in Grenzbereiche zu treiben. Sie werden mit der apokalyptischen Vision vom ,Müllplaneten' oder - weniger emotional mit dem Bild von ,Raumschiff Erde' umschrieben. Begriffe wie ,reflexive Modernisierung', ,Schattenökonomie' und ,Öko-Entwicklung' deuten auf das Entstehen einer postmodernen Gegen-Gesellschaft - mit unübersehbaren gesellschaftlichen Folgen 12 . Eine mögliche Konsequenz zieht der Religionsphilosoph Georg Picht: „Die bisherige Richtung des technisch-industriellen Prozesses kann nicht fortgesetzt werden,und wenn wir dies erkennen, müssen wir alle Überzeugungen begraben, an denen sich unsere westliche Zivilisation in den letzten zweihundert Jahren berauscht hat." 1 3
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Hirsch, J.: Zur politischen Ökonomie des politischen Systems, in: Kress, G.; Senghaas, D . (Hrsg.): Politikwissenschaft, 3. Aufl. Frankfurt a. Main 1971, S. 207. „Während in der Industriegesellschaft die ,Logik' der Reichtumsproduktion die ,Logik' der Risikoproduktion dominiert, schlägt in der Risikogesellschaft dieses Verhältnis um." Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. Main 1986, S. 17. Picht, G.: Wir brauchen neue Überzeugungen, in: Schlemmer, J. (Hrsg.): N e u e Ziele für das Wachstum, München 1973, S. 138.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
147
Fassen wir zusammen: Hoch- oder spätindustrielle Gesellschaften lassen sich grob durch folgende Phänomene und Entwicklungstendenzen kennzeichnen: - Durch Betonung und Einsatz instrumentellen Leistungswissens; - durch ständige Rationalisierung, Automation und Planung wirtschaftlicher Prozesse; - durch die Akkumulation von Kapital, Arbeit und Know-how in (multinationalen Großunternehmen, die zunehmend im Dienstleistungssektor operieren; - durch einen komplexen Interventions- und Planungsstaat, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zu steuern sucht; - durch neue, technokratische Herrschaftseliten in privaten und staatlichen Großorganisationen; - durch Bürokratisierung des Berufs- und Alltagslebens, die wachsende Lebensausschnitte des einzelnen bürokratischer Regelung unterwirft; - durch das Bewußtsein der ökologischen Grenzen des .konventionellen' technisch-wirtschaftlichen Fortschritts. Mögliche Folge: Die Entwicklung einer g e spaltenen' Wirtschaftsgesellschaft zwischen Superindustrialismus und Alternativökonomie.
3. Das ökonomische System spätindustrieller Gesellschaften 3.1 Elemente des ökonomischen Systems Die bisherige Beschreibung wichtiger Tendenzen spätindustrieller Gesellschaften war weder vollständig noch objektiv (und konnte es aus erkenntnistheoretischen Gründen auch nicht sein). Vor allem aber: Sie war eher unsystematisch 14 . Versucht man, die angesprochenen Phänomene zu strukturieren, so erweist sich die Anwendung des Systemgedankens als nützlich. Im täglichen Sprachgebrauch sind Begriffe wie Wirtschaftssystem, Regierungssystem, Parteiensystem gängig, und sie können als Anknüpfungspunkt dienen. Aus systemanalytischer Sicht kann das System .Wirtschaft' in sechs Elemente unterteilt werden: - die Input-Elemente (oder Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital); - die Steuerungs-Elemente Markt und staatlicher Plan; - und das Output-Element Sozialprodukt. Zweck oder gesellschaftliche Funktion des ökonomischen Systems ist es (1) gegebene Input-Elemente so einzusetzen, daß ein maximaler Output (= Sozialprodukt) erzielt wird oder (2) ein gegebenes Sozialprodukt mit einem minimalen Einsatz an Produktionsfaktoren ( = Input-Elementen) zu erstellen. In beiden Fällen wird von der Anwendung des sogenannten ökonomischen Prinzips gesprochen. Die Maximierung des Sozialprodukts als Zweck des ökonomischen Systems ist ihrerseits nur Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Das ökonomische System hat also lediglich dienende Funktion - oder sollte sie zumindest haben.
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Vgl. zum folgenden: Braun, G.: Politische Ökonomie für den Sozialkundeunterricht, Hamburg 1976, S. 22ff.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
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3 . 2 Zur Funktionsweise d e s ö k o n o m i s c h e n Systems Wie aus Schaubild 1 ersichtlich, steht das ökonomische System in vielfältigen Beziehungen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt. Sehr vereinfacht kann man sagen, daß die Input-Elemente oder Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit gleichsam der Umwelt e n t n o m m e n werden, wobei ihre Menge und Qualität von außerökonomischen (Sub-)Systemen der Gesellschaft abhängen. Z u r Leistungsund Sanktionsverteilung ist innerhalb des Wirtschaftssystems eine Steuerungsinstanz notwendig, die die I n p u t f a k t o r e n gemäß den funktionalen Erfordernissen des Systems einsetzt. Die typische Institution ökonomischer Steuerung war in frühindustriellen Gesellschaften ausschließlich der Markt. In spätindustriellen Gesellschaften tritt der m o d e r n e Interventions- und Planungsstaat z u n e h m e n d als eigene Marktpartei auf. Ein duales Lenkungssystem von Markt und staatlicher Wirtschaftsplanung bestimmt daher die Wirtschaftslenkung spätindustrieller G e sellschaften oder — wie auch formuliert wird — wir leben in einer ,mixed economy'. Da die gesamtwirtschaftliche Intervention und Planung in die K o m p e t e n z von Regierung und Ministerialbürokratie fallen, kann dieser Teil ökonomischer Steuerung auch als politisch-administrative Lenkung bezeichnet werden. Das Sozialprodukt als Output des ökonomischen Systems läßt sich dementsprechend aufteilen in G ü t e r und Dienstleistungen, die Ergebnisse des marktwirtschaftlichen Prozesses sind, und in staatswirtschaftliche G ü t e r und Leistungen, etwa im Infrastruktur- und Bildungssektor. Der O u t p u t des wirtschaftlichen Systems hat nun positive oder negative Rückkoppelungen (feed-backs) auf andere Sub-Systeme der Gesellschaft. So kann die E r h ö h u n g staatlicher Bildungsausgaben positive Rückwirkungen auf die Qualifikation des Faktors Arbeit haben. A b e r auch der Fall negativer Rückkoppelung existiert. Bei der Erstellung des Sozialprodukts fallen beispielsweise Schadstoffe an, die das ökologische System in Form z u n e h m e n d e r Luft- und Wasserverschmutzung belasten. -
E n t s p r e c h e n d läßt sich wirtschaftlicher Wandel in den Wandel der relativen Bedeutung der Produktionsfaktoren (Strukturwandel), den Wandel der Lenkungsmechanismen (Ordnungswandel) und den Wandel in G r ö ß e u n d Zusammensetzung des Sozialprodukts (Prozeßwandel) einteilen.
Tatsächlich k n ü p f e n verschiedene Theorien der industriellen Gesellschaft hieran an. Im Z e n t r u m der theoretischen Kontroverse steht jedoch seit Beginn der industriellen Revolution die Frage nach der,optimalen' Steuerung wirtschaftlicher Systeme. Vereinfacht f o r m u l i e r t : , M a r k t ' o d e r , S t a a t ' - und sie soll uns im folgenden beschäftigen.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
4. Marktökonomik als soziale Physik 4 . 1 Ordnung durch Freiheit Die Frage nach möglichen Steuerungsverfahren wirtschaftlicher Systeme ist in zwei Situationen uninteressant: Im Paradies, weil es hier mehr G ü t e r gibt als menschliche Bedürfnisse — es braucht nichts gesteuert zu werden - und in einer fiktiven Urgesellschaft, weil in ihr j e d e r Mensch gerade soviel produziert wie er verbraucht - es kann nicht gesteuert werden. Alle a n d e r e n arbeitsteiligen Wirtschaftssysteme müssen Steuerungsverfahren entwickeln, mit deren Hilfe die knappen Produktionsfaktoren so eingesetzt werden, daß sie ein maximales Sozialprodukt erzeugen. Die erste historische Antwort auf die Frage nach optimalen Steuerungsverfahren lieferte der klassische Liberalismus. Sie lautet: Steuerung über freie Märkte im Interesse des „höchsten Glücks für die größtmögliche Z a h l " - wie der englische Philosoph Jcrcmy B e n t h a m bereits E n d e des 18. Jahrhunderts formulierte. Der Bürger wird als souveränes, rational handelndes Wesen begriffen, das seine individuellen Interessen am Markt artikuliert — und auf diese Weise die gesamtwirtschaftliche Produktion lenkt. D i e - zunächst verblüffende - Identität von egoistischen Gewinninteressen und allgemeiner Wohlfahrt ergibt sich aus den Gesetzmäßigkeiten von A n g e b o t und Nachfrage am Markt. Ein idealtypisches Beispiel kann diesen Mechanismus verdeutlichen: W e n n sich die V e r b r a u c h e r mehr Nutzen von einer W a r e versprechen als bisher, steigt die Nachfrage. Steigende Nachfrage führt zu steigenden Marktpreisen. Die steigenden Preise e r h ö h e n die Gewinnchancen der U n t e r n e h m e r . Die U n t e r n e h m e r werden, da sie an möglichst hohen Gewinnen interessiert sind, mehr Waren anbieten als bisher. Das vermehrte Angebot wiederum führt zu sinkenden Preisen. Das Ergebnis ist ein steigendes Warenangebot zu niedrigen Preisen. Nur weil die U n t e r n e h m e r ihre egoistischen Gewinninteressen verfolgen — so die liberale Lehre — verbessern sie die Wohlfahrt der Verbraucher. Steuerung der Wirtschaft heißt Selbststeuerung, Automatik. D a s wirtschaftspolitische Programm des klassischen Liberalismus ist d a h e r d e n k b a r einfach: A b b a u des absolutistischen Obrigkeitsstaates, Herstellung der Vertrags- und Gewerbefreiheit, A u f h e b u n g von Zunftzwang und Leibeigenschaft. Kurz: Entfesselung des Individuums.
4 . 2 D e r liberale Nachtwächterstaat Die automatische Selbststeuerung der Marktwirtschaft kann nach liberaler Doktrin durch staatliche Eingriffe nur gestört werden. Der Staat solle sich d a h e r tunlichst wirtschaftlicher Betätigung enthalten. Er gilt als unproduktiv — wenn nicht gar als parasitär. Der Staat des 19. J a h r h u n d e r t s ist „Nachtwächterstaat", wie Ferdinand Lassalle ironisch formulierte. E r hat als Ordnungsstaat f ü r R u h e und Sicherheit der Bürger zu sorgen - nicht mehr. Freilich war der politisch vermeintlich neutrale Nachtwächterstaat des klassischen Liberalismus mehr als das: Er entsprach zugleich den Interessen des aufstei-
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
151
genden Bürgertums. „ D a s liberale Schema einer Wirtschaft der freien Konkurrenz . . . hat f ü r die Interessen der aufstrebenden Industrie u n d für die Profitsucht des Kapitals ein lockendes Ideal bedeutet hat ihr daher sofort innenpolitisches Gewicht und später, als diese erstrebte liberale Wirtschaft verwirklicht wurde, den C h a r a k t e r der einzig zulänglichen Theorie gegeben: Das rationale Schema wurde zur echten Theorie der ersten Phase des Hochkapitalismus." 1 5
4.3 Die Voraussetzungen des freien Marktmodells Die spontane O r d n u n g der Märkte funktioniert — wie sich später dramatisch zeigen sollte - allerdings nur unter drei Voraussetzungen: Erstens, daß W e t t b e w e r b zwischen einer Vielzahl von U n t e r n e h m e r n um die Gunst des Kunden herrscht (die sogenannte atomistische oder vollkommene Konkurrenz). Zweitens, daß U n t e r n e h m e r und V e r b r a u c h e r rational handeln und unbeirrt von gesellschaftlichen Einflüssen, etwa W e r b u n g und Mode, ihre wirtschaftlichen Entscheidungen ausschließlich unter d e m Gesichtspunkt der Gewinn- bzw. N u t zenmaximierung fällen. Drittens, d a ß zwischen den M a r k t k o n t r a h e n t e n wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht in etwa gleich verteilt ist. O f f e n b a r sind sämtliche Voraussetzungen des liberalen Marktmodells t h e o r e tisch wie empirisch angreifbar. „ W a s der klassische Liberalismus formulierte, war soziale P h y s i k . . . Es ist wie im Bereich der Gestirne: Die Planeten bewegen sich, nicht anders als die Warenströme auf den freien Märkten, als werden sie von einer u n s i c h t b a r e n H a n d ' geführt. Ordnung entsteht also durch Freiheit - ein wahrlich verwegener G e d a n k e . " 1 6
4.4 Die Folgen der,freien' Konkurrenz: Expansion in der Klassengesellschaft Kein a n d e r e r Abschnitt der Wirtschaftsgeschichte hatte ähnlich revolutionäre Folgen wie das Zeitalter der ,freien' Konkurrenzwirtschaft. Die ständige E x p a n sion der Produktion wird zum Kennzeichen der Epoche. U n t e r dem Druck der K o n k u r r e n z weitet sich die Erzeugung auf immer neue M ä r k t e im In- und A u s land aus. In einem Zeitraum von knapp 100 J a h r e n werden in W e s t e u r o p a aus unterentwickelten Agrarstaaten technologisch fortgeschrittenere Industrienationen. „ D i e Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere u n d kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen G e n e rationen zusammen. U n t e r j o c h u n g der N a t u r k r ä f t e , Maschinerie, A n w e n d u n g der C h e m i e auf Industrie und A c k e r b a u , Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, U r b a r m a c h u n g ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welches f r ü h e r e Jahr15 16
Salin, E . : Politische Ö k o n o m i e , 5. A u f l . , T ü b i n g e n 1 9 6 7 , S. 85. v. Eynern, G.: Grundriß der politischen Wirtschaftslehre I, 2. A u f l . , O p l a d e n 1 9 7 2 , S. 37f.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
hundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schöße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?" 1 7 , feierte kein anderer als Karl Marx die Dynamik des Industriekapitalismus. Sehr schnell sollten sich die Schattenseiten der ,freien' Konkurrenzwirtschaft zeigen: • Die Allmacht des absolutistischen Staates konnte gegen hinhaltenden Widerstand des ,Ancien Régime' abgebaut werden 18 . Aber die Macht zwischen den individuellen Marktparteien - Unternehmer auf der einen, Arbeiter auf der anderen Seite — war von Anfang an extrem ungleich verteilt. Die Forderung des Liberalismus nach freiem Wettbewerb - „Freie Bahn dem Tüchtigen" — erwies sich aus dieser Perspektive als Illusion (und wurde von christlich-sozialistischen Reformbewegungen auch als solche entlarvt). • Die Vertragsfreiheit des bürgerlichen Rechts wurde paradoxerweise auch dazu benutzt, schwächere Marktkontrahenten zum freiwilligen' Verzicht auf die Ausübung der Vertragsfreiheit zu bewegen. Anders ausgedrückt: Das System der freien Konkurrenz tendierte zur Selbstaufhebung, zum Monopol. • Die fortschreitende Industrialisierung Westeuropas wurde mit verbreitetem Massenelend erkauft: Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstand, in der die Eigentümer des Fabriksystems das ,oben' bildeten, die Eigentümer der Ware Arbeitskraft das ,unten' 19 . Die,soziale Frage' — wie sie später beschwichtigend bezeichnet wurde — war es vor allem, die die Bilanz des Kapitalismus verdüsterte. Sie war es auch, die den Wiedereintritt des Staates in den Wirtschaftsprozeß begründete. Um den preußischen Klassenstaat gegen die aufkommende Arbeiterbewegung zu stabilisieren, wurden die Bismarckschen Sozialreformen erlassen 2 ". Damit w a r - e h e r unfreiwillig — der erste entscheidende Schritt vom liberalen Nachtwächterstaat zum sozialen Interventionsstaat getan. Das Zeitalter der ,freien' Konkurrenzwirtschaft begann sich unwiderruflich dem Ende zuzuneigen.
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Marx, K.; Engels, F.: Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1964, S. 4 8 (Erste Ausgabe London 1848). Diese,Doppelmodernisierung' von freier Wettbewerbswirtschaft und politischer D e m o kratie setzte zunächst in Großbritannien ein und breitete sich dann auf dem Kontinent aus. Ausnahme: Preußen, wo die ökonomische Modernisierung ohne eine entsprechend e politische Demokratisierung stattfand. Plastisch beschrieben in der sozialkritischen Literatur etwa von Charles Dickens, Eugène Sue, Emile Zola, Jack London. Eine Vielzahl von Dokumenten zur Entwicklung in Deutschland enthält: Enzensberger, H.M. u.a. (Hrsg.): Klassenbuch 1. Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1 7 5 6 - 1 8 5 0 , Darmstadt u. Neuwied 1972, S. l l l f f . Vgl. Wehler, H . - U . : Der Aufstieg des organisierten Kapitalismus und Interventionismus in Deutschland, in: Winkler, H.A. (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
153
5. Der gefesselte Leviathan: Staatliche Wirtschaftslenkung als Krisenmanagement 5 . 1 Marktversagen und die Etablierung des Interventionsstaates Die sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts konnten noch mit fallweisen Eingriffen des Staates notdürftig repariert werden. Die großen Krisen des 20. Jahrhunderts zwangen ihn zur dauerhaften Intervention oder - wie auch formuliert wird — zur „bewußten Kontrolle der sozialanarchischen Dynamik der Industrie." 2 1 Die — teilweise hochkonzentrierten und vermachteten — Märkte versagten gleich in mehrfacher Hinsicht: 22 (1) Das Marktproblem Der Markt produziert,private' Güter. Kollektive Güter, die von der Allgemeinheit nachgefragt werden, werden aus der Marktproduktion ausgeblendet. Hierzu zählen etwa Bildung, Sicherheit, Gesundheit, Infrastruktur etc. Diese Güter zeichnen sich in der Regel durch große Kapitalintensität, ,Unteilbarkeit' und — wenn überhaupt - nur sehr langfristige Amortisationsraten aus. Mit anderen Worten: Sie sind für private U n t e r n e h m e r unattraktiv. (2) Das Ordnungsproblem Das System der freien Konkurrenz weist immanente Verfallstendenzen auf. Es tendiert zur Selbstaufhebung, zur Bildung von Kartellen, Monopolen und Trusts. (3) Das Stabilitätsproblem Wie sich spätestens in der Weltwirtschaftskrise (1929—1933) zeigen sollte, kann das marktwirtschaftliche System nicht aus sich heraus (gleichsam automatisch) Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und wirtschaftliches Wachstum herstellen. Es ist — gesamtwirtschaftlich gesehen — inhärent instabil 23 . (4) Das Verteilungsproblem Das Marktsystem honoriert nur Marktleistungen. Wer nicht am Konkurrenzprozeß teilnehmen kann oder will (Junge, Alte, Kranke, Invalide, Hausfrauen, A r beitslose usw.) wird auch nicht entlohnt; d.h. der Markt versagt ebenfalls, wenn es um das Ziel gleicher Lebensbedingungen für Individuen oder Gruppen geht, die für ihn im unterschiedlichen Ausmaß interessant' sind. (5) Das Umweltproblem Eine weitere wichtige Form des Marktversagens schließlich ist die sogenannte Externalisierung; d.h. die Abwälzung betrieblicher Kosten und/oder Probleme auf die Allgemeinheit. So werden beispielsweise Schadstoffe der Umwelt angelastet, d.h. externalisiert - im Interesse einer größeren betrieblichen Rendite. Das mehrfache Versagen der Märkte in spätindustriellen Gesellschaften hat dazu geführt, daß der Staat schubweise immer neue Aufgabenkomplexe übernahm (was, wie sich zeigen sollte, nicht notwendigerweise bedeutet, daß er sie
21 22 23
Ebenda, S. 38. Vgl. hierzu auch: Jänicke, M.: Staatsversagen, München-Zürich 1986, S. 50ff. So die Erkenntnis von J.M. Keynes und der daraus abgeleiteten Forderung nach staatlicher Nachfragesteuerung. Vgl. Keynes, J.M.: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1976, (1. Aufl., London 1935).
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
auch besser lösen kann). In einer historischen Perspektive scheint das politischadministrative System gegenüber der Marktökonomie einen Machtzuwachs zu erfahren - etwa durch mehr Ressourcen und größere Regelungs- und Entscheidungskompetenzen. Dies bedeutet jedoch keineswegs Autonomie. Im Gegenteil: Der Versuch des Staates, privatwirtschaftliche Prozesse aktiv zu steuern, erweist sich nicht selten als Bumerang oder schafft bisweilen mehr Probleme als er lösen kann. Dies soll an zwei zentralen Politikbereichen der spätindustriellen Gesellschaft, der Ordnungs- und der Stabilitätspolitik, näher erläutert werden.
5.2 Wettbewerbspolitik: Der würdevolle Teil der Wirtschaftsverfassung Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik übernahm zunächst die zentrale Idee des Neoliberalismus, wonach die Wettbewerbsordnung nicht naturgegeben (ordre naturel), sondern nur tendenziell vorhanden sei. Die neoliberale Freiburger Schule hatte aus dieser Erkenntnis gefolgert, daß der Wettbewerb als .staatliche Veranstaltung' organisiert und durch eine scharfe Antimonopolpolitik gegen immanente Verfallstendenzen geschützt werden müsse. Ein „starker Staat" (W. Röpke) solle Monopole, Kartelle und marktbeherrschende Unternehmen zerschlagen. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft 24 übernahmen zwar die neoliberale Idee vom staatlich organisierten Wettbewerb, konnten die politischen Konsequenzen daraus allerdings erst relativ spät und nur äußerst unzulänglich ziehen. Erst 1957 - neun Jahre nach Gründung der Bundesrepublik — wurden mit dem ,Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen' (GWB) die gesetzlichen Grundlagen für eine staatliche Antimonopolpolitik geschaffen. Vorausgegangen war ein jahrelanges Tauziehen zwischen politischen Parteien, der Exekutive und der Wirtschaftslobby mit dem Ergebnis, daß vom ursprünglich restriktiven Gesetzentwurf nur ein Torso übrigblieb 25 . Die Intensität der Konkurrenz schien weiten Kreisen der Wirtschaft in einem bis dahin traditionell wettbewerbsfeindlichen Land ohnehin bedenklich groß. Ihr Ziel war es daher, die staatliche Konzentrations- und Monopolkontrolle möglichst abzuschwächen; u.a. mit dem Hinweis auf die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes. „Die Ausschaltung unkontrollierbarer .externer' Eingriffe scheint zu den Hauptzielen der technokratischen Führungsspitzen zu gehören... Für die Erben des Einzelunternehmers hat die Ideologie des Privateigentums . . . die Funktion, öffentlichen Kontrollen jedweder Art einen Riegel vorzuschieben." 26
24
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26
Vgl. hierzu: Stützel, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart-New York 1981. dokumentiert bei: Ziersch, G.: Der BDI-Ausschuß für Wettbewerbsordnung und das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in: Arbeitskreis Kartellgesetz im Ausschuß für Wettbewerbsordnung des BDI (Hrsg.): 10 Jahre Kartellgesetz 1 9 5 8 - 1 9 6 8 . Eine Würdigung aus Sicht der deutschen Industrie, Bergisch-Gladbach 1968, S. 445. Hirsch, J.: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System, Frankfurt a. Main 1970, S. 49.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
155
Es überrascht daher nicht, daß die Maschen des neuen „Grundgesetzes der Wirtschaftsordnung" (L. Erhard) recht groß und nur lose geknüpft waren. Das Kartellverbot ist wegen der zahlreichen Ausnahmen wenig mehr als „löchriger Käse." 2 7 Als empfindlichster Mangel des Gesetzes sollte sich die sogenannte Mißbrauchsaufsicht bei marktbeherrschenden Unternehmen erweisen. Danach ist nicht die Bildung marktbeherrschender Unternehmen verboten (das sogenannte Verbotsprinzip), sondern es soll nur die mißbräuchliche Ausnutzung marktbeherrschender Positionen geahndet werden. Zu diesem Mißbrauchsprinzip hatte der neoliberale Ökonom Walter Eucken bereits fünf Jahre vorher festgestellt: „Eine Monopolkontrolle, die sich gegen den sogenannten,Mißbrauch' wirtschaftlicher Machtstellung wendet, scheitert. Der Begriff des ,Mißbrauchs' ist nicht exakt zu definieren. Die Machtkörper gewinnen bekanntlich ihrerseits einen großen politischen Einfluß in einem Staat, in dem sie zu wuchern beginnen. Der Staat wird dadurch selbst unfähig, die Monopolkontrolle wirksam durchzuführen. Nicht in erster Linie gegen Mißbräuche vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern gegen die Entstehung der Machtkörper überhaupt. Sonst besitzt sie keine Chance, mit dem Problem fertig zu werden." 2 8 Tatsächlich ist es dem zuständigen Kartellamt weder gelungen, eindeutig zu ermitteln, wann eine marktbeherrschende Stellung vorliegt, noch konnte es exakt festlegen, was ihre „mißbräuchliche Ausnutzung" konkret besagt. Die politische Konsequenz dieser Grauzone war der weitgehende Verzicht auf eine aktive Wettbewerbspolitik 2 9 und damit faktisch ein Rückfall in das laisser-faire-laisseraller des liberalen Nachtwächterstaats. Das Resultat: Der kurz nach Kriegsende einsetzende Konzentrationsprozeß 3 0 geht unaufhaltsam weiter — mit der Folge, daß die Bundesrepublik Deutschland sich in E u r o p a in einer Spitzenposition befindet. Dies gilt (1) für das T e m p o der Unternehmenskonzentration (2) für den erreichten Konzentrationsgrad in der Industrie und (3) für die Presse- und Bankenkonzentration. (1) A u s Tabelle 1 wird deutlich, daß die sogenannte Fusionswelle Ende der sechziger Jahre zu rollen beginnt. Sie erreichte im Jahre 1980 mit 635 Unternehmenszusammenschlüssen ihren vorläufigen Höhepunkt, um seither auf hohem Niveau weiterzurollen — und 1985/86 nochmals sprungartig anzusteigen. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß diese Zahlen den tatsächlichen Umfang der Konzentrationsbewegung nur unzulänglich widerspiegeln; denn alle Zusammenschlüsse von kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht unter § 23 G W B fallen, sind in ihnen nicht enthalten.
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Hamm, W.: Das Kartellgesetz, ein ,löchriger Käse', in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. März 1972. Eucken, W.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Reinbek b. Hamburg 1972, S. 120 (1. Aufl. Tübingen 1952). So wurden z.B. von 4 . 1 5 9 Fusionen ( 1 9 7 4 - 1 9 8 1 ) vom Kartellamt 46 untersagt. Vgl. Der Spiegel Nr. 50, 1982, S. 76. Er erstreckt sich auf nahezu alle Wirtschaftssektoren. So sank die Zahl der Betriebe im Handwerk von 886.500 ( 1 9 5 0 ) auf 4 8 9 . 7 0 0 ( 1 9 8 3 ) ; in der Landwirtschaft von 9 6 7 . 8 0 0 ( 1 9 7 3 ) auf 7 4 3 . 7 0 0 (1983), im Einzelhandel von 4 5 0 . 0 0 0 ( 1 9 6 0 ) auf 3 5 0 . 0 0 0 (1980).
Teil IV: Wirtschaft und Staat
156
Tabelle 1: Unternehmenszusammenschlüsse nach § 2 3 G W B 1 9 6 0 - 1 9 8 6 1
1
Jahr
Zahl der Zusammenschlüsse
1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986
22 26 38 29 36 50 43 65 65 168 305 220 269 242 318 448 453 554 558 602 635 618 603 506 575 709 802
Nach § 23 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen müssen dem Bundeskartellamt Zusammenschlüsse von Unternehmen, die zusammen zumindest Marktanteile von 20 Prozent, 10000 Beschäftigte oder Umsätze von 500 Mio. DM haben, angezeigt werden.
Quelle: Zusammengestellt nach: Berichte des Bundeskartellamts über seine Tätigkeit 1970-1985/86, Bonn 1971 ff.
(2) Eine Untersuchung der Branchenkonzentration in der Industrie zeigt, daß in 11 von 20 Wirtschaftszweigen die 3 umsatzstärksten Unternehmen mehr als 3 0 Prozent des Gesamtumsatzes auf sich vereinigen und — von 1962 bis 1983 in 14 Branchen der Konzentrationsgrad z.T. erheblich zugen o m m e n hat (Vgl. Tabelle 2) 31 .
-
31
„Die Monopolkommission verfolgt die langfristige Entwicklung der Unternehmenskonzentration im Bergbau und Verarbeitenden Gewerbe seit 1954 anhand des ungewogenen Durchschnittswerts der Umsatzanteile der zehn größten Unternehmen in den einzelnen Wirtschaftszweigen. Danach h a t . . . dieser Durchschnittswert 1983 mit 44,2 Prozent den höchsten Wert erreicht." (1954 = 31,1%). Monopolkommission: 6. Hauptgutachten 1984/85, BT-Drucksache 10/5860, Bonn 1986, S. 93f.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
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Tabelle 2: Der Konzentrationsgrad in der Industrie 1962 und 1983 Umsatzanteil der größten 3 Unternehmen
1. L u f t f a h r z e u g b a u 2. D a t e n v e r a r b e i t u n g 3. Bergbau 4. T a b a k v e r a r b e i t u n g 5. Mineralölverarbeitung 6. Schiffbau 7. Fahrzeugbau 8. Eisenschaffende Industrie 9. Feinkeramik 10. NE-Metallindustrie 11. Elektrotechnik 12. C h e m i e 13. Gießereiindustrie 14. Feinmechanik 15. Eisenindustrie 16. Steine und E r d e n 17. Maschinenbau 18. Bekleidungsindustrie 19. Ernährungsindustrie 20. Textilgewerbe
6 Unternehmen
1962
1983
Veränderung
1962
1983
Veränderung
45,9
85,4 75,2 62,7 60,0 49,6 49,1 48,1 40,3 38,2 31,5 30,8 29,9 21,7 21,2 8,0 7,5 7,3 5,9 4,6 4,1
+ 39,5
72,3
+ 20,2
-
-
+ 41,4 11,7 6,8 + 15,8 5,8 + 18,7 + 14,3 + 2,0 + 8,0 + 3,9 + 3,5 + 9,8 + 1,7 1,2 2,6 + 0,9 3,4 + 0,7
34,3 82,5 77,0 50,9 57,7 39,9 36,0
92,5 84,8 83,1
-
21,3 72,6 56,4 33,3 53,9 21,6 23,9 29,5 22,8 26,0 18,2 11,9 6,3 8,7 9,9 5,0 8,0 3,4
-
34,7 35,5 24,8 20,5 10,0 13,8 14,8 7,7 10,8 5,7
-
+ 48,8
-
79,0 66,3 66,2 62,4 51,0 43,6 39,5 41,6 31,1 29,8 11,9 13,4 11,9 8,5 7,6 7,6
+ 2,0 + 15,4 + 1,5 + 22,5 + 15,0 + + + + + + +
4,8 6,1 6,3 9,3 1,9 0,4 2,9 1,3 3,2 1,9
Anteil der jeweils 3 und 6 größten U n t e r n e h m e n am G e s a m t u m s a t z ausgewählter Industriezweige in Prozent - : Keine A n g a b e n v o r h a n d e n . Quelle: Berechnet nach: Bericht des Bundeskartellamts über seine Tätigkeit im Jahre 1973, B T - D r u c k s a c h e 7 / 2 2 5 0 , Bonn 1974, S. 35 ff. und Sechstes H a u p t g u t a c h t e n der Monopolkommission 1 9 8 4 / 1 9 8 5 , B T - D r u c k s a c h e 10/5860, Bonn 1986, S. 3 2 7 f .
Zwar erlaubt eine Branchenanalyse nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Wettbewerbssituation der einzelnen Produktmärkte. Bei derart ungleichen Branchenpotentialen zeigen Kleinunternehmen jedoch erfahrungsgemäß häufig betont friedliches' Verhalten. Sie akzeptieren die Branchenanteile der ,Großen' und beugen sich ihrer Rolle als Markt- und Preisführer. Anders ausgedrückt: Der ,spirit of competition' ist in den teilweise hochkonzentrierten Branchen nicht allzu hoch einzuschätzen. (3) Von erheblicher gesellschaftlicher Brisanz ist schließlich die wachsende Konzentration im Medien- und Bankensektor 32 . Das einzigartige Universalbankensystem in der Bundesrepublik erlaubt Banken u.a. gleichzeitig die Kreditvergabe an Nicht-Banken, den Kauf von Gesellschaftsanteilen, die Wahrnehmung 32
Z u r Konzentration in der Pressewirtschaft u n d bei der V e r b r e i t u n g n e u e r Medien vgl. das 5. u n d 6. H a u p t g u t a c h t e n der Monopolkommission 1 9 8 2 / 8 3 und 1 9 8 4 / 8 5 , Bonn 1984 u n d 1986, S. 161ff u n d S. 2 0 1 ff.
158
Teil IV: Wirtschaft und Staat
des Depotstimmrechts für Bankkunden und die Entsendung von Bankvertretern in die Aufsichtsräte und Vorstände der entsprechenden Unternehmen - was eine erhebliche Machtkonzentration bedeutet. Dazu der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium 1986: „Im Universalbankensystem der Bundesrepublik sind nach Auffassung des Beirats Interessenkonflikte angelegt. Der von der Fusionskontrolle nicht wirksam kontrollierbare Beteiligungserwerb wird . . . als bedenklich bezeichnet... In der Bundesrepublik sollten deshalb wie auch in den meisten westlichen Industriestaaten gesetzliche Vorschriften zur Begrenzung dieser Beteiligungen eingeführt werden. Der Beirat verweist in diesem Zusammenhang auf den Vorschlag der Monopolkommission, den Anteilsbesitz der Banken auf fünf Prozent des Kapitals der betroffenen Unternehmen zu beschränken." 33 Zwei paradox anmutende Schlußfolgerungen lassen sich aus dieser Entwicklung ziehen: Zum einen wird die staatliche Wettbewerbs- und Antimonopolpolitik durch einen gleichsam autonom voranschreitenden Prozeß der Unternehmenskonzentration begleitet — etwa nach dem arabischen Sprichwort „Die Hunde bellen - und die Karawane zieht weiter". Zum anderen ist das schnelle Wachstum der deutschen Wirtschaft nach dem Krieg möglicherweise gerade auf den rapiden Konzentrationsprozeß zurückzuführen — so daß die Wettbewerbspolitik wegen ihrer offensichtlichen Erfolglosigkeit aus wachstumspolitischer Sicht unbeabsichtigt erfolgreich gewesen sein könnte 34 . Ein eher ironisches Fazit zieht der Nationalökonom Erich Streißler: „Eine rabiate Antimonopolgesetzgebung hat einen Vorteil: Nützt sie zwar kaum, so schadet sie andererseits wenig. Und vielleicht bedarf die Wirtschaftsverfassung neben ihrem effizienten Teil auch ihres würdevollen Teils. Vielleicht ist das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen der würdevolle Teil der deutschen Wirtschaftsverfassung, der Teil der großen Geste, des edlen Gedankens und der schönen Sonntagsrede." 35
5.3 Stabilitätspolitik: Anpassung an die normative Kraft des Faktischen Wenn die Wettbewerbspolitik nicht der effiziente Teil staatlicher Wirtschaftslenkung ist, ist es dann die Stabilitätspolitik? Auch hier scheint Skepsis angebracht. Zunächst ist festzuhalten, daß das ,freie' Spiel von Angebot und Nachfrage aus sich heraus keineswegs automatisch zu gesamtwirtschaftlich befriedigenden Ergebnissen führt. Arbeitslosigkeit, Inflation und Wachstumsschwankungen sind ty33
34
35
G u t a c h t e n des Wiss. Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft: Wettbewerbspolitik, Bonn 1986, S. 19f. zit. in: Süddeutsche Z e i t u n g v. 2 0 . / 2 1 . Dez. 1986. D e r Z u s a m m e n h a n g zwischen U n t e r n e h m e n s g r ö ß e , U n t e r n e h m e n s k o n z e n t r a t i o n und Wettbewerbsintensität ist kompliziert und empirisch wie theoretisch noch nicht befriedigend geklärt. D i e neoliberale Schule orientiert ihr W e t t b e w e r b s k o n z e p t an der atomistischen K o n k u r r e n z ; J. Galbraith plädiert f ü r ein G e g e n m a c h t k o n z e p t , E. Kantzenbach spricht sich f ü r ein K o n z e p t des funktionsfähigen W e t t b e w e r b s im weiten Oligopol aus. Streißler, E.: Macht und Freiheit in d e r Sicht des Liberalismus, in: Schneider, H.K.; Watrin, Chr. (Hrsg.): M a c h t und ökonomisches Gesetz, Sehr. d. Vereins f. Socialpolitik, N F B d . 74/11, Berlin 1973, S. 1425f.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
159
pische P h ä n o m e n e marktwirtschaftlicher Systeme. Der G r u n d dafür liegt auf der H a n d : Investitions- und Konsumentscheidungen werden in diesen Systemen von einer Vielzahl m e h r oder weniger a u t o n o m e r U n t e r n e h m e r und Verbraucher getroffen. E s wäre purer Zufall, wenn die Summe dieser Einzelentscheidungen gerade zur Vollauslastung des volkswirtschaftlichen Produktionsapparats bei stabilem Preisniveau führen würde. D e r G r u n d g e d a n k e der Stabilitätspolitik beruht daher auf der Überlegung, d a ß es A u f g a b e des Staates ist, durch bewußte Datensetzung gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu vermeiden und den Wirtschaftsprozeß auf hohem Niveau zu stabilisieren. Mit dem ,Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft' (kurz: Stabilitätsgesetz) von 1967 wurden die gesetzlichen G r u n d lagen für eine aktive Stabilitätspolitik geschaffen (nachdem die erste Nachkriegsrezession 1966/67 zu einem Anstieg der Arbeitslosen auf k n a p p 700.000 geführt hatte, begleitet von einem erheblichen Zuwachs an rechtsradikalen N P D - W ä h lern). Ziel des Stabilitätsgesetzes ist es „im R a h m e n der marktwirtschaftlichen O r d n u n g gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem u n d angemessenem Wirtschaftswachstum beizutragen." 3 6 Der Versuch, diese Ziele des sogenannten magischen Vierecks zu definieren und zu quantifizieren, erweist sich im Einzelfall als problematisch. Tatsächlich ist die Zieldefinition weitgehend vom Ermessen der jeweiligen Regierung abhängig gemacht worden: „Die aktuelle inhaltliche Ausfüllung der Zielkomponenten im Detail kann nicht Gegenstand einer allgemeinen . . . gesetzlichen Regelung sein, sondern m u ß jeweils den politischen Instanzen überlassen bleiben." Selbst unter Berücksichtigung der relativen Beliebigkeit der Zielfestlegung wird man festhalten müssen, d a ß in keinem J a h r die stabilitätspolitischen Ziele gleichzeitig verwirklicht werden konnten. Das ,magische Viereck' - obwohl theoretisch nie überzeugend dargestellt und noch weniger empirisch bewiesen - scheint f ü r die Bundesrepublik Gültigkeit zu besitzen (Vgl. Tabelle 3). Im Zyklus 1970—1975 lag die Inflationsrate erheblich über Werten, die als,stabil' bezeichnet werden k ö n n e n ; ab 1975 stieg die Arbeitslosenquote stark an: die Wachstumsrate schwankte zwischen + 7,5 Prozent (1969) u n d - 1,6 Prozent (1975); der Außenbeitrag zwischen - 0,2 Prozent (1980) u n d + 4,6 Prozent (1985). „Die Glättung zyklischer Schwankungen ist in den ersten vier J a h r e n der Stabilitätspolitik ebenso wenig gelungen wie vorher" 3 8 - eine Feststellung, die nach den E r f a h r u n g e n der vergangenen Jahre unverändert gilt. Die Frage nach den G r ü n d e n der Fehlentwicklung wird meist mit d e m Hinweis auf stabilitätspolitische ,Bedienungsfehler' beantwortet: Die Stabilitätspolitik ist gut, nur die d a f ü r verantwortlichen Politiker sind inkompetent. Damit wird der Zugang zu der wichtigeren Frage verstellt, ob nicht Stabilitätspolitik in spätindu-
36
37 38
Möller, A.: Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums, 2. Aufl. Hannover 1969, S. 24. Ebenda, S. 91 f. Schmahl, H.J.: Globalsteuerung - Zwischenbilanz einer Konjunkturpolitik, in: Hamburger Jb. für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 16. Jahr, 1971, S. 282.
160
Teil IV: Wirtschaft und Staat
Tabelle 3: Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik 1 9 5 1 - 1 9 8 6 1 Jahr
Wachstumsrate 2
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986
10,5 8,9 8,2 7,4 12,0 7,3 5,7 3,7 7,3 9,0 4,6 4,4 3,1 6,6 5,4 2,6 0,1 6,1 7,5 5,0 3,2 4,1 4,6 0,5 1,6 5,6 2,8 3,5 4,0 1,9 0,2 1,1 1,3 2,7 2,5 2,8
1 2
3
4
5
-
-
-
Preisentwicklung 3
Arbeitslosenquote 4
Außenbeitrag 5
Politisch-ökonomische Daten
7,8 2,1 -1,8 0,2 1,6 2,5 2,2 2,0 1,1 1,5 2,3 2,9 3,2 2,3 3,4 3,5 1,4 1,4 2,0 3,2 5,0 5,4 6,7 6,9 6,0 4,5 3,5 2,6 3,7 5,3 6,3 5,4 3,2 2,4 2,2 -0,5
9,1 8,5 7,6 7,1 5,2 4,2 3,5 3,6 2,5 1,3 0,9 0,7 0,9 0,8 0,7 0,7 2,1 1,5 0,8 0,7 0,8 1,1 1,2 2,5 4,7 4,6 4,5 4,3 3,7 3,7 5,3 7,6 9,3 9,3 9,4 8,9
1,9 2,5 3,8 3,4 2,4 3,4 4,1 3,9 3,4 2,6 2,2 1,2 1,5 1,4 0,1 1,5 3,5 3,7 2,9 2,1 2,0 2,2 3,1 4,5 2,9 2,6 2,4 2,9 0,8 -0,2 0,9 2,4 2,4 2,8 4,6 3,6
1 9 4 9 - 6 3 Regierung Adenauer (CDU/CSU u.a.)
1960
Boom
1 9 6 3 - 6 6 Regierung Erhard (CDU/CSU u. FDP) 1964 Boom 1 9 6 6 - 6 9 Regierung Kiesinger (CDU/CSU u. SPD) 1967 Rezession 1 9 6 9 - 7 4 Regierung Brandt (SPD u. FDP) 1969 Boom 1973/74 1. ölpreisschock 1974 Anstieg von Löhnen u. Gehältern um 11,4% 1974/75 Rezession 1 9 7 4 - 8 2 Regierung Schmidt (SPD u. FDP) 1979 1980 1981/82 1982
Anstieg von Löhnen u. Gehältern um 4,9 % 2. Ölpreisschock Rezession Regierung Kohl (CDU/CSU u. FDP)
Teilweise ohne Einbeziehung des Saarlandes und Berlins. des Bruttosozialproduktes in Preisen von 1962 (bis 1961) bzw. 1976. Jährliche Veränderung in Prozent. Prozentuale jährliche Veränderung des Preisindex für die Lebenshaltung von 4-Personen-Arbeitnehmerhaushalten (errechnet aus Index 1980 = 100). Prozentualer Anteil der arbeitslos Gemeldeten an den abhängigen Erwerbspersonen (beschäftigte Arbeitnehmer + Arbeitslose). Differenz der Ausfuhr und Einfuhr von Waren und Dienstleistungen (einschließlich der Erwerbs- und Vermögenseinkommen von bzw. an die übrige Welt) in Prozent des Bruttosozialprodukts (in jeweiligen Preisen).
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
161
striellen G e s e l l s c h a f t e n a u s strukturellen G r ü n d e n z u m Scheitern verurteilt ist. In der Tat gibt es H i n w e i s e d a r a u f , d a ß Stabilitätspolitik an S y m p t o m e n k u r i e r e n muß, s t a t t U r s a c h e n zu b e k ä m p f e n . D i e K o n z e n t r a t i o n auf d e n G ü t e r m ä r k t e n , d e r staatlich-industrielle K o m p l e x , a b e r auch das zweiseitige M o n o p o l der T a r i f v e r t r a g s p a r t e i e n u n t e r l a u f e n das f r e i e Spiel d e s W e t t b e w e r b s m e c h a n i s m u s und ersetzen es langfristig durch g e p l a n t e Preise, L ö h n e u n d B e s c h ä f t i g u n g . Sehr verkürzt f o r m u l i e r t : M a r k t m a c h t f ü h r t zur Wirtschaftskrise, wirtschaftliche Krisen f ö r d e r n die Bildung von M a r k t m a c h t . So k ö n n e n z . B . U n t e r n e h m e n , die nicht im w i r k s a m e n W e t t b e w e r b stehen, ihre Preise auch d a n n e r h ö h e n , w e n n d u r c h eine Politik staatlicher N a c h f r a g e b e g r e n z u n g D r u c k auf die Preise a u s g e ü b t w e r d e n soll. O d e r sie k ö n n e n die Beschäftigung reduzieren, wenn staatliche A r b e i t s b e s c h a f f u n g s p r o g r a m m e sie e r h ö h e n wollen. „ D i e s e Politik ist die Folge einer M a r k t s i t u a t i o n , in d e r A n g e b o t u n d N a c h f r a g e nicht m e h r w e t t b e w e r b l i c h kontrolliert w e r d e n . " 3 9 D i e a u t o n o m e U n t e r n e h m e n s politik u n t e r l ä u f t die staatliche Stabilitätspolitik. Z u d e m k o r r e s p o n d i e r t mit d e r o f f e n e n preispolitischen F l a n k e die o f f e n e lohnpolitische F l a n k e auf d e n A r b e i t s m ä r k t e n . Kurz: Weil die W e t t b e w e r b s p o l i t i k gescheitert ist, m u ß t e auch die Stabilitätspolitik scheitern. „ I n z w i s c h e n spricht auch die E r f a h r u n g d a f ü r , d a ß die staatliche K o n j u n k t u r p o l i t i k u m so schlechter greift, j e weniger die M ä r k t e wettb e w e r b l i c h s t r u k t u r i e r t sind." 4 0 Die staatliche Stabilitätspolitik wird so z u r ü c k g e w o r f e n auf d e n Appell an E i n sicht u n d W o h l v e r h a l t e n . „ J e g r ö ß e r die R a t i o n a l i t ä t u n d Einsicht in den a u t o n o men G r u p p e n sind . . . u m so m e h r kann d e r Staat sich k ü n f t i g in einen A u f k l ä rungs- u n d O r i e n t i e r u n g s s t a a t v e r w a n d e l n . " 4 1 Ein weiteres p r o b a t e s Mittel ist eine s t ä n d i g e nachträgliche Anpassung d e r a n g e s t r e b t e n Z i e l g r ö ß e n an die tatsächliche E n t w i c k l u n g . So w u r d e n k u r z e r h a n d die Z i e l p r o j e k t i o n e n des J a h r e s w i r t schaftsberichts bei d e r A r b e i t s l o s e n q u o t e v o n 1 P r o z e n t ( 1 9 6 9 ) auf 8,5 P r o z e n t ( 1 9 8 6 ) n a c h o b e n revidiert; die W a c h s t u m s r a t e hingegen nach u n t e n von 4,5 P r o zent ( 1 9 6 9 ) auf 1,5 P r o z e n t ( 1 9 8 2 ) - u n d w i e d e r nach o b e n (Vgl. T a b e l l e 4). D i e Stabilitätspolitik m u ß t e sich d e n — tatsächlichen o d e r vermeintlichen S a c h z w ä n g e n spätindustrieller G e s e l l s c h a f t e n b e u g e n . Sie p a ß t e sich an die n o r mative K r a f t d e s F a k t i s c h e n an.
< Quelle: Andersen, U., Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, in: Grosser, D. (Hrsg.): Der Staat in der Wirtschaft der Bundesrepublik, Opladen 1985, S. 382. u. Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, Jg. 13, Nr. 1, 1. Januar 1987, S. 1. 39
40 41
So die Bundesregierung bereits 1971 in ihrer Stellungnahme zum Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 1971, BT-Drucksache VI/3570, Bonn 1972, S. V. Ebenda. So der damalige Wirtschaftsminister und ,Vater' des Stabilitätsgesetzes Karl Schiller. Schiller, K.: Zukunftsaufgaben der Industriegesellschaft, in: Shonfield, A.: Geplanter Kapitalismus, Köln 1968, S. XX.
162
Teil IV: Wirtschaft und Staat
Tabelle 4:
1969 1982 1986
Arbeitslosenquote
Inflationsrate IstWert
Wachstumsrate des BSP ProIstjektion Wert
Projektion
IstWert
Projektion
Projektion
IstWert
1 7 8,5
0,8% 7,5 % 8,9%
2 5 1,5-2
1,9% 5,3% -0,5%
4,5 1-1,5 3
2,2 + 4
2,9 % 2,2% 3,6%
8,2 % -1,2% 2,8 %
Außenbeitrag
Quelle: Floren, F.-J., G r u n d k u r s Wirtschaftspolitik, P a d e r b o r n 1986, S. 36 und iwd, Jg. 13, Nr. 1, 1.1.1987, S. 1.
6. Wirtschaftliche Krisen und politischer Immobilismus 6.1 ökonomischer Problemdruck und politisch-administratives System Systematisch lassen sich die skizzierten Restriktionen staatlicher Steuerung spätindustrieller Gesellschaften durch folgende Variablen-Blöcke verdeutlichen (Vgl. Schaubild 2):
Quelle: Scharpf, F . W . , Politischer Immobilismus und ö k o n o m i s c h e Krise, K r o n b e r g / T s . 1977, S. 3.
Die ökonomische Problemsituation ist definiert als Verschlechterung wirtschaftlicher Leistungsindikatoren (Wettbewerbsintensität, Beschäftigung, Wachstum, Geldwert, Zahlungsbilanz, Einkommensverteilung) gegenüber früheren oder erwarteten Werten. „Die objektive (wenn auch durch Konvention defi-
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
163
nierte) Problemsituation wird für das politisch-administrative System nicht unmittelbar zum Handlungszwang." 4 2 Er ergibt sich erst, wenn das Bestands- und Überlebensinteresse des politisch-administrativen Systems aktiviert wird; d.h., das Interesse der politischen Akteure, Wählerverluste, das Anwachsen alternativer' Parteien, Steuerausfälle, Leistungsverweigerung, Kriminalität oder Rebellion zu vermeiden. Anders ausgedrückt: Die Umsetzung ökonomischer Probleme in politische (Re-)Aktionen ist wesentlich von der Organisation konfliktfähiger Interessen (Unternehmer, Gewerkschaften, Bauern) abhängig - und von der Problemperzeption bzw. Reaktionsbereitschaft politisch-administrativer Akteure. Zu den Faktoren, die die politischen Reaktionen auf ökonomische Probleme verstärken oder abschwächen, gehören wesentlich auch die Strukturmerkmale des politisch-administrativen Systems selbst — etwa die Struktur der Parteienkonkurrenz 4 3 , die Interessenverbände und die Organisation der Massenmedien. Zwei extreme Bedingungskonstellationen sind denkbar: (1) Eine , D ä m p f u n g ' des ökonomischen Problemdrucks ist vorstellbar bei Einparteien-Dominanz, schwachem Verbändesystem und staatlich gelenkten Massenmedien (das französische Modell unter de Gaulle); (2) Eine , Verstärkung' des Problemdrucks bei Konkurrenz-Demokratie, starken Verbänden und pluralistischen Massenmedien (das britische Modell); Derartige Struktureigenschaften beeinflussen gleichzeitig das Problem-Verarbeitungspotential, das im wesentlichen besteht aus: 44 - materiellen und personellen Ressourcen des politisch-administrativen Systems (Steueraufkommen, Beamtenapparat); - informationellen Ressourcen (verläßliche Daten und problemgerechte Handlungsstrategien); - Kompetenz-Ressourcen (die Verfügbarkeit legaler Durchführungskompetenzen); - Loyalitäts-Ressourcen (die Bereitschaft des Behördenapparats und der betroffenen G r u p p e n , legale Entscheidungen zu akzeptieren und den beschlossenen Programmen Folge zu leisten). Die Umsetzung eines gegebenen Potentials in effektive Lösungen ( = Problemverarbeitung) scheint nun ihrerseits vom jeweiligen Problemdruck und von den Strukturmerkmalen des politisch-administrativen Systems abhängig. Hieraus folgt zweierlei: (1) Es wird ein ,reaktives' Verhalten vermutet; d.h., staatliche Politik plant und gestaltet nicht aktiv-vorausschauend wirtschaftliche Prozesse, sondern reagiert nur fallweise auf politischen Problemdruck (d.h. — wenn überhaupt — nur indirekt auf ökonomische Krisen).
42
43
44
Scharpf, F.W.: Politischer Immobilismus und ökonomische Krise, Kronberg/Ts. 1977, S. 4. Die folgenden Ausführungen lehnen sich an Scharpf an. Für die Parteienstruktur läßt sich etwa der Unterschied zwischen Konkurrenz-Demokratie, Konkordanz- oder (Proporz-)Demokratie und Einparteien-Dominanz unterscheiden. Vgl. Scharpf, F.W.: Politischer Lmmobilismus und ökonomische Krise . . a . a . O . , S. 6.
164
Teil IV: Wirtschaft und Staat
(2) Unter den Rahmenbedingungen spätindustrieller Demokratien sind keineswegs alle ökonomischen (oder andere) Probleme prinzipiell einer staatlichen Lösung zugänglich. Tatsächlich existiert eine Vielzahl äußerer und innerer Beschränkungen, die aus der gesellschaftlichen Umwelt bzw. aus der internen Struktur des politisch-administrativen Systems resultieren. Zusammengenommen bilden sie jene systemimmanenten Grenzen politischer Gestaltung, die das,Machbare' in der Politik anzeigen, das von Politikern gelegentlich unterschätzt und von Wissenschaftlern häufig überschätzt wird.
6.2 Äußere Restriktionen staatlicher Wirtschaftspolitik 6.2.1 Wirtschaftspolitik und Staatsverfassung Rechtliche Beschränkungen aktiver Politik ergeben sich unmittelbar aus der Verfassung, dem föderativen Staatsaufbau und dem internationalen Recht. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weist der Regierung bestimmte eng umgrenzte Kompetenzen zu und sichert den Bürger mit einem Katalog verfassungsmäßig garantierter Grundrechte vor direktem staatlichem Zugriff; z.B. durch Garantie der freien Berufs- und Arbeitsplatzwahl, des Erbrechts, der Koalitionsfreiheit und durch den Schutz des Privateigentums. Dadurch soll nach allgemein bejahter Absicht des Verfassungsgebers ein Umschlagen von der aktiven staatlichen Steuerung zur totalitären Herrschaft über das Individuum verhindert werden. Die verfassungsrechtlichen Beschränkungen aktiver Politik bestehen also aus wohlerwogenen Gründen. Sie sollen ein ausgewogenes System von ,checks and balances' sichern, um dem Bürger ein hohes Maß an individuellen Freiheitsrechten zu garantieren. Insofern sind derartige Restriktionen der Staatsmacht für demokratische Systeme überlebenswichtig. Durch sie werden aus dem Instrumentenkasten staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik von vornherein jene Maßnahmen ausgeschlossen, die den Prinzipien des demokratischen Rechts- und Sozialstaates widersprechen. Aber auch der föderative Staatsaufbau und die Verlagerung wichtiger Kompetenzen auf supranationale Institutionen etwa der E G , führen zur Einengung wirtschaftspolitischer Handlungsspielräume der Zentralregierung. 6.2.2 Wirtschaftspolitik und Interessenpluralismus Obwohl nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz ordnungsneutral ist — die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kann keineswegs die Verfassung für sich monopolisieren - , findet aktive Wirtschaftspolitik ihre Grenzen an betroffenen Privatinteressen. Der Grad privaten Widerstands gegen belastende wirtschaftspolitische Maßnahmen ist dabei unmittelbar abhängig von der Konfliktfähigkeit der jeweiligen Gruppen 4 5 .
45
Vgl. Offe, C.: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt am Main 1972.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher W a n d e l
165
Wenn eine G r u p p e die Möglichkeit hat, Teilkrisen des Systems zu erzeugen, verfügt sie über Veto-Macht bei geplanten wirtschaftspolitischen M a ß n a h m e n . In spätindustriellen Gesellschaften, die vor allem auf Wirtschaftswachstum und industrielle Leistungssteigerung angelegt sind, ist insbesondere die angemessene Berücksichtigung von Gewinn- und Lohninteressen für die Regierung unumgänglich. Eine Wirtschaftspolitik, die diesen Sachverhalt übersieht, läuft Gefahr, ihr K o n t o zu überziehen. Sie scheitert im Extremfall an der kollektiven Leistungsverweigerung konfliktfähiger T e i l - G r u p p e n der Gesellschaft, etwa am Generalstreik der Arbeiterschaft oder am Investitionsstreik der U n t e r n e h m e r . „ A b s t r a k t gen o m m e n verfügen die Regierungen in der Tat über enorm große Mittel, um gegen die U n t e r n e h m e r s c h a f t den großen Stock zu schwingen. In der Praxis müssen die Regierungen, die im Sinn haben, diese Mittel und Möglichkeiten zu gebrauchen . . . , bald feststellen, daß unter der Voraussetzung des ökonomischen und politischen Kontexts, in d e m sie arbeiten, dies Unterfangen mit unzähligen Schwierigkeiten u n d G e f a h r e n verquickt ist. Diese Schwierigkeiten und G e f a h r e n werden vielleicht am besten durch das gefürchtete Wort ,Vertrauensverlust' gekennzeichnet." 4 6 Die notwendige Rücksichtnahme der Regierung auf die organisierten Interessen konfliktfähiger G r u p p e n — sei es der Bauern, der Industrie, der Ärzteschaft, der A r b e i t n e h m e r — kann zu einer Beschränkung möglicher Politikinhalte führen. Z u m einen erweist sich der staatliche Rückgriff auf den gesellschaftlichen Status quo (d.h. auf das b e w ä h r t e Klientelverhältnis zwischen Regierung, Ministerialbürokratie u n d V e r b a n d s f u n k t i o n ä r e n ) als geeignetes Mittel, weiterreichende Loyalitätskrisen zu verhindern. Z u m a n d e r e n wächst die G e f a h r , d a ß nicht organisierte o d e r nicht konfliktfähige Interessen systematisch aus der Politik ausgeblendet werden. Hierzu k ö n n e n kollektive Interessen — etwa an besseren öffentlichen Verkehrsmitteln o d e r Umweltschutz — ebenso zählen wie die privaten Interessen schwacher G r u p p e n - etwa der R e n t n e r und Ausländer. 6.2.3 Wirtschaftspolitik und Parteienkonkurrenz J e d e Regierung ist in demokratischen Systemen abhängig vom Fortbestand ihrer parlamentarischen Mehrheit. Diese triviale Tatsache hat beträchtliche Konsequenzen: Um zu überleben, m u ß die Regierung Entscheidungen vermeiden, die ihre Mehrheit gefährden könnten, und alles tun, um ein A b w a n d e r n der Wähler zur Opposition zu verhindern. Diese Strategie der Stimmenmaximierung kann zum systemimmanenten Hindernis einer weiterreichenden Reformpolitik werden. Von ihr ist nämlich nur sicher, d a ß sie etwas kostet, jedoch ungewiß, ob sie je Erträge — an Wählerstimmen und gesellschaftlichem Nutzen - bringen wird. In dieser Situation liegt es nahe, kurzfristige R e a l p o l i t i k ' zu betreiben, die sich ausschließlich am gegenwärtigen Wählerwillen orientiert. „So kann in einer D e m o kratie der Ministerpräsident mit einem Reiter verglichen werden, der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, so völlig in Anspruch g e n o m m e n wird, d a ß er keinen Plan f ü r seinen Ritt aufstellen kann." 4 7
46
Miliband, R.: D e r Staat in der kapitalistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1 9 7 2 , S.
201. 47
S c h u m p e t e r , J.: Kapitalismus, Sozialismus und D e m o k r a t i e . . . , a.a.O., S. 4 5 6 f .
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
Fazit Das mehr oder minder zwangsläufige Ergebnis der skizzierten Restriktionen ist ein eher unkoordinierter, planlos anmutender Staatsinterventionismus. Er ist auch als „policy of muddling through" 48 — als Politik des ,Durchwursteins' beschrieben worden. Paradoxerweise bietet nur eine derartige Politik eine einigermaßen sichere Gewähr für eine Wiederwahl. ,Chaotisches' Vorgehen allein sichert kurzfristig das Überleben der Regierung. „Der Politiker . . . wird eine Strategie einschlagen müssen, die möglichst vielen genehm ist und möglichst wenigen Nachteile bringt. Er wird immer nur kleine Schritte unternehmen können und ohne klaren logischen Plan operieren müssen, denn würde er rasch und nach einem großangelegten Entwurf vorgehen, so würde er die Unterstützung vieler Befürworter verlieren. Seine Entscheidungen müssen aufeinander aufbauen, eine auf der anderen, oft ohne klare Linie. Je pluralistischer die Gesellschaft ist, in der er arbeitet, desto mehr Gruppen wollen zufriedengestellt werden, desto bruchstückhafter und schrittweiser wird der Entscheidungsprozeß sein." 49
6.3 Innere Restriktionen der Wirtschaftspolitik 6.3.1 Grenzen bürokratischer Hierarchie Auch innerhalb des politisch-administrativen Systems, speziell innerhalb der staatlichen Bürokratie, trifft aktive Wirtschaftspolitik auf erhebliche Widerstände. Wer den Gang der Dinge nachhaltig und systematisch beeinflussen will, muß planen. Aktive Politik und Zukunftsgestaltung setzen also politische Planung voraus. Die klassische staatliche Ordnungsverwaltung ist aber von ihrem Aufbau und ihrer Organisation alles andere als geeignet, Gestaltungs- und Planungsaufgaben wahrnehmen zu können. Überspitzt formuliert: Der Planer denkt über Ziele und Programme nach, der Bürokrat über Mittel und Kompetenzen. Dies liegt nicht etwa an der Unfähigkeit des Bürokraten, sondern an der Struktur bürokratischer Organisationen. Sie basieren auf einer festgelegten Hierarchie, auf einem starren System von Zuständigkeiten und Verfahrensweisen. Solange der gesellschaftliche Wandel sich langsam und überschaubar vollzog, erwies sich eine staatliche Bürokratie, die nach den Prinzipien von Hierarchie, Autorität und Spezialisierung organisiert war, als äußerst leistungsfähig. Sie wurde sogar zum Vorbild für den Aufbau anderer Organisationen in Wirtschaft, Kultur und Technik. „Aber das ..., was sich als Herrschaftsinstrument und Arbeitsverteilungsprinzip für eine konstante Umwelt und Problemlage relativ effizient ausnimmt, kann unter veränderten Umständen in sein Gegenteil umschlagen. Bürokratie wird dann zum Bürokratismus, Fachgeschultheit der Bürokraten zur geschulten Unfähigkeit." 5 0 48
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Lindblom, Chr.: Science o f , M u d d l i n g Through', in: Public Administration Review, Vol. 19, 1959. Haas, E.B.: Die Einigung Europas, in: Sidjanski, D. u.a.: Erfolge und Krisen der Integration, Köln 1969, S. 61. Hartfiel, G . : Die öffentliche Verwaltung zwischen technischem Fortschritt und sozialem Wandel, in: H a m b u r g e r Jb. f ü r Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 15. Jahr, 1970, S.199.
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Die Effizienz bürokratischer Organisationen beruht offenbar auf zwei gesellschaftlichen Voraussetzungen, die sich inzwischen gewandelt haben: • Die v o n der Organisation zu erfüllenden A u f g a b e n müssen verhältnismäßig gleichförmig sein. Sie dürfen sich weder nach A r t noch nach U m f a n g kurzfristig und u n v o r h e r s e h b a r ändern. • Die A u f g a b e n müssen sich in relativ einfache und routinemäßig standardisierte Teilaufgaben zerlegen lassen, für deren Erfüllung Zuverlässigkeit und A u s d a u er wichtiger sind als theoretisch fundierte Kenntnisse, Selbständigkeit und komplexe Fertigkeiten. „Im Bereich der Verwaltung treffen die genannten Voraussetzungen f ü r die B e h ö r d e n der klassischen Ordnungs- und Eingriffsverwaltung eher zu als f ü r die m o d e r n e Dienstleistungsverwaltung und insbesondere die planende Verwaltung. Damit ist aber zugleich gesagt, d a ß der soziale und technische Wandel h e u t e in weiten Bereichen die Voraussetzungen f ü r die Zweckmäßigkeit der Bürokratie unterminiert hat." 3 1 Die Unfähigkeit der klassischen Ordnungsbürokratie, sich an eine gewandelte gesellschaftliche Umwelt anzupassen oder sie gar zu gestalten, zeigt sich in zahlreichen P u n k t e n . Zunächst f ü h r e n die vielfältigen Steuerungsanforderungen spätindustrieller Gesellschaften an die planende Bürokratie zu einer d a u e r n d e n Überlastung der zentralisierten Verwaltungsspitze 5 2 . Trotzdem nimmt die Zahl von Routineentscheidungen zu Lasten innovativer Entscheidungen laufend zu. „Eine weitere Beschränkung f ü r die Entwicklung langfristiger Politikstrategien ist die Knappheit politischer A u f m e r k s a m k e i t für die noch nicht akuten Probleme. Dies g i l t . . . insb e s o n d e r e für die politische Leitungsebene, deren Zeitbudget durch den Druck kurzfristig entscheidungsbedürftiger Fragen und akuter Krisen jeder Art so völlig überlastet ist, d a ß die Beschäftigung mit längerfristigen Perspektiven und die E n t wicklung zukunftsorientierter politischer Strategien als ein Luxus erscheint, den man sich gern einmal leisten würde und doch immer wieder versagen m u ß . " 5 3 Die T e n d e n z zur Festschreibung des gesellschaftlichen Status quo wächst, weil die staatliche Bürokratie aufgrund ihrer hierarchischen Struktur neue Probleme nicht m e h r - oder zumindest nicht hinreichend - a u f n e h m e n und bearbeiten kann. Kurz: D a s bürokratisch-hierarchische Modell setzt die Prämien auf die Bewahrung des bisherigen, nicht auf seine V e r ä n d e r u n g . 6.3.2 Expansion statt Innovation Statt mit organisatorischen R e f o r m e n , also qualitativer Politik, hat man versucht, den gestiegenen Umweltanforderungen der Verwaltung mit quantitativer Politik zu begegnen: Die Zahl der Ministerien, Abteilungen und des Personals stieg stark 51
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Mayntz, R.: Bürokratische Organisation und Verwaltung, in: Wissen im Überblick, Freiburg i. Br. 1971, S. 484. Empirische Untersuchungen über die Arbeitsbelastung von höheren Ministerialbeamten in Bonn ergaben wöchentliche Arbeitszeiten zwischen 65 und 70 Stunden. Vgl. Ellwein, Th.; Zoll, R.: Berufsbeamtentum. Anspruch und Wirklichkeit, Düsseldorf 1973, S. 13. Scharpf, F.W.: Planung als politischer Prozeß, Frankfurt am Main 1973, S. 144f.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
an, die überholten Organisationsstrukturen blieben — von wenigen Modifikationen abgesehen - unverändert bestehen. Die Bürokratie verlängerte damit — man ist versucht zu sagen, auf typisch bürokratische Weise — die Sackgasse, in die sie geraten war 54 . Es entwickelte sich ein arbeitsteiliges System von Ministerien und Behörden mit isolierten Fachplanungen, Koordinationsproblemen sowie Kompetenz- und Machtkonflikten um knappe Steuermittel. Zwei Ausweichstrategien sind zu beobachten: (1) Angesichts dauernder zeitlicher Überlastung liegt es nahe, Informationen und Sachverstand außerhalb der Bürokratie zu mobilisieren. Man greift auf die .bewährte' Zusammenarbeit mit Experten und den Vertretern organisierter Interessen zurück. So entwickelte sich in vielen Ressorts ein relativ stabiles Klientelverhältnis zwischen Ministerialverwaltung und Interessengruppen. (2) Die internen Konflikte um knappe Ressourcen versucht man durch eine forcierte Wachstumspolitik zu entschärfen — in der Hoffnung, über erhöhte Steuereinnahmen größere finanzielle Handlungsspielräume zu erlangen. Die paradoxe Folge: Der moderne Interventionsstaat — angetreten als Korrektiv der Marktwirtschaft — bringt mit seinen wachsenden Kosten die Marktwirtschaft an den Rand ihrer Funktionsfähigkeit, „weil das ökonomische System einen wesentlichen Teil seiner korrekturbedürftigen Folgelasten dem staatlich-administrativen System überantwortet. Dem Wachstum des ökonomischen Systems folgt daher ein meist überproportionales Wachstum des wohlfahrts- und sozialstaatlichen Apparates auf dem F u ß . . . Der moderne Wohlfahrtsstaat droht hier in einen Teufelskreis zu geraten, er setzt zu seiner eigenen Finanzierung eben jenes bedingungslose Wirtschaftswachstum voraus, dessen explosive steigende Folgekosten er mit abnehmendem Erfolg bekämpft." 5 5
7. Staats versagen: Die Krise der Wirtschaftslenkung Die Unfähigkeit der Sozialingenieure mit Hilfe mechanischer Formeln komplexe gesellschaftliche Systeme zu steuern, hat die liberale Kritik an der ,Machbarkeit' wirtschaftlichen Wandels wiederbelebt — und empirisch eindrucksvoll untermauert. Die Kontroverse geht nicht mehr nur um die Auswahl geeigneter Rezepte für wirtschaftspolitische Therapie. Sie geht tiefer um die Frage, ob der interventionistische Staat überhaupt der geeignete Arzt ist56. Zum einen hat sich die marktradikale Position unter Ägide der ,Chicago-Schule' neu formiert. Die Markttheoretiker haben ihren normativen Ansatz präzisiert und auf letztlich alles menschliche Handeln verallgemeinert. Eine Renaissance des klassischen Liberalismus bahnt sich an. Wirtschaftspolitisch läßt diese Position im Grunde nur eine effizienzstei54
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Vgl. Crozier, M.: D e r bürokratische Circulus vitiosus und das Problem des Wandels, in: Mayntz, R. (Hrsg.): Bürokratische Organisation, K ö l n - B e r l i n 1968, S. 277ff. Ulrich, P.: T r a n s f o r m a t i o n d e r ökonomischen V e r n u n f t , Bern und Stuttgart 1986, S. 446f. Vgl. zum folgenden: J a h r b u c h für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie: Staatliche Wirtschaftsregulierung in der Krise, O p l a d e n 1986, S. 9ff.
2. Kapitel: Wirtschaftlicher Wandel
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gernde Neuverteilung von Eigentumsrechten (property rights) zu. Selbst eine staatliche (Anti-)Konzentrationspolitik wird nicht akzeptiert; denn Unternehmenskonzentration gilt als Folge der Fähigkeit des Marktes, auch die Marktstruktur zu optimieren. „Die Effizienz ist dabei das normative Substrat, mit der aus dieser Sicht Deregulierung, Privatisierung und Entstaatlichung als vorrangige wirtschaftspolitische Instrumente gerechtfertigt werden sollen." 57 Zum anderen ist die staatliche Wirtschaftsregulierung selbst bei jenen marktkritischen Positionen in Mißkredit geraten, die noch in den siebziger Jahren den Staat als Kontrapart zur Kapital- und Marktlogik gerufen haben. Verschiedene Argumente spielen dabei eine Rolle: — Unter dem Schlagwort ,capturing' wird auf ein bekanntes Phänomen aufmerksam gemacht: Regulierende und kontrollierende Behörden neigen - aus durchaus verständlichen Gründen - dazu, sich im Laufe der Zeit die Interessen der zu regulierenden privaten Organisationen zu eigen zu machen. — Aus technikkritischer und ökologischer Position erscheint der Staat als Bestandteil eines technisch-ökonomischen Herrschaftsapparats, der eine menschenfeindliche Entwicklung vorantreibt und die Selbstbestimmung des Menschen einengt. — Auch bürokratietheoretische und organisationssoziologische Zweifel an der Effizienz staatlicher Aktivitäten werden wieder aufgenommen. „Am Ende steht die These vom doppelten Versagen von Markt und Staat." 58 Mit anderen Worten: Die Debatte, ob der Markt oder der Staat ökonomischer Souverän zu sein hat, ist ein weiteres Mal in Gang gekommen.
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Ebenda. Vgl. hierzu auch: Beihefte der Konjunkturpolitik: Deregulierung als ordnungsund prozeßpolitische Aufgabe, H. 32, Berlin 1986. Ebenda.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
3. Kapitel Wirtschaft und Staat in Japan Einführung D a s Verhältnis zwischen Wirtschaft u n d Staat als eine z e n t r a l e wirtschaftssoziologische Frage, nämlich als die Frage nach d e n B e z i e h u n g e n zwischen diesen b e i d e n B e r e i c h e n als S u b s y s t e m e n d e r Gesellschaft, hat ü b e r d e n jeweiligen n a t i o n a l e n R a h m e n hinaus p r a k t i s c h e B e d e u t u n g f ü r den W e t t b e w e r b auf den i n t e r n a t i o n a len M ä r k t e n . Es b e s t i m m t sich grundsätzlich nach d e m jeweils h e r r s c h e n d e n W i r t schaftssystem; im W i r t s c h a f t s v e r k e h r zwischen A n g e h ö r i g e n unterschiedlicher W i r t s c h a f t s s y s t e m e k a n n es eine U r s a c h e von e r h e b l i c h e n B e n a c h t e i l i g u n g e n sein. Tendenziell k o n v e r g i e r e n heute die beiden wichtigsten hier r e l e v a n t e n A u f f a s sungen: L ä n d e r mit z e n t r a l e r Wirtschaftsplanung g e b e n die staatliche A l l m a c h t ( W i r t s c h a f t s m o n o p o l ) teilweise auf, wohingegen in d e n L ä n d e r n mit bislang relativ s t a a t s i n t e r v e n t i o n s f r e i e r Wirtschaftsweise die staatlichen O r g a n e in wachsend e m M a ß e s t e u e r n d e i n g r e i f e n (1). W ä h r e n d d u r c h d e n P r o z e ß der A n n ä h e r u n g d e r A u f f a s s u n g e n u n d Praktiken in diesen b e i d e n gegnerischen L a g e r n eine d e r V o r a u s s e t z u n g e n f ü r f a i r e n Wirtschaftsaustausch zwischen ihnen geschaffen wird, bleiben die W i r t s c h a f t s b e z i e h u n g e n zwischen J a p a n u n d den , P a r t n e r n ' im eigen e n Lager als Folge von Praktiken, die hier dargestellt u n d analysiert w e r d e n sollen, durch U n g l e i c h h e i t g e k e n n z e i c h n e t . Mit d e m Hinweis auf die ü b e r 100 strategisch an wichtigen H a n d e l s z e n t r e n d e r E r d e e i n g e r i c h t e t e n , d u r c h m o d e r n s t e T e l e k o m m u n i k a t i o n s - T e c h n i k netzwerkartig v e r b u n d e n e n u n d zentral g e s t e u e r t e n J E T R O - R e g i e r u n g s a g e n t u r e n (Japan E x t e r n a l T r a d e O r g a n i z a t i o n ) , welche f ü r die „ B e r a t u n g " j a p a n i s c h e r U n t e r n e h m e n zur V e r f ü g u n g stehen, sollen d e r O f f e n s i v c h a r a k t e r d e r darzustellenden japanischen M a ß n a h m e n und die Naivität von E W G - R e g i e r u n g e n , welche zumal kleinere e u r o p ä i s c h e P r i v a t f i r m e n zu weltw e i t e m W e t t b e w e r b auch mit Japan e r m u t i g e n , vorläufig a n g e d e u t e t sein (2). Nach e i n e r von B ü ß ( 1 9 8 5 ) v o r g e n o m m e n e n T y p o l o g i e der Wirtschaftsweisen ist J a p a n hinsichtlich seiner Wirtschaftsphilosophie und -Wirklichkeit eindeutig d e m M a r k t s t e u e r u n g s m o d e l l z u z u o r d n e n , das im wesentlichen ein n a c h eigenen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n f u n k t i o n i e r e n d e s System von M ä r k t e n ist, welches (das m u ß m a n als weiteres wichtiges M e r k m a l dieses T y p s im Hinblick auf die weltwirtschaftliche V e r f l e c h t u n g h e u t e hinzufügen) von der R e g i e r u n g prinzipiell auch f ü r
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Vgl. Charles E. Lindblom: Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomischen Systeme. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983 (zuerst New York 1977) (Ullstein Tb. Nr. 39 065) Mittlerweile steht das Informationspotential der offiziellen japanischen Außenhandelsorganisation J E T R O interessierten deutschen Geschäftsleuten über den am 15. Januar 1986 in Düsseldorf gegründeten Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreis ( D J W ) zur Verfügung. J E T R O ist am DJW-Sekretariat (4000 Düsseldorf, Steinstraße 2) beteiligt und hat beispielsweise für 1987 ein Programm vorgestellt, das ausländischen Herstellern die Teilnahme an japanischen Fachmessen erleichtern soll.
3. Kapitel: Wirtschaft und Staat in Japan
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den inter-nationalen Wirtschaftsverkehr als gültig betrachtet wird. Es wird gezeigt werden, daß Japan sich bei grundsätzlich marktwirtschaftlicher O r d n u n g durch massiv lenkende Eingriffe des Staates in die Wirtschaft verhältnismäßig weit vom Ideal des reinen und vollkommenen Wettbewerbs, das der dort vertretenen Doktrin zugrunde liegt, entfernt hat. Japan gibt im Hinblick auf die wirtschaftlichen Erfolge im Verlaufe seiner Entwicklung zur ersten asiatischen Industriegesellschaft für die Diskussion um das Für und Wider staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsablauf einen Hinweis darauf, daß bei der v o r z u n e h m e n d e n Abwägung Beeinflussungen im m a k r o ö k o n o mischen Bereich zu berücksichtigen sind, die dem D o g m a des herrschenden Wirtschaftssystems zwar im Prinzip widersprechen, aber hohen wirtschaftlichen Erfolg zeitigen können (Realität und Effizienz von wirtschaftlichen Mischsystemen). Am Beispiel der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Japan (in historischer und aktueller Sicht) kann zugleich in besonders eindrucksvoller und unverdächtiger Weise die geradezu missionarisch vertretene These der „ f ü h r e n d e n Verteidiger des Kapitalismus" (J. Buchanan, M. Friedman, F.A. v. Hayek, L. v. Mises, G. Reisman) geprüft werden, d a ß Eingriffe des Staates zwangsläufig zu wirtschaftlichem Chaos beziehungsweise Mißerfolg und zu einer totalitären (sozialistischen) Diktatur führen. Mit dieser wirtschaftssoziologischen Japan-Studie, die kulturvergleichende Materialien für die Bildung einer soziologischen Theorie der wirtschaftlich-technischen Entwicklung und Modernisierung bereitstellt, wird schließlich einer von vielen Faktoren (Rolle des Staates bei der wirtschaftlichen Entwicklung) untersucht, die in ihrer Gesamtheit (3) den Aufstieg Japans zur industriellen Großmacht begünstigten. Obwohl das vielzitierte „Modell J a p a n " , das in hohem Maße ein Modell nach westlichem Muster ist, wegen seiner spezifischen gesellschaftlichen (insbesondere ideologischen) Grundlage kaum als Ganzes zur Nachahmung geeignet ist, soll diese Untersuchung zeigen, ob zumindest die Ü b e r n a h m e von (hier thematisierten) Teilelementen wirtschaftlichen Nutzen bringen kann, und zwar nicht nur etwa für die Entwicklungsländer (4). Nach wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis ist wirtschaftliches Wachstum in der Regel mit Strukturwandel der Wirtschaft verbunden; die O E C D hebt seit Jahren zur Beschreibung des H a u p t p r o b l e m s beim Strukturwandel den Begriff „Positive Anpassungspolitik" hervor. Die japanische Regierung folgt diesen E m p f e h lungen seit langem mit nachweislichen Erfolgen. Im Gegensatz zu dieser E m p f e h lung tendiert man beispielsweise in der B R Deutschland dazu, die auf der Grund-
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Eine nützliche Z u s a m m e n f a s s u n g der für den A u f s t i e g Japans relevanten Faktoren gibt die Z u s a m m e n s t e l l u n g (mit teilweise v e r g l e i c h e n d e n D a t e n ) der A x e l Springer Verlag A G : Wirtschaftsmacht Japan, Berlin 1 9 8 1 (gratis). Vgl. auch die Faktorenliste bei James C. A b e g g l e n / G e o r g e Stark jr., K A I S H A . D a s G e h e i m n i s des japanischen Erfolgs, Düsseldorf, W i e n 1 9 8 6 ( Ü b e r s . ) , S. 3 2 4 , w o allerdings u.a. auch der wichtige Faktor Staat fehlt (im übrigen widerspricht der d e u t s c h e Untertitel des B u c h e s der ausdrücklichen A u f f a s s u n g der A u t o r e n ) . Erfolgreiche N a c h a h m u n g hat Japan in d e n asiatischen R e p u b l i k e n Korea, Taiwan und Singapur g e f u n d e n , w o b e i j e d o c h Ä h n l i c h k e i t e n im W e r t e s y s t e m s o w i e in der Sozialstruktur als F o l g e der in diesen Ländern zum Tragen g e k o m m e n e n konfuzianischen I d e o l o g i e zu berücksichtigen sind.
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
läge des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 praktizierte Struktur- oder Industriepolitik zur reinen Subventionspolitik degenerieren zu lassen und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu behindern (Strukturerhaltung als Behinderung). Während der Staat bei uns die Anpassung an den wirtschaftlichen Strukturwandel verhindert, indem er Unternehmen und Industriezweige mit relativ hohen Subventionen (vgl. 10. Subventionsbericht der Bundesregierung vom 12.09.1985) schützt, betreibt der japanische Staat, als eines der „westlichen" Industriezentren ebenfalls auf der Grundlage der liberalen Wirtschaftsphilosophie, durch massiv planende und lenkende Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse die wachstumsorientierte Politik der „Schöpfung und Zerstörung" und verteilt relativ wenig Subventionen. Eine Untersuchung dieser japanischen Politik in Vergangenheit und Gegenwart vermag wichtige Erkenntnisse zu den Grundfragen „Wirtschaft und Staat" beziehungsweise „Effizienz versus Verteilung" zu liefern; der vereinfachende Hinweis auf das herrschende Wirtschaftssystem als Antwort entspricht offensichtlich auch im Falle Japans nicht der Differenziertheit der tatsächlichen Wirtschaftsabläufe.
Die Rolle des Staates bei der Industrialisierung Japans Nach dem Rückgang der Regierungsgewalt von den Shogunen (1192-1868) auf die Kaiser wurde in der Meiji-Zeit (1868—1912) die Transformation Japans von einer vorindustriellen in eine Industriegesellschaft systematisch vorangetrieben. An diesem Prozeß war die japanische Regierung von Anbeginn mit einer entschlossen durchgeführten Industrialisierungspolitik beteiligt; sie wollte die Bedrohung durch die technisch entwickelten Industriestaaten Europas und N-Amerikas abwehren, die an der Küste des Jahrhunderte lang abgeschlossenen Landes gelandet waren. Vom Modell des eben erst schockartig ins öffentliche Bewußtsein Japans gelangten europäischen Kapitalismus ausgehend, strebte die japanische Regierung, von vorausschauenden Intellektuellen geführt und beraten, kurzentschlossen den schnellen Aufbau eines (nicht nur) wirtschaftlich modernen Staates an. Dazu sollten die westliche Technik eingeführt und moderne Unternehmen gegründet werden, wobei man sich zweier Methoden bediente: 1) Um der Bevölkerung ein Beispiel zu geben, gründete die Regierung eigene Unternehmen (im Eisenbahnwesen, im Bergbau, in der Leicht- und Schwerindustrie, z.B. in der Seidenspinnerei, im Schiff- und Maschinenbau); diese Unternehmen wurden von ausländischen Technikern in Gang gebracht. 2) Die Regierung förderte die Gründung moderner Unternehmen auf privater Grundlage. Die Gründer erhielten ohne Rücksicht auf ihren sozialen Status Kapitalhilfen in Form von Darlehen usw., kostenlose Grundstücke und Industrieanlagen, Subventionen und die Garantie für die Abnahme ihrer Erzeugnisse, beispielsweise von militärischen Gütern. Fabrikmäßige Produktion und Regierungsunternehmen gab es auch schon vor 1868; ihre neuen Varianten aber waren nach westlich-modernem Schema organisiert und verstanden sich als „staatliche Musterbetriebe" (Pilotfabriken). Zwi-
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sehen dem neuartigen Typ von Geschäftsleuten, von denen viele vorher Samurai oder wohlhabende Grundbesitzer waren, und den Beamten der Staatsregierung entwickelten sich enge persönliche Bindungen; die Bereiche von Wirtschaft und Staatsbürokratie (Politik) sind seither in einer für Japan typischen Weise miteinander verflochten. Die Förderung der Privatunternehmer war oft mit persönlicher Favorisierung verbunden, aber in der betrieblichen Tätigkeit sah man mehr als nur die Verfolgung privater Interessen, sondern ganz wesentlich einen Beitrag zur Entwicklung der Nation. Das Ziel der geschäftlichen Aktivität war ein deutlich politisches, und die neuen Unternehmer akzeptierten wie selbstverständlich die von ihnen erwartete missionarische Aufgabe. Das entspricht der heute noch überwiegend gültigen Einstellung der Japaner zur Loyalität gegenüber dem Staat als höchstem Kollektiv der Nation, welcher man dabei in erster Linie dienen will. Das Nebeneinander von staatlichen Unternehmen und durch die Regierung geförderten Privatunternehmen (neben den weiterexistierenden traditionellen Handels- und Gewerbebetrieben aus der vor-modernen Zeit) erhielt sich bis in die Mitte der 1880er Jahre, als die Regierung begann, einerseits die staatlichen Unternehmen allmählich an Privatunternehmer zu verkaufen und andererseits die bisherigen Förderungsmaßnahmen einzuschränken oder abzuschaffen. Das entsprach dem Konzept der Meiji-Regierung, wonach die Industrialisierung Japans von vornherein auf die Wirtschaftsordnung mit freiem Wettbewerb unter privaten Unternehmern gerichtet war. Obwohl sich später einige Unternehmensgruppen (MITSUI, MITSUBISHI) von der Politik fernhielten, unterstützten doch die meisten der durch die erwähnten Privilegien reich gewordenen Unternehmer weiterhin ausdrücklich die neue Politik der Regierung. Diese ließ im Gegenzug die Unternehmer relativ frei walten, und als bereits nach 1880 die Bildung von Fusionen, Kartellen und Monopolen einsetzte, ermutigte sie eher noch zu dieser Entwicklung. Obwohl seit Ende des 19. Jahrhunderts in Japan offiziell die Idee der freien Wirtschaft herrschte, wurde in der Praxis der freie Wettbewerb damit schon bald massiv eingeschränkt. Durch die Förderungsmaßnahmen weitsichtiger Regierungsbürokraten erreichte Japan ein schnelles wirtschaftliches Wachstum und die Verwirklichung der nationalen Parole: Fukoku — kyohei (ein reiches Land - eine starke Armee). Im Innern wurde diese Entwicklung gefördert durch eine entsprechende Kredit- und Steuerpolitik sowie indirekt durch die Einrichtung vorbildlicher Bildungseinrichtungen; im Äußern waren die militärischen Siege über China (1895) und Rußland (1905) sowie die Schaffung von Kolonien ab 1910 in Korea, Formosa, Mandschurei usw. förderlich, wodurch neue Märkte und Rohstoffquellen gewaltsam erschlossen wurden. Als auch Japan nach 1930 von der Weltwirtschaftskrise betroffen wurde, stärkte dies den Einfluß der Regierung auf die Unternehmen. 1931 wurde auf Betreiben der Regierung fast ohne Widerstand das „Gesetz zur Kontrolle wichtiger Industriesektoren" und das „Gesetz über industrielle Genossenschaften" erlassen. Das erste betraf überwiegend die großen und das letzte die mittleren und kleinen Unternehmen. Demgemäß organisierte das Ministerium für Industrie und Handel (später MITI) fast alle wichtigen Wirtschaftssektoren zu Kartellen und unterwarf deren sämtliche Aktivitäten der staatlichen Kontrolle. Offiziell wurde dies damit begründet, die durch die Weltwirtschaftskrise gestörte Industrialisierung des Lan-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
des in den Griff zu b e k o m m e n ; tatsächlich überwachte die Regierung streng die Produktionskontingente, die Abgrenzung der Produktionsbereiche, die Anlageinvestitionen, die Aufteilung der Absatzmärkte, die A b s a t z m e t h o d e n (z.B. gemeinsamen V e r k a u f ) usw. Als J a p a n 1937 das im Bürgerkrieg befindliche China überfiel und 1941 mit dem vermessenen Angriff auf die U.S. A. in Pearl H a r b o r den Krieg im Pazifik begann, hatte die Regierung das Kartellsystem schon einfach auf alle Industriesektoren ausgedehnt u n d besaß auf diese Weise ein umfassendes System der Kontrolle und L e n k u n g der Wirtschaft auch für diese Phase der militärischen Expansion. Z u r Ü b e r w i n d u n g der Folgen der Depression von 1 9 2 9 - 3 1 hatte die Regierung zuvor schon den Zusammenschluß der A g r a r b e t r i e b e zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und die Vereinigung der kleinen Industrie- und H a n delsbetriebe zu Produktions- und Exportgenossenschaften organisiert. Als Folge der seit d e m Beginn der Modernisierung in Japan lebendigen Idee der Nation (Industrialisierung um der nationalen G r ö ß e und Unabhängigkeit willen) folgten die U n t e r n e h m e r nicht nur widerstandslos der Führung beziehungsweise den nationalen Zielen der Regierung, sondern kam es zu einer solch engen V e r b i n d u n g zwischen beiden, daß dadurch besonders auch nach 1931 die allgemeine Wohlfahrt schnell und merklich gefördert wurde. Wesentlichen Anteil an dieser wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung nach den zwanziger J a h r e n , die in Japan so wenig „ g o l d e n " waren wie im W e i m a r e r Deutschland, hatten vor allem die großen U n t e r n e h m e n s g r u p p e n (zaibatsu — wörtlich: Finanzcliquen), deren wichtigste faktisch P r o d u k t e der R e f o r m e n nach 1868 waren und deren Führer, teilweise auch durch Heiraten mit der Politik liiert, durch die Regierung protegiert wurden (5). Regierung und Wirtschaft nach dem Krieg im Pazifik Nach 1945 w u r d e n die japanische Wirtschaft durch die U.S.-Besatzungsmacht mit Hilfe von Anti-Monopol-Gesetzen entflochten und das Wettbewerbssystem mit Hilfe einer Fair T r a d e Commission wieder eingeführt. Die historisch bedingte, für die wirtschaftliche Entwicklung Japans vorteilhafte Verbindung zwischen Wirtschaft und Staat ruhte f ü r eine Weile; aber bald k n ü p f t e n die neuen Regierungen an die ungebrochene Loyalität dem Staate gegenüber an und ü b e r n a h m e n die Führung, damit die wirtschaftliche Entwicklung in Übereinstimmung mit den von ihnen konzipierten nationalen Interessen stattfand. Das Ziel der japanischen Politik war nun nicht mehr die Beherrschung (Ost-) Asiens, sondern gleichsam als (zugleich aber erweiterten) Ersatz entwickelte man den u n v e r k e n n b a r e n und durch eine inoffizielle Parole gestützten Ehrgeiz, die Weltwirtschaftsmacht N u m m e r Eins (sekai ni kantaru) zu werden. U m dieses globale Ziel (regierungsoffizielles Ziel war selbstverständlich die Steigerung des Lebensstandards) zu erreichen, bedurfte es der Koordinierung der unternehmerischen Aktivitäten mit den Vorstellungen der Staatsbürokratie. Dazu bedienten sich die japanischen Regierungen (wieder) der wirtschaftlichen R a h m e n p l a n u n g .
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Vgl. T s u n e h i k o Yui: Zaibatsu. In: K. Ichihara/S. T a k a m i y a ( H g . ) a.a.O. 1 9 7 7 , S. 4 5 - 5 5 .
3 . Kapitel: W i r t s c h a f t und Staat in J a p a n
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Nationale Wirtschaftspläne Das erste Dokument japanischer Wirtschaftsplanung, welches Inukai/Tussing ( 1 9 6 7 / 6 8 ) als den „ersten Wirtschaftsentwicklungsplan der W e l t " bezeichnen, sind die „Ratschläge für die Industrialisierung" (kogyo iken) von 1884. Es handelt sich dabei einerseits um eine umfangreiche Analyse der damaligen wirtschaftlichen Lage und andererseits um eine Vorausplanung für die Jahre 1885 bis 1895. Ziel des Plans war die Ausweitung der „Wirtschaftskraft des Volkes" (in heutiger Terminologie: des Wachstums des Nationalprodukts) mit konkreten Hinweisen für den Staat, wie er zum Zwecke einer ausgeglichenen Entwicklung insgesamt Landwirtschaft und Kleinindustrie fördern sollte. Wirtschaftsplanung im umfassenden Sinn stellen dann erst wieder der „Fünfjahresplan für die Basisindustrien" ( j u y ° sangyo gokanen keikaku yoko) von 1937 und die verschiedenen Wirtschaftsregulierenden Gesetze dar, die auf Grund des Allgemeinen Nationalen Mobilisierungsgesetzes (kokka sodoin ho) von 1938 erlassen und durchgeführt wurden. Nach dem Wiederaufbau des Landes nach 1945 unter der Kontrolle der U.S.Besatzungsmacht kam 1954 Shigeru Yoshida an die Macht, der seinem Vorgänger exzessives Laissez-Faire in Wirtschaftsfragen vorwarf und prompt in der Tradition der Vorkriegsverhältnisse einen Fünfjahresplan für die wirtschaftliche Weiterentwicklung ausarbeiten ließ, der im Dezember 1955 in Kraft trat. Seither waren neben weniger globalen anderen vor allem die folgenden staatlichen Wirtschaftsentwicklungs-Pläne mit programmatischen offiziellen Namen gültig: 1) 1 9 5 6 - 1 9 6 0 : Wirtschaftsautonomie-Plan 2) 1 9 5 8 - 1 9 6 2 : Langfristiger Wirtschaftsplan 3) 1 9 6 1 - 1 9 7 0 : Volkseinkommens-Verdoppelungs-Plan 4 ) 1 9 6 4 - 1 9 6 8 : Mittelfristiger Wirtschaftsplan 5) 1 9 6 7 - 1 9 7 1 : Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklungs-Plan 6) 1 9 7 0 - 1 9 7 5 : Neuer Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklungs-Plan 7) 1 9 7 3 - 1 9 7 7 : Grundlegender Wirtschafts- und Gesellschaftsplan 8) 1 9 7 6 - 1 9 8 0 : Nationaler Wirtschaftsplan 9) 1 9 7 9 - 1 9 8 5 : Neuer Siebenjahresplan für Wirtschaft und Gesellschaft 10) 1 9 8 3 - 1 9 9 0 : Perspektiven und Leitfaden für Wirtschaft und Gesellschaft in den 1980er Jahren Im wesentlichen wurden mit diesen fünf bis zehn Jahre laufenden Plänen die folgenden, zum Teil aus den Bezeichnungen ersichtlichen Ziele angesteuert: — Vollbeschäftigung (Nr. 1) — maximales Wachstum, Lebensstandard (Nrn. 2, 3) — „Korrektur von Verzerrungen" (Nr. 4) — „Ausbalancieren einer reichen Wirtschaft und Gesellschaft" (Nr. 5) — „Zu einer menschlichen Wirtschaft und Gesellschaft" durch Schaffung einer Balance zwischen Wachstum und Umwelt (Nr. 6) — nationale Wohlfahrt und internationale Harmonie (Nrn. 7, 8). — Verbesserung der Lebensqualität und Förderung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Nrn. 9, 10). In der vorgestellten Form erscheinen die Ziele der Pläne aus japanischer Sicht als plausibel und aus internationaler Sicht zum Teil als kooperativ. Den detaillierten Planvorgaben kann man entnehmen, daß es den Regierungen konkret vorrangig um das Wirtschaftswachstum im Lande sowie um die Erwirtschaftung steigen-
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der Überschüsse im Außenhandel ging. Zu der seit 1973 (nach Öl-, Dollar- und Nixon-Schock) von den wechselnden japanischen Regierungen in diesen Plänen angestrebten internationalen Harmonie jedoch, die außerdem heute im Mittelpunkt einer in Japan stattfindenden Debatte über die sogenannte „Internationalisierung" steht, hat Japan auffallend wenig beigetragen, wie man etwa an dem ernsten Konflikt zwischen Japan und der EWG sowie den U.S.A. noch heute erkennen kann. Organisatorisch werden die Gesamtwirtschaftspläne heute von einem eigens dafür geschaffenen Wirtschaftsplanungs-Amt erstellt, das dem Amt des Ministerpräsidenten zugeordnet ist (nach der englischen Bezeichnung „Economic Plannung Agency" als E P A abgekürzt). Der Premierminister, mit dessen Auftrag zur Ausarbeitung eines Plans die Planung formal ihren Anfang nimmt, ist theoretisch frei, diesen Auftrag zu erteilen oder nicht. In der Praxis wurden vor allem bei großen Abweichungen der tatsächlichen von der geplanten Entwicklung vorzeitig neue Planungsaufträge erteilt. Japan war durch intensive staatliche Steuerung bis zum ersten Weltkrieg zu einem (überwiegenden) Industriestaat geworden. Auch nach dem zweiten Weltkrieg griff der Staat lenkend in den Wirtschaftsablauf ein: In Durchführung der mittel- bis langfristigen Wirtschaftspläne wurden etwa unerwünschte (weil unwirtschaftliche) Betriebe oder gar Wirtschaftszweige (Textilindustrie) wegstrukturiert, im Widerspruch zum geltenden Antimonopolgesetz Zusammenschlüsse in der Wirtschaft (Rationalisierungs- und Rezessionskartelle) gefördert, die Konjunktur durch vorteilhafte Kredite der Zentralbanken belebt, durch Sondermaßnahmen des MITI (Ministry of International Trade and Industry) ständig neue (erfolgversprechende) Schwerpunkte der Industrie gesetzt usw. Indessen wäre es abwegig, die staatlichen Pläne zur Entwicklung von Wirtschaft und Industrie in Japan als mit den zentralistischen Planungssystemen in sozialistischen Staaten vergleichbar zu erachten; ebenso unangemessen ist es allerdings, ihre Bedeutung so niedrig anzusetzen, wie es auf japanischer Seite und neuerdings auch durch opportunistische westliche Autoren häufig geschieht. Vielmehr stellen diese Vorgänge, korrekt als indikative (also nicht imperative) Planung analysiert, für eine prinzipielle Marktwirtschaft einen erheblichen Tatbestand dar, der in dieser Ausprägung Japan, dem Lager der westlichen Industrienationen zugezählt, einmal zu Recht als „einzigartig" charakterisieren läßt (6). Die Rolle des MITI Fragen der Wirtschafts- und Industriepolitik werden in Japan vom Finanzministerium sowie vor allem von dem berühmten Ministerium für internationalen Handel und Industrie behandelt (gem. der englischen Bezeichnung abgekürzt als MoF beziehungsweise MITI). Die leitenden Beamten der beiden Ressorts stehen in formellem Kontakt mit den Unternehmern, die ihrerseits im wesentlichen in vier Wirtschaftsorganisationen interessenmäßig verbunden sind (Keidanren, Industrie- und Handelskammern, Nikkeiren und Keizai Doyukai). Z u E i n z e l f r a g e n der staatlichen Makroplanung in Japan (beteiligte Organisationen, Grundlagen, M e t h o d e n , M o d e l l e , Geschichte, K o s t e n usw.) vgl. Siegfried Lörcher, a.a.O. 1 9 7 1
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Zwischen MITI (jap.: Tsusansho) und der Industrie findet ein regelmäßiger und intensiver Austausch von Informationen statt; das Ministerium veröffentlicht vierteljährlich Richtlinien für die Produktion, wobei jeweils der relative Standort der japanischen Industriesektoren anhand international vergleichender Daten verdeutlicht wird, d.h. die globalen ökonomischen und technologischen Trends und ihre möglichen Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft werden permanent beobachtet und analysiert (7). Durch die Organe des MITI, welches wegen seiner Kompetenz und seines Führungsvermögens hohes Prestige genießt, übt der japanische Staat über die Beratung hinaus die administrative Kontrolle über die unternehmerischen Aktivitäten aus. MITI spielt die zentrale Rolle bei der Durchsetzung der wirtschaftspolitischen Ziele der Regierung und reguliert den Wirtschaftsablauf, und zwar insbesondere die Außenhandelstätigkeiten der privaten Unternehmen. Dabei ist der japanische Staat ständig bemüht, die privaten Unternehmungen durch Rat und Hilfe in die gesamtwirtschaftlich erwünschte Richtung zu lenken. Dieser Absicht bringen die Unternehmer nur ausnahmsweise Widerstand entgegen; die kompetente Steuerung durch MITI ihrerseits zeitigte in der Vergangenheit den bekannt schnellen wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und Regierung An der Spitze der institutionalisierten, typisch engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Privatwirtschaft in Japan steht ein Wirtschaftsbeirat (nach der englischen Bezeichnung „Economic Deliberation Council" als E D C abgekürzt), der ebenso wie das E P A dem Amt des Ministerpräsidenten untersteht. Dem Beirat gehören heute mehr als 200 Vertreter von Universitäten, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften sowie aus Staatsunternehmen und Presse usw. an. Seine Aufgabe besteht darin, den Ministerpräsidenten in allen wirtschaftspolitischen Fragen zu beraten, um dadurch die Grundlage für eine allgemein akzeptierte Wirtschaftsplanung zu schaffen. Der Meinungsaustausch zwischen Regierung und Wirtschaft findet weiterhin in den Beiräten und Ausschüssen der einzelnen Fachministerien statt, was sich auf die Planung und deren Durchführung in den einzelnen Bereichen förderlich auswirkt. Insgesamt existieren nach der Schätzung von Meid/Glambeck (1984) rund 260 derartige Beratungsgremien, denen etwa 7600 Personen angehören. Dabei fördert die für japanische Organisationen typische Unbestimmtheit in den Zuständigkeiten den Prozeß der Bildung des grundsätzlich angestrebten Konsens eher noch, als daß sie diesen behindert. Neben diesem formellen Austausch gibt es in hohem Maße informelle Verbindungen aus den langjährigen Kontakten von leitenden Ministerialbeamten zu den Führungskräften in Verbänden und Unternehmen. Diese Beziehungen gehen häufig auf das gemeinsame Studium an einer der Elite-Universitäten des Landes zurück, von denen die Wirtschaftsführer und Verwaltungsdirektoren kommen. Die Beziehungen in solchen „Studiencliquen" (gakubatsu) sind naturgemäß sehr 7
Zur MITI-Thematik vgl. u.a. Charles J. McMillan a.a.O. 1985, pp. 4 3 - 9 2 , sowie Tsunehiko Yui: Beziehungen zwischen Regierung und Unternehmen und ihr Einfluß auf die Industrialisierung Japans. In: K. Ichihara/S. Takamiya (Hg.) a.a.O., 1977, S. 31—42.
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eng und nach japanischem Verständnis „auf ewig" angelegt. Aus ihnen ergibt sich ein engmaschiges und dauerhaftes Netz gegenseitiger Verbindung und Verpflichtung: die durch den cliquenhaften Geist Verbundenen stehen einander auf entsprechenden Treffen („Mittwochsfrühstück", „Samstagsgesellschaft" u.ä.) für Informationen und Protektion zur Verfügung. Obschon Konflikte auch bei solchermaßen fundierter Kommunikation zwischen den Eliten der staatlichen Bürokratie und der Wirtschaft in Japan nicht ausgeschlossen sind, wurde bei der grundsätzlichen Zusammenarbeit jedenfalls das von beiden Gruppen geteilte Ziel der raschen Ausweitung des nationalen Wohlstandes erreicht. Amakudari Gefördert werden die wechselseitigen Beziehungen zwischen Regierung und U n ternehmen, die gemeinsam das mehr oder weniger offen erklärte Ziel verfolgen, Japan zur international führenden Industrienation zu entwickeln, durch eine typische Praktik des Personaltransfers, bekannt als Amakudari (wörtlich: Vom Himmel herabsteigen). G e m ä ß diesem traditionellen Verfahren steigen jährlich einbis zweihundert Beamte aus den wirtschaftsbezogenen Ministerien ,vom Himmel herunter' und für Führungs- oder Beratungsaufgaben in die Stäbe der privaten Großunternehmen ein. Zum Amakudari werden einerseits 45- bis 50-jährige Mitglieder der hervorragend ausgebildeten Bürokraten-Elite herangezogen, die das Netzwerk der für ihre Regierungstätigkeit relevanten Kontakte kennen und Informationsbrücken innerhalb der Bürokratie und zur industriellen Welt aufgebaut haben. Sie haben im Regierungsdienst keine Aussicht mehr auf die letzte entscheidende Beförderung. Auf der anderen Seite handelt es sich häufig um Staatsbeamte vor der Pensionierung, die für einen bestimmten Industriesektor verantwortlich waren und nun als Berater vonUnternehmen ihre Informationskontakte und Erfahrungen in deren Entscheidungsprozesse einbringen. Dieser Vorgang ist im Kontext der japanischen Gesellschaft mehrfach legitimiert (u.a. wird er von allen Industriebereichen akzeptiert); auf jeden Fall wird durch ihn die Durchführung der in der Regel von wohlwollenden fiskalischen, monetären, exportfördernden usw. Maßnahmen begleiteten Industriepolitik des Staates durch die privaten Unternehmen mit garantiert. Aber auch für die Firmen, von denen nur wenige auf ihr „reines Blut" stolz sind und die A u f n a h m e von amakudari-Willigen ablehnen, ist ein derartig zustandegekommenes ,direktes Telephon' zum Ministerium gerade angesichts der Bedeutung der erwähnten Cliquen von Vorteil (8). Protektionismus und Förderungsmaßnahmen Während der freie Welthandel jüngst durch protektionistische Maßnahmen auch westlicher Regierungen und Wirtschaftsorganisationen ernsthaft gefährdet war 8
Vgl. die Vorreiterrolle Bayerns, wo seit 1981 zum Zwecke des Know-how-Gewinns das bayerische Wirtschaftsministerium und die Münchener Wacker-Chemie Personaltransfer zwischen Staat und Industrie praktizieren. In: Supplement von H A N D E L S B L A T T und W I R T S C H A F T S W O C H E Nr. 14 vom 27. März 1987, S. 1.
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und der amerikanische Kongreß den Japanern mit einem Handelskrieg drohte, falls sie ihre Grenzen nicht für US-Importe öffneten, versucht die japanische Regierung immerhin seit 1980 mit (bis 1985: sieben) Marktöffnungsprogrammen, die einander in immer kürzeren Abständen folgten, den eigenen Markt für Importe zu öffnen. In einer historisch und weltweit einmaligen Aktion warb Premierminister Nakasone im Frühjahr 1985 im Fernsehen für den Kauf ausländischer Produkte (während bei den Angelsachsen seit Jahrzehnten und weiterhin das „Buy Americ a n " und „Buy British" unkritisiert propagiert wird); das maßgebliche MITI ließ an die japanischen Verbraucher eine Einkaufsliste importierter Waren verteilen mit der Aufforderung, im Dienste der Nation für 100 Dollar pro Kopf zusätzlich zu konsumieren. Mittlerweile bietet MITI ausländischen Firmen umfassende Beratung und Hilfe für Exporte nach Japan an. Allerdings zeitigen diese und Angebote der zahlreichen staatlichen und privaten Japan-Beratungsstellen im Westen unter anderem auch wegen offensichtlich bei westlichen Unternehmern vorhandenen Vorurteilen nur geringe Erfolge. Trotz der auf Druck der U.S. A. und der E W G hin erfolgten Liberalisierung existieren mehr oder weniger subtile administrative Restriktionen fort, welche die Exporte nach Japan erschweren, obwohl MITI in konkreten Verhandlungen mit ausländischen Firmen neuerdings zu raschen und unbürokratischen Lösungen verhilft. Während hier die Chancen für westliche Firmen deutlich verbessert wurden, bleiben sie bei der Konkurrenz auf den Weltmärkten mit japanischen Firmen verringert, da diese dort weiterhin durch gezielte Maßnahmen ihrer Regierung gefördert werden. Staat, Wirtschaft und Technologie Angesichts der voraussehbaren technologisch-wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Halbleiterindustrie wurden die fünf Hauptproduzenten (Fujitsu, Hitachi, Toshiba, Mitsubishi und N E C ) von MITI in einem nationalen Projekt für höchstintegrierte Schaltungen (VLSI) mit staatlichen Forschungsmitteln in H ö h e von 290 Millionen D M für die Jahre 1976 bis 1979 verbunden, um die heimische Technologie und Produktion auf den Stand der U.S.A. zu bringen, die hier bekanntlich durch den umfangreichen Militär- und Weltraumkomplex forschungsmäßig im Vorteil ist. Mittlerweile haben die Japaner das Ziel erreicht (Ergebnis des Verbunds waren über 1000 Patente), exportieren diese Produkte mit jährlich zweistelligen Wachstumsraten in die U.S.A. und E W G und gehören hier zu den führenden Herstellern der Welt. Zur Förderung der technischen Entwicklung, die in der letzten Dekade erheblich zugenommen und sich der Hochtechnologie-Industrie zugewendet hat, gibt es bezeichnenderweise u.a. eine dem MITI nachgeordnete Behörde für industrielle Forschung und Technologie, die nicht nur die Forschungsschwerpunkte im Bereich des Wirtschaftsministeriums definiert, sondern auch die staatlichen Mittel für die Forschungen der Privatwirtschaft verteilt. Die privaten U n t e r n e h m e n erhalten Finanzhilfen, Kredite, Steuernachlässe und Abschreibungsmöglichkeiten als Anreize, die technische Entwicklung voranzutreiben. Der Rat für Wissenschaft und Technologie beim Premierminister hat unter der Leitung des gleichnamigen zentralen A m t e s u.a. für den makro-ökonomischen
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Bereich die Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung durch beschleunigte technologische Innovation bzw. durch beschleunigte Kommerzialisierung neuer Technologien als langfristiges Ziel formuliert. Auch in Japan sind ohne die kommerzielle Motivation kaum finanzielle Mittel, Forschungsstellen und Forschungseinrichtungen zu haben. Allerdings erhielt die Industrie bisher den größten Anteil der Gesamtaufwendungen des Staates für Forschung und Technologie (z.B. 1982: 68,6 Prozent). Von den 1984/85 in Japan insgesamt für Forschung und Entwicklung aufgewendeten rund 106 Milliarden DM trug die Privatwirtschaft immerhin 69,4 Milliarden DM. Die Ausgabenschwerpunkte liegen dort, wo Staat und Wirtschaft nach gemeinsamer Überlegung die Zukunft der Industrie sehen: in Elektronik, Datenverarbeitung und Telekommunikation. 1981 legten MITI und das Amt für Wissenschaft und Technologie ein auf zehn Jahre geplantes nationales Forschungsschwerpunkt-Programm vor, nach dem seither 67 Großkonzerne unter der Ägide von MITI mit Sondermitteln von insgesamt rund einer Milliarde D M ihre Forschungsanstrengungen auf fünf Zukunftsaufgaben konzentrieren: Biotechnologie, Industriekeramik, neue Werkstoffe, Spezialpolymere und vor allem neue Halbleiter und Computergenerationen einschließlich künstlicher Intelligenz (als „Antwort" fördert die E W G ab 1987 mit anfänglich rund 40 Millionen DM ein europäisches BRAIN-Projekt zur Entwicklung eines intelligenten Computers). Daneben läuft ein von MITI bereits 1979 zusammengeführtes Forschungskartell auf dem Gebiet der Optoelektronik, das 1986 aufgelöst werden sollte, jetzt aber noch beisammen ist. Mit dieser geballten Forschungskonzentration haben die Japaner unterdessen Westeuropa und die U.S.A. technologisch herausgefordert und als Folge davon ihre Vorstellungen von Japan als dem Hochtechnologie-Mekka der Zukunft teilweise wieder aufgegeben. So hat MITI die Finanzmittel für das national ehrgeizigste Projekt, die Schaffung künstlicher Intelligenz in der Retorte, wegen mangelnder Ergebnisse bereits reduziert. Bürokratie und Bürokratismus sind in Japan der Motor des Fortschritts, aber auch seine Bremse. Der industriellen Forschung kommt wegen ihres hohen Anteils an der staatlichen Gesamtforschungsförderung in Japan besondere Bedeutung zu; sie konzentriert sich im übrigen nahezu ausschließlich auf die Großindustrie. Zu ihrer Durchführung wurden Beratungsgremien geschaffen, in denen Staat, Wirtschaft und Universitäten zusammenwirken. In diesen Gremien werden die nationalen Forschungsziele im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung diskutiert und in der Regel im Konsens verabschiedet. Nationales Ziel für das 21. Jahrhundert ist die Schaffung einer technologiegestützten Gesellschaft auf der Grundlage eigenständiger Entwicklungen (Parole: „Japanisches Wesen und japanische Technik"! — Vor hundert Jahren lautete die Parole: „Japanisches Wesen und westliche Technik").
Exportstrategie Das planerische Interesse der japanischen Regierung besteht indessen nicht nur an dem für die Wirtschaft wichtigen Bereich der Entwicklung neuer Technologien, sondern, wie schon angedeutet, auch an dem Bereich Export/Import (und darüberhinaus drittens an dem Bereich Industriestruktur/Investitionen).
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1949 trat in Japan das Gesetz zur Devisenbewirtschaftung und Außenhandelskontrolle in Kraft. Es zielte darauf ab, die direkte Handelskontrolle zu fördern und die Finanzierungen bei der Begünstigung des Exporthandels zu gewährleisten. Die Japaner berufen sich darauf, daß ihre Wirtschaft in der Notlage unmittelbar nach dem Krieg vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen und entsprechende Diskriminierungsmaßnahmen einzuführen waren. Durch das genannte Gesetz wurden einerseits die japanischen Ausfuhren massiv begünstigt und andererseits die fremden Einfuhren durch ein System geforderter Bürgschaften und Garantien ebenso massiv eingeschränkt. In Wirklichkeit sind die großen Erfolge der Japaner im Außenhandel nicht nur den umfangreichen direkten Begünstigungen, sondern darüber hinaus den gleichzeitig getroffenen Maßnahmen der Zollpolitik bei den Einfuhren zuzuschreiben. So wurden noch lange nach 1955, als Japan als Vollmitglied zum G A T T zugelassen worden war, die Ausfuhren durch Exportfinanzierungen begünstigt und die für die Industrieproduktion unerläßlichen Rohstoffeinfuhren im allgemeinen steuerfrei behandelt, während Einfuhren von Konsumgütern meistens hoch zu verzollen waren. Unter dem Schirm wirksamer Schutz- und Begünstigungsmaßnahmen war die japanische Wirtschaft auch in den sechziger Jahren stark gewachsen; dieser Wachstumsprozeß brachte naturgemäß eine vergrößerte Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Industrie mit sich. Als 1971 eine im Rahmen des Weltwirtschaftssystems unvermeidliche Yen-Aufwertung beschlossen wurde, befürchteten viele Unternehmer, aber auch die zuständigen Beamten in der Währungsbehörde, daß die sorgfältig aufgerichteten Schutzmaßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Industrie mit einem Schlag wirkungslos würden. Nach jahrzehntelanger Gewöhnung an die staatlichen Begünstigungen herrscht diese nervöse Denkweise, d.h. diese Auffassung von staatlicher Wirtschaftspolitik, heute noch. Unterdessen tun die Verwalter der staatlichen japanischen Handelspolitik alles in ihrer Macht Stehende, um dem als Reaktion auf die wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen der japanischen Regierung zunehmenden Protektionismus der westlichen Partner (U.S.A. und EWG) zu begegnen, und ermuntern gegenwärtig die Unternehmer, Fabrikationsanlagen direkt in sorgfältig ausgewählten, potentiellen Absatzgebieten zu errichten bzw. zu erwerben. Solche Investitionen, die man Joint-Ventures und anderen Kooperationsformen vorzieht, werden neuerdings bevorzugt in den industrialisierten westlichen Ländern getätigt, wo sie seit 1981 jährlich um rund 20 Prozent wachsen und wo die Arbeitskosten zwischenzeitlich nicht höher bzw. in einigen Fällen sogar niedriger als in Japan sind (mit dieser neuen Strategie wenden sich die Japaner zugleich von den zumal asiatischen Entwicklungsländern ab, deren Rohstoffe sie im Zuge ihrer Konzentration auf die Hochtechnologie nicht mehr zu benötigen meinen). Diese neue Wirtschaftsoffensive der Japaner im Ausland wird durch zwei wesentliche Faktoren, und zwar nicht unwesentlich durch eine spezifische Situation im betroffenen Ausland selbst, begünstigt: Das japanische Finanzministerium stützt fortgesetzt ein umfangreiches Kreditprogramm der Bank von Japan für direkte japanische Investitionen im Ausland (dafür wurden 1983 weit über 2 Milliarden DM ausgegeben) und gewährt den Firmen zusätzlich großzügige Steuernachlässe (Abschreibungsmöglichkeiten teilweise bis zu 100 Prozent). Auf der
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anderen Seite machen die durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Staaten der U.S. A . und L ä n d e r der E W G den japanischen Firmen konkurrierende Angebote für diese Investitionen und schicken hochrangige Delegationen zur Anwerbung nach T o k y o (1983 waren 20 und 1984 bereits 30 ausländische Missionen in Japan). D e r auffällige Investitionsschub der Japaner vor allem in den U.S.A. f ü h r t e zu von den Investoren unerwarteten Schwierigkeiten: Amerikanische A r b e i t n e h m e r in japanischen Betrieben nahmen Diskriminierungen bei der Arbeit wegen des Alters oder Geschlechts nicht hin und riefen die Gerichte an. Da Fragen des A r beitsrechts in Japan als „schmutzige W ä s c h e " gelten, die man nicht in der Ö f f e n t lichkeit waschen, sondern allenfalls gütlich be-reinigen sollte, erhielten solche Fälle durch große A u f m a c h u n g in der japanischen Presse erhebliche Publizität. Seither haben verschiedene wirtschaftspolitische Beratungsgremien (etwa im Maekawa-Bericht vom April 1986) der Regierung empfohlen, durch eine auch kulturell orientierte Offensive die sogenannte „Internationalisierung" des Wirtschaftsverkehrs mit den westlichen Partnern anzustreben. Offiziell soll dabei die „Umgestaltung in eine international harmonische Industriestruktur" gefördert werden, um zu „einer besseren internationalen Arbeitsteilung" zu k o m m e n ; im wesentlichen aber geht es den Japanern dabei darum, in der westlichen Welt als gleicher P a r t n e r akzeptiert zu werden (9). In seiner Regierungserklärung am 26. Januar 1987 kündigte Premierminister Nakasone, der im übrigen eine „General-Revision der politischen Strukturen der Nachkriegszeit" propagiert, beispielsweise an, d a ß die Regierung sich im Blick auf das 21.Jahrhundert u.a. auch auf die „Internationalisierung des Ausbildungssystems" konzentrieren wolle. D a s den japanischen Verhältnissen entsprechend vage Konzept der „Internationalisierung", mit dem die japanische Regierung allerdings klar die Interessen der Nation verfolgt, ist heute Gegenstand einer D e b a t t e in Japan, die überfällig ist angesichts der Tatsache, d a ß Japan als Mitglied des G A T T seit 1955 und der O E C D seit 1964 die internationalen Organisationen in einer durchaus kritisierbaren Weise allein als Instrumente zur Erreichung der nationalen Wirtschaftsziele betrachtet (J. Hirschmeier S. V.D. 1976) und nur wenig zu ihrer Pflege unternommen hat im Sinne der nun plötzlich evozierten internationalen Z u s a m m e n a r b e i t zum angeblichen Nutzen auch der anderen Beteiligten! A b e r „die a n d e r e n " , die gemäß dem wichtigen sozialen Konzept des uchi — soto (in-group versus out-group) von den Japanern bislang (außer als Wirtschaftsobjekte) weitgehend ignoriert wurden, setzen sich z u n e h m e n d durch: U n t e r westlichem Druck beschloß die japanische Regierung beispielsweise eine zum 1. J a n u a r 1987 wirksame Höchstgrenze für Gabelstapler-Exporte in die E W G . Nach Angaben eines MITI-Sprechers faßte die Regierung den Beschluß, da eine freiwillige Beschränkung des Herstellerverbandes sich als unwirksam erwiesen hatte, weil 9
Hinter dieser K a m p a g n e verbirgt sich der historische K o m p l e x der Japaner den E u r o p ä ern g e g e n ü b e r , und in U m k e h r u n g d e r eigentlichen L a g e erwarten sie v o n den mit wachs e n d e r A r r o g a n z betrachteten westlichen K o n t r a h e n t e n E n t g e g e n k o m m e n , während sie selbst längst am Z u g e sind. Allerdings muß anerkannt w e r d e n , daß b e i s p i e l s w e i s e die massiven D i s k r i m i n i e r u n g e n europäischer Exporte in Japan gegenwärtig allmählich abgebaut w e r d e n .
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ihm nicht alle einschlägigen Produzenten angehören. Im März 1987 gab MITI eine informelle Weisung an die japanischen Automobilkonzerne, die Exporte in die E W G zu begrenzen. Demnach k o m m e n Regierung und MITI in der Exportfrage dem Westen neuerdings entgegen. Auf der a n d e r e n Seite aber unternimmt Japan unter F ü h r u n g derselben Stellen seit langem große Anstrengungen, an vielen wichtigen Orten des Auslands Stützpunkte f ü r seine Wirtschaft einzurichten. Industriepolitik heute Die staatliche Beeinflussung der industriellen Entwicklung wird in Japan, wie angedeutet, allgemein als A u f g a b e der Regierung betrachtet. Diese bewußte Förderung des wirtschaftlichen Strukturwandels geht dabei so weit, daß bei grundsätzlicher M a r k t - bzw. Wettbewerbsorientierung im Widerspruch zum geltenden AntiM o n o p o l - G e s e t z die Bildung von (Strukturkrisen-) Kartellen gefördert oder gar angeregt wird (z.B. in der Aluminium- und in der petrochemischen Industrie). M a ß n a h m e n zur Förderung der U n t e r n e h m e n s k o o p e r a t i o n sowie zur Strukturanpassung s c h r u m p f e n d e r Industriezweige (Senkung der inländischen Kohleförderung) spielen heute eine herausragende Rolle in der japanischen Industriepolitik, die im wesentlichen drei Aufgaben ü b e r n o m m e n hat: — Förderung junger, zukunftsorientierter und vorwiegend technologieintensiver Industriezweige — Schutzmaßnahmen zur Erhaltung traditioneller Industrien — Anpassungshilfen für strukturschwache Industriezweige. Besonders aktiv sind die japanische Industrie beziehungsweise die japanische Regierung im Bereich der Biotechnologie, wo für die Z u k u n f t gewaltige Marktpotentiale erwartet werden. Nach einer Studie des Düsseldorfer Biochemikers Rolf Schmid im A u f t r a g e des Bundesforschungsministeriums („Ergebnisse und Trends der Biotechnologie in Japan im J a h r e 1984") wuchs die Zahl der Bioforscher in Japan allein von 1982 auf 1983 um 29 Prozent. H e u t e sind in der japanischen Bioforschung fast 100 000 Menschen tätig. D e r Staat fördert die einschlägigen Forschungsvorhaben mit enormen Mitteln: Von 1983 auf 1984 stieg die staatliche F ö r d e r u n g im nichtuniversitären Bereich um 55 Prozent. Bevorzugt werden gemeinschaftliche Forschungsprojekte. So hatten sich bis 1984 14 G r o ß u n t e r n e h men und drei Institute des Industrieministeriums f ü r zehn Jahre zu einer „ R e s e arch Association f o r the Development of Biotechnology" zusammengeschlossen. Weitere Zusammenschlüsse sind: das „Life Science C o m m i t t e e " des japanischen Industrieverbands (1984 bereits 74 Firmen als Mitglieder), das „Bioindustry Development C e n t e r " (1983 gegründet und 1984 bereits 132 U n t e r n e h m e n als Mitglieder), die „Bioreactor Association" im Bereich des Landwirtschaftsministeriums zur Erforschung biotechnologischer M e t h o d e n für die Nahrungsmittelherstellung usw. Die Erfolge (industrielle Herstellung von Insulin usw.) können nicht ausbleiben, wenn man bedenkt, d a ß in Japan m e h r als 20 U n t e r n e h m e n Interferone auf gentechnologischer Basis entwickeln, m e h r als zehn Firmen T u m o r - A b wehrsubstanzen entwickeln und allein sechs U n t e r n e h m e n mit der neuen Technologie Süßstoff herstellen, während in der B R Deutschland 1984 insgesamt erst 16 Industrieunternehmen die Biotechnologie zur Produktentwicklung einsetzten. A n f a n g 1986 wurde von 15 Firmen ein Forschungskartell zur Entwicklung der „Protein-Technologie" organisiert, womit man langfristig die Kenntnisse f ü r den Bau von Biocomputern erwerben will.
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Die Grundzüge der japanischen Industriepolitik werden vom Industriestruktur-Rat (jap. Abk.: Sankoshin) ausgearbeitet, dem neben den Bürokraten der einschlägigen Ministerien Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Verbraucher angehören; für die Durchführung sorgt das MITI durch seine nachgeordneten Behörden (die Kommission für lauteren Wettbewerb kann man wegen ihrer Schwäche außer Betracht lassen). Die wirtschaftspolitischen Ziele der Regierung sind in japanischer Sicht plausibel; allerdings verweist der schon erwähnte Maekawa-Bericht dringend auf den internationalen Aspekt, wonach Japan drastische Maßnahmen zur Strukturreform im Innern ergreifen sowie seine Wirtschaft international koordinieren und um des weltwirtschaftlichen Gleichgewichts willen seine Handelsbilanzüberschüsse abbauen müsse (was die Regierung mittlerweile in Angriff genommen hat). Zwischen 1978 und 1982 wurden die Produktionskapazitäten in 14 strukturschwachen Industriezweigen (Aluminium, Synthesefasern, Schiffbau u.a.) um bis zu 55 Prozent abgebaut. Bei solchen Anpassungen übernimmt die japanische Regierung Bürgschaften für die Kosten der Neuinvestitionen. Zur Strukturverbesserung der regionalen Wirtschaft fördert MITI im Haushaltsjahr 1987 in 30 Gebieten die Einführung von „Schlüsselindustrien". Vorgesehen ist die Vergabe von günstigen Krediten für Projekte im Dienstleistungsbereich; gefördert werden ferner der Bau von Einkaufs- und High-Tech-Zentren. Das japanische TransportMinisterium übernimmt Werftbetriebe im Wert von 30 Mrd. Yen, um der Branche beim Abbau von Überkapazitäten zu helfen. Außerdem richtet das Ministerium einen Sonderfonds ein, der Garantien bis zu 50 Mrd. Yen für Kreditverpflichtungen von Schiffbauunternehmen übernehmen wird. Durch die Verfügung über erhebliche finanzielle Ressourcen, auf der Grundlage starker Gesetze sowie begünstigt durch das für Japan typische Vertrauensverhältnis zwischen Staatsbürokratie und Wirtschaft haben es die allerdings auch hoch qualifizierten Beamten des legendären MITI leicht, die nicht gerade marktkonformen Maßnahmen im Rahmen der staatlichen Wirtschafts- und Industriepolitik durchzusetzen. Die Maßnahmen für 1987 sind allerdings auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß der Index der japanischen Industrieproduktion 1986 um 0,4 Prozent gefallen ist (d.i. der erste Rückgang seit 1975). Zwar werden die überwiegend administrativen Empfehlungen von der Wirtschaft in der Regel freiwillig befolgt; aber MITI hat in der Vergangenheit auch verschiedentlich Druck ausgeübt, wenn beispielsweise von der Privatwirtschaft zugesagte Beschränkungen beziehungsweise Umstrukturierungen bei der Produktion schließlich doch von einzelnen Firmen nicht eingehalten wurden. Im übrigen müssen die umfassenden Wirtschaftsförderungsmaßnahmen der Regierung für die bedrohliche Staatsverschuldung in Japan mitverantwortlich gemacht werden; die Gesamtverschuldung des Staates verdoppelte sich von 1980 (77554 Mrd. Yen) bis 1985 (154834 Mrd. Yen) und wird nach den Programmen zur Ankurbelung der Konjunktur im Staatshaushalt 1987/88 die Höhe von 43,5 Prozent des erwarteten Bruttonationalprodukts erreichen (10). 10
Wechselkurse (Frankfurt/M.): 1980: 100 Yen = 0 , 8 0 6 4 D M (Jahresdurchschnitt) 1984: 100 Yen = 1,1974 D M (Jahresdurchschnitt) 1987: 100 Y e n = 1,22 D M (23.02.1987)
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Schlußbetrachtung Als einen zentralen Themenbereich untersucht die Wirtschaftssoziologie die Funktionen von Staat, Verbänden und Öffentlichkeit für die Prozesse in der Wirtschaft. Zur allgemeinen Bestimmung dieser Funktionen kann man sich der vereinfachenden Bildung von Typen bedienen, welche Wirtschaftsweisen nach der Art der ihnen zugrundeliegenden Steuerung unterscheidet und neben dem traditionalen Typ (Steuerung durch traditionale soziale Institutionen) den Idealtyp Marktwirtschaft (Marktsteuerung) sowie den Idealtyp Planwirtschaft (zentrale staatliche Lenkung) konstruiert. Japan ist nach diesem Schema und insbesondere auch nach eigenem Verständnis dem Wirtschaftssystem mit prinzipieller Marktordnung zuzurechnen; im besonderen aber wird an seinem Beispiel deutlich, wie weit die Wirklichkeit vom gedachten reinen Typ des Wirtschaftens entfernt sein kann, ohne daß die Zuordnung zu diesem geändert werden muß. In der hochindustrialisierten Gesellschaft Japans gelten grundsätzlich die Regeln des Marktes beziehungsweise des freien Wettbewerbs; zugleich aber wird das Wirtschaftsgeschehen durch massive Eingriffe des Staates geplant und gelenkt, wie es die vorliegende empirische Untersuchung mit Daten aus Geschichte und Gegenwart belegt. In Fortführung historisch-kultureller Erfahrungen ist in Japan die Trennung zwischen Wirtschaft und Staat beziehungsweise die Unabhängigkeit der Unternehmungen von der Regierung, die etwa in Europa in Tradition der liberalen Wirtschaftsdoktrin entschlossen angestrebt wird, kaum ein primäres Anliegen der Beteiligten. Den relativ weit gehenden Eingriffen des Staates zur Regulierung der Wirtschaftsabläufe steht man in Japan ausgesprochen pragmatisch gegenüber; es gibt bis heute fast keine Diskussion darüber. Von Besorgnis über den Staatseinfluß in der Wirtschaft kann in Japan keine Rede sein. Im Gegenteil: Die typischen, durch Tradition legitimierten Verbindungen zwischen den Eliten aus Politik und Wirtschaft erhalten als ein Faktor, welcher die Wirtschaftserfolge Japans ganz deutlich mit ermöglichte, zusätzliche Legitimation. Und diese Erfolge widerlegen die im Westen (vor allem nach der letzten Rezession) vehement diskutierte These, wonach staatliche Eingriffe das Wachstum bremsen. Indessen wird man, nunmehr womöglich zur Nachahmung des japanischen Musters angeregt, die industriepolitischen Maßnahmen der japanischen Regierung zur Strukturanpassung (bei deutlicher Vermeidung von Subventionen) untersuchen sowie den spezifischen sozialkulturellen Kontext der japanischen Wirtschaft berücksichtigen müssen. Historisch hat es auch in anderen Ländern einen starken Einfluß des Staates auf Verfassung und Entwicklung der Wirtschaft beziehungsweise ein Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft gegeben, um etwa einheimische Industriezweige gegenüber ausländischem Wettbewerb zu schützen. So spielte beispielsweise in Mitteleuropa der Staat als Faktor der Industrialisierung eine wichtige Rolle. Allerdings hat sich hier der wirtschaftliche Liberalismus mit dem Konzept relativer Unabhängigkeit der Unternehmerschaft vom Staat weitgehend durchgesetzt, wohingegen der japanische Staat um des nationalen Reichtums und auch um der Staatsräson willen weiterhin in hohem Maße die Unternehmer des Landes bevormundet. Nachdem Japan im Fiskaljahr 1983 eine drei Jahre währende Rezession überwunden hatte, der ein bis heute anhaltender Aufschwung folgte, sollte es nach den Vorstellungen der japanischen Wirtschaftsplanungsbehörde (EPA) im Weißbuch 1984 mit der Liberalisierung der Märkte, der Steigerung der Importe, der Förde-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
rung des Technologietransfers und der Ausweitung der industriellen Kooperation zur Belebung der Weltwirtschaft beitragen. Anläßlich der 20-jährigen Mitgliedschaft in der O E C D erinnerte auch Außenminister Shintaro A b e an die Interdependenz in der heutigen Weltwirtschaft ( O E C D - O b s e r v e r No. 127/1984). D e n n o c h war J a p a n nach einem 1985 vom U S - K o n g r e ß angeforderten Bericht über die protektionistischen Praktiken von 33 L ä n d e r n der größte Protektionist. D e r japanische Staat betreibt über das mächtige MITI u n u n t e r b r o c h e n eine gründliche administrative Kontrolle über die Wirtschaft und verzerrt durch massive Schutz- und F ö r d e r m a ß n a h m e n auf den japanischen und internationalen M ä r k t e n die Wettbewerbsverhältnisse. Das ist ein erheblicher wirtschaftspolitischer Tatbestand. Die Eingriffe des japanischen Staates in die Wirtschaft bestehen in hohem Maße aus Beratung und Führung (gyoseishido: administrative Anleitung) und in geringem M a ß e aus Subventionen (11). Industriepolitik ist in Japan nicht Subventionspolitik, sondern staatlich bewirkte Anpassung und Gestaltung der Wirtschaftsstrukturen mit dem Ziele der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der U n t e r n e h m e n auf den Weltmärkten. In der B R Deutschland dagegen wächst durch die steigenden staatlichen Subventionen zur Erhaltung von Strukturen einerseits der Einfluß des Staates unaufhaltsam; auf der a n d e r e n Seite herrscht eine deutliche und b e g r ü n d b a r e Abneigung gegen staatliche Interventionen im Wirtschaftsbereich. In Japan steht man der Frage nach dem steuernden Einfluß des Staates auf den Wirtschaftsablauf ausgesprochen pragmatisch gegenüber; im Prozeß der ausgeprägten Wirtschafts- und Industrieplanung findet man bezeichnenderweise kaum eine ideologische K o m p o n e n t e (anders als im Westen, wo die Diskussion über Planung und Steuerung der Wirtschaft durch die vereinfachenden Begriffe k a p i talistisch' beziehungsweise sozialistisch' stark belastet ist). Japan ist mit seinem typischen, sprichwörtlich guten Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, das sowohl auf formellem als auch auf informellem Weg aufrechterhalten wird, ein Beispiel dafür, wie eine grundsätzlich wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft unter Einbeziehung planwirtschaftlicher Elemente zu schnellem und e n o r m e m Reichtum der Nation f ü h r e n kann. In Japan hat eine Kombination industrie- und wirtschaftspolitischer M a ß n a h men der Regierung, eines starken und qualifizierten U n t e r n e h m e r t u m s sowie eines Marktes mit funktionierendem W e t t b e w e r b die bekannte Wirtschaftsentwicklung ermöglicht (es bleibt zu bestimmen, welchen Anteil die einzelnen Faktoren am Ergebnis haben). Neben dem technisch-wissenschaftlichen Vorsprung und der sozial-kulturell bedingten höheren Leistungsbereitschaft der J a p a n e r stellt das spezifische Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft in Japan f ü r die heimischen U n t e r n e h m e n einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil auf den internationalen M ä r k t e n dar.
11
Eine A u s n a h m e bildet der Agrarbereich: G e m ä ß einer S u b v e n t i o n e n - U n t e r s u c h u n g der O E C D , die wegen B e d e n k e n verschiedener Regierungen bislang nicht veröffentlicht wurde, zahlt J a p a n (Basis der Studie: A g r a r s u b v e n t i o n e n von 1 9 7 9 / 8 1 ) die höchsten Agrarhilfen. Vgl. R e u t e r - M e l d u n g in der S Ü D D E U T S C H E N Z E I T U N G vom 23. März 1987, S. 23.
3. Kapitel: Wirtschaft und Staat in Japan
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Diese Untersuchung hat wirtschaftliche und soziale Institutionen, Werte und Normen sowie Ideologien und Organisationen aufgedeckt, welche die enge Verflechtung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politisch-administrativen Systems in J a p a n fördern. Es wurden die gültigen strukturellen Voraussetzungen dieser Beziehungen sowie die Inhalte und Ziele der an den entsprechenden Interaktionen beteiligten Gruppierungen aufgezeigt; eine Erklärung finden diese Strukturen und Prozesse vor allem in den für Japan kulturtypischen Werten der Loyalität, der Konformität und des Konsens. Die vorgefundenen spezifischen Beziehungen zwischen diesen Bereichen sind ein Ergebnis der in Japan seit Beginn der Modernisierung von den Regierungen durch Planung und Steuerung beeinflußten Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Bei aller Planung haben Regierung und Wirtschaft durch die Jahrzehnte grundsätzlich Anstrengungen u n t e r n o m m e n , eine wettbewerbsorientierte Industriestruktur zu etablieren und zu erhalten. Zwar wird die Dynamik der japanischen Wirtschaft durch die k o m p e t e n t e Gestaltung des politischen und finanziellen U m feldes durch die Regierung zusätzlich gestärkt; letztlich aber entscheidet auch in der japanischen Wirtschaft der W e t t b e w e r b . Es bleibt offen, ob die staatliche Protektion f ü r die japanischen Wirtschaftserfolge als ausschlaggebend bezeichnet werden kann; indessen darf dabei die Rolle der Regierung auch nicht unterschätzt werden (wie bei H. Odagiri; in: WZB-Mitteilungen Nr. 3 0 / D e z . 1985, S. 22/23). Die beiden oft vorgebrachten Theorien, wonach man es in Japan mit einer mehr oder weniger „heimtückischen Verschwörung" von Regierung, U n t e r n e h m e r n und weiteren sozialen Gruppierungen beziehungsweise mit einer „ K u m p a n e i Wirtschaft" (mit „cronies" als A g e n t e n ) zu tun habe, durch welche jeweils die wirtschaftlichen Aktivitäten der japanischen U n t e r n e h m e r im internationalen beziehungsweise im nationalen Bereich hauptsächlich definiert würden, ignorieren die historischen und sozial-kulturellen G r u n d l a g e n der als bedrohlich e m p f u n d e nen Strukturen und Strategien sowie das Gewicht fortlebender traditioneller Elemente (Tradition als Element der Entwicklung) der japanischen Gesellschaft, aus deren G e s a m t z u s a m m e n h a n g allein das H a n d e l n der japanischen U n t e r n e h m e r und Staatsbürokraten zu verstehen ist (12). 12
D e r Vergleich der f ü r Japan beschriebenen Verhältnisse mit den Zentralplanwirtschaften im C O M E C O N (mit prinzipiell sozialistischen P r o d u k t i o n s f o r m e n ) sowie die A n w e n d u n g d e r 1969 in Moskau dogmenartig v e r k ü n d e t e n S t a M o K a p - T h e s e auf Japan, die von Vertretern der N a t i o n a l ö k o n o m i e an der Universität T o k y o als f ü r J a p a n zutreffend erachtet wurde, wurden hier wegen ihres offensichtlich ideologischen Hintergrundes nicht erörtert. Weiterhin provozierten den Verf. weder die in der B R Deutschland 1967 institutionalisierte „ K o n z e r t i e r t e A k t i o n " , welche in Gestalt d e s Z u s a m m e n w i r k e n s der Bundesregierung mit den a u t o n o m e n Tarifvertragsparteien ein Instrument der Globalsteuerung der Marktwirtschaft darstellte, noch das System d e r «planification» in Frankreich, an dessen Planerstellung alle Beteiligten d e r Wirtschaft mitwirkten, wegen unterschiedlicher historischer, sozialer, kultureller usw. Voraussetzungen (insbesondere aber wegen des im Gegensatz zu J a p a n zugrundeliegenden Konflikt-Modells bzw. wegen des ausgeprägten wirtschaftlichen und sozialen Interessenpluralismus) zum Vergleich. Prompt trat ja das deutsche G r e m i u m seit 1977 nicht mehr z u s a m m e n ; ein Wiederbelebungsversuch 1983 scheiterte. Auch einer vom deutschen K o s t e n d ä m p f u n g s g e s e t z ( 1 9 8 0 ) vorges e h e n e n G e s p r ä c h s r u n d e („Konzertierten A k t i o n " ) der am Gesundheitswesen beteiligten G r u p p e n gelang es in typischer Weise zum Beispiel nicht, um des G e s a m t w o h l s wil-
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Teil IV: Wirtschaft und Staat
len verbindliche Empfehlungen für die Ausgabenentwicklung 1985/86 zu erstellen! Nicht betrachtet wurde ferner der Staat in seinen Funktionen als Unternehmer und Konsument (Bedarf für die Entwicklung der Infrastruktur, Militärbedarf usw.), obwohl diese für die wirtschaftliche Entwicklung (Industrialisierung, Wachstum) nicht unterschätzt werden dürfen. Zu den staatlichen Unternehmen sei darauf hingewiesen, daß in Japan 1986/87 immerhin die Privatisierung der Postsparkasse, der Fernmeldegesellschaft NTT, der Tabakmonopolgesellschaft und der Staatsbahn in Angriff genommen wurde!
Teil V Wirtschaft und Wertesystem 1. Kapitel Wirtschafts- und Arbeitswerte im Wandel 1. Wertkontinuität und Wertwandel der Wirtschaft Die Bundesrepublik Deutschland (hinfort: Bundesrepublik) verdankt ihre wirtschaftliche Entwicklung einer liberalen, sozialen und dezentral organisierten Wirtschaftsordnung, deren Grundmuster offenbar tief in der Gesellschaft verankert sind. Auch konjunkturelle Krisen haben bislang nicht an der Stabilität und Legitimation der Wirtschaftsverfassung und ihrer Institutionen 1 rütteln können. Tiefgreifende Auseinandersetzungen um die grundlegenden Wertorientierungen in der Wirtschaft haben in den letzten 30 Jahren kaum stattgefunden. Die typischen Konflikte der Weimarer Zeit sind erloschen. Es wiederholte sich nicht der Kampf demokratischer Körperschaften, insbesondere der Repräsentativorgane der Arbeiterschaft gegen die Industrie, wie auf der anderen Seite ebenso wenig die Unternehmen ihre Betriebe zu einer Festung eigener Interessen ausbauten. Überhaupt scheinen Gegensätze ökonomischer Art, etwa zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, zwischen den Tarifparteien und schließlich auch zwischen den etablierten politischen Gruppierungen außerordentlich dosiert zu sein. Es geht weniger um radikale Überzeugungsgegensätze oder ideologisch geprägte Glaubenskämpfe, sondern hauptsächlich um einen Prioritätendissens, um Interessengegensätze oder einfache Zielkonflikte. Daher handelt es sich bei den zentralen Wertorientierungen in der Wirtschaft im großen und ganzen um ein relativ beständiges und geschlossenes Überzeugungssystem.
1
Unter Institutionen versteht man Werte, Regeln und Normen, die die Grundlage wirtschaftlichen Lebens bestimmen. Institutionen der Marktwirtschaft sind beispielsweise das Privateigentum, Vertragsfreiheit, Berufsfreiheit, Gewerbefreiheit, das individualistische Leistungsprinzip, die Tarifautonomie, etc.
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Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
D o c h neben der h o h e n Kontinuität in der allgemeinen Wertschätzung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestehen zugleich auch spürbare und tiefgreif e n d e Diskontinuitäten, die es erlauben, von einem Wertwandel in der Wirtschaft zu sprechen. Vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten haben sich V e r ä n d e r u n gen vollzogen, nicht nur Veränderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen selbst, sondern Veränderungen in der Vorstellungswelt der Bevölkerung. Das Mehrheitsbild der Deutschen etwa zu Fragen der Partizipationschancen am Arbeitsplatz, zur Demokratisierung von Entscheidungsprozessen, zur Technik- und Wachstumsakzeptanz, zur Umweltwirkung industrieller Infrastrukturen o d e r auch zum Verhältnis der Menschen zur Arbeit ganz allgemein hat sich gewandelt; und damit zugleich natürlich auch bestimmte A n n a h m e n ü b e r einen erwünschten Zustand des ökonomischen Systems, über eine akzeptable Sozialform wirtschaftlichen Handelns, über eine neue konsensfähige Wirtschaftsordnung. N e b e n der Wertkontinuität kann m a n daher auch von einem Wertwandel der Wirtschaft sprechen. W e r t e sollen im folgenden verstanden werden als „Konzeptionen des wünschenswerten sozialen Verhaltens u n d der wünschenswerten sozialen Z u s t ä n d e " (Pross 1982: S. 16). Wertvorstellungen in der Wirtschaft sind demnach bestimmte als wünschenswert erachtete Verhaltensweisen, Regeln und Zustände, die die Beziehungen am Arbeitsplatz oder die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Bei W e r t e n handelt es sich um jene sozialen Güter, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an den ökonomischen Verhältnissen als „wertvoll und wichtig" erachtet; mit anderen Worten: Werte sind wünschenswerte Soll-Konzeptionen wirtschaftlichen Handelns. Charakteristisch f ü r den Wertwandel in der Wirtschaft sind vor allem zwei Aspekte: a) ein neues Wertverständnis von A r b e i t b) die öffentliche Rolle und die öffentliche Funktion der Wirtschaft sowie damit verbunden eine neuartige Rationalitätsform wirtschaftlichen Handelns.
2. Arbeitswerte im Wandel 2.1 Traditionelle Arbeitswerte Die traditionellen Arbeitswerte und Arbeitshaltungen in der Nachkriegszeit bis etwa E n d e der 60er J a h r e waren durch ältere, bis ins vorige J a h r h u n d e r t zurückreichende religiöse und kulturelle Traditionen geprägt. Es waren vor allem Orientierungen lebendig, die sich bereits im Wilhelminischen Kaiserreich, d.h. im preußischen Wertsystem durchgesetzt, in der Weimarer Republik überlebt und auch den Nationalsozialismus überdauert hatten. Zwar war die A r b e i t n e h m e r s c h a f t entlang den Trennlinien von Konfession, Region, G e n e r a t i o n und Status höchst differenziert, doch es gab zugleich eine verbreitete Unterströmung, die durch U b e r e i n s t i m m u n g e n in grundsätzlichen Haltungen geprägt war. Arbeit war zentrales Lebensinteresse, Beruf eine Art der Gesinnung. D a s Berufsleben wurde verstanden als konsequente Tugendübung. Die Menschen waren von sich aus gesehen - o h n e d a ß es dazu besonderer Führungs- oder Motivations-
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techniken bedurft hätte - fleißig, gewissenhaft, diszipliniert und pflichtbewußt; und sie waren es, weil gerade dies ihren eigenen Wertvorstellungen am ehesten entsprach. Strenge Arbeitsdisziplin war in den Augen der Westdeutschen nicht bloß eine von materieller Not oder dem Wunsch nach materieller Wohlfahrt diktierte Notwendigkeit, sondern eine moralische Haltung. H o h e r Arbeitsethos war gestützt auf Bürgerstolz, gestützt überdies auf allgemein b e j a h t e Disziplin- und Pflichtvorstellungen. Unangefochten bejaht wurde demzufolge das Leistungsprinzip: Leistung als die dem Wachstum und der individuellen materiellen Wohlfahrt unmittelbar dienende Tätigkeit. Leistung verstand sich von selbst, sie wurde um ihrer selbst willen honoriert. Andererseits hieß dies: W e r nichts leistete, galt auch nichts. Insofern war Leistung im Mehrheitsbild der Deutschen eine der wesentlichsten Arbeitstugenden. Diese A n e r k e n n u n g eines uneingeschränkten Leistungsprinzips impliziert ein bestimmtes Bild von einer wünschenswerten Gesellschaft und damit zugleich auch von einem bestimmten Wert: Nicht nur war die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit eine Arbeits- und Leistungsgesellschaft, sie sollte es auch sein. E i n k o m men, Einfluß, Prestige, die nicht aus Leistung und Arbeit resultierten, waren im wesentlichen verpönt. Es gab sie natürlich, und daß es sie gab, war bekannt. Als legitim galten sie aber nicht. E b e n s o verhielt es sich mit der Pflicht; Pflicht verstanden als „ständige Arbeit an sich selbst und an der Qualität der Aufgabenerfüllung, also Selbstkontrolle und Leistung" (Pross 1982: S. 46). Nicht der Inhalt der Pflicht, Pflicht an sich wurde geschätzt; nicht der Inhalt der Arbeit, Arbeit an sich wurde als moralische Aktivität betrachtet. Pflicht zur Arbeit war folglich ein nicht weiter zu begründender ethischer Imperativ. Entsprechend galt Fleiß als Tugend. Das Bild des moralischen Individuums war das eines Menschen, der regelmäßig, zuverlässig und k o m p e t e n t arbeitete, gleichgültig im wesentlichen, wie groß die materiellen und immateriellen Entgelte waren. D a r ü b e r hinaus war die Arbeitswelt geprägt von einem Weltbild von Führung und U n t e r o r d n u n g . Die große Mehrheit der Deutschen hielt es für wünschenswert, d a ß der Einzelne sich füge und persönliche Bedürfnisse den Belangen des U n t e r n e h m e n s unterordne. In den Augen der Mehrheit waren hierarchische Betriebsstrukturen wünschenswert, d.h. d a ß klare Anweisungen gegeben wurden, sowie deren bereitwillige, nicht weiter zu hinterfragende Ausführung. Man neigte dazu, Autoritäten anzuerkennen. G e h o r s a m u n d Disziplin galten nicht nur als erforderlich, um das reibungslose Funktionieren von Betriebs- und Arbeitsabläufen zu gewährleisten, d.h. sie wurden nicht nur als bloße Funktionsbedingungen geschätzt, sondern eben auch als moralische Qualitäten. D e m entgegen kam ein ausgeprägter H a n g zur Ordnung, O r d n u n g als autoritär hergestellte Regelmäßigkeit, Kalkulierbarkeit, Orientierungssicherheit. Dieser weitverbreitete Ordnungsbegriff schloß im Gegenzug die Vorstellung ein, d a ß Abweichungen und individualistische Neigungen nicht wünschenswert seien. Man sollte sich an die einmal gesetzten Regeln halten. Die innere Logik dieses wirtschaftlichen Ordnungsglaubens ließ keinen oder nur sehr wenig R a u m für Partizipationswünsche, Mitspracherechte, kooperative Verfahren, demokratische Füh-
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Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
rungsstile und persönliche Freiräume am Arbeitsplatz. Im ganzen herrschte in der Bundesrepublik eine Arbeitsethik, derzufolge individualistische und kooperative Werte eindeutig niedriger rangierten als Ordnungswerte, Werte der Effizienz und Anpassung, Imperative der Pflicht und Selbstkontrolle, der Disziplin und Leistung. Arbeit hatte unter diesen Umständen den Rang einer Lebensaufgabe, dem alle anderen individualistisch gefärbten Wertorientierungen untergeordnet waren.
2.2 Die neuen Arbeitswerte Die traditionelle, über viele Jahrzehnte durch Religion und Erziehung tief verwurzelte Arbeitsethik scheint seit Mitte der 60er Jahre einem tiefgreifenden Wandel unterworfen zu sein. Unabhängig voneinander wurde in den letzten Jahren eine Reihe empirischer Untersuchungen durchgeführt, aus denen hervorgeht, welche Arbeitshaltungen, welche Arbeitsbeziehungen und welche Strukturen am Arbeitsplatz die Menschen neuerdings für wünschenswert erachten. 2 Den verschiedenen, teilweise auch sehr unterschiedlich interpretierten Befunden zufolge kann man generell von einer historischen Verlagerung von Wertprioritäten sprechen, von einer Zäsur der konstitutiven Arbeitswerte, von einer in dieser Dimension neuen Umschichtung in den handlungslenkenden Arbeitsnormen. In ihnen manifestiert sich, auf drei Formeln gebracht: a) der Übergang zur instrumentellen Arbeitsauffassung b) der Übergang zu einem neuen ökonomischen Individualismus c) der Wandel von der traditionellen Arbeitsmoral zu einer Art Vertragsmoral. 2.2.1 Der neue Instrumentalismus Das Bild von einer wünschenswerten Gesellschaft ist heute primär geprägt von Gütern des persönlich-privaten Lebensbereichs. Als wünschenswert gelten heute vor allem Gesundheit, Ehe, Familie, soziale Sicherheit, reichlich Freizeit, ein befriedigender Beruf, hoher materieller Lebensstandard und persönliche Unabhängigkeit - Orientierungen, die weitgehend fast völlig entgegengesetzt sind zum Mehrheitsbild der Deutschen etwa in den 50er oder 60er Jahren. Im Hintergrund bleiben heute die traditionellen Arbeitswerte, im Hintergrund bleiben vor allem jene Werte, die einer stärker individualistisch gefärbten Lebensorientierung im Wege stehen: Religion, Kirche, enge Beziehungen zu Verwandten, Gelegenheit zur Hingabe an hohe Ideale. Im ganzen dominieren heute völlig unpathetische, pragmatische Wertkonzeptionen. Sie sind nach wie vor bürgerlich in der hohen Wertschätzung von Familie und Sicherheit, nachbürgerlich in der relativ niedrigen Einstufung von Arbeit. Die traditionelle Wertschätzung von Arbeit verschiebt sich in wachsenden Teilen der Bevölkerung zu einer instrumentellen Auffassung. Arbeit und Beruf zäh2
Beispielsweise befassen sich folgende Arbeiten mit dem Wertwandel der Arbeit: Bargel 1979, Jaide 1983, Jugendwerk der Deutschen Shell 1980, Klipstein und Strümpel 1985, Noelle-Neumann und Strümpel 1984, Kern und Schumann 1984, Klages 1984, Pross 1982, Schmidtchen 1984, Theis 1984.
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len zwar nach wie vor zu den Betätigungen, die die Mehrheit der Menschen als unerläßlich für die Entfaltung der Persönlichkeit, d.h. für den Erwerb der persönlichen Identität ansieht. Trotzdem wird Arbeit kaum noch als Mittelpunkt des Lebens gesehen. Im Gegenteil: Arbeit und Beruf werden überwiegend nur noch geschätzt, weil und soweit sie finanziell unabhängig machen, Sicherheit verbürgen, soziale Kontakte stiften und die Voraussetzungen schaffen, persönliche Bedürfnisse in der Freizeit zu befriedigen. Nicht mehr die Arbeit um ihrer selbst willen wird geschätzt, sondern vorwiegend als Mittel und Instrument zur Erfüllung sehr individueller Interessen. Diese sich abzeichnende Verlagerung zu einer instrumentell-utilitaristischen Arbeitsauffassung bedeutet aber nicht, daß Arbeit selbst an Bedeutung verloren hat. Eben weil Arbeit heute zum unentbehrlichen Instrument geworden ist bei der Verwirklichung anderer Wertideen, wie beispielsweise für den Erwerb von Identität und sozialer Sicherheit, für die Vermittlung von Selbstwertgefühlen und Selbstverwirklichungsfreiräumen sowie für den wichtigen Faktor der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft, ist seine traditionelle Bedeutung nach wie vor ungebrochen. Nur — und darin liegt der Unterschied zu früheren Haltungen - Arbeit als Eigenwert hat seine dominierende Stellung eingebüßt. Zwar ist die Gesellschaft noch immer nicht nur de facto, sondern auch nach den Sollensvorstellungen ihrer Mitglieder eine Arbeitsgesellschaft. Sie soll aber in steigendem Maße auch eine Gesellschaft sein, in der sich das Zentrum der persönlichen Existenz von der Arbeits- zur Privatsphäre verlagert, d.h. Arbeit wird primär als eine kalkulierte Aktivität im Dienste privater Ansprüche gesehen und nicht umgekehrt. Lebensschwerpunkt und Hauptinteressen verlagern sich zusehends auf die Privatsphäre. Dieser Umschichtungsprozeß ergreift verstärkt jene Kreise, die historisch zu den Trägern des traditionellen Berufsethos gehörten: Facharbeiter, Angestellte und Beamte. Zumindest wenn sie jung sind, neigen sie mehr und mehr dazu, eine Anstellung zu finden, die nicht vor allem Karrierechancen eröffnet, sondern für die Erziehung der Kinder bzw. für die Freizeitbeschäftigung der Eltern von Vorteil ist. Diese Haltung ist symptomatisch Ausdruck einer neuen instrumentellen Arbeitsethik, in der die Berufserfordernisse zunehmend in den Dienst privater Interessen gestellt werden. 2.2.2 Der neue Individualismus Die jüngste Entwicklung zeigt eine allmähliche Umdefinition persönlicher Lebensvorstellungen. Die Distanz zur Erwerbsarbeit steigt. Die meisten Deutschen weisen das Ansinnen, dem Dienst und der Arbeit gebühre der Vorrang im Ensemble der Lebensziele, als Zumutung von sich. Selbstverständlich ist diese Betonung privater und individualistischer Lebensziele nicht neu, sie haben auch früher schon eine Rolle gespielt. Was sich geändert hat, sind nicht die Wünsche selbst, wohl aber ihre Intensität und die Bereitschaft, sie auf Kosten der Berufsorientierung zu erfüllen. Der Glaube, man müsse persönliche Bedürfnisse den Erfordernissen eines als übergeordnet gedachten Unternehmenswohls bzw. eines allgemeinen Unternehmensziels unterordnen, löst sich auf. Lebenserfüllung wird nicht mehr von der Hingabe an außerhalb des Individuums liegende Ziele erhofft, sondern von der
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Teil V : Wirtschaft u n d W e r t e s y s t e m
„unerbittlichen" Realisierung individualistischer Bedürfnisse, nicht vom Dienst am Unternehmen, sondern von der Erfüllung individueller Lebenschancen durch das Unternehmen. Diese Verschiebung von Prioritäten kennzeichnet den Wertwandel der Arbeit in einem zweiten Aspekt. Man kann ihn als neuen Arbeitsindividualismus bezeichnen. Auf der Skala der neuen Arbeitsorientierungen stehen persönliche Unabhängigkeit, Kompetenz, kommunikative Tugenden und Mitspracherechte weit höher als die traditionellen Werte wie Disziplin, Pflichtbewußtsein, Fleiß, Unterordnung, Gehorsam und Fügsamkeit. Man soll lernen, eigene Rechte zu erkennen und zu vertreten, soll Fähigkeiten zur Selbstbehauptung erwerben und es schließlich auch schaffen, kooperativer Partner und Kollege zu sein. Entsprechend stellen sich die Menschen die „richtige" Ordnung eines Betriebes vor. Sie wird nicht länger als eine rein hierarchisch strukturierte, auf Anweisung und Gehorsam beruhende Befehlseinheit, sondern als Kooperationseinheit gedacht. Es darf zwar Hierarchien geben, aber eben nicht mehr diskussionslose Anweisungen und deren E n t w i c k l u n g d e r A n s p r ü c h e an d i e Arbeit" Bedeutungszunahme kommunikativer und immaterieller Arbeitsansprüche Interessante, abwechslungsreiche Tätigkeit (IfD)
1973 1983
V i e l Kontakt zu anderen Menschen (IfD)
1973 1981
E i n Beruf, bei dem es darauf ankommt eigene Ideen zu haben (IfD) Interessante, abwechslungsreiche und verantwortungsvolle Arbeit ( I N F A S ) Kürzere Arbeitszeit bei Einkommensanpassung (IfD/FSA)
a 7i 47 57
1973 1983
43
52
• 34
1973 1980 1968 1982
79
40
Antwort: „Sehr wichtig" in Prozent
D8 40
Bedeutungsabnahme materieller Arbeitsansprüche Hohes Einkommen (IfD) G u t e Aufstiegsmöglichkeiten (IfD)
1973 [ 1981 |
G u t e Verdienstmöglichkeiten ( I N F A S )
1973 | 1982
Längere Arbeitszeit bei Einkommensanpassung (IfD/FSA)
1982 • •
a
67
1973 | 1983 |
50 62 J 54 | 53
I 45 40
1968 1
6
B e f r a g t e B e r u f s t ä t i g e im B u n d e s g e b i e t u n d W e s t - B e r l i n in P r o z e n t .
Q u e l l e : v o n K l i p s t e i n u n d S t r ü m p e l 1 9 8 5 a: S. 2 5 .
Antwort: „Sehr wichtig" in Prozent
1. Kapitel: Wirtschafts- und A r b e i t s w e r t e im Wandel
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fraglose Ausführung, nicht einseitiges G e b e n u n d einseitiges N e h m e n , sondern partnerschaftliches Zusammenwirken innerhalb einer einsehbar begründeten Ungleichheit. Entsprechend sind individuelle Mitsprachechancen weit wichtiger für eine hohe Arbeitszufriedenheit bzw. Arbeitsproduktivität als die materiellen Ausstattungsaspekte eines Arbeitsplatzes. In das Mehrheitsbild der Menschen von einer guten Arbeitsbeziehung sind also heute primär individualistische Ansprüche eingeflossen: die Erwartung auf Kooperation, Partizipation, soziale Kontakte, Entscheidungsfreiräume, mehr Rücksichtnahme auf individuelle Fähigkeiten. Solche Erwartungen machen die modernen Arbeitsbeziehungen natürlich viel anfälliger f ü r offene Konflikte und E n t t ä u schungen, vor allem dann, wenn Vorgesetzte in Staat und Wirtschaft sich nach wie vor auf die traditionellen Arbeits- und Leistungswerte berufen, o h n e die Werte des neuen Arbeitsindividualismus in ihrem Führungsverhalten einzubeziehen. Wer sich heute beispielsweise zur Kündigung entschließt, verwirft nicht die Arbeit schlechthin, sondern die unbefriedigende Arbeit bzw. unbefriedigende Arbeitsstrukturen. E r drückt aus, d a ß er nicht bereit ist, Beziehungen fortzusetzen, die er nur noch als Pflicht erlebt, die aber seine individuellen Ansprüche auf einen ihn erfüllenden, seinen Fähigkeiten entsprechenden Beruf nicht mehr einlösen. Allerdings enthalten die W e r t e des neuen Arbeitsindividualismus auch Züge des Konservativen. Charakteristisch ist ihre Verbindung mit Wünschen a) nach O r d n u n g und b) nach Sicherheit. Hier gibt es offenbar neben Wertdiskontinuitäten durchaus auch Wertkontinuitäten. Trotz grundlegenden Wertwandels der Arbeit leben zugleich auch ältere Traditionen fort. Sie bilden eine eigentümliche spannungsreiche Wertamalgamierung von Individualismus einerseits, Ordnung und Sicherheit andererseits. Ordnung ist aus der Sicht der Bundesdeutschen nach wie vor ein h o h e r Wert, O r d n u n g verstanden als Reibungslosigkeit betrieblicher Abläufe, als berechenbares Funktionieren wirtschaftlicher Prozesse. Da aber der traditionelle Ordnungsglaube mit neuen individualistischen Orientierungen verbunden ist,wirkt er nicht nur den f r ü h e r üblichen autoritären Betriebsstrukturen entgegen, er begünstigt vielmehr die Entwicklung kooperativer und demokratischer Arbeitsbeziehungen. A u c h in einem weiteren A s p e k t ist das Mehrheitsbild der Deutschen von akzeptablen Arbeitsbeziehungen bürgerlich-konservativ gestimmt: das Streben nach Sicherheit. Spielten vor einer G e n e r a t i o n noch Werte wie Risikobereitschaft, Wagnis, Pioniergeist und Karriere eine wichtige Rolle, so hat sich dies inzwischen geändert. Persönliche Anstrengungen werden der T e n d e n z nach eher gemieden, eine risikovolle Karriere zurückgewiesen, größere Verantwortung verbreitet abgelehnt. Falsch wäre es demnach, wenn man den neuen Arbeitsindividualismus als Ausbrüche von persönlichem Wagemut, von Innovationsgeist oder Mobilität deuten würde. Mobilität und Innovationsgeist bedeuten Risiko und Anstrengung, und beides ist nicht gefragt. Die Konzentration auf die Selbstbezogenheit hat demnach nicht das Verlangen nach Sicherheit vermindert. Im Gegenteil: Die persönliche Mobilitätsbereitschaft ist gesunken. D e r Widerstand gegen Orts- und Berufswechsel, ja selbst gegen Umsetzungen innerhalb eines U n t e r n e h m e n s ist groß. Gewünscht wird die Bewahrung dessen, was ist o d e r was man hat; nur ein paar G r a d e freizügiger und komfortabler. D e r neue Individualismus in der Arbeitsethik ist also alles andere als betont berufsengagiert, innovativ und karriereorien-
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Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
tiert. Die verbreitete Distanz zum Beruf hat das Mehrheitsbild der Menschen verändert. Persönlicher Einsatz und Risiko werden aufgewogen gegenüber den Leistungen und Befriedigungen, die Berufs- und Privatsphäre liefern.
2.2.3 Die neue Vertragsmoral Der Wandel der Arbeitswerte hat auch zu einem neuen Arbeitsverständnis geführt. Beruf und Arbeit sind heute weitgehend entkoppelt von Pflichtgefühl um seiner selbst willen. Berufs- und Arbeitsauffassung sind auch freigesetzt von übergeordneten Gemeinschaftswerten, von der Hingabe an allgemeinere Ziele. Aus hingebungsvollen Arbeitnehmern sind kalkulierende Beschäftigte geworden. Empfanden es beispielsweise früher die Beamten als Ehre, dem Staat zu dienen, so spricht nichts mehr dafür, daß diese Haltungen noch existieren. Wer heute arbeitet, dient nicht. Er verspricht sich einen anderen Gewinn, als seine Pflicht getan zu haben. Er will präzise wissen, was er an Entgelt, Sicherheit, sozialen Kontakten, Karrierechancen und Prestige erhält. Mit dem Dienst im Unternehmen ist nicht mehr per se Ehre oder Prestige verbunden, sondern in erster Linie der Tausch vertraglich ausgehandelter materieller und immaterieller Leistungen. Man fragt heute nicht mehr, wie kann man am besten seine Pflicht erfüllen, sondern: Was erhält man als greifbaren Gegenwert für seinen Dienst. Der in vielfacher Hinsicht prekäre Unterschied zu früher liegt darin, daß die neuerliche Haltung zur Arbeit einer Art vertraglicher Tauschbeziehung bzw. einer Art Rechtsgeschäft nachgebildet ist. Ich gebe soviel, wie mir entgolten wird; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Haltung, sofern konsequent praktiziert, schließt kurzfristige Überschußleistungen und Mehrengagement nicht aus. Nur langfristig müssen die Bilanzen des Gebens und Nehmens in der Einschätzung der Betroffenen ausgeglichen sein. Sie sind es aber überall dort nicht, wo eine die Vergangenheit verklärende Orientierung an unentgeltlichen Überschußleistungen, d.h. an traditionellen Arbeitstugenden überwiegt; mit der Konsequenz, daß Arbeitsunzufriedenheit, Berufsunlust und die Distanz zur Erwerbsarbeit steigen. Unter diesen Umständen scheint es, als sei die moderne Arbeits- und Dienstauffassung vor allem vertragsorientiert. Es hat eine Transformation des Selbstverständnisses von Beamten, Angestellten und Arbeitern stattgefunden. Ihr traditionelles Arbeitsethos ist ausgehöhlt. Ihr neuer Berufsstatus ist professionalisiert. Arbeit als Inbegriff eines moralischen Wertes wird zur Arbeit auf rationaler Vertragsbasis, aus Pflichtgefühl wird kalkulierter Einsatz, aus beruflicher Hingabe die Betonung individueller Interessen; prononciert formuliert: Arbeitsmoral ist heute primär Vertragsmoral. Die neue Vertragsauffassung der Arbeit kann verstanden werden als bewußte Dosierung von beruflichen Bindungen, die nur insoweit bejaht werden, als sie einen erkennbaren Ausgleich von Leistungen und Gegenleistungen beinhalten. Die neuerliche kalkulierte Bindungsbereitschaft der Arbeitnehmer hat ernste Folgen für die Führungsorganisation eines Unternehmens. „Ein unter den Jüngeren überrepräsentierter, aber unter den Erwachsenen recht gleichmäßig über das sozio-ökonomische Spektrum gestreuter Teil trägt an die eigene Arbeit und Lebenswelt und an die Wirtschaft einen Katalog von Ansprüchen und Zielen heran, der den traditionellen Verhaltensweisen, Funktionsgesetzen und Rollenvorgaben im Produktionssystem entgegen steht. Daß der Mißklang zwischen Mensch und Ar-
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beit bei den unteren Berufsschichten am schrillsten ist und sich hier der Distanzierungsimpuls am deutlichsten zeigt, kann nicht auf die Folgen eines klassenspezifisch-kritischen Bewußtseins zurückgeführt werden, sondern vielmehr darauf, daß unten die erweiterten Ansprüche besonders häufig und besonders schmerzlich unerfüllt bleiben" (Klipstein und Strümpel 1985a: S. 31). Klipstein und Strümpel sprechen in diesem Zusammenhang von der „evolutionären Dissonanz" zwischen Wirtschaftskultur und Wirtschaftsstruktur. Die Unternehmensleiter können also heute nicht mehr ohne weiteres die traditionellen Arbeitswerte wie Disziplin, Pflichtgefühl und Mobilitätsbereitschaft bedingungslos voraussetzen. Sie können sich auch nicht mehr ohne weiteres auf Verantwortungsfreude und Karrieregeist berufen, falls sie nicht die neue Vertragsethik in Rechnung stellen. Sicher gibt es noch starke Minderheiten, in denen die traditionellen Arbeitstugenden lebendig sind, aber die Mehrheit der Bevölkerung ist von einer Art Unterströmung erfaßt, die eine deutliche Schwächung überlieferter Arbeitswerte mit sich bringt. Das fraglose berufliche Engagement und der allein auf den beruflichen Erfolg fixierte Lebensstil gehen erheblich geschwächt aus dem Prozeß des wirtschaftlichen Wertwandels hervor. 3
2.3 Hintergründe des Wertwandels Zu fragen ist schließlich, woraus der behauptete Wertwandel der Arbeit resultiert. Der Nährboden neuer Orientierungen sind erstens der Wohlstand unseres Landes und die Art seiner Verteilung, die zwar nicht alle gleichmäßig, wohl aber soweit berücksichtigt, daß sich die meisten an einen steigenden materiellen Lebensstandard gewöhnen konnten. Zum ersten Mal kann sich auch der einfache Arbeiter leisten, was bis tief in unser Jahrhundert hinein ein für ihn unerreichbarer Luxus war: freie Zeit, Interesse an der eigenen Person, Mitwirkungsansprüche am Arbeitsplatz. Eine weitere Wurzel hat der Wandel der Arbeitswerte zweitens in der Gewöhnung an die Demokratie. Die relativ hohe Stabilität demokratischer Institutionen strahlte auch in die industrielle Sphäre hinein und hat das Verlangen nach Mitspracherechten, nach Partizipation und Selbstverwirklichungschancen am Arbeitsplatz gestärkt. Drittens hat zur neuen Arbeitshaltung sicherlich auch die allgemeine Bildungsrevolution beigetragen, die Ende der 60er Jahre massiv in der Bundesrepublik eingesetzt hat. So hat sich zum Beispiel der Anteil der Oberschüler an den entsprechenden Jahrgängen zwischen 1960 und 1973 verdoppelt, die der Studenten 3
Dies bedeutet nicht, daß Leistungswille und Leistungsbereitschaft generell gesunken sind. Sie sind nach wie vor sehr hoch. Sie werden nur vielfach durch veraltete Führungsgrundsätze nicht mehr hinreichend aktiviert. W o die traditionellen Arbeitswerte beschworen und vergangene Prinzipien glorifiziert werden und damit der sich abzeichnende Wertwandel ignoriert wird, werden in der Tat Leistungswille, Belastbarkeit und Berufsfreude zurückgehen. W o aber der Wertwandel Eingang findet in die unternehmerischen Führungsstrukturen, wo auf Vertragsbasis Leistungen getauscht werden, ist auch heute noch die Leistungsfähigkeit des Einzelnen ungebrochen, wie empirische Untersuchungen immer wieder bestätigen.
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an den Universitäten verdreifacht, die der Studentinnen sogar verfünffacht. Die gestiegene Bildung hat emanzipierend und individualisierend gewirkt; sie hat herkömmliche Traditionen und Arbeitsnormen des Elternhauses zumindest teilweise aufgelöst bzw. umdefiniert. Schließlich knüpfen die neuen Arbeitsorientierungen an alte europäische Traditionen an, die mit der Aufklärung bzw. mit der Epoche des klassischen Liberalismus begannen. Diese Epoche war stark individualistisch geprägt. Im Zentrum des Liberalismus stand von Anfang an die Überzeugung, daß der einzelne Mensch nicht nur fähig sei, selbst zu denken statt sich sein Denken vorschreiben zu lassen, sondern er sei auch berechtigt, sich für seine eigenen Interessen einzusetzen. Diese Ideen haben sich in Deutschland zwar niemals voll durchgesetzt, aber sie sind lebendig geblieben: eine Art Angebot unserer kulturellen Tradition, das unter veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen erneut abgerufen werden konnte (vgl. Pross 1982).
3. Wirtschaftswerte im W a n d e l 3.1 Die traditionellen Handlungswerte der Wirtschaft Die Vorstellungen von dem, wie die moderne Wirtschaft organisiert und ihre Beziehungen gestaltet sein sollen, haben sich auch in einem weiteren Punkt verändert. Man kann den Wertwandel in der Wirtschaft anhand des Wandels ihrer Rationalitätsformen verdeutlichen. Legt man Habermas' Unterscheidung von strategischer und kommunikativer Rationalität zugrunde, zeichnet sich heute im Mehrheitsbild der Bevölkerung der Wunsch nach einer stärkeren Wirksamkeit kommunikativer Rationalitätselemente, d.h. nach einer stärkeren Berücksichtigung öffentlicher Interessen und sozialer Ansprüche im wirtschaftlichen Handeln ab. Unter der strategischen Wirtschaftsrationalität ist die Markt- bzw. Zweck-Mittel- oder Kosten-Nutzen-Rationalität zu verstehen. Es ist eine Rationalität, die sich an bloß wirtschaftlichen Funktionskriterien orientiert; es ist die Rationalität, die die Differenzierung von Märkten, Produkten und Produktionsverfahren voran treibt; und es ist schließlich jene Rationalität, die in den unternehmerischen Dispositionen keine als sinnfremd empfundenen sozialen Bezüge oder öffentlichen Interessen, keine Solidarität oder Affektivität gestattet. Unter den Bedingungen der strategischen Rationalität wird der Wirtschaft zugestanden, alle solchen Z u mutungen und Erwartungen zu ignorieren, die nicht ausschließlich der professionellen Bereitstellung von Gütern und Arbeitsplätzen dienen; d.h. die Wirtschaft wird dogmatisch begrenzt auf jene strategisch-rationalen Entscheidungskriterien, die nur sie selbst interpretiert. Sie wird freigestellt von Rücksichten auf die Umwelt, auf die Ü b e r n a h m e gesellschaftlicher Funktionen, auf Demokratisierungsund Partizipationsprozesse. Sie wird letztlich auch freigesetzt von religiösen, moralischen und sozialen Orientierungen sowie entlastet von familialen, regionalen oder kulturellen Bindungen. Die strategische Wirtschaftsrationalität ist Ausdruck der Versachlichung und Anonymisierung aller Marktbeziehungen, sie ist gleichbedeutend mit der ausschließlichen Konzentration wirtschaftlichen Handelns auf die Systembedingungen des Marktes wie Rendite, Wachstum, Faktormobilität, Konkurrenz, Technikakzeptanz und Innovation.
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In dieser strategischen Rationalität, die aus der Epoche des klassischen Liberalismus stammt und die industrielle Entwicklung entscheidend geprägt hat, liegt nach wie vor eine hohe Wertkontinuität. Der Konsens über die strategische Marktrationalität erstreckt sich in erster Linie auf die positiven Leistungen, die mit ihr in der Vorstellung der Bevölkerung verbunden sind: etwa technologischer Fortschritt, h o h e r Lebensstandard, materielle Sicherheit, Konsumvielfalt. Dies sind soziale G ü t e r , die hoch geschätzt werden u n d deren künftige Sicherstellung man offenbar nach wie vor der strategischen Marktrationalität am ehesten zutraut. Doch das Verhältnis der Bevölkerung zu ihr ist nüchtern, durch und durch unidealistisch, unpathetisch. Die Zustimmung zu ihr ist nicht so sehr Inbegriff einer hochgesteckten Z u k u n f t s h o f f n u n g , sondern allein Ausdruck der Bejahung individueller Leistungschancen und materieller Wohlfahrt. Man schätzt sie, solange man deren materiellen Früchte genießt. A b e r - u n d das kennzeichnet den neuen Wertwandel in der Wirtschaft — dies gilt nicht m e h r uneingeschränkt. Man tritt heute der rein stratetisch orientierten Wirtschaftsrationalität und ihren Wirkungen distanziert entgegen. Sie kann sich nicht m e h r ohne weiteres gegenüber außerökonomischen Ansprüchen und Erwartungen wie bisher abschirmen. Die ausschließlich auf das Wachstum und die materielle Versorgung der Bevölkerung orientierte Funktion der Marktwirtschaft scheint nicht mehr den herrschenden Wertvorstellungen zu entsprechen. Der Maßstab, anhand dessen heute die Leistungen der U n t e r n e h m e n bewertet werden, ist auch ihr Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität bzw. der Lebenswelt in einem umfassenderen Sinne. Der Wirtschaft wird nicht mehr im selben M a ß e wie früher zugestanden, sich weiter rein funktional auszudifferenzieren, sich weiter gegenüber den gesellschaftlichen u n d umweltlichen Wirkungen ihres Handelns zu verschließen oder sich gegenüber politischen und sozialen Bezügen ihrer Entwicklung zu immunisieren. Die f r ü h e r als legitim e m p f u n d e n e Gleichgültigkeit von U n t e r n e h m e n gegenüber öffentlichen Problemen wird heute nicht m e h r ohne weiteres akzeptiert, die Indifferenz gegenüber der Ü b e r n a h m e von gesellschaftlicher Verantwortung zurückgewiesen. Neu und anders als zuvor sind o f f e n b a r Art und Qualität der erwünschten Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. N e b e n der strategischen Rationalität bilden sich heute handlungsleitende wirtschaftliche Werte, die man mit dem Begriff der kommunikativen Rationalität ( H a b e r m a s 1981) oder der neuen Öffentlichkeit (Büß 1983) bezeichnen könnte, d.h. die Wirtschaft entwickelt sich zu einer Sphäre, in der das Gewicht öffentlicher Interessen und sozialer A n s p r ü c h e deutlich zunimmt. Zwar dominieren nach wie vor die Maßstäbe, die auf eine strategische Rationalitätssteigerung der Wirtschaft gerichtet sind, a b e r es wächst der Einfluß jener Kräfte, die auf einen K o m p r o m i ß zwischen gesellschaftlichen und ökonomischen Interessen drängen. Neben der Wertkontinuität, d.h. der nach wie vor bestehenden Wertschätzung der rein materiellen Funktionen der Wirtschaft, gibt es zugleich einen Wertwandel. Die B e d e u t u n g der traditionellen Handlungsorientierungen in der Wirtschaft wird überlagert von d e n neuen Wertideen eines Ausgleichs zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen.
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3.2 Das neue Öffentlichkeitsmandat der Wirtschaft Die kommunikative Rationalität ist eine Rationalität des Dialogs, des Ausgleichs, der sozialen Integration. Es ist eine Rationalität, die die Marktbeziehungen nicht mehr ausschließlich kommerziellen Prinzipien unterwirft, sondern den Interessen- und Wertpluralismus aller gesellschaftlichen Gruppierungen in die wirtschaftlichen Entscheidungen einbeziehen will. Die kommunikative Rationalität ist primär partizipativ-, konsens- und verständigungsorientiert. Sie ist auf die Integration der Wirtschaft in die Gesellschaft gerichtet. Auch das Attribut des „Öffentlichen" besagt, daß im Mehrheitsbild der Bevölkerung sich wirtschaftliches Wachstum nicht mehr wie bisher im Exklusivschutz eines rein wirtschaftlichen und rational durchorganisierten Binnenmilieus weiter entwickeln darf. Es deutet vielmehr an, daß sich in der Gesellschaft die Auffassung durchgesetzt hat, daß die Unternehmen sich nicht nur auf die Lösung rein ökonomischer Fragen etwa von Produktionsverfahren, Absatzstrategien und Produktentwicklung zu beschränken, sondern zugleich auch ihre Aufmerksamkeit auf die außerökonomischen bzw. die gesellschaftlichen Konsequenzen ihres Handelns zu richten haben. Die Mehrheit der Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten hält inzwischen eine Wirtschaftsordnung für wünschenswert, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Aufgaben und Wertorientierungen besser aufeinander abstimmen. Gewünscht wird eine Wirtschaft mit hohem technologischem Leistungspotential, aber zugleich auch mit mehr Rücksicht auf private und öffentliche Lebensweltbelange. Der Wirtschaft werden auch weiterhin traditionelle Orientierungen wie Professionalisierung der Marktbeziehungen und Renditeoptimierung zugestanden, nur muß sie sich daneben zugleich gesellschaftlichen und privaten Ansprüchen fügen, will sie nicht gravierende Legitimationseinbußen hinnehmen. Die ausschließlich auf die materielle Versorgung der Bevölkerung orientierte Funktion der Marktwirtschaft entspricht nicht mehr den herrschenden Wertvorstellungen. Charakteristisch für diesen Wertwandel ist eine Reihe von Indizien, die erkennen lassen, daß der Druck öffentlicher Interessen gegenüber der Wirtschaft wächst: — Verglichen mit dem historischen Typus eines Privatunternehmens entspricht die moderne Publikumsgesellschaft eher einer quasi-öffentlichen Organisation. Das Großunternehmen ist eine halböffentliche Einrichtung geworden. Eine nichtstaatliche, politische Institution hat Berle sie genannt, eine Institution am Kreuzweg der Geschichte. Die öffentliche Rolle des Unternehmens wird inzwischen zu einem konstitutiven Merkmal der modernen Wirtschaft. Wie einschneidend der Wandel ist, hebt Dierkes hervor: „Die Unternehmungen werden sich also in Zukunft, um als soziale Institutionen weiter überleben zu können, weitaus stärker den Veränderungen der zielgebenden Umwelt anpassen müssen, als es in der Vergangenheit erforderlich war. Dies gilt vor allem für die Groß- und Größtunternehmen, deren Rolle als gesellschaftliche und nicht nur ökonomische Institution in steigendem Umfang auch vom Management erkannt wird" (Dierkes 1974: S. 37f). Der Wertwandel zwingt zu einer Revision traditioneller Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen in den Unternehmen. Wirtschaftliches Handeln gerät dort in Legitimationsnöte, wo es öffentliche, kommunale, umweltliche oder soziale Bezüge durchweg ignoriert.
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— Einer amerikanischen Untersuchung zufolge wurden 1965 noch 7 4 % aller Forderungen an die U n t e r n e h m e n von Regierungsstellen e r h o b e n , während nur 9 % von der Öffentlichkeit kamen. 1971 hat sich das Verhältnis bereits nachhaltig verändert. 2 6 % aller G e s a m t f o r d e r u n g e n an die Wirtschaft kamen aus dem öffentlichen Sektor, während es von der Exekutive nur noch 5 8 % waren. Inzwischen hat der Wertwandel den öffentlichen Druck gegenüber der Wirtschaft noch einmal erheblich verstärkt. Gesellschaftliche Forderungen werden nicht mehr nur von einzelnen Personen, Initiativgruppen, Verbraucherverbänden, politischen oder ökologischen Gruppierungen vorgetragen, vielmehr wird die Berücksichtigung öffentlicher Interessen in der Wirtschaft auf breiter Front verfolgt. Mehr als 90 % der Bürger in der Bundesrepublik fordern heute die gesellschaftliche und öffentliche Verantwortung von U n t e r n e h m e n . Das neue Öffentlichkeitsmandat der Wirtschaft zielt auf eine Sensibilisierung des Unternehmerverhaltens, es richtet sich auf die Entfaltung öffentlicher Tugenden in den hochgradig professionalisierten Marktbeziehungen. — Seit 1970 veröffentlichen zahlreiche amerikanische U n t e r n e h m e n eine soziale Erfolgs- und Bestandsrechnung, die sogenannte social balance sheets. Dabei handelt es sich um die systematische E r h e b u n g und A u f b e r e i t u n g von Daten über die gesellschaftlichen Auswirkungen der regelmäßigen Unternehmenstätigkeit. Umweltbelange werden in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse einbezogen. Öffentliche Reaktionen und F o r d e r u n g e n - eben Ausdruck des neuen Wertwandels - geraten zu konstitutiven E l e m e n t e n wirtschaftlicher Legitimation. Damit greift der kollektive Erwartungsdruck der Öffentlichkeit direkt in die unternehmerischen Dispositionen ein. — Seit 1976 hat sich auch in der Bundesrepublik ein Arbeitskreis „SozialbilanzPraxis" etabliert, in dem sowohl G r o ß - als auch mittelständische U n t e r n e h m e n den Versuch wagen, die gesellschaftsbezogene U n t e r n e h m e n s r e c h n u n g voranzutreiben, d.h. öffentliche N o r m e n und Interessen in die unternehmerischen Entscheidungsverfahren systematisch einzubeziehen. Auch wenn diese Entwicklung immer wieder von Rückschlägen begleitet wird, deutet sie doch an, daß sich die Vorstellung verbreitet hat, d a ß die Wirtschaft nicht mehr ausschließlich als private Veranstaltung verstanden werden kann, sondern als ein F o r u m , auf dem sich sowohl ökonomische als auch gesellschaftliche Erfordernisse treffen. Nur scheint es bislang f ü r viele U n t e r n e h m e n außerordentlich schwierig zu sein, diese erwünschte Balance zu finden. — Einer E r h e b u n g des Battelle-Instituts in F r a n k f u r t zufolge ist k n a p p die Hälfte der Manager in der Bundesrepublik der Auffassung, d a ß die U n t e r n e h m e n von sich aus auch öffentlichen Interessen u n d gesellschaftlichen Forderungen in ihrem Handeln R e c h n u n g tragen. Vor allem jüngere Manager zeigen sich gegenüber den veränderten Wertansprüchen aufgeschlossen. Dabei geht es um eine grundsätzlich neue Handlungsorientierung, die die freiwillige Selbstbindung der U n t e r n e h men an die öffentlichen, sozialen und moralischen Ansprüche der m o d e r n e n Industriegesellschaft vorsieht. U n d es geht um die schwierige Ü b e r t r a g u n g der „social values" in das von nutzenstrategischen Gesichtspunkten gesteuerte System der Wirtschaft. — A u c h in der Zurückdrängung autoritärer Entscheidungsverfahren in den Betrieben wird die neue Kraft der kommunikativen Rationalität in der Wirtschaft sichtbar. Im Mittelpunkt industrieller Entscheidungsstrukturen stehen heute
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Wertideen wie Partizipation, Verantwortungsdelegation, Erweiterung von Mitsprache und Mitbestimmungschancen sowie der A u f b a u umfassender I n f o r m a tions- und Kommunikationsstrukturen, die dem Mitarbeiter größere Spielräume der Selbständigkeit, des Dialogs und des Interessenausgleichs ermöglichen. - Letztlich schlägt sich der Wertwandel auch in einer Reihe von F o r d e r u n g e n nieder, deren Berücksichtigung der Wirtschaft in verstärktem M a ß e zugemutet wird. Es handelt sich vor allem um gesellschaftliche A u f g a b e n , wie beispielsweise die Ü b e r n a h m e von Bildungsfunktionen, die Unterstützung von Hochschulen, die Errichtung von Forschungsstätten, vermehrte Aufstiegschancen für Unterprivilegierte und Behinderte, Anwerbung von Minderheiten, Umweltschutz, Stadtsanierung, ärztliche Versorgung, Bau von Erholungseinrichtungen für die Öffentlichkeit, Unterstützung von Kunst, Kultur und Sport, etc. Wenn auch viele dieser Funktionen nach wie vor n u r programmatischen C h a r a k t e r haben, illustrieren sie doch das vergleichsweise deutlich erweiterte Spektrum gesellschaftlicher Funktionen in der Wirtschaft. Es läßt sich vor allem an den Bereichen der Bildungs-, K o m munal- und Sozialpolitik verdeutlichen. U n t e r n e h m e n sind, wie Whyte f o r m u liert, zu „ T r e u h ä n d e r n der Erziehung" geworden. Sie gewähren nicht nur Stipendien, sie unterstützen nicht nur die Errichtung n e u e r Forschungsstätten, sie erfüllen auch selbst umfangreiche Ausbildungsmaßnahmen, entwickeln P r o g r a m m e zur Fortbildung und Umschulung und stellen F a c h k r ä f t e öffentlichen Bildungseinrichtungen zur Verfügung. Die Wirtschaft gilt heute mittlerweile als vierte gesellschaftliche Bildungsebene. Zu den kommunalen Funktionen eines U n t e r n e h mens zählen beispielsweise Vorsorgemaßnahmen f ü r den Umweltschutz sowie die Beteiligung an der Finanzierung von Projekten der Stadtentwicklung oder der Infrastruktur. Öffentliche Funktionen, die schließlich zur Sozialpolitik gehören, sind beispielsweise P r o g r a m m e der Alterssicherung, der Sozialberatung, der V e r m ö gensbildung, der Wohnungsbeihilfe, Errichtung von Tagesstätten und Kindergärten für berufstätige Mütter etc. Den U n t e r n e h m e n stellt sich eine Reihe neuartiger A n f o r d e r u n g e n , die man auch mit der Formel „komplementär-öffentliche F u n k t i o n e n " kennzeichnen könnte. A u f g r u n d veränderter Wertprämissen sind ihnen A u f g a b e n zugewachsen, die sich o f f e n b a r in vielfacher Hinsicht mit den Tätigkeiten des Staates zu kreuzen scheinen. N e b e n die öffentlichen Funktionen des Staates treten heute vermehrt öffentliche Funktionen der privaten Wirtschaft: Sie übernimmt außer ihren klassischen ökonomischen Aufgaben eine Art Komplementärrolle zur öffentlichen H a n d .
3.3 Legitimationswandel der Wirtschaft Die Entwicklung der Wirtschaft erreicht eine n e u e W e g m a r k e : D a s prinzipiell souveräne U n t e r n e h m e n , das bis weit in die 60er J a h r e vorwiegend den rein ö k o nomischen Ausschnitt aus allen denkbaren A u f g a b e n w a h r n a h m und damit eine sehr begrenzte, hochspezialisierte gesellschaftliche Organisation war, sieht sich heute genötigt, auch seine gesellschaftliche Potenz zu entwickeln. W o die Mechanismen der Marktgesetze nicht mehr ausreichen, die in die Gesellschaft hineinreichenden Konsequenzen wirtschaftlichen Handelns zu kompensieren, wird im G'egenzug der Wirtschaft die Zuständigkeit f ü r die W a h r n e h m u n g öffentlicher A u f -
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gaben zugemutet. Enthielt der klassische Begriff der Marktwirtschaft noch gleichsam eine G e n e r a l - und Blankovollmacht f ü r ausschließlich ökonomische Funktionen und damit zugleich die Freistellung von gesellschaftlichen Belangen, so formt der Wertwandel die Legitimationsgrundlage wirtschaftlichen Handelns in der Weise um, d a ß die U n t e r n e h m e n heute auch außerökonomische Aufgabenstellungen in Betracht zu ziehen haben. Diese neue Form einer Art Generalzuständigkeit für gesellschaftliche Funktionen führt zu einer Neudefinition der ö k o n o mischen Rolle eines U n t e r n e h m e n s , das sich in einer Sphäre veränderter Legitimationsansprüche orientieren m u ß . Gegenwärtig liegt das H a u p t p r o b l e m darin, dieses neue M a n d a t der Gesellschaft auch tatsächlich umzusetzen und zu nutzen. Versagt nämlich ein U n t e r n e h men in der W a h r n e h m u n g öffentlicher Interessen, können gravierende Legitimationseinbußen auftreten. Immer deutlicher zeichnet sich ab, d a ß Mißerfolge oder Fehlschläge beispielsweise in U m w e l t s c h u t z m a ß n a h m e n die Ursachen einschneidender Legitimitätskrisen sein können. Im G r u n d e ist die Entwicklung in der Wirtschaft gegenwärtig durch zwei konkurrierende T e n d e n z e n geprägt: Z u m einen müssen sich die U n t e r n e h m e n mehr und mehr an ihrem neuen Öffentlichkeitsmandat orientieren, liegt ihm doch die neue erweiterte Legitimationsbasis wirtschaftlichen Handelns zugrunde; zum anderen müssen sie nach wie vor der schrittweisen Verbesserung des materiellen Lebensstandards der Bevölkerung Rechnung tragen. Darin liegt die Doppelnatur des neuen Legitimationsprinzips: Es ist öffentlich gefärbt einerseits, materiell und individualistisch andererseits. Diese Entwicklung hat Konsequenzen für die Institutionen der Wirtschaft. Die sich abzeichnende Verbreiterung der Legitimationsgrundlage wirtschaftlichen Handelns hat ihre Stabilität gefestigt und gestärkt. Dadurch daß die Wertschätzung der Wirtschaft nicht mehr allein auf die Erfüllung bloß ökonomischer Funktionen gerichtet ist, sondern auch auf der Berücksichtigung außerökonomischer Belange beruht, ist die moderne Wirtschaftsordnung gegenüber zyklisch auftretenden konjunkturellen Krisen in ihrem Bestand immer weniger gefährdet. Die Wirtschaft „ e r t r ä g t " es, wenn Defizite (Arbeitslosigkeit), Konflikte (über Arbeitszeit) und Krisen (Wachstum, Versorgung) a u f t r e t e n . Die Wertschätzung ihrer O r d n u n g ist heute auch über ihre gesellschaftlichen Leistungen abgesichert. Treten ökonomische Probleme auf, steht damit nicht zugleich auch die generelle Legitimation der sozialen Marktwirtschaft auf d e m Spiel. Damit haben sich die eigentlichen Bestandskrisen der hochentwickelten Marktsysteme erheblich verringert. Mögliche Legitimationsnöte, hervorgerufen durch a u f t r e t e n d e Probleme, rühren nicht mehr an den Grundfesten der Wirtschaftsstruktur und ihrer Institutionen. In der Einbeziehung gesellschaftlicher Werte, N o r m e n und Interessen wird jenes Konfliktpotential beseitigt, das sich in einer Wirtschaft entfalten würde, deren H a n d l u n g e n von ausschließlich binnenökonomischen Gesichtspunkten geleitet würden. Indem die modernen Marktsysteme immer wieder gesellschaftliche Fragestellungen in ihre Entscheidungsstrukturen einbauen müssen, erarbeiten sie sich ein breiteres Verständnis und einen größeren öffentlichen Konsens. U n d damit sichern sie zugleich ihre Legitimation ab.
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2. Kapitel Leistungsprinzip und Leistungsmotivation in Wirtschaft und Gesellschaft Einleitung „Leistung" ist Arbeit, die an einem bestimmten Bewertungsmaßstab gemessen wird: am Maßstab der Zeit, der Menge, der Qualität oder allgemein: an bestimmten sozialen Normen, die eine verhaltensauslösende und verhaltensvergleichende Funktion haben. Dabei ist zu unterscheiden: — die Anstrengung bzw. Anstrengungsbereitschaft von Individuen oder G r u p pen; — das Leistungsergebnis als Funktion der Anstrengung, der Fähigkeit bzw. Begabung sowie struktureller Möglichkeiten — die Ergebnisbewertung: durch Ego, Alter oder Dritte. Leistungen können auf vielfältige Ziele ausgerichtet sein (z.B. Sport, Sexualität, Arbeit und Beruf). Auch im wirtschaftlichen Bereich gibt es unterschiedliche Leistungsziele und Leistungskriterien. Wer diese Ziele setzt bzw. definiert, bleibt zunächst noch offen. „Im Kultursystem gewinnt der Leistungsbegriff seine Bedeutung als Wert, im Persönlichkeitssystem als Leistungsmotivation, im Sozialsystem als Leistungsrolle, im Wirtschaftssystem als Produktionsergebnis. Unter Leistungsgesellschaft wird ein System verstanden, in dem Rollen und Belohnungen nach der persönlichen Leistung zugeteilt werden, Leistung in diesem Sinne als Wert gilt und als wichtiges Handlungsmotiv verinnerlicht wird" ( S E I B E L / V O I G T 1983, S. 463). Fragen wir nun nach der Beziehung zwischen Wirtschaft und Leistung. Eine dieser Beziehungen ist außerordentlich naheliegend, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Veranstaltungskomplex „Wirtschaft" - also die Umwandlung von Natur in Versorgungsgüter — ohne Anstrengung, also ohne Leistung nicht zu bewerkstelligen ist. Freilich ist die Leistungsbereitschaft von Individuen oder G r u p pen nicht die einzige Komponente für wirtschaftlichen Erfolg. So sind beispielsweise arabische Staaten zu relativem Wohlstand gelangt, allein durch die Tatsache, daß sie über begehrte Ressourcen (hier: Öl) verfügten. Die Bereitstellung von Gütern zur Deckung menschlicher Bedürfnisse scheint also mit unterschiedlichen Anstrengungen verbunden zu sein, je nachdem, welche strukturellen Voraussetzungen — Verfügung über Rohstoffe etc. - in einer bestimmten Gesellschaft bestehen. Wenn wir hier den Begriff der Leistung mit dem Arbeitsverhalten in Verbindung bringen, müssen wir zunächst sehen, daß Leistungsverhalten im beschriebenen Sinn ein weiter gefaßter Begriff ist, der z.B. auch Leistungen im sportlichen Bereich oder sexuelle Leistungen umfaßt. Unter anderem Aspekt ist Leistungsverhalten ein engerer Begriff, weil und insofern nicht alle Elemente des Arbeitsverhaltens unmittelbar mit Leistungen verknüpft sind, sondern sehr stark in den informellen Bereich hinübergreifen (z.B. Tendenz zur Solidarität, Kommunika-
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tion im Betrieb usw.), die nicht oder zumindest nicht direkt mit Leistungsergebnissen in Zusammenhang zu bringen sind. In folgendem Beitrag wird die Bedeutung des Leistungssyndroms für das Wirtschaftsleben charakterisiert. Zunächst wird gezeigt, in welcher Weise das Leistungsprinzip in Gesellschaften — speziell in modernen westlichen Gesellschaften - verankert ist. Hierbei werden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ebenso zu diskutieren sein, wie systembedingte Schwächen bei der praktischen Verfolgung einer solchen Verteilungsnorm. Sodann werden wir in einem sozialpsychologischen Exkurs Fragen der Leistungsmotivation erörtern und danach versuchen, Bezüge zur gesamtgesellschaftlichen Problematik herzustellen. Schließlich werden in einem weiteren Abschnitt die Ursprünge der modernen Leistungsgesellschaft in ihren wichtigsten Linien verfolgt; ferner ist die gegenwärtige Situation zu problematisieren, die unter dem Tenor einer „Krise der Leistungsgesellschaft" im Brennpunkt der gegenwärtigen Diskussion steht.
1. Das Leistungsprinzip in Wirtschaft und Gesellschaft 1.1 Leistung und Verteilungsgerechtigkeit Das Leistungsprinzip ist im sozialen und im wirtschaftlichen Sinn Zuteilungsnorm für Entlohnungen, die zugleich als Anreize für die Gesellschaftsmitglieder aufgefaßt werden, durch entsprechendes Verhalten in den Genuß bestimmter Gratifikationen zu gelangen. Für LINTON (1936) sind „ascription" und „achievement" unterschiedliche Kriterien der Statuszuweisung: Entscheidend ist hier, ob eine Person aufgrund ihrer sozial vordefinierten Eigenschaften (z.B. Merkmale der Herkunft, der Rasse, der Abstammung) oder aber aufgrund ihrer Leistungsergebnisse eingestuft wird (Diese Untersuchung, die auch in PARSONS' „pattern variables" wieder auftaucht, ist außerordentlich bedeutsam für die Bewertungskriterien, die in einer bestimmten Gesellschaft zur Anwendung gelangen). In ökonomischen Zusammenhängen wird das Leistungsprinzip üblicherweise nicht mit einem Prinzip sozialer Askription verglichen, sondern dem sogenannten Bedarfsprinzip (Sozialprinzip) gegenübergestellt. Jedes dieser Prinzipien wird im Sinne distributiver Gerechtigkeit verstanden, allerdings ist jeweils der Bezugspunkt anders. Nach dem Wertverständnis des Leistungsprinzips als Verteilungsnorm soll jede Wirtschaftseinheit (jedes Wirtschaftssubjekt) so entlohnt werden, daß das Einkommen mit der individuellen Leistung übereinstimmt, die diese Wirtschaftseinheit zur Erstellung des Sozialprodukts beiträgt. Ungleiche Leistungen sollen demnach nach ihrer Verhältnismäßigkeit abgegolten werden. Diese Verteilungsnorm macht eine Reihe Voraussetzungen, die später noch im einzelnen zur Diskussion stehen: z.B. ideale Rahmenbedingungen, Konsens über Bewertungsmaßstäbe von Leistung, intakte Märkte, Zurechenbarkeitsprobleme, Fragen der Leistungsbewertung von komplexer/qualitativer Arbeit usw. Bewertungsmaßstäbe und -verfahren hängen von sozialen Wertsetzungen ab; sie sind zugleich Mittel der Interessendurchsetzung und der Herrschaftsausübung (vgl. hierzu: HARTFIEL 1977; OFFE 1970).
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Auch ist zu sehen, daß menschliche Leistung nicht lediglich eine Frage der Leistungswilligkeit ist - also eines Faktors, für den jeder Einzelne voll verantwortlich zeichnet - sondern auch eine Frage der Leistungsfähigkeit, die angesichts unterschiedlicher Begabungen oder Sozialisationsvorsprünge unterschiedliche Leistungschancen eröffnet. In alternativer Weise versucht das Bedarfsprinzip eine Zuteilungsnorm zu entwickeln, nach der das Sozialprodukt entsprechend den Bedürfnissen der privaten Wirtschaftseinheiten verteilt werden soll. Die Festlegung dieser Bedürfnisse kann natürlich nicht dem Urteil des Einzelnen überlassen bleiben - übersteigerte Begehrlichkeit wäre sicherlich die Folge - , sondern obliegt gewöhnlich dem Staat oder besonders dafür ausersehenen Organen. Damit allerdings ist die Leistungsbewertung über den Preismechanismus weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Frage, wie Leistung einzustufen sei, gestaltet sich unter der Vorherrschaft des Sozialprinzips aufgrund des Machtmonopols staatlicher Instanzen (z.B. der Parteifunktionäre) zu einer oft willkürlichen, ideologisch durchsetzten Angelegenheit. In Marktwirtschaften ist das Bedarfsprinzip lediglich eine zusätzliche, korrektive Verteilungsnorm, die Mißbräuchlichkeiten und Unzulänglichkeiten des Leistungsprinzips verhindern soll. Als Leitlinie gilt hier die Vorstellung, daß eine Verteilungsnorm, die nur an den Leistungsmöglichkeiten der beteiligten Individuen und Gruppen ansetzt, Ansprüche auf ein menschenwürdiges Dasein verletzen kann und Personengruppen mit strukturellen Defiziten (z.B. Mütter, ältere Menschen, Behinderte usw.) ins wirtschaftliche und soziale Abseits drängt (vgl. SIEBKE/WISWEDE 1987). Auch werden nicht-marktfähige Leistungen (z.B. im musischen Bereich) oder noch nicht marktfähige Vorleistungen (z.B. im Bereich Forschung und Entwicklung) unter Umständen vorzeitig „abgewürgt".
1.2 Die Krise des Leistungslohns Wie betont, wird das Leistungsprinzip als Verteilungsnorm verstanden, die für gleiche Leistung auch gleiches Entgelt garantiert. Soziologisch relevant ist hierbei das Kriterium der Angemessenheit, d.h. auf der subjektiven Ebene das Gefühl distributiver Gerechtigkeit (HOMANS). Personen pflegen ihren Leistungseinsatz und die dafür empfangene Bezahlung mit dem Input/Outcome anderer Personen (oder Berufsgruppen) zu vergleichen und erfahren vor allem in diesem Vergleich das Gefühl der Angemessenheit/Unangemessenheit im Sinne „gerechter Bezahlung", Überbezahlung oder Unterbezahlung (vgl. BALDAMUS 1960, ADAMS 1965). Die subjektive Deutung unterschiedlicher Einkommensgrößen ist dann sowohl nach Vorstellungen der Equity-Theorie (ADAMS) wie auch bei BALDAMUS Ausdruck eines Vergleichs zwischen Input (Ausbildungszeiten, Schwierigkeiten der Aufgabenbewältigung, Engagement, Zeitaufwand, Verantwortungsbereich usw.) und Outcome (Entgelt, Prämien, Karrierechancen, soziale Anerkennung, Status, Prestige, Autonomie, Chance der Entfaltung usw.). Ungleichgewichtige Relationen im Vergleich mit „signifikanten Anderen" führen zu Spannungen im Sinne distributiver Ungerechtigkeit. Die Lohnfrage stand stets im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, obgleich neuerdings auch andere gewerkschaftliche Zielsetzungen (z.B. Humanisierung am Ar-
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beitsplatz, Arbeitsplatzsicherung, Einbeziehung von Arbeitslosen usw.) an Profil gewinnen. Die Bedeutsamkeit der Lohnfrage ist zweifellos durch Interessenbündelung und Solidarisierung im Fortlauf der Industriegesellschaft zur zentralen Problematik hochstilisiert worden. Dies erscheint z.T. deshalb berechtigt, weil die Entlohnung von Leistung eine ganze Reihe verschiedener sozialer Funktionen subsumiert (vgl. F Ü R S T E N B E R G 1977; K U T S C H / W I S W E D E 1986): -
die Anreizfunktion, die darin besteht, d a ß Personen durch Entgelt dazu motiviert werden können, in F o r m von Arbeit einen bestimmten Beitrag zu leisten; - die A n e r k e n n u n g s f u n k t i o n , die darin besteht, daß Personen durch die H ö h e des Entgelts in ihrer Arbeitsleistung erkannt und anerkannt werden; - die Signalisierungsfunktion, die darin besteht, d a ß durch die Einstufung in eine bestimmte Bezahlungsklasse (z.B. Tarifgruppe) ein bestimmter Status bzw. Prestige signalisiert werden kann; - die Stratifizierungsfunktion, die darin besteht, daß über die Bezahlung zu einem wesentlichen Teil die Soziallage (Berufsstellung, Lebensstandard usw.) mitbestimmt wird; - die Gerechtigkeitsfunktion, die darin besteht, d a ß Menschen ihre Leistungen und Ergebnisse mit den Leistungen und Ergebnissen anderer vergleichen und damit zu einer Beurteilung der Angemessenheit kommen k ö n n e n ; - die Kontrollfunktion, die darin besteht, d a ß über die Entlohnung eine Disziplinierung in der normgerechten Erbringung von Arbeitsleistungen erfolgt. Allerdings ist darauf aufmerksam zu machen, daß die hier herausgestellten Funktionen durch den Faktor Bezahlung nur in sehr begrenzter Weise wahrgen o m m e n werden können (vgl. hierzu und zu folgendem: K U T S C H / W I S W E D E 1986, S. 40). So ist z.B. die Kontrollfunktion der Bezahlung dann gelockert, wenn diese weitgehend unabhängig von Leistungsergebnissen und in abgesicherter Form in Erscheinung tritt (z.B. im öffentlichen Dienst). Andererseits werden Leistungsergebnisse jenseits der Bezahlung auch dadurch gesichert, d a ß strukturelle Zwänge auftreten, die dem Einzelnen ein bestimmtes Leistungsverhalten (z.B. die Einhaltung des Takts) aufzwingen. Schließlich gibt es — wie wir seit den Hawthorn e - E x p e r i m e n t e n genauer wissen - das P h ä n o m e n des G r u p p e n d r u c k s und der Gruppensolidarität: d.h. es existieren Leistungsnormen, die durch die G r u p p e definiert werden und die zu durchbrechen für den Einzelnen nicht ratsam ist. In der betriebswirtschaftlichen, industriesoziologischen und organisationssoziologischen Literatur ist viel über die Wirkung verschiedener Lohnsysteme in bezug auf die individuelle Leistungserstellung geschrieben worden (vgl. statt vieler: L U T Z 1975). Dabei gilt, d a ß Lohnanreize nur noch in abgeschwächter Form die Leistung beeinflussen. D a f ü r sprechen die fortschreitende Rationalisierung und Mechanisierung von Abläufen, die z u n e h m e n d e Komplexität von Arbeitsstrukturen, sowie die begrenzte Zurechenbarkeit von Leistungsergebnissen. Diese strukturellen „ B r e c h u n g e n " von Leistung wirken wie „constraints", und mit Recht wird häufig geklagt, d a ß Individuen mit hoher Leistungsfähigkeit und hoher Leistungswilligkeit hier schnell an strukturelle G r e n z e n geraten, so d a ß individuelle Anstrengungsbereitschaft verpufft. Für L U H M A N N (1963) ist Leistungsmotivation dann folgerichtig nur eine marginale G r ö ß e , die im Extremfall — bei einer totalen Durchstrukturierung und Formalisierung von A b l ä u f e n - überflüssig oder gar störend ist. L U H M A N N s Behandlung des Menschen als einer Restgröße ist freilich das Resultat seiner Hy-
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Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
postasierung der Organisation, deren Eigengesetzlichkeiten der individuellen Gestaltung keine Möglichkeitsspielräume mehr eröffnen. Demgegenüber scheint uns die Frage lebenspraktischer, wie verhindert werden kann, daß angesichts verfestigter bürokratischer Strukturen die Anstrengungsbereitschaft der Beteiligten wachgehalten werden kann und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Leistungen zur Entfaltung zu bringen und sie nicht im Dickicht struktureller Zwänge zu ersticken. Das Leistungsprinzip droht also an verschiedenen Stellen durchlöchert zu werden. Die bisher entwickelten Systeme der Arbeits- und Leistungsbewertung stehen daher vor den bereits erwähnten Wertungsproblemen, zumal dererlei Fragen wohl kaum auch von lohnpolitischen Erwägungen, ideologischen Hintergründen und den besonderen situativen Bedingungen der Lage auf dem Arbeitsmarkt freizuhalten sind. Hierbei ist wieder besonders zu bedenken, daß die Tatsache, welche Aktivitäten in unserer Gesellschaft überhaupt als Leistung verstanden, nachgefragt und honoriert werden, Ergebnis gesellschaftlicher Wertungsprozesse ist, die ihrerseits bestimmte Herrschaftsstrukturen widerspiegeln (vgl. H A R T F I E L 1977; O F F E 1970; B O L T E 1979). Was bedeutet dies nun für die modellhaft vorausgesetzte Äquivalenz von Lohn und Leistung? B A L D A M U S (1960), L U T Z (1975) und OFFE (1970) stellen den behaupteten Funktionszusammenhang von Leistungsinitiative, Leistungsnorm, wirtschaftlicher Produktivität und sozialen Privilegien in Frage, indem sie entscheidende Verteilungsfehler aufzuweisen versuchen. Unter den Aspekten einer „Krise des Leistungslohns" und von „Grenzen des Lohnanreizes" stellen sie heraus, daß der Beziehung zwischen Lohn und Leistung aufgrund des Zurechenproblems zahlreicher sozialer Brechungen - zumal in pluralistischen Gesellschaften — kein logischer Zusammenhang innewohnt, daß sie von der technologisch-ökonomischen Verknüpfung immer mehr abreißt und vorwiegend historisch-normativen Gesichtspunkten weicht, in denen jedoch Fragen der Machtverteilung weiterhin bestimmend bleiben. Außerdem seien administrative Regulierungen und Verteilungen mittlerweise so weit in diesen Zusammenhang eingedrungen, daß die postulierte Äquivalenz von Leistung und Entgelt immer mehr aufgelöst würde. Auch hier brauchen wir allerdings nicht so weit zu gehen, das Leistungsprinzip als Schimäre, als Potemkinsches Dorf oder - wie es O F F E ausdrückt: — als erstarrtes Ideologem anzusehen. Sicherlich gibt es zahlreiche Überlagerungstendenzen, die eine „Durchlöcherung" des Leistungsprinzips durch „sachfremde" Faktoren bewirken, seien diese nun im ideologisch-politischen Raum oder aber im strukturell-organisationalen Bereich zu verorten. Die soziologische Analyse dieser Gegebenheiten muß vielmehr darauf gerichtet sein, den Schleier der Ideologie abzulegen und die angeblichen Sachzwänge organisationaler Strukturen zu hinterfragen, so daß Leistungsbeurteilung und leistungsgerechte Belohnung zumindest in Ansätzen und bestimmten Bereichen wieder möglich wird. Anders ausgedrückt: Zur Einlösung des Leistungsprinzips ist es notwendig, den Nachweis zu erbringen, an welcher Stelle die „Fäden" zwischen Leistung und leistungsgerechter Entlohnung gerissen sind und wie sie künftig wieder geknüpft werden können.
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1.3 Funktionale und dysfunktionale Leistung Bei Leistungen und Leistungsergebnissen besteht nicht nur das Problem der Bewertung und Beurteilung sowie der Zurechenbarkeit. Es ist vielmehr auch die Bezugseinheit von Bedeutung. Für ein Individuum ist ein Verhalten effizient, wenn die Ergebnisse per Saldo belohnend, wenn die individuellen Leistungsergebnisse positiv sind. Dieses „egoistische" Leistungsinteresse kann den Interessen anderer zuwiderlaufen, auch wenn A d a m S M I T H mit seiner Vorstellung von der unsichtbaren H a n d glaubt, d a ß jeder bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen — ohne es zu wollen - auch den Interessen anderer dient. Denn, so argumentiert er, um eigenen Profit zu erlangen, m u ß er nolens volens Leistungen für a n d e r e erbringen. Diese Vorstellung der unsichtbaren H a n d gilt jedoch nur tendenziell, wenn nämlich Leistungen offen auf d e m Markt gehandelt werden können, der Markt selbst intakt (funktionsfähig, transparent usw.) ist, keine Asymmetrien bei Austauschbeziehungen auftreten (vgl. W I S W E D E 1985). G e r a d e im R a h m e n betrieblicher A r b e i t werden gewisse Widersprüche deutlich: Die Leistungen der Organisationsmitglieder sind in unterschiedlichem Maße Beiträge zur Erreichung von Organisationszielen. Ein Individuum mag z.B. besonders leistungsfähig darin sein, betriebliche Grabenkriege zu unterstützen, den Vorgesetzten auszuspielen, Intrigen zu schüren - Leistungsergebnisse also, die für das System „ P e r s o n " f u n k tional, f ü r das System „Organisation" dagegen höchst dysfunktional sind. Leistung in Organisationen ist auch stets auf das Bezugssystem organisationaler Ziele bezogen, und dieses Bezugssystem kann diffus oder widersprüchlich sein. Schon die Zielvorstellungen der Eigentümer und des M a n a g e m e n t s mögen auseinanderklaffen. Auch beobachtet man immer wieder, d a ß in einzelnen Segmenten des U n t e r n e h m e n s (z.B. Abteilungen) différentielle Ziele verfolgt werden: So sieht etwa die Finanzabteilung ein Liquiditätsziel, die Verkaufsabteilung ein U m satzziel, die Entwicklungsabteilung ein optimales Produktdesign, die Fertigung bestimmte Produktionsziele. A u c h hier ist die Kompatibilität der Ziele nicht immer gewährleistet, und Leistungen unterliegen d a h e r unterschiedlichen Bezugssystemen, die widersprüchlich sind. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist auch von Bedeutung, daß tatsächliche Leistung und w a h r g e n o m m e n e Leistung auseinanderklaffen können. U n t e r MarketingPerspektive ist sicherlich richtig, d a ß Leistung auch „ v e r k a u f t " werden m u ß — wie oft sieht man, d a ß die eigentlichen Leistungsträger im Hintergrund bleiben, während sich „ B l e n d e r " , die sich gut „ v e r k a u f e n " können, in den Vordergrund spielen — doch f ü h r t auch dies tendenziell zur Dysfunktionalität, indem „Marketingleistungen" unangemessen hoch honoriert werden. G e h e n wir über die E b e n e von Arbeit und Organisation hinaus, so wird das Leistungsprinzip im volkswirtschaftlichen Kontext häufig am Effizienzkriterium „ E r höhung des Bruttosozialprodukts" festgemacht. A b e r weder das Leistungsverhalten der Individuen, noch das Verhalten anderer Subeinheiten (z.B. wirtschaftlicher Organisationen) sind automatisch eufunktionale Beiträge hierzu. Rentabilität eines Betriebes bedeutet noch nicht Produktivität im Sinne des volkswirtschaftlichen Ganzen. Ein Betrieb mag vor Gesundheit strotzen, prächtige Gewinne abwerfen — also betrieblichen Leistungsvorgaben vollauf genügen — und doch kann er in seinem Verhalten wichtige gesamtökonomische Ziele (z.B. Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand f ü r alle) verfehlen.
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Teil V: Wirtschaft und Wertesystem
Aber auch die Bezugseinheit „Volkswirtschaft" dürfte zu kurz greifen, wenn es um die Gesellschaft als Ganzes geht. Bedenken wir, daß auch der Veranstaltungskomplex „Wirtschaft" ein Subsystem der Gesellschaft ist. Ökonomisch wünschbare und effiziente Ergebnisse mögen wichtige nicht-ökonomische Zielsetzungen (z.B. Schutz von Minoritäten, Wahrung des Gemeinwohls, Entfaltung des Kulturlebens) ausblenden und den „eisigen Wind des Wettbewerbs" auch dort zur Anwendung bringen, wo er nach gesellschaftspolitischen Vorstellungen unangemessen und destruktiv wirkt. Daraus folgt, daß Leistungen und Leistungsergebnisse je nach Bezugssystem funktional oder dysfunktional sein können. Betrachtet man als Bezugsfeld die Gesamtgesellschaft, so muß auch hier auffallen, daß die Bewertungsmaßstäbe zur Bemessung positiver oder negativer Funktionalität in pluralistischen Systemen unterschiedlich sind und daß sie sich auch im Zeitablauf wandeln.
2. Leistungsmotivation im wirtschaftlichen Kontext 2.1 Theorie der Leistungsmotivation Bevor wir unseren Blick wieder auf das Ganze der Gesellschaft richten, wollen wir zunächst die Leistung auf der Verhaltensebene analysieren und versuchen daher, in großen Zügen den gegenwärtigen Stand der Erforschung der Leistungsmotivation nachzuzeichnen. Wie sich zeigen wird, sind die hier erarbeiteten Modelle von höchster Bedeutsamkeit für das Verständnis jener historischen Prozesse, die die moderne Leistungsgesellschaft ausgeformt hat. Sie sind auch die Basis weiterer Überlegungen, in welcher Weise und bis zu welchem Grad différentielle Leistungsmotivation auch unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen für das Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge relevant ist. Leistungsmotivation wird im Sinne der hier zu skizzierenden Theorie als relative Verhaltensdisposition angesehen, nach Erfolg zu streben. Dabei wird angenommen, daß diese Anstrengungsbereitschaft bei verschiedenen Personen unterschiedlich ausgeprägt ist, was möglicherweise auf ererbte Grundstrukturen, wahrscheinlicher jedoch auf eine différentielle Intensivierung der Leistungsmotivation im Sozialisationsprozeß zurückzuführen ist (McCLELLAND 1961). Kritisch ist anzumerken, daß die Aktivierung des Leistungsmotivs wohl nur situationsspezifisch auftritt; vom lerntheoretischen Standpunkt aus ist es nämlich höchst unwahrscheinlich, daß eine leistungsmotivierte Person in allen geeigneten Situationen nach Wettbewerb und hoher Leistung strebt (vgl. ARGYLE 1967; WISWEDE 1980). Deshalb kann die Theorie der Leistungsmotivation nur dann auf wirtschaftlichen Erfolg (Arbeitserfolg, Arbeitsproduktivität) angewendet werden, wenn der betreffende Anreiz bzw. die Zielvorgabe entsprechend spezifiziert wird. Die Theorie der Leistungsmotivation (vgl. insbesondere McCLELLAND/LIBERMAN 1949; ATKINSON/FEATHER 1966; ATKINSON/REYNOR 1974) geht zunächst davon aus, daß das Leistungsmotiv aus zwei Komponenten zusammengesetzt ist: dem Motiv der Erfolgssuche (M E ) und dem Motiv der Mißerfolgsmeidung (M m ). Die Tendenz zur Leistung ergibt sich als Differenz zwi-
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sehen M E und M m , wobei die Motivwerte mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs sowie mit den Anreizwerten des Erfolgs multipliziert werden: T, = ( M e
x PE x A E ) - (Mm x PM x A M )
wobei T l die Tendenz zur Leistung ist, M E das Motiv der Erfolgssuche, P E die subjektive Wahrscheinlichkeit des Erfolgs, A E der positive Anreiz des Erfolgs bei gegebenem Ziel, M m das Motiv der Mißerfolgsmeidung, PM die subjektive Wahrscheinlichkeit des Mißerfolgs und A M der negative Anreiz des Mißerfolgs bei gegebenem Ziel. Die zentrale Aussage des Modells besteht darin, daß Personen mit einer positiven Motivdifferenz (M E > M m ), also Erfolgsmotivierte stärker durch Aufgaben mittleren Schwierigkeitsgrades angezogen werden, während mißerfolgsmeidende bzw. sicherheitsorientierte Personen (M E < M m ) stärker durch Aufgaben mit niedrigem oder mit extremem Schwierigkeitsgrad angezogen werden. Die letztere Gruppe neigt also dazu, auf die Extrembereiche auszuweichen, weil sie bei leichten Aufgaben eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit vermutet, bei sehr schwierigen Aufgaben jedoch ein Versagen nicht der eigenen Unfähigkeit anzulasten braucht. McCLELLAND und ATKINSON sind der Auffassung, daß die jeweilige Ausprägung der Motivkomponenten auf Lernprozesse im Rahmen der frühkindlichen Sozialisation zurückgehen, die möglicherweise ihrerseits auf kulturspezifische oder schichtspezifische Sozialisationspraktiken rückführbar sind. Mit dieser Feststellung neigt man zugleich zu der Auffassung, daß es sich bei der Leistungsmotivation von Individuen um eine weitgehend invariable Größe handelt, die im Arbeitsbereich kaum entscheidend zu beeinflussen sei. Diese Annahme scheint die Fixierungen im Bereich der primären Sozialisation zu überschätzen, auch wenn die Entfaltungsräume für Leistungsmotivation im organisationalen Bereich begrenzt sein mögen. Der wichtigere Anwendungsfall scheint uns jedoch dort zu liegen, wo vorhandene Potentiale an Leistungsmotivation im betrieblichen Alltagsgeschehen verschüttet werden, weil die gestellten Aufgaben zu geringe Anreizwerte besitzen. Bevor wir die Frage nach der praktischen Bedeutung dieses theoretischen Konzepts weiter verfolgen, sollten wir einen Blick auf mögliche motivationale Äquivalente für die Leistungsmotivation werfen. Leistungsmotivation gilt in der Motivationsforschung als Paradefall intrinsischer Motivation (vgl. hierzu DECI 1975; W I S W E D E 1980), also einer Aktivierung des Verhaltens um seiner selbst willen, ohne äußere Anreize: der Leistungserfolg selbst ist auch Anreiz genug. Leistungsergebnisse werden in der Regel jedoch auch durch extrinsische Belohnung erreicht: durch Lohn und Gehalt, durch Prämien, durch Lob und Anerkennung, durch Karriereversprechen usw. Das Zusammenspiel von extrinsischer und intrinsischer Motivation ist dabei außerordentlich komplex (vgl. DECI 1975), jedoch gilt sicherlich, das extrinsische Belohnungen auf längere Sicht dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens unterliegen - Belohnungen nutzen sich ab — und daß eine starke intrinsische Motivation solche Sättigungseffekte kaum kennt, sondern durch ständige Erweiterung des Anspruchsniveaus stabiler, dynamischer und generalisierbarer ist. Es ist allerdings wichtig zu sehen, daß Leistungen auch extrinsisch bewirkt werden können und im Falle niedriger Anreizwerte für Aufgaben auch bewirkt werden müssen. Hierbei mögen sowohl Belohnungen (z.B. Gratifikationen, Aner-
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kennung) wie auch Bestrafung (z.B. Androhung der Kündigung, Tadel bei Nichtbewältigung von Aufgaben) motivierend wirken, jedoch sind bei bestrafungsorientierten Motivationsstrategien zusätzliche Kontrollkosten einzubeziehen (Brechung von Widerständen, Verhinderung von Vermeidungstechniken usw.).
2.2 Leistung und Attribution Eine wesentliche Weiterentwicklung der Theorie der Leistungsmotivation ist durch Anwendung der Attributionsforschung auf das Leistungsverhalten möglich gewesen (vgl. hierzu WEINER 1973; HECKHAUSEN 1974). In der ursprünglichen Theorie bleibt unklar, welche Ursachen eine Person dem Erfolg/Mißerfolg beimißt. Im veränderten Konzept wird nunmehr die Frage aufgeworfen, ob ein Individuum seinen Erfolg als durch eigene Fähigkeit und Begabung verurscht ansieht oder ob er ihn dem Zufall oder besonderen unglücklichen Umständen zuschreibt. Wichtig ist hierbei, daß es um subjektive Zurechnung geht, nicht um objektive Zurechenbarkeit, obgleich die subjektive Einschätzung bis zu einem gewissen Grade auf objektive Kausalität zurückgeführt werden kann. Entscheidend ist allein die Frage, inwieweit Ego (oder Alter) bestimmte Leistungsergebnisse der Person zuschreibt (Begabung und/oder Anstrengung) oder aber bestimmten Umständen (z.B. der Aufgabenschwierigkeit, den schlechten situativen Bedingungen, den strukturellen Hemmnissen, bloßem „Glück"). Die Fähigkeit, sich selbst als den Verursacher eines Handlungsergebnisses zu sehen, ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Leistungsmotivation. Erfolgsmotivierte Individuen werden in aller Regel erfolgreiche Resultate auf sich selbst als Verursacher zurückführen, während mißerfolgsmeidende Personen dazu tendieren, ein erfolgreiches Ergebnis lediglich dem Zufall oder einer besonderen Fügung zuzuschreiben. Zusätzlich gilt, daß erfolgssuchende Individuen einen etwaigen Mißerfolg nicht etwa mangelnder Begabung oder Fähigkeit zuschreiben, sondern mangelnder Anstrengung, die künftig forciert wird. Bei wiederholtem Mißerfolg werden leistungsmotivierte Individuen dazu neigen, das individuelle Anspruchsniveau zu senken oder den Umständen entgegenzuwirken, die den Leistungserfolg verhindern. Attributionsmechanismen lassen sich im übrigen auch auf den gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich übertragen. So ist es beispielsweise für eine Gesellschaft höchst bedeutsam, ob Deprivierte ihren Mißerfolg sich selbst anlasten oder aber den gesellschaftlichen Umständen (z.B. dem „System"). MIZRUCHI (1964) vermutet in diesem Sinne, daß die Stabilität der amerikanischen Gesellschaft teilweise darauf zurückzuführen sei, daß infolge stark verinnerlichter Leistungsideologien die betroffenen Individuen dazu neigen, Mißerfolg als persönliches Versagen zu interpretieren. Insofern komme es nicht zu einem disruptiven Potential, und das „System" bleibe im Sinne des „american dream" weiterhin glaubwürdig und unangetastet: „Jeder ist seines Glückes Schmied!"
2. Kapitel: Leistungsprinzip und Leistungsmotivation
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2.3 Förderung der Leistungsmotivation Die wichtigste Konsequenz des vorgestellten Konzeptes zur Leistungsmotivation wäre zunächst darin zu sehen, solche Sozialisationstechniken zu entwickeln, die die Entwicklung des Leistungsmotivs begünstigen. Dies erfolgt immer unter der Voraussetzung, d a ß „Leistung" als wünschbares Sozialisationsergebnis angesehen wird. Auch bleibt bei der A n w e n d u n g des Konzepts zunächst noch relativ offen, auf welche Zielbereiche oder Aufgabeninhalte sich das Leistungsprinzip genau beziehen soll. Für den organisationalen Bereich bestünde eine wichtige Aufgabe bereits im Vorfeld der Selektion: nämlich die T r e n n u n g solcher Personengruppen, die erfolgsmotiviert sind und anderer, die eher zu mißerfolgsmeidenden Aktivitäten neigen. Beiden Personenkreisen wären d a n n unterschiedliche Aufgabeninhalte zuzuweisen. Die trennscharfe Aufteilung ist sicherlich kein einfaches U n t e r f a n gen, zumal die jeweiligen Orientierungen aufgabenspezifisch sein d ü r f t e n . Als Leitlinie eines solchen ersten Selektionsprozesses mag die Vorstellung gelten, daß mißerfolgsmeidende Personen vorwiegend im administrativen Bereich sowie bei Aufgabeninhalten mit hohem Routinisierungsgrad sowie „akribischem Perfektionismus" einzusetzen wären. Bei erfolgsmotivierten Personen besteht das Problem, diese mit Aufgabeninhalten von mittlerem (Miß-)-Erfolgsrisiko zu betrauen, denn aus der Theorie der Leistungsmotivation geht hervor, d a ß für diese Personengruppe A u f g a b e n von mittlerem Schwierigkeitsgrad — das Risiko des Scheiterns ist 50 : 50 — den höchsten Anreizwert haben. In der Praxis d ü r f t e es sich jedoch als äußerst schwierig erweisen, dieses Prinzip der optimalen H e r a u s f o r d e r u n g durch mittlere Schwierigkeitsgrade aufrechtzuerhalten. Denn komplexe Aufgaben mit hohen und mittleren Schwierigkeitsgraden sind überwiegend auf den oberen M a n a g e m e n t - E b e n e n zu finden, während im mittleren und unteren Bereich der Herausforderungscharakter der Arbeit niedrig bleibt und eher im Sinne einer U n t e r f o r d e r u n g zu sehen ist. A u ß e r d e m unterliegen die meisten Arbeitsaufgaben im Zeitablauf der Routinisierung; auch dürften sich die E r f a h r u n g e n sowie die Problemlösungskapazität im Laufe der Zeit kumulieren, so daß die Erfolgswahrscheinlichkeit zunimmt, die Attraktivität des Aufgabeninhalts im gleichen M a ß e jedoch abnimmt. Die Frage nach d e m optimalen Punkt der Leistungsstimulierung klingt auch in V O N T O B E L s (1970) Theorie der optimalen H e r a u s f o r d e r u n g an. D e n G r u n d gedanken des A T K I N S O N - M o d e l l s , wonach die höchste Aktivierung leistungsb e t o n t e r Individuen bei einer Erfolgschance von 50 : 50 gegeben ist, verbindet V O N T O B E L mit T O Y N B E E s These vom richtigen A u s m a ß des „challenge" durch die Umwelt als Grundbedingung d e r Entfaltung von Hochkulturen. Bekanntlich sieht T O Y N B E E sehr widrige U m s t ä n d e (z.B. arktische Bedingungen) als e b e n s o leistungshemmend an wie paradiesische Bedingungen (z.B. das Dasein auf einer Südseeinsel ohne Versorgungsprobleme). Diese Perspektive wirft auch ein Licht auf den U m s t a n d , warum die Leistungsmotivation mit z u n e h m e n d e r Prosperität in Wohlstandsgesellschaften nachzulassen beginnt. A u c h die attributionstheoretische Erweiterung der LeistungsmotivationsTheorie hat wichtige Implikationen f ü r die Wirkung von Erfolgszuversicht. W e n n nämlich Individuen im Falle eines Mißerfolgs sich selbst als den Verursacher sehen - insbesondere aufgrund mangelnder Begabung oder Fähigkeit — dann wer-
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den sie dazu neigen, leistungsthematischen A n f o r d e r u n g e n aus dem Wege zu gehen. Ähnliches gilt für die Erwartungswerte P E und PM- W e n n Personen den Eindruck haben, d a ß es höchst ungewiß ist, durch schulische Anstrengungen und Leistungen zu späterem beruflichen Erfolg zu kommen, so ist der perzipierte Z u s a m menhang zwischen Anstrengung und Ergebnis durch ungewisse Z u k u n f t s e r w a r tungen gestört. Wird jedoch die Möglichkeit eröffnet, sich selbst als ursächlich für den a u f t r e tenden oder erwarteten Erfolg anzusehen, und besteht für die handelnden Personen die Chance, bei Mißerfolg die Anstrengungen zu erhöhen, so führt dies zu einer Aktivierung der Leistungsmotivation sowie zur Ausformulierung realistischer Leistungsmaßstäbe. Wichtig ist auch hier, daß die prinzipielle Möglichkeit der Rückmeldung gegeben ist: der Einzelne m u ß — direkt oder über den Vorgesetzten — die Möglichkeit haben, den Erfolg seiner B e m ü h u n g irgendwo abzulesen. In komplexen Organisationen ist diese Möglichkeit durch Intransparenz, Formalismus und Kommunikationsstörungen häufig verbaut. A u ß e r d e m sind Attributionsfehler aller Art an der Tagesordnung: Manchmal werden die Falschen belohnt, die Richtigen nicht erkannt.
3. Entstehung und Wandel der Leistungsgesellschaft 3.1 Ursprünge der Leistungsgesellschaft Eine Kultur, in der beständig Belohnungen für erfolgreiches H a n d e l n und abgeschlossene Leistungen, dagegen Tadel o d e r ausbleibende Belohnung für Versagen und nicht abgeschlossene Handlungen bereitstehen, wird in starkem M a ß e Einstellungen und Motivationen fördern, die Leistung an sich als Wert und N o r m ansehen. Historisch gilt, d a ß das Leistungsprinzip durch einen tiefgreifenden Gesinnungswandel im Hinblick auf das Arbeitsethos dominant wurde und d a ß die Ratio des Kapitalismus durch die Wirksamkeit bestimmter Glaubensinhalte, nämlich des calvinischen Puritanismus und des lutherischen Pietismus mitbedingt wurde (M. W E B E R 1967). W ä h r e n d das Wertsystem traditionaler Gesellschaften die f ü r die m o d e r n e Wirtschaft typischen Verhaltensweisen weder toleriert noch gar fördert, ist im Protestantismus, zumal in den extremeren F o r m e n des Calvinismus oder Puritanismus, Arbeit ein „gottgefälliges W e r k " , Leistung und Erfolg Indikator der E r w ä h l u n g auch für die jenseitige Welt, u n d materieller Erfolg ist gewissermaßen die Eintrittskarte in das Paradies. Die Erfüllung innerweltlicher Pflichten wird das legitime Mittel, gottgefällig zu leben, und der materielle Erfolg solchen Handelns ist eben nichts anderes als der göttliche Gunstbeweis (vgl. W I S W E D E / K U T S C H 1978). Natürlich ist der Hinweis auf eine Wertverlagerung im religiösen Bereich allein nicht ausreichend, um die Erklärungslast f ü r die Entstehung m o d e r n e r Leistungsgesellschaften zu tragen. Neben Wandlungen im sozialstrukturellen Bereich — z.B. demokratische Revolutionen, kumulative Innovationen im technischen Bereich,
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A u f l ö s u n g der Ständegesellschaft usw. — sind andere Erklärungen für den generellen Motivationswandel zur Hochschätzung von Arbeit und Leistung angeboten worden: der Statusverlust einiger Elitegruppen mit einer V e r ä n d e r u n g der Persönlichkeitsstruktur durch frühkindliche Sozialisation, blockierte Alternativen für die Erlangung von Prestige, demokratische Ideologien, die die Legitimation askriptiver K o m p o n e n t e n der Statuszuweisung brüchig erscheinen ließen, veränd e r t e Persönlichkeitsauffassungen der Renaissance und der Aufklärung, die schottische Moralphilosophie als Ablösung obrigkeitsstaatlicher B e v o r m u n d u n g im Z u s a m m e n h a n g mit der Ausbreitung des wirtschaftlichen Liberalismus. M c C L E L L A N D (1961; vgl. auch M c C L E L L A N D / W I N T E R 1969) schließt an W E B E R an und argumentiert, daß nicht protestantisch orientierte Verhaltensweisen wirtschaftlichen Erfolg begünstigen, sondern d a ß verschiedene Anfangsbedingungen zu hoher Leistungsmotivation führen können, die ihrerseits leistungsorientiertes Verhalten erzeuge. Die Analyse W E B E R s wird damit auf die im vorigen Abschnitt besprochene Theorie der Leistungsmotivation zurückgef ü h r t , wobei eingeschränkt wird, daß protestantischer G l a u b e nur dann Kapitalismus hervorbringt, wenn er zu bestimmten Erziehungsstilen f ü h r e und wenn diese Sozialisationstechniken zu verstärkter Leistungsmotivation und folglich zu mehr Wirtschaftswachstum veranlassen. Entscheidend sind also die leistungsstimulierenden Erziehungsstile, die jedoch auch anders als durch protestantische W e r t e initiiert worden sein können. Natürlich läßt sich gegen ein solches Konzept einwenden, d a ß die Randbedingungen, die différentielle Erziehungsstile bedingen, nicht weiter spezifiziert werden. Ferner d ü r f t e der Hinweis auf leistungsmotiviertes Verhalten viel zu unspezifisch sein, um in konsequenter Weise die Ausrichtung des leistungsorientierten Verhaltens auf die Entstehung des U n t e r n e h m e r t u m s zu erklären. Leistungen können sich auf höchst unterschiedliche O b j e k t e richten : leistungsorientiert sind nämliche militärische Führer, Priester und Gelehrte meist ebenso wie U n t e r n e h m e r . Das Vorhandensein hoher Leistungsmotivation kann daher bedeuten, d a ß Individuen ein hohes wirtschaftliches Arbeitsethos entwickeln, aber es kann ebenso bedeuten, daß Individuen motiviert sind, besonders hohe B ä u m e zu erklettern. Die Theorie bedarf also hier des Nachweises zusätzlicher Bedingungen, damit sich die Leistungsmotivation auf die Realisierung ökonomischer Ziele richtet. Eine Theorie der besonderen Entstehungsbedingungen der Leistungsgesellschaft vom Typ „Frühkapitalismus" hat möglicherweise lediglich historische Bedeutung, denn es läßt sich zeigen, daß m o d e r n e Leistungsgesellschaften auch ohne puritanisches Ethos, ohne „religiösen S c h u b " entstehen können. Ein solches motivationales Äquivalent mag z.B. der Nationalismus sein, auch z.B. die Anreizwirkung von Modellen (etwa Nachbarländer, die im Wohlstand leben). A u c h zeigt das Beispiel Japan deutlich, d a ß différentielle Wege zur Leistungsgesellschaft führen k ö n n e n ; dort scheint die Leistungsstimulierung am ehesten durch Konformitätsdruck im R a h m e n bestimmter G r u p p e n ( „ C l a n - G e i s t " ) ermöglicht worden zu sein, freilich auch hier durch eine gesellschaftliche Zielverlagerung: hin zu wirtschaftlichen Erfolgszielen, basierend jedoch auf traditionellen Strukturen. In Indien etwa scheinen die traditionellen Strukturen diesen Verlagerungsprozeß zu h e m m e n ; eine gesellschaftliche „ U m d e f i n i t i o n " bzw. „ U m f u n k tionalisierung" von Kasten oder Subkasten in „ P r o d u k t i o n s e i n h e i t e n " ist erst in Ansätzen in Sicht.
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Ein allgemeineres Konzept zur Erklärung der Ursprünge von Leistungsgesellschaften stammt von K U N K E L ( 1 9 7 0 ) . Grundannahme der von ihm ausgewählten lerntheoretischen Vorstellungen ist, daß die meisten Verhaltensweisen durch „differentielle Verstärkung" gelernt werden, wobei die im Rahmen einer Gruppe oder Gesellschaft „erwünschten" Verhaltensweisen belohnt, andere dagegen nicht belohnt und wiederum andere bestraft werden. Dabei sind die Elemente des sozialen Kontextes danach zu unterscheiden, ob sie — als diskriminative Stimuli — die auftretende Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens verstärken oder o b dies nicht der Fall ist. Im Einklang mit den Vorstellungen der behavioristischen Lerntheorie schließt K U N K E L , daß wirtschaftliche Entwicklung durch systematische Ä n d e rung der Faktoren, die zum Erhalt oder Abbau von Verhaltensmustern beitragen, begünstigt oder beschleunigt wird. Das hier gewählte Verhaltensmodell führt somit zu dem Schluß, daß, wenn Verhalten zu ändern ist, Änderungen zuerst bei den Verhaltenskonsequenzen auftreten müssen. Allein solche Aspekte sozialen K o n textes sind hierbei relevant, die diese Komponenten des Lernprozesses beeinflussen. Dabei zeigt K U N K E L , daß eine Reihe verhaltensorientierter Ansätze zur E n t wicklungsproblematik ohne Schwierigkeiten als allgemeineren lerntheoretischen Konzepten abgeleitet werden können. So würde eine Innovation dann akzeptiert und beibehalten, wenn sie in der Folge verstärkende Konsequenzen hat. Wenn man etwa in einem sozialen System Innovationen einführen will, so könnte man zunächst Belohnungen für innovative Aktivitäten an die Führer oder Eliten verteilen, die wiederum ein Belohnungspotential besitzen, mit dem sie innovatives Verhalten der anderen Mitglieder des sozialen Systems belohnen. Oder, um an M c C L E L L A N D anzuknüpfen: das Leistungsverhaltens-Syndrom werde insbesondere durch die Änderung möglicher oder vermuteter Handlungskonsequenzen stimuliert, die leistungsorientierten Verhaltensweisen zugeordnet sind. W e r den Bemühungen um Erfolg und Auszeichnung im Rahmen des Sozialisationsprozesses nie verstärkt, so können sich keine diskriminierenden Stimuli für „ L e i stungsverhalten" bilden. Ähnlich wird — wie es K U N K E L ausdrückt — beispielsweise manuelle Arbeit von niemandem geschätzt, wenn sie von aversiven Stimuli begleitet ist, z.B. von Spott, und wenn die Erfahrung zeigt, daß Personen, die schwer arbeiten, die Früchte ihrer Arbeit weitgehend verloren haben. Manuelle Arbeit werde allerdings häufiger auftreten, wenn die Bedingungen geändert werden, unter denen Arbeit stattfindet. Ähnlich könnte man für unsere Gesellschaft aussagen, daß Personen dazu tendieren, arbeitslos zu bleiben, wenn sich für sie herausstellt, daß A r beitslosigkeit plus Schwarzarbeit belohnendere Konsequenzen hat als die Ü b e r nahme einer normalen Arbeit. Wenn also bloße „Cleverness" auf die Dauer belohnendere Ergebnisse einbringt als „funktionale Leistung", dann wird das L e i stungsprinzip in unserer Gesellschaft gerade dadurch durchlöchert, daß Menschen besonders leistungsfähig darin werden, das Leistungsprinzip zu umgehen und dennoch in den Genuß von Gratifikationen zu gelangen. Die Theorie K U N K E L s ist sicherlich in mancher Hinsicht ergänzungsbedürftig. V o r allem müßte auf die Bedingungen hingewiesen werden, unter denen sich das Leistungsverhalten verinnerlicht, unter denen es sich also selbst verstärkt. Auch wäre durch Einbeziehung zusätzlicher sozialer Variablen (z.B. soziale M o delle, soziale Vergleichsprozesse usw.) sicherlich eine Weiterentwicklung dieses
2. Kapitel: Leistungsprinzip und Leistungsmotivation
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Ansatzes möglich. Jedenfalls zeigt diese Theorie, daß es sinnvoll sein kann, das Konzept der Leistungsmotivation in den größeren Rahmen lerntheoretischer Forschung zu stellen und von hier aus nicht nur das Verhalten von Individuen, sondern auch die Entwicklung ganzer Gesellschaften vorauszusagen.
3.2 Leistung als Ideologie Wenn wir dem Leistungsprinzip zum Durchbruch verhelfen wollen, den Verfall der Leistungsmotivation beklagen oder die Leistungseffizienz in Organisationen zu erhöhen trachten, dann übernehmen wir explizit oder implizit einen Wertmaßstab, in dem Leistung als Wert und Norm gegenüber anderen Verhaltensmustern präferiert wird. Als Ökonom - gleichgültig ob Volkswirt oder Betriebswirt — wird man sich eine solche Sichtweise sehr wohl zu eigen machen, denn die ökonomische Wissenschaft hat es schon aufgrund ihrer Effizienzkriterien mit Fragen von Aufwand und Ertrag, mit Optimierung und Maximierung zu tun, mit Leistungsaspekten also. Für die übrigen Sozialwissenschaften gilt dies nicht ganz ohne Einschränkungen. So weisen z.B. Soziologen auf Konsequenzen hin, die die Verfolgung von Leistungsidealen mit sich bringt, und die aus übergeordneter Sicht keineswegs immer positiv zu beurteilen sind (vgl. BOLTE 1979, S. 33f., dereine Bilanzierung positiver und negativer Funktionen des Leistungsprinzips versucht). In ähnlicher Weise machen Psychologen darauf aufmerksam, daß die betonte Forcierung des Leistungsverhaltens eine ganze Reihe von Problemen ausblende; daher sei es angezeigt, theoretische Fragestellungen und empirische Forschungen auch jenseits des Effizienzkriteriums anzusiedeln, wo es beispielsweise um eine Erhöhung der Arbeitszufriedenheit oder um die schöpferische Entfaltung der Persönlichkeit gehe. Die Dominanz des Leistungsprinzips hat in sozialkritischer Sicht insbesondere die Frage aufgeworfen, ob unsere Leistungsgesellschaft nicht ungemäße oder inhumane Strukturen und Verhaltensweisen fördere. Man hat erstens daraufhingewiesen, daß das Vordringen des Leistungsprinzips dazu führe, sämtliche Verhaltensweisen - also auch jene, in denen das Leistungsprinzip „ungemäß" erscheint (z.B. Urlaubsreisen, Sexualverhalten usw.) — dem Primat des Leistungsdenkens zu unterwerfen. Zum zweiten: Da Leistung immer auch eine Komponente der Begabung enthalte, die als Mitgift bei Geburt in Erscheinung trete, sei dieses Prinzip eigentlich ungerecht oder inhuman; die Vorstellungen vom Leistungsprinzip als einer gerechten Verteilungsnorm seien daher unbegründet. Zum dritten besteht die Annahme, daß die Betonung des Leistungsprinzips Streßerscheinungen begünstige, die bereits im Vorschulalter Platz greifen und den Menschen später vor starke Belastungssituationen stellen. Der „neurotische Mensch unserer Zeit" (K. HORNEY) sei ein Produkt dieser einseitigen Ausrichtung auf Leistung und Leistungsziele. Hinzu kommt ein Viertes. Wenn Menschen nach Marktgesichtspunkten, d.h. nur nach ihrer marktfähigen Leistung beurteilt werden, bedeutet dies eine erhebliche Reduzierung des Menschen in seiner Vielfalt und in seinen Möglichkeiten. Auch sei die einseitige Ausformung einer „Marktintelligenz" (E. FROMM) zu befürchten, in der selektiv nur noch verwertbares Denken und Wissen gehandelt wird. Dazu kommt ein fünfter Gesichtspunkt: Der sicherlich unter manchen
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Aspekten erwünschte Wettbewerbsgeist und das durch diesen hervorgehobene Konkurrenzdenken mögen erhebliche Friktionsverluste mit sich bringen. Im Extremfall könnte dies zu einer „Ellenbogengesellschaft" und zur Ausgrenzung derer führen, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht bereit oder in der Lage sind, sich den Leistungskriterien zu fügen. Soziale Werte wie Solidarität, Kooperation, Mitmenschlichkeit usw. könnten unter der Vorherrschaft des Leistungsprinzips verlorengehen. Andere Sozialkritiker weisen darauf hin, (z.B. MARCUSE 1971; OFFE 1970), daß übersteigerte Leistungsanforderungen und ihre Ausstrahlung auf den privaten Bereich als inhumane Fesselung menschlicher Existenz jeden emanzipatorischen „Lustgewinn" verhindern und dies zumal als Ausfluß bestimmter Herrschaftsstrukturen, die an der Aufrechterhaltung (Stabilisierung, Förderung) des Leistungsprinzips ein Interesse haben. Das Festhalten an Leistungsprinzipien mitsamt der Zielvorgabe könnte insoweit auch als Instrument der Herrschaftssicherung angesehen werden: Leistungsziele und Leistungsbewertungen sind nicht unabhängig von sozialen Interessenlagen und Machtverhältnissen. In diesem Zusammenhang wäre auch wieder der behauptete Funktionszusammenhang von Leistungsinitiative, Leistungsnorm und daraus abgeleiteten Privilegien zu thematisieren. OFFE (1970) und HARTFIEL (1977) weisen daraufhin, daß die Verteilungsgerechtigkeit gerade aus jenen Motiven verletzt werde, die sich auf die Absicherung der bestehenden Sozialstruktur richten. Allerdings ist in Anknüpfung an unsere Ausführungen über die Durchlöcherung des Leistungsprinzips festzuhalten, daß die Äquivalenz zwischen Leistung und Entschädigung sicher auch aus anderen Gründen verletzt wird und daß die Sicherung von Herrschaftsinteressen hier nur ein Faktor unter vielen möglichen ist, der sich zudem in höchst indirekter Form äußern dürfte.
3.3 Krise der Leistungsgesellschaft Wohl ebenso häufig wie über den (angeblichen?) Leistungsfetischismus wird über den (angeblichen?) Leistungsverfall geklagt. Im Zuge des Verfalls einer postpuritanischen Arbeitsethik, wie sie BRAVERMAN, YANKELOVICH und INGLEH A R T für die „nachindustrielle Gesellschaft" postulieren, sind allerdings Tendenzen des Leistungsverfalls unübersehbar, die sich keineswegs immer als bewußte Abwendung vom Leistungsideal (wie seinerzeit in der Hippie-Subkultur oder bei den „Aussteigern"), sondern auch in der fortschreitenden Ausbreitung einer instrumenteilen Arbeitsgesinnung äußern dürfte. Dabei werden verschiedene Gründe für den Leistungsverfall genannt (vgl. BOLTE 1970; WISWEDE 1981): — Verblassende puritanische Werte, die Arbeit als Selbstzweck und als einzige Quelle der Selbstverwirklichung ansah; — Ausbreitung post-materialistischer Gesinnungen, in denen materielle Wohlstandsobjekte unwichtiger werden. Damit: Abnehmender Grenznutzen des Wohlstandes; in greller Formulierung: vom Überfluß zum Überdruß! — Wachsende Konsum- und Freizeitorientierung im Zusammenhang mit der Ausbreitung einer instrumenteilen Arbeitsgesinnung und einer hedonistischen Konsumhaltung;
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— Schwindende Attraktivität von Aufgabeninhalten, so d a ß die intrinsische Motivation immer unwahrscheinlicher wird. — Unzulängliches Management, das keine Erfolgserlebnisse vermitteln kann. — Z u n e h m e n d e Bürokratisierung und Formalisierung betrieblicher Strukturen, in denen das Leistungsprinzip „verschüttet" wird. — Weitgehender Protektionismus und fehlende Förderung dynamischer Kräfte; — Geringe Leistungsabhängigkeit von L ö h n e n und Gehältern infolge weitgehender Sozialsicherungssysteme. — Ein Steuersystem (z.B. progressive Besteuerung), das in vielen Fällen keine Anreize zur Leistungserhöhung vermittelt. — Nivellierung der E i n k o m m e n , die f ü r den Einzelnen lange Ausbildungswege nicht attraktiv macht. — Allgemeine wirtschaftliche und gesellschaftliche Verunsicherung durch hohe Arbeitslosigkeit. Viele - bereits die Schüler — sehen hier blockierte Chancen: Leistung lohne sich nicht. — F ö r d e r u n g s m a ß n a h m e n für „ F a u l e " und „Clevere", z.B. falsch kanalisierte Sozialleistungen für arbeitsunwillige Arbeitslose. — Verteilungsfehler, die dem Sozialprinzip anzulasten sind: Hierbei gelingt es vielen Individuen, aus dem Netz sozialer Sicherung und Fürsorge asymmetrische Vorteile zu schlagen. — Generell zu starker Interventionismus des Staates, der den Marktmechanismus eintrübt oder verfälscht. D e r wichtigste A s p e k t dieser Diskussion scheint der des Wertewandels zu sein. Verschiedene empirische Studien (z.B. Allensbach, Generationenvergleich) weisen übereinstimmend aus, d a ß die menschliche Arbeit in ihrem Wertgewicht und ihrem Stellenwert an Bedeutung verloren hat. Dies gilt sicherlich nicht für alle Berufsgruppen; es scheint jedoch selbst f ü r den Managementbereich zu gelten (ein empirisches Indiz hierfür ist der Rückgang der Mobilitätsbereitschaft). D e r Arbeitsbereich gewinnt z u n e h m e n d eine instrumentelle B e d e u t u n g (noch vor wenigen Jahren hat man j e n e instrumenteile Arbeitsgesinnung vornehmlich der Arbeiterschaft unterstellt). Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung des Daseins werden nicht mehr oder zumindest nicht mehr ausschließlich im Arbeits- und Berufsbereich gesehen. Intrinsische Motivation, wie sie durch puritanisches Ethos oder preußische Pflichterfüllung noch in den Nachkriegsjahren eine vorübergehende Renaissance erlebten — das sogenannte Wirtschaftswunder war das Ergebnis — verblassen Zusehens und machen einer distanzierten, g e d ä m p f t engagierten freizeitorientierten Schonhaltung Platz, in der die private Sphäre, der familiale R a u m ein neues Bedeutungsgewicht erlangen. Und vielleicht hängt das Verblassen des Leistungsgedankens auch mit gewandelten Zielvorstellungen zusammen, in denen Wachstum und Erfolg, beruflicher Status und Besitz von Konsumgütern problematische Ziele geworden sind. A u c h das Wort von der post-materialistischen Gesellschaft scheint zu suggerieren, d a ß Wohlstandsgüter als Zielvorstellung für Leistung f ü r den Einzelnen weniger wichtig sind als in der extremen A u f b a u p h a s e nach dem Kriege. A b e r vielleicht haben wir uns an Wohlstandsgüter als Selbstverständlichkeiten unseres Alltagslebens so gewöhnt, die wir - wie alle Selbstverständlichkeiten - nicht mehr schätzen, weil sie eben jederzeit verfügbar sind und die lediglich dann ins Bewußtsein zurückkehren, wenn sie ins Defizit geraten.
Teil YI Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel 1. Die Fragestellung Georg Simmeis Unter den 24 Buchtiteln und den mehr als 200 Zeitschriftartikeln, die Georg Simmel zu seinen Lebzeiten (1858-1918) veröffentlichte, sucht man das Stichwort „Wirtschaftssoziologie" vergebens. Aber das Thema „Geld" hat ihn in den Jahren zwischen 1889 und 1900 lebhaft beschäftigt. In Vorträgen und Aufsätzen untersucht er das Phänomen, ohne das keine moderne Wirtschaft denkbar wäre, bis er endlich im Jahre 1900 ein umfangreiches Buch publiziert mit dem Titel „Philosophie des Geldes". Simmel betrachtet die Wirtschaft darin nicht isoliert als eigenständigen Handlungsbereich des Menschen, sondern sieht sie in einem größeren Zusammenhang. Infolgedessen kann er schon vor dem Beginn seiner Untersuchung von folgender Einsicht ausgehen: Die produzierenden und konsumierenden Personen vollziehen zwar Aktivitäten, die man ganz richtig als wirtschaftlich bezeichnet, doch wie sie das tun, mit welcher inneren Beteiligung, ob begeistert oder gleichgültig, ob mit Hingabe oder innerer Distanz, das entscheidet sich nicht innerhalb der Wirtschaft allein. Jeder Mensch gehört einer Gesellschaft und darin wieder einer besonderen Untergliederung an, jeder repräsentiert eine bestimmte Kultur oder Teilkultur, von der er geprägt ist, die er auch anderen weitergibt. Diese Einbindung des einzelnen in Gesellschaft und Kultur führt mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, daß er von wirtschaftlichem Handeln Vorstellungen hat, die für Menschen anderer Herkunft nicht so selbstverständlich sind wie für ihn. Auch weil Wirtschaft nicht anders sinnvoll zu denken ist denn als ein Handeln zur Versorgung mit solchen Gütern, Rechten und Diensten, die positiv bewertet und darum begehrt werden, ist einleuchtend, wie eng Wirtschaft mit Kultur zusammenhängt: Mit der Einführung in einen bestimmten Typ von Kultur lernt der Mensch zu werten, und je nach seinen Wertungen handelt er im Bereich der Wirtschaft. Dabei kann niemand sein Leben auf wirtschaftliches Handeln beschränken. Die Neigung, das zu tun, müßte wohl als pathologisch bezeichnet werden. Denn die Sinnerfüllung innerhalb des Wirtschaftens gelingt erst von vitalen Interessen aus, die außerhalb der Wirtschaft verankert sind. Wenn daher im Erleben jedes wirtschaftenden Menschen außerwirtschaftliche Motive beteiligt sind, weil der betreffende z.B. den ökonomischen Erfolg erringen will für einen Familienangehörigen, den er liebt, für einen guten Bekannten, dem er imponieren will, oder gar
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f ü r seinen Gott, zu dem er betet, dann liegt es nahe, Wirtschaftssoziologie als Teil einer Soziologie der Kultur zu betreiben. Simmel empfiehlt wegen der Vielfalt der Wirklichkeit eine enge Z u s a m m e n a r beit der einzelnen wissenschaftlichen Fachrichtungen; denn keine von ihnen kann allein alles ausschöpfen, was sich als Fragestellung zur Bearbeitung anbietet. D a r um ist Wissenschaft f ü r ihn nur arbeitsteilig denkbar, jede Fachrichtung kann bestenfalls einen bestimmten Aspekt herausarbeiten, f ü r den sie speziell zuständig ist. D a s gelingt aber nur um den Preis der Vernachlässigung a n d e r e r Aspekte. So entsteht in der wissenschaftlichen Arbeit erst der Gegenstand, der so, wie er uns dargestellt wird, in der Wirklichkeit ursprünglich gar nicht v o r k o m m t . Simmel illustriert das am Beispiel des Naturaltausches: , , . . . so ist, d a ß zwei Menschen ihre P r o d u k t e gegeneinander vertauschen, keineswegs n u r eine nationalökonomische Tatsache; denn eine solche, d.h. eine, deren Inhalt mit ihr e m nationalökonomischen Bilde erschöpft wäre, gibt es ü b e r h a u p t nicht. J e n e r Tausch vielmehr kann ganz e b e n s o legitim als eine psychologische, als eine sittengcschichtliche, ja als eine ästhetische Tatsache behandelt w e r d e n " * (VII).
A u s Simmeis Sicht ist die Behandlung seines Themas, wie sie in der Nationalö k o n o m i e , in unserer heutigen Sprache also der Volkswirtschaftslehre, naheliegen mag, eine Reduktion der Wirklichkeit auf einen engen Ausschnitt daraus. Die Wirklichkeit wird dabei nur an ihrer Oberfläche erfaßt. Simmel hat gar nichts dagegen, das wirtschaftliche Handeln ins Z e n t r u m der A u f m e r k s a m k e i t zu stellen, es also auch in Bereichen, in denen es zunächst verborgen bleibt, gleichsam an die O b e r f l ä c h e zu holen. Nur fordert er eben, man solle von dort aus in die Tiefe der Erscheinungen vordringen. E r bleibt also mit seiner Wirtschaftssoziologie nicht an der Oberfläche, sondern bricht von dort aus zu immer neuen geistigen Expeditionen in alle Bereiche der Kultur und Gesellschaft auf. „ D e r Sinn und Zweck des Ganzen ist nur der: von der O b e r f l ä c h e des wirtschaftlichen G e s c h e h e n s eine Richtlinie in die letzten W e r t e und B e d e u t s a m k e i t e n alles Menschlichen zu z i e h e n " (VII).
D e r methodische Ehrgeiz, hinter die Fassade zu blicken, die Obcrfläche wirtschaftlicher Wechselwirkungen zu durchschauen und die tatsächliche Vielfalt der T h e m a t i k aufzudecken, f ü h r t zu einer Konfrontation mit der Buntheit der einzelnen Aspekte. Wenn Probleme der Kultur, wenn Einflüsse aus Politik und Religion einbezogen werden, wird das Arbeitsfeld bald unüberschaubar. D a r a u s ergibt sich die Frage, wie denn verhindert werden soll, d a ß die Einheit des P h ä n o m e n s Wirtschaft in der Beschäftigung mit ihm verloren geht. Als Quelle der Einheit nennt Simmel die Sinndimension, konkreter: die Ganzheit des Lebenssinns (VIII). Was der Mench als wirklich erlebt, besteht aus einem Sachgehalt und einem Sinngehalt des Erlebten. D i e sachliche Qualität, die zum Beispiel einem Wirtschaftsgut zuerkannt wird, kann als Ergebnis naturwissenschaftlicher Analyse beschrieben werden, sie wohnt diesem G u t selbst inne wie sein Gewicht oder seine F a r b e und hängt nicht davon ab, in welchem kulturellen Kontext es wirksam wird.
* Die wörtlichen Zitate sind d e m Buch e n t n o m m e n : G e o r g Simmel, Philosophie des G e l des, Berlin: D u n c k e r & H u m b l o t 1900. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die 4. Aufig. von 1922, die mit der 2. Aufig. von 1907 übereinstimmt, nicht a b e r mit der 1. Aufig. von 1900.
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Der Sinn dagegen wird dem Gut, wenn es einen hat, erst von außen zugeschrieben, wird ihm gleichsam wie ein Etikett aufgeklebt. Und diesen für Kultur allgemein so wichtigen Vorgang der Verleihung von Sinn untersucht Simmel als Bewertungsvorgang im Kontext wirtschaftlichen Handelns. In der Wirtschaft und speziell am Geld wird demnach ein Prozeß besonders deutlich, dessen Relevanz weit über die Wirtschaft hinausgeht. So wird die Untersuchung der Wirtschaft bei Simmel in der Absicht betrieben, dadurch Erkenntnisse zum Verständnis der Kultur insgesamt zu gewinnen, von der die Wirtschaft nur ein Teil ist. Im Geld und seiner Dynamik verdichtet sich das Drama der Wertung, an dem wir auf der Bühne der Kultur alle als Akteure mitwirken. Darum kann und soll Wirtschaftssoziologie als Kultursoziologie betrieben werden.
2. Wirklichkeit und Wert Das wirtschaftliche Gut wird zu einem Kulturgut dadurch, daß ihm zwei voneinander getrennt denkbare Ebenen zugeschrieben werden: die Ebene des natürlichen Geschehens als Dynamik der körperlichen Realität und die Ebene der Wertungen als Kulturprozeß. Beide sind allerdings unlöslich ineinander verwoben, und die Frage, wie es zu dieser Verbindung von Sache und Sinn kommt, soll zunächst untersucht werden. „Man könnte die Reihen des natürlichen Geschehens mit lückenloser Vollständigkeit beschreiben, ohne daß der Wert der Dinge darin vorkäme - gerade wie die Skala unserer Wertungen ihren Sinn unabhängig davon bewahrt, wie oft und ob überhaupt ihr Inhalt auch in der Wirklichkeit vorkommt" (4).
Wichtig ist bei Simmeis Vorgehen diese gedankliche Trennung des Bereichs der materiellen Wirklichkeit von dem der kulturellen Werte. Objektives kann weitgehend ohne wertende Stellungnahme beschrieben werden, und das wird von einem guten Journalisten erwartet, solange er nicht ausdrücklich kommentiert. Andererseits sind Werte von der dinglichen Realität unabhängig, sie können daher nicht aus den Dingen selbst stammen. Sie sind vielmehr Ergebnisse von Kulturprozessen, sie sind Urteile, die Menschen über Dinge fällen und die sie den von ihnen beurteilten Gütern dann aufdefinieren. „ S o wächst einem Dinge auch dadurch, daß ich es wertvoll nenne, durchaus keine neue Eigenschaft zu; denn wegen der Eigenschaften, die es besitzt, wird es ja gerade erst gewertet: genau sein schon allseitig bestimmtes Sein wird in die Sphäre des Wertes erhoben" (5).
Durch den Vorgang der Wertung werden die in seinen dinglichen Qualitäten vorhandenen Eigenschaften des beurteilten Gegenstandes nicht verändert, sondern er wird nur - so als legte man ein vorher auf dem Tisch liegendes Objekt in einen Schrank — in einen anderen Kontext eingefügt. Solange das nicht geschieht, weil ein potentiell bewertbarer Gegenstand nicht auf ein Subjekt bezogen ist, läßt sich die Beschreibung seiner wertneutralen, rein sachlich dinglichen Bedeutung denken. Wenn aber im Vorfeld des Wertungsvorgangs Objekt und Subjekt zueinander in Beziehung treten, wird die wertende Stellungnahme erforderlich, und durch unvermeidlichen Wertbezug im praktischen Leben geht die neutrale Objektivität verloren. Auf der Skala zwichen höchstem und negativstem Wert sieht Sim-
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mel gleichsam in der Mitte als neutrale Übergangsstufe die Möglichkeit der Gleichgültigkeit, die aber keineswegs jenseits des unvermeidlichen Wertungsprozesses steht; „denn die Gleichgültigkeit ist ein Ablehnen der Wertung, das sehr positiven Wesens sein kann, in ihrem Hintergrund steht immer die Möglichkeit des Interesses, von der nur gerade kein Gebrauch gemacht wird" (5).
Der Mensch kann die Dinge, auf die er im Moment nicht angewiesen ist, ignorieren. Sie sind dann so etwas wie ein Vorrat an Objekten, auf die er sich zwar nicht aktuell beziehen muß, aber er weiß, sie sind da, und eines Tages, zu einer bestimmten Stunde kann sich sein Interesse ihnen zuwenden. Schon das Potential der Zuwendung des Interesses hat die Konsequenz, daß er die Dinge doch indirekt in seinen Handlungskontext einbezieht und sich damit der Antwort auf die Frage nach ihrer Wertung nicht mehr entziehen kann. Die Scheidung zweier Ebenen von Wirklichkeit voneinander, einer Ebene der Objekte von einer Ebene der Subjekte, ist zwar als Gedankenexperiment möglich, als tatsächliche Gegebenheit jedoch undenkbar; denn ohne Subjekte wäre niemand da, der irgend etwas als real erleben könnte, und ohne Objekte hätten die Subjekte nichts, das ihnen als Wirklichkeit begegnen könnte. Wie tatsächlich erst im lebendigen Miteinander von Subjekten und Objekten Realität entstehen kann, so kann auch erst in diesem Miteinander gewertet werden. Simmel unterscheidet zwar Wirklichkeit und Wert als die Ergebnisse verschiedener Prozesse, doch er sieht auch übereinstimmende Voraussetzungen, die beiden zugrundeliegen. Unser Erlebnis von Wirklichkeit beruht auf einer Verkettung von Dingen. Wir behaupten, das eine sei wirklich, weil wir schon wissen, daß das andere wirklich ist und damit in Beziehung steht. Dies ist wieder nur wirklich weil etwas anderes wirklich ist, was wieder damit in Beziehung steht. Simmel sieht so eine sehr lange Kette von Verknüpfungen durch Beziehungen, die hergestellt werden. Damit aber das Ganze als real erlebt werden kann, muß ein letztes Glied irgendwo existieren, das ursprünglich als real erlebt worden ist: Ein Mensch, der niemals das Erlebnis der Realität als vitale Gewißheit gehabt hat, muß die ganze Realität seiner Erlebniswelt in Frage stellen. Genauso wie das Erlebnis von Realität als wirklicher Gegebenheit eine subjektive Leistung ist, die jeder Einzelne erbringen kann, oder die zu erbringen ihm nicht gelingen mag, genauso verhält es sich beim Wert. Er kann etwas nur dadurch als wertvoll erleben, daß er es in Beziehung setzt zu anderen werthaltigen Erlebnissen. Irgendwo kommt er dabei an ein letztes Glied, und daran muß der Mensch im Ursprung gefühlt, also erlebt haben, daß es Werte gibt. Nur weil er dort Wert erlebt hat, kann er anderen Bereichen Wert zuschreiben. „Gibt es erst einmal einen Wert, so sind die Wege seiner Verwirklichung, ist seine Weiterentwicklung verstandesmäßig zu begreifen, denn nun folgt sie - mindestens abschnittsweise — der Struktur der Wirklichkeitsinhalte. Daß es ihn aber gibt, ist ein Urphänomen" (6).
Das Stichwort „Urphänomen" im Text erinnert daran, daß Simmel ein Anhänger der Evolutionstheorie ist. Darwins Einsichten, nach denen die von der Biologie beschriebenen Formen des Lebens im Laufe einer unvorstellbar langen Evolution auseinander hervorgegangen sind, überträgt Simmel auf die Inhalte menschlichen Denkens und die Kultur. So gelangt er im Wege des schrittweise sich in die
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Vergangenheit zurücktastenden D e n k e n s zu der Vorstellung von einer archaischen U r f o r m des Bewußtseins, die dadurch gekennzeichnet war, d a ß Wirklichkeit als objektive Gegebenheit und Wert als subjektiv-kreative Leistung noch eine Einheit bildeten. Eine solche Bewußtseinsverfassung lag evolutionistisch gedacht eben vor der T r e n n u n g von Subjekt und O b j e k t . Der Prozeß dieser T r e n n u n g vollzieht sich auch im L e b e n des Individuums im Ablauf der Sozialisationsphasen: Von d e m Kleinkind unterstellen wir, d a ß es noch nicht die Bewußtheit von einer Aussonderung seiner Individualität aus der Fülle sinnlicher Erfahrungen erworben hat. Simmel verknüpft die Spannungsrelation zwischen Subjekt und Objekt mit der zwischen Wirklichkeit und Wert, oder: dem Gegensatz Sein - Wert wird hinzugefügt der Gegensatz Ding - Subjekt. „In wclchcm empirischen oder transzendentalen Sinne man auch von .Dingen' im Unterschied vom Subjekte sprechen möge, eine Eigenschaft' ihrer ist der Wert in keinem Fall, sondern ein im Subjekt verbleibendes Urteil über sie" (8).
D o c h die Dichotomie zwischen Sein und Wert, zwischen Ding und Subjekt, behagt Simmel nicht: Sitz der Realität sind f ü r ihn die Relationen. In der lebendigen Wechselwirkung zwischen Dingen und Subjekt erst entsteht Wert. „ D i e Scheidung zwischen Subjekt und Objekt ist keine so radikale, wie die durchaus legitimierte Aufteilung ebenso der praktischen wie der wissenschaftlichen Welt über diese Kategorien glauben macht" (8/9).
Die Gegenüberstellung von Subjekt und O b j e k t ist ein gedanklicher Kunstgriff, und das A u f r e g e n d e daran ist für Simmel eben dies: Die Subjekte sind sich dessen nicht bewußt, sie halten das, was sie als Bewußtseinsakt vorgenommen haben für eine Qualität der Objektwelt. Mit dem Wert geht es den Subjekten ebenso: sein Ursprung ist ein Urteil, das sie selbst fällen, doch sie reden sich ein, es handele sich bei dem Wert um eine Eigenschaft dieses oder jenes Dinges. E b e n s o hier: Die T r e n n u n g von Subjekt und Objekt ist für Simmel eine Gedankenleistung, die wir wiedererkennen müssen, als das, was sie ihrem Ursprung nach ist: eine Kreation des menschlichen Bewußtseins. O h n e die Gestaltung von Objekten im Bewußtsein ist es nicht möglich, überhaupt E r f a h r u n g e n zu machen: „Wie Kant einmal sagt: die Möglichkeit der Erfahrung ist die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung - weil Erfahrungen machen heißt: daß unser Bewußtsein die Sinnesempfindungen zu Gegenständen bildet - so ist die Möglichkeit des Begehrens die Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens. Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht - heißt uns ein Wert" (12).
Simmeis erstaunlich kurze Definition von Wert schließt an die These an, die T r e n n u n g von Subjekt und Objekt sei eine Gedankenleistung. Gleichsam ein Nebeneffekt dieser T r e n n u n g ist der Wert. E r f a h r u n g e n machen heißt, die Fähigkeit zur Gestaltung von Sinnesempfindungen zu Gegenständen zu haben. Das Erlebnis eines Wertes ergibt sich aus dem B e m ü h e n des Subjekts, einen Abstand zwischen sich und dem O b j e k t festzustellen und zu überwinden. Damit ist dieses Objekt bewertet. Welchen Wert, welche Bedeutung, welchen Sinn etwas f ü r den Menschen hat, hängt f ü r ihn davon ab, was er damit zu tun gedenkt, welchen Abstand zwischen dem O b j e k t und sich selbst er wie zu überwinden plant. Erst wenn er an der T r e n n u n g zwischen Subjekt und O b j e k t die Distanz als schmerzlich und
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die Neigung zu deren Überwindung als stark erlebt hat, nennt er den Inhalt dieses Erlebnisses „Wert". „So ist es nicht deshalb schwierig, die Dinge zu erlangen, weil sie wertvoll sind, sondern wir nennen diejenigen wertvoll, die unserer Begehrung, sie zu erlangen, Hemmnisse entgegensetzen. Indem dies Begehren sich gleichsam an ihnen bricht oder zur Stauung kommt, erwächst ihnen eine Bedeutsamkeit, zu deren Anerkennung der ungehemmte Wille sich niemals veranlaßt gesehen hätte" (13).
Wie die Objekte nur erfahren werden können, weil das Subjekt die Fähigkeit hat, sie zu gestalten, so können auch Werte nur erfahren, und das heißt bei Simmel immer: erlebt werden, weil das Subjekt seinen Abstand zu dem Objekt wahrnimmt und sich um die Überwindung dieses Abstandes bemüht. Aufgrund der Tatsachen des konkreten Erlebens kommt es für Simmel dazu, daß nach dem Vorbild einer objektiven Wirklichkeit auch ein objektiver Wert vorgestellt, also durch die Leistung des Bewußtseins geschaffen wird. Das Bewußtsein nützt seine Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, dazu, um die — nach Simmel zunächst gegebene — Tatsache zu vertuschen, daß auch Objektivität von Werten nur das Ergebnis subjektiven Erlebens sein kann. Eine solche Wertlehre hat allerdings wichtige Folgen für die soziologische Deutung des Wirtschaftens. „ U n d dies geht hinunter bis zu dem ökonomischen Wertquantum, das wir einem Objekt des Tauschverkehrs zusprechen, auch wenn niemand etwa den entsprechenden Preis zu bewilligen bereit ist, ja, wenn es überhaupt unbegehrt und unverkäuflich bleibt. Auch nach dieser Richtung hin macht sich die fundamentale Fähigkeit des Geistes geltend: sich den Inhalten, die er in sich vorstellt, zugleich gegenüberzustellen, sie vorzustellen, als wären sie von diesem Vorgestelltwerden unabhängig" (14).
Mit dem Übergang der Argumentation zu Werten der Wirtschaft wird eine Auseinandersetzung mit dem quantitativen Aspekt des Wertes notwendig. Es schien zunächst so, als ob die erlebte Distanz zwischen Subjekt und Objekt das Maß des Wertes sein müsse, und als ob die Wertquanten dieser als Hindernis gedachten Entfernung proportional seien. Indem Simmel sich konkreten Erlebnisbereichen annähert, indem er seine Werttheorie auf die Wirtschaft anwendet, modifiziert und verfeinert er dieses Konzept und ersetzt gleichsam das Konzept der Proportionalität durch die Vorstellung von einer Kurve mit U-förmigem Verlauf. „ D i e Distanz zwischen dem Ich und dem Gegenstand seiner Begehrung kann eine so weite werden - sei es durch die sachlichen Schwierigkeiten der Beschaffung, sei es durch exorbitante Höhe des Preises, sei es durch Bedenken sittlicher oder anderer Art, die sich dem Streben nach ihm entgegenstellen - , daß es zu gar keinem realen Willensakt kommt, sondern das Begehren entweder erlischt oder zu einem schattenhaften Wünschen wird. Der Abstand zwischen Subjekt und Objekt, mit dessen Aufwachsen der Wert, mindestens in dem wirtschaftlichen Sinne, entsteht, hat also eine untere und eine obere Grenze, so daß die Formulierung, das Maß des Wertes sei gleich dem Maße des Widerstandes, der sich der Erlangung begehrter Dinge nach Natur-, Produktions- und sozialen Chancen entgegensetze - den Sachverhalt nicht trifft" (20).
Das ist psychologisch unmittelbar plausibel. Es ist zugleich eine Zurückweisung jener Wertlehren, die mechanistisch etwa das Quantum aufgewandter Arbeit zum Maß des Wertes machen. Zur Illustration seiner These vom U-förmigen Verlauf der Kurve, welche die Relation zwischen a) Wert und b) Widerstand gegen seine Erfüllung
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abbildet, weist Simmel daraufhin, das Personen, denen der Zugang zu legalem Erw e r b etwa von Gold praktisch unmöglich gemacht wird, schließlich a u f h ö r e n , es ü b e r h a u p t zu begehren: „So hat ferner in einigen Papierwährungsländern gerade die Seltenheit des Goldes es dahin gebracht, daß das niedere Volk überhaupt nicht mehr Gold nehmen mag, wenn es ihm zufällig geboten wird" (20).
So sehr es Simmel darauf a n k o m m t , seine Werttheorie im subjektiven Erleben zu verankern, er bleibt doch dabei nicht stehen. E r leitet seinen Leser weiter zu der Frage, ob es nicht objektive W e r t e gibt, unabhängig davon, wie es mit der subjektiven A n e r k e n n u n g ihrer jeweils bestellt ist. Simmel meint, ähnlich, wie es f ü r bestimmte Sätze gelte, d a ß wir sie uns als wahr vorstellen und gleichzeitig parallel dazu die Vorstellung produzieren, „daß ihre Wahrheit von diesem Vorgestelltwerden unabhängig ist - so empfinden wir Dingen, Menschen, Ereignissen gegenüber, daß sie nicht nur von uns als wertvoll empfunden werden, sondern wertvoll wären, auch wenn niemand sie schätzte" (13).
Die Bearbeitung der Frage nach d e n Ursprüngen möglicher ü b e r g e o r d n e t e r Werte, die von subjektiver Schätzung unabhängig sein könnten, unternimmt Simmel vor dem Hintergrund seiner Evolutionstheorie. Die Kulturgeschichte der ganzen Menschheit ist gegenwärtig im Fühlen und Erleben des Subjekts. Was in grauer Vorzeit der Menschen funktionale Bedeutung gehabt hat, etwa f ü r die Weitergabe des Lebens und die Erhaltung der Art, mag in der G e g e n w a r t seine funktionale Nützlichkeit entweder tatsächlich verloren haben, oder das Bewußtsein davon mag abhanden g e k o m m e n sein. A b e r gleichwohl erkennt der Mensch nach Simmeis Meinung durchweg solche von der Evolution getragenen Interessen als bedeutsam und objektiv wertvoll an, selbst wenn sie in seiner subjektiven Lebenssituation nicht unmittelbar günstig wirken. Auf der Grundlage des evolutionistischen Ansatzes wird trotz der starken H e r v o r h e b u n g subjektiven Erlebens bei ihm also doch eine subjektunabhängige objektive Wirklichkeit als methodische Möglichkeit aufgezeigt. „Je weiter die Nützlichkeit für die Gattung, die zuerst an den Gegenstand ein Interesse und einen Wert knüpfen ließ, zeitlich zurückliegt und als solche vergessen ist, desto reiner ist die ästhetische Freude an der bloßen Form und Anschauung des Objekts, d.h. desto mehr steht es uns mit eigener Würde gegenüber, desto mehr geben wir ihm eine Bedeutung, die nicht in seinem zufälligen subjektiven Genossenwerden aufgeht, desto mehr macht die Beziehung, in der wir die Dinge nur als Mittel für uns werten, dem Gefühle ihres selbständigen Wertes Platz" (24).
Z u r Illustration zieht Simmel religiöse Z u s a m m e n h ä n g e heran. D a s deistische Weltbild von dem Schöpfergott als U h r m a c h e r , der die Welt zwar konstruiert wie eine U h r , sie in Bewegung setzt, sie d a n n aber ihrem Ticken überläßt und nicht m e h r in sie eingreift, gibt ihm die Möglichkeit, noch einmal zusammenfassend zu zeigen, wie bei ihm aus Theorie von den Prozessen der Bewußtseinsbildung unmittelbar Theorie der Wirklichkeit wird. „Wie man von dem göttlichen Prinzip gesagt hat, daß es, nachdem es die Elemente der Welt mit ihren Kräften versehen habe, zurückgetreten sei und sie dem gegenseitigen Spiele dieser Kräfte überlassen habe, so daß wir nun von einer objektiven, ihren eigenen Relationen und Gesetzen folgenden Welt sprechen können; wie aber die göttliche Macht dieses Aus-sich-heraussetzen des Weltprozesses als das geeignetste Mittel erwählt hat, ihre Zwecke mit der Welt am vollständigsten zu erreichen: so bekleiden wir innerhalb
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der Wirtschaft die Dinge mit einem Wertquantum wie mit einer eigenen Qualität ihrer und überlassen sie dann den Austauschbewegungen, einem durch jene Quanten objektiv bestimmten Mechanismus, einer Gegenseitigkeit unpersönlicher Wertwirkungen - aus der sie vermehrt und intensiver genießbar in ihren Endzweck, der ihr Ausgangspunkt war: das Fühlen der Subjekte, zurückkehren" ( 2 8 / 2 9 ) .
Das Fühlen, das Erleben der Subjekte ist und bleibt für Simmel maßgebliche Quelle kultureller Wirklichkeit, wie der Schöpfergott als Ursprung der Welt gedacht wird. Das fühlende Subjekt hat die Macht, den Dingen der Wirtschaft einen Wert zu verleihen, sie, wie Simmel schreibt, damit zu bekleiden. Dadurch werden sie „intensiver genießbar", wenn sie ihren letzten Sinn als Endzweck darin finden, in das „Fühlen der S u b j e k t e " zurückzukehren.
3. Tausch Mit der Behandlung des Tausches geht Simmel ausdrücklicher zu Themen des Wirtschaftens über. E r fragt zu Beginn, wie es überhaupt zur Herausbildung eines eigenständigen Handlungsbereichs der gegenseitigen Hingabe und Hernähme von Gütern kommt. Wirtschaft wird dadurch möglich, daß „ein Reich von Wert e n " ( 3 0 ) — auf den von Simmel skizzierten Wegen der Objektivierung — soviel Selbstständigkeit aus den Händen der Subjekte erhält, daß es „mehr oder weniger vollständig von seinem subjektiv-personalen Unterbau gelöst ist" ( 3 0 ) . Aus der Sicht der Methode Simmeis stellt sich daher die Frage, wie das „Reich der W e r t e " im Kontext der Wirtschaft ein solches Maß der Objektivität erhält, und warum seine Verselbständigung soweit geht, daß dem einzelnen nur die Wahl bleibt, sich zu unterwerfen oder - mindestens theoretisch - sich von der Teilnahme an wirtschaftlichem Verkehr zu enthalten. Zur Beantwortung verweist Simmel — nach den genannten Argumenten aus der Evolutionstheorie - auf die objektivierende Wirkung des Tausches. „Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen. Ihn charakterisiert nicht die Beziehung auf das empfindliche Subjekt, sondern daß es zu dieser Beziehung erst um den Preis eines Opfers gelangt, während von der anderen Seite gesehen dieses Opfer als zu genießender Wert, jener selbst aber als Opfer erscheint. Dadurch bekommen die Objekte eine G e genseitigkeit des Sichaufwiegens, die den Wert in ganz besonderer Weise als eine ihnen selbst objektiv innewohnende Eigenschaft erscheinen läßt" ( 3 1 ) .
Die Qualität, aufgrund derer das wirtschaftlich bewertete Objekt dem Wollen des einzelnen widersteht, und die wie eine ihm „selbst objektiv innewohnende E i genschaft" ( 3 1 ) wirkt, ist wirklich, weil sie so erscheint. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, von der bisher schon die Rede war, verdoppelt sich im Tausch, weil nun zwei Subjekte und zwei O b j e k t e beteiligt sind. Dadurch ist das wirtschaftlich bewertete Objekt in eine doppelte Wertungsrelation gestellt: Aus der Perspektive seines ursprünglichen Eigentümers ist es nicht nur wertvoll wegen des Genusses, den es selbst ihm bereiten kann, sondern zusätzlich wegen des G e nusses, den ein dagegen einzutauschender Gegenstand in Aussicht stellt. Wird im Zuge des Tausches der am ursprünglich besessenen Objekt erlebte G e n u ß aufgegeben, so nennt Simmel das Opfer. Die beteiligten Subjekte werden den Tausch nur vollziehen, wenn beide das erforderliche Opfer im Vergleich zu dem erwarteten G e n u ß am neu zu erwerbenden Objekt als geringer einschätzen.
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„Freilich liegt die Bedeutung, die die Dinge in und mit dem Tausch gewinnen, nie ganz isoliert neben ihrer subjektiv-unmittelbaren, über die Beziehung ursprünglich entscheidenden; vielmehr gehört beides zusammen, wie Form und Inhalt zusammengehören. Allein der objektive und oft genug auch das Bewußtsein des Einzelnen beherrschende Vorgang abstrahiert sozusagen davon, daß es Werte sind, die sein Material bilden, und gewinnt sein eigenstes Wesen an der Gleichheit derselben - ungefähr, wie die Geometrie ihre Aufgaben nur an den Größenverhältnissen der Dinge findet, ohne die Substanzen einzubeziehen, an denen allein doch jene Verhältnisse real bestehen" (32).
Hier meint Simmel gleichsam den Ursprung jener Objektivität enthüllt zu haben, die aus dem Schritt hin „zu einem sachlichen, überpersönlichen Verhältnis zwischen Gegenständen" (30) hervorgeht. Die „subjektiv-unmittelbaren" (32) Bedeutungen der Dinge gehen nicht etwa spurlos verloren, sondern werden einbezogen in die objektivierte Tauschrelation, sie bleiben darin aufgehoben wie der Inhalt einer Form. Und diese Form, eben der Tausch, stellt sich für Simmel als ein Erzeugnis des Bewußtseins dar, bei dem die kreative Leistung des Bewußtseins unsichtbar bleibt, weil es von allen subjektiven Bestandteilen der Form „Tausch" abstrahiert. Nun sieht aber Simmel im Tausch nicht eine Erscheinung, die nur in der Wirtschaft wichtig ist. Statt dessen hält er diese Formung des Bewußtseins, die sich als objektive Realität ausgibt, für ein allgemeines Grundphänomen der Gesellschaft. „Man muß sich hier klarmachen, daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann; er ist die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht, sobald es einen Stoff und Inhalt gewinnen will. Zunächst wird schon oft übersehen, wie vieles, das auf den ersten Blick eine bloß einseitig ausgeübte Wirkung ist, tatsächlich einschließt: der Redner scheint der Versammlung, der Lehrer der Klasse, der Journalist seinem Publikum gegenüber der allein Führende und Beeinflussende zu sein; tatsächlich empfindet jeder in solcher Situation die bestimmende und lenkende Rückwirkung der scheinbar bloß passiven Masse;" (33/34).
Aus der Perspektive des Wirtschaftens ergibt sich freilich ein einschneidender Unterschied zwischen dem Tausch einer Eigentumswohnung in der Stadt gegen ein kleines Haus auf dem Lande einerseits und der Unterrichtssituation im Hörsaal. In der Wirtschaft werden dingliche Gegenstände, über die nur deren rechtmäßige Eigentümer legitim verfügen dürfen, gegeneinander eingetauscht; im geistigen Austausch werden Inhalte mitgeteilt, die jedermann gehören und die niemals im dinglichen Sinne Eigentum des Lehrenden sind. Er gibt daher in der Wechselwirkung mit seinen Studenten, etwas, das er selbst nicht hat. Jedoch, die Einschränkung der Betrachtung auf den dinglich-materiellen Bereich läßt Simmel gerade nicht zu. Die subjektiv-unmittelbare Komponente ist als der Gefühlsreflex der jeweiligen Person beteiligt, und sie ist fraglos das höchstpersönlich eigene Element, das jeder in den Tausch einbringt, das er seinem Gegenüber mitteilt, und wofür er im Gegenzug das persönliche Engagement des anderen zurückerhält. Doch die Verschleierung der subjektiven Anteile durch das Objektivität produzierende Bewußtsein geht so weit, daß Tausch substantialisiert wird, und die Beteiligung der Personen unbedeutend erscheint. „Indem man die beiden Akte oder Zustandsänderungen, die in Wirklichkeit vor sich gehen, in den Begriff „Tausch" zusammenfaßt, liegt die Vorstellung verlockend nahe, als wäre mit dem Tausch etwas neben oder über demjenigen geschehen, was in dem einen und in dem anderen Kontrahenten geschieht - wie wenn die begriffliche Substantialisie-
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rung im Begriff des,Kusses', den man ja auch ,tauscht', verführen wollte, den Kuß für etwas zu halten, was irgendwo außerhalb der beiden Lippenpaare, außerhalb ihrer B e w e gungen und Empfindungen läge" (35).
Im Anschluß an dieses fortgesetzte Ringen um eine Klärung der Beziehungen zwischen subjektiver und objektiver K o m p o n e n t e kehrt Simmel zu der vorher entwickelten These zurück, d a ß Wert erst aus der Distanzierung zwischen Subjekt und O b j e k t und aus d e m Begehren nach U b e r w i n d u n g dieser Distanz entsteht. „Durch den Austausch, also die Wirtschaft, entstehen zugleich die Werte der Wirtschaft, weil er der Träger oder Produzent der Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt ist, die den subjektiven Gefühlszustand in die objektive Wertung überführt. Ich führte schon oben Kants Zusammenfassung seiner Erkenntnislehre an: die Bedingungen der Erfahrungen seien zugleich die Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung - womit er meinte, daß der Prozeß, den wir Erfahrung nennen, und die Vorstellungen, die dessen Inhalte oder Gegenstände bilden, ebendenselben Gesetzen des Verstandes unterliegen. D i e Gegenstände können deshalb in unsere Erfahrung eingehen, von uns erfahren werden, weil sie Vorstellungen in uns sind, und die gleiche Kraft, die die Erfahrung bildet und bestimmt, sich in der Bildung jener äußert. In demselben Sinne können wir hier sagen: die Möglichkeit der Wirtschaft ist zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Wirtschaft" (45).
Dieses Zitat zeigt mit aller Deutlichkeit, welches die M e t h o d e Simmeis ist. R o bert T u c k e r hat vor mehr als zwei Jahrzehnten in seinem Buch „Philosophy and Myth in Karl M a r x " * beschrieben, wie Marx die Philosophie Hegels als esoterische Ö k o n o m i e u m d e u t e t . Hegels Weltgeist, d e r sich a u t o n o m fortentwickelt, wird bei Marx zum allmächtigen Kapital. Diesen Akt, in dem die idealistische Philosophie als v e r k a p p t e Beschreibung der Wirtschaft entlarvt wird, dreht Simmel gleichsam zurück: Simmel beschreibt die Wirtschaft als Wirkungsfeld menschlicher Einbildungskraft. Nur darum kann er Aussagen Kants zur Erkenntnistheorie in Anleitungen zum Verständnis ökonomischer Vorgänge umdeuten. Nur d a r u m fallen für Simmel auch geistiger Austausch und der Tausch von Dingen zusammen. „ D e n n wenn der Materialismus erklärt: der Geist ist Materie — so lehrt die Transzendentalphilosophie: auch die Materie ist G e i s t " (158). Marx hat Hegel auf den Kopf gestellt, Simmel stellt ihn wieder auf die Füße.
4. Geld Simmel entfaltet seinen Begriff von Geld aus dem Tausch. Die hier schon skizzierten Stationen, denen seine Darlegung folgt, sind diese: Die Erkenntnistheorie dient der Klärung des Problems, wie Wirklichkeit erlebt werden kann. Aus Simmeis Wirklichkeits- und Wahrheitlehre folgt seine Werttheorie. Die W e r t t h e o r i e führt er weiter zu einer Lehre vom Tausch, und daraus entwickelt er endlich, was unter Geld zu verstehen sei. Geld dient zwar nicht nur dazu, a n d e r e G ü t e r im W e ge der Zahlung dagegen einzutauschen, sondern auch, um W e r t e zu transportieren und a u f z u b e w a h r e n . Doch seine B e d e u t u n g als Tauschmittel steht f ü r Simmel eindeutig im V o r d e r g r u n d :
* Deutsche Übersetzung: Robert C. Tucker: Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos, München 1963.
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„ D e n Wert, den das Geld als solches besitzt, hat es als Tauschmittel e r w o r b e n ; wo es also nichts zu tauschen gibt, hat es auch keinen W e r t . D e n n ersichtlich steht seine B e d e u t u n g als A u f b e w a h r u n g s - und Transportmittel nicht in derselben Linie, sondern ist ein Derivat seiner T a u s c h f u n k t i o n " (134).
Das soziale Prinzip der Kultur, aufgrund dessen aus Wechselwirkungen der Subjekte Wertungen der Objekte hervorgehen, gewinnt im Geld greifbare Gestalt. Weil Menschen Sinneseindrücke zu Gegenständen gestalten, erleben sie Wirklichkeit; weil sie sich zu Objekten auf Distanz begeben, erfahren sie in dem Wunsch nach Überwindung der Distanz den Wert eines Gegenstandes; weil sie im Tausch beim Aushandeln die Uberwindungshoffnung der beteiligten Personen gegeneinander abwägen, werden ihnen aus dem Vergleich der getauschten Güter deren Wertrelationen bewußt. Abgelöst von den Gütern, aus deren Vergleich sie stammen, erscheinen die Relationen dann als selbständiges Gut: der Mensch gibt ihnen die Form des Geldes. „ K u r z , das Geld ist A u s d r u c k und Mittel der Beziehung, des A u f e i n a n d e r a n g e w i e s e n seins der Menschen, ihrer Relativität, die die Befriedigung der Wünsche des einen immer v o m a n d e r e n wechselseitig a b h ä n g e n läßt; es findet also da keinen Platz, wo gar keine Relativität stattfindet - sei es, weil man von den Menschen ü b e r h a u p t nichts m e h r begehrt, sei es, weil man in absoluter H ö h e über ihnen - also gleichsam in keiner Relation zu ihnen - steht und die Befriedigung jedes Begehrens o h n e Gegenleistung erlangen kann (134).
Geld ist die allgemeinste Form sozialer Beziehung. Das mit der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit beschäftigte Bewußtsein weist dem Geld seinen Dingcharakter mit solcher Entschiedenheit zu, daß im Alltagsdenken vergessen wird, was es seinem Ursprung und seiner Wirkung nach ist: Ausdruck des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins. Wo die Beziehung zwischen Menschen nicht sozial ist, wo sie nicht in Wechselwirkung zueinander, wo sie nicht in Tauschverhältnisse eintreten, sondern einander wie Dinge behandeln, erlischt die Bedeutung des Geldes, verliert es seinen Sinn. „ D a s Geld, ein ausschließlich soziologisches, in Beschränkung auf ein Individuum ganz sinnloses Gebilde, kann irgendeine V e r ä n d e r u n g gegen einen gegebenen Status n u r als V e r ä n d e r u n g der Verhältnisse der Individuen u n t e r e i n a n d e r bewirken. Die gesteigerte Lebhaftigkeit und Intensität des V e r k e h r s , die einer G e l d p l e t h o r a folgt, geht darauf zurück, d a ß mit ihr die Sehnsucht der Individuen nach mehr Geld gesteigert w i r d " (143).
Diese Feststellung gehört in die Soziologie des Geldes. Zur Bedeutung des Geldes als Paradigma der Gegenstände und Prozesse der Kultur entschließt Simmel sich, den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt seiner Geldtheorie noch einmal anschaulich vorzuführen. „ D e r W e r t der Dinge — der ethische wie d e r eudämonistische, der religiöse wie der ästhetische - schwebt über ihnen wie die platonischen Ideen über der Welt: w e s e n s f r e m d und eigentlich u n b e r ü h r b a r , ein nach eigenen inneren N o r m e n verwaltetes Reich, das aber doch j e n e m a n d e r e n sein Relief und seine F a r b e n zuteilt. D e r ökonomische W e r t entsteht nun in Ableitung von jenen primären, unmittelbar e m p f u n d e n e n W e r t e n , indem die G e g e n s t ä n d e derselben, insoweit sie austauschbar sind, gegeneinander abgewogen w e r d e n " (135).
Wert, dieses im unmittelbaren Empfinden verankerte allgemeine Kulturphänomen, findet seine spezielle Ausprägung im ökonomischen Wert, weil die begehrten Gegenstände als gegeneinander tauschbar erlebt werden. Dazu muß kein
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Tausch vollzogen sein; schon das Abwägen unter dem Gesichtspunkt der potentiellen Eignung dazu genügt, um ein Bewußtsein von der Wertrelation der Güter zu schaffen. War der Wert für Simmel nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern ein Urteil über sie, so ist das Geld Ausdruck der Relationen solcher Urteile. Im Geld schafft sich das Bewußtsein ein Maß für das relative Gewicht der Urteile. Insofern ist Geld Paradigma der Kultur. In ihm treffen die Welt der Werte und die konkreten Dinge aufeinander. Simmel hatte gelehrt, Piaton habe das Reich der Ideen als unentbehrliches Instrument der Erkenntnisgewinnung gedanklich konstruiert, sich selbst aber über diesen Konstruktionsvorgang getäuscht und irrtümlich geglaubt, er habe eine objektiv gegebene Realität nur aufgefunden. Diese Piatonkritik als Denkfigur, überträgt Simmel auf seine Kritik der Substanztheorie des Geldes. „Wenn das Geld nun wirklich nichts wäre, als der Ausdruck für den Wert der Dinge außer ihm, so würde es sich zu diesen verhalten wie die Idee, die sich Plato ja auch substanziell, als metaphysisches Wesen vorstellt, zu der empirischen Wirklichkeit. Seine Bewegungen: Ausgleichungen, Häufungen, Abflüsse — würden unmittelbar die Wertverhältnisse der Dinge darstellen. Die Welt der Werte, die über der wirklichen Welt, scheinbar zusammenhanglos und doch unbedingt beherrschend, schwebt, würde im Geld die,reine Form' ihrer Darstellung gefunden haben. Und wie Plato die Wirklichkeit, aus deren B e obachtung und Sublimierung die Ideen zustande gekommen sind, dann doch als eine bloße Abspiegelung eben dieser deutet, so erscheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse, Abstufungen und Fluktuationen der konkreten Dinge als Derivat ihres eigenen Derivates: nämlich als Vertretungen und Schatten der Bedeutung, die ihren Geldäquivalenten zukommt" (136).
Die Anwendung der Piatonkritik auf die Geldthematik nimmt Simmel vor, weil er zeigen will, daß es sich bei der Bedeutung des Geldes nicht um seinen substantiellen Wert handelt, sondern um seine Eignung als Form einer Beziehung. „Dennoch kann es einen Rest von substanziellem Werte nicht abstreifen" (136). Das gesteht Simmel zu, nur ist das eben ein Randphänomen. Entscheidend ist nicht die gleichsam körperliche Qualität des Geldes, sondern seine Wirkung als Gestalt sozialer Wechselwirkungen, in denen Wertrelationen ihren Ausdruck finden. Doch in der Geschichte der Geldtheorien hat die einseitige Betonung des Substanzwertes des Geldes als Edelmetall eine beherrschende Rolle gespielt. Von dort aus ergaben sich die ethischen Vorstellungen über Zinsnehmen und Wucher. „ D i e ganzen Bedenken des Mittelalters gegen das Zinsennehmen gehen darauf zurück, daß das Geld viel starrer, substanzieller, den Dingen geschlossener gegenüberstehend erschien und war als in der Neuzeit, in der es vielmehr dynamisch, fließend, sich anschmiegend wirkt und erscheint." (152).
Simmeis erkenntnistheoretischer Ansatz erlaubt ihm auch, den Weg der historischen Entwicklung des Geldes zu deuten: Piaton hatte das Reich der Ideen für metaphysische Realität gehalten, Simmel erkennt es als gedankliche Konstruktion. Das ist Ausdruck des Fortschritts der Philosophie. Und nun analog: Gesellschaften der Vergangenheit haben im Geld nur dessen Substanzwert gesehen, Simmel deckt dessen symbolische und soziale Funktion auf. Das ist der Fortschritt in der Geldtheorie. Geld als Substanz kann nur einer besitzen, behalten oder verschenken. Geld als Relation verwirklicht sich gerade erst an zwei Subjekten, deren Beziehung sich darin ausdrückt. Das Zinsverbot mußte gegenüber dem Kreditgeber als Entmuti-
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gung wirken. Simmeis Geldtheorie illustriert die entfaltete Kraft zu der das Geld gerade gelangt aufgrund einer „Doppelexistenz des ausgeliehenen G e l d e s " (155). Es kann effizient sein einmal in der ideellen Form als F o r d e r u n g des Gläubigers an den Schuldner und a u ß e r d e m „als Realität in der H a n d des Schuldners" (156). D a h e r ist es bei beiden aktiv: „ S o wird durch das A u s l e i h e n des G e l d e s s e i n e Wirksamkeit in zwei Teile zerlegt und damit der Ertrag seiner wirtschaftlichen Energie außerordentlich gesteigert. A b e r d i e intellektuelle Abstraktion, die d i e s e Z e r l e g u n g bewirkt, kann ihre E r f o l g e e b e n nur unter einer so g e f e s t e t e n und verfeinerten Gesellschaftsverfassung üben, d a ß m a n in ihr überhaupt mit relativer Sicherheit G e l d ausleihen und wirtschaftliche A k t i o n e n auf j e n e Teilf u n k t i o n e n seiner gründen kann" ( 1 5 6 ) .
Vor allem die Rechtsordnung muß ausreichend zuverlässig sein, um dem Geldund Kapitalverkehr die langfristige Sicherheit zu geben, ohne die kein Kreditwesen bestehen kann. A b e r das Recht ist sowenig wie die Wirtschaft von dem kulturellen Untergrund unabhängig. D a r u m läßt sich sozialer W a n d e l als Evolution der Kultur und Gesellschaft an der Entwicklung des Wirtschaftens studieren. Dieses Anliegen hat Max W e b e r sowohl in seinen sozialhistorischen als auch in seinen religionssoziologischen Arbeiten verfolgt. „ A n diesen gesteigerten E r s c h e i n u n g e n dokumentiert sich b e s o n d e r s durchsichtig, wie w e n i g das G e l d s e i n e m innersten W e s e n nach an die Körperhaftigkeit s e i n e s Substrates g e b u n d e n ist; da es nun aber ganz und gar eine soziologische Erscheinung ist, e i n Form der W e c h s e l w i r k u n g unter den M e n s c h e n , s o tritt seine Art u m s o reiner hervor, je kondensierter, zuverlässiger, leichter a n s p r e c h e n d die sozialen V e r b i n d u n g e n sind. Ja, bis in alle Äußerlichkeiten der G e l d f o r m hinein wirkt die a l l g e m e i n e Festigkeit und Sicherheit der Verkehrskultur" ( 1 5 6 ) .
Die „sozialen V e r b i n d u n g e n " werden „zuverlässiger, leichter a n s p r e c h e n d " (156) auch als Ausdruck politischer Neuerung, und Simmel blickt optimistisch voraus auf Zeiten mit demokratischen staatlichen O r d n u n g e n . Er folgt der politischen Geschichte entlang der Dimension, an der die Entfaltungschancen des Individuums gemessen werden können: „ A l s dann die liberalen T e n d e n z e n das staatliche L e b e n zu i m m e r freierem Fluß, immer u n g e h e m m t e r e r G e s c h m e i d i g k e i t , i m m e r labilerem G l e i c h g e w i c h t der E l e m e n t e führten, war die materielle Grundlage für die T h e o r i e A d a m Smiths g e g e b e n : daß G o l d und Silber bloße W e r k z e u g e sind, nicht anders als Kochgeräte, und daß ihr Import an und für sich so wenig den W o h l s t a n d der Länder steigere, wie man durch die V e r m e h r u n g der K o c h g e r ä t e schon m e h r zu essen habe" ( 1 5 8 ) .
Simmel gibt seinem Programm selbst einen Namen: er nennt seine eigene kultursoziologische Geldtheorie „transzendental": „Mit der Ansicht A d a m Smiths ist die Richtung auf die hier vertretene G e l d t h e o r i e eingeschlagen, die man im G e g e n s a t z zu den materialistischen als transzendentale b e z e i c h n e n kann" ( 1 5 8 ) .
Charakteristisch ist stets bei Simmel die Fähigkeit und Bereitschaft historische Prozesse in ihrer Ambivalenz zu sehen. Geld fördert die E n t s t e h u n g und Durchsetzung neuer F o r m e n des menschlichen Miteinanders in der Gesellschaft. Das bringt Befreiung und Erweiterung des Handlungsspielraums, zugleich jedoch auch Entlassung aus fürsorglicher Betreuung und das, was die marxistische Kapitalismuskritik E n t f r e m d u n g nennt. Simmel vermeidet sowohl naive Fortschrittsgläubigkeit als auch polemische Kritik der Geldwirtschaft. Als Kultursoziologe ar-
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beitet er die Chancen heraus, die die von ihm aufgezeigte Entwicklung f ü r die E n t faltung der Persönlichkeit des Individuums bietet. „Alle höhere wirtschaftliche Technik beruht auf einer Verselbständigung der ökonomischen Prozesse: sie werden von der Unmittelbarkeit der personalen Interessen gelöst, sie funktionieren, als ob sie Selbstzwecke wären, ihr mechanischer Ablauf wird immer weniger von den Unregelmäßigkeiten und Unberechenbarkeiten des personalen Elements gekreuzt" (358).
Simmeis Menschenbild wird sichtbar: D a s Personale ist eben auch ambivalent, es enthält E l e m e n t e der Unzuverlässigkeit, die eingegrenzt werden müssen, wenn eine rationale Geldwirtschaft fortentwickelt werden soll. „Und das eben ist ausschließlich durch das Geld möglich. Erst wenn der Ertrag des Betriebes eine Form annimmt, in der er ohne weiteres an jeden Punkt übertragbar ist, gewährt er, durch die Entfernung zwischen Besitz und Besitzer, beiden jenes hohe Maß von Unabhängigkeit, sozusagen von Eigenbewegung: dem einen die Möglichkeit, ausschließlich nach den inneren Anforderungen der Sache betrieben zu werden, dem anderen die Möglichkeit, sein Leben ohne Rücksicht auf die spezifischen Anforderungen seines Besitzes einzurichten" (359).
Eine Reihe recht anschaulicher Aussagen, zu denen Simmel bei der A n w e n dung seiner geisteswissenschaftlichen Methode gelangt, zeigt, daß seine Untersuchung nicht nur eine „Philosophie des G e l d e s " ist. Was er vorgelegt hat, ist aus heutiger Sicht eine Kultursoziologie des Geldes. Dabei nimmt er das Geld zum Ausgangspunkt für die Bearbeitung der verschiedenen Aspekte wirtschaftlichen Handelns. Im Unterschied zu anderen Vorgehensweisen in der Wirtschaftssoziologie, bei denen davon ausgegangen wird, die Wirtschaft sei ein spezialisierter und eigenständiger Handlungsbereich moderner Gesellschaften, zeigt Simmel, welche Fülle interessanter Einsichten sich ergibt, wenn man in der Wirtschaft, und dort wieder im Geld, ein besonders wirksames und anschauliches Beispiel für Kultur sieht. Die meisten a n d e r e n Wirtschaftssoziologen sehen Kultur neben der Wirtschaft, Simmel sieht Kultur in der Wirtschaft und damit in j e d e r historisch k o n k r e ten Wirtschaft den Ausdruck der sie tragenden Kultur.
Teil VII Wirtschaftssoziologie in den neunziger Jahren 1. Objektbereich, Hauptarbeitsgebiete und Forschungsthemen der Wirtschaftssoziologie Immer mehr hat sich die Auffassung herausgebildet, daß der Objektbereich der Wirtschaftssoziologie das auf mannigfaltige Weise soziokulturell geprägte, beeinflußte und dem sozialen Wandel unterliegende Wirtschaftsleben ist. Die Wirtschaft wird somit nicht als eigenständiger Bereich oder gar als geschlossenes System betrachtet, sondern als ein Subsystem der Gesellschaft, das mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen verflochten ist - in der modernen Gesellschaft insbesondere mit den Bereichen Politik, Bildung und Wissenschaft. Somit ist das Forschungsinteresse der Wirtschaftssoziologie vorrangig darauf ausgerichtet, die gegenseitige Durchdringung des wirtschaftlichen und anderer Subsysteme der Gesellschaft sowie die hieraus resultierenden Prozesse der Beeinflussungen, Wechselwirkungen u n d des Austausches zu untersuchen. Als zentrale Hauptarbeitsgebiete der Wirtschaftssoziologie haben sich die folgenden herauskristallisiert: 1) Die Wirtschaft als soziokulturelles Subsystem, die Einbettung des Wirtschaftslebens in den soziokulturellen Verflechtungszusammenhang. 2) Soziokulturelle Determinanten des wirtschaftlichen Verhaltens. Inwieweit ist das Verhalten von Wirtschaftssubjekten (Unternehmer, Arbeitnehmer, Verbraucher) nicht nur durch ökonomische, sondern auch durch soziale und kulturelle Faktoren bestimmt? Inwieweit sind ökonomische Bestimmungsgründe des Verhaltens unter dem Einfluß spezifischer Kulturen und des sozialen Wandels soziokulturell geprägt? 3) Die soziale und kulturelle Eigenart wirtschaftlicher Institutionen (Unternehmungen, Betriebe, Märkte, Verbraucherhaushalte, Wirtschaftsverbände) sowie deren gesellschaftliche Einbindung. 4) Verschiedenartige Wirtschaftssysteme, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Verflechtung mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und Herrschaftsordnungen. 5) Soziokulturelle Voraussetzungen und Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung, soziale Ursachen und Auswirkungen von Wachstumskrisen, Möglichkeiten und Probleme der Herausbildung einer umweltverträglichen, dauerhaften Wirtschaftsentwicklung. 6) Soziokulturelle Bedingungen und Folgen der gegenwärtig beschleunigt voranschreitenden Globalisierung und Internationalisierung des Wirtschaftslebens.
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Teil VII: Wirtschaftssoziologie in den neunziger Jahren
Diese zentralen Hauptarbeitsgebiete bilden zugleich den Untersuchungsbereich der Allgemeinen Wirtschaftssoziologie. Noch immer wird die Wirtschaftssoziologie von einzelnen Fachvertretern auf diesen Bereich eingeschränkt. In Widerspiegelung der funktionalen und sektoralen Differenzierung des Wirtschaftslebens der modernen Gesellschaft beinhaltet die Wirtschaftssoziologie im weiteren Sinne eine Vielzahl spezieller Wirtschaftssoziologien. Diese haben sich großenteils zu relativ eigenständigen speziellen Soziologien entwickelt. Vertreter dieser speziellen Wirtschaftssoziologien versuchen immer noch, diese gegenüber der Wirtschaftssoziologie abzugrenzen - gleichsam zur Absicherung der eigenen Bastion und zuungunsten einer überfälligen Klärung und Festlegung des „Territoriums" der Wirtschaftssoziologie. Wenn diese aber der Weite und Komplexität des Wirtschaftslebens gerecht werden soll, dann ist es konsequent, alle speziellen Wirtschaftssoziologien der Wirtschaftssoziologie im weiteren Sinne zuzuordnen. Ein entsprechendes Ordnungsschema hat bereits Anton Burghardt mit seiner Unterscheidung zwischen funktionalen, sektoralen und auch historischen Wirtschaftssoziologien vorgelegt: Z u den funktionalen Wirtschaftssoziologien zählen die Arbeits- und Berufssoziologie, Markt- und Konsumsoziologie (einschließlich der Marketingsoziologie), Soziologie der Werbung, Unternehmungssoziologie (unter besonderer Berücksichtigung des Unternehmerverhaltens), unter Einschränkung auch die Verwaltungsund Organisationssoziologie, die Verbändesoziologie und die Techniksoziologie. Z u den sektoralen Wirtschaftssoziologien zählen die Agrarsoziologie, die Industriesoziologie (in weitgehender Überschneidung mit der Betriebs- und Organisationssoziologie), ferner Ansätze einer Soziologie des tertiären Sektors (Dienstleistungen, Angestelltensoziologie, Überschneidung mit der Bürokratieforschung). Die historischen Wirtschaftssoziologien befassen sich mit früheren Epochen der Wirtschaftsgeschichte und mit bestimmten, historisch abgrenzbaren Formen des Wirtschaftens der Vergangenheit, z.B. mit der Wirtschaft beim Niedergang des Römischen Reiches, mit der Wirtschaft der Renaissance oder zur Zeit der Industriellen Revolution. Dieser historische Zweig der Wirtschaftssoziologie hängt in starkem Maße von einer engen Zusammenarbeit mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ab. Schließlich seien der Vollständigkeit halber noch spezielle Wirtschaftssoziologien erwähnt, die kulturanthropologisch-ethnologisch ausgerichtet sind und sich dementsprechend mit spezifischen Wirtschaftsweisen ethnischer bzw. sogenannter „primitiver" Kulturen beschäftigen, z.B. mit den Wirtschaftsweisen der überkommenen Indianerkulturen im Amazonasgebiet. Da sich das Forschungsobjekt der Soziologie vorrangig mit der modernen Gesellschaft deckt, ist dieses Problemfeld der Wirtschaft ethnischer, vormoderner Kulturen von der Wirtschaftssoziologie bisher eher vernachlässigt worden. Vielmehr wurden die Wirtschaftsreformen und -weisen dieser Kulturen hauptsächlich von der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie berücksichtigt. Erschwerend k o m m t hinzu, daß mit der globalen Ausbreitung der modernen Industriegesellschaft jene Kulturen ihren ursprünglichen Charakter und damit auch ihre ü b e r k o m m e n e Eigenart des Wirtschaftens verlieren. Die Auffassung, die Wirtschaftssoziologie unter Einbeziehung aller einschlägigen speziellen Soziologien auf das gesamte Wirtschaftsleben der modernen Gesellschaft auszurichten, kommt auch in dem Lehrbuch „Wirtschaftssoziologie: Grund-
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legung, Hauptgebiete, Zusammenschau" von Thomas Kutsch und Günter Wiswede zum Ausdruck, das sachgerecht eigentlich den Titel „Spezielle Wirtschaftssoziologie" tragen müßte. Abgesehen von einer kurzen Einleitung über die „Wirtschaftssoziologie als Disziplin" bietet dieses Werk einen Überblick über funktionale und sektorale Wirtschaftssoziologien: Arbeits- und Berufssoziologie Markt- und Geldsoziologie Industrie- und Betriebssoziologie Soziologie der Dienstleistungen Soziologie der Wirtschaftsverbände und Wirtschaftspolitik Konsum- und Haushaltssoziologie Werbesoziologie Die Bündelung der speziellen Wirtschaftssoziologien unter dem Dach einer breit angelegten, dem mannigfaltigen Wirtschaftslebens gerecht werdenden Wirtschaftssoziologie muß keineswegs die schwerpunktmäßige Bearbeitung eine dieser speziellen Soziologien beeinträchtigen. Im Gegenteil: es dürfte für den Erkenntnisfortschritt eher vorteilhaft sein, die jeweilige spezielle Soziologie im Kontext der Wirtschaftssoziologie insgesamt zu betreiben, unter besonderer Berücksichtigung der Einsichten der Allgemeinen Wirtschaftssoziologie. Z u r Überwindung von Unklarheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten sollten alle Bestrebungen unterstützt werden, die auf die Konsolidierung und allgemeine Anerkennung einer breit angelegten und differenziert aufgebauten Wirtschaftssoziologie hinauslaufen, und zwar im Sinne des hier vorgestellten Ordnungsschemas. Damit wäre dem wissenschaftlichen Fortschritt mehr gedient als das Verweilen in einem resignativen Zustand, in dem der Wirtschaftssoziologie das vermeintliche Fehlen eines eigenständigen, identifizierbaren und abgrenzbaren Objektbereiches unterstellt wird. Angesichts der hochgradigen Komplexität und beschleunigten Veränderung des Wirtschaftslebens der modernen Gesellschaft ist es nicht verwunderlich, daß die gegenwärtige Wirtschaftssoziologie eine entsprechende Fülle von unterschiedlichen Forschungsthemen und -projekten beinhaltet. Diese thematische Auffächerung der Wirtschaftssoziologie wird zusätzlich verstärkt durch Tendenzen zu einer übermäßig parzellierten „Schrebergarten-Soziologie": zugunsten individueller Arbeitserleichterung wird nur ein möglichst eng umgrenztes Forschungsthema bearbeitet oft auch noch einseitig ausgerichtet auf eine bestimmte weltanschauliche Orientierung und theoretische Richtung. Diese atomisierend wirkende Spezialisierung geht zu Lasten der - von der Öffentlichkeit erwarteten - Erforschung großer Zusammenhänge, der Erarbeitung von Gesamtdarstellungen, schließlich auch zu Lasten der Verständigung über das „Territorium" der Wirtschaftssoziologie. U n t e r besonderer Berücksichtigung des 1994 erschienenen, von Neil J. Smelser und Richard Swedberg herausgegebenen Sammelwerkes „The Handbook of Economic Sociology" kann hier die mannigfaltige Fülle wirtschaftssoziologischer Forschungsfelder mit folgenden Beispielen angedeutet werden: 1) Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftswissenschaft: A n n ä h e r u n g von Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftssoziologie Die Wirtschaftssoziologie aus der Perspektive des Rational-choice-Ansatzes
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Die Brauchbarkeit des ökonomischen Rationalitätsparadigmas für die Wirtschaftssoziologie Kooperation aus der Sicht der Theorie des rationalen Handelns Transaktionskosten- und Organisationstheorie Die Wiederkehr des Institutionalismus 2) Soziokulturelle Einbindung der Wirtschaft: Soziokulturelle Voraussetzungen und Auswirkungen der Wirtschaft Wirtschaft als gesellschaftliches Subsystem Wirtschaft als soziales System Religion und Wirtschaftsleben Kultur und Wirtschaft Zivilisation und Wirtschaftssysteme Netzwerke und Wirtschaftsleben Ethnische Aspekte des Wirtschaftslebens 3) Wirtschaft und Staat: Die Rolle des Staates in der Wirtschaft Wohlfahrtsstaat und Wirtschaft Die Soziologie der Verteilung und der Umverteilung Industriepolitische Steuerung (im Ländervergleich) 4) Sozialistische Wirtschaft: Das sozialistische Wirtschaftssystem Transformationsprobleme beim Übergang von Plan- zu Marktwirtschaften 5) Wirtschaftliches Handeln: Soziokulturelle Bedingungen und Restriktionen des wirtschaftlichen Handelns (Sozialisten, soziale Normen, Rollen und Bindungen) Der gesellschaftliche Rahmen des wirtschaftlichen Handelns (soziale Strukturen und Institutionen) Wirtschaftliches Handeln unter den Bedingungen von Unsicherheit, Risiken und Ungewißheit Nichtintendierte (unerwünschte) Folgen des wirtschaftlichen Handelns Wirtschaftliches Handeln unter dem Druck von Konflikten und ungleicher Machtverteilung Die Einbindung des wirtschaftlichen Handelns in Netzwerke sozialer, vertrauensgestützter Beziehungen Wirtschaftliches Handeln unter dem Einfluß von Wertwandel und Einstellungsveränderungen 6) Unternehmung und Unternehmer: Unternehmer im gesellschaftlichen Spannungsfeld und sozialen Wandel Unternehmertum und Management Firmen, Löhne und Anreize Firmen und ihre Umwelten
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7) Märkte und Handel: Märkte als soziale Strukturen Arbeitsmärkte im kapitalistischen Wirtschaftssystem Geld, Bankwesen und Finanzmärkte Handel, Transportwesen und räumliche Verteilung 8) Konsum und Haushalt: Soziale Determinanten und Wandel des Konsumentenverhaltens Konsum, Präferenzen und sich wandelnde Lebensstile Soziologie des Privathaushalts, der Hausarbeit 9) Wirtschaftliche Entwicklung: Evolutionstheorie der wirtschaftlichen Entwicklung Die Institutionen der wirtschaftlichen Entwicklung Regionale Wirtschaftsentwicklung Soziale Folgen der betrieblichen Rationalisierung und Produktivitätssteigerung Soziale Aspekte der Stagnation 10) Weltwirtschaft: Weltwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung Soziale Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung und internationalen Arbeitsteilung Die (benachteiligte) Stellung der Entwicklungsländer im Welthandel 11) Sonstige Themen: Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftsgeschichte Erziehung, Ausbildung und die Wirtschaft Geschlecht und Wirtschaft Frauen im Wirtschaftsleben Arbeit und Freizeit Leistungsmessung in Wirtschaftsorganisationen Die informelle Wirtschaft und ihre Paradoxien Wirtschaft und Umwelt Ökonomie und Ökologie.
2. Methodische und theoretische Ansätze Auch in den vergangenen zehn Jahren hat sich in der Wirtschaftssoziologie keine einheitliche, allgemein akzeptierte Vorgehensweise des Forschens herauskristallisiert. In Widerspiegelung des Methoden- und Theorienpluralismus der Soziologie ist auch die Wirtschaftssoziologie durch eine Vielzahl von methodischen und theoretischen Ansätzen gekennzeichnet. In Abhängigkeit von grundlegenden weltanschaulichen Orientierungen und Wertvorstellungen, vom persönlichen Sozialisationsschicksal im Wissenschaftssystem, vom Hineinwachsen in eine bestimmte „Schule" oder theoretische Richtung der Soziologie präferieren einzelne (Gruppierungen von) Wirtschaftssoziologien in
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der Regel einen jeweils bestimmten methodisch-theoretischen Ansatz des Forschens: empirisch deskriptiv makrosoziologisch strukturtheoretisch marxistischmaterialistisch historisch
oder oder oder oder oder
theoretisch abstrakt-analytisch mikrosoziologisch akteurtheoretisch idealistisch
oder
gegenwartsorientiert.
Die Vorliebe oder Entscheidung für einen bestimmten methodisch-theoretischen Ansatz wird durch einen erheblichen Entlastungseffekt begünstigt: Besonders in Verbindung mit der Überzeugung von der vermeintlichen Überlegenheit der eigenen Forschungsrichtung hält es der einzelne Fachvertreter für wissenschaftlich gerechtfertigt, sich auf seinen Weg zu konzentrieren und sich nicht noch zusätzlich mit anderen Ansätzen zu belasten. Mit zunehmender Wertschätzung der eigenen Richtung ist er um so mehr dazu geneigt, sich gegenüber anderen Richtungen abzugrenzen oder diese sogar abzuwerten. Schließlich stellen sich dann die verschiedenen „Schulen", Richtungen und Ansätze gegenseitig in Frage - so daß der Eindruck einer noch weitgehend unausgereiften (Teil-)Disziplin gerechtfertigt erscheint. Es lassen sich drei Haupttendenzen der wirtschaftssoziologischen Vorgehensweise unterscheiden: 1) Eine überwiegend oder sogar rein theoretisch ausgeprägte Vorgehensweise, die überdies in verschiedenen, teilweise gegensätzlichen theoretischen Ansätzen, Richtungen oder „Schulen" zum Ausdruck kommt. 2) Eine vorrangig oder einseitig betriebene empirische Vorgehensweise - wobei der Schwerpunkt mehr bei der Anwendung quantitativer oder qualitativer Methoden liegen kann. 3) Schritte zu einer ganzheitlich-integrativen Vorgehensweise, die sowohl durch Theorieverknüpfung wie auch durch eine enge Verzahnung von Theorie und Empirie gekennzeichnet ist. Allerdings muß schon hier einschränkend angemerkt werden, daß diese dritte Haupttendenz noch weitgehend „Zukunftsmusik" ist. In den folgenden Ausführungen sollen nun diese drei Haupttendenzen der Vorgehensweise wirtschaftssoziologischer Forschung näher entfaltet und beleuchtet werden: 1) Einzeltheoretische Vorgehensweise Begünstigt durch die besondere Nähe zur Wirtschaftstheorie hat sich in der Wirtschaftssoziologie in jüngerer Zeit der Methodologische Individualismus erheblich ausgebreitet. Diese grundlegende Richtung sozialwissenschaftlicher Forschungsund Theorieansätze geht nicht von überindividuell-kollektiven, soziokulturellen Strukturen, Systemen und Ganzheiten aus, sondern vom menschlichen Individuum und dessen Handeln. Quellen des Methodologischen Individualismus sind: Die Modellvorstellung vom vermeintlich zweckrational handelnden, gewinn- bzw. nutzenmaximierenden Wirtschaftssubjekt (homo oeconomicus) in der klassisch-neoklassischen Wirt-
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schaftstheorie; die behavioristische Psychologie und Lernforschung: das bei Max Weber als zentrales Objekt der Soziologie hervorgehobene soziale Handeln. In der Soziologie ist der Methodologische Individualismus weitgehend in der Mikrosoziologie angesiedelt, wobei das individuell-rationale Handeln und die Interaktionen bzw. wechselseitig orientierten Handlungen von individuellen Akteuren im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen. Wesentlichen Anteil an der Begründung des Methodologischen Individualismus hatte George C. Homans mit dem Aufbau seiner Verhaltenstheoretischen Soziologie und Austauschtheorie. Er wollte im Gegensatz zu der stark systembezogenen Strukturell-funktionalen Theorie von Talcott Parsons den Menschen wieder in die Soziologie zurückbringen. Durch verstärkte Berücksichtigung der behavioristischen Lernforschung und ökonomischer Modelle der Verhaltenserklärung ergab sich bei Homans eine psychologisch-ökonomisch verkürzte Soziologie mit einem entsprechenden Menschenbild: Dadurch wurde es ihm und überhaupt dem Methodologischen Individualismus erleichtert, nomologische Hypothesen (über Gesetzmäßigkeiten) aufzustellen, die wiederum der Erklärung von Verhaltensweisen dienen sollen. Die Verhaltenstheoretische Soziologie ist wie kaum eine andere theoretische Richtung der Soziologie dazu geeignet, die Entstehung und Veränderung von Verhaltensweisen zu erklären. Überhaupt hat die Soziologie diesen für die heutige Zeit höchst wichtigen Problemkomplex eher vernachlässigt und geht viel zu sehr von gegebenen Verhaltensweisen aus. In einer dynamischen, sich zunehmend globalisierenden Wirtschaftsgesellschaft, in der die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie zu einer Überlebensfrage geworden ist, bildet aber das Problem der Verhaltensänderung immer mehr eine existentielle Herausforderung - gerade für die Soziologie, die „Wissenschaft vom sozialen Handeln". Unter dem Einfluß der Neuen politischen Ökonomie, der Spieltheorie und neuerer Entwicklungen der Wirtschaftstheorie haben sich im Rahmen des Methodologischen Individualismus modelltheoretische Erklärungskonzepte ausgebreitet, die vom ökonomisch-rationalen Handeln nutzen- und zielorientierter Individuen ausgehen. Besonders prägnant kommt diese theoretische Richtung in dem mittlerweile ziemlich einflußreichen Rational-choice-Ansatz zum Ausdruck, der in Deutschland - unter Einbeziehung der Wirtschaftssoziologie - vor allem von Erich Weede vertreten wird. Das Eindringen des Methodologischen Individualismus in die Wirtschaftssoziologie hat zu einer paradoxen Situation geführt: Während in früheren Jahrzehnten Wirtschaftssoziologien die Lebensferne des Menschenbildes der neoklassischen Wirtschaftstheorie kritisierten und eine Soziologisierung und Sozialpsychologisierung der Wirtschaftswissenschaften forderten, macht sich in jüngerer Zeit in der Soziologie allgemein und in der Wirtschaftssoziologie speziell immer mehr das einseitig rationale Menschenbild der Ökonomie breit, kommt es somit zu einer fortschreitenden Ökonomisierung der Soziologie. Auch wenn diese Wiederannäherung von Soziologie und Wirtschaftswissenschaft aus mehreren Gründen zu begrüßen ist - vor allem im Hinblick auf eine interdisziplinäre Erforschung von Problemen im Überschneidungsbereich der jeweiligen Objekte beider Disziplinen - so besteht nun die Gefahr, daß die Soziologie zu Lasten ihres Wirklichkeitsbezugs zu einer modelltheoretischen Idealwissenschaft wird, daß sie den Charakter einer genuinen Soziologie einbüßt. Je mehr sich die Soziologie auf dem Wege eines ökonomischen Ra-
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tionalismus weiterentwickelt, um so weniger wird sie dem Menschen als einem sozialisierten, sozialen Wesen gerecht, das mannigfaltigen Einflüssen einer komplexen, heutzutage sich beschleunigt wandelnden sozio-kulturellen Umwelt unterliegt. Inzwischen ist der Rational-choice-Ansatz mit der „Methode der abnehmenden Abstraktion" (Technik der schrittweisen Lockerung von modell-theoretischen Annahmen) näher an reale Lebensverhältnisse herangeführt worden. So werden z.B. die eingeschränkten Möglichkeiten und Fähigkeiten der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung berücksichtigt. Überdies wäre es viel zu kostenaufwendig und somit rational nicht vertretbar bzw. irrational, wenn der Akteur stets nach vollständiger Information streben würde - ganz abgesehen davon, daß ein solches Ziel in der heutigen Zeit der Informationsüberflutung oft nicht mehr erreichbar ist. Im Alltagsleben ist es häufig eher rationalen Bahnen bewährter Gewohnheiten und Routine zu handeln. Die Würdigung des Menschen als ein Individuum, das durch ökonomisch-rationales Handeln seinen Nutzen zu maximieren versucht, beinhaltet die Gefahr einer wissenschaftlich-theoretischen Rechtfertigung und letztlich auch lebenspraktischen Verstärkung eines übersteigerten Individualismus und Egoismus in der modernen Wirtschaftsgesellschaft. Diese bereits erheblich ausgeprägte Entwicklungstendenz geht zu Lasten der mitmenschlichen Solidarität und gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens. Rivalität, Trittbrettfahrermentalität und sozialdarwinistische Tendenzen nehmen zu. Mit einseitiger Orientierung an persönlicher Nutzenmaximierung sind Akteure auch zu Handlungen bereit, die dem Gemeinwohl entgegenwirken, die sich womöglich gesellschaftlich und ökologisch schädlich auswirken. Tatsächlich breitet sich gegenwärtig immer mehr eine in mannigfaltigen Formen zum Ausdruck kommende Wirtschaftskriminalität aus, die trotz weiterhin fortschreitender Verrechtlichung der modernen Gesellschaft zunehmend schwerer beherrscht und eingedämmt werden kann. Wenn nicht zugleich mitmenschliche Sympathie, Gemeinwohlorientierung und Bindungsbereitschaft in starkem Maße das tatsächliche Handeln mitbestimmen, dann ist es ein Irrglaube, daß weitgehende Freiheit für ein ökonomisch-rationales Handeln des Individuums indirekt zugleich automatisch eine Steigerung des Volkswohlstandes bewirke. Schon Adam Smith hatte erkannt, daß auch in diesem Falle die Medaille zwei Seiten hat. Mittlerweile wird von Vertretern des Methodologischen Individualismus eingeräumt, daß die Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens auch Solidarität, Altruismus, soziales Engagement und Opferbereitschaft beinhalten kann. Dieser Interpretation - die dem Vorwurf einer Verstärkung des egoistischen und rücksichtslosen Verhaltens entgegenwirken soll - kommt entgegen, daß der Nutzenbegriff inhaltlich nicht festgelegt ist. Es dürfte eine Erfahrungstatsache sein, daß um so eher altruistisch und gemeinwohlorientiert gehandelt wird, je mehr die Akteure entsprechende Wertorientierungen internalisiert haben und sich - jenseits subjektiver Reflexion - von diesen Leitvorstellungen auch lenken lassen. Eine solche Handlungsorientierung wird nun in der modernen, weitgehend säkularisierten, freiheitlichen Gesellschaft immer mehr aus den Angeln gehoben: Die Spielräume für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung, für die Praktizierung unterschiedlicher Lebensstile, für das Streben nach Glück und Lebensgenuß sind erheblich größer geworden. Mit dem Eindringen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in das Alltagswissen breiten sich Einsichten in die geschichtliche Bedingtheit und kulturelle Relativität von Werten, Moral, Sitten,
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Normen u.ä.m. aus. Mit dem Wissen darüber, daß persönliche Wertvorstellungen weitgehend Reflex von soziokulturellen Werten sind, die im Zuge der Sozialisation vermittelt wurden, wird die Internalisierung von Werten bewußtseinsmäßig wieder aufgehoben, werden Wertorientierungen persönlich disponibel, ergibt sich die Möglichkeit für den bewußten Aufbau eines individuellen Wertsystems. Darüber hinaus ist in der modernen Gesellschaft ein Zeitgeist entstanden, der das Individuum dem Anspruch unterwirft, aus dem zeitlich begrenzten eigenen Leben das Beste zu machen. Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht verwunderlich, daß immer mehr Menschen zu Individualisten oder sogar Egoisten geworden sind, daß die Zahl der Altruisten oder der sich erheblich altruistisch verhaltenden Menschen abnimmt, daß somit die gesellschaftlich desintegrativen Tendenzen immer stärker geworden sind. Schließlich werden durch eine zunehmende Individualisierung der modernen Gesellschaft der Anwendungsbereich und die Erklärungskraft des Methodologischen Individualismus vergrößert. Mit der Einbeziehung kollektiver Folgen des individuellen Handelns in den Forschungsprozeß ist der Methodologische Individualismus nicht nur auf dem Wege zu einer Verbindung von Mikro- und Makrosoziologie, sondern auch zu einer grundlegenden Mithilfe bei der Bewältigung schwerwiegender Gegenwartsprobleme: Verteilungskonflikte, Wirtschaftskriminalität, Krise des Sozialstaates, Umweltkrise u.a.m. Eine weitere theoretische Richtung, die in der Wirtschaftssoziologie einen erheblichen Einfluß gewonnen hat, ist die von Niklas Luhmann entfaltete Systemtheorie: Im Zuge der geschichtlichen Entwicklung des sozialen Zusammenlebens von Menschen hat sich eine mit Effizienzsteigerung verbundene funktionale Differenzierung ergeben, die zur Herausbildung entsprechend spezialisierter Subsysteme der Gesellschaft hingeführt hat. Im Verlaufe dieses Differenzierungsprozesses haben sich die wirtschaftlich bedeutsamen Tätigkeiten aus dem soziokulturellen, insbesondere familiären Lebenszusammenhang herausgelöst und sich immer mehr zu einem relativ eigenständigen Subsystem der Gesellschaft konzentriert. Dieser Prozeß der Ausdifferenzierung ist durch eine zunehmende Innendifferenzierung begleitet worden, insbesondere durch die Herausbildung von Märkten, Betrieben und Haushalten. Als zentraler Sinn der Wirtschaft - aus dem zugleich die Grenzen dieses gesellschaftlichen Subsystems gegenüber anderen Subsystemen resultieren - hat sich die dauerhafte Bewältigung des Problems der Knappheit und die möglichst weitgehende Befriedigung materieller und großenteils auch ideeller Bedürfnisse des Menschen herauskristallisiert. Die Ausdifferenzierung der Wirtschaft ist besonders eng mit der Entstehung und Ausbreitung des Geldes verbunden. Geld bildet das spezifische Interaktions- bzw. Tauschmedium des gesellschaftlichen Subsystems Wirtschaft. Mit der Ausdifferenzierung der Wirtschaft hat sich innerhalb dieses Subsystems - unter Zurückdrängung von Emotionalität - ein Rationalitätsfortschritt ergeben. Vor allem im unternehmerisch-betrieblichen Bereich hat sich eine zweck-mittel-be-
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stimmte strategische Rationalität breitgemacht, die großenteils auf ökonomischpartikulare Zielsetzungen und Interessen ausgerichtet ist. Infolge weit vorangeschrittener Ausdifferenzierung ist die Wirtschaft sogar zu einem autopoietischen System innerhalb der modernen Gesellschaft geworden. Mit dem aus der Biologie bzw. von Humberto R. Maturana übernommenen Begriff Autopoiesis bezeichnet Luhmann die Eigenart solcher Systeme, die die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und immer wieder reproduzieren. Nach Auffassung von Luhmann ist nun die Wirtschaft, innerhalb der modernen Gesellschaft ein autopoietisches System, weil sie aufgrund ihrer elementaren und zugleich exklusiven Operationen rekursive, selbstreferentielle Geschlossenheit erreicht hat. Die entscheidende Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Wirtschaft zu einem autopoietischen System innerhalb der Gesellschaft war die Herausbildung des besonderen symbolisch generalisierten Kommunikations- und Interaktionsmediums Geld. Luhmann identifiziert Zahlungen als spezifische Elemente und Grundoperationen des autopoietischen Systems Wirtschaft. Zahlungen haben die Eigenschaften eines autopoietischen Elements: Sie sind nur aufgrund von Zahlungen möglich und haben im rekursiven Zusammenhang der Wirtschaft keinen anderen Sinn, als wiederum Zahlungen zu ermöglichen. Zahlungen sind also aus Zahlungen entstanden und bringen neue Zahlungen hervor. In diesem kontinuierlichen Ermöglichen von Zahlungen durch Zahlungen liegt der Grund für die rekursive Geschlossenheit und für den autopoietischen Charakter der modernen Wirtschaft. Die Darstellung der Wirtschaft als ein autopoietisches System der Gesellschaft ist allzusehr systemtheoretisch konstruiert, zum Nachteil einer realitätsgerechten Analyse der Einbettung der Wirtschaft in die tatsächlich bestehende soziokulturelle Lebenswelt. Die vorrangige Betonung der monetär gesteuerten Autopoiesis stellt zu sehr den primär wirtschaftstheoretisch relevanten Geldkreislauf heraus. Unter dem Einfluß ökonomischer Modelle wird der Geldkreislauf überbetont. Eine solche einseitig auf den monetären Aspekt ausgerichtete systemtheoretische Perspektive trägt zur wissenschaftlichen Legitimation einer soziologiefernen Wirtschaftstheorie bei, die in fiktiver Weise die Wirtschaft als ein (nahezu) geschlossenes, rational-autonom funktionierendes System auffaßt. Mit dieser Annäherung an die Ökonomie wird der systemtheoretische Ansatz bis zu einem gewissen Grade unsoziologisch. Er verfehlt weitgehend das Forschungsobjekt der Soziologie. Aufgabe der Wirtschaftssoziologie ist es vielmehr, in enger Verbindung mit der Sozialpsychologie die dem Wandel unterworfenen kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen bzw. mitmenschlichen Aspekte des Wirtschaftslebens aufzudecken, zu analysieren und realitätsgerecht darzustellen. Neuere wirtschaftssoziologische Beiträge aus der Perspektive dieser Systemtheorie stammen von Luhmann selber und von Dirk Baecker. Auch Eugen Büß lehnt sich in seiner Wirtschaftssoziologie bis zu einem gewissen Grad an die Systemtheorie von Luhmann an. Obwohl nach dem Abebben der Protestbewegung - die 1968 in westlichen Demokratien ihren Höhepunkt erreicht hatte - der Marxismus innerhalb der Soziologie sich immer mehr verflüchtigt hat, vertritt vor allem Klaus Türk im Rahmen der Wirtschaftssoziologie einen marxistisch-materialistischen Theorieansatz:
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Den Ausgangspunkt dieses theoretischen Ansatzes sollen die realen Lebensvollzüge, die tatsächlichen Lebensformen, die wirkliche Praxis bilden. Diese realen Vorgänge spielen sich mehr oder weniger bewußt ab, stets aber in allen sozialen, selbst-reproduktionsfähigen Strukturen. Schon vor Maturana und Luhmann hat Karl Marx den wirklichen Lebensvollzug als Selbstreproduktion aufgefaßt. Der menschliche Lebensprozeß deckt sich mit der Einheit des Doppelprozesses von naturhaft-materieller und gesellschaftlicher Reproduktion. Die Wirtschaft wird als derjenige Bereich einer Gesellschaft aufgefaßt, in der die Produktion der materiellen Lebensgrundlagen der Menschen und der Gesellschaft abläuft. Diese Produktion umfaßt neben der Güterherstellung auch das Angebot von Dienstleistungen sowie die Distribution. Die Wirtschaft reproduziert sich nicht nur selbst, sondern bringt Produkte und Dienstleistungen für die Lebensfähigkeit anderer soziokultureller Bereiche hervor. Die Doppelqualität der Wirtschaft besteht darin, daß sie Praxis bzw. Lebensvollzug und Produktion ist. Im Gegensatz zur Auffassung von Jürgen Habermas läßt sich somit die Wirtschaft nicht als ein von der „Lebenswelt" „abgehängtes System" begreifen. Volker Eichener hat den Versuch unternommen, die durch Norbert Elias begründete Prozeß- und Figurationstheorie in die Wirtschaftssoziologie einzuführen: Die Prozeß- und Figurationstheorie zielt darauf ab, die Spannung zwischen individualistischen und kollektivistischen, mikro- und makrosoziologischen Theorieansätzen aufzulösen. Grundlegend ist die Auffassung, daß alle sozialen Phänomene adäquater erklärt werden können, wenn sie im Rahmen langfristiger Prozesse analysiert werden. Zwischen der Soziogenese und Psychogenese besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Der abendländische Prozeß der Zivilisierung ist insbesondere durch eine zunehmende Kontrolle spontanen, affektuellen Verhaltens gekennzeichnet. Im Zuge dieser fortschreitenden Affektkontrolle hat sich die menschliche Verhaltenssteuerung tendenziell von Emotion und Affekt immer mehr zu einer bewußt-rationalen Kalkulation des eigenen Handelns verlagert. Als Beispiele für Zivilisierungsprozesse im Wirtschaftsleben werden von Eichener folgende vorgestellt: 1) Der langfristige Wandel des Arbeitgeber-ArbeitnehmerVerhältnisses, 2) Der Wandel des Anbieter-Konsumentenverhältnisses, 3) Ökologische Verantwortung im wirtschaftlichen Handeln. Die sozioökonomische Entwicklung ist nach Elias insgesamt ein ungeplanter, aber dennoch strukturierter Prozeß. Die dynamischen Strukturen gesellschaftlicher Prozesse bezeichnet er als Figurationen. Diese sind Geflechte interdependenter Menschen, und zwar mit einer Eigendynamik gegenüber den sie bildenden Individuen. In Anlehnung an dieses Konzept untersucht Eichener inner-, zwischen- und überbetriebliche Figurationen. Die Phänomenologische, verstehende bzw. interpretative Soziologie - die sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ausgebreitet hat - ist auch in jüngerer Zeit noch nicht in nennenswerter Weise von der Wirtschaftssoziologie aufgegriffen worden. Dabei könnte die verstärkte Bezugnahme auf diesen Forschungsansatz erheblich dazu beitragen, einem Übergewicht lebensferner modelltheoretischer Erklärungsversuche und „blutleerer" Systemkonstruktionen in der Wirtschaftssoziologie entgegenzuwirken: durch Bemühungen um das Verstehen des Denkens und des sinnhaften Handelns intersubjektiv verbundener Menschen im alltäglichen
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Wirtschaftsleben. Hierbei ist stets zu berücksichtigen, wie die im Alltagsleben handelnden Subjekte sich selbst und ihre Alltäglichkeiten erfahren und interpretieren. 2) Empirische Vorgehensweise Um möglichst lebensnahe und vor allem für Prognosen, Planungen und Entscheidungsvorbereitungen zuverlässige Daten gewinnen zu können sowie zur Überprüfung theoretischer Aussagen ist im Rahmen wirtschaftssoziologischer Forschung der Einsatz empirischer Methoden wichtiger geworden. Mitunter sind einzelne Wirtschaftssoziologen und Sozialwissenschaftler, die wirtschaftssoziologisch relevante Forschung betreiben, von vornherein stark empirisch ausgerichtet und gegenüber rein theoretischen Analysen eher skeptisch. Grundlegend ist die Ausschöpfung von Primärstatistiken, insbesondere von solchen, die der amtlichen Statistik entstammen. Da Zustände und Entwicklungen des Wirtschaftslebens von den Auffassungen, Wertorientierungen, Einstellungen, Interessen, Wünschen, Zukunftserwartungen, Stimmungen, Plänen, Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen der in verschiedenartigen Rollen agierenden Wirtschaftssubjekte (Unternehmer, Arbeitnehmer, Verbraucher, Verbandsfunktionäre, Wirtschaftspolitiker, Aktionäre, Sparer u.a.m.) abhängen, ist es für eine realitätsbezogene wirtschaftssoziologische Forschung naheliegend, über diese Akteure und deren Handlungsdeterminanten nicht nur Vermutungen anzustellen, sondern diese zu befragen und zu beobachten. Großangelegte, womöglich periodisch wiederholte Umfragen übersteigen die Möglichkeiten einzelner Wirtschaftssoziologen und können somit nur von entsprechend finanzstarken Institutionen durchgeführt werden, insbesondere von Markt-, Meinungs- und Wirtschaftsforschungsinstituten, die weitgehend Auftragsarbeiten verrichten. Diese Institute - die zugleich Bewährungsmöglichkeiten für Wirtschaftssoziologen bieten - können mit ausgereiften Fragebogen und geschulten Interviewerinnen und Interviewern relativ große Stichproben repräsentativ ausgewählter Personen befragen: Unternehmer werden beispielsweise über ihre Beurteilung der Wirtschafts- und Geschäftslage, über die Geschäftserwartungen, kurz- und längerfristigen Pläne (Investitionen, Einstellungen oder Entlassungen von Arbeitskräften), über ihre Einschätzung der politischen Rahmenbedingungen, der Auswirkungen des Europäischen Binnenmarktes und der beschleunigten Globalisierung des Wirtschaftslebens befragt. Auch Verbraucher werden über ihre Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und Entwicklung befragt, ferner über ihre Einkommenssituation, Wohnverhältnisse, über die Ausstattung ihres Haushalts, über ihre Konsum- und Freizeitgewohnheiten, Anschaffungspläne, Sparziele, über ihre Wertschätzung einzelner Produkte, Produktmarken und Firmen (Imageanalysen). In diesem Zusammenhang wird auch die Wirkung bestimmter Marketingmaßnahmen, insbesondere der Werbung (Werbeerfolgskontrolle) gemessen. Arbeitnehmer werden über ihre Arbeitszufriedenheit, über das Betriebsklima, über betriebliche Führungsstile, Mitbestimmungsmöglichkeiten,Aufstiegschancen u.a.m. befragt. Um die Kosten des Intervieweinsatzes (face-to-face-Interview) einzusparen, werden oft auch postalische Umfragen durchgeführt. Dadurch können zugleich die auf Interviewergebnisse verzerrend einwirkenden Einflüsse, die vom Erscheinungsbild und Verhalten der Interviewer ausgehen, umgangen werden. Allerdings besteht - abgesehen von der Befragung hochmotivierter Personenkreise - bei diesen Umfragen das Problem einer relativ niedrigen Rücklaufquote, die wiederum die Re-
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präsentativität schränkt.
der gewonnenen
Umfrageergebnisse entsprechend
stark
ein-
Z u n e h m e n d e Verbreitung hat das Telephon-Interview gefunden, das zwar beschleunigte Umfragen („Blitzumfrage") ermöglicht, aber zugleich auch auf erhebliche Widerstände und rechtliche Schranken stößt. Viele Personen fühlen sich durch diese Interviewart überrumpelt und belästigt. Mittlerweile bahnt sich die Tendenz an, das herkömmliche Interview mit Papierfragebogen durch gezielten Computereinsatz zu ersetzen: „Der Befragte beantwortet dabei die auf dem Monitor dargestellten Fragen mit Hilfe eines elektronischen Computerstiftes bei Bedarf selbst" (Jahresbericht 1994 der GfK, Seite 5 f.). Problematisch sind die „Ausfälle": Viele repräsentativ ausgewählte Personen sind nicht anzutreffen oder verweigern die Mitwirkung. Vor allem Unternehmen sind zunehmend weniger dazu bereit, sich an freiwilligen Umfragen zu beteiligen. Ein weiteres Problem bildet das bewußt oder unterbewußt unaufrichtige Antwortverhalten (sozial erwünschtes Antwortverhalten, Ja-Sager-Effekt): viele Befragte wollen ein möglichst gutes Bild abgeben, vernünftig und sozial konform erscheinen. Autofahrer wollen nicht zugeben, daß bei ihrem Autokauf das Prestigestreben eine große Rolle spielt. Unternehmer versuchen, das Gewinnstreben herunterzuspielen und andere Ziele verstärkt herauszustellen. Sehr viele Befragte bezeichnen sich in hohem Maße als umweltbewußt (Diskrepanz zwischen Umweltbewußtsein und tatsächlichem Handeln). Hinzu kommt noch das Problem, daß viele Umfragen auftragsgebunden sind und somit - zuungunsten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit - die Forschungsergebnisse nur dem Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden. Einzelne Wirtschaftssoziologen, die selber keine umfangreiche empirische Datenerhebung vornehmen können, stehen somit vor Fundgruben interessanter Datensammlungen, die ihnen weitgehend verschlossen bleiben. Immer mehr wird von einzelnen Wirtschaftssoziologen die in kleinerem Rahmen kostengünstig durchführbare Forschung mit Methoden der qualitativen Sozialforschung praktiziert: Durchführung von Gruppendiskussionen, explorativen und narrativen Interviews, Intensiv- und Tiefeninterviews, Erarbeitung von Einzelfallstudien, Anwendung der biographischen Methode und von Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse. Die Beschränkung auf kleinere Anzahlen von Befragten oder Fällen bzw. auf kleinere Mengen ausgewählten Materials ist allerdings mit einer entsprechend stark reduzierten Repräsentativität der gewonnenen Forschungsergebnisse verbunden. Andererseits bieten Verfahren der qualitativen Sozialforschung größere Möglichkeiten, Oberflächenphänomene, unaufrichtig gegebene Antworten und statistische Durchschnittszahlen zu durchstoßen und dem ganzheitlich-individuellen Charakter einer Person oder eines Falles weitaus mehr gerecht werden zu können. 3) Ganzheitlich-integrative Vorgehensweise D e r weitere wissenschaftliche Fortschritt der Wirtschaftssoziologie hängt davon ab, d a ß ein hoher Grad des Realitätsbezuges, eine möglichst weitgehende Aufgeschlossenheit gegenüber allen geeigneten theoretischen Ansätzen und ein intensives Wechselspiel von Theorie und Empirie angestrebt wird. Für die künftigen Entwicklungschancen dieser Teildisziplin ist es ferner erforderlich, daß die Bemühungen um
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die lebens- und berufspraktischen Anwendungsmöglichkeiten der Forschungsergebnisse erheblich verstärkt werden. Hierbei sollten gerade Wirtschaftssoziologen einen geschärften Blick für gegenwärtige Tendenzen haben, die auf eine Z u n a h m e der Konkurrenz einzelner Wissenschaften um knappe finanzielle Ressourcen und begehrte Berufspositionen hinauslaufen. Gegenwärtige Forschungstrends lassen bereits erkennen, daß einseitige weltanschaulich-theoretische Fixierungen aufgesprengt werden, daß eine Verknüpfung von mikro- und makrosoziologischen Ebenen, akteur- und strukturtheoretischen Ansätzen angestrebt wird. Von grundlegender Bedeutung ist die Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur auf Reize reagiert (Stimulus-response-Modell des ursprünglichen Behaviorismus), sondern über die Fähigkeit zu einem aktiven, kommunikativen, kreativen, problemlösenden, produktiv-konstruktiven und umweltgestaltenden Handeln verfügt, daß die se Fähigkeit gerade in der modernen freiheitlichen Gesellschaft große Entfaltungsspielräume erhalten hat. Soll die Wirtschaftssoziologie soziologisch bleiben, dann hat sie ganz besonders zu berücksichtigen, daß Menschen in unterschiedlichen Kulturen und sozialen Umwelten sozialisiert werden, daß ihre weltanschaulichen Orientierungen, Wertvorstellungen, Einstellungen, Interessen, Wünsche, Erwartungen und Handlungsweisen in starkem M a ß e prägenden Einflüssen der sozialen Umwelt unterliegen, daß sie als Akteure in soziale Netzwerke, Gebilde und in umfassendere soziokulturelle Lebenszusammenhänge eingebettet sind, d a ß ihr aktuelles Handeln in erheblichem M a ß e von den jeweiligen sozialen Situationen, gegebenen Handlungsmöglichkeiten und institutionell-normativen Bedingungen bzw. Restriktionen abhängt. Hierbei m u ß zugleich bedacht werden, daß diese mannigfaltigen soziokulturellen Einflüsse auf das Handeln von Menschen gerade in neuerer Zeit einem beschleunigten Wandel unterliegen, daß Individuen wiederum gesellschafts- und kulturgestaltenden bzw. -verändernden Einfluß ausüben. Es mag umstritten sein,inwieweit nicht nur Individuen,sondern auch soziale Gebilde handeln. Unbestreitbar ist zumindest die Erfahrungstatsache, daß Menschen als Angehörige bestimmter sozialer Gebilde unterschiedlich handeln, vor allem dann, wenn sie sich mit solchen Gebilden in starkem Maße verbunden fühlen und identifizieren. G e r a d e in wirtschaftlichen Gebilden wird versucht, das Handeln der Angehörigen so zu beeinflussen, zu steuern und zu motivieren, daß die jeweilige Institution - vor allem in einer Wettbewerbssituation - insgesamt möglichst erfolgreich agiert. Z u berücksichtigen ist ferner, daß insbesondere in der heutigen, so komplex und dynamisch gewordenen soziokulturellen Lebenswelt das Handeln oft einer erheblichen Ungewißheit unterworfen und mit großen Risiken verbunden ist. Zur Minimierung unerwünschter Folgen ist es gegenwärtig und künftig zunehmend wichtiger, Folgen verschiedener Handlungsmöglichkeiten rechtzeitig zu antizipieren und zu bewerten, um dann auch unter Berücksichtigung des angestrebten Nutzens und des Mitteleinsatzes eine möglichst rationale, verantwortbare Entscheidung treffen zu können. Abschließend sie noch bemerkt, d a ß es auch für die Wirtschaftssoziologie gilt, mehr denn je offen zu sein für neue Einsichten und Erkenntnisse, auch für solche aus anderen Wissenschaften. Allerdings besteht angesichts des realitätsbezogenen
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Erkenntnisschatzes der Soziologie für die Wirtschaftssoziologie keine Veranlassung, sich gegenüber dem eigenen Fach zu entfremden und sich durch Ökonomisierung oder Psychologisierung zum Wurmfortsatz einer anderen Disziplin zu machen.
3. Studienorte und Berufsmöglichkeiten Gegenwärtig bieten zahlreiche Universitäten die Möglichkeit des Studiums der Wirtschaftssoziologie, zumindest aber von bedeutenden Bereichen dieser speziellen Soziologie, wie insbesondere die Arbeits- und Berufs-, Industrie- und Betriebssoziologie. Vor allem im Zusammenhang mit Fluktuationen in den Lehrkörpern der Universitäten unterliegt das Angebot der Wirtschaftssoziologie allgemein und spezieller Ausrichtungen auf bestimmte Bereiche einem Wandel. Hinzu kommt, daß einzelne Soziologinnen und Soziologen im Verlaufe ihrer Hochschullehrerzeit mitunter die eigenen Arbeitsschwerpunkte verändern. So wenden sich manche Fachvertreter von der Wirtschaftssoziologie ab, während sich andere wiederum zu ihr hinarbeiten. Dementsprechend kann manche Universität für die Wirtschaftssoziologie verloren gehen. Andererseits kommen aber wieder neue Standorte hinzu. Insbesondere durch das Wirken von Fachvertretern, die die Wirtschaftssoziologie zu ihren Hauptarbeitsgebieten zählen, können derzeit die folgenden Universitäten gleichsam als „Hochburgen" dieser speziellen Soziologie angesehen werden: Deutschland:
Universität Universität Universität Universität Universität Universität Universität Universität Universität Universität Universität
Bielefeld Bochum Bonn Bremen Eichstätt Göttingen Hamburg Hohenheim Köln Regensburg Würzburg
Österreich:
Universität Linz Wirtschaftsuniversität Wien
Schweiz:
Universität St. Gallen Universität Zürich
Weitere Universitäten, an denen die Wirtschaftssoziologie allgemein oder zumindest spezielle Bereiche derselben in erheblichem Maße angeboten werden: Deutschland:
Technische Technische Universität Universität Universität Universität Universität
Hochschule Aachen Hochschule Darmstadt Dortmund Erlangen-Nürnberg Frankfurt a.M. Kiel Lüneburg
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Österreich:
Universität Universität Universität Universität Universität Universität
Mainz Mannheim Oldenburg Stuttgart Wuppertal Klagenfurt
Schweiz:
Universität Basel
Angesichts der Dominanz des ökonomischen Subsystems in der modernen Gesellschaft und der Verflechtung der Wirtschaft mit dem soziokulturellen Lebenszusammenhang haben schwerpunktmäßig wirtschaftssoziologisch ausgebildete Soziologinnen und Soziologen relativ bessere, vielfältigere Berufschancen als jene, die sich auf thematisch enger umgrenzte, wirtschafts- oder gar praxisferne spezielle Soziologien konzentriert haben, z.B. Literatur-, Kunst- oder Wissenssoziologie. Je mehr erkannt wird, daß wirtschaftliche Gegebenheiten und Probleme - beispielsweise Betriebsklima, Arbeitsmotivation, Konsumverhalten, wirtschaftliche Entwicklung mit sozialen und kulturellen Phänomenen zusammenhängen, um so mehr werden allgemein die Berufschancen für Wirtschaftssoziologen steigen. Hinzu kommt, daß mit fortschreitender Globalisierung des Wirtschaftslebens immer mehr Unternehmungen international erfolgreich agieren müssen und somit Experten benötigen, die schon von ihrer sozialwissenschaftlichen Ausbildung her großes Verständnis für Kulturen u n d Mentalitäten verschiedener Länder besitzen. Aus dieser Entwicklung ergeben sich vor allem für kulturanthropologisch bzw. ethnologisch interessierte Wirtschaftssoziologen Bewährungschancen. Schließlich hängt in einer Zeit des beschleunigten sozialen Wandels das erfolgreiche Handeln ökonomischer Institutionen immer mehr davon ab, inwieweit Wandlungsprozesse, neue Tendenzen und Entwicklungen rechtzeitig erkannt und in Planungen und Entscheidungen angemessen berücksichtigt werden. Hierbei können gerade Wirtschaftssoziologen mit starkem Interesse für sozialen Wandel und Methoden der Empirischen Sozialforschung behilflich sein. Allerdings sind Problem- und Arbeitsfelder, für die Wirtschaftssoziologien in Frage kommen, nicht in monopolartiger Weise nur auf Soziologen ausgerichtet. Vielmehr müssen sie meistens - je nach Eigenart einzelner Arbeitsfelder - mit Volkswirten, Betriebswirten, Juristen, Politologen, Psychologen, Kommunikationswissenschaftlern oder Pädagogen konkurrieren. Die künftigen Berufschancen von Wirtschaftssoziologen hängen maßgeblich davon ab, inwieweit es bereits berufstätigen Kolleginnen und Kollegen gelingt, unter Beweis zu stellen, daß bestimmte Aufgaben am besten von Wirtschaftssoziologen bewältigt werden können. Je erfolgreicher sie sich in verschiedenen Bereichen des Wirtschaftslebens bewähren, um so mehr werden sie zugleich zu einem wachsenden Bedarf an Wirtschaftssoziologen beitragen. Die Berufschancen von Wirtschaftssoziologen hängen hinsichtlich verschiedener Arbeitsfelder und Aufgabengebiete auch von Schwerpunktsetzungen innerhalb der Wirtschaftssoziologie - beispielsweise Arbeits- und Berufssoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie oder Markt- und Konsumsoziologie - sowie von der Fächerkombination ab. Dementsprechend ist es für Nachwuchskräfte ratsam, möglichst frühzeitig persönlich attraktive und lohnenswerte Arbeitsgebiete ausfindig zu ma-
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chen und dann die eigenen Schwerpunktsetzungen sowie die Fächerkombination entsprechend auszurichten. Gerade von Soziologen im allgemeinen und von Wirtschaftssoziologen im besonderen wird erwartet, daß sie in vorbildlicher Weise soziale Kompetenz und Teamfähigkeit einbringen. Hinzu kommt in jüngerer Zeit zunehmend aufgewertete Anforderungen und Erwartungen, denen insbesondere Führungskräfte und Experten gerecht werden müssen: Allgemeinbildung, Interdisziplinarität, analytisches und problemlösendes Denkvermögen, Initiative, Überzeugungsfähigkeit, Flexibilität, Mobilitätsbereitschaft, rhetorische Fähigkeiten, Sicherheit im schriftlichen Formulieren und Darstellen. Mit zunehmender Konkurrenz auf dem Akademikerarbeitsmarkt hängen die Berufschancen von Wirtschaftssoziologen auch immer mehr von Zusatzqualifikationen und „Extras" ab: Beherrschung oder zumindest Grundkenntnisse von Fremdsprachen, vor allem von Wirtschaftssprachen wie Englisch und Spanisch, eine umfangreiche und solide Ausbildung in Methoden der Empirischen Sozialforschung und Statistik, qualifizierte und anwendungsorientierte EDV-Kenntnisse, Studien- und berufsbezogene Auslandsaufenthalte, Projekterfahrungen und Praktika. Ausbaufähige Berufsmöglichkeiten bieten sich für Wirtschaftssoziologen vor allem in größeren Unternehmungen und Betrieben: Wirtschaftssoziologen mit den Schwerpunkten Arbeits-, Industrie- und Betriebssoziologie sowie mit den Nebenfächern Betriebswirtschaftslehre, Arbeits- und Sozialrecht und eventuell auch noch Psychologie sind besonders für das betriebliche Personalwesen geeignet - mit Chancen, zum Personalleiter bzw. -direktor aufsteigen zu können. Eher als Juristen oder Ökonomen sind sie besonders kompetent für Fragen der Mitarbeiterbetreuung und -förderung, Karriereplanung, des Betriebsklimas, Absentismus, Führungsstils, der Arbeitsmotivation, Mitbestimmung und industriellen Beziehungen (zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften). Wirtschaftssoziologen mit den Schwerpunkten Markt-, Marketing- und Konsumsoziologie sowie mit den Nebenfächern Wirtschaftswissenschaften (Volks- und Betriebswirtschaftslehre) und Psychologie sind für den Marketingbereich gut ausgerüstet: für Markt-, Konsum- und Motivforschung, Werbung und Verkauf - für Sachbearbeitertätigkeiten und Führungsaufgaben. Da erfolgreiches Verkaufen ein anspruchsvolles soziales Handeln beinhaltet, kann hinsichtlich dieses wichtigen Aktionsfeldes des unternehmerischen Marketings die Soziologie ganz besonders zur Ausbildung von „Verkaufskanonen" beitragen und somit auch in wirksamer Weise ihren praktischen „Nährwert" unter Beweis stellen. Solchermaßen ausgebildete Wirtschaftssoziologen passen auch gut in multidisziplinär aufgebaute Teams von Markt- und Konsumforschungsinstituten sowie von Werbeagenturen. Wirtschaftssoziologen mit den Schwerpunkten Organisations-, Industrie- und Betriebssoziologie sowie mit dem Nebenfach Betriebswirtschaftslehre - insbesondere Industriebetriebs- und Organisationslehre - können sich in betrieblichen Organisationsabteilungen bewähren: Organisationsentwicklung, Pflege der Organisationskultur und der innerbetrieblichen Kommunikation. In kleineren Betrieben sind sie als Büroleiter bzw. -manager geeignet. Wirtschaftssoziologen mit verstärktem Forschungsinteresse für soziokulturellen Wandel, wirtschaftliche Entwicklung, Futurologie und Prognosen sowie mit dem
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Nebenfach Volkswirtschaftslehre sind für grundlegende und weitreichende Planungsarbeiten besonders kompetent. Vor allem in Verbindung mit dem Nebenfach Pädagogik können Wirtschaftssoziologen in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung tätig werden. Wirtschaftssoziologen mit dem Nebenfach Publizistik und besonders gutem Formulierungsvermögen sind für die Öffentlichkeitsarbeit (Public relations) geeignet. Darüber hinaus können sie auch Tätigkeiten im Wirtschaftsjournalismus von Massenmedien anstreben. Wirtschaftssoziologen mit besonders solider Ausbildung in der Allgemeinen Wirtschaftssoziologie, der Markt- und Konsumsoziologie, in den Wirtschaftswissenschaften, Methoden der Empirischen Sozialforschung und Statistik sind für die Mitarbeit in Wirtschaftsforschungsinstituten um so besser geeignet, je mehr in diesen empirische Forschung betrieben wird. Diese beinhaltet vor allem Befragungen von Unternehmern und Verbrauchern. Berufsmöglichkeiten bestehen für Wirtschaftssoziologen auch bei Verbänden und Gewerkschaften, wobei das Studium der Verbändesoziologie sowie volkswirtschaftliche und einschlägige rechtswissenschaftliche Kenntnisse die Kompetenz steigern. In Verbindung mit wirtschaftswissenschaftlichen Nebenfächern und rechtswissenschaftlichen Kenntnissen kommen für Wirtschaftssoziologen - vor allem mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Berufssoziologie - auch Tätigkeiten bei Handwerks-, Industrie- und Handelskammern in Frage. Im Bereich öffentlicher Verwaltung sind Wirtschaftssoziologen mit wirtschaftsund rechtswissenschaftlichen Nebenfächern (Öffentliches Recht) und mit solider Ausbildung in Empirischer Sozialforschung und Statistik für Wirtschaftsministerien, Statistische Ämter sowie für Behörden geeignet, die wirtschaftliche Aufgaben zu erfüllen haben, z.B. Wirtschaftsförderung. Wirtschaftssoziologen mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Berufssoziologie sowie mit den Nebenfächern Wirtschaftswissenschaften und Psychologie sind ganz besonders prädestiniert für Tätigkeiten als Berufsberater in Arbeitsämtern. Für Wirtschaftssoziologen mit dem Schwerpunkt Haushalts- und Konsumsoziologie, mit wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Nebenfächern und pädagogischen Kenntnissen ergeben sich Aktionsmöglichkeiten in Einrichtungen der Verbraucherbildung und -beratung, bei Verbraucherverbänden, in Abteilungen von Unternehmungen, die der Kundenbetreuung und Bearbeitung von Reklamationen - für kundenorientierte Unternehmungen höchst wichtige Rückmeldungen - dienen. Da erfolgreiche Politik großenteils die Bewältigung wirtschaftlicher Probleme beinhaltet, sind Wirtschaftssoziologen auch für Karrieren im politischen Bereich geeignet - zumal sie in ihrer Ausbildung ganz besonders für den Verflechtungszusammenhang von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sensibilisiert worden sind. Als Nebenfächer sind die Volkswirtschaftslehre, Politologie und das Öffentliche Recht günstig. Die Zugangs- und Aufstiegschancen hängen weitgehend von einem möglichst frühzeitig beginnenden Engagement in einer aussichtsreichen politischen Partei ab („Ochentour"). Aktions- und Bewährungsmöglichkeiten ergeben sich im Parteiapparat, im wissenschaftlichen Dienst von Parlamenten oder bei der Erlangung
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eines Abgeordnetenmandats. Allerdings ist das Bestreben, Berufspolitiker zu werden, erfahrungsgemäß mit einem besonders großen Risiko des Scheiterns verbunden. Wirtschaftssoziologen mit Nebenfachausbildung in Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, Volkswirtschaftslehre und Sprachen können sich für Tätigkeiten in Entwicklungshilfeeinrichtungen interessant machen. Sie können besonders kompetent dazu beitragen, daß in der Entwicklungsarbeit unterschiedliche Kulturen, Mentalitäten und Verhaltensmuster verständnisvoll berücksichtigt werden. Schließlich können Wirtschaftssoziologen auch versuchen, sich als Berater für bestimmte Problem- und Aufgabengebiete selbständig zu machen: insbesondere für das betriebliche Organisations- und Personalwesen, für die Akquisition von Führungskräften, für die Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit, für den Marketingbereich. Sie können für kleinere und mittlere Unternehmungen nützlich sein, die aus Kostengründen auf den Einsatz hauptamtlich beschäftigter Wirtschaftssoziologen verzichten müssen. Für Großunternehmungen sind sie interessant, wenn diese bestimmte Probleme von externen Fachleuten untersuchen lassen wollen. Allgemein kann abschließend gesagt werden, daß mit fortschreitender Bewährung von Wirtschaftssoziologen in verschiedenen Bereichen des Wirtschaftslebens die Nachfrage nach solchen Sozialwissenschaftlern wachsen wird. Überdies erhöhen sich dann auch die Chancen für Wirtschaftssoziologen, über die Sachbearbeiterebene hinaus Führungspositionen zu erlangen.
4. Ziele, Organisationen und Aktivitäten der Sektion für Wirtschaftssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Aufgrund der Initiative und vorbereitenden Organisationstätigkeit von Karl-Heinz Hillmann fand am 6. Oktober 1988 in der Universität Zürich im Rahmen des gemeinsamen Kongresses der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie „Kultur und Gesellschaft" die konstituierende Zusammenkunft der Arbeitsgruppe für Wirtschaftssoziologie statt. Zu den rund dreißig Gründungsteilnehmern zählten Wolfram Burisch, Hansjürgen Daheim, Friedrich Fürstenberg, Bernd Kießling,Thomas Kutsch, Walter Müller-Jentsch, Jürgen Plaschke, Peter Schöber und Klaus Türk. K. H. Hillmann wurde für zwei Jahre zum Sprecher der Arbeitsgruppe gewählt. Es wurde beschlossen, daß die Arbeitsgruppe zweimal im Jahr tagen sollte. Für die künftige Zusammenarbeit wurde eine Verknüpfung von Theoriediskussionen mit der Behandlung realer Probleme empfohlen. Gegenüber neuen Mitgliedern und Interessenten sollte die Arbeitsgruppe - unter Verzicht auf besondere Beitrittshürden - möglichst offen sein. Die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern galt von vornherein als wünschenswert. Das grundlegende Ziel war die Wiederbelebung, Aufwertung und Institutionalisierung der Wirtschaftssoziologie. Nachdem es bereits durch Klassiker der Soziologie wie Max Weber, Werner Sombart, Karl Mannheim und Talcott Parsons Ansätze für eine Fundierung und Entfaltung der Wirtschaftssoziologie gegeben hatte, war es überfällig, daß angesichts der beherrschenden und prägenden Stellung des Wirtschaftslebens innerhalb der modernen Gesellschaft die Wirtschaftssoziologie nicht
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mehr länger ein kümmerliches Dasein im Schatten teilweise boomartig aufgeblähter anderer spezieller Soziologien führen sollte. Bereits relativ weit entwickelte spezielle Wirtschaftssoziologien wie die Arbeits- und Berufssoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie waren und sind nicht dazu in der Lage, dem ebenso umfangreichen wie komplexen Problemterritorium Wirtschaftsleben sozial-wissenschaftlich gerecht zu werden. Sie sind nur auf einzelne Aspekte des Wirtschaftslebens ausgerichtet - zu Lasten umfassender Analysen. Da die Wirtschaft nur in ihrer Verflechtung mit Kultur, Gesellschaft und Politik wirklichkeitsnah erforscht werden kann, wurde es immer wichtiger, daß die auf das vermeintlich rein Ökonomische fachspezifisch eingeengten Wirtschaftswissenschaften durch eine sich rasch entfaltende Wirtschaftssoziologie ergänzt und bereichert werden. Gerade die aus diesem Verflechtungszusammenhang resultierenden Probleme wurden mit zunehmender Brisanz zu einer Herausforderung für die Wirtschaftssoziologie. Überdies kann die verstärkte Einbindung dieser speziellen Soziologie in die Ausbildung von Soziologinnen und Soziologen zur Verbesserung ihrer Berufschancen im Wirtschaftsleben beitragen. Die Arbeitsgruppe und künftige Sektion sollte sich zu einem Kooperationszentrum für wirtschaftssoziologisch forschende, lehrende und interessierte Kollegen und Nachwuchskräfte entwickeln. Die Wirtschaftssoziologie sollte unter Vermeidung von thematischen, theoretischen und methodischen Einseitigkeiten möglichst pluralistisch betrieben werden. Die einzelnen Tagungen sollten zwar jeweils auf ein bestimmtes Rahmenthema ausgerichtet werden. Allerdings sollten vor allem Nachwuchskräfte auch die Gelegenheit bekommen, ihre speziellen, vom Rahmenthema abweichenden Forschungsprojekte zur Diskussion stellen zu können. In inhaltlicher Hinsicht wurden folgende Arbeitsschwerpunkte festgelegt: Auf der Frühjahrstagung 1989 der Arbeitsgruppe in Würzburg: 1) Die Aufarbeitung unterschiedlicher theoretischer Ansätze, bezogen auf wirtschaftssoziologische Fragestellungen und reale Probleme. 2) Schaffung und Abwicklung eines Forschungsprogramms „Ökonomie und Ökologie": Wie kann im europäischen Kontext und unter Berücksichtigung verschiedener Wirtschaftsbereiche eine sozial- und umweit- bzw. ökologieverträgliche Marktwirtschaft hervorgebracht werden? Auf späteren Tagungen wurden weitere Arbeitsschwerpunkte beschlossen: 3) Transformationsprobleme beim Übergang von Plan- zu Marktwirtschaften. 4) Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Disparitäten. Auf mehreren Tagungen wurde die Regionalforschung verstärkt berücksichtigt. Ab Oktober 1990 durfte sich die Arbeitsgruppe mit Zustimmung des Konzils der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als „Sektion für Wirtschaftssoziologie" bezeichnen. In den ersten drei Jahren des Bestehens der Arbeitsgruppe bzw. Sektion wuchs die Zahl der Mitglieder und Interessenten stark an: April 1989 Oktober 1990 Dezember 1991
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Für die Sektionsleitung waren Mitglieder und Interessenten insbesondere gleichberechtigte Empfänger für die Rundbriefe. Nachdem K. H. Hillmann die Arbeitsgruppe bzw. Sektion sechseinhalb Jahre lang als Sprecher - er war zugleich Schriftführer und Schatzmeister - geleitet hatte, übernahm auf der Sektionstagung am 5. April 1995 Helmut Voelzkow dieses Amt. Bisher wurden folgende Arbeitsgruppen bzw. Sektionstagungen durchgeführt: März 1989 in Würzburg: 1. Tagung der Arbeitsgruppe für Wirtschaftssoziologie. Neben einigen Referaten wurden vor allem organisatorische Fragen geklärt und gemeinsam ein Arbeitsprogramm erarbeitet. Oktober 1989 in Bielefeld: 2. Tagung der Arbeitsgruppe, Thema: Theoretische Ansätze zur Wirtschaftssoziologie. März 1990 in Trier: 3.Tagung der Arbeitsgruppe, Thema: Ökonomie und Ökologie. Oktober 1990 in Frankfurt a.M.: 4. Tagung der Arbeitsgruppe (im Rahmen des 25. Deutschen Soziologentages), Thema: Gegenwärtige Modernisierungsprozesse der Wirtschaftsgesellschaft in Ost und West - soziokulturelle Voraussetzungen und Entwicklungsprozesse. April 1991 in Eichstätt: 5. Sektionstagung, Thema: Regionale Wirtschaftsfigurationen. Oktober 1991 in Linz an der Donau: 6. Sektionstagung,Thema:Transformationsprobleme beim Übergang von Plan- zu Marktwirtschaften. April 1992 in Münster: 7. Sektionstagung, Thema: Transformationsprobleme beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR. September/Oktober 1992 in Düsseldorf: 8. Sektionstagung (im Rahmen des 26. Deutschen Soziologentages), Thema: Sozioökonomischer Wandel im Neuen Europa. März 1993 in Veitshöchheim bei Würzburg: 9. Sektionstagung, Thema: Beiträge zur wirtschaftssoziologischen Theorie. Oktober 1993 in Bochum: 10. Sektionstagung, Thema: Soziale Disparitäten als Folge ungleicher Wirtschaftsentwicklung. April 1994 in Kiel: 11. Sektionstagung, Thema: Internationale Arbeitsteilung im Wandel und regionale Folgen. Oktober 1994 in Berlin: 12. Sektionstagung, Thema: Internationale Arbeitsteilung und die Herausbildung „neuer" Wirtschaftsregionen nach dem Ende des Sozialismus. April 1995 in Halle an der Saale: 13. Sektionstagung (im Rahmen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Thema: Wirtschaftssysteme im Umbruch. Oktober 1995 in Bochum: 14. Sektionstagung,Thema: Unternehmungen im Wandel. März 1996 in Potsdam: 15. Sektionstagung, Thema: Wirtschaftliche Transformationsprobleme zwischen Markt, Staat und Drittem Sektor.
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Oktober 1996 in Dresden: 16. Sektionstagung (im Rahmen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Thema: Wirtschaftliche Transformationsprozesse im Spannungsfeld von Markt, Staat und drittem Sektor. Außerdem gemeinsame Plenumsveranstaltung der beiden Sektionen für Wirtschaftssoziologie und für Industrie- und Betriebssoziologie,Thema: Soziale Differenzierung und globale Integration von Arbeits- und Wirtschaftssystemen. Die Referate, die auf den Tagungen vom Oktober 1989 bis Oktober 1993 gehalten wurden, hat Elmar Lange (Bielefeld) in Reprintbänden veröffentlicht. Die auf der 11. Sektionstagung in Kiel gehaltenen Referate wurden in dem von Michael Corsten (Berlin) herausgegebenen Reprintband publiziert. In der Folgezeit wurde die Publikation von Tagungsvorträgen auf die Herausgabe von Büchern verlegt: Elmar Lange (Hrsg.): Der Wandel der Wirtschaft. Soziologische Perspektiven, Berlin 1994. Elmar Lange und Helmut Voelzkow (Hrsg.): Räumliche Arbeitsteilung im Wandel, Marburg 1996.
Literaturverzeichnis und A n m e r k u n g e n
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Literaturverzeichnis und A n m e r k u n g e n
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Literaturverzeichnis und Anmerkungen
So wurden z.B. von 4.159 Fusionen ( 1 9 7 4 - 1 9 8 1 ) vom Kartellamt 46 untersagt. Vgl. Der Spiegel Nr. 50, 1982, S. 76. E r erstreckt sich auf nahezu alle Wirtschaftssektoren. So sank die Zahl der Betriebe im H a n d w e r k von 886.500 ( 1 9 5 0 ) auf 489.700 (1983); in der Landwirtschaft von 967.800 (1973) auf 743.700 (1983), im Einzelhandel von 4 5 0 . 0 0 0 (1960) auf 350.000 (1980). „ D i e Monopolkommission verfolgt die langfristige Entwicklung der U n t e r n e h m e n s k o n zentration im Bergbau und Verarbeitenden G e w e r b e seit 1954 anhand des ungewogenen Durchschnittswerts der Umsatzanteile der zehn größten U n t e r n e h m e n in den einzelnen Wirtschaftszweigen. Danach h a t . . . dieser Durchschnittswert 1983 mit 44,2 Prozent den höchsten Wert erreicht." (1954 = 3 1 , 1 % ) . Monopolkommission: 6. Hauptgutachten 1984/85, BT-Drucksache 10/5860, Bonn 1986, S. 93f. Z u r Konzentration in der Pressewirtschaft und bei der Verbreitung neuer Medien vgl. das 5. und 6. H a u p t g u t a c h t e n der Monopolkommission 1982/83 und 1984/85, Bonn 1984 und 1986, S. 1 6 1 f f u n d S. 201 ff. G u t a c h t e n des Wiss. Beirats beim Bundesministerium f ü r Wirtschaft: Wettbewerbspolitik, Bonn 1986, S. 19f. zit. in: Süddeutsche Zeitung v. 20./21. Dez. 1986. D e r Z u s a m m e n h a n g zwischen Unternehmensgröße, Unternehmenskonzentration und Wettbewerbsintensität ist kompliziert und empirisch wie theoretisch noch nicht befriedigend geklärt. Die neoliberale Schule orientiert ihr Wettbewerbskonzept an der atomistischen Konkurrenz; J. Galbraith plädiert für ein Gegenmachtkonzept, E. Kantzenbach spricht sich für ein Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs im weiten Oligopol aus. Streißler, E.: Macht und Freiheit in der Sicht des Liberalismus, in: Schneider, H.K.; Watrin, Chr. (Hrsg.): Macht und ökonomisches Gesetz, Sehr. d. Vereins f. Socialpolitik, N F Bd. 74/11, Berlin 1973, S. 1425f. Möller, A.: K o m m e n t a r zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums, 2. Aufl. Hannover 1969, S. 24. E b e n d a , S. 91 f. Schmahl, H.J.: Globalsteuerung - Zwischenbilanz einer Konjunkturpolitik, in: H a m burger Jb. für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 16. Jahr, 1971, S. 282. So die Bundesregierung bereits 1971 in ihrer Stellungnahme zum Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 1971, BT-Drucksache V I / 3 5 7 0 , Bonn 1972, S. V. Ebenda. So der damalige Wirtschaftsminister und .Vater' des Stabilitätsgesetzes Karl Schiller. Schiller, K.: Z u k u n f t s a u f g a b e n der Industriegesellschaft, in: Shonfield, A.: Geplanter Kapitalismus, Köln 1968, S. XX. Scharpf, F.W.: Politischer Immobilismus und ökonomische Krise, Kronberg/Ts. 1977, S. 4. Die folgenden A u s f ü h r u n g e n lehnen sich an Scharpf an. Für die Parteienstruktur läßt sich etwa der Unterschied zwischen K o n k u r r e n z - D e m o kratie, Konkordanz- oder (Proporz-)Demokratie und Einparteien-Dominanz unterscheiden. Vgl. Scharpf, F.W.: Politischer Immobilismus und ökonomische Krise . . . , a.a.O., S. 6. Vgl. Offe, C.: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt am Main 1972. Miliband, R.: Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft, F r a n k f u r t am Main 1972, S. 201. Schumpeter, J.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie . . . , a.a.O., S. 456f. Lindblom, Chr.: Science of , M u d d l i n g T h r o u g h \ in: Public Administration Review, Vol. 19, 1959. Haas, E.B.: Die Einigung Europas, in: Sidjanski, D. u.a.: Erfolge und Krisen der Integration, Köln 1969, S. 61. Hartfiel, G.: Die öffentliche Verwaltung zwischen technischem Fortschritt und sozialem Wandel, in: H a m b u r g e r Jb. für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 15. Jahr, 1970, 5. 199.
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Teil IV, 3. Kapitel Vgl. Charles E. Lindblom: Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomischen Systeme. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983 (zuerst New York 1977) (Ullstein Tb. Nr. 39 065) Mittlerweile steht das Informationspotential der offiziellen japanischen Außenhandelsorganisation J E T R O interessierten deutschen Geschäftsleuten über den am 15. J a n u a r 1986 in Düsseldorf gegründeten Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreis ( D J W ) zur Verfügung. J E T R O ist am DJW-Sekretariat (4000 Düsseldorf, Steinstraße 2) beteiligt und hat beispielsweise für 1987 ein Programm vorgestellt, das ausländischen Herstellern die Teilnahme an japanischen Fachmessen erleichtern soll. Eine nützliche Zusammenfassung der f ü r den Aufstieg Japans relevanten Faktoren gibt die Zusammenstellung (mit teilweise vergleichenden D a t e n ) der Axel Springer Verlag A G : Wirtschaftsmacht Japan, Berlin 1981 (gratis). Vgl. auch die Faktorenliste bei J a m e s C. A b e g g l e n / G e o r g e Stark jr., K A I S H A . D a s Geheimnis des japanischen Erfolgs, Düsseldorf, Wien 1986 (Ubers.), S. 324, wo allerdings u.a. auch der wichtige Faktor Staat fehlt (im übrigen widerspricht der deutsche Untertitel des Buches der ausdrücklichen Auffassung der Autoren). Erfolgreiche N a c h a h m u n g hat Japan in den asiatischen Republiken Korea, Taiwan und Singapur gefunden, wobei jedoch Ähnlichkeiten im Wertesystem sowie in der Sozialstruktur als Folge der in diesen Ländern zum Tragen g e k o m m e n e n konfuzianischen Ideologie zu berücksichtigen sind. Vgl. Tsunehiko Yui: Zaibatsu. In: K. Ichihara/S. Takamiya (Hg.) a.a.O. 1977, S. 4 5 - 5 5 . Z u Einzelfragen der staatlichen Makroplanung in Japan (beteiligte Organisationen, Grundlagen, Methoden, Modelle, Geschichte, Kosten usw.) vgl. Siegfried Lörcher, a.a.O. 1971 Z u r MITI-Thematik vgl. u.a. Charles J. McMillan a.a.O. 1985, pp. 4 3 - 9 2 , sowie T s u n e hiko Yui: Beziehungen zwischen Regierung und U n t e r n e h m e n und ihr Einfluß auf die Industrialisierung Japans. In: K. Ichihara/S. Takamiya (Hg.) a.a.O., 1977, S. 3 1 - 4 2 . Vgl. die Vorreiterrolle Bayerns, w o seit 1981 zum Zwecke des Know-how-Gewinns das bayerische Wirtschaftsministerium und die M ü n c h e n e r Wacker-Chemie Personaltransfer zwischen Staat und Industrie praktizieren. In: Supplement von H A N D E L S B L A T T und W I R T S C H A F T S W O C H E Nr. 14 vom 27. März 1987, S. 1.
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Literaturverzeichnis u n d Anmerkungen
H i n t e r dieser K a m p a g n e verbirgt sich der historische Komplex der J a p a n e r den E u r o p ä e r n gegenüber, und in U m k e h r u n g der eigentlichen Lage erwarten sie von den mit wachsender Arroganz betrachteten westlichen Kontrahenten E n t g e g e n k o m m e n , während sie selbst längst am Z u g e sind. Allerdings m u ß anerkannt werden, d a ß beispielsweise die massiven Diskriminierungen europäischer Exporte in Japan gegenwärtig allmählich abgebaut werden. Wechselkurse ( F r a n k f u r t / M . ) : 1980: 100 Yen = 0 , 8 0 6 4 D M (Jahresdurchschnitt) 1984: 100 Yen = 1,1974 D M (Jahresdurchschnitt) 1987: 100 Yen = 1,22 D M (23.02.1987) E i n e A u s n a h m e bildet der Agrarbereich: G e m ä ß einer Subventionen-Untersuchung der O E C D , die wegen B e d e n k e n verschiedener Regierungen bislang nicht veröffentlicht wurde, zahlt Japan (Basis der Studie: Agrarsubventionen von 1979/81) die höchsten Agrarhilfen. Vgl. R e u t e r - M e l d u n g in d e r S Ü D D E U T S C H E N Z E I T U N G vom 23. März 1987, S. 23. D e r Vergleich der f ü r J a p a n beschriebenen Verhältnisse mit den Zentralplanwirtschaften im C O M E C O N (mit prinzipiell sozialistischen Produktionsformen) sowie die A n wendung der 1969 in Moskau dogmenartig verkündeten S t a M o K a p - T h e s e auf Japan, die von Vertretern d e r Nationalökonomie an der Universität T o k y o als für Japan zutreff e n d erachtet wurde, wurden hier wegen ihres offensichtlich ideologischen Hintergrundes nicht erörtert. Weiterhin provozierten den Verf. weder die in der B R Deutschland 1967 institutionalisierte „Konzertierte A k t i o n " , welche in Gestalt des Zusammenwirkens der Bundesregierung mit den a u t o n o m e n Tarifvertragsparteien ein Instrument der Globalsteuerung d e r Marktwirtschaft darstellte, noch das System der «planification» in Frankreich, an dessen Planerstellung alle Beteiligten der Wirtschaft mitwirkten, wegen unterschiedlicher historischer, sozialer, kultureller usw. Voraussetzungen (insbesondere aber wegen des im Gegensatz zu Japan zugrundeliegenden Konflikt-Modells bzw. wegen des ausgeprägten wirtschaftlichen und sozialen Interessenpluralismus) zum Vergleich. Prompt trat ja das deutsche G r e m i u m seit 1977 nicht mehr zusammen; ein Wiederbelebungsversuch 1983 scheiterte. Auch einer vom deutschen Kostendämpfungsgesetz (1980) vorgesehenen Gesprächsrunde („Konzertierte A k t i o n " ) der am Gesundheitswesen beteiligten Gruppen gelang es in typischer Weise zum Beispiel nicht, um des Gesamtwohls willen verbindliche E m p f e h l u n g e n für die Ausgabenentwicklung 1985/86 zu erstellen! Nicht betrachtet wurde ferner der Staat in seinen Funktionen als U n t e r n e h m e r und Konsument (Bedarf für die Entwicklung der Infrastruktur, Militärbedarf usw.), obwohl diese f ü r die wirtschaftliche Entwicklung (Industrialisierung, Wachstum) nicht unterschätzt werden dürfen. Zu den staatlichen U n t e r n e h m e n sei darauf hingewiesen, d a ß in J a p a n 1986/87 immerhin die Privatisierung der Postsparkasse, der Fernmeldegesellschaft N T T , der Tabakmonopolgesellschaft und der Staatsbahn in Angriff g e n o m m e n wurde!
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Literaturverzeichnis und Anmerkungen
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Namen- und Sachregister Alltagserfahrung 84 A n f o r d e r u n g e n (an Fach- und Führungskräfte) 29-33 Anthropologie (Ökonom.) 45 Arbeitsbeziehungen 182 Arbeitskämpfe 123 Arbeitsteilung 60,64,83,88 ff, 182 Arbeitswerte 189 ff (Wandel) Attribution 212 ff autopoietisches System (Wirtschafts-) 244 Babeuf, François N o e l 2 Bedarfsdeckung 75 Bedeutung 225 Bentham, Jeremy 4 Beratung 186 Berufsmöglichkeiten 249 ff Bewußtsein 7,55,84,225,227,229,232 Blanc, Louis 4 Blanqui, Louis Auguste 4 Brentano, L u j o 9 Buchanan, J. 171 Bücher, Karl 9 Budgetverwaltung 75 ff Cabet, E t i e n n e 4 China 173,174 Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Sektion Wirtschaftssoziologie) 253 ff Dilemma von Legitimität und Effektivität 131 ff Dürkheim, Emile 11 Effizienz 112,172 Eliten 177,185 emotionale Bedürfnisse 98,99 empirische Vorgehensweise 246 ff Engels, Friedrich 5 ff E n t f r e m d u n g 5 ff, 70 Entlohnung 207 Entscheidungen (im Betrieb) 31 ff, 48 ff, 77/78 (E.prozesse beim Kauf), 113 Erkenntnistheorie 222 ff, 230 ff Evolution 224,227,228 Exportstrategie (Japan) 180 ff Firth, R a y m o n d William 23 Fortschrittsgläubigkeit 233 Fourir, François Marie Charles 3
Freiheit 48,50 Friedman, M. 171 Friedmann, Georges 22 F ü h r u n g (in wirtsch. Organisationen) 106 ff, 186 Führungsforschung 106 Ganzheitlich-integrative Vorgehensweise 247 ff Geld 60 ff,221,223,230 ff Geldkritik 60 ff, 233 Gesamtgesellschaft 131 Gesellschaft(en) (archaische) 45, (Kritik) 67, (spätindustrielle) 144 ff Gott 222,227 Halbwachs, Maurice 22 Hauptarbeitsgebiete der Wirtschaftssoziologie 235 ff Haushalt 74 ff Hayek, F. A. von 171 Herkner, Heinrich 9 Hess, Moses 4 Hildebrand, B r u n o 9 Idealtypisches Verhalten 111 ff Ideologie 217 Individualismus 193 ff Industrialisierung 172 ff, 185 Industriepolitik 183 ff Institutionalisierung 71 ff, 123,125 Instrumentalismus 192 ff Interaktion 114 ff Interessenrepräsentation 129 Internationalisierung 182 Intervention 145,146,149 Japan 170 ff J E T R O (Japan External Trade Organization) 170 Kapitalismus (Kritik) 5 ff, 16,18 ff, 62,69, 145,214 Keynes, John Maynard 21 Knapp, Georg Friedrich 9 Knies, Karl 9 Koalitionsautonomie 126 ff, 134 Kontrolle 54,117 Korporativismus 134 ff Kultur 221 ff, 234
Namen- und Sachregister Kultursoziologie 223,233,234 Kulturtypen 221 Lebenssinn 222 Legitimation 131,185,202 Leistung 87,186,191,204 ff, 217 Leistungsgesellschaft 214 ff, 218 Le Play, Frederic 22 Lerntheorie 116 Lohn 206 ff Loyalität 173,174 Luhmann.N. 243 ff Macht 61,65,118,158 Malinowski, Bronislaw 23 Mannheim, Karl 17,18 Markt 45 ff, 63 Marktmodell 151 Marx, Karl 5 ff, 68,230 Marxismus 5 ff, 244-245 Mauss, Marcel 23 Mayo, Elton 22 Menschenbild 234 Methode(n) 14/15,25 ff,222 Methoden in der Wirtschaftssoziologie 239 ff methodologischer Individualismus 240 ff Mill, John Stuart 2 Mises,L. v. 171 Mitchell, Wesley Clair 10 MITI (japan. Ministerium) 173,176 ff, 183, 184 M I T S U B I S H I (japan. Konzern) 173 M I T S U I (japan. Konzern) 173 Monopol 152,174 Müller, A d a m 9 Naturwissenschaftliche Analyse 222 Oberfläche 222 Objekt 223 ff Objektivität 223,226,228,229 O E C D 171 Öffentlichkeit (vs. Privatheit) 97 ff Öffentlichkeitsmandat (der Wirtschaft) 200 ff ökonomisches System 147 ff Organisation 106 ff, 117 ff, 133 ff, 165,166, 167 Organisationssoziologische Analyse 131 ff Owen, Robert 3
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Paradigmenwechsel 137 Pareto,Vilfredo 11 Parsons.Talcott 24 Partizipation 195,197 Personaltransfer 178 Personalplanung 26 ff Pilotfabriken 172 Planung 145,149,175 Piaton 232 Pluralistische Gesellschaft 129 ff Politisch-administratives System 121 ff, 143 ff Privatheit (vs. Öffentlichkeit) 97 ff Protektionismus 178 ff, 186,187 Protestantismus-These 13,214 ff Proudhon, Pierre Joseph 4 Prozeß- und Figurationstheorie 245 Rational-choice-Ansatz 242 ff Rationalität 14,47,60,66,198 ff Reisman, G. 171 Religion 12 ff, 214 ff Ricardo, David 1 Rollenkonzept 78/79,82 ff Roscher, Wilhelm 9 Saint-Simon, Claude H e n r y Rouvroy, Comte de 2 Schmoller, Gustav 9 Schumpeter, Joseph Alois 18 ff Simmel, G e o r g 12,68,221 ff Sinn 222,223,225 Sismondi, Jean Charles Leonard Simond d e 2 Situation 112 ff Smelser, Neil J. 24 Smith, A d a m 1,122,233 Sombart, Werner 15,16 Soziale Beziehungen 50 ff Soziale Kontrolle 102 Soziale Kosten 57 ff Soziale Schichten 76 Soziale Ungleichheit 69/70 Sozialforschung (praktische) 25 ff Sozialisation 210,215 Sozialismus 20 Soziogramm 33 ff Sozio-technische Systeme 117 ff Spencer, H e r b e r t 10 Staat 121 ff, 170 ff Studienorte 249 ff Subjekt 223 ff Subventionen 172,186
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Namen- und Sachregister
Systemtheorie 243 ff Tarifverbände 121 ff Tausch 60,228 ff Tawney, Richard Henry 21 Technologie 90 ff, 144,172,179,180,186 Teilkultur 221 Theorien in der Wirtschaftssoziologie 239 ff Thompson, William 4 Thurnwald, Richard 22 Tradition 187 Typologie 14/15,76,170,185 Tucker, Robert C.230 Unternehmensführung 25 Vehlen, Thorstein Bunde 10 verstehende Ansätze 245 ff Verteilung 172,205,208 Vertragsmoral 196 Wandel 135,143 ff Weber, Max 12 ff
Wechselwirkung 222 Weitling, Wilhelm 4 Wert 223 ff, 231,232 Werte 67/68,72,73,144,189 ff, 219,223,232 Werttheorie 226,227 Wertung 223,224 Wettbewerb 187 Wiese, Leopold von 17 Wirklichkeit 222,223 ff Wirtschaftliche Organisationen 106 ff Wirtschaftsführung 75 ff Wirtschaftslenkung 57 ff, 153,168,175 Wirtschaftspläne 175 Wirtschaftspolitik 164 ff Wirtschaftssysteme 170,171 Wirtschaftsverfassung 154 Wirtschaftswerte 189 ff Wirtschaftswissenschaft (und Soziologie) 237 ff
ZAIBATSU (japan. Finanzcliquen) 174 Zusammenarbeit 37 ff, 182,186